Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag am 25. Januar 2011 9783899498288, 9783899498271

This commemorative work is dedicated to Ruth Rissing-van Saan, Presiding Judge at the Federal Supreme Court, on the occa

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Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag am 25. Januar 2011
 9783899498288, 9783899498271

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Kann nach der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren noch auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Urteilsabsprache zurückgegriffen werden?
Über die „Kunst des Urteilschreibens“
Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB
Ermessensamtsträger oder Ermessensbeamter – Überlegungen zu § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB
Zur Zurückweisung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen eigener Sachkunde des Gerichts - § 244 Abs. 4 S. 1 StPO – bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage - zugleich eine Besprechung von BGH - 2. Senat – JZ 2010, 471
Einlassung mit oder durch den Verteidiger - Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?
Regina Probationum
Spuren der Strafrechtswissenschaft. Eine Leseempfehlung
§ 127 StGB - Aktuell oder noch im Dornröschenschlaf?
Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge
Digitale Außenprüfung und Strafrecht
Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte
Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung
„Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen
Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts - Die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts
Vollzugslockerungen und Reststrafenaussetzung
Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht
Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und das Verbot der Tötung auf Verlangen
Zur Zukunft der Widerspruchslösung - Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf -
Neurobiologie, forensische Psychiatrie und juristische Urteilsfindung - die Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten im Einzelfall
Das Negativattest im Protokoll (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO)
Einige verfassungsrechtliche Gedanken zum Tatbestand der Marktmanipulation
Zur Auslegung der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll
Sicherungsverwahrung im Umbruch
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Vollstreckungsmodell (BGHSt 52,124)
Boom der Insolvenzdelikte?
Die schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters - Materialien zur Reform des § 267 StPO
Schadensfiktionen in der Rechtsprechung der Strafgerichte
Die Neuausrichtung der passiven Sterbehilfe - Der Fall Putz im Urteil des BGH vom 25. 06. 2010 – 2 StR 454/09
Neue Wege für das Betrugsstrafrecht
„Siemens-Darmstadt“ (BGHSt 52, 323) und das internationale Korruptionsstrafrecht
Zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK
Die „unterbelichtete“ Schadenswiedergutmachung gemäß § 46a StGB
Zwei Rechtsfragen aus dem Bereich der Nebenklage
Strafbare Teilnahme an einer Untreue nach § 266 StGB bei gegenläufigen Interessen?
Generalklauseln im Wirtschaftsstrafrecht - am Beispiel der Unlauterkeit im Wettbewerbsstrafrecht
Zur Strafbarkeit des Arztes beim „off-label-use“ von Medikamenten
Zur Strafbarkeit des Dopings de lege lata und de lege ferenda
Das Verbot der Verständigung über Maßregeln der Besserung und Sicherung - § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO -
Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren
Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB
Das Konkurrenzverhältnis von Zustands- und Dauerdelikt
Zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau
Schriftenverzeichnis
Autorenverzeichnis

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Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag

Festschrift für

RUTH RISSING-VAN SAAN zum 65. Geburtstag am 25. Januar 2011 herausgegeben von

Klaus Bernsmann Thomas Fischer

De Gruyter

ISBN 978-3-89949-827-1 e-ISBN 978-3-89949-828-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ' Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Am 25. Januar 2011 vollendet die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan ihr 65. Lebensjahr. Diese Festschrift ist der Jubilarin aus Anlass ihres Ausscheidens aus dem aktiven Richterdienst am 31. Januar 2011 gewidmet. Ruth van Saan wurde 1946 in Neuss geboren. Nach der Volksschule besuchte sie zunächst die Realschule (1956 bis 1960); dann wechselte sie auf das damals einzige staatliche Gymnasium für Mädchen in Neuss, eine katholische Klosterschule mit Internat, die sie als Externe besuchte. Aus der Zeit strenger – und wohl auch: enger – Aufsicht durch die das Institut leitenden Nonnen weiß sie bis heute Anekdoten zu erzählen. Das Abitur erlangte sie 1966. Von 1966 bis 1970 studierte die Jubilarin Jura; zunächst drei Semester an der damals noch jungen Ruhr-Universität Bochum, sodann zwei Semester in Freiburg; dann wieder in Bochum, wo sie im Mai 1970 das erste Staatsexamen bestand. Ihre anschließende Referendarzeit unterbrach sie vom Herbst 1970 bis zum Januar 1973, um als wissenschaftliche Assistentin am strafrechtlichen Lehrstuhl von Gerd Geilen zu arbeiten; in dieser Zeit fertigte sie auch ihre Dissertation zum strafrechtlichen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Datenschutz. Wegen des sich lang hinziehenden Promotionsverfahrens konnte sie das Rigorosum jedoch erst 1978 ablegen. Bis Ende 1974 arbeitete sie während der restlichen Referendarzeit weiterhin im Rahmen einer Nebentätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin; im Dezember 1974 legte sie die Zweite Juristische Staatsprüfung ab. 1971 heiratete sie Heinz-Josef Rissing, einen promovierten katholischen Theologen und Lehrer für Geschichte, Religion und andere Fächer an Berufsbildenden Schulen. Er trat im Jahr 2006 als stellvertretender Leiter einer großen Berufsbildenden Schule in Bochum in den Ruhestand. Zum 1. März 1975 trat die Jubilarin in den höheren Justizdienst des Landes Nordrhein-Westfalen ein. Ihre Assessorenzeit verbrachte sie als Richterin in einer Zivilkammer des Landgerichts Bochum, als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Bochum und als Strafrichterin beim Amtsgericht Bochum. 1978 wurde sie zur Richterin auf Lebenszeit ernannt und kehrte als Beisitzerin einer Wirtschaftsstrafkammer an das Landgericht Bochum zurück. 1979 wurde sie stellvertretende Vorsitzende einer Hilfsstrafkammer als Schwurgericht, später Vorsitzende dieser Kammer. Nebenamtlich leitete

VI

Vorwort

sie bis 1983 Referendar-Arbeitsgemeinschaften im Strafrecht und war Prüferin im Ersten Staatsexamen. Die in Nordrhein-Westfalen übliche „Erprobung“ für Beförderungsstellen fand in Form einer Abordnung an das Oberlandesgericht Hamm von Juni 1983 bis Februar 1984 statt. Nach Rückkehr an das Landgericht Bochum war Ruth Rissing-van Saan zunächst wieder Beisitzerin in einer Zivilkammer, nach Beförderung zur Vorsitzenden Richterin am Landgericht ab Oktober 1985 ein Jahr Vorsitzende einer Wirtschaftsstrafkammer, ab Ende 1986 bis Anfang 1989 Vorsitzende der Schwurgerichts-Strafkammer des Landgerichts, eine Position, die sie sich gewünscht hatte. Beisitzern und Verfahrensbeteiligten aus jener Zeit ist bis heute ihre kenntnisreiche und souveräne Verhandlungsleitung in guter Erinnerung. Sie selbst beschreibt diese Zeitspanne wegen der engen Verbindung zum praktischen Leben als ihre beruflich schönste Zeit. Aus den vielen Verfahren, die sie als Schwurgerichtsvorsitzende führte, sei hier nur der so genannte „Katzenkönig-Fall“ genannt, anhand dessen der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz die bis heute geltenden Zurechnungsregeln für die mittelbare Täterschaft bei (vermindert) schuldhaft handelndem Tatmittler formulierte (vgl. BGHSt 35, 347). Im November 1988 wurde Ruth Rissing-van Saan zur Richterin am Bundesgerichtshof gewählt; am 1. März 1989 wurde sie ernannt. Bis 2002 war sie sodann, mehr als 13 Jahre lang, Mitglied des 3. Strafsenats, ab September 1998 dessen Stellvertretende Vorsitzende. Im Juni 2002 wurde sie zur Vorsitzenden Richterin am Bundesgerichtshof ernannt und als Nachfolgerin von Burkhard Jähnke Vorsitzende des 2. Strafsenats, dem sie bis heute, also seit fast neun Jahren angehört. Den 2. Strafsenat führte die Jubilarin mit der ihr eigenen Entschlossenheit und Zugewandtheit durch ruhige wie durch stürmische Zeiten. Von 1998 bis zu ihrem Ausscheiden war sie Mitglied des Großen Senats für Strafsachen, seit 2007 auch Vorsitzende des RichterDienstgericht des Bundes, das als Revisionsinstanz in Dienstsachen der Richter aller Bundesgerichtsbarkeiten, der Bediensteten sowie des Bundesrechnungshofs zuständig ist. 12 Jahre lang war sie Mitglied des Präsidialrats des Bundesgerichtshofs. In zahlreichen Veröffentlichungen zum materiellen und zum Strafprozessrecht hat Ruth Rissing-van Saan praxisrelevante Probleme des Strafrechts aufgegriffen. Schon 1993 gewannen die Herausgeber des Leipziger Kommentars zum StGB sie überdies als Mitarbeiterin der 11. Auflage des Großkommentars. Ihre 1998 vorgelegte Kommentierung der Konkurrenzregeln (§§ 52 bis 55 StGB), die sie in der aktuellen 12. Auflage fortgesetzt hat, gilt als Maßstab setzend. Für die 12. Auflage des Kommentars hat sie nicht nur zusätzlich weitere wichtige Teile der Kommentierung übernommen – insbesondere die zur Sicherungsverwahrung (erschienen 2008) sowie zu den

Vorwort

VII

Tötungsdelikten (erscheint demnächst), sondern ist auch an Stelle von Burkhard Jähnke zum Kreis der Herausgeber getreten. Seit 1998 ist sie Mitglied der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbunds. Seit dem Wintersemester 2006 nahm die Jubilarin Lehraufträge zum Strafrecht an der Universität zu Köln wahr, ab Sommersemester 2008 an der Ruhr-Universität Bochum. Im Februar 2010 wurde sie dort zur Honorarprofessorin für die Fächer Strafrecht und Strafprozessrecht ernannt. Sie bietet Lehrveranstaltungen zu Themenbereichen des Besonderen Teils des materiellen Strafrechts an und ist an einer Veranstaltungsreihe zur Praxis der Strafverteidigung beteiligt. Ihre Verbindung zu ihrer Heimatstadt hat die Jubilarin nie abgebrochen. Bochum blieb, auch wegen des Berufs ihres Ehemanns, einer von zwei Familienwohnsitzen, obwohl das Pendeln mit zusätzlichen Belastungen verbunden war. Eine Erkrankung der Wirbelsäule und eine daraus folgende Operation im Jahr 2006 meisterte Ruth Rissing-van Saan mit der ihr eigenen Disziplin, so dass sie schon bald wieder zu ihrem jährlichen Wanderurlaub nach Oberstdorf reisen konnte. Ein schwerer Schicksalsschlag traf sie, als eine seit langem bekannte Erkrankung ihres Ehemannes an Leukämie wieder auflebte, an der dieser, nach einer Zeit der Hoffung und des gemeinsamen Kampfes, Anfang des Jahres 2009 verstarb. Die Aufzählung biographischer Daten vermag einen Menschen gewiss nur umrisshaft und reduziert auf Umstände darzustellen, deren Bedeutung für das Leben der Person und der mit ihr verbundenen Menschen oft unsicher oder oberflächlich, jedenfalls aber nicht abschließend sein kann. Gleichwohl vermitteln sie einen Eindruck von den Entscheidungen, Bestrebungen und Einstellungen, der über äußere Zufälligkeiten hinausgeht. In Ruth Rissing-van Saan erkennen wir eine Frau, die mit großer Selbstdisziplin, hohem Arbeitsethos und Pflichtgefühl und Einsatz bis an die Grenzen der Belastbarkeit eine außergewöhnliche Karriere verwirklicht hat, in welcher ihre Begabungen und Wünsche zusammen fanden. Wer näher und länger mit ihr zusammengearbeitet hat, kennt sie darüber hinaus als vielseitig interessierten, unkonventionellen und Neuem aufgeschlossenen, herzlichen und fürsorglichen Menschen. Für die Zeit nach ihrer Pensionierung hat sie viele Pläne. Herausgeber und Autoren wollen mit dieser Festschrift ihren Dank für die Zusammenarbeit, ihre Verbundenheit und ihren Wunsch zum Ausdruck bringen, dass der Jubilarin auch in der Zukunft gelingen möge, was sie erstrebt. Karlsruhe und Bochum, im Januar 2011 Die Herausgeber

Inhalt GERHARD ALTVATER Kann nach der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren noch auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Urteilsabsprache zurückgegriffen werden?..............................................1

EKKEHARD APPL Über die „Kunst des Urteilschreibens“………………...…………………35

CLEMENS BASDORF/URSULA SCHNEIDER/PETER KÖNIG Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB…………....…………59

KLAUS BERNSMANN Ermessensamtsträger oder Ermessensbeamter – Überlegungen zu § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB ……………………..………………….………..75

RÜDIGER DECKERS Zur Zurückweisung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen eigener Sachkunde des Gerichts - § 244 Abs. 4 S. 1 StPO – bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage - zugleich eine Besprechung von BGH - 2. Senat – JZ 2010, 471………….………………………………...87

KLAUS DETTER Einlassung mit oder durch den Verteidiger Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?...……...............97

RALF ESCHELBACH Regina Probationum ……………………………………………............115

X

Inhalt

THOMAS FISCHER Spuren der Strafrechtswissenschaft. Eine Leseempfehlung……….……..143

GERD GEILEN § 127 StGB - Aktuell oder noch im Dornröschenschlaf?..........................181

RAINER HAMM Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge…………………………...….195

ERIC HILGENDORF Digitale Außenprüfung und Strafrecht………………………………...…205

HANS JOACHIM HIRSCH Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte…………………………………………………………....219

TATJANA HÖRNLE Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung……………………...239

KRISTIAN HOHN „Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen………………...259

MATTHIAS JAHN Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts.... ………………275

CHRISTOPH KREHL Vollzugslockerungen und Reststrafenaussetzung ……………………….301

Inhalt

XI

CLAUS KREß Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht………….317

KLAUS KUTZER Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und das Verbot der Tötung auf Verlangen……………………………….337

ANDREAS MOSBACHER Zur Zukunft der Widerspruchslösung Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf - ……………………...……357

NORBERT NEDOPIL Neurobiologie, forensische Psychiatrie und juristische Urteilsfindung die Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten im Einzelfall……………...379

MARTIN NIEMÖLLER Das Negativattest im Protokoll (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO)……………393

TIDO PARK Einige verfassungsrechtliche Gedanken zum Tatbestand der Marktmanipulation………………………………………………...…405

JÜRGEN PAULY Zur Auslegung der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll……………………………………………..425

JENS PEGLAU Sicherungsverwahrung im Umbruch……………………………………..437

JOCHEN POHLIT Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Vollstreckungsmodell (BGHSt 52,124)……………………………...…..453

XII

Inhalt

CHRISTOF PÜSCHEL Boom der Insolvenzdelikte?.......................................................................471

PETER RIESS Die schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters Materialien zur Reform des § 267 StPO…...……………..………...……491

THOMAS RÖNNAU Schadensfiktionen in der Rechtsprechung der Strafgerichte……………..517

HENNING ROSENAU Die Neuausrichtung der passiven Sterbehilfe Der Fall Putz im Urteil des BGH vom 25. 06. 2010 – 2 StR 454/09…….547

SVENJA RUHS Neue Wege für das Betrugsstrafrecht……………………………......…...567

WILHELM SCHMIDT / KERSTIN FUHRMANN „Siemens-Darmstadt“ (BGHSt 52, 323) und das internationale Korruptionsstrafrecht…………………………………………………......585

BERTRAM SCHMITT Zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK..………….....617

HEINZ SCHÖCH Die „unterbelichtete“ Schadenswiedergutmachung gemäß § 46a StGB…………………………………………………………...…..639

LOTHAR SENGE Zwei Rechtsfragen aus dem Bereich der Nebenklage………...…………657

Inhalt

XIII

SVEN THOMAS Strafbare Teilnahme an einer Untreue nach § 266 StGB bei gegenläufigen Interessen?………………………………………...……...669

KLAUS TIEDEMANN Generalklauseln im Wirtschaftsstrafrecht am Beispiel der Unlauterkeit im Wettbewerbsstrafrecht…...………...….685

KLAUS ULSENHEIMER Zur Strafbarkeit des Arztes beim „off-label-use“ von Medikamenten………………………………………………...……..701

BRIAN VALERIUS Zur Strafbarkeit des Dopings de lege lata und de lege ferenda……..…...717

HANS-JOACHIM WEIDER Das Verbot der Verständigung über Maßregeln der Besserung und Sicherung - § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO -…………..……731

THOMAS WEIGEND Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren………………………………………………………....749

GEREON WOLTERS Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB……………………………………………………...……..767

FRANK ZIESCHANG Das Konkurrenzverhältnis von Zustands- und Dauerdelikt……………...787

GEORG ZIMMERMANN Zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau………………807

XIV

Inhalt

SCHRIFTENVERZEICHNIS Ruth Rissing-van Saan…………………………………...………………823

AUTORENVERZEICHNIS…………………………..…………………….825

Kann nach der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren noch auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Urteilsabsprache zurückgegriffen werden? GERHARD ALTVATER

I. Am 4. August 2009 ist das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren in Kraft getreten.1 Mit dem Vorhaben ist der Gesetzgeber einer Bitte des Bundesgerichtshofs nachgekommen. Der Große Senat für Strafsachen hatte ihn aufgerufen, die Zulässigkeit und - bejahendenfalls die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Der Senat erachtete ein Tätigwerden des Gesetzgebers für erforderlich, weil die Versuche der obergerichtlichen Rechtsprechung, die zwischenzeitlich weit verbreiteten Urteilsabsprachen im Wege der systemimmanenten Korrektur von Fehlentwicklungen zu strukturieren oder unter Schaffung neuer, nicht kodifizierter Instrumentarien ohne Bruch in das gegenwärtige System einzupassen, nur unvollkommen gelingen konnten und die Gerichte stets von neuem an die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung führten.2 Der Gesetzgeber hat diesen Auftrag noch in der 16. Legislaturperiode in Angriff genommen. Dabei hat er gleichsam einen Mittelweg beschritten: Einerseits hat er die in der Praxis der Tatgerichte praeter oder contra legem entwickelte Urteilsabsprache unter der Bezeichnung Verständigung3 gesetzlich anerkannt. Andererseits hat er aber davon abgesehen, ein eigenständiges institutionalisiertes Verständigungsverfahren zu schaffen, das als „konsensuale“ Alternative neben das herkömmliche „streitige“ Strafverfahren treten konnte. Die Urteilsabsprache sollte vielmehr in das hergebrachte System des Strafverfahrens 1

BGBl. I 2353. BGHSt 50, 40, 64. 3 Der Begriff Verständigung wurde in Abkehr vom bisherigen Sprachgebrauch gewählt, um den Eindruck zu vermeiden, dem Urteil liege eine quasi vertraglich bindende Vereinbarung zugrunde, vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 8. 2

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Gerhard Altvater

integriert werden, wobei die bisherigen Verfahrensgrundsätze, insbesondere die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) „unberührt“ bleiben sollten.4 Der Gesetzgeber ist also den Weg weiter gegangen, den die Rechtsprechung bereits eingeschlagen hatte. Die neuen Vorschriften beschränken sich auf die Beantwortung einiger zentraler Fragen; es geht ihnen insbesondere um Transparenz und um die Kontrolle der Praxis der Instanzgerichte. Eine erschöpfende Regelung des Verständigungsverfahrens enthalten sie nicht. Für die Praxis stellt sich deshalb zunächst die Frage, ob und in welchem Umfang die Rechtsprechung der Obergerichte zur Urteilsabsprache weiterhin anwendbar ist. Darum soll es in dem Beitrag gehen. Es geht weder um Fundamentalkritik an der Anerkennung eines quasivertraglichen Fremdkörpers im bisher weitgehend dispositionsfeindlichen, an Amtsermittlungsgrundsatz und Schuldprinzip ausgerichteten Strafverfahren noch um die möglicherweise verpasste Chance, ein näher am Konsens orientiertes eigenständiges Verfahren zu entwickeln.5 Die - gewiss spannende - Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der strafrechtlichen Sanktionierung auf konsensualer Grundlage werfe ich nicht auf. Ich wage mich auch nicht an die Prognose, ob die gesetzliche Neuregelung Entscheidendes an der bisherigen Praxis ändern wird oder ob die Instanzgerichte - wie bisher - ihre eigenen Wege abseits des Gesetzes beschreiten werden. Dafür mag einiges sprechen, weil die Missstände, die zur Verbreitung der Absprachen geführt haben, durch das neue Gesetz nicht behoben werden6 und weil zu befürchten ist, dass das Jahrzehnte währende Judizieren „praeter legem“ nicht ohne Einfluss auf die Rechtstreue der Beteiligten und auf die Bindungskraft des geschriebenen Rechts geblieben ist.7 Aber das ist nicht mein Thema. Mir geht es um die Prüfung, inwieweit unter der Geltung des neuen Rechts noch auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zurückgegriffen werden kann und inwieweit sie durch die gesetzliche Neuregelung überholt ist. Naturgemäß kann nicht alles erörtert werden, was binnen eines Vierteljahrhunderts zur Verfahrensabsprache judiziert worden ist. Ich beschränke mich deshalb auf einige zentrale Themen und gehe im Übrigen davon aus, dass dies genügt, um Verschränkungen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung aufzuzeigen.

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So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 8f. Vgl. hierzu Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 3327, 328ff. 6 Fischer, StraFo 2009, 177, 187. 7 Zur geringen Akzeptanz der durch den Bundesgerichtshof entwickelten Leitlinien in der gerichtlichen Praxis, vgl. Weider StV 2003, 267; Fischer StraFo 2009, 177, 178ff.; vgl. auch Harms FS Nehm (2006) S. 289ff. 5

Regelung der Verständigung im Strafverfahren

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II. 1. Weiterhin verbindlich ist unzweifelhaft die Rechtsprechung, die vom Gesetzgeber ohne inhaltliche Änderung festgeschrieben und in Gesetzesform gegossen wurde. Dies gilt etwa für die Pflicht, dem Angeklagten eine qualifizierte Rechtsmittelbelehrung zu erteilen,8 aber auch für die Entscheidung, keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist zu gewähren, wenn eine Belehrung, die dieser Anforderung entspricht, nicht erteilt wurde.9 Nunmehr regelt § 44 Satz 2 StPO diesen Sachverhalt, indem er auf andere Alternativen des § 35a StPO, nicht aber auf den neuen § 35a Satz 3 StPO verweist. Die frühere Rechtsprechung gewährte Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Revision nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, etwa dann, wenn ein Rechtsmittelverzicht Gegenstand der Absprache war und zugleich ein Irrtum des Angeklagten über deren Reichweite vorlag10 oder wenn der in der Absprache vereinbarte Verzicht im Vertrauen auf eine unwirksame und letztlich nicht eingehaltene Zusage abgegeben worden war.11 Keine Wiedereinsetzung wurde hingegen gewährt, wenn der Angeklagte die Rechtsmittelfrist in der irrigen Annahme verstreichen ließ, er sei durch einen in der Absprache vereinbarten und deshalb unwirksamen Rechtsmittelverzicht gebunden:12 Der auf der Unkenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beruhende Irrtum über die Unwirksamkeit des Verzichts begründete keine Verhinderung im Sinne des § 44 Satz 1 StPO.13 Die Rechtsprechung war nicht immer konsequent. Ihr kann aber immerhin entnommen werden, dass Wiedereinsetzung nur in besonders gelagerten Fällen zu gewähren war, insbesondere dann, wenn ein zusätzlicher Vertrauenstatbestand vorlag, der von der Justiz geschaffen wurde oder von ihr zu verantworten war. Dies dürfte auch in Zukunft gelten: Der Rechtsirrtum wird weiterhin grundsätzlich zu Lasten des Irrenden gehen; Wiedereinsetzung wird nur dann zu gewähren 8 § 35a Satz 3 StPO; zum Inhalt der Belehrung vgl. BGH NStZ 2009, 282; zum Inhalt des Protokollvermerks BGH NStZ-RR 2009, 282. 9 So BGHSt 50, 40, 62f., der Große Senat für Strafsachen wollte die Vermutung des Nichtverschuldens nicht auf eine durch Richterrecht geschaffene Belehrungspflicht erstrecken; BGH NStZ-RR 2005, 271; wistra 2005, 468; 2006, 28; 146; 189. 10 BGHSt 45, 227, 233. Die Verständigung im Ausgangsverfahren zielte auf eine „Generalbereinigung“ ab; die Staatsanwaltschaft stimmte aber der hierzu erforderlichen Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, das zur Zeit der Absprache weder dem Gericht noch dem Sitzungsvertreter bekannt war, nicht zu. 11 BGH NStZ 1995, 556; vgl. auch wistra 2006, 231 zur nicht eingehaltenen Zusage als Wiedereinsetzungsgrund. 12 BGH NStZ 2005, 582. 13 BGHSt 50, 40, 63; wistra 2005, 310; 2006, 28.

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Gerhard Altvater

sein, wenn dies mit Blick auf die Anforderungen auf ein rechtsstaatliches Verfahren unabweisbar geboten ist. Bereits zum neuen Recht hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, dass die Unkenntnis des neuen § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO, der den Rechtsmittelverzicht nach einer Verständigung ausschließt, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist nicht begründen kann.14 Der Senat führt damit die bisherige Rechtsprechung bruchlos fort. Dass eine Punktstrafe nicht Gegenstand der Verständigung sein kann,15 ergibt sich nunmehr aus dem Gesetz, das in ersichtlicher Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (nur) die Angabe einer Ober- und Untergrenze der Strafe zulässt und damit zugleich die konkrete Festlegung auf eine bestimmte Sanktion verbietet (§ 257c Abs. 3 Satz 2 StPO).16 Die Neuregelung weicht allerdings von der bisherigen Rechtsprechung ab, die nur die Angabe einer Obergrenze vorgesehen hatte.17 Die - bisweilen kritisierte18 - Regelung zwingt den Tatrichter, auch im abgesprochenen Urteil Ausführungen zur Strafzumessung zu machen und jedenfalls die dafür bestimmenden Umstände im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO darzulegen. Bei der Vereinbarung einer Punktstrafe könnte er sich dieser Aufgabe durch den Hinweis auf die Bindung der Verständigung entziehen, mit der Folge, dass die Strafzumessung in der Revisionsinstanz weithin unüberprüfbar würde. Der neue § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO schreibt jetzt das Verbot fest, Maßregeln der Sicherung und Besserung zum Gegenstand der Absprache zu machen; auch diese Vorschrift greift Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf,19 geht allerdings, soweit die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) erfasst wird, darüber hinaus. Ob der Gesetzgeber gut beraten war, auch Verständigungen über diese Maßregel zu verbieten, kann bezweifelt werden, zumal die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Ermessen des Gerichts steht, also disponibel ist und - soll sie erfolgreich 14

BGH, Beschl. v. 1. 4. 2010 - 4 StR 637/09. BGHSt 43, 195, 206; 51, 84. 16 Vgl. BGHSt 51, 84; zur Auslegung der Vorschrift vgl. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren § 257c Rn. 45; SK-Velten § 257c Rn. 21. 17 BGHSt 43, 195 hatte nur die Angabe einer Strafobergrenze vorgesehen, die erfahrungsgemäß auch ausgeurteilt wurde; künftig wird wohl die von der Staatsanwaltschaft als angemessen akzeptierte Strafuntergrenze den Rechtsfolgenausspruch bestimmen, vgl. Meyer-Goßner Ergänzungsheft (EH) zu StPO, 52. Aufl. § 257c Rn. 20. Bittmann wistra 2009, 414, 415 will die Vorschrift dahingehend verstehen, dass das Gericht entweder eine Ober- oder aber eine Untergrenze in Aussicht stellen kann; gegen diese - mit dem Wortlaut schwerlich in Einklang zu bringende - Auslegung streitet die Entwurfsbegründung, die von einem Strafrahmen spricht, vgl. BT-Drucks 16/12310 S. S. 14. 18 Vgl. Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 11. 19 So BGH Strafverteidiger 2006, 118. 15

Regelung der Verständigung im Strafverfahren

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verlaufen - in besonderem Maße der Mitwirkung des Verurteilten bedarf.20 Zu der Frage, ob Verständigungen über die Aussetzung einer Unterbringung (§ 67b StGB), über die Dauer einer Sperre nach § 69a StGB oder über die Aussetzung eines Berufsverbots (§ 70a StGB) möglich sind,21 liegen - soweit ersichtlich - keine Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vor. Das neue Recht enthält sich einer ausdrücklichen Stellungnahme hierzu; die Gesetzesmaterialien sind nicht ergiebig. Ob diese Begleitentscheidungen vom Verbot des § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO erfasst werden, wird also von einer künftigen Auslegung der Vorschrift abhängen, die nicht ohne weiteres vorhersehbar ist. Dabei liegt ein enges Verständnis des Verbots nahe. Die Dauer der Sperrfrist steht im Ermessen des Gerichts; bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung von Maßregeln ist dem Tatrichter ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt. Beides erscheint grundsätzlich als ebenso verhandelbar, wie die Höhe einer Strafe oder die Aussetzung ihrer Vollstreckung. Auch die Forderung des Bundesgerichtshofs, wonach der Schuldspruch nicht Gegenstand der Verständigung sein dürfe,22 hat Eingang in das geschriebene Recht gefunden und gilt damit fort. Wie bisher bleiben allerdings Reichweite und Sinn des Verbots im Dunkeln. Ein Verbot von Vereinbarungen über die rechtliche Bewertung der Urteilsfeststellungen wäre sinnlos, weil sich diese Bewertung unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und für den gesetzesgebundenen Richter nicht verfügbar ist: Dass ein Sachverhalt, der sämtliche Merkmale des Raubs enthält, nicht in einen Diebstahl „umgedeutet“ werden darf, ist eine Banalität, die der gesetzlichen Regelung nicht bedurft hätte. Hingegen ist eine Verständigung über die Urteilsfeststellungen nicht nur möglich, sondern meist auch erforderlich. Die im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Verständigung über ein Geständnis (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO) setzt Einvernehmen über den Inhalt der geständigen Einlassung voraus: Der Angeklagte teilt mit, was er gestehen will, das Gericht erklärt sich mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft bereit, dies als Urteilsgrundlage, gleichsam als die „prozessuale“ Wahrheit zu akzeptieren. Der dem Schuldspruch zugrunde zu legende Sachverhalt ist deshalb regelmäßig „Gegenstand“ der Verständigung; innerhalb der durch Akteninhalt und Aufklärungspflicht gezogenen Grenzen ist er konsensual

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Zweifelnd auch BGH NStZ 2000, 286, 287. Der Entwurf der BRAK erachtete Verständigungen über diese Punkte für möglich, vgl. ZRP 2005, 239. Dass Absprachen über die Dauer der Sperre nach § 69a StGB in der amts- und landgerichtlichen Praxis an der Tagesordnung waren und wohl auch noch sind, ist sicher anzunehmen. 22 Vgl. BGHSt 43, 195, 204; 50, 40, 50; StV 2009, 274; BGH, Urt. vom 16. Juni 2005 3 StR 338/04, bei Becker NStZ-RR 2007, 2. 21

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gestaltbar.23 Gestaltbar ist der Schuldspruch ferner durch die Möglichkeiten der Teileinstellung und der Beschränkung der Strafverfolgung (§ 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO), die nach wie vor Gegenstand von Verständigungen sein können.24 Das Entfallen der Bindung des Gerichts an die Absprache formuliert das Gesetz mit den Worten des Großen Senats, der die Voraussetzungen für die Lösung von der Verständigung gegenüber der früheren Rechtsprechung herabgesetzt hat.25 In Gesetzesform gegossen ist nunmehr auch die vom Bundesgerichtshof26 im Gegensatz zu einer beachtlichen Literaturmeinung27 bejahte Notwendigkeit, die Staatsanwaltschaft in die Verständigung einzubinden. Damit wurde wohl die angemessene und richtige Entscheidung getroffen, weil der Übergang in das Verständigungsverfahren einen Einschnitt in die Hauptverhandlung bildet, der einer Verfügung über die Anklage gleichkommt und weil solche Verfügungen nach der klassischen Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht der Mitwirkung der Anklagebehörde bedürfen.28 Das in der Rechtsprechung entwickelte Verbot, einen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand der Absprache zu machen,29 ist zwar nicht ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen worden;30 die Unwirksamkeit solcher Vereinbarungen ergibt sich aber nunmehr aus § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO, der den Rechtsmittelverzicht bei Urteilen, denen eine Verständigung vorausgegangen ist, ausschließt.

2. Auf der anderen Seite steht Rechtsprechung, die ebenso unbestreitbar durch das neue Gesetz überholt ist. Dazu zählen etwa die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur (grundsätzlichen) Wirksamkeit des Rechtsmit-

23 Zur Umgehung des Verbots der Verständigung über den Schuldspruch durch einvernehmliche Geständnisse mit zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, vgl. Fischer StraFo 2009, 177, 181; vgl. auch Altenhain/Haimerl JZ 2010, 337, 331. 24 Vgl. RegE, BT - Drucks. 16/12310 S. 13; Bittmann wistra 2009, 414, 415. 25 BGHSt 50, 40, 50, enger noch BGHSt 43,195 (LS 2), der neue und schwerwiegende Umstände zu Lasten des Angeklagten voraussetzen wollte. 26 BGHSt 45, 312, 315; NStZ 2003, 563. 27 Meyer-Goßner StPO, 51. Aufl. Rn. 12 vor § 213 m. w. N. 28 Die Entscheidung für das Verständigungsverfahren wiegt nicht weniger schwer als der Übergang in das Strafbefehlsverfahren nach § 408a StPO. 29 BGHSt 43, 195 (LS 5); 50, 40 (LS 1). 30 Der Regierungsentwurf, BT-Drucks 16/12310, hatte dies in § 257c Abs. 2 Satz 2 StPO noch ausdrücklich vorgesehen; dies ist durch den im Gesetzgebungsverfahren erweiterten § 302 Abs. 1 Satz 2, der die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts vorsieht, überholt. Zur Praxis: Fischer StraFo 2009, 177, 184.

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telverzichts.31 Sie sind durch den bereits erwähnten § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO hinfällig geworden. Hier wird sich das Terrain der Auseinandersetzung auf Umgehungsversuche verlagern. Anzeichen dafür werden schon jetzt sichtbar: In einem bereits zum neuen Recht ergangenen Beschluss hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, dass eine Revision auch dann vor Ablauf der Einlegungsfrist zurückgenommen werden kann, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist. Die Rücknahmeerklärung führt die Rechtskraft unmittelbar herbei, denn sie enthält den Verzicht auf die Wiederholung des Rechtsmittels32 und führt dazu, dass die erneute Einlegung innerhalb der noch offenen Rechtsmittelfrist nicht mehr zulässig ist.33 Der Senat deutet allerdings an, dass er ein ausschließlich auf die Umgehung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO abzielendes Verhalten nicht akzeptieren will. Ob ein solcher Missbrauchsfall vorliegt, der die Unwirksamkeit der Revisionsrücknahme zur Folge haben könnte, wird vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessenlage zu bewerten und im Einzelfall zu entscheiden sein, etwa danach, ob der Angeklagte ein nachvollziehbares Interesse an der sofortigen Rechtskraft hat. Durch § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO überholt ist ferner die differenzierende und nicht immer einheitliche Entscheidungspraxis zur Frage der Verwertung eines absprachegemäß abgelegten Geständnisses im Falle des Scheiterns der Verständigung.34 Weiterhin aktuell dürfte hingegen die Rechtsprechung des BGH sein, wonach Geständnisse, die im Falle des Scheiterns einer Absprache nicht verwertet werden dürfen, gleichwohl strafmildernd zu berücksichtigen sind.35 Nicht im strengen Sinne überholt, indessen weitgehend bedeutungslos geworden ist die Pflicht, dem Rechtsmittelberechtigten eine qualifizierte Belehrung zu erteilen.36 Sie findet sich zwar in dem neuen § 35a Satz 3 StPO wieder; ein Verstoß ist aber folgenlos, weil der Rechtsmittelverzicht unabhängig von der Belehrung stets unwirksam ist (§ 302 Abs. 1 Satz 2 StPO) und weil die Fiktion des Nichtverschuldens nach der Neufassung des § 44 Satz 2 StPO für solche Verstöße nicht gilt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Belehrungsmängeln also nicht gewährt wird.37 Ersichtlich handelt es sich um ein weitgehend inhaltslos gewordenes Relikt aus dem 31 BGH NStZ 2004, 164; BGHSt 50, 40, 57 ff.; die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts wurde angenommen, wenn entweder keine qualifizierte Belehrung erfolgt war oder der Angeklagte durch unzulässigen Druck zur Abgabe der Erklärung genötigt worden war, vgl. BGH NJW 2004, 1885. 32 BGHSt 10, 245. 33 BGH StV 2010, 346 34 Zum Regelungsbedarf vgl. BGHSt 50, 40, 51. 35 BGHSt 42, 191. 36 BGHSt 50, 40, 61. 37 In diesem Sinne bereits BGHSt 50, 40, 62f.

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ursprünglichen Regierungsentwurf, der - insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des Großen Senats für Strafsachen - die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts noch an die qualifizierte Belehrung knüpfen wollte.38 Die Vorschrift sollte überdacht werden: Bei einem verteidigten Angeklagten bringt das Gebot der qualifizierten Belehrung Zweifel an Redlichkeit oder Fähigkeit des Verteidigers zum Ausdruck; sie wirkt deshalb diskriminierend, ohne dass dafür ein tragfähiger Grund zu ersehen wäre.39 Dies legt es nahe, das Gebot der qualifizierten Belehrung auf die Fälle zu beschränken, in denen der Angeklagte keinen Verteidiger hat und deshalb der Belehrung bedarf. Ich bemerke dies, obwohl das Gebot der qualifizierten Belehrung vom Bundesgerichtshof gerade für Fälle der notwendigen Verteidigung entwickelt wurde. Mit den Regelungen der §§ 202a, 212 StPO, die informelle Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung ausdrücklich zulassen, tritt das Gesetz den Bedenken entgegen, die der Bundesgerichtshof in seiner älteren Rechtsprechung gegen solche Kontakte zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht geäußert hatte.40 Im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung wird zugleich klargestellt, dass Gespräche dieser Art nicht den Vorwurf der Befangenheit rechtfertigen.41 Verboten ist allerdings die gezielte Umgehung eines Verfahrensbeteiligten. Die unfaire Nichtbeteiligung an Vorbesprechungen zur Verfahrenserledigung oder die Täuschung über die Verbindlichkeit einer unwirksamen Zusage kann die Besorgnis der Befangenheit des beteiligten Richters begründen.42 Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung43 sieht das Gesetz keinen Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf ein Rechtsgespräch vor; es räumt dem Gericht insoweit kumulativ Ermessen („kann“) und einen nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum („geeignet erscheint“) ein.44

38 Vgl. den ersichtlich an BGHSt 50, 40 anknüpfenden § 302 Abs. 1 Satz 2 i. d. F. des Entwurfs der Bundesregierung, BT-Drucks 16/12310 S. 6. 39 Kritisch auch Nehm StV 2007, 549, 552; allein der Umstand, dass der Verteidiger an der Absprache ein eigenes Interesse haben kann (vgl. etwa die Untersuchung von Schünemann NJW 1989, 1895, 1901), rechtfertigt den in der Vorschrift zum Ausdruck kommenden Generalverdacht nicht. 40 Vgl. etwa BGH NStZ 1994, 196; 1997, 561; Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2627 empfehlen, die Initiative zu Verständigungsgesprächen dem Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft zu überlassen. 41 So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 13 zum Rechtsgespräch in der Hauptverhandlung; zur Zulässigkeit von Kontakten zwischen Gericht und Verteidigung außerhalb der Hauptverhandlung vgl. BGH NStZ 2008, 172. 42 Vgl. BGH NStZ 2003, 563. 43 BGHSt 43, 212. 44 Kritisch hierzu SK-Velten § 257b Rn. 2.

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3. Eine weitere Gruppe bilden die Regelungen des neuen Gesetzes, die kein Vorbild in der Rechtsprechung finden. Dazu zählen in erster Linie die umfassenden Dokumentations- und Aufklärungspflichten der § 160b Satz 2, § 202a Satz 2 auch in Verbindung mit § 212, § 267 Abs. 3 Satz 5, § 273 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1a StPO. Der bisherigen Rechtsprechung waren keine umfassenden Pflichten zur Dokumentation von Gesprächen mit dem Ziel einer verfahrensbeendenden Absprache zu entnehmen; lediglich das Ergebnis einer Absprache in der Hauptverhandlung musste als wesentliche Förmlichkeit in das Protokoll aufgenommen werden.45 Zur Reichweite der Beweiskraft dieser Protokollvermerke lagen divergierende Entscheidungen der Strafsenate vor. Nach der überwiegenden Rechtsprechung war infolge der negativen Beweiskraft mit dem Schweigen des Protokolls bewiesen, dass eine Absprache nicht stattgefunden hatte (§ 274 StPO).46 Vereinzelt finden sich allerdings auch Entscheidungen, die in der fehlenden Protokollierung kein Hindernis für die freibeweisliche Feststellung einer (unzulässigen) Absprache in der Revisionsinstanz sahen.47 Das neue Recht führt die Streitfrage einer differenzierenden Lösung zu: Enthält das Protokoll die in § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO bezeichneten Feststellungen, so stehen Ablauf, Inhalt und Ergebnis der Verständigung fest, denn es handelt sich um wesentliche Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO. Vergleichbares gilt für das sog. Negativattest des § 274 Abs. 1a Satz 3 StPO;48 hier erstreckt sich die formelle Beweiskraft des Protokolls auf die dokumentierte Feststellung, eine Verständigung habe nicht stattgefunden.49 Schweigt die Niederschrift, enthält sie also weder die Feststellung einer Verständigung noch die Feststellung, eine Verständigung habe nicht stattgefunden, so liegt eine offensichtliche Lücke vor, die Feststellungen im Freibeweisverfahren ermöglicht bzw. gebietet.50 Die formelle Beweiskraft des Protokolls gilt nur im anhängigen Verfahren für

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Vgl. etwa BGHSt 43, 195, 206. BGH NStZ 2004, 342; 2007, 355. 47 BGHSt 45, 227, 228 (4. Strafsenat) zur unzulässigen Vereinbarung einer Punktstrafe, mit dem bemerkenswerten Argument, die Beweiskraft des Protokolls hindere die freibeweisliche Feststellung eines rechtlich unzulässigen Geschehens nicht; der 3. Strafsenat hat die Frage der absoluten Beweiskraft des Protokolls aufgeworfen, letztlich aber nicht entschieden (vgl. NStZRR 2007, 245f. zum Beweiswert eines abgesprochenen Geständnisses). 48 So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 15; Jahn/Müller NJW 2009, 2630; nunmehr BGH StV 2010, 346; Bittmann wistra 2009, 416 will hingegen nur den gescheiterten Verständigungsversuch in das Protokoll aufnehmen. 49 BGH StV 2010, 346. 50 Vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 274 Rn. 17. 46

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das Gericht höherer Instanz.51 Hinsichtlich des Nachweises von Absprachen, die in anderen Verfahren stattgefunden haben, ist deshalb zu differenzieren: Geht es um die Prüfung der Glaubhaftigkeit einer (möglicherweise) abgesprochenen Aussage, gilt das Strengbeweisverfahren; Beweisanträge sind nach § 244 Abs. 3 bis 6 StPO zu verbescheiden.52 Geht es - etwa mit Blick auf § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO - nur um die Verwertbarkeit einer Aussage, mithin um eine nur prozessual erhebliche Tatsache, so ist dies im Freibeweisverfahren, d. h. ohne Bindung an das formelle Beweisantragsrecht zu klären.53 Mit § 160b StPO, der Absprachen im Ermittlungsverfahren zum Gegenstand hat, hat der Gesetzgeber Neuland betreten. Das neue Gesetz regelt den Inhalt solcher Absprachen nicht; angesprochen wird nur die (selbstverständlich schon vorher gegebene) Möglichkeit, den Verfahrensstand zu erörtern und die (neue) Pflicht, den wesentlichen Inhalt solcher Erörterungen aktenkundig zu machen. Die Begründung des Regierungsentwurfs stellt klar, dass das Gesetz damit nicht nur rein informative Gespräche im Sinne einer Bestandsaufnahme meint, sondern dass es auch um einvernehmliche Regelungen über Fortgang und künftige Gestaltung des Ermittlungsverfahrens gehen kann; im Gesetzeswortlaut wird dies durch die Voraussetzung verdeutlicht, wonach solche Gespräche geeignet sein sollen, das Verfahren zu fördern.54 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Absprachen im Ermittlungsverfahren hält sich in überschaubaren Grenzen, weil nicht das Ermittlungsverfahren, sondern die Hauptverhandlung im Fokus der Revision steht. Zusagen der Ermittlungsbehörden wurden danach nahezu ausschließlich unter dem Blickwinkel der Verwertungsverbote, insbesondere des § 136a Abs. 3 StPO gewürdigt.55 Entscheidungen, die fehlgeschlagene Absprachen im Ermittlungsverfahren zum Gegenstand haben, sind vereinzelt geblieben; wesentliche Fragen sind noch offen. Nicht abschließend geklärt ist etwa, wie der Fall zu behandeln ist, dass die Staatsanwaltschaft an ihrer Zusage nicht mehr festhalten will, wenn der Angeklagte ein Rechtsmittel zurückgenommen hat im Vertrauen auf das Versprechen der Staatsanwaltschaft, sie werde der Einstellung eines anderen Verfahrens zustimmen: Nach einer älteren Entscheidung des 3. Strafsenats soll der Bruch der Zusage grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis führen, sondern lediglich als bestimmender und deshalb gem. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO ausdrücklich zu erörternder Umstand bei der Strafzumessung zu be51

BGHSt 26, 281, 286. BGH NStZ-RR 2007, 116. 53 BGHSt 16, 164, 166. 54 BT-Drucks. 16/12310 S. 11/12. 55 In Betracht kommt insbesondere das Versprechen gesetzlich nicht vorgesehener Vorteile, vgl. hierzu die Beispiele bei Meyer-Goßner a.a.O. § 136a Rn. 23. 52

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rücksichtigen sein.56 Weitergehend will eine neuere Entscheidung desselben Senats unter dem Blickwinkel der Verfahrensfairness ein Verfahrenshindernis nicht ausschließen, wenn eine angemessene Kompensation auf andere Weise nicht möglich ist.57 In beiden Fällen war die Zusage der Staatsanwaltschaft allerdings in eine Absprache eingebunden, die ein gerichtlich anhängiges Verfahren betraf und die unter Mitwirkung des Gerichts zustande gekommen war. Auf Zusagen der Staatsanwaltschaft, die nicht in diesem Kontext stehen, kann diese Rechtsprechung nicht ohne weiteres übertragen werden. Eine Pflicht, Vorgespräche im Ermittlungsverfahren aktenkundig zu machen (§ 160b Satz 2 StPO), wurde in der Literatur zwar erörtert,58 die Rechtsprechung hatte diese Forderung indessen bisher nicht aufgegriffen. Das Gesetz betritt deshalb auch insoweit Neuland. Die Grenzlinie zwischen Erörterungen, die zu dokumentieren sind, und zwischen bloßen Kontaktaufnahmen und Auskünften, die dessen nicht bedürfen, wird in der Praxis allerdings noch zu ziehen sein. Den Gesetzesmaterialien kann hierzu wenig entnommen werden. Der Regierungsentwurf sieht den Sinn der Regelung darin, dass Erörterungen für die Beteiligten von Gewicht sein können „besonders im Hinblick auf die dabei möglicherweise erzielten Ergebnisse und den weiteren Verfahrensablauf“ und dass die Fixierung in den Akten Streitigkeiten über das „Ob und Wie solcher Gespräche“ vorbeugen soll.59 Man wird dem entnehmen können, dass nur Erörterungen von Gewicht zu dokumentieren sind, etwa solche, die ein Ergebnis haben, das das künftige Verfahren beeinflussen kann.60 Die bloße Anfrage des sachbearbeitenden Staatsanwalts beim Verteidiger, ob mit einem Geständnis zu rechnen sei, gehört dazu nicht. Einschränkend sollten auch die Dokumentationsgebote der §§ 202a, 212 StPO ausgelegt werden. Da es nicht darum gehen kann, jeden Kontakt zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten zu formalisieren, erscheint es angezeigt, diese Vorschriften im Licht der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO auszulegen: Danach sind jedenfalls solche Gespräche in den Akten festzuhalten, die die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand haben oder dazu führen können. Darüber hinaus sollte Zurückhaltung walten: Zu weitgehende Dokumentations- und Erörterungspflichten werden von der Praxis entweder nicht ernst genommen 56 BGHSt 37, 10, 14 m. Anm. Gatzweiler NStZ 1991, 46; Weigend JR 1991, 257; Scheffler wistra 1990, 319. 57 BGH NStZ 2008, 416. 58 Vgl. etwa Meyer-Goßner a.a.O. Rn. 18 vor § 213. 59 Vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 11. 60 Vgl. Bittmann wistra 2009, 414; Meyer-Goßner EH § 160b Rn. 8; Schlothauer in Niemöller/Schlothauer/Weider Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren § 160b Rn. 23f., § 202a Rn. 21.

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oder als lästig empfunden. Sie können ein Hindernis für den von Gesetzgeber gewünschten offenen Verhandlungsstil61 bilden. Ferner kann die Bekanntgabe gescheiterter Gespräche zu Spekulationen in der Öffentlichkeit führen; der Angeklagte kann einen nachhaltigen Imageverlust erleiden.62 Neuland betritt das Gesetz schließlich mit der Pflicht, die Verständigung in den Gründen des Urteils festzuhalten (§ 267 Abs. 3 Satz 5 StPO). Der Hinweis stellt die erforderliche Transparenz her und kann bei der Gewichtung des Beweiswerts der Urteilsgründe hilfreich sein. Über das Strafverfahren hinaus gilt das vor allem im Disziplinar- und im berufsgerichtlichen Verfahren, so etwa bei der Frage, ob die für einen Lösungsbeschluss (§ 57 Abs. 1 Satz 2 BDG; § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO § 118 Abs. 3 Satz 2 BRAO; § 109 Abs. 3 Satz 2 StBerG) erforderlichen Zweifel oder Bedenken gegen strafgerichtliche Feststellungen begründbar sind.63 Formelle Beweiskraft hat der Hinweis in den Urteilsgründen nicht; der Inhalt des Protokolls geht vor.64 Der Vermerk dient nicht der verfahrensinternen Überprüfung der Beweiswürdigung in der Revisionsinstanz. Er ist deshalb auch bei unmittelbarer Rechtskraft der Entscheidung in das abgekürzte Urteil aufzunehmen (§ 267 Abs. 4 Satz 2 StPO). Fehlt der Hinweis, macht das die Beweiswürdigung nicht lückenhaft und bereits deshalb angreifbar; für die Revision ist ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht folgenlos. Die Pflicht, den Angeklagten über Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von der Verständigung zu belehren (§ 257c Abs. 5 StPO), sollte nach der ursprünglichen Konzeption des Referentenentwurfs den Angeklagten vor den dort noch wesentlich gewichtigeren Risiken der Urteilsabsprache warnen. Der Entwurf sah nämlich vor, dass die Verwertung des abgesprochenen Geständnisses des Angeklagten auch im Falle des Scheiterns der Absprache nicht „grundsätzlich“ ausgeschlossen sein sollte.65 Unterblieb die Belehrung, sollte dies dazu führen, dass das Geständnis des Angeklagten nur mit dessen Einverständnis verwertet werden konnte (§ 257c Abs. 5 Satz 2 StPO in der Fassung des Referentenentwurfs). Demgegenüber enthält der insoweit Gesetz gewordene Regierungsentwurf ein Verwertungsverbot für das abgesprochene Geständnis, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO), und zwar unabhängig davon, ob der Angeklagte belehrt wurde oder nicht. Dadurch hat die Vorschrift die ihre ursprünglich beigelegte Bedeutung verloren. Der Verstoß gegen die Belehrungspflicht ist nunmehr folgenlos: Löst 61

BT-Drucks. 16/12310 S. 12. Bittmann aaO S. 414; Fischer StraFo 2009, 177, 186. 63 Vgl. BVerwG Urt. v. 14.3.2007 - 2 WD 3/06 zit. nach juris. 64 Vgl. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO § 267 Rn. 10 (S. 129). 65 § 257c Abs.4 Satz 2 StPO-RefE; ähnlich § 243 Abs. 6 Satz 3 StPO i. d. F. des Bundesratsentwurfs, BT-Drucks. 16/4197. 62

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sich das Gericht von der Verständigung, ist das Geständnis des Angeklagten schon von Gesetzes wegen nicht verwertbar; auf die Belehrung kommt es nicht an. Ergeht hingegen ein vereinbarungskonformes Urteil, hat sich die Gefahr, vor der der Hinweis warnen sollte, nicht verwirklicht. Die rein abstrakte Möglichkeit, dass sich der Angeklagte nicht geäußert hätte, wenn er - grundlos - den Widerruf der Verständigung befürchtet hätte, liegt außerhalb des Schutzbereichs der Norm; ein Verwertungsverbot kommt in diesem Fall nicht in Betracht. 66

4. Daneben stehen Fallgestaltungen, die in der Rechtsprechung eine Rolle gespielt haben, die aber vom Gesetz nicht oder nur rudimentär geregelt werden.

a. Dies gilt zunächst für den Inhalt möglicher Verständigungen. § 257c Abs. 2 StPO regelt die Leistungen, die zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden können, nur bruchstückhaft und stellenweise unklar. Für das Gericht wird der der Verständigung zugängliche Verfahrensstoff durch die angeklagte Tat eingegrenzt, die im Sinne des § 264 StPO Gegenstand der Urteilsfindung ist (§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO), denn nur sie unterliegt der Kognition und der Verfügungsbefugnis des Tatrichters. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung sind Zusagen, die über diesen Bereich hinausweisen, nicht zulässig.67 Nach der Begründung des Regierungsentwurfs sind daneben Zusagen der Staatsanwaltschaft möglich, für die dieser Grundsatz nicht gelten soll.68 Gesetzlich geregelt wird die Einbindung solcher Zusagen in die Verständigung allerdings nicht. Seitens des Gerichts beschränkt sich der Katalog möglicher Zusagen auf die Rechtsfolgen, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können und auf sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren (§ 257c Abs. 2 Satz 1). Unzulässig sind danach Zusagen, die das Vollstreckungsverfahren betreffen;69 auch das entspricht der bisherigen Rechtsprechung.70 Eine weitere, grundlegende Einschränkung ergibt sich daraus, dass das Gesetz die Verständigung nicht 66 A. A. Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider a.a.O. S. 183, der den einfachen Kausalzusammenhang zwischen Belehrungsmangel und Aussage genügen lässt. 67 BGH NStZ 2000, 495; RegE BT-Drucks. 16/12310 S. 13. 68 BT-Drucks. 16/12310 S. 13; Schlothauer/Weider, StV 2009, 600, 601. 69 So ausdrücklich § 243a Abs. 2 StPO i. d. F. d. Entwurfs des Bundesrats BT-Drucks. 16/4197. 70 BGH StV 2000, 542.

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mit einer weiterreichenden Bindungswirkung ausstattet und zugleich die unbeschränkte Nachprüfung in den Rechtsmittelinstanzen vorsieht. Die „Verhandlungsmasse“, die das Gericht einbringen kann, beschränkt sich deshalb auf Bereiche, in denen ihm ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Bereits daraus ergibt sich, dass der Schuldspruch und die meisten Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Gegenstand der Verständigung sein können. § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO, der dies ausdrücklich ausspricht, hat deshalb (weitgehend)71 plakativen Charakter; ersichtlich wollte der Gesetzgeber die bereits erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs72 festschreiben. Vom Bundesgerichtshof bisher nicht entschieden, durch das neue Recht aber nicht ausdrücklich verboten und deshalb wohl zulässig sind Absprachen über die Strafaussetzung zur Bewährung73 und über die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld i. S. d. § 57 a StGB.74 Die den Gerichten insoweit eingeräumten Beurteilungs- bzw. Ermessensspielräume lassen Verständigungen als möglich erscheinen. In Betracht kommt ferner etwa die Zusage einer dem Angeklagten günstigen Anrechnungsentscheidung gem. § 51 StGB.75 Eine Verständigung wird auch über Verfall und Einziehung möglich sein. Der Verfall ist im StGB zwar als zwingende Rechtsfolge ausgestaltet; er kann aber nach Maßgabe der § 430 Abs. 1, § 442 Abs. 1 StPO aus dem Verfahren ausgeschieden werden und ist schon deshalb „verhandelbar“. Gleiches dürfte für Nebenstrafen gelten, etwa für das Fahrverbot (§ 44 StGB). Nicht verhandelbar sind hingegen die zwingenden Rechtsfolgen der Verurteilung, etwa der Verlust der Amtsfähigkeit (§ 45 Abs. 1 StGB). Kein Ermessen ist dem Gericht bei der Entscheidung eingeräumt, ob auf einen Heranwachsenden Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht Anwendung findet (§ 105 JGG). Das in der Rechtsprechung entwickelte Verbot der Vereinbarung von Jugendstrafrecht76 gilt deshalb fort. Nicht ausgeschlossen ist hingegen eine Verständigung über die Höhe der Jugendstrafe.77 Zur Disposition des Gerichts (mit Zustimmung der ohnedies zu beteiligenden Staatsanwaltschaft) stehen ferner Teileinstellungen und Beschränkungen der Strafverfolgung nach Maßgabe der § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO in Bezug auf die angeklagten Taten. Es handelt sich um „verfahrensbezogene Maßnahmen des Erkenntnisverfahrens“ im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO, die Gegenstand 71 Auf die Ausnahme der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§64 StGB) wurde bereits oben hingewiesen. 72 BGHSt 43, 195; 50, 40. 73 Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 12; BRAK-Entwurf, ZRP 2005, 239. 74 Jahn/Kett-Straub StV 2010, 271ff. 75 BRAK-Entwurf ZRP 2005, 239. 76 BGH NStZ 2001, 555. 77 BGH StV 2005, 489; Bedenken noch in NStZ 2001, 555.

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einer Verständigung sein können.78 Die damit verbundene Beschränkung des Prozessstoffes kann zwar den Schuldspruch berühren; dieser nur mittelbare Einfluss macht den Schuldspruch aber nicht zum „Gegenstand“ der Verständigung.79 Über welche sonstigen Maßnahmen sich die Verfahrensbeteiligten verständigen können ist unklar;80 Beweiserhebungen dürften jedenfalls in nur sehr eingeschränktem Maße in Betracht kommen, weil das Gericht einerseits durch die nach § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO „unberührt“ bleibende Aufklärungspflicht gebunden ist, andererseits aber auch keine „unnötigen“ Beweise erheben darf. Als Leistung des Angeklagten kommt in erster Linie ein Geständnis in Betracht. Für die bisherige Rechtsprechung war ein zuverlässiges und konkretes Geständnis regelmäßige Voraussetzung einer Verständigung;81 ausweislich des Regierungsentwurfs will das Gesetz daran festhalten.82 Ein bloßes Formalgeständnis oder etwa die Angabe, den Anklagevorwurf nicht bestreiten zu wollen, reicht nicht aus:83 Bei unklarer Beweislage ist solches nicht geeignet eine Verurteilung zu tragen, bei klarer Beweislage trägt es die Zusage einer Strafmilderung nicht.84 Dem Geständnis gleich steht indessen die Beschränkung einer Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch85 oder die Rücknahme des eigenen Rechtsmittels, wenn die Staatsanwaltschaft eine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung eingelegt hat, weil der Angeklagte hierdurch den Schuldspruch prozessual wirksam außer Streit stellt. Als sonstige Leistungen, die der Angeklagte einbringen kann, werden bisweilen die Wiedergutmachung des Schadens oder das Bemühen um einen Täter-Opfer-Ausgleich genannt.86 Insoweit ist aber in den Blick zu nehmen, dass Ausgleichsleistungen ohne Geständnis nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringeres strafmilderndes Gewicht haben 78

BT-Drucks. 16/12310 S. 13. Schlothauer/Weider StV 2009, 600, 602; vgl. auch § 243a Abs. 2 Satz 3 StPO i. d. F. des Entwurfs des Bundesrats, BT-Drucks. 16/4197. 80 Kritisch Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 13. 81 Vgl. BGHSt 50, 40, 49 „in der Regel“; weitergehend Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 16f. „Ausgangs- und Angelpunkt jeder Absprache“; ebenso: Bittmann aaO S. 415; Nr. 10 der GStA-Eckpunkte „conditio sine qua non“; vgl. auch § 243a Abs. 3 StPO in der Fassung des Entwurfs des Bundesrats, BT-Drucks. 16/4197; Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf § 257c Abs. 2 Satz 2; BT-Drucks 16/12310 S. 18. 82 BT-Drucks. 16/12310 S. 14 unter Bezugnahme auf BGH NJW 2005, 1440, 1442 und NStZ-RR 06, 187; weitergehend der Entwurf des Bundesrats, der in § 243a Abs. 3 StPO-E stets die Erwartung eines Geständnisses voraussetzte. 83 Vgl. Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2629; a. A. Schlothauer/Weider StV 2009, 600, 602. 84 Zur strafmildernden Wirkung eines abgesprochenen Geständnisses vgl. Niemöller GA 2009, 172, 178; Fischer StraFo 2009, 177, 181f. 85 Vgl. LG Freiburg, Urt. v. 18.01.2010 - 7 Ns 610 Js 13070/09. 86 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO. § 257c Rn. 97ff.; KMR - v. HeintschelHeinegg § 257c Rn. 30; § 243a Abs. 1 Nr. 2,3 StPO i. d. F. d. BRAK Entwurfs ZRP 2005, 239. 79

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und in der Regel die Annahme eines Täter/Opfer-Ausgleichs nicht begründen können.87 Diese Wertung darf nicht durch die Gewährung eines großzügigen Strafnachlasses im Rahmen einer Verständigung unterlaufen werden. Zulässig ist das Einverständnis mit der formlosen Einziehung von Gegenständen.88 Möglicherweise im Gegensatz zu der - in diesem Punkt allerdings sehr unklaren - Begründung des Regierungsentwurfs dürften Beweisanträge zur Schuldfrage nicht als „Verhandlungsmasse“ in Betracht kommen.89 Der Bundesgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung von der Unzulässigkeit von Beweisanträgen aus, deren Thema sich auf den Schuldspruch bezieht, die aber unter die Bedingung einer bestimmten Rechtsfolge gestellt werden: Das Beweisbegehren sei nicht ernst gemeint, sondern diene lediglich als Druckmittel.90 Entsprechendes ist einem Beweisantrag entgegenzuhalten, der sich auf die Schuldfrage bezieht, den der Angekl. aber gegen eine Strafmilderung für verhandelbar erachtet. Auch hier wird ein inkonnexes Ziel verfolgt, das zur Unzulässigkeit des Antrags führt. Denkbar ist hingegen die Zusage eines anderen, das Verfahren abkürzenden Prozessverhaltens, so etwa des Einverständnisses mit der Verlesung von Urkunden oder der Zurücknahme eines Widerspruchs gegen die Verwertung von möglicherweise rechtswidrig erlangten Beweisen.91 Weiterhin gültig ist die Rechtsprechung, wonach ein vollständiger Verzicht auf Verteidigung nicht zulässig ist. Die Zusage des Angeklagten, er werde alle aus Sicht des Gerichts zur beschleunigten Beendigung der Hauptverhandlung erforderlichen Erklärungen abgeben, kann deshalb nicht Gegenstand einer Verständigung sein.92 Im Anschluss an die Rechtsprechung, wonach das dem Angeklagten angesonnene Verhalten mit der angeklagten Tat oder dem Gang der Hauptverhandlung im Zusammenhang stehen muss,93 wurde bisweilen angenommen, dass die Hilfe bei der Aufklärung von Straftaten dritter Personen nicht Gegenstand einer Verständigung sein könne.94 Ich möchte dies bezweifeln, weil der notwendige Konnex zwischen der Strafzumessung für die angeklagte Tat und dem Aufklärungsbeitrag nun-

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Vgl. BGHSt 48, 134 aber auch StV 2008, 464. KMR - v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 27; Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 10; zur formlosen Einziehung BGHSt 20, 253; kritisch Hüls/Reichling StraFo 2009, 198, 199. 89 Vgl. BT-Drucks 16/12310 S. 13; ablehnend die Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf BT-Drucks 16/12310 S. 18 unter Bezug auf Meyer-Goßner StV 2006, 285, 287; vgl. auch Beulke/Swoboda JZ 2005, 72. 90 BGHSt 40, 287, 290. 91 Vgl. Beulke/Swoboda JZ 2005, 67, 71. 92 BGH NStZ 2006, 586; RegE BT-Drucks. 16/12310 S. 13. 93 BGHSt 49, 84. 94 Vgl. Weider NStZ 2004, 339, 340. 88

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mehr durch die Kronzeugenregelungen des materiellen Rechts (§ 46b StGB, § 31 BtMG) hergestellt wird. Über Zusagen der Staatsanwaltschaft sagt das Gesetz nichts. Sie sind jedenfalls insoweit möglich, als sie sich auf Mitwirkungsakte richten, die erforderlich sind, um gerichtliche Zusagen im Rahmen einer Verständigung zu erfüllen - zu denken ist etwa an die Zustimmung zu Teileinstellungen bzw. zur Beschränkung der Strafverfolgung nach Maßgabe der § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO in Bezug auf die angeklagten Taten. Der Regierungsentwurf geht ferner davon aus, dass auch Zusagen der Staatsanwaltschaft zur Sachbehandlung in anderen Verfahren möglich sein sollen, obwohl sich diese weder auf das der Anklage zugrunde liegende Erkenntnisverfahren beziehen noch Gegenstand des Urteils oder der dazu gehörigen Beschlüsse sein können. Bindende Wirkung soll solchen Zusagen der Staatsanwaltschaft allerdings nicht zukommen. 95 Nach der bereits erwähnten Rechtsprechung insbesondere des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ist ein Abweichen der Staatsanwaltschaft von der Zusage, ein anderes Verfahren einzustellen, gleichwohl nicht folgenlos: Hat das Gericht die Staatsanwaltschaft in eine solche Verfahrensabsprache eingebunden und hält die Staatsanwaltschaft unter Verstoß gegen die Verfahrensfairness ihre Zusage nicht ein, so ist der Angeklagte nach Möglichkeit so zu stellen, als ob die Vereinbarung durchgeführt worden wäre.96

b. Verständigungen kommen durch gegenseitiges Nachgeben zustande; wie letztlich alle vertragsähnlichen Vereinbarungen sind sie das Ergebnis wechselseitigen Drucks und Gegendrucks. Über Maß und Gegenstand des zulässigen Drucks trifft das Gesetz allenfalls rudimentäre Regelungen. Nach wie vor von erheblicher Bedeutung ist deshalb die Rechtsprechung zu den Mitteln, die bei den der Verständigung vorausgehenden Verhandlungen eingesetzt werden dürfen. (1) Absprachen „sollen“ auf ein Geständnis abzielen (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO); unter diesem Blickwinkel bereiten sie die Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor. Dass sich das Gericht bei der Herbeiführung des Geständnisses nicht der Mittel bedienen darf, die den Strafverfolgungsbehörden durch § 136a StPO untersagt sind, sollte selbstverständlich sein. Es ist deshalb verboten, mit verfahrensrechtlich unzulässigen Methoden zu drohen oder gesetzlich nicht vorgesehene Vortei95 BT-Drucks. 16/12310 S. 13; weitergehend wohl § 243a Abs. 2 Satz 3 des Entwurfs des Bundesrats. 96 Vgl. oben II 3

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le in Aussicht zu stellen. Die zu diesem Komplex ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, etwa zur Inaussichtstellung der Aufhebung eines Haftbefehls für den Fall eines Geständnisses oder - was letztlich dasselbe bedeutet - die Androhung der Aufrechterhaltung für den Fall unkooperativen Verhaltens,97 ist deshalb nach wie vor verbindlich. (2) Die thematische Beschränkung der möglichen Gegenstände einer Verständigung auf das anhängige Erkenntnisverfahren (§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO) soll auch verdeutlichen, dass Leistung und Gegenleistung „konnex“ sein müssen.98 Dem Angeklagten darf kein Verhalten abgenötigt werden, das nicht im Zusammenhang mit der angeklagten Tat steht, so etwa die Nachzahlung von Steuern, die eine andere Vorverurteilung betreffen. Auf der anderen Seite darf das Gericht keine Zusagen machen, die über das anhängige Erkenntnisverfahren hinausgehen, so etwa hinsichtlich der Strafvollstreckung. Auch dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung.99 Ein zum Urteil gehöriger Beschluss im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO ist etwa die Entscheidung über Bewährungsauflagen und Weisungen (§ 268a StPO). Der Bewährungsbeschluss kann deshalb Gegenstand einer Verständigung sein, mit der Folge, dass die Strafaussetzung von der Bereitschaft zur Erfüllung von Auflagen abhängig gemacht werden kann. Der Schluss, dass damit auch all das zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden könnte, was als Auflage oder als Weisung in Betracht kommt, wäre hingegen verfehlt. Insoweit gilt weiterhin, dass das dem Angeklagten angesonnene Verhalten einem Zweck dienen muss, der in einem inneren Zusammenhang mit der angeklagten Tat und dem Gang der Hauptverhandlung steht. Die Verständigung über eine Geldauflage zugunsten der Staatskasse im Fall einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe, ist danach zulässig; unzulässig, weil dem Konnexitätsgebot zuwiderlaufend wäre es hingegen, die Höhe einer nicht aussetzungsfähigen Strafe von einer solchen Zahlung abhängig machen zu wollen.

97 Statthaft ist etwa die Zusage der Haftentlassung, wenn als Haftgrund Verdunkelungsgefahr angenommen wurde, die durch das Geständnis ausgeräumt werden kann, vgl. BGH MDR 52, 532, nicht zulässig hingegen bei Fluchtgefahr, vgl. BGHSt 20, 268; ähnlich BGH StV 2004, 360 betr. die Nötigung zum Rechtsmittelverzicht. Vgl. auch die Begründung des BRAK Entwurfs, ZRP 2005, 239. 98 So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 13, der etwa die Schadenswiedergutmachung „selbstverständlich“ auf das gegenständliche verfahren bezogen wissen will. 99 BGH NStZ 2004, 338 m. Anm. Weider zur Begleichung einer Steuerschuld; StV 2000, 542 zu Zusagen betreffend die Strafvollstreckung; dass unzulässige Zusagen unter dem Blickwinkel der Verfahrensfairness Bindungswirkung entfalten können wurde bereits oben dargelegt, vgl. auch BGH NStZ 1995, 556.

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(3) Die so genannte Sanktionsschere besteht in der Gegenüberstellung der jeweiligen Straferwartungen für die Fälle der Geständnisbereitschaft einerseits und der Nichtkooperation andererseits. Wird dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine schuldunangemessen niedrige Strafe in Aussicht gestellt oder wird ihm deutlich gemacht, dass er sich der Gefahr einer überhöhten Bestrafung aussetzt, wenn er auf das gerichtliche Angebot einer Verständigung nicht eingeht, handelt es sich um Anwendungsfälle des § 136a Abs. 1 StPO.100 Die Drohung mit einer übersetzten, nicht mehr schuldangemessenen Strafe zur Herbeiführung eines Geständnisses kann darüber hinaus den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllen.101 Darin erschöpfen sich die unter dem Begriff der Sanktionsschere erfassten Fälle unzulässigen Drucks nicht. Die Feststellung eines Verstoßes gegen § 136a StPO durch die Androhung einer übersetzten oder durch das Versprechen einer schuldunangemessen geringen Sanktion erweist sich in der Praxis als schwierig. Sie stößt auf das Problem, dass die Trennlinie zwischen noch schuldangemessener und nicht mehr hinnehmbarer Rechtsfolge im nur sehr eingeschränkt kontrollierbaren Bereich der Strafzumessung zu verschwimmen droht. Einigkeit besteht ferner darüber, dass die Zulässigkeit nicht nur davon abhängen kann, ob gerade noch vertretbare Strafen in Aussicht gestellt werden oder ob diese Grenze überschritten ist. Auch innerhalb dieser Grenzen kann das Maß zulässigen Drucks überschritten sein, nämlich dann, wenn das Verhältnis von Zuckerbrot und Peitsche nicht stimmt, oder - um beim Bild zu bleiben - wenn die Schere zu weit geöffnet ist. Eine allgemein verbindliche Festlegung, um welchen Prozentsatz die ohne Geständnis zu erwartende Strafe über der für den Fall der Verständigung in Aussicht gestellten Sanktionsobergrenze liegen darf, hat die Rechtsprechung allerdings bisher nicht getroffen. Dies dürfte auch künftig nicht zu erwarten sein, weil der Beitrag des Angeklagten - wie Geständnisse im Allgemeinen - durchaus unterschiedliches Gewicht aufweisen kann. Er hängt zum einen von innerprozessualen Umständen ab, etwa von der Beweislage, von der zu erwartenden Verfahrensbeschleunigung oder von Fragen des Opferschutzes; zum anderen können auch Gesichtspunkte ins Gewicht fallen, die über das Verfahren hinausweisen, etwa wenn ein Kronzeugenbeitrag zu erwarten ist oder wenn der Aufklärungsbeitrag die Solidarität organisierter Krimineller aufbrechen 100

Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. § 136a Rn. 21, 23; Rn. 16 vor § 213. Vgl. Schlothauer Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO Teil D Rn. 42,43; weitergehend Salditt, StraFo 2003, 98f., der bereits in der Inaussichtstellung einer an sich angemessenen Strafe eine Drohung mit einem empfindlichen Übel sieht. Unabhängig von der strafrechtlichen Würdigung ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch das Versprechen einer schuldunangemessen niedrigen Strafe die Freiheit der Willensentschließung und die Fairness des Verfahrens beeinträchtigen kann, vgl. BGH StV 2003, 637. 101

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soll. Im Sinne einer Faustregel kann indessen davon ausgegangen werden, dass die Strafe ohne Geständnis in der Regel nicht mehr als ein zusätzliches Drittel über der nach einem Geständnis zu verhängenden Strafe liegen darf;102 mehr trägt die strafmildernde Wirkung jedenfalls eines „einfachen“ Geständnisses nicht. Die Rechtsprechung ist nicht immer einheitlich: Der Bundesgerichtshof hat ein Sanktionsspektrum zwischen 2 Jahren Freiheitsstrafe mit Bewährung für den Fall einer Absprache und einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren für den Fall fehlender Kooperation als ein nicht durch Strafzumessungsgesichtspunkte erklärbares unzulässiges Druckmittel beanstandet.103 Nicht beanstandet wurde die Differenz zwischen 4 Jahren und 6 Monaten für den Fall der Verständigung und „deutlich über 7 Jahren“ für den Fall der Nicht-Kooperation, weil beide Sanktionen im Ergebnis schuldangemessen waren; unzulässiger Zwang iSd § 136a StPO oder ein Verstoß gegen das Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK wurden verneint.104 Ferner wurde die Verwertung eines Geständnisses, das nach der Zusage, die Strafe auf die Hälfte zu reduzieren, abgelegt worden war, für zulässig erachtet.105 Unzulässiger Druck im Vorfeld einer Absprache war in der Praxis bislang schwer nachweisbar, weil das Interesse an der Aufdeckung für die Verfahrensbeteiligten gering war und Vorgespräche nicht protokolliert werden mussten. Bezeichnender Weise liegen der Rechtsprechung zur Sanktionsschere überwiegend Fälle zu Grunde, in denen eine Verständigung gescheitert war; zu beurteilen war die Differenz zwischen der angebotenen und der letztlich ausgeurteilten Strafe. Ob die Erweiterung der Protokollierungspflichten durch das neue Gesetz mehr Sicherheit bringen wird, mag bezweifelt werden. Zwar schreibt § 273 Abs. 1 Satz 2 StPO nunmehr vor, dass Erörterungen über den Stand des Verfahrens im Sinne des § 257b StPO nach ihrem wesentlichen Ablauf und Inhalt in das Protokoll aufzunehmen sind; dazu gehört auch die Vorbereitung einer Verständigung.106 Die Vorschrift betrifft aber nur Erörterungen, die in der Hauptverhandlung stattgefunden haben. Die nach Maßgabe des neuen § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO ebenfalls zu protokollierende Bekanntgabe von verfahrensbezogenen Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 4 iVm § 202a, § 212 StPO) bezieht sich zwar auch auf die Mitteilung, dass keine Erörterungen

102

Meyer-Goßner EH § 257c Rn 19; zustimmend Bittmann wistra 2009, 415. BGH StV 2004, 270. 104 BGH NStZ 2007, 656. 105 BGH NStZ 1997, 561. 106 Die Erwägung es handle sich um eine überflüssige Belastung des Protokolls (MeyerGoßner EH § 273 Rn. 2), dürfte in dieser Allgemeinheit nicht zutreffen. 103

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stattgefunden haben107 und ist deshalb umfassend. Inhalt und Umfang der Mitteilung hängen indessen letztlich von der Einschätzung des Vorsitzenden ab, was als wesentlicher Inhalt der Erörterung mitzuteilen und festzuhalten ist. Die Beweiskraft des Protokolls erstreckt sich nur auf das Ob und Wie der Mitteilung, nicht auf deren Wahrheit und Vollständigkeit. Ob die Vorschrift für mehr Transparenz sorgen wird, hängt danach wohl hauptsächlich vom guten Willen der Beteiligten ab.108 Entsprechendes gilt für die praktisch nicht überprüfbare Pflicht, Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung aktenkundig zu machen (§§ 160a, 202a, 212 StPO). (4) Dass der Angeklagte durch sein Prozessverhalten Druck auf andere Verfahrensbeteiligte ausüben kann, steht außer Zweifel.109 Der neue § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO scheint dies zu legitimieren, indem er das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten als möglichen Gegenstand einer Verständigung bezeichnet. Der zunächst nahe liegende Schluss, der Angeklagte könne sich durch die Androhung konfrontativer Verteidigungsstrategien ohne weiteres einen Strafrabatt einhandeln, täuscht indessen. Dies gilt nicht nur für dysfunktionales Verteidigungsverhalten im engeren Sinne, das schon per se unter dem Blickwinkel des Missbrauchs von Verfahrensrechten unzulässig wäre und das bereits deshalb nicht angedroht werden darf. Darüber hinaus kann vielmehr auch ein an sich zulässiges Verteidigungsverhalten dadurch unzulässig werden, dass es vom Angeklagten als Verhandlungsmasse in eine Absprache eingebracht wird. Auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Unzulässigkeit von Beweisanträgen, die an die Bedingung eines bestimmten Rechtsfolgenausspruchs geknüpft sind, nach ihrer Thematik aber zum Schuldspruch gehören,110 wurde bereits hingewiesen. Sie beruht auf dem Vorwurf mangelnder Ernstlichkeit, die gerade dadurch zu Tage treten soll, dass der Antragsteller bereit ist, sich den Antrag im Rahmen eines „deals“ abhandeln zu lassen. Dass vergleichbare Einwände auch anderen Formen prozessualen Verhaltens entgegengehalten werden können, 107 § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO wurde im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat so verstanden, dass auch ein Negativattest erforderlich sei (so die Gegenäußerung BT-Drucks. 16/12310 S. 18). Die Bundesregierung ist diesem Verständnis nicht entgegengetreten, sie hat vielmehr eine Prüfung zugesagt. Der Wortlaut der Vorschrift wurde daraufhin nicht geändert. 108 Die Revision begründet eine Verletzung der Mitteilungspflicht nur dann, wenn Gespräche mit dem Ziel einer Verständigung verschwiegen oder unrichtig dargestellt wurden (aA mglw. Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO Teil C Rdn. 39). Hat der Vorsitzende jegliche Mitteilung unterlassen, kann der Verfahrensverstoß nur dann beanstandet werden, wenn der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO erfolglos geblieben ist. 109 Die sog. Münsteraner Thesen der Großen Strafrechtskommission des DRiB (abgedruckt bei Kintzi JR 1990, 310) sehen darin sogar eine der Hauptursachen für Verständigungspraktiken. 110 BGHSt 40, 287,290.

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liegt auf der Hand. Zu denken ist etwa an das Angebot, einen Befangenheitsantrag zurückzunehmen, weil schon das Angebot, mit dem abgelehnten Richter eine Verständigung abzuschließen, mit einer fortbestehenden Besorgnis der Befangenheit nicht vereinbar ist. Obstruktionsmaterial, das in eine Absprache eingebracht werden soll, unterliegt damit einem gewissen Verschleiß.

5. Die in der Rechtsprechung breiten Raum einnehmenden Folgen fehlerhafter oder gescheiterter Absprachen werden im Gesetz allenfalls bruchstückhaft geregelt. Mit Ausnahme des erst auf Initiative des Rechtsausschusses in das Gesetz aufgenommene Verwertungsverbots für das Geständnis des Angeklagten im Falle des Wegfalls der Bindung des Gerichts an die Verständigung (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO), verhält sich die Neuregelung zu diesem Themenkreis nicht; ein weiter gehendes Recht der Leistungsstörungen hat der Gesetzgeber nicht geschaffen. Deshalb wird weiterhin auf die Ergebnisse der bisherigen Rechtsprechung zurückzugreifen sein, soweit diese durch das neue Recht nicht überholt sind. Überholt ist etwa die frühere Rechtsprechung, wonach das im Rahmen einer Absprache abgelegte Geständnis auch dann verwertet werden konnte (und musste), wenn das Gericht aus Rechtsgründen gehindert war, seine Leistung zu erbringen. Der in der rechtlich unzulässigen Zusage liegende Fairnessverstoß war bei der Strafzumessung auszugleichen.111 Nunmehr regeln § 257c Abs. 4 Satz 1 und 3 StPO diesen Fall in dem Sinne, dass einerseits die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt, andererseits das Geständnis des Angeklagten nicht verwertet werden kann. Für eine weitergehende Kompensation ist in diesem Fall der gesetzlich geregelten Störung des Austauschverhältnisses kein Raum; ein solcher Ausgleich ist nur noch dann erforderlich, wenn der Angeklagte eine Leistung erbracht hat, die nicht mehr zurück gewährt oder neutralisiert werden kann.

a. Nach der insoweit einheitlichen Rechtsprechung aller Strafsenate begründen nur vorbereitende Gespräche keinen Vertrauenstatbestand, aus dem ein Verfahrensbeteiligter verbindliche Zusagen ableiten könnte. 111 BGH StV 2004, 471: Der Tatrichter hatte im Rahmen einer Verständigung die - rechtlich unzulässige - Einbeziehung einer anderweit erkannten Strafe in eine Gesamtstrafe zugesagt und den Angeklagten nach der Erteilung eins rechtlichen Hinweises ohne Einbeziehung zu einer Gesamtstrafe in der in Aussicht gestellten Höhe verurteilt. Entsprechend der damaligen Rechtslage hat der BGH die Höhe der erkannten Gesamtstrafe, nicht aber die Verwertung des absprachegemäß erkannten Geständnisses beanstandet.

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Das versteht sich von selbst bei Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung, die erkennbar ohne Ergebnis geblieben sind, etwa weil die Strafkammer hierüber noch nicht abschließend beraten hatte. Das gilt auch dann, wenn an dem Gespräch die gesamte Strafkammer und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft teilgenommen hatten.112 An Vorstellungen über das Strafmaß, die der Vorsitzende während einer solchen Besprechung geäußert hatte, muss sich das Gericht nicht festhalten lassen. Einem verteidigten Angeklagten muss solches bewusst sein; ein rechtlicher Hinweis auf die Unverbindlichkeit solcher Gespräche ist deshalb nicht geboten. Hat der Angeklagte ein Angebot des Gerichts abgelehnt und ist aus diesem Grund eine Verständigung nicht zustande gekommen, so begründet das (erloschene) Angebot keinen Vertrauenstatbestand. Das Gericht muss sich daran nicht festhalten lassen, auch wenn sich der Angeklagte anders besinnt und doch noch das Geständnis ablegt, zu dem er sich zuvor nicht bereit finden konnte.113 Insbesondere ist das Gericht nicht verpflichtet, den Angeklagten vor der Entgegennahme des Geständnisses darauf hinzuweisen, dass das ursprüngliche Angebot keine Geltung mehr hat. Ergebnislose Gespräche haben danach keine „Orientierungsfunktion“. Solange es an einer verbindlichen Absprache fehlt, verstößt das Gericht nicht gegen den Fair-TrialGrundsatz, wenn es die Strafe nicht nach den Vorstellungen bemisst, die bei den vorbereitenden Besprechungen geäußert wurden. Darüber hinaus geht der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch Zuständigkeitsmängel zur Unverbindlichkeit einer Zusicherung führen können. Aus einem Gespräch (nur) mit dem Vorsitzenden der Strafkammer kann keine verbindliche Zusage über die Strafhöhe abgeleitet werden.114 Ferner begründet die Zusage einer Strafobergrenze, die das Gericht gegen den Widerspruch oder ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft abgibt, kein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten.115 Der Grundsatz der Verfahrensfairness kann die fehlende Kompetenz des Zusagenden nicht in dem Sinne ausgleichen, dass der Angeklagte letztlich so gestellt wird, als habe der Zusagende im Rahmen seiner Zuständigkeit gehandelt. Da kein Fall des Abweichens des Gerichts von einer bindenden Verständigung vorliegt, greift das Verwertungsverbot des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO nicht ein. Eine weitere Fallgruppe bilden offensichtliche Mängel betreffend die Form der Verständigung. So begründen Gespräche über eine verfahrensbeendende Absprache, die außerhalb der Hauptverhandlung geführt werden, 112

BGH, Beschl. v. 20.10.2006 - 1 StR 487/06 zit. nach juris. BGH, Urt. v. 16.12.2004 - 1 StR 420/03, insoweit in BGHSt 49, 381 nicht abgedruckt. 114 BGH Beschl. v. 20.10.2006 - 1 StR 487/06 zit. nach juris. 115 BGH NStZ 2003, 563. 113

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keinen Vertrauenstatbestand, der nur durch einen förmlichen Hinweis wieder zu beseitigen wäre.116 Als vertrauensbegründend im Sinne des FairTrial-Prinzips wurden ferner nur solche Absprachen oder Zusicherungen bewertet, die als wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens zu protokollieren waren und protokolliert wurden.117 Das gilt jedenfalls bei verteidigten Angeklagten: Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass sich der Angeklagte und sein Verteidiger in Zweifelsfällen durch die Anrufung des Gerichts (§ 238 Abs. 2 StPO) Klarheit über Bestand und Reichweite einer Zusage verschaffen können.118 Wird dieser Zwischenrechtsbehelf versäumt, scheitert die gleichwohl eingelegte Verfassungsbeschwerde am Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

b. § 257c Abs. 4 StPO betrifft das Scheitern von Verständigungen. Die Vorschrift erfasst zwei Fallgruppen, unter denen die Bindung an die Verständigung entfällt, nämlich das Auftauchen rechtserheblicher Umstände und das „prognosewidrige“ Verhalten des Angeklagten. Beide Alternativen haben dieselbe Rechtsfolge: Das Geständnis des Angeklagten kann nicht verwertet werden. (1) Der Wegfall der Bindung setzt keine neuen Erkenntnisse voraus; es genügt vielmehr, wenn das Gericht rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen hat. Die Vorschrift greift auf eine Formulierung des Großen Senats für Strafsachen zurück,119 der die Schwelle für die Lösung von der Absprache bewusst niedriger angesetzt hat, als die frühere Rechtsprechung, die ursprünglich „schwerwiegende neue Umstände“ gefordert hatte, welche dem Gericht bislang unbekannt waren.120 Ersichtlich sollte eine vollständige Überprüfung des auf einer Absprache beruhenden Urteils in der Revisionsinstanz ermöglicht werden. Aus diesem Grund sahen der Große Senat für Strafsachen und - ihm folgend - nunmehr auch das Gesetz vor, dass die Bindungswirkung bereits bei rechtlichen Fehleinschätzungen im Verantwortungsbereich der Justiz entfällt, ohne dass es eines förmlichen Widerrufs durch den Tatrichter bedurfte.121 Rechtlich fehlerhafte Verständi116

BGH NStZ 2004, 342; BGHR StPO vor § 1 faires Verfahren Vereinbarung 14. BGH NStZ 2004, 342; 338. 118 BVerfG - 2. Kammer des 2. Senats - StV 2000, 3. 119 BGHSt 50, 40, 50. 120 Die leitende Entscheidung des 4. Strafsenats in BGHSt 43, 195, 210 setzte schwerwiegende neue Erkenntnisse voraus, Nova forderte auch die die Nr. 8 der Eckpunkte der Generalstaatsanwälte vom 24.1.2005, abgedruckt bei Niemöller/Schlothauer/Weider aaO Anhang 2. 121 A. A. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO § 257c Rn. 113, der einen mit Zweidrittelmehrheit zu fassenden Widerrufsbeschluss des Gerichts für erforderlich hält. Diese 117

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gungen sollten keine innerprozessuale Bindung bewirken können, die der Aufhebung eines abgesprochenen Urteils im Wege stehen konnte. Bereits bisher ist kein Fall bekannt geworden, in dem von der Aufhebung eines unrichtigen Urteils abgesehen werden musste, weil das Revisionsgericht die Bindung des Tatrichters an eine im Nachhinein als fehlerhaft erkannte Absprache respektieren musste.122 Da sich die Rechtslage durch das neue Gesetz nicht geändert hat, wird das auch künftig gelten. Man mag eine Regelung bedauern, die das Risiko einer unrichtigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage durch die Gerichte allein dem Angeklagten zuschiebt.123 Die Forderung nach „Nova“ hätte indessen zu einer sehr weitgehenden Bindung geführt, die letztlich eine faktische Unanfechtbarkeit des Rechtsfolgenausspruchs abgesprochener Urteile zur Folge gehabt hätte. Dies würde insbesondere dann gelten, wenn sich die Auslegung des Begriffs der „neuen Tatsache“ an der sehr restriktiven Rechtsprechung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung orientiert hätte. Gemäß § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO soll die Bindung des Gerichts auch dann entfallen, wenn das Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose zu Grunde gelegt worden war124. Gemeint ist damit der Fall, dass der Angeklagte die Leistungen, die er versprochen hat, seinerseits nicht erbringt;125 in der Regel wird es sich darum handeln, dass das in Aussicht gestellte Geständnis nicht weit genug geht oder nicht glaubhaft ist, seltener dürften die Fälle sein, in denen es um die Erwartung eines anderen prozessualen Verhaltens geht. Der Wegfall der Bindung im Falle eines nicht hinreichenden Geständnisses entspricht der bisherigen Rechtsprechung. Zu der Frage, ob die Bindung auch dann entfällt, wenn die Zusage eines prozessualen Verhaltens gebrochen wurde, die

Sicht ist mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu vereinen und läuft auch dem Anliegen des Gesetzgebers zuwider, der die Bindung an die Verständigung bewusst schwach ausgestaltet hat, weil „das Ergebnis des Prozesses stets ein richtiges und gerechtes Urteil sein muss“ (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 14), das in der Rechtsmittelinstanz in vollem Umfang überprüft werden kann. 122 Nach Jahn/Müller NJW 2009, 2628, 2629 ist eine schlichte Meinungsänderung des Gerichts zwar kein Widerrufsgrund; es genügt indessen, wenn die geläuterte Auffassung auf der Behebung eines Rechtsirrtums beruht oder wenigstens so begründet wird; für das Revisionsgericht genügt die Feststellung eines - augenscheinlich auf Rechtsirrtum beruhenden - Festhaltens an einer fehlerhaften Verständigung, um einen Rechtsfehler im Sinne des § 337 StPO feststellen zu können. 123 So etwa Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 26. 124 Der Wortlaut des Gesetzes, wonach die Bindung des Gerichts „an die Verständigung“ entfällt ist allerdings missverständlich; dass die in Aussicht gestellte Strafmilderung nur im Gegenzug für die Leistung des Angeklagten erbracht werden soll, ist Gegenstand der Verständigung und weicht nicht von ihr ab. 125 Bittmann aaO. S. 416.

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rechtswidrig war und nicht hätte entgegengenommen werden dürfen, liegen unterschiedliche Entscheidungen vor: Im Falle eines unzulässig vereinbarten Rechtsmittelverzichts ließ die Ankündigung des Angeklagten, er werde gegen das auf Grund der Absprache ergehende Urteil gleichwohl Rechtsmittel einlegen, die Bindung nicht entfallen.126 Anders verhielt es sich bei der Zusage, Steuerschulden zu bezahlen, einer Zusage also, die (nur) deshalb unzulässig war, weil sie nicht den Gegenstand des Verfahrens betraf.127 Entfällt in solchen Fällen die Bindung, ist allerdings zu beachten, dass die Differenz zwischen der ausgeurteilten und der ursprünglich vereinbarten Strafe in angemessener Relation zu dem wegfallenden Strafzumessungsgrund stehen muss. Über den Wegfall ihrer Bindungswirkung hinaus hat die (wirksame) Verständigung eine gewisse Orientierungsfunktion für die Bemessung der Rechtsfolgen. Die Frage, ob die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zur Verständigung iSd § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO zurücknehmen kann, ist in der Rechtsprechung bisher noch nicht entschieden worden. Man wird dies schon aus formellen Gründen zu verneinen haben, weil die Zustimmung eine gestaltende Prozesshandlung ist. Solche Handlungen können grundsätzlich weder widerrufen noch angefochten werden.128 Im Übrigen stellt § 257c Abs. 4 StPO klar, dass es ausschließlich auf die Sicht des Gerichts ankommt. Nur das Gericht kann die Verständigung nachträglich zu Fall bringen; enttäuschte Erwartungen der Staatsanwaltschaft spielen insoweit keine Rolle. (2) Das Gericht muss seine Absicht, an der Verständigung nicht mehr festhalten zu wollen, den Verfahrensbeteiligten unverzüglich mitteilen (§ 257c Abs. 4 Satz 4 StPO). Auch diese Regelung entspricht der bisherigen Rechtsprechung:129 Die möglichst frühzeitige Mitteilung entspricht einem selbstverständlichen Gebot der prozessualen Fairness, so dass eine Verzögerung verfahrensfehlerhaft wäre. Da der Wegfall der Bindungswirkung an die Überzeugung des Gerichts von der Unangemessenheit des in Aussicht gestellten Strafrahmens, an eine innere Tatsache also, anknüpft, sind Verzögerungen nur schwer nachzuweisen. Die Vorschrift stellt deshalb allenfalls sicher, dass die Lösung von der Verständigung noch in der Hauptverhandlung bekannt gegeben und dass den Verfahrensbeteiligten, insbesondere dem Angeklagten und seinem Verteidiger, hinreichende Gelegenheit zur Reaktion auf die neue Lage gegeben wird.

126

BGH, NStZ 2008, 416. BGH NStZ 2004, 338 m. Anm. Weider. 128 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. Einl. Rn. 103, 112ff., 116. 129 BGHSt 50, 40, 50. 127

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(3) Die Mitteilung des Gerichts hat die Unverwertbarkeit des Geständnisses des Angeklagten zur Folge (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO). Gemeint ist die in der Hauptverhandlung nach dem Zustandekommen der Verständigung erfolgte geständige Einlassung des Angeklagten, gleichgültig, ob es sich um ein umfassendes oder nur um ein Teilgeständnis handelt;130 frühere Angaben bleiben auch nach dem neuen Recht verwertbar. Wie bereits oben ausgeführt, ist die Rechtsprechung bislang davon ausgegangen, dass das Geständnis grundsätzlich auch dann verwertet werden kann, wenn das Gericht an der Absprache nicht festhält. Entscheidungen zu Umfang, Reichweite und Folgen des Verbots, ein abgesprochenes Geständnis zu verwerten, sind deshalb nur in Ausnahmefällen und allenfalls vereinzelt festzustellen. Bereits erwähnt wurde, dass das Geständnis auch dann bei der Strafzumessung als begünstigender Umstand zu berücksichtigen ist, wenn es nicht verwertet werden kann.131 Selbstverständlich gilt das nur, wenn es glaubhaft ist. Ferner dürfte dem Verwertungsverbot keine Fernwirkung zukommen; Beweisergebnisse zu denen das Geständnis den Weg gewiesen hat, bleiben auch nach dem Scheitern der Verständigung verwertbar.132 Ermittlungsansätzen in einem nicht verwertbaren Geständnis muss das Gericht indessen nicht nachgehen. Die Entgegennahme eines Geständnisses, das sich im Nachhinein als nicht verwertbar erweist, berechtigt nicht zur Ablehnung der Schöffen:133 Auch von Laienrichtern kann erwartet werden, dass sie in der Lage sind, nach entsprechender rechtlicher Unterrichtung durch die Berufsrichter ihre Überzeugungsbildung ausschließlich auf der Basis dessen vorzunehmen, was ihnen in der Schlussberatung als verwertbares Beweismaterial unterbreitet worden ist. Insoweit gilt nichts anderes als bei anderen Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung, deren Ergebnisse sich im Nachhinein als nicht verwertbar erweisen. Die Frage, ob sich das Verwertungsverbot auch auf Umstände bezieht, die dem Angeklagten günstig sind, ist bislang nicht entschieden worden.134 Sie dürfte zu bejahen sein, weil Geständnisse anhand der Kriterien belastend/entlastend nicht zweifelsfrei teilbar sind und weil Wahrheitsgehalt und Glaubhaftigkeit einer Aussage in aller Regel nicht isoliert für bestimmte Abschnitte gewürdigt werden können.135 Der Ange130

Bittmann wistra 2009, 416; der Geständnisbegriff entspricht dem des § 254 Abs. 1 StPO. BGHSt 42, 191, 194. 132 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO § 257c Rn. 150; Fischer, StraFo 2009187; aA für den Fall, dass der Widerruf in der Sphäre des Gerichts begründet ist, Jahn/Müller NJW 2009, 2626, 2629. 133 BGHSt 42, 191; zustimmend auch für das neue Recht: Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 28; differenzierend nach der Ursache des Wegfalls: Schlothauer/Weider StV 2009, 600, 605, Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2629. 134 A. A. wohl Bittmann wistra 2009, 416. 135 Vgl. dazu etwa Hamm NJW 1996, 2185, 2187f. 131

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klagte hat es in der Hand, sein Geständnis ganz oder teilweise zu wiederholen. In der Rechtsmittelinstanz ist zu beachten, dass das Verwertungsverbot bei abgesprochenen Verurteilungen den Rechtsfolgenausspruch mit den Grundlagen des Schuldspruchs verklammern kann. Rechtsmittel, die von der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten oder vom Nebenkläger eingelegt werden,136 können unter Umständen nicht auf den Strafausspruch beschränkt werden, weil die Aufhebung des Strafausspruchs zur Lösung von der Verständigung führen und dadurch das Geständnis in Frage stellen könnte, auf dem der Schuldspruch beruht. Dieser Zusammenhang wird auch sonst bei der Teilaufhebung von Urteilen in der Revisionsinstanz zu beachten sein; dabei kann die Frage Bedeutung erlangen, ob und in welchem Umfang das angefochtene Urteil auf dem Geständnis beruht. Weitergehende Folgen für den Angeklagten hat die Mitteilung nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO nicht. Insbesondere hat der Gesetzgeber davon abgesehen, die Prozesshandlungen, die der Angeklagte in Erfüllung der Verständigung vorgenommen hat, für wirkungslos zu erklären.137 Zurückgenommene Beweisanträge leben deshalb nicht wieder auf; sie müssen vielmehr erneut gestellt werden. Das wird auch für solche Beweisanträge anzunehmen sein, bei denen das Gericht davon ausgehen konnte, sie seien durch das Geständnis überholt, weil konkludent zurückgenommen. Die Staatsanwaltschaft wird durch die Verständigung nicht gebunden. Sie kann zwar die Verständigung nicht dadurch zu Fall bringen, dass sie ihre Zustimmung zur Verständigung zurücknimmt oder anficht, weil es sich um eine prozessuale Bewirkungshandlung handelt. Sie ist aber an ihre Zusagen auch dann nicht gebunden, wenn das Gericht an der Verständigung festhält. Nach bisheriger Rechtsprechung soll das Gericht dann aber gehalten sein, einen Angeklagten, der seinerseits seine Leistung erbracht hat, nach Möglichkeit so zu stellen, als sei die Zusage der Staatsanwaltschaft erfüllt worden. Bereits erwähnt wurde eine jüngere Entscheidung des 3. Strafsenats, der bei einer nicht eingehaltenen Zusage der Staatsanwaltschaft, einen Antrag nach § 154 Abs. 2 StGB zu stellen, ein Verfahrenshindernis in Betracht zieht.138 Im Regelfall dürfte es ausreichen, wenn in dem absprachewidrig angeklagten Verfahren ein wesentlicher Strafmilderungsgrund angenommen

136 Bei Rechtsmitteln des Angeklagten führt das Verschlechterungsverbot zu einer Perpetuierung der zugesagten Strafobergrenze mit der Wirkung, dass das Geständnis verwertbar bleibt, vgl. BGH StraFo 2010, 201. 137 So aber § 243a Abs. 5 Satz 1 des BRAK-Entwurfs, der allerdings nach den Ursachen des Wegfalls der Bindung unterscheidet. 138 BGH NStZ 2008, 416; Anm. Fezer JZ 2008, 1059, Eisenberg NStZ 2008, 698; Lindemann JR 2009, 82.

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wird.139 Die Entscheidungen des 3. Strafsenats sind zu Zusagen der Staatsanwaltschaft ergangen, die in gerichtliche Verständigungen eingebunden waren; ob sie auch auf Zusagen übertragen werden können, die nicht in diesem Zusammenhang stehen, erscheint fraglich. Andere Verfahrensbeteiligte, so etwa der Nebenkläger, sind an der Verständigung nicht formell beteiligt und werden durch sie nicht gebunden. Haben sie im Rahmen der Verständigung einen Strafantrag oder eine Privatklage zurückgenommen, so können sie dies auch dann nicht mehr rückgängig machen, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt. Rücknahme und Anfechtung dieser Prozesshandlungen sind nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht möglich; ein zurückgenommener Strafantrag kann nicht erneut angebracht (§ 77d Abs. 1 Satz 3 StGB), eine Privatklage kann nicht erneut erhoben werden (§ 392 StPO). Die Zusage von Ober- und Untergrenze im Falle einer formgerecht zustande gekommenen Verständigung enthält einen Akt der vorweggenommenen oder hypothetischen Strafzumessung: Das Gericht teilt mit, welche Strafe es für angemessen erachtet, wenn der Angeklagte ein Geständnis ablegt oder eine andere Leistung erbringt. Solche Erklärungen haben auch dann Gewicht, wenn die Verständigung letztlich scheitert: Die Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass die in Aussicht gestellte Strafe eine Orientierungsfunktion hat: Der Unterschied zwischen ihr und der ausgeurteilten Rechtsfolge muss durch den wegfallenden Strafzumessungsgrund erklärbar sein.140 Die Rechtsprechung zur sog. Sanktionsschere wird gleichsam „gespiegelt“: Letztlich geht es auch hier um die Begrenzung des Drucks, der von einer Verständigung ausgehen kann.

d. Bereits nach der bisherigen Rechtsprechung waren Urteile, die nach einer Verständigung ergangen waren, in vollem Umfang in der Rechtsmittelinstanz nachprüfbar. Die Verständigung entfaltete keine innerprozessuale Bindung, die das Rechtsmittelgericht in seiner Prüfungsbefugnis einschränken konnte, da schon ein Rechtsirrtum des Gerichts die Lösung von der Absprache ermöglichte. Der in der Praxis der Instanzgerichte verbreiteten Tendenz, in den Rechtsmittelverzicht auszuweichen, ist der Bundesgerichtshof mehrfach, so etwa durch die Pflicht zur „qualifizierten“ Belehrung 139 So BGHSt 37, 10 für den Fall, dass der Angekl. ein Rechtsmittel im Vertrauen auf die Zusage der Staatsanwaltschaft zurücknimmt, ein anderes Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO einzustellen. 140 BGH NStZ 2004, 338, 339; vgl. auch Weider NStZ 2002, 174, 175.

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entgegengetreten.141 Das neue Recht unterstreicht dies: Es schreibt nicht nur eine „qualifizierte“ Belehrung vor,142 sondern schließt - insoweit über die Rechtsprechung hinausgehend - den Rechtsmittelverzicht bei abgesprochenen Urteilen vollständig aus. Den Vorschlägen des Bundesrats und der Bundesrechtsanwaltskammer, die Berufung gegen abgesprochene Urteile auszuschließen und die Revision auf bestimmte Beschwerdepunkte zu beschränken,143 ist der Gesetzgeber nicht gefolgt. Auf die entsprechende Rüge selbst des geständigen Angeklagten hin prüft das Revisionsgericht deshalb, ob der Tatrichter seiner Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts (§ 244 Abs. 2 StPO) nachgekommen ist. § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO stellt nunmehr ausdrücklich klar, dass diese Pflicht „unberührt“ bleibt. Auch das entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs144 sowie des Bundesverfassungsgerichts.145 Gleichwohl hat die Vorschrift teilweise heftige Kritik erfahren,146 vom systematischen Standpunkt aus betrachtet wohl mit Recht, weil Wahrheit nicht vereinbart werden kann, sondern ermittelt werden muss, Konsens und Amtsermittlung deshalb notwendig entgegengesetzt sind.147 In der Praxis dürfte die Vorschrift allerdings weitgehend bedeutungslos sein, soweit sie sich auf Angeklagte bezieht, die in die Absprache eingebunden sind: Wenn die Staatsanwaltschaft bereits ohne Geständnis hinreichenden Tatverdacht bejaht hat und der Tatrichter dieser Bewertung durch die Eröffnung des Hauptverfahrens beitreten konnte, trägt ein „anklagekonformes“ Geständnis die Verurteilung auch dann, wenn es sich um eine „schlanke“ Einlassung handelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Aufklärungsrüge eines geständigen Angeklagten Erfolg haben könnte, ist allenfalls gering. In der Praxis der Revisionsgerichte geringe Bedeutung hat auch die Prüfung des Wahrheitsgehalts von Geständnissen, die hinter dem Anklagevorwurf zurückbleiben. Auf die Revision des Angeklagten wird solches regelmäßig nicht geprüft. Beanstanden Staatsanwaltschaft oder Nebenkläger Defizite bei der Aufklärung, so müssen sie sich die Frage entgegenhalten lassen, weshalb es sich dem Tatrichter aufdrängen sollte, weitere Beweise zu erhe141

Vgl. etwa BGHSt 50, 40. § 302 Abs. 1 Satz 2, § 35a Satz 3 StPO; vgl. hierzu BT-Drucks 16/12310 S. 9. 143 § 312 Satz 2, § 337 Abs. 3 StPO in der Fassung des Gesetzentwurfs des Bundesrats BTDrucks. 16/4197; § 312, § 337 Abs. 3 in der Fassung des BRAK-Entwurfs. 144 Vgl. nur BGHSt 43, 195, 204. 145 Vgl. bereits BVerfG NStZ 1987, 419 m. Anm. Gallandi. 146 Vgl. etwa Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 3: „Lippenbekenntnis“; ähnlich Fischer StraFo 2009, 177, 181 zur Unvereinbarkeit von Wahrheitsermittlung und Konsensprinzip; Schünemann ZRP 2009, 104, 106; Jahn/Müller NJW 2009. 2625, 2631: „unrealistisch und in sich widersprüchlich“; aber auch Kröpil JR 2010, 96, 99, der die notwendige Sachaufklärung (jedenfalls?) normativ für gewährleistet erachtet. 147 Vgl. Fischer StraFo 2009, 177, 181. 142

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ben, wenn Anklagebehörde und Nebenklage solches nicht für erforderlich gehalten haben. Zudem verbieten sich Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen abgesprochene Urteile in aller Regel schon deshalb, weil die Verständigung nur mit ihrer Zustimmung zustande kommen konnte (§ 257c Abs. 3 Satz 4 StPO). Legt die örtliche Staatsanwaltschaft trotz ihrer Zustimmung Rechtsmittel ein, setzt sie ihren Ruf als verlässliche Verhandlungspartnerin aufs Spiel und läuft Gefahr, sich den Vorwurf des Vertrauensbruchs gegenüber dem „eigenen“ Gericht zuzuziehen. Reale Bedeutung hat § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO danach vor allem dann wenn es um die Verurteilung eines nicht verständigungsbereiten Angeklagten aufgrund von Geständnissen seiner Mitangeklagten geht;148 diese Konstellation hat die Vorschrift indessen nicht im Blick. In seiner Entscheidung vom 3. März 2005 hat der Große Senat für Strafsachen die Frage, ob und in welchem Maße im Revisionsverfahren - mit Blick auf die Besonderheiten des Abspracheverfahrens, etwa unter dem Blickwinkel widersprüchlichen Verhaltens - bestimmte Verfahrensrügen ausgeschlossen sein könnten als offen und regelungsbedürftig bezeichnet.149 Gleichwohl regelt das neue Recht diesen Komplex nicht. Deshalb ist nach wie vor auf die bisherige Rechtsprechung zur Verwirkung von Verfahrensrügen zurückzugreifen, die sich auf Prozesshandlungen beziehen, die einer Verständigung vorausgehen. Danach sind etwa Befangenheitsrügen unzulässig, wenn der Angeklagte nach sachlicher Bescheidung seines Befangenheitsantrags mit den zuvor als befangen abgelehnten Richtern eine Urteilsabsprache trifft. Denn durch seine Mitwirkung bringt er regelmäßig zum Ausdruck, dass das Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Richter ausgeräumt ist; beanstandet er dies dennoch mit der Revision, setzt er sich dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens aus. Etwas anderes soll allerdings dann gelten, wenn sich nach der Verständigung eine neue Sachlage ergibt, wenn etwa das Gericht an der Verständigung nicht mehr festhält oder wenn besondere Umstände vorliegen, die trotz der Absprache ein fortbestehendes Misstrauen in die Unparteilichkeit des Gerichts rechtfertigen.150 Die Rüge, der Tatrichter habe einen Antrag auf Austausch des Pflichtverteidigers nicht verbeschieden, ist unzulässig, wenn der Angeklagte nach diesem Antrag unter Mitwirkung des Pflichtverteidigers eine Verständigung getroffen hat.151 Vergleichbares wird für Beweisanträge anzunehmen sein, die der Angeklagte vor der Ablegung eines abgesprochenen Geständnisses gegen den Schuldspruch ins Feld geführt hatte: Eine Rüge formellen Beweisan148

BGHSt 48, 161, 168f. m. Anm. Weider StV 2003, 266. BGHSt 50, 40, 52. 150 BGH NJW 2009, 690. 151 BGH StraFo 2010, 157. 149

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tragsrechts dürfte mit Blick auf die Widersprüchlichkeit des Prozessverhaltens des Angeklagten - das Geständnis in der Tatsacheninstanz schließt das Festhalten an bestreitenden Beweisbehauptungen aus - rechtsmissbräuchlich und deshalb unzulässig sein.152 Die Rüge, das Gericht habe im Verständigungsverfahren gegen das prozessuale Fairnessgebot verstoßen, ist subsidiär. Übt das Gericht unzulässigen Druck auf den Angeklagten aus, indem es ihm etwa die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung androht, liegt ein schwerwiegender Verstoß vor, der zur Ablehnung des betroffenen Richters berechtigt. Der Bundesgerichtshof betrachtet die Regeln über die Ablehnung dann aber auch als vorgreiflich, so dass der Angeklagte die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren in der Revisionsinstanz nicht mehr geltend machen kann, wenn er das erforderliche Ablehnungsgesuch versäumt hat.153 Diese Rechtsprechung hat weiterhin Bestand. Da das neue Gesetz keine besondere Verfahrensordnung für das Abspracheverfahren geschaffen hat, gilt das allgemeine Verfahrensrecht, wie etwa das Recht des Angeklagten auf das letzte Wort (§ 258 Abs. 2 StPO) auch dann, wenn eine verfahrensbeendende Verständigung stattgefunden hat. In diesen Fällen besteht allerdings besonderer Anlass, das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß zu prüfen. Mit dem Hinweis, das Ergebnis des Verfahrens habe ohnedies schon festgestanden, kann die Ursächlichkeit von Verfahrensverstößen indessen nicht verneint werden.154

III. Bereits bei der ersten Durchsicht der neuen Vorschriften entsteht der Eindruck, dass es sich wohl nicht um das berühmte „berichtigende Wort des Gesetzgebers“ handelt, das nach einem von Kirchmann zugeschriebenen Wort „ganze juristische Bibliotheken zur Makulatur werden lässt“. Der zweite Blick bestätigt diese Einschätzung.155 Der Gesetzgeber hat sich ersichtlich darauf beschränkt, „durch verdeutlichende Regelungen Auswüchse einzudämmen und Unsicherheiten zu beseitigen“. Im Ergebnis ist er damit den Empfehlungen gefolgt, die bereits der 58. Deutsche Juristentag gegeben hatte.156 Viele Fragen bleiben nach wie vor der Rechtsprechung überlassen; die Mehrzahl der von den Obergerichten entwickelten Lösungen ist weiter152 Vgl. Senge jurisPR-StrafR 4/2009; die Aufklärungsrüge bleibt auch dem geständigen Angeklagten unbenommen; sie dürfte aber in den seltensten Fällen zum Erfolg führen. 153 BGH NStZ 2005, 526; die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG - Kammer - Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 799/05. 154 BGH, Beschl. v. 4. 2. 2010 - 1 StR 3/10. 155 So auch die Bewertung von Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO S. 6. 156 Verhandlungen Bd. II L 206.

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hin verbindlich. Dies gilt auch für die hauptsächlichen Probleme des Konsensualverfahrens, nämlich für die Möglichkeit nötigungsähnlicher Druckausübung bei ihrem Zustandekommen und für die Rechtsfolgen gescheiterter Absprachen: Der Gesetzgeber hat weder die Sanktionsschere entschärft noch ein Recht der Leistungsstörungen geschaffen. Hinter den Vorschlägen des Bundesrats und der Bundesrechtsanwaltskammer, die einen weiteren Schritt in die Richtung eines eigenständigen Konsensualverfahrens gehen wollten, bleibt das neue Recht zurück. Dem Appell des Großen Senats, der die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen der Urteilsabsprachen gesetzlich geregelt sehen wollte,157 ist der Gesetzgeber damit nur unvollkommen nachgekommen; er hat sich weitgehend darauf beschränkt, die bisherigen Ergebnisse der Rechtsprechung festzuschreiben. „Mission failed“ also? Mit diesem Befund würde man dem Gesetzesvorhaben Unrecht tun. Es hat in einer rechtlichen Grauzone Grenzen aufgezeigt und Sicherungen eingebaut. Sein Verdienst liegt nicht zuletzt darin, dass das geltende Recht vor weiterer Erosion geschützt und dass der „deal“ in das Licht der Hauptverhandlung geholt wird.158 Das sollte nicht überbewertet, aber auch nicht unterschätzt werden. Ob der Gesetzgeber gut beraten gewesen wäre, wenn er eine umfassendere oder anspruchsvollere Lösung Angriff genommen hätte, mag bezweifelt werden.

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BGHSt 50, 40, 64. Nach Bittmann wistra 2009, 414 fördert und bremst das neue Gesetz zugleich; dem dürfte zuzustimmen sein. 158

Über die „Kunst des Urteilschreibens“ EKKEHARD APPL

I. Einleitung Auf den ersten Blick könnte man durchaus hinterfragen, ob ein Beitrag, der sich mit dem Abfassen eines strafrechtlichen Urteils befasst, nicht vornehmlich der Ausbildung von Referendaren dient, keine wissenschaftlichen Ansprüche erheben kann und deshalb der Aufnahme in eine Festschrift von vornherein unwürdig ist. Hat nicht die Strafrechtswissenschaft zahlreiche äußerst diffizile und anspruchsvolle Rechtsfragen zu bieten, deren Aufarbeitung weitaus lohnender wäre, als die Beschäftigung mit scheinbar schlichten handwerklichen Fähigkeiten, die jeder Strafrichter perfekt zu beherrschen glaubt? Bereits bei näherer Betrachtung des eindrucksvollen beruflichen Werdegangs der Jubilarin ergibt sich freilich ein differenzierteres Bild: Die zu Ehrende war über viele Jahre am Landgericht Bochum in verschiedenen Strafkammern tätig, zuletzt vor ihrer Ernennung zur Richterin am Bundesgerichtshof als Vorsitzende einer Schwurgerichtskammer. In dieser Zeit hat sie selbst zahlreiche erstinstanzliche Strafurteile verfasst. In der Revisionsinstanz beim Bundesgerichtshof hat sie fast zweiundzwanzig Jahre lang zunächst als Mitglied des 3. Strafsenats, seit 2002 als Vorsitzende des 2. Strafsenats, vornehmlich erstinstanzliche Urteile der Landgerichte gelesen und bearbeitet sowie - auch noch als Vorsitzende - Revisionsurteile verfasst, zuletzt im Juni 2010 das wegweisende Urteil zur Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch.1 Allein in den ca. 9 Jahren als Vorsitzende des 2. Strafsenats hat die Jubilarin etwa 600 landgerichtliche Urteile jährlich, in der Summe also ungefähr 5400!! Urteile nebst dazugehörigen Revisionsschriften gelesen und auf Rechtsfehler überprüft. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die berufliche Tätigkeit einer Strafsenatsvorsitzenden nicht nur geprägt, sondern nahezu ausgefüllt wird, durch die Lektüre von Urteilen, die in Umfang und Qualität unterschiedlicher nicht sein könnten.2 Entsprechend unterschiedlich fällt auch der „Genuss“ der Lektüre aus, wofür gele1

BGH NJW 2010, 2963 - zur Aufnahme in BGHSt vorgesehen. Das gilt ebenso für Revisionsschriften, die bisweilen Besinnungsaufsätzen gleichen und dann wenig geeignet sind, einem Angeklagten zu seinem Recht zu verhelfen. 2

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gentliche Eingangsanmerkungen der Jubilarin im Revisionsheft, wie z. B.: ein bemerkenswert gutes - schwulstiges - furchtbar langatmiges - geschwätziges Urteil, ein sicherer Beleg sind. Schon unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Lebensleistung der zu Ehrenden3 scheint also eine nähere Befassung mit dem Strafurteil als dem „täglichen Brot“ des Revisionsrichters durchaus gerechtfertigt. Hinzu kommt folgendes: Eine Vielzahl von Urteilsaufhebungen durch den Bundesgerichtshof hat seine Grundlage nicht etwa in der Verkennung schwieriger Rechtsfragen durch das Tatgericht, sondern beruht vielmehr auf handwerklichen Mängeln bei der Abfassung der Entscheidungsgründe; denn auch ein „richtiges“ Urteil unterliegt „falsch“ geschrieben der Aufhebung. So führen z. B. nicht selten sogenannte Darstellungsmängel bei der Sachverhaltsfeststellung oder Erörterungsmängel bei der Beweiswürdigung zur Aufhebung des Urteils. Dabei ist es für den Urteilsverfasser, der - nach mitunter monatelanger Hauptverhandlung - viel Mühe und Arbeit in die Abfassung zum Teil mehrerer hundert Seiten langer Urteilsgründe investiert hat, schon beinahe eine kleine Katastrophe, wenn einfach vermeidbare Fassungsfehler zur Aufhebung eines in der Sache häufig richtigen Urteils führen.

II. Der Urteilsadressat - Aufgaben des schriftlichen Urteils Das Wort „Urteil“ findet sich erstmals in den Akten des Brandenburger Schöppenstuhls des 16. Jahrhunderts, der seine Rechtsauskünfte „Belehrungsurteil“, seit dem 17. Jahrhundert „Informationsurteil“ und im 18. Jahrhundert „Urteil“ oder „Sentenz“ nannte. Das schriftliche Urteil soll für jeden, der es liest, das strafbare oder zunächst für strafbar gehaltene Geschehen von der Grundlage des Strafgesetzes aus auf alle objektiven und subjektiven Voraussetzungen hin prüfen und so dem Leser die Erwägungen klarmachen, auf die der Richter seinen Schuld- und Rechtsfolgenausspruch oder aber seinen Freispruch gestützt hat. Zu den Lesern eines rechtskräftigen Urteils zählen in erster Linie die Prozessbeteiligten, hier vornehmlich der Angeklagte, aber auch z. B. Vollzugs- und Gnadenbehörden, Strafvollstreckungsrichter, Bewährungshelfer etc.; ein angefochtenes Urteil wird zudem vom jeweiligen Rechtsmittelgericht gelesen und geprüft. Den Inhalt des Urteils behandelt - allerdings nicht erschöpfend - die Strafprozessordnung hauptsächlich in den §§ 260, 267 und 275 StPO. Die Bestimmungen über die Gründe sind in § 267 StPO, diejenigen über den sonstigen Inhalt des Urteils in §§ 260, 275 Abs. 2 u. 3 StPO enthalten. Im 3

Die zudem bei zahlreichen, dem Erfahrungsaustausch mit Tatrichtern dienenden Veranstaltungen immer wieder über dieses Thema referiert hat.

Über die „Kunst des Urteilschreibens“

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Wesentlichen besteht ein Urteil aus den fünf Komponenten Eingang (= Rubrum), Urteilsformel (= Tenor), Liste der angewendeten Vorschriften, Urteilsgründe und Unterschriften. Dieser Beitrag will und kann nur grundlegende Fragen bei der Abfassung der Urteilsgründe ins Blickfeld nehmen, im Übrigen ist auf entsprechende Literatur zu verweisen.4 Ein Urteil so zu begründen, dass alles Wesentliche aber auch nichts als dies darin steht, ist alles andere als leicht. Die Urteilsgründe sind nicht dazu da, Gelehrsamkeit oder Wissenschaftlichkeit zu erweisen; der Urteilsverfasser soll praktisch sein und immer das Endergebnis im Auge behalten. Dabei ist zu bedenken, dass die Gründe einerseits insbesondere für den Angeklagten verständlich sein sollen, andererseits aber auch das Rechtsmittelgericht von der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung überzeugen müssen. Darin liegt ein gewisser Spagat: Der Angeklagte will wissen, warum das Gericht nicht ihm sondern vielmehr einem Zeugen geglaubt hat und warum die Strafe so und nicht milder ausgefallen ist. Die Urteilsbegründung soll ihm zeigen, dass er verstanden, mit seinen Einwendungen ernst genommen worden ist und dass die Richter sich die erforderliche Mühe mit seinem Fall gegeben haben.5 Juristische Fragen hingegen, so z. B. warum er wegen Untreue und nicht wegen Betruges verurteilt worden ist, sind für den Angeklagten - anders für das Revisionsgericht - häufig von untergeordneter Bedeutung. Der ehemalige Amtsrichter und Professor Vultejus6 erteilt insoweit für den Umgang mit der Revisionsinstanz folgenden Rat: „Es ist nicht nur sinnvoll, sondern auch in der Strafprozessordnung vorgeschrieben, dass die Straftat im Urteil genau bezeichnet wird. Mehr ist aber von Übel. Es reizt nur das Rechtsmittelgericht zu Korrekturen. Man kann nie sicher sein, ob man die - zufällig? - geltende Rechtsaufassung des Revisionsgerichts trifft…Die Revisionsrichter sollten nur das angefochtene Urteil prüfen. In Wahrheit lesen sie natürlich die gesamten Strafakten und überlegen, ob das Urteil nach dem Inhalt der Strafakten plausibel ist oder nicht.“

Wer diesen - von völliger Unkenntnis der Arbeit eines Revisionsgerichts zeugenden - Rat eines ehemaligen Praktikers und Strafrechtswissenschaftlers befolgt, wird zwangsläufig Schiffbruch erleiden. So ist es eine allerdings verbreitete - Mär, Revisionsrichter würden sämtliche Strafakten lesen und aufgrund der dadurch gewonnenen Überzeugung urteilen. Tat4

Vgl. Meyer-Goßner/Appl Die Urteile in Strafsachen, 28. Aufl.; Meyer-Goßner NStZ 1988, 529 ff.; Winkler SchlHA 2006, 245 ff. sowie Föhrig Kleines Strafrichter-Brevier, 2008 S. 91 ff.; zu materiell-rechtlichen Fehlern in Strafurteilen aus revisionsrechtlicher Sicht MeyerGoßner NStZ 1986, 49 ff. und 103 ff. 5 Sarstedt Rechtsstaat als Aufgabe, 1987 S. 142. 6 Vultejus ZRP 2008, 130, 131.

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sächlich ist dem Revisionsrichter ein Blick in die Strafakten - wenn nicht eine entsprechende Verfahrensrüge dazu zwingt - grundsätzlich verwehrt. Das Revisionsgericht darf bei einer Sachrüge nur die Urteilsurkunde zum Gegenstand seiner Entscheidung machen, alle anderen Erkenntnisquellen sind ihm verschlossen.7 Im Übrigen setzt bereits der immense Arbeitsanfall - ein Strafsenat besetzt mit sieben Richtern einschließlich des Vorsitzenden erledigt im Jahr mehr als 600 Verfahren - jeglicher Neugier enge Grenzen. Wer, wie der 2. Strafsenat unter Vorsitz der Jubilarin erst vor wenigen Wochen in einem Untreueverfahren, ein aus sieben Leitzordnern bestehendes, ca. 3000 Seiten umfassendes Senatsheft8 durchzuarbeiten hat, verspürt nicht die geringste Neigung, ohne Not auch noch in den 45 Bände umfassenden, 19500 Seiten starken Sachakten zu stöbern. Entscheidungsgrundlage für das Revisionsgericht ist also das erstinstanzliche Urteil, das - anders als von Vultejus empfohlen - in aller Regel auch Rechtsausführungen enthalten muss, um Bestand zu haben.9

III. Umfang und Inhalt eines „guten“ Urteils Wie lang muss oder darf ein gutes Urteil sein? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, kommt es doch auf die Zahl der Angeklagten und der ihnen vorgeworfenen Taten sowie die Schwierigkeit der Sache an. Bei einfach gelagerten, gehäuft auftretenden Sachverhalten mit geständigen Angeklagten kann eine Urteilsbegründung von fünf Seiten völlig ausreichend sein,10 während bei komplexen Wirtschaftsstrafverfahren in seltenen Ausnahmefällen auch 100 Seiten oder mehr vonnöten sein können. Generell ist aber die Tendenz zu beobachten, dass Urteile - und zwar nicht nur landgerichtliche Urteile, sondern auch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs - zunehmend umfangreicher werden.11 Was aber ist der Grund dafür? Den notwendigen Inhalt der Urteilsgründe umreißt § 267 StPO. Obwohl dieser Paragraph im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweitet und nunmehr zur wohl umfangreichsten Vorschrift der gesamten StPO geworden ist, enthält er keineswegs alles das, was bei der Abfassung der Urteilsgründe zu beachten ist. So ist ein großer Teil der 7

BGHSt 35, 238, 241. Ein Senatsheft enthält neben dem angefochtenen erstinstanzlichen Urteil in der Regel die Revisionsbegründungen, evtl. Gegenerklärungen sowie die Stellungnahme des Generalbundesanwalts. 9 Dazu Meyer-Goßner/Appl aaO Rn 409 ff. sowie unten III. 4. 10 Z. B. bei sogenannten “Schluckerfällen“, d. h. bei am Flughafen aufgegriffenen Rauschgiftkurieren, die inkorporiert Kokain einführen. 11 Diesen Umstand hat bereits Sarstedt aaO S. 139 ff. im Jahre 1974 beklagt. 8

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Regeln, nach denen sich die Begründung richtet, von der Rechtsprechung frei entwickelt und vor allem ausgeweitet worden. In seiner ursprünglichen Fassung des Jahres 1877 setzte § 275 StPO dem Gericht noch eine Frist von nur drei Tagen zur Abfassung der Gründe, welche im Jahre 1921 auf eine Woche verlängert wurde.12 Es versteht sich von selbst, dass es ohne den Einsatz von moderner Textverarbeitung unmöglich war, in solch kurzer Frist Urteile von mehreren hundert Seiten anzufertigen. Dass die Urteilsgründe im Laufe der Zeit immer länger wurden, ist neben der modernen Textverarbeitung dem Fortschritt in der Kriminalwissenschaft und -technik geschuldet, der zum vermehrten Einsatz von Sachverständigen im Strafprozess führt. Dementsprechend verlangen die Revisionsgerichte heute eine differenzierte Auseinandersetzung mit z. B. eingeholten anthropologischen Gutachten, mit Gutachten zur Blutalkoholkonzentration und zu DNASpuren, mit psychologischen Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage, mit psychiatrischen Gutachten zur Schuldfähigkeit sowie zur Gefährlichkeit des Täters usw. Die insoweit vom Bundesgerichtshof gestellten Begründungsanforderungen sind durchaus beachtlich.13 Auch permanente Gesetzesänderungen fordern dem Tatrichter vermehrte Schreibarbeit ab. So ist er z. B. nach der gesetzlichen Normierung der Verständigung im Strafverfahren in § 257 c StPO gemäß § 267 Abs. 3 S. 5 StPO gehalten, im Falle einer Verständigung dies in den Urteilsgründen offenzulegen;14 bei Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB hat er entsprechend der Neufassung des § 67 Abs. 2 S. 2 u. 3 StGB für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ein Vorwegvollzug eines Teils der Strafe unter Berücksichtigung der ebenfalls in den Urteilsgründen präzise zu erörternden voraussichtlichen Therapiedauer zu erfolgen hat.15 Allein die im Laufe der Zeit stetig gestiegenen Begründungsanforderungen erklären indes noch nicht die signifikante Zunahme überlanger Urteile speziell einiger Landgerichte. So veranlasst auch die - dem gegenwärtigen Zeitgeist geschuldete - Angst später an den öffentlichen Pranger gestellt zu

12 Freilich wurde § 275 StPO bis zur Einführung des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO durch das 1. Strafverfahrensreformgesetz vom 9. Dezember 1974 (BGBl. I 3393, 3533) als Ordnungsvorschrift und Fristüberschreitungen demzufolge als nicht revisibel angesehen, Hamm Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. Rn 479, Fn 1087. 13 Vgl. dazu auch unten III. 4. 14 Der Angabe des Inhalts der Verständigung bedarf es in den Urteilsgründen nicht; insoweit erfolgt die Dokumentation in der Sitzungsniederschrift (§ 273 Abs. 1a StPO), vgl. BGH NStZRR 2010, 151. 15 BGH NStZ 2009, 87.

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werden,16 viele Tatrichter, in allen nur erdenklichen Fällen die Anwendung einer - gegebenenfalls auch vorbehaltenen - Sicherungsverwahrung ausdrücklich zu erörtern, um sich so vorsorglich zu exkulpieren. Darüber hinaus versucht so mancher Tatrichter das Revisionsgericht durch Ausführlichkeit sowohl von der Sorgfalt seiner Arbeit als auch von der Richtigkeit des festgestellten Sachverhalts zu überzeugen, dabei außer Acht lassend, dass ausführliche Gründe erfahrungsgemäß auch mehr Angriffsflächen bieten. Der ehemalige Bundesrichter Winkler hat dazu an etwas verborgener Stelle einen lesenswerten Beitrag unter dem Titel „Schreiben wir uns tot? - Vom Mut zur Kürze bei der Begründung eines Urteils in Strafsachen“ verfasst.17 Zutreffend bemängelt er, dass aufgeblähte Urteile, die viel zu lang sind, unnötige Ressourcen beim Abfassen, beim Schreibdienst, beim Lesen durch die anderen Kammermitglieder und schließlich bei der Kontrolle durch das Revisionsgericht vergeuden. Das wirft die Frage auf, wo liegt Einsparpotential, d. h. an welchen Stellen kann und sollte sich der Tatrichter kürzer fassen, aber auch, an welch anderer Stelle besteht vielleicht sogar ein gesteigertes Begründungserfordernis. Beim Bundesgerichtshof besteht die Übung, den Urteilsentwurf des Berichterstatters einer sogenannten Fassungsberatung durch den gesamten Senat zu unterziehen. Dabei werden jedes Argument und jeder Satz auf den Prüfstand gestellt unter dem Aspekt „brauchen wir das für die Falllösung?“ In aller Regel ist das aus einer solchen Beratung erwachsende Urteil dann deutlich kürzer als der Entwurf des Berichterstatters. Eine entsprechende kritische Endkontrolle ist auch den Landgerichten anzuraten und zwar hinsichtlich aller fünf Hauptbestandteile eines verurteilenden Erkenntnisses, nämlich persönliche Verhältnisse (1), Feststellungen (2), Beweiswürdigung (3), rechtliche Würdigung (4) und Rechtsfolgen (5).

1. Die persönlichen Verhältnisse Wird der Angeklagte verurteilt, muss sich das Urteil mit den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten (Vorleben, Vorstrafen, berufliche Entwicklung, Familienverhältnisse, Krankheiten, Eigenarten etc.) auseinandersetzen. Enthält das Urteil hierzu keine Ausführungen, liegt darin ein sachlichrechtlicher Mangel, der zur Aufhebung im Rechtsfolgenausspruch führt.18 Allerdings sind die Feststellungen zur Person kein Selbstzweck. Sie dürfen 16

Vgl. z. B. die Bildzeitung vom 6. August 2010, die unter Ablichtung und unter voller Namensnennung eines Vorsitzenden Richters am Landgericht auf der Titelseite reißerisch aufmacht: „Justizschande - Dieser Richter ließ einen Sex-Täter laufen. Trotz Warnung vom Gutachter.“ 17 Winkler aaO S. 245 ff. 18 BGH NStZ-RR 2007, 236 mwN; OLG Köln StraFo 2009, 242.

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nur insoweit in die Urteilsgründe aufgenommen werden, wie ihre Kenntnis zur Beurteilung der Schuld- und Straffrage erforderlich ist. So ist es mehr als überflüssig, z. B. bei einem wegen Untreue verurteilten 60-jährigen GmbH-Geschäftsführer dessen Kindheit und Schulzeit in allen Details zu schildern. Der Bundesgerichtshof sagt dazu folgendes: „Das Landgericht hat den persönlichen Werdegang des Angeklagten auf neun eng beschriebenen Seiten geschildert und hierbei zu dem mehr als 30 Jahre vor der Tat beginnenden Werdegang ausgeführt… Dabei ergibt sich aus der Beweiswürdigung, dass in jeder Hinsicht entscheidungsunerhebliche Details teilweise nicht einmal ohne nennenswerten Aufwand in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind, sondern sogar Gegenstand ´streitiger´ Beweisaufnahme waren… Derartige überflüssige Feststellungen führen zu einer Aufblähung der Beweisaufnahme und der Urteilsgründe. Unnötig umfangreiche Urteilsbegründungen, wie sie in zunehmendem Maße zu beobachten sind, laufen damit nicht nur dem Erfordernis der Schonung der knappen Rechtsprechungsressourcen zuwider, sondern bringen den Tatrichter in die (hier allerdings nicht entstandene) Gefahr, dass die bestimmenden Umstände im Sinne des § 267 Abs. 3 S. 1 StPO in den Hintergrund treten.“ 19

Zum einen bringt der Bundesgerichtshof damit seinen Unmut zum Ausdruck, sich durch seitenlange, sachlich nicht gebotene Biographien quälen zu müssen, andererseits weist er auf die Gefahr hin, dass die Unüberschaubarkeit zu langer Urteile die Gefahr in sich birgt, das Fehlen von entscheidenden Feststellungen nicht zu bemerken, die zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmals erforderlich gewesen wären.20 Auch sämtliche Vorstrafen des Angeklagten müssen nicht schematisch aufgezählt werden.21 So ist es etwa überflüssig, bei einem mehrfach einschlägig vorbestraften Bankräuber mitzuteilen, dass dieser als 14-jähriger betrunken Mofa gefahren ist oder dass ein Mörder als Jugendlicher wegen eines Ladendiebstahls verwarnt worden war. Die vielfach zu beobachtende Methode, einfach den Computerausdruck aus dem Bundeszentralregister in die Urteilsgründe zu übernehmen, nährt den Verdacht, der Richter habe sich nicht wirklich ernsthaft mit den Vorstrafen des Angeklagten befasst und birgt im Übrigen die Gefahr, dass nach § 51 Abs. 1 BZRG zur Zeit der Hauptverhandlung unverwertbar gewordene Vorstrafen Eingang in die

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BGHR StPO § 267 Abs. 3 S. 1 Strafzumessung 20. So auch Föhrig aaO S. 106, der darauf hinweist, dass Widersprüche in eigener Produktion auf 20 Seiten leichter denn auf 120 Seiten erkannt werden. 21 Vgl. § 243 Abs. 5 S. 3 StPO. 20

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Urteilsgründe finden.22 Andererseits sind nähere Feststellungen zu einschlägigen Vorstrafen immer dann erforderlich, wenn ihnen indizielle oder strafzumessungsrechtliche Bedeutung zukommt, insbesondere auch dann, wenn die Anordnung von Sicherungsverwahrung erwogen wird; dann sind die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB mit allen notwendigen Einzelheiten wie Tatzeit, Vollstreckung und Höhe der Einzelstrafen darzulegen.23 Auch ist - was beim gedankenlosen Abschreiben des Strafregisterauszuges oftmals vergessen wird - der Vollstreckungsstand einzelner Vorverurteilungen dann festzustellen und mitzuteilen, wenn eine Gesamtstrafenbildung mit der neuerlichen Verurteilung in Betracht kommt. Nur so wird das Revisionsgericht nämlich in die Lage versetzt, die Richtigkeit der Gesamtstrafenbildung zu überprüfen.24 Wenn eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe in eine zu vollstreckende Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen wird, sind wegen der Anrechnungspflicht der §§ 58 Abs. 2 S. 2 i. V. m. 56 f Abs. 3 StGB zur Erfüllung von Auflagen erbrachte Leistungen im Urteil mitzuteilen.25 Immer wieder geschieht es auch, dass nach Aufhebung eines Urteils nur im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen in den Gründen des neu ergangenen Urteils „zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen“ auf die Feststellungen des aufgehobenen Urteils zu den persönlichen Verhältnissen Bezug genommen wird; dies ist unzulässig und führt zwingend zu einer ärgerlichen erneuten Urteilsaufhebung, weil die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen systematisch zum Strafausspruch gehören und deshalb bei der ersten Urteilsaufhebung mitaufgehoben waren.26 Nach alledem sind Feststellungen zu Werdegang, Vorleben und Persönlichkeit eines Angeklagten - in angemessener Kürze - bei verurteilenden Erkenntnissen stets notwendig, um nachvollziehbar zu machen, ob der Tatrichter die wesentlichen Anknüpfungstatsachen für die Strafzumessung ermittelt und berücksichtigt hat. Aber auch bei freisprechenden Urteilen können - was in der Praxis häufig übersehen wird und Aufhebungspotential birgt - Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen erforderlich sein, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht notwendig sind.27 Das kann z. B. der Fall sein bei Umständen aus dem Vorleben, denen indizielle Bedeutung für die angeklagte Tat zukommt.

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BGHR StPO § 267 Abs. 1 S. 1 Sachdarstellung 1. BGH StraFo 2010, 256. 24 BGH NStZ-RR 2010, 202. 25 BGH NStZ-RR 2009, 201. 26 BGH StraFo 2004, 211. 27 BGHSt 52, 314; BGH NStZ 2010, 529. 23

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2. Die Feststellungen Die Sachverhaltsschilderung bildet das Kernstück des Strafurteils. Sie soll kurz, klar und bestimmt sein, alles Unwesentliche fortlassen und vor allen Dingen eine in sich geschlossene Darstellung aus einem Guss sein. Während das, was zur Erfüllung des Tatbestandes wichtig ist, präzise geschildert werden muss, können Vor- und Nachgeschichte der Tat kürzer dargestellt werden. Dagegen wird in der Praxis häufig verstoßen. Zwar kann die Darstellung der Vorgeschichte, aus der sich eine Straftat entwickelt hat, zu deren Verständnis geboten sein; wenn aber die Schilderung des eigentlichen Tatgeschehens z. B. auf Seite 50 eines Urteils beginnt, lässt das nur den Schluss zu, dass der Urteilsverfasser nicht die notwendige gedankliche Vorarbeit angestellt hat, eine wertende Auswahl zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu treffen. Genau darin liegt aber die unverzichtbare geistige Leistung, die von einem Richter erwartet wird. Häufig wird dagegen auf die Schilderung des subjektiven Tatbestandes zu wenig Sorgfalt verwendet. Zwar sind Ausführungen zum Vorsatz entbehrlich, soweit er sich unmittelbar aus dem objektiven Geschehen ergibt, so z. B. die Zueignungsabsicht bei einem Banküberfall. Wenn jedoch ein Angeklagter seinem Opfer einen Messerstich in den Oberkörper versetzt, muss zwingend erörtert werden, ob er dies mit Körperverletzungs- oder Tötungsvorsatz getan hat. In Vergewaltigungsfällen genügt es nicht festzustellen, es sei für den Angeklagten erkennbar gewesen, dass er den Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Frau ausführte, weil sich daraus noch nicht ergibt, ob er dies auch erkannt hat. Bei Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB wird häufig vergessen anzugeben, welche Vorstellungen sich der Angeklagte von dem Alter des Kindes gemacht hat. Die Liste solcher - scheinbarer - Selbstverständlichkeiten, deren Nichtbeachtung immer wieder zu Urteilsaufhebungen führt, ließe sich beliebig fortsetzen. Besonders augenfällig ist, dass freisprechende Urteile prozentual betrachtet wesentlich häufiger aufgehoben werden, als verurteilende Erkenntnisse. Das dürfte zwei Gründe haben: Zum einen werden Revisionen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage in der Regel nach reiflicherer Überlegung und eingehenderer Prüfung bei weitem nicht so inflationär und reflexartig eingelegt wie solche der Angeklagten. Sowohl den Generalstaatsanwaltschaften als auch dem Generalbundesanwalt, die nicht erfolgversprechende staatsanwaltschaftliche Revisionen bereits im Land anhalten, bzw. auf deren spätere Rücknahme hinwirken, kommt insoweit eine nicht zu unterschätzende Filterfunktion zu.

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Daraus erklärt sich auch die wesentliche höhere Erfolgsquote staatsanwaltschaftlicher Revisionen.28 Zum anderen liegt die höhere Aufhebungsquote vermutlich darin begründet, dass die Tatgerichte „im Freisprechen weniger geübt“ sind und die formalen Anforderungen an ein freisprechendes Urteil von denen eines verurteilenden Erkenntnisses durchaus abweichen. So ist im Falle eines Freispruchs zunächst kurz der Anklagevorwurf aufzuzeigen; ausnahmsweise sind auch Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen erforderlich.29 Sodann muss - wogegen häufig verstoßen wird - in einer geschlossenen Darstellung aufgezeigt werden, welchen Sachverhalt das Gericht als festgestellt erachtet. Erst danach ist zu erörtern, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden konnten.30 Wenn diese Grundsätze vom Tatrichter nicht beachtet werden, ist eine Urteilsaufhebung wegen Darstellungsmängeln nahezu unvermeidbar.31 Zuletzt besteht noch Anlass zu dem Hinweis, dass - was die Tatgerichte bisweilen verkennen - auch eine vorangegangene Verständigung nicht von der Verpflichtung enthebt, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt aufzuklären und darzulegen, um dem Revisionsgericht eine entsprechende Prüfung zu ermöglichen.32

3. Die Beweiswürdigung Eine vollständige und erschöpfende Beweiswürdigung muss die Einlassung des Angeklagten sowie den maßgeblichen Inhalt der übrigen erhobenen Beweise wiedergeben und zusammenfassend begründen, warum die Feststellungen so und nicht anders getroffen wurden. Dabei trennt sich - um es bildlich auszudrücken - häufig „die Spreu vom Weizen“. In einem reinen Indizienprozess, z. B. bei einem Mord ohne Leiche und einem schweigenden Angeklagten, plausibel darzulegen, warum man von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt ist, erfordert einiges Geschick, müssen doch die Beweisgründe in sich logisch, geschlossen, klar und frei von Lücken oder Widersprüchen sein. Insbesondere müssen sie sich mit allen naheliegenden 28 Ca. 95 % der Revisionen werden von Angeklagten eingelegt und führen in 12 % der Fälle zumindest zu einem Teilerfolg. 4 % der Revisionen, die aber zu 40 % erfolgreich sind, entfallen auf die Staatsanwaltschaften; das restliche 1 % sind zu 10 % erfolgreiche Nebenklägerrevisionen. 29 Vgl. oben III. 1. 30 Meyer-Goßner/Appl aaO Rn 622; BGH NStZ-RR 2009, 116; 2010, 182. 31 Vgl. zuletzt z. B. BGH NStZ-RR 2009, 116; 2010, 182; Urt. v. 25. März 2010 – 1 StR 601/09. 32 BGH NStZ-RR 2010, 54 mwN.

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Tatsachen und Umständen, die Schlüsse zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zulassen, auseinandersetzen. Dabei ist es allerdings - wie weit verbreitet und nicht ausrottbar - nicht erforderlich, ja bisweilen sogar schädlich, zunächst einmal aufzuzählen, welche Zeugen und Sachverständige das Gericht in der Hauptverhandlung vernommen, welche Urkunden es verlesen und welche Gegenstände es in Augenschein genommen hat. Wird etwa ein in der Anklage benannter Zeuge aufgeführt, auf den aber in der Hauptverhandlung verzichtet worden ist oder wird die Verlesung einer Urkunde behauptet, obwohl sie nur vorgehalten worden ist, kann dies die Revision begründen.33 Ebenso verfehlt wäre es, den Inhalt der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu dokumentieren, indem etwa die Zeugenaussagen der Reihe nach und in ihren Einzelheiten mitgeteilt oder über Seiten sämtliche Gesprächsinhalte einer Telefonüberwachung wiedergegeben werden. Auch ist es völlig überflüssig, für jede Feststellung, z. B. dazu, welchen Schulabschluss ein Angeklagter erworben hat, in den Urteilsgründen einen Beleg zu erbringen, also jeweils zu sagen „diese Feststellung beruht auf…., jene Feststellung beruht auf….“. Vielmehr muss das Beweisergebnis gesichtet und darf nur soweit erörtert werden, wie es für die Entscheidung von Bedeutung ist; alle nebensächlichen Einzelheiten sind fortzulassen. Wenn gegen diese scheinbar einfachen und einleuchtenden Grundregeln immer wieder von denselben Strafkammern eklatant verstoßen wird, entlädt sich der dadurch beim Bundesgerichtshof aufgestaute Unmut gelegentlich eruptionsartig wir folgt: „Die Fassung der 129 Seiten umfassenden Urteilsgründe gibt dem Senat Anlass zu folgendem Hinweis: Die schriftlichen Urteilsgründe dienen, wie der Senat schon wiederholt zu bemerken Anlass hatte, weder der Darstellung eines bis in verästelte Einzelheiten aufzuarbeitenden ‚Gesamtgeschehens’ noch der Nacherzählung des Ablaufs der Ermittlungen oder des Gangs der Hauptverhandlung. Es ist Aufgabe des Richters, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und die Begründung seiner Entscheidungen so zu fassen, dass der Leser die wesentlichen, die Entscheidung tragenden tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen ohne aufwändige eigene Bemühungen erkennen kann. Urteilsgründe sollen weder allgemeine ‚Stimmungsbilder’ zeichnen noch das Revisionsgericht im Detail darüber unterrichten, welche Ergebnisse sämtliche im Hauptverhandlungsprotokoll verzeichneten Beweiserhebungen gehabt haben. Das vorliegende Urteil wird dem nicht gerecht. Der Leser erfährt erstmals auf UA S. 32, um welchen möglicherweise strafbaren Sachverhalt es überhaupt geht. 33

Vgl. BGHR StPO § 52 Abs. 1 Nr. 3 Mitbeschuldigter 10; BGH NStZ 2000, 211.

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Die dann folgenden tatsächlichen Feststellungen zu den 5 abgeurteilten Taten umfassen insgesamt 7 ½ Seiten; sie werden mehrmals unterbrochen von insgesamt 8 ½ Seiten mit Feststellungen, die jeweils mit ´nicht angeklagt´ überschrieben sind und deren Sinn sich dem Leser daher nicht erschließt. Auf den folgenden 17 Seiten wird in unübersichtlicher, verzweigter und weitschweifiger Weise die Aufdeckung der Taten nacherzählt; weitere 7 Seiten schildern den Gang des Ermittlungsverfahrens. Auf UA S. 67 erfährt der Leser erstmals, ob und wie der Angeklagte sich eingelassen hat; von UA S. 71 bis 107 folgen sodann mehr als 35 Seiten mit Erwägungen über die Glaubwürdigkeit der Geschädigten. In 28 Abschnitten schließen sich Ausführungen dazu an, worauf eine kaum zu überblickende Vielzahl teilweise unbedeutender oder nur das Randgeschehen betreffender Feststellungen ‚beruht’; die Gliederung dieser Abschnitte ist überdies weder mit derjenigen der Anklage noch mit der Nummerierung der Taten identisch. Eine solche unübersichtliche Breite ist weder durch § 267 StPO noch sachlichrechtlich geboten. Sie ist geeignet, den Blick auf das Wesentliche zu verstellen. So erscheint es symptomatisch, dass im vorliegenden Urteil zwar Nebensächlichkeiten breit dargestellt sind, wesentliche Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand der abgeurteilten Taten jedoch fehlen. Das Abfassen unangemessen breiter Urteilsgründe führt auch zu einer vermeidbaren Vergeudung personeller Ressourcen. Angesichts der durchweg hohen Belastungen der Strafjustiz sollte es im Interesse der Tatgerichte liegen, Arbeitskraft und Zeit nicht für das Verfassen mehrerer hundert Seiten starker Urteilsgründe in einfach gelagerten Fällen aufzuwenden. Soweit von tatrichterlicher Seite gelegentlich darauf hingewiesen wird, eine möglichst breite und umfassende Darstellung aller Einzelheiten empfehle sich, um möglichen Beanstandungen wegen des Fehlens einzelner Erörterungen durch das Revisionsgericht zuvorzukommen, erscheint dies verfehlt. Die sogenannte ‚Revisionssicherheit’ von Strafurteilen ist kein Selbstzweck, sondern ergibt sich aus ihrer Freiheit von Rechtsfehlern. Eine unnötige breite Darlegung von Nebensächlichkeiten, gedanklichen Zwischenschritten und Randgeschehen ist aber, wie das vorliegende Urteil beispielhaft zeigt, gerade nicht geeignet, Fehler zu vermeiden, welche den Bestand des Urteils gefährden. Der Senat verkennt nicht, dass die die Abfassung der Urteilsgründe stets auch Ausdruck individueller richterlicher Gestaltung und Bewertung sowie der in Spruchkörpern gewachsenen Erfahrung und Übung ist. Hiergegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Kommt es aber zu einer auffälligen Häufung bestimmter fehlerhafter Entwicklungen oder zu erheblichen Abweichungen zwischen einzelnen Gerichten, ist es Aufgabe des Revisionsgerichts, dem entgegen zu wirken.“34

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BGH NStZ 2007, 720 unter Vorsitz der Jubilarin; ähnlich BGH NStZ 2002, 49; NStZ-RR 2009, 183.

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Dem ist nichts hinzuzufügen. Ungeachtet dieser Kritik an der Arbeitsweise einiger Strafkammern gilt selbstverständlich der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Es ist zunächst Sache des Tatrichters das Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen. Er hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.35 Dabei hat er den festgestellten Sachverhalt erschöpfend zu würdigen und dies in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht überprüfbar darzulegen. Im Zweifel hat er zugunsten des Angeklagten zu entscheiden - in dubio pro reo. Insoweit handelt es sich jedoch um eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung zu gewinnen vermag.36 Allerdings braucht der Tatrichter entlastende Angaben eines Angeklagten, für deren Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinzunehmen; vielmehr hat er sich aufgrund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme eine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Behauptung zu bilden.37 An dieser Stelle ist auch noch darauf hinzuweisen, dass der Einlassung eines Angeklagten, der sich - wie seit einiger Zeit „in Mode“ gekommen - nur durch einen vom Verteidiger verlesenen Schriftsatz erklärt und Nachfragen nicht zulässt, ein erheblich geminderter Beweiswert zuzumessen ist. Dies deshalb, weil in einem solchen Fall die Einlassung eines Angeklagten nur bedingt einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich ist.38 Das Revisionsgericht kann die Beweiswürdigung nur in engen Grenzen nachprüfen. So wird es einen Erörterungsmangel nur dann feststellen, wenn sich der Tatrichter über gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzt, wenn er gegen zwingende Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln verstößt, wenn seine Ausführungen widersprüchlich oder lückenhaft sind oder wenn er z. B. im Falle eines Freispruchs überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung stellt.39 Dabei kann unter Umständen schon ein einziges unbedachtes oder überflüssiges Wort zur Urteilsaufhebung führen und die Arbeit mehrerer Monate zunichtemachen. So hatte z. B. ein Landgericht in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen seine Überzeugung im Wesentlichen aus den Aussagen des Tatopfers gewonnen und dazu ausgeführt, die Geschädigte habe das Tatgeschehen gegenüber der Polizei, im 35

BGHSt 10, 208. BGH NStZ-RR 2007, 43. 37 BGHSt 51, 324. 38 BGH StV 2008, 126. 39 St. Rspr, vgl. BGH NJW 2008, 2792, 2793; NStZ-RR 2010, 182. 36

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Rahmen ihrer Glaubwürdigkeitsbegutachtung und gegenüber dem Gericht im Kerngeschehen „weitgehend“ konstant wiedergegeben. Das - möglicherweise nur lapidar aus Gedankenlosigkeit eingefügte - Wort „weitgehend“ veranlasste den Bundesgerichtshof zu folgenden Ausführungen: „Das Landgericht beschränkt sich jedoch darauf mitzuteilen, dass die Aussagen im Kernbereich ‚weitgehend’ konstant waren…, lässt dies besorgen, dass die Aussagen der Nebenklägerin auch im Kernbereich nicht konstant waren. Das Landgericht hat es danach rechtsfehlerhaft unterlassen, die Abweichungen der einzelnen Aussagen darzustellen und nachvollziehbar zu begründen, weshalb die Aussage der Nebenklägerin gleichwohl insgesamt glaubhaft sein soll.“40

Wenn der Richter seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten jedoch zweifelsfrei begründet hat, ist das Revisionsgericht nicht befugt, eine eigene Bewertung vorzunehmen und seine Überzeugung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen. Dies gilt auch dann, wenn es die auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruhenden Schlussfolgerungen des Tatrichters zwar für möglich, aus seiner Sicht aber andere Schlüsse für naheliegender oder wahrscheinlicher erachtet. Ergibt die - in einem solchen Fall vielleicht etwas kritischere - Rechtsprüfung keinen Rechtsfehler, lautet das geflügelte Wort: „Die Sache geht mit dem Tatrichter heim“.

4. Die rechtliche Würdigung Wenn sich aus der Sachverhaltsschilderung für den kundigen Leser die verwirklichten Tatbestände zweifelsfrei ergeben, d. h. wenn alle Tatbestandsmerkmale durch Tatsachenfeststellungen ausgefüllt sind, erübrigen sich Rechtsausführungen in aller Regel. Es genügt dann festzustellen, der Angeklagte habe sich wegen Körperverletzung oder Diebstahls strafbar gemacht. Im Einzelnen gehört ein wenig Gespür und Routine dazu, wann und in welchem Umfang Rechtsausführungen nötig sind. Kommen z. B. mehrere Tatbestandsalternativen wie etwa bei der Hehlerei oder im konkreten Fall mehrere Qualifikationen wie bei Raub oder Vergewaltigung in Betracht, muss stets herausgearbeitet werden, welche jeweils vorliegt. Vertiefte Ausführungen sind ebenso erforderlich, wenn in subjektiver Hinsicht (z. B. bei der Verwirklichung von Mordmerkmalen) Zweifel bestehen, wenn z. B. bei BtM-Delikten die Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe im Raum steht oder wenn Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe in Betracht zu ziehen sind. Bei der Verurteilung wegen einer versuchten Straf40

BGH Beschl. v. 17. Juni 2009 – 2 StR 178/09.

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tat, insbesondere bei versuchten Tötungsdelikten, sind Ausführungen zu einem möglichen Rücktritt gemäß § 24 StGB geradezu unerlässlich. Der Tatrichter muss stets prüfen und sollte dies auch darlegen, ob ein Versuch beendet, unbeendet oder fehlgeschlagen war, bzw. ob der Täter die weitere Tatausführung freiwillig aufgegeben hat. Anderenfalls ist - in der Praxis keineswegs selten - eine Urteilsaufhebung nahezu unumgänglich. Spätestens im Rahmen der rechtlichen Würdigung ist auch, wenn dazu Anlass besteht, die - verminderte oder ausgeschlossene - Schuldfähigkeit des Angeklagten zu erörtern. Die fehlerhafte Anwendung oder Nichtanwendung des § 21 StGB mit den sich daraus für die Strafzumessung sowie für die Maßregelanordnung ergebenden Konsequenzen ist der Grund, der zu den meisten Urteilsaufhebungen beim Bundesgerichtshof führen dürfte.41 Dabei sind es vor allem zwei Dinge, die immer wieder Anlass zu Beanstandungen geben: Zum einen scheint vielen Tatrichtern der Unterschied zwischen Einsichtsund Steuerungsfähigkeit und die sich daraus ergebenden Folgen nicht bewusst zu sein. Zum anderen gelingt der richtige Umgang mit Sachverständigengutachten teilweise nicht. Erst jüngst hat sich der zweite Strafsenat des BGH unter Vorsitz der Jubilarin in einem Fall, wo beides zusammentraf, wie folgt geäußert: „Zwar hat der gehörte psychiatrische Sachverständige ausgeführt, ‚die Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führe dazu, dass bei einer akuten Phase die Steuerungsfähigkeit vollkommen ausgeschlossen sei, aber ansonsten erheblich eingeschränkt sei’. Damit wären die Voraussetzungen einer Anordnung nach § 63 StGB gegeben. Das Landgericht gibt auch vor, den Ausführungen des Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit folgen zu wollen. Tatsächlich aber stellt die Strafkammer darauf ab, die Fähigkeit des Beschuldigten, das Unrecht seiner Taten einzusehen, sei zumindest erheblich vermindert, wenn nicht sogar vollkommen ausgeschlossen gewesen. Damit aber scheidet nach ständiger Rechtsprechung die Anwendung des § 21 StGB aus, weil der Täter bei hier möglicherweise nur erheblicher Verminderung der Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte erkennt, die Einsicht also tatsächlich hat (Fischer, StGB, 57. Aufl., § 21 Rn. 3 mwN). An eine bloße Verminderung der Einsichtsfähigkeit, die nicht zum Fehlen der Einsicht geführt hat, kann eine Maßregel nach § 63 StGB nicht geknüpft werden (BGHSt 34, 22, 26 f; NStZ 2006, 682, 683; NStZ-RR 2007, 73). Diese, durch das Revisionsgericht nicht ausräumbaren Widersprüche führen zur Aufhebung des Urteils.“ 42

41 42

So schon Meyer-Goßner NStZ 1988, 529, 534. BGH Beschl. v. 18. August 2010 – 2 StR 311/10.

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Während obige Ausführungen zu § 21 StGB selbsterklärend sind, noch einige Hinweise zum Umgang mit Sachverständigengutachten, die gegebenenfalls sowohl bei der Beweiswürdigung - z. B. Glaubhaftigkeitsgutachten - als auch bei den Rechtsausführungen - z. B. Schuldfähigkeitsgutachten - und schließlich auch bei den Rechtsfolgenausführungen - z. B. psychiatrische Gutachten zu §§ 63, 64, 66 StGB - Eingang in die Urteilsgründe finden müssen: An den Inhalt eines Gutachtens ist der Richter nicht gebunden, es ist nur Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung. Schließt sich der Richter dem Ergebnis der Beurteilung eines Sachverständigen an, ist er grundsätzlich verpflichtet, wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiederzugeben, wie es zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Fehlerfreiheit notwendig ist.43 Geschieht dies mit eigenen Worten und erfolgt dessen Würdigung gegebenenfalls unter Hinweis auf eigene Prozessbeobachtungen und Überlegungen ist dies ein Beleg dafür, dass der Tatrichter hinter dem Gutachten steht, weil er es verstanden hat.44 Gelangt der Richter hingegen zu einem anderen Ergebnis als der Sachverständige, darf er sich nicht ohne Begründung oder mit laienhaften Erwägungen über die Meinung des Sachverständigen hinwegsetzen. Vielmehr muss er seine gegenteilige Ansicht genau begründen und dabei erkennen lassen, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat.45 Dazu muss er die Darlegungen des Sachverständigen im Einzelnen wiedergeben, insbesondere welche Verfahren der Sachverständige herangezogen hat, welchen Aussagewert sie haben und welche Vorgehensweise bei ihnen zu beachten ist.46

5. Der Rechtsfolgenausspruch Für den - insbesondere geständigen - Angeklagten ist dieser Urteilsteil oftmals von größtem Interesse. Zum Rechtsfolgenausspruch zählen neben der Strafe vor allem auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie Verfall und Einziehung. Ohne auf die vielfältigen Fehlermöglichkeiten bei der Begründung des Rechtsfolgenausspruchs im Einzelnen eingehen zu können, sollen hier nur die wichtigsten, immer wieder auftauchenden Mängel angesprochen werden.

43

BGHSt 34, 29, 31; BGH Beschl. v. 14. April 2010 – 5 StR 123/10. Föhrig aaO S. 105. 45 BGH NStZ 2009, 571; NStZ-RR 2010, 105. 46 BGH NStZ 2005, 628. 44

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a. Die Strafzumessungsgründe müssen sachlich abgefasst werden. Moralisierende und persönliches Engagement vermittelnde Formulierungen sind zu vermeiden, da sie den Eindruck erwecken können, das Gericht sei nicht unbefangen, habe sich von Emotionen oder Empörung leiten lassen und wäge die für und wider den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte nicht ruhig und sachlich gegeneinander ab.47 Auch eine mathematisierende Betrachtungsweise, etwa das Abstellen auf das arithmetische Mittel des angewandten Strafrahmens, wird dem Vorgang der Strafzumessung nicht gerecht.48 Spätestens bei der Strafzumessung ist - soweit nicht schon im Rahmen der rechtlichen Würdigung geschehen - insbesondere bei länger zurückliegenden Sexualstraftaten gemäß § 2 Abs. 3 StGB zu erwägen, ob nicht ein früheres, zur Tatzeit oder danach gültig gewesenes Gesetz eine mildere Rechtsfolge vorgesehen hätte. Sieht der anzuwendende Straftatbestand die Möglichkeit von minder schweren oder besonders schweren Fällen vor und kommen gleichzeitig weitere sogenannte vertypte Milderungsgründe z. B. aus §§ 21, 23 Abs. 2, 27 Abs. 2 S. 2, 30 Abs. 1 S. 2, 46 a, 46 b StGB, § 31 BtMG i. V. m. § 49 StGB in Betracht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Richter die erforderliche Gesamtabwägung vorgenommen hat und - gegebenenfalls aufgrund einer Mehrfachmilderung - von dem für den Angeklagten günstigsten Strafrahmen ausgegangen ist.49 Bei der Strafzumessung im engeren Sinne, also der Festlegung der konkreten Strafe innerhalb des gefundenen Strafrahmens, muss der Tatrichter die bestimmenden Umstände - und nur diese - mitteilen und dabei darauf achten, nicht solche Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, strafschärfend heranzuziehen; so darf er z. B. dem wegen Totschlags verurteilten Angeklagten nicht anlasten, er habe bedenkenlos ein Menschenleben ausgelöscht; darin läge ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Ebenso wenig darf einem die Tat bestreitenden Angeklagten das Fehlen von Schuldeinsicht oder Reue, bzw. die Bagatellisierung seines Verhaltens50 angelastet werden. Bei der strafschärfenden Heranziehung von Vorstrafen ist das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG bei Tilgungsreife zu beachten. Stets ist zu prüfen, ob noch nicht erledigte Vorverurteilungen gesamtstrafenfähig sind. Dazu ist - was häufig unbeachtet bleibt - der jeweilige Voll47

BGH NStZ 2006, 96; NStZ-RR 2007, 195; 2009, 103, 104; vgl. auch BGHR StGB § 46 Abs. 2 Persönlichkeit 1: Der Angeklagte sei „ein in jeder Hinsicht gescheiterter Mensch, ein Niemand“ und „ein im sozialen Sinne höchst lästiger Mensch.“ 48 BGH NStZ 2008, 233. 49 Dazu im Einzelnen Meyer-Goßner/Appl aaO Rn 444 ff. 50 Dazu zuletzt BGH Beschl. v. 8. September 2010 – 2 StR 407/10.

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streckungsstand mitzuteilen und gegebenenfalls ist ein Härteausgleich vorzunehmen, was den Urteilsgründen hinreichend deutlich zu entnehmen sein muss.51 Bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen hat der Tatrichter nach neuer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs52 unter Anwendung der sogenannten Vollstreckungslösung zu bestimmen, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt. Dass - ebenso wie bei der Beweiswürdigung53 - auch bei der Begründung der Strafe sorgfältigstes Arbeiten vonnöten ist, weil ein einziges unbedachtes Wort zur Aufhebung führen kann, belegt eine aktuelle Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs:54 Das Landgericht hatte gegen einen nicht vorbestraften und geständigen Täter eine kurze, zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von drei Monaten verhängt und unter Bezugnahme auf § 47 Abs. 1 StGB sehr ausführlich begründet, warum die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe statt einer Geldstrafe „geboten“ war. Damit war die Aufhebung im Strafausspruch unvermeidbar, weil die Strafkammer ihrer Entscheidung einen falschen Prüfungsmaßstab zu Grunde gelegt hatte. Hätte sie, den Wortlaut des § 47 Abs. 1 StGB beachtend, dargelegt, dass nach ihrer Einschätzung die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe „unerlässlich“ war, wäre dagegen nichts zu erinnern gewesen.55

b. Wird eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, ist diese nach § 267 Abs. 6 S. 1 StPO im Urteil zu begründen.56 Umgekehrt gilt der Begründungszwang auch dann, wenn, obwohl sich insbesondere die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB nach den Urteilsgründen aufdrängte, eine Auseinandersetzung mit dieser Frage nicht erfolgt ist.57 Anordnung und Vollzug der Maßregel setzen die hinreichend konkrete Aussicht voraus, die süchtige Person zu heilen oder zumindest über eine erhebliche Zeitspanne vor einem Rückfall in die Sucht zu bewahren. Obwohl dies seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 199458 auch ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist und zudem durch Gesetz vom 16. Juli 2007 (BGBl. I 1327) in § 64 StGB seinen Niederschlag gefunden hat, stellen nach wie vor zahlreiche Tatgerichte die Erwägung an, ein Behandlungserfolg sei „nicht von vornherein als aus51

BGH StV 2010, 240. BGHSt 52, 124. 53 Dazu oben III. 3. 54 BGH Beschl. v. 8. September 2010 – 2 StR 407/10. 55 Vgl. Fischer StGB, 57. Aufl. § 47 Rn 7 und 10. 56 Zu den Urteilsanforderungen für den Fall eines Teilvorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 StGB n. F. s. oben unter III. sowie BGH NStZ 2009, 87. 57 BGH Beschl. v. 2. September 2010 – 2 StR 388/10. 58 BVerfGE 91, 1. 52

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sichtslos zu betrachten“, was in der Regel zur Aufhebung durch das Revisionsgericht führt.59 Die Unterbringung nach § 64 StGB geht der freiwilligen Therapie nach § 35 BtMG auch nach der Herabstufung des § 64 StGB zu einer Sollvorschrift weiterhin vor.60 Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt - was immer noch gelegentlich verkannt wird - anders als die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt voraus, dass die Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit des Täters positiv festgestellt wird, also nicht etwa nur nicht auszuschließen ist.61 Soweit die Verminderung der Einsichtsfähigkeit nicht das Fehlen der Einsicht bei Tatbegehung ausgelöst hat, kommt eine Unterbringung nicht in Betracht.62 Die Anordnung des § 63 StGB verlangt Ausführungen dazu, dass zwischen dem seelischen Zustand des Angeklagten und dessen Gefährlichkeit ein sogenannter symptomatischer Zusammenhang besteht. Weiter bedarf es einer genauen, eingehend zu begründenden Auseinandersetzung mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit neuerlicher schwerer Störungen des Rechtsfriedens unter Berücksichtigung des früheren Verhaltens des Angeklagten, vor allem auch der Gründe für seine bisherigen Straftaten.63 Geht es um die Anordnung der Sicherungsverwahrung,64 ist besonderes Augenmerk auf die Darlegung der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB zu richten, die sich in allen vier möglichen Alternativen (Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 1 und Abs. 3 S. 2) erheblich unterscheiden. Auch an die Begründung der materiellen Voraussetzungen stellen die Revisionsgerichte wegen des besonders einschneidenden Eingriffs in die Handlungsfreiheit eines Betroffenen hohe Anforderungen, weshalb insbesondere zu Hang und Gefährlichkeit eine gewissenhafte Argumentation angezeigt ist.65

c. Was schließlich die Anordnung von Verfall, Verfall von Wertersatz, erweitertem Verfall und Einziehung (§§ 73 ff. StGB sowie vor allem auch § 33 BtMG) anbelangt, kommt man um die Feststellung nicht umhin, dass es sich für manchen Tatrichter um „terra incognita“ handelt. Die zugegeben recht komplizierten Regelungen führen in der Praxis immer wieder zu Fehl59

Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Fischer aaO § 64 Rn 18 sowie BGH StraFo 2009, 247: „Es ist daher nicht verständlich, dass Tatgerichte entgegen dem Gesetzeswortlaut noch immer an einer Auslegung des § 64 StGB festhalten, die der seit 15 Jahren ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung widerspricht.“ 60 BGH StV 2008, 405. 61 BGH NStZ-RR 2007, 105. 62 Vgl. dazu oben III. 4. 63 BGH NStZ-RR 2006, 136. 64 Von der Jubilarin kommentiert im Leipziger Kommentar seit der 12. Auflage. 65 Vgl. BGH NStZ-RR 2010, 77.

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entscheidungen, weil die gesetzlich richtige und gebotene Maßnahme aufgrund oberflächlicher Befassung nicht getroffen wird. Zwar wird - weil in einer Vielzahl von Strafverfahren (BtM-, Untreue-, Betrugsverfahren) veranlasst - irgendeine Maßnahme angeordnet. In der Regel wird diese dann aber - aus Bequemlichkeit, Unsicherheit oder gar Unkenntnis - nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbar und auf Rechtsfehler überprüfbaren Weise begründet. Das Revisionsgericht stellt dann entweder das Ganze richtig66 oder sieht sich mangels ausreichender Feststellungen z. B. zu den Vermögensverhältnissen des Täters zu einer Teilaufhebung genötigt.67 Angesichts der Vielzahl von Verfahren, in denen eine Verfalls- oder Einziehungsentscheidung zu treffen ist, kann jedem Richter nur nahe gelegt werden, sich mit der Systematik dieser Vorschriften vertraut zu machen und dies in den Urteilsgründen entsprechend auszuweisen.

IV. Stil und Sprache eines guten Urteils Zur Einleitung wiederum ein Zitat von Vultejus :68 „Es gilt also, das Wohlwollen des Revisionsrichters zu erringen. Er muss von der Richtigkeit des Urteils überzeugt sein, wenn er es gelesen hat. Ist es gelungen, diese Überzeugung zu wecken, besteht das angegriffene Urteil die Prüfung in der Revisionsinstanz, mag kommen was will. Nie aber wird ein Revisionsrichter ein Urteil bestätigen, dass er im Ergebnis für falsch hält, mag es noch so fachgerecht begründet sein.“

Dieser Aussage ist, was den zweiten Teil des Zitats anbelangt, entschieden zu widersprechen. Entgegen allen „Stammtischparolen“ prüft der Bundesgerichtshof ihm vorgelegte Urteile ausschließlich auf Rechtsfehler. Weist ein Urteil einen durchgreifenden Rechtsfehler auf, unterliegt es der Aufhebung; anderenfalls wird die Revision verworfen. Ob der Strafsenat einen Angeklagten im Gegensatz zum Landgericht eher verurteilt bzw. freigesprochen oder ihn härter bzw. milder bestraft hätte, spielt dabei keine Rolle! Uneingeschränkt zuzustimmen ist aber dem Rat, sich das Wohlwollen des Revisionsrichters zu sichern, wobei zu fragen ist „wozu“ und „wie“? Die Frage nach dem „wozu“ ist schnell beantwortet: Zum einen gibt es objektivierbare Rechtsfehler z. B. im Rahmen der rechtlichen Würdigung, die stets zur Urteilsaufhebung zwingen. Zum anderen besteht aber in bestimmten 66

So zuletzt BGH Beschl. v. 8. September 2010 – 2 StR 396/10. BGHSt 53, 179. 68 Vultejus aaO S. 131. 67

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Bereichen oft ein gewisser Beurteilungsspielraum des Revisionsgerichts, wenn es um „lässliche Fehler“ geht, so z. B. bei der Frage, ob die tatsächlichen Feststellungen zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmals gerade noch ausreichen oder ob die angestellten Beweiserhebungen eine Überzeugungsbildung gerade noch zu rechtfertigen vermögen. Es liegt in der menschlichen Natur, dass nicht alle Revisionsrichter bei der Bewertung solcher Grenzfälle in revisionsrechtlichen Grauzonen stets übereinstimmen. Deshalb ist es auch kein Geheimnis, dass in Grenzfällen ein Urteil vor einem Senat bestand haben könnte, vor einem anderen jedoch nicht. Mitunter kann der Bestand eines Urteils - wenn auch nur in wenigen Ausnahmefällen sogar von der jeweiligen Senatsbesetzung abhängig sein. Dass nun einem Urteil eine solch wohlwollende Betrachtungsweise durch den Senat zu Gute gekommen ist, erfährt der Urteilsverfasser aus in Revisionsentscheidungen gelegentlich anzutreffenden Formulierungen wie „aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich gerade noch, dass …“. Etwas überspitzt wird gelegentlich von einem „Heilen“ bzw. „Gesundbeten“ des Urteils durch das Revisionsgericht gesprochen. Wie aber verdient man sich eine solch wohlwollende Gesamtbetrachtung? Der normale Leser legt ein schlecht geschriebenes, schwer verständliches Buch alsbald zur Seite und wendet sich einem anderen zu. Diese Freiheit hat ein Revisionsrichter nicht; er muss ein angefochtenes Urteil aufmerksam von Anfang bis Ende lesen, sei es auch noch so langatmig, unstrukturiert und sprachlich misslungen. Das erregt zwangsläufig den Unmut des Lesers und findet gelegentlich Niederschlag in entsprechenden Anmerkungen im Senatsheft, die nicht unbedingt auf Wohlwollen schließen lassen.69 Dabei würde es - was leider alles andere als selbstverständlich ist - genügen, einige Grundregeln zu beherzigen. So müssen sich Stil und Sprache eines Urteils an dessen Funktion orientieren: Sachlich, präzise und allgemein verständlich.70 Ein gelungenes Urteil zeichnet sich durch einen guten Stil aus. Der Richter soll nicht nur richtiges Recht sprechen, sondern auch das Recht richtig sprechen.71 Dabei ist die Sprache das Werkzeug des Juristen, das es zu pflegen und zu verbessern gilt. Die Sucht, sich möglichst kompliziert auszudrücken nach dem Motto: „Je höher die Stelzen, desto erhabener der Gang“ führt hingegen manchmal zum gegenteiligen Ergebnis.72 Deshalb ist wichtigstes Erfordernis des Stils die Klarheit. Klar schreiben kann freilich nur, wer auch klar denkt; hingegen verbirgt sich hinter einer weitschweifigen, verwickelten Darstellungsweise meist auch ein unklares Denken. Ein 69

Vgl. oben I. Winkler aaO S. 246. 71 Jasper MDR 1986, 198, 200. 72 Barfuß DRiZ 1987, 49, 53. 70

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zusammenhängender „Brei“ von der ersten bis zur letzten Seite der Urteilsgründe ohne Absätze und vernünftige Gliederung ist für jeden Leser eine Zumutung. Gleiches gilt, wenn bei einer Mehrzahl von Straftaten Fallziffern abweichend von der Anklage und zudem im Sachverhalt bei der Beweiswürdigung, der rechtlichen Würdigung und bei der Strafzumessung unterschiedlich verwendet werden.73 Da der Richter mit Erlass eines Urteils ein Hoheitsrecht des Staates ausübt, hat er nicht die Freiheit, die sonst jedem Schriftsteller zuzubilligen ist. Seine Ausdrucksweise soll schlicht und würdig, keinesfalls aber lustig, ironisch oder gar sarkastisch sein.74 Urteile in Gedichtsform, humoristisch75 oder in Form eines Kriminalromans76 abzufassen, mag zwar lustig scheinen, wird aber der Tragik der abgeurteilten Verbrechen nicht gerecht, wirkt auf Opfer bzw. deren Hinterbliebene zumindest befremdlich und ist unvereinbar mit der Würde des Gerichts. Das Urteil darf keine Sprachfehler enthalten. Gutes und richtiges Deutsch sollte selbstverständlich sein. Nachlässigkeiten in diesem Punkt könnten beim Leser den Verdacht aufkommen lassen, auch die inhaltliche, vornehmlich die rechtliche Qualität, sei in gleicher Weise zweifelhaft.77

V. Resümee Ein Urteil, das verständlich geschrieben nicht zu lang und nicht zu kurz ist, alles Wesentliche - und nur das - enthält, den Leser von der Richtigkeit seiner Feststellungen durch eine prägnante Beweiswürdigung überzeugt, seine rechtliche Bewertung fehlerfrei darlegt und für die verhängten Rechtsfolgen uneingeschränkte Zustimmung erntet, ist durchaus ein kleines, in der Praxis gelegentlich anzutreffendes Kunstwerk. Ebenso wenig wie jedes Buch das Zeug zum Bestseller hat, kann aber auch nicht jedes Urteil ein Kunstwerk sein. Das muss es auch nicht, um Erfolg zu haben, das heißt in diesem Fall die Rechtsprüfung durch das Revisionsgericht zu bestehen. Es sollte jedoch handwerklich gut gemacht sein, um sich - z. B. wenn es um die Auslegung der Urteilsgründe geht - das Wohlwollen des Revisionsgerichts zu sichern bzw. wenigstens dessen Unmut nicht zuzuziehen. Eine angemessene Sorgfalt in die Abfassung der Urteilsgründe zu investieren spart einem weiteren Tatrichter unter Umständen eine erneute langwierige 73

BGH wistra 2010, 67; BGH Urt. v. 13. Januar 2010 – 1 StR 247/09. BGH NStZ-RR 2000, 293 [K]. 75 So z. B. LG Köln NJW 1987, 1421 oder AG Rheine NJW 1995, 894. 76 BGH NStZ-RR 1999, 261 [K] betreffend ein Urteil des LG Bochum; BGH NStZ-RR 2009, 103, 104. 77 So auch Winkler aaO S. 246. 74

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Hauptverhandlung, wiederum verbunden mit dem Abfassen eines Urteils; dem Revisionsrichter erleichtert es die Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils und bringt ihn nicht in die Bedrängnis, ein möglicherweise „richtiges“ Urteil nur deshalb aufheben zu müssen, weil es „falsch“ geschrieben ist.

Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB CLEMENS BASDORF UNTER MITARBEIT VON URSULA SCHNEIDER UND PETER KÖNIG

A. Einleitung In einem Antwortbeschluss nach § 132 GVG unter dem Vorsitz der Jubilarin zur Problematik der Fassung und Verlesung des Anklagesatzes in Wirtschafts-Serienstrafverfahren hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unlängst eine Art „dialektischer“ Begründungsstruktur gewählt. Unter Hinweis darauf, dass die Erörterung im Senat kein einheitliches Meinungsbild ergeben habe, wurden die divergierenden Standpunkte dargestellt.1 Was bei üblichen Beschlüssen nicht möglich wäre, erscheint beim Ringen um schwierige Rechtsfragen im „Dunstkreis“ des Großen Senats für Strafsachen durchaus nicht unangemessen. Diese originelle Fassung verhalf dem Erstverfasser, der über viele Jahre hinweg das Vergnügen hatte, mit der Jubilarin im Großen Senat um Rechtsfragen zu ringen, zu der Idee, in der Festschrift zu ihren Ehren einen teilweise ähnlich strukturierten Beitrag vorzulegen. Der Zufall wollte es, dass etwa zur selben Zeit eine Rechtsfrage im Zusammenhang mit § 64 StGB im 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter Vorsitz des Erstverfassers ähnlich kontrovers diskutiert wurde. In der abschließenden Senatsentscheidung fand dieser im Senat letztlich nicht geklärte Streit zwar fast keinen Widerhall.2 Er lässt sich indes im Rahmen dieses Beitrags in der Wiedergabe der gegensätzlichen Standpunkte der betroffenen „Meinungsführer“ im Senat festhalten. Dies gibt auch den beiden Kollegen die Gelegenheit, sich gemeinsam mit dem Erstverfasser und im Namen des gesamten 5. Strafsenats von der verdienten Kollegin Frau Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan zu verabschieden.

1 2

BGH wistra 2010, 66. BGH, Beschl.v.13.1.10 – 5 StR 493/09.

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B. Probleme mit § 64 StGB Die Maßregel der Unterbringung eines Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB findet in der alltäglichen Praxis der Strafsenate des Bundesgerichtshofs eine, gemessen an der Bedeutung der Norm, wohl überproportionale ausdrückliche Erörterung in begründeten Entscheidungen. Davon sind der 2. und der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nicht ausgenommen. Eine private Statistik des Erstverfassers weist für die letzten drei Jahre im 2. Strafsenat 33 Aufhebungen wegen rechtsfehlerhaften Umgangs mit § 64 StGB auf, im 5. Strafsenat 27 Aufhebungen. Dies ist bezogen auf die Gesamtzahl der Urteilsaufhebungen der Senate ein Anteil von 11,5 Prozent im 2. und von 7,5 Prozent im 5. Strafsenat. Die Ursache für die signifikant häufige Befassung mit § 64 StGB dürfte zum einen an einer – bewusst überzeichnet so hart benannten – Ignoranz nicht ganz weniger Tatgerichte gegenüber der Existenz dieser Maßregel liegen; solche Haltung bleibt gegen stetige Unkenrufe des Bundesgerichtshofs fast unglaublich resistent. Manchmal kommt vielleicht das Bestreben hinzu, den Zeitaufwand und die Kosten für die nach § 246a Satz 2 StPO vorgeschriebene Zuziehung eines Sachverständigen zu ersparen. Als weitere Ursache wirkt sich wohl eine Abwehrhaltung mancher psychiatrischer Sachverständiger aus; gelegentlich drängt sich dem Revisionsrichter die Vermutung auf, dass insbesondere dem Maßregelvollzug verbundene Sachverständige – übrigens aus durchaus nachvollziehbaren, nicht etwa unredlichen Motiven – möglichst viele Problempatienten von der Einweisung „wegbegutachten“ wollen. Schließlich nimmt die Ausnahmevorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO dem Revisionsgericht bei der Maßregel nach § 64 StGB (nicht anders als bei § 63 StGB, wo dies freilich eine viel geringere Rolle spielt) die Rücksicht auf die Beschwer des revisionsführenden Angeklagten. Die durch das „Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt“3 vorgenommene Neufassung des § 64 StGB wollte mit seiner Umgestaltung zu einer Sollvorschrift den Tatgerichten bei der Anordnung der Maßregel eine größere Flexibilität geben.4 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Bundesgerichtshof die daraus auch ihm mittelbar erwachsenen Chancen noch nicht genutzt hat.

3 4

Vom 16. Juli 2007, BGBl I 1327. Vgl. nur Fischer StGB 57. Aufl. § 64 Rdn. 22 f.; Schneider NStZ 2008, 68.

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I. Berücksichtigung von Ressourcenknappheit Wie im Zusammenhang mit der Einstellung mancher eingeschalteter Psychiater bereits etwas überzeichnet angedeutet, wird in der Praxis des Maßregelvollzugs angestrebt, die in Zeiten allseitiger öffentlicher Sparzwänge kaum aufstockbaren knappen Kapazitäten der vorhandenen Entziehungsanstalten nicht mit der Einweisung von Problempatienten allzu sehr zu belasten, die den Vollzugsalltag erschweren und hemmen. Der Grundsatz, dass die Maßregelanordnung nicht davon abhängen darf, welche Kapazitäten – etwa gar im räumlichen Bereich des entscheidenden Landgerichts – für den Maßregelvollzug tatsächlich zur Verfügung stehen,5 muss auch nach der Neufassung des Gesetzes unverändert gelten. Unangemessen begrenzte tatsächliche Kapazitäten stellen die nach § 64 Satz 2 StGB erforderliche hinreichend konkrete Behandlungsaussicht6 ebenso wenig in Frage, wie sie bei der Ermessensentscheidung eine Rolle spielen können. Die Zuweisung öffentlicher Mittel darf die Realisierung bestehender Gesetze nicht partiell in Frage stellen; vielmehr ist der Haushaltsgesetzgeber gehalten, die notwendigen Mittel für die Realisierung einer gesetzlichen Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Es versteht sich freilich vor dem Hintergrund der tatsächlich knappen Ressourcen im Maßregelvollzug in Zeiten knapper Kassen von selbst, dass Einweisungen gleichsam „nach Herzenslust“ oder eher „auf Probe“ mit überaus naivem Optimismus als Grundlage für die hinreichend konkrete Behandlungsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB oder in allzu weitgehender Auslegung der Voraussetzungen für Hang, symptomatischen Zusammenhang und Gefährlichkeit im Sinne des § 64 Satz 1 StGB unbedingt zu vermeiden sind. Eine derartige Tendenz der Rechtsprechung der Landgerichte wie des Bundesgerichtshofs ist indes nicht ersichtlich.7

II. Alternative § 35 BtMG Unverändert beharrt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf dem Standpunkt, dass die Möglichkeit einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG gegenüber der Maßregelanordnung nach § 64 StGB nachrangig sei.8 Mag die Auslegung, eine besonders aussichtsreiche Rehabilitationsbehandlung im Sinne des § 35 BtMG beseitige nicht etwa die hinreichend konkrete Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB, spreche vielmehr gar für eine solche, gut vertretbar, beinahe zwingend sein, so 5

Vgl. Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 24. Orientierung der Neufassung an BVerfGE 91,1. 7 S. aber zur Absprachenproblematik den Beitrag König a. E. 8 Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 26 m.Rspr.-Nachw. 6

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hätte sich in diesem Bereich doch mit der Eröffnung eines Ermessensspielraums für die Tatgerichte eine veränderte Einstellung der Revisionsgerichte angeboten. In Fällen, in denen die zeitlichen Gegebenheiten für eine Zurückstellung nach § 35 BtMG in absehbarer Zeit erfüllt sind und eine – gar höhere – Motivation des Angeklagten für die entsprechende Rehabilitationsbehandlung sowie eine tatsächliche Realisierbarkeit vorliegt, sollte diese als bessere Alternative gegenüber der Maßregel nach § 64 StGB Anerkennung finden.9

III. Sprachunkundigkeit Nach dem Eindruck, den die Verfasser aus beim 5. Strafsenat anhängigen Verfahren gewonnen haben – der Verurteiltenstatistik sind insoweit keine Angaben zu entnehmen – zählen Ausländer zu einem nicht geringen Prozentsatz zu den Verurteilten wegen Symptomtaten nach § 64 StGB. Sind sie der deutschen Sprache nicht mächtig, stellt sich die Frage, ob dies gar bereits die erforderliche hinreichend konkrete Behandlungsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB berührt, jedenfalls aber die Frage, ob der neue tatgerichtliche Ermessensspielraum nach § 64 Satz 1 StGB dem Tatgericht die Möglichkeit gibt, wegen der Sprachunkundigkeit des sonst grundsätzlich einzuweisenden Angeklagten von der Maßregel abzusehen. An diesem Problem entzündete sich die eingangs geschilderte Kontroverse im 5. Strafsenat. Hierzu werden folgende Standpunkte vertreten:

1. Pro Einweisung (Schneider): Ausländer und deutsche Staatsangehörige ausländischer Herkunft stellen im Maßregelvollzug gegenwärtig eine – in der Praxis oftmals als schwierig empfundene – Realität dar. Erhebungen in den forensischen Kliniken Bayerns10 und Baden-Württembergs11 ergaben, dass ihr Anteil im Maßregelvollzug deutlich höher ist als in der Bevölkerung (und in der Allgemeinpsychiatrie), allerdings deutlich niedriger als im Strafvollzug. Bereits letzteres weist auf „Ausleseprozesse“ hin. Im Bereich der Prüfung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt dürfte dabei bereits vor der Neufassung des § 64 StGB die Verneinung der Therapiefähigkeit wegen fehlender Deutsch-

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Vgl. Schöch in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB 2009 § 64 Rdn. 43. 2004 betrug der Ausländeranteil dort 15 %: Hausner u.a. Krankenhauspsychiatrie 2006, 68, 69. Nach Auskunft des Krankenhauses für Maßregelvollzug in Berlin liegt der Anteil der Ausländer und der deutschen Staatsangehörigen ausländischer Herkunft dort derzeit bei rund 30 %. 11 Vgl. Hoffmann RuP 2009, 67, 71; vgl. auch Heinhold RuP 2006, 187, 188. 10

Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB

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kenntnisse – auch entgegen den in BGHSt 36, 199 entwickelten Grundsätzen – eine gewisse Rolle gespielt haben. In den rechtspolitischen Diskussionen, die vorausgingen12, spielte die problematisierte Gruppe der durchreisenden ausländischen Drogenkuriere, die aufgrund bestehender eigener Drogensucht nach § 64 StGB untergebracht wurden, eine nicht unerhebliche Rolle. Sie wurden – auch aus Sicht der Zweitverfasserin zu Recht – als besonderes Problem für den Maßregelvollzug begriffen, soweit sie weder über einen Aufenthaltstitel in Deutschland noch über deutsche Sprachkenntnisse verfügten. Bereits vor der Gesetzesänderung bot hier § 456a StPO die grundsätzliche Möglichkeit, von der Vollstreckung der Maßregel abzusehen, allerdings nur in Verbindung mit einem Absehen von der Vollstreckung der parallel verhängten Freiheitsstrafe. Zur Lösung der Problematik sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung13 die Möglichkeit einer Änderung der Vollstreckungsreihenfolge für ausreisepflichtige Ausländer vor, um Gelegenheit für eine tatsächliche Beendigung des Aufenthalts noch während des Vollzugs der Freiheitsstrafe zu schaffen. Demgegenüber wollte der Gesetzentwurf des Bundesrates14 diese und weitere Straftätergruppen, bei denen „zwar eine Erfolgsaussicht gerade noch bejaht werden kann, die Ausgangsbedingungen aber sehr ungünstig sind“, über die Umgestaltung des § 64 StGB zu einer Sollvorschrift von der Anordnung der Maßregel ausnehmen. Gesetz geworden sind aufgrund eines Kompromisses letztlich beide Vorschläge (vgl. §§ 64, 67 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 2 und 3 StGB).15 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass der Rechtsausschuss des Bundestages auch zur Klärung des Anwendungsbereichs beider Ausnahmeregelungen in seiner Beschlussempfehlung – unter Verweis auf BGHSt. 36, 199, 201– betonte, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers alleine nicht Grund sein könne, auf seine Unterbringung zu verzichten.16 Auch nach der Überzeugung der Zweitverfasserin ist es grundsätzlich Aufgabe der für den Vollzug der Maßregel zuständigen Behörden, für behandlungs- und besserungsfähige ausländische Täter hinreichend geeignete, ihren besonderen persönlichen Verhältnissen individuell gerecht werdende Vollstreckungsmöglichkeiten bereitzustellen.17 Dies gilt für die unter den fremdsprachigen Straftätern wohl größte Gruppe der Migranten, die aus 12 Der Zweitverfasserin sind diese aus ihrer damaligen Tätigkeit als Leiterin des Referates „StGB-Allgemeiner Teil“ im Bundesjustizministerium bestens bekannt. 13 BTDrucks. 16/1110 S. 14 f. 14 BTDrucks. 16/1344 S. 12. 15 Derjenige der Bundesregierung allerdings in einer aufgrund der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses abgewandelten, engeren Fassung, BTDrucks. 16/5137 S. 10. 16 BTDrucks. 16/5137 S. 24. 17 Vgl. BGHSt. 36, 199, 201.

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dem Ausland stammend ihren Lebensmittelpunkt in die Bundesrepublik Deutschland verlegt haben.18 Bei ihnen muss sich der Maßregelvollzug schon unter Sicherheitsgesichtspunkten der Aufgabe stellen, ungeachtet ihrer Sprachkenntnisse geeignete Behandlungsformen zu finden. Es hat aber auch für die Gruppe der EU-Ausländer zu gelten, die in großem Umfang Freizügigkeit genießen und die durch Art. 12 EGV vor Diskriminierung besonders geschützt sind.19 Nur wenn dem unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen, weil z.B. die verurteilte Person ausschließlich20 eine in Deutschland sehr selten vertretene Fremdsprache spricht und auch nicht erwartet werden kann, dass sie im Vollzug ausreichend Deutsch lernen wird, um an einer Therapie mitwirken zu können, sollte von ihrer Unterbringung abgesehen werden. Im Zuge der Europäisierung, ja Globalisierung, die Deutschland zu einem Einwanderungsland hat werden lassen,21 können sich auch Justiz und Maßregelvollzug nicht auf eine „Tellerrandperspektive“ zurückziehen. Dabei soll keineswegs verkannt werden, dass sprachunkundige Ausländer und Spätaussiedler eine erhebliche Herausforderung für den Maßregelvollzug darstellen; die Probleme, die mit ihrer Unterbringung und Behandlung verbunden sind, gehen über Sprachprobleme noch hinaus.22 Indes gehört ihre Integration in das psychiatrische Versorgungssystem angesichts der gesellschaftlichen und rechtlichen Realitäten zu den Aufgaben, denen sich die forensische Psychiatrie – ebenso wie die allgemeine Psychiatrie – zu stellen hat. Auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) wurden 2002 die sog. „Sonnenberger Leitlinien“ erarbeitet, die Grundaussagen für ein Konzept zur Bewältigung des Problems einer umfassenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten enthalten. Dort werden unter anderem die Bildung multikultureller Behandlerteams unter bevorzugter Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz und der Einsatz psychologisch geschulter Fachdolmetscher gefordert. In der Praxis wird es dabei nicht darum gehen, eine unübersehbare Vielzahl von Sprachen „vorzuhalten“. Das Zuwanderungsgeschehen ist zwar nach Herkunftsländern breit gefächert, konzentriert sich jedoch 18 Vgl. die Definition im im Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 2008. 19 Darauf weist auch Heinhold aaO (Fn. 11) S. 191 f. in seiner Kritik an den Vorschlägen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (!) hin. 20 In einigen Fällen mangelnder deutscher Sprachkenntnisse des Untergebrachten wird eine Kommunikation in Englisch oder einer anderen „gängigen“ Fremdsprache möglich sein. 21 Von 1991 bis 2008 wurden etwa 16,5 Mio. Zuzüge vom Ausland nach Deutschland registriert, vgl. Migrationsbericht aaO (Fn. 18) S. 17. 22 Hoffmann aaO (Fn. 11) S. 72.

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stark auf einzelne dieser Länder.23 Dabei sammeln sich bestimmte Zuwanderergruppen in bestimmten Regionen Deutschlands. Ähnlich ist die Situation im Maßregelvollzug.24 Es muss deshalb erwartet werden können, dass sich der Maßregelvollzug zumindest auf die Hauptzuwanderergruppen einstellt. In einzelnen Städten gibt es bereits spezialisierte Dolmetscherdienste, die fachlich kompetente Personen für den Einsatz in sozialen und gesundheitlichen Einrichtungen schulen und vermitteln;25 in vielen Maßregelvollzugskliniken werden fremdsprachige Therapeuten und Pflegekräfte beschäftigt und in manchen Kliniken wird deutscher Sprachunterricht angeboten.26 Es ist zu befürchten, dass all diese in der Vergangenheit und Gegenwart bereits unternommenen Bemühungen unter dem bestehenden Kostendruck zurückgefahren würden, wenn sich eine gerichtliche Spruchpraxis entwickeln sollte, die bei sprachunkundigen Ausländern großzügig von ihrer Unterbringung nach § 64 StGB absieht.

2. Contra Einweisung (König): Ein erstaunliches Stück deutscher Kriminalpolitik: Die auch mit dem Anspruch einer Entlastung angetretene Maßregelrechtsreform 2007 ersetzt einen Anordnungszwang durch eine (gebundene) Ermessensregel und es ändert sich – der Erstverfasser legt es dar – wenig bis gar nichts. Dafür verantwortlich dürfte vorrangig die Beschlussempfehlung des BundestagsRechtsausschusses sein. Danach bleibt es (trotz des Wörtchens „soll“ im Gesetzestext) dabei, dass der Tatrichter bei Vorliegen der Voraussetzungen anordnen „müsse“; lediglich „in besonderen Ausnahmekonstellationen“ sei dies anders.27 Nach formaler Erwähnung der auf Lockerung abzielenden Intentionen des Bundesratsentwurfs folgen speziell auf die Fallgruppe der Sprachunkundigen bezogene Erwägungen, die das mit der Änderung ver23 So stammte 2008 ein Fünftel aller Zuwanderer aus Polen, vgl. Migrationsbericht aaO (Fn. 18) S. 19 ff., unter der ausländischen Bevölkerung in Deutschland stellten türkische Staatsangehörige mit einem Viertel den größten Anteil, Migrationsbericht S. 200 ff.; von den türkischen Männern wird man aber in der Regel ausreichende Sprachkenntnisse erwarten können. 24 Vgl. Hoffmann aaO (Fn. 11) S. 71 f. für Baden-Würrtemberg. 25 Vgl. Machleidt Ausgangslage und Leitlinien transkultureller Psychiatrie in Deutschland, im Internet veröffentlicht: http://www.psychiatrie.de/data/downloads/3b/00/00/Beitrag_Mach leidt.pdf. 26 Hoffmann aaO (Fn. 11) S. 72 f. Nach Auskunft des Berliner Krankenhauses für Maßregelvollzug arbeitet dort ein ärztlicher Therapeut, der – neben deutsch – arabisch, französisch und polnisch spricht. Darüber hinaus werden Sprachmittler aus dem Pflegepersonal eingesetzt sowie ein Deutschkurs für Ausländer angeboten. 27 BTDrucks. 16/5137 S. 10.

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folgte Konzept dann endgültig aushebeln. Unter Bezugnahme auf BGHSt 36, 199 (zur alten Rechtslage!)28 und eine vorgebliche Verpflichtung der Behörden, ausländischen Tätern „hinreichend geeignete, ihren besonderen persönlichen Verhältnissen individuell gerecht werdende Vollstreckungsmöglichkeiten bereitzustellen“, wird die Nichtanordnung der Maßregel an „unüberwindliche Schwierigkeiten“ gekoppelt, denen auch nicht mit Deutschkursen im Maßregel- oder Strafvollzug begegnet werden könne.29 Bei einer solchen Interpretation ist die Sollvorschrift in der Tat überflüssig, weil es beim verbleibenden „Rest“ eindeutig schon an der Erfolgsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB fehlt.30 Die Frage ist nur, ob es eine den genannten Worten allzu sehr verhaftete Rechtsprechung mit der – ohnehin umstrittenen31 – subjektiv-historischen Auslegungsmethode nicht zu weit treiben würde. Nimmt man nämlich den Gesetzeswortlaut mit der Beschlussempfehlung zusammen, so wird man keine Schnittmenge finden. Das Ergebnis ist deswegen nicht „folgerichtig“, sondern perplex. Es wird eine Sollvorschrift kreiert, für die es keinen Anwendungsbereich gibt. Die Änderung entbehrt jeglichen Sinns, und dies, obwohl eine an Wortlaut und Wortsinn sowie den mit ihr erstrebten Zielen ausgerichtete Interpretation durchaus sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten ergibt.32 Am Ende steht das Konstrukt einer Sollregelung die „keine Ermessensvorschrift i. e. S.“33 ist – aber was ist sie dann, eine solche im weiteren Sinn, eine verkappte Mussvorschrift, ein gesetzgeberisches Tollstück? Das kann nicht das Ergebnis sachgerechter Auslegung sein. Aber zurück zur Erfolgsaussicht, die nunmehr auch nach dem Gesetz eine „hinreichend konkrete“ sein muss. Sie entspringt einer Prognose und deckt eine Bandbreite mehr oder weniger aussichtsreicher Fälle ab. Der Bundesgerichtshof ist - wie schon vor der Reform - „anordnungsfreundlich“. Zugespitzt ausgedrückt genügt ein „Fünkchen konkreter Aussicht“, und zwar auch in Bezug auf das Erwecken eines zunächst nicht vorhandenen Therapiewillens.34 Klar ist, dass der Aufwand mit den Ausgangsbedingungen korreliert: Je ungünstiger sie sind, desto mehr Ressourcen werden gebunden. Sie sind vergeudet, wenn es dann doch schiefgeht. Und ebenso klar ist, 28 S. dazu ergänzend unten. Schon nach alter Rechtslage anders BGH NStZ 2001, 418 (5. Strafsenat). 29 BTDrucks. 16/5137 S. 10. 30 So die – freilich generelle – Gesetzeskritik bei Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 23. 31 Vgl. Eser in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 1 Rdn. 41. 32 Sie finden sich – nicht abschließend – im Bundesratsentwurf BTDrucks. 16/1344 S. 12 f. Ergänzend wird auf die Ausführungen des Erstverfassers verwiesen. 33 So Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 23; verständnisvoller Schöch in LK 12. Aufl. § 64 Rdn. 156 ff. 34 Nachweise bei Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 20.

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dass sich Schwierigkeiten und Aufwand nochmals beträchtlich erhöhen, wenn der Therapeut mit dem Probanden radebrechend und/oder per Dolmetscher kommunizieren muss.35 Meine geschätzte Kontrahentin pflegt dem mit dem Hinweis zu begegnen, dass Derartiges im Maßregelvollzug Alltag sei. Indessen war es gerade das Ziel der Reform, den Maßregelvollzug von Fällen mit solch ungünstigen Ausgangsbedingungen zu entlasten. Der Tatrichter soll bei derartigen Gegebenheiten von der Anordnung auch dann absehen dürfen, wenn nach einer Gesamtwürdigung das angesprochene „Fünkchen“ Erfolgsaussicht vielleicht noch gegeben ist und nicht Sachgründe nach Durchführung der Therapie drängen.36 Was in diesem Kontext Art. 12 EGV anbelangt: Es leuchtet nicht ein, wie die Nichtanordnung einer den Angeklagten beschwerenden Maßregel37 gegen das Diskriminierungsverbot von EU-Ausländern verstoßen könnte. Die zuvor geäußerte Kritik an einer zu starken Fokussierung der Rechtsprechung auf die Gesetzesmaterialien muss für die Fallgruppe der Verständigungsprobleme sogleich relativiert werden. Die Entscheidungen seit der Reform scheinen den Verlautbarungen in der Beschlussempfehlung zumindest nicht uneingeschränkt zu folgen. So hat der 1. Strafsenat seinen in BGHSt 36, 19938 eingenommenen Standpunkt nicht aufrecht erhalten, wonach mangelhafte oder fehlende Sprachkenntnisse bei der Unterbringungsanordnung außer Betracht zu bleiben haben.39 Auch der 3. Strafsenat verweist den Tatrichter auf die Möglichkeit der Nichtanordnung.40 Der 5. Strafsenat sieht von einer Aufhebung wegen unterbliebener Erörterung des § 64 StGB auch deswegen ab, weil der Angeklagte ausreisepflichtig und eine erfolgversprechende Therapie aufgrund unzulänglicher Kommunikationsgrundlage kaum vorstellbar sei.41 Es wäre erfreulich, wenn diese Judikate als Anzeichen für eine Stärkung des tatrichterlichen Ermessensspielraums 35 Wer das Anforderungsprofil an einen für die Ausübung „transkultureller Psychiatrie“ geeigneten Dolmetscher erfahren möchte, dem sei die Lektüre der nicht spezifisch für den Maßregelvollzug geschriebenen Ausführungen von Machleidt (Fn. 25) empfohlen. 36 Etwa bei einem im Inland verwurzelten Angeklagten, der es gleichwohl nicht zu hinreichenden Sprachkenntnissen gebracht hat und dem nicht etwa wegen der abgeurteilten Straftat die Ausweisung droht. 37 BVerfGE 91, 1, 28 ff.; s. dazu, dass die Maßregel kein „Mittel der Suchtfürsorge“ bzw. der „Gesundheitsfürsorge“ ist, BGHSt 28, 327, 332. Ein von der Zweitverfasserin in der Sache propagierter Anspruch auf bestmögliche Therapie, ausgelöst durch die Begehung von Straftaten, ist mit dem Charakter der strafrechtlichen Maßregel nicht vereinbar. 38 Und NStZ-RR 2002, 7. 39 StV 2008, 138; wobei der 1. Strafsenat den Bundesratsentwurf in Bezug nimmt (was den Drittverfasser, damals noch Gesetzgebungsreferatsleiter im bayerischen Justizministerium, gefreut hat). 40 NStZ-RR 2009, 170. 41 BGHR StGB § 64 Nichtanordnung 2.

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im Rahmen des § 64 Satz 1 StGB auch für andere Konstellationen genommen werden könnten. Noch ein Wort zum Ressourcenproblem. Der Maßregelvollzug kostet bekanntlich viel Geld. Beispielsweise in Bayern liegt sein Anteil am gesamten Sozialhaushalt bei nahezu unglaublichen rund 10%.42 Es handelt sich um Geld, das die Sozialministerien lieber für andere Zwecke ausgeben würden. Vor diesem Hintergrund unternommene Vorstöße der Sozial- bzw. Gesundheitsressorts, die Maßregel des § 64 StGB unter Hinweis auf den viel billigeren Strafvollzug abzuschaffen oder stark einzuschränken, konnten im Zuge der Maßregelreform abgewehrt werden. Niemand vermag aber zu prognostizieren, was mit ihr bei immer weiter überlaufenden Anstalten in Zeiten geschieht, in denen die öffentlichen Haushalte durch Banken- und Eurokrise in bislang unbekanntem Ausmaß durchgeschüttelt werden und man nach Einsparungen sucht, um Kürzungen z.B. bei den Titeln Jugend, Familie, Frauen, Alte oder auch Arbeit zu vermeiden. Es wäre zu erwarten, dass der Hinweis auf eine nach Auffassung des Bundes bestehende Verpflichtung der Länder, zumindest für die wichtigsten 20, 30 oder 40 Sprachen sprachkompetente Therapeutenteams bzw. psychologisch geschulte Dolmetscher zur Verfügung zu stellen, das Seine tun würde. Auch das sollte man nicht aus den Augen verlieren. Abschließend noch ein Gegenpol: Nicht alle Gerichte stehen dem § 64 StGB zurückhaltend gegenüber. Man hört immer wieder, dass die Maßregel einschließlich der Bemessung der Therapiedauer mit Blick auf eine Halbstrafenaussetzung nach Vorwegvollzug eines Strafteils bei manchem Gericht beliebter Gegenstand von Verfahrensabsprachen ist, die der Bundesgerichtshof wegen sofortigen Eintritts der Rechtskraft nicht zu sehen bekommt. Gegebenenfalls: ein (Justiz-)Skandal.

IV. Weitere Ausländerprobleme Für das Problemfeld einzuweisender ausländischer Verurteilter bietet die Vorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB für Fälle, in denen eine Abschiebung konkret zu erwarten ist, eine Regelung, die den Vorwegvollzug der Strafe, auf welche unmittelbar die Ausreise folgen soll, vorsieht. Eine Ausschlusswirkung in dem Sinn, dass bei einer Ausreisepflicht von der Sollregelung nach § 64 Satz 1 StGB kein Gebrauch gemacht werden darf, kann man der Vorschrift nicht beimessen. Gerade auch die Fälle der Ausreisepflicht hatte der Bundesrat für die Sollregelung im Auge.43 Die Beschlussempfehlung verweist in diesem Zusammenhang auf Sicherheitsaspekte im 42 43

In Zahlen: Für das Jahr 2010 nach Haushaltsansatz 234 Mio. € von knapp 2,5 Mrd. €. BTDrucks. 16/1344 S. 12.

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Zusammenhang mit dem Teilvorwegvollzug, die ihrer Ansicht nach für die Anwendung des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB statt der Nichtanordnung sprechen können.44 Das zwingt aber nicht zu dem Umkehrschluss, dass in Fällen, in denen die konkreten Voraussetzungen dieser Norm noch nicht erfüllt sind, gleichwohl mit einem weiteren Aufenthalt des Verurteilten in Deutschland nach Straf- und Maßregelvollzug nicht zu rechnen ist, die Maßregelanordnung zwingend ist. Sollte nicht jenseits der Spezialvorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB von der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB auch nach Ermessen abgesehen werden können, wenn die Suchtbehandlung in Deutschland absehbar allenfalls ein (jedenfalls für einen nicht unbeträchtlichen Zeitpunkt) suchtfreies Leben anderswo bewirken wird? Insoweit wäre freilich vorzugswürdig eine rechtliche Internationalisierung, wie sie im Bereich des Strafens - auch mit der Berücksichtigung anderweitig verhängter ausländischer Strafen45 - insbesondere mit dem Bestreben der Überstellung zur Strafverbüßung im Heimatland46 im Vormarsch ist. Dies würde freilich ähnliche Maßregeln im Ausland und die Möglichkeit einer Überstellung in den dortigen Vollzug voraussetzen,47 an denen es derzeit leider vielfach fehlt.

V. Andere Extremfälle (lebenslang) Auch für den Extremfall der lebenslangen Freiheitsstrafe wird bislang keine Handhabe für ein Absehen von der Maßregel nach § 64 StGB gesehen.48 Es soll sogar, weil insoweit keine Sonderregelung für die vorzeitige Entlassung - vergleichbar § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB bei zeitiger Freiheitsstrafe - besteht, ein Teilvorwegvollzug der Strafe nur in Ausnahmefällen gebotener sachgerechter Vorbereitung des Verurteilten auf den Maßregelvollzug während des beginnenden Strafvollzugs in Betracht kommen. Soll es aber wirklich sinnvoll sein, mit einer Entziehungsbehandlung primär letztlich nichts anderes zu erreichen als einen suchtfreien Zustand im - ungeachtet der Idee von BVerfGE 45, 187 - dauerhaften Strafvollzug? Sind hierfür nicht strafvollzugsinterne Therapiemaßnahmen geboten und unbedingt vorzugswürdig? Auch hier könnte ein Anwendungsbereich für den tatgerichtlichen Beurteilungsspielraum des § 64 Satz 1 StGB gefunden werden, wenn man nicht sogar die erforderliche konkrete Behandlungsaussicht des § 64 Satz 2 StGB eingeschränkt auf das Ziel suchtfreien Lebens in Freiheit 44

BTDrucks. 16/5137 S. 10. Auf diesem Feld hat sich zwischen dem 2. und 5. Strafsenat jüngst ein Disput entzündet: Vgl. BGH StV 2010, 240 (2. Strafsenat) und 242 (5. Strafsenat). 46 Vgl. nur Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. vor § 449 Rdn. 7. 47 Vgl. dazu schon BGHSt 36, 199, 203 f. 48 Grundlegend BGHSt 37, 160; vgl. dazu jüngst Kreicker NStZ 2010, 239. 45

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interpretierte und damit bei Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe von einer Maßregel nach § 64 StGB stets abzusehen hätte.

VI. § 67 Abs. 2 StGB Die seit Juli 2007 geltende Fassung des Maßregelrechts hat in § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB zu einer praktisch hochvernünftigen Neuregelung über einen Teilvorwegvollzug für die Maßregel nach § 64 StGB bei mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe geführt. Die vom Bundesgerichtshof jüngst in vielen Entscheidungen konkretisierte Regelung schafft eine Grundlage für die Erwartung, dass eine sofortige Entlassung aus dem später angetretenen Maßregelvollzug in die Freiheit nach erfolgreicher Therapie, deren erforderliche Dauer vorab konkret zu bemessen ist, verwirklicht werden kann; dabei erfährt der Maßregelunterworfene gegenüber dem ohne gleichzeitige Maßregelanordnung Bestraften nach § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB eine Besserstellung, indem die Reststrafaussetzung bei ihm im Regelfall und nicht - wie sonst in § 57 Abs. 2 StGB vorgesehen - nur in Sonderfällen schon zum Halbstrafzeitpunkt erfolgt. Der Bundesgerichtshof hat hier, gestützt durch den Wortlaut des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB („ist so zu bestimmen“), jeder flexiblen Bemessung eine Absage erteilt.49 Dies erscheint für eine nicht ganz seltene Fallgestaltung nicht unproblematisch. Freilich wird nach erfolgreicher Suchttherapie die Gewährung von Reststrafaussetzung selbst Bewährungsversagern schwerlich zu verweigern sein. Indes finden sich unter den wegen Symptomtaten im Sinne des § 64 StGB Abgeurteilten oftmals auch solche Täter, die - bei Verurteilung bereits eindeutig absehbar - ohne Maßregelanordnung nicht die mindeste Chance auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB hätten. Das ist selbstverständlich noch nicht bei einmaligem Bewährungsversagen zu bescheinigen; es gilt aber fraglos, wenn massiv wiederholtes Bewährungsversagen, gar bei Reststrafaussetzung nach einer höheren Freiheitsstrafe, bei der es sich nicht um die erste Verurteilung gehandelt hat, vorliegt. Ist derartigen Tätern allein aufgrund des Erfolgs einer Suchttherapie ohne weiteres sofort eine Reststrafaussetzung nach der Hälfte der verhängten Strafe zu gewähren, während sie sonst keinerlei Chance auf eine Reststrafaussetzung hätten? Sie wären damit im Vergleich mit nicht zugleich gemaßregelten Verurteilten doppelt besser gestellt: Hätten jene überhaupt keine Chance auf Reststrafaussetzung, kämen diese selbst ohne Vorliegen eines Ausnahmefalles in den Genuss der Halbstrafaussetzung. Die Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern wird dies schwerlich anerkennen. Sie wird allenfalls dazu gelangen, dass die bisher hartnäckigen Bewährungsversager mit Rücksicht 49

Fischer aaO (Fn. 4) § 67 Rdn. 11 m.Rspr.-Nachw.

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auf die erfolgreiche Therapie die Chance einer Zweidrittelaussetzung erhalten, so wie entsprechende nicht gemaßregelte Verurteilte in besonderen Ausnahmefällen mit einer Reststrafaussetzung nicht nach zwei Dritteln der verbüßten Strafe, aber noch vor Vollverbüßung rechnen können.50 Sollte es nun aber mit Rücksicht auf das praktische Bestreben nach § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB nicht den Gerichten gestattet sein, in derartigen Fällen, in denen eine Halbstrafaussetzung absehbar nicht in Betracht kommt, die Berechnung des Vorwegvollzuges nach dem Zweidrittelzeitpunkt auszurichten? Eine Übertragung der Sollvorschriften in § 64 Satz 1 und § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB in die scheinbar starre Norm des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB erscheint nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung allemal vorzugswürdig. Das Dilemma notwendiger Prognose und nicht bindender Festlegbarkeit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Reststrafaussetzung kann kein Grund sein, die Regelung unbedingt starr auszulegen; auch die Entscheidung über die voraussichtliche Therapiedauer erfordert eine Prognose. Geboten wäre freilich, bei Abweichung von der Regel des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB die gesicherte Vorausschau mangelnder Chance auf Halbstrafaussetzung.

VII. Rechtsmittelbeschränkung Die in § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO normierte Ausnahme vom Schlechterstellungsverbot kann für Revidenten, die eine Maßregel nach § 64 StGB zu vermeiden suchen, Motiv sein, keine Revision durchzuführen. Ihnen kommt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit BGHSt 38, 362 in gewisser Weise entgegen, indem sie gestattet, die Nichtanordnung der Maßregel vom Revisionsangriff auszunehmen. Dies wirft in zweierlei Beziehung praktische Probleme auf. Innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs wird eine Aufspaltung des Revisionsangriffs auf Strafe und Maßregel häufig möglich sein. Will der Revisionsführer indes auch den Schuldspruch angreifen, erscheint eine Abspaltung eines Teils des - notwendig komplett sekundären - Rechtsfolgenausspruchs dogmatisch kaum gangbar. Der umgekehrte Weg, etwa eine angeordnete Maßregel bei gleichzeitiger Anfechtung des Schuldspruchs nicht anfechten zu wollen, ist ersichtlich ausgeschlossen.51 Sicher werden sich die Revisionsgerichte besonders zurückhalten, das Unterlassen 50 So für die Altfassung des § 67 Abs. 2 StGB BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug, teilweiser 15; BGH NStZ-RR 1998, 174; entsprechender Anlauf des 5. Strafsenats für die Neufassung: BGH StV 2008, 307; zustimmend SK-StGB/Sinn § 67 Rdn. 11b; im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nun abweichend BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug, teilweiser 17. 51 Vgl. BGH NStZ-RR 2004, 365; 2010, 171.

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einer Maßregel nach § 64 StGB zu beanstanden, wenn der revisionsführende Angeklagte sie ausdrücklich nicht wünscht. Ist ein Rechtsfehler in diesem Bereich indes nicht zu übersehen, muss der Revisionsführer, der auf gleichzeitige Anfechtung des Schuldspruchs bei Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregel vom Revisionsangriff anträgt, auf die Widersprüchlichkeit seines Begehrens hingewiesen werden. Erklärt er dann keine ausdrückliche Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch, so ist diese unwirksam, und die unterbliebene Maßregel muss beanstandet werden. Ein Diskurs mit dem Revisionsführer ist auch angezeigt, wenn die Prüfung der Revision ergibt, dass allein die Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB zu beanstanden wäre, ohne dass der Beschwerdeführer hierzu Ausführungen gemacht hat. Angesichts möglicher Rechtsmittelbeschränkung sollte dem Revisionsführer ein solches mögliches Ergebnis seines Rechtsmittels vor der abschließenden Entscheidung bekanntgegeben werden, damit er diesem absehbar unerwünschten Resultat durch Revisionsrücknahme oder Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch unter ausdrücklicher Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregelanordnung vom Revisionsangriff wirksam entgegentreten kann. Ein solches Vorgehen, das der 5. Strafsenat in ständiger Praxis pflegt, ist aus Fairnessgründen angezeigt52 und nicht etwa – da die Staatsanwaltschaft eben keine Revision eingelegt hat - eine Aushöhlung des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO, der keine Urteilsaufhebung gegen den Willen des Revisionsführers um jeden Preis im Maßregelbereich ermöglicht.

VIII. § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO Die „Begeisterung“ der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für § 64 StGB und die Legion der Entscheidungen aus den letzten 20 Jahren, in denen die Nichtanordnung dieser Maßregel beanstandet wird, lässt einer Idee unseres verstorbenen Senatskollegen Joachim Häger nicht mehr widmen als eine wehmütige Reminiszenz. Bei immer wieder aufkeimenden Einzelfalldiskussionen, ob Urteile wegen der Nichterörterung des § 64 StGB zu beanstanden seien, hat der Kollege Häger immer wieder darauf hingewiesen, dass das Gesetz den Tatgerichten Ausführungen zur Nichtanordnung einer Maßregel nur bei Stellung dahingehender Anträge vorschreibt, woraus er den Schluss ziehen wollte, dass in diesem Bereich Bean52 Vgl. BGH, Beschlüsse v. 19.8.09 – 5 StR 304/09; 9.11.09 – 5 StR 421/09; 13.1.10 – 5 StR 493/09; im Anschluss an Basdorf in Festschrift für Meyer-Goßner 2001 S. 665 weist der Senat praeter legem aufgrund des Fairnessgebots auch Nichtrevidenten auf die Möglichkeit hin, einer nicht gewünschten, nicht notwendig nur günstigen Revisionserstreckung nach § 357 StPO zu widersprechen: BGHR StPO § 357 Entscheidung 2.

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standungen nur auf eine ausdrücklich erhobene, auf Verletzung des § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO gestützte Verfahrensrüge unter Hinweis auf einen nicht in der gewünschten Richtung verbeschiedenen Antrag möglich seien. Die Rechtsprechung hat diesen Gedanken eindeutig überholt; sie verlangt verbindlich Ausführungen zur Maßregel nach § 64 StGB, wenn die Feststellungen auf das Vorliegen der Voraussetzungen hindeuten, und ordnet dies als sachlichrechtliche Verpflichtung ein.53 Außer der wehmütigen Reminiszenz sollte aber immerhin eine gewisse Richtschnur anerkannt bleiben, dass die nicht erörterte und auch von keinem Prozessbeteiligten thematisierte Maßregel des § 64 StGB nur bei Feststellung wirklich markanter Anhaltspunkte im Urteil für das Vorliegen ihrer Voraussetzungen Anlass zu Beanstandungen geben sollte.

C. Schluss Die aus dem Vorsitz des 2. Strafsenats ausscheidende Jubilarin wird sich in ihrem juristischen Alltag wohl allenfalls noch im Rahmen der Mitherausgabe des Leipziger Kommentars mit Problemen um die Maßregel des § 64 StGB befassen müssen. Ihr Eintritt in den Ruhestand gibt den Verfassern und allen Mitgliedern des 5. Strafsenats Anlass, Frau Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan für eine gute gemeinsame Zeit konstruktiver, fairer und spannender Zusammenarbeit beim Ringen um das Recht im Spagat zwischen Karlsruhe und Leipzig zu danken, der mit der Jubilarin stets mühelos zu bewältigen war. Wir wünschen der scheidenden Kollegin Freude und Erfüllung an ihrer fortwirkenden Lehrtätigkeit und ihrem schriftstellerischen Engagement, zudem an sicherlich ganz ungewohnten neuen Freiräumen nach einer Richterkarriere, die von beispielhaftem Pflichtbewusstsein geprägt war. Die Erinnerung hieran, zudem die Vorstellungen der Jubilarin vom Recht, wie sie sich in vielen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs niedergeschlagen haben, werden dessen Rechtsprechung auch künftig begleiten und beeinflussen.

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BGHR StGB § 64 Anordnung 1.

Ermessensamtsträger oder Ermessensbeamter – Überlegungen zu § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB KLAUS BERNSMANN

I. Der 2. Strafsenat des BGH, dem die verehrte Jubilarin seit dem Jahr 1989 angehört und dessen Vorsitzende sie seit 2002 ist, hat am 19. Dezember 1997 – ohne Mitwirkung der an dieser Stelle Geehrten – mit der sog. „GTZ“-Entscheidung1 eine anschließend außerordentlich lebhafte Rechtsprechung zu den Korruptionsdelikten der §§ 331 ff. StGB im Allgemeinen und - noch mehr - zum „Amtsträgerbegriff“ des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB im Besonderen in Gang gesetzt. Im Zuge der durch den „AT 1975“ eingeleiteten und sodann durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 20. August 1997 noch einmal angefeuerten Entwicklung wurde aus dem ursprünglich der Vorschrift des § 359 a. F. StGB entnommenen sog. „strafrechtlichen Beamtenbegriff“2 der schillernde, in seinen Konturen bzw. seiner Erstreckung wenig griffige Begriff des „Amtsträgers“ (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 a - c StGB). In BGHSt 43, 370 hat das Gericht zwar noch auf der Basis der Fassung des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB entschieden, die durch das EGStGB von 1974 als „AT 1975“ Gesetz geworden war, dabei aber entweder vorweggenommen, was der Gesetzgeber des KorrBekG für die Zukunft geregelt sehen wollte3 oder „lediglich klargestellt, was schon immer galt“ (BGHSt 43, 370, 377). In beiden Fällen hätte der 2. Senat allerdings die – iner effektiven Korruptionsbekämpfung angeblich entgegenstehende – Entscheidung des 5. Senats vom 30.1.19924 kaum zutreffend interpretiert. Doch das ist Geschichte und soll hier auf sich beruhen.5 1

BGHSt 43, 370. Vgl. etwa: RGSt 62, 24; 188; 67, 299; 75, 396; Holl, Der Begriff des Beamten im strafrechtlichen Sinn, 1908, S. 23; Schröder, Der strafrechtliche Beamtenbegriff in der Entwicklung der Rechtsprechung und der Entwürfe, 1965, S. 83 ff. 3 Vgl. BR-Drucks. 553/96 S. 25. 4 BGHSt 38, 199. 5 Dazu näher: Bernsmann, StV 2009, 308. 2

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Die eingangs zitierte „GTZ“-Entscheidung hat in jedem Fall die Aufmerksamkeit nachhaltig auf den in § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB geregelten „sonstigen Amtsträger“ gelenkt. Dabei handelt es sich um eine Person, die ohne „Beamter oder Richter“ zu sein (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 a StGB) bzw. in einem „sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis“ zu stehen, „sonst dazu bestellt“ ist, „bei einer Behörde oder einer sonstigen Stelle … Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen“. Dabei soll es – was Gegenstand der wie auch immer zu verstehenden „Klarstellung“ durch das KorrBekG war – auf die „zur Aufgabenerfüllung gewählte(n) Organisationsform“ nicht ankommen (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB). Die „GTZ“-Entscheidung und die eben zitierte, die Organisationsform betreffende Formulierung durch das KorrBekG haben in der Folgezeit dazu geführt, dass „Amtsträger“ – mit den entsprechenden besonderen strafrechtlichen Korruptions-Risiken der §§ 331 ff. StGB – nunmehr zwanglos auch in GmbHs bzw. AGs tätig sein können, soweit nur das jeweilige Unternehmen eine „sonstige Stelle“ und eine „Bestellung“ zur „Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ anzunehmen ist. Auch insoweit hat im Übrigen BGHSt 43, 370 die „Spur“ gelegt: Unter erheblicher Strapazierung des Wortlauts des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB soll es bei der „Bestellung“ nicht – wie vom Wortlaut nahegelegt – um einen öffentlich-rechtlichen Akt gehen, der sich direkt an die Person des potentiellen „Amtsträgers“ richtet, die etwaige „Bestellung“ des Unternehmens soll vielmehr deren Mitarbeiter gleich mit-bestellen.6 Nicht nur durch diesen unbefangenen, die Vorschrift des § 14 StGB nicht einmal erwähnenden Umgang mit der „Bestellung“ hat sich § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB für die Praxis zu einer Sphinx entwickelt: Sobald ein Träger öffentlicher Gewalt - meist eine Kommune - an einem privatrechtlich organisierten Unternehmen allein oder in Form einer Partnerschaft mit Privaten („Public-PrivatePartnership“/gemischt-wirtschaftliche Unternehmen) beteiligt ist, dessen Gegenstand auch öffentlich-rechtlich hätte organisiert werden können, sollte jeder Prognose mit Vorsicht begegnet werden, die sich darauf bezieht, ob die Annahme eines Vorteils durch einen Angestellten dieses Unternehmens nach Maßgabe der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen die §§ 331 ff. StGB oder – gemäß den dortigen engeren Voraussetzungen – „nur“ § 299 Abs. 1 StGB erfüllt. Auch darauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Das vom 2. Senat geschaffene Bild vom „gleichsam verlängerten Arm des Staates“, dessen Anschein ein behördengleiches und damit „Amtsträger“ beschäftigendes Unternehmen indizieren soll, hat sich in Rechtsprechung und Literatur trotz offensichtlich ausgelöster erheblicher Rechtsunsicherheit souverän gegen vereinzelt gebliebene Kritik durchge6

BGHSt 43, 370, 380; ausf. dazu: Rausch, Die Bestellung zum Amtsträger, 2007, S. 44 ff.

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setzt.7 Ob das auch mit der – von der kriminologischen Empirie allerdings wenig untermauerten medial aber umso mehr geschürten – Korruptionsphobie (bzw. -hysterie) in den letzten zwei Jahrzehnten zu tun hat, kann hier nicht weiter vertieft werden. Ein von dem 2. Senat so erfolgreich installiertes und fortentwickeltes „Produkt“ wie die Chiffre vom „verlängerten Arm“ des Staates für eine „sonstige Stelle“8 kann nicht ausgerechnet in einer Ehrengabe für dessen Vorsitzende Richterin von einem Kritiker – dann wohl eher schlechtem „Verlierer“ – ein weiteres Mal attackiert werden.9 Inzwischen scheint das wissenschaftliche Interesse an den Korruptionsdelikten einschließlich der §§ 299 ff. StGB ohnehin allmählich abzunehmen. Die Rechtsprechung hat die meisten Probleme abgearbeitet; und die Literatur hat sich zumindest zu einem Teil den potentiellen Korruptions-„Opfern“ zugewendet. Von der relativen Strenge der repressiven Korruptionsbekämpfung profitiert seit einiger Zeit eine stetig wachsende „Compliance“Wirtschaft, die u. a. mit einer kaum noch überschaubaren Flut an grundsätzlich auch strafrechtsbezogener Literatur die Wirtschaft erfolgreich zur „Implementierung“ von korruptionsvermeidenden bzw. zumindest -erschwerenden Compliance-Systemen anhält. Dass die „Corporate Compliance“ auf die „Public Compliance“ überschwappt, ist dabei abzusehen. Die expansive Fassung des Amtsträgerbegriffs hat diese Entwicklung sicher nicht initiiert. Die relativ große Rechtsunsicherheit dürfte aber dazu beigetragen haben, dass „Compliance“ – schlichter ausgedrückt: normgetreues Verhalten – nunmehr allenthalben in der Wirtschaft der besonderen Erläuterung zu bedürfen scheint. Der „Erfolg“ von „Compliance“ wird sich noch zeigen; dass insbesondere Großkonzerne insgesamt normgetreuer bzw. „ethisch“ korrekter handeln als früher, darf in jedem Fall bezweifelt werden.

II. Dass die Prognose, ob es sich in einem konkreten Fall bei einem Beschäftigten eines bestimmten privatisierten Unternehmens der öffentlichen Hand 7 Zur Rspr. im Anschluss an BGHSt 43, 370 vgl. nur: BGHSt 45, 16; 46, 30; 49, 214; 50, 299; 52, 290, 293 (Rn 11); 53, 6; 54, 202; BGH NJW 2001, 3062, 3063; 2004, 693; 2007, 2932, 2933; BGH NStZ 2007, 211; zur h. M.: LK-Hilgendorf, 12. Aufl. 2007, § 11 Rn 40; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht, 2001, S. 384; sowie als eigentlicher Urheber der Einbeziehung von privatrechtlich organisierten Unternehmen in die Gruppe der Arbeitgeber von „Amtsträgern“: Lenckner, ZStW 106 (1994), 502, 515. 8 Zuletzt BGHSt 54, 202. 9 Vgl. hier nur: Bernsmann, StV 2009, 308; ähnlich: Rausch, Fn 6; s. auch Zwiehoff, FS für Herzberg, 2008, S. 155 ff.

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oder eines gemischt-wirtschaftlichen, d. h. eines unter privater Beteiligung geführten Betriebes um einen „Amtsträger“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB handelt oder nicht, höchst unsicher ist, lässt sich durch einen Blick in die, in jeder Kommentierung wiedergegebene reichhaltige Kasuistik belegen. Fällt die Diagnose positiv aus und ist damit der Anwendungsbereich der §§ 331 ff. StGB eröffnet, ist zugleich der Allgemeine Teil verlassen; die verbleibenden Probleme haben in der Regel nichts mehr mit dem Begriff des „Amtsträgers“ zu tun, sondern sind solche der Merkmale dieser Vorschriften. Mindestens ein Folgeproblem ist aber noch ganz eng mit dem Begriff des „Amtsträgers“ verknüpft. Es ist im Gesetz an eher verstecktem Ort angesiedelt und hat möglicherweise nicht zuletzt auch deswegen die höchstrichterliche Praxis – soweit ersichtlich – bislang erst ein Mal beschäftigt. Gemeint ist die Vorschrift des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB und der dort normierte Umgang mit Amtsträgern, denen in Bezug auf eine unter Korruptionsverdacht stehende künftige (Dienst-)Handlung „Ermessen“ eingeräumt ist. Nach § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB macht sich ein „Amtsträger“ schon dann strafbar, wenn er sich (lediglich) bereit gezeigt hat, sich bei der Ausübung des Ermessens durch den (geforderten, versprochenen oder angenommenen) Vorteil beeinflussen zu lassen. Ob er ernstlich dazu bereit ist bzw. ob die Entscheidung im Ergebnis zu beanstanden ist (gewesen wäre) oder nicht, spielt dabei keine Rolle.10 Die Handlung ist schon deswegen pflichtwidrig, weil der „Amtsträger“ sich bei seiner Entscheidung von dem versprochenen etc. Vorteil beeinflussen lässt (bzw. sich dazu bereit gezeigt hat).11 Ins Praktische gewendet heißt das: ein „Ermessens-Amtsträger“ macht sich schon dann nach § 332 Abs. 1 StGB strafbar, wenn er – unabhängig von einer im Ergebnis noch so „richtigen“ Entscheidung – im Vorfeld einen „bösen Schein“ gesetzt hat. Er läuft wegen § 335 Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 2 StGB dann sogar Gefahr, einem „besonders schweren Fall der Bestechlichkeit“ und dessen robuster Strafandrohung anheimzufallen. Der soeben geschilderte Befund führt in Bezug auf die eingangs erörterten „Amtsträger“, die in privatrechtlich organisierten und privatwirtschaftlich tätigen Unternehmen der öffentlichen Hand z.B. als Geschäftsführer, Vorstände, Prokuristen etc. tätig sind, zu der Frage, ob ihre alltäglichen, vom jeweiligen Unternehmensgegenstand und -interesse bestimmten unternehmerischen Entscheidungen auch in dem „Ermessen“ stehen, das § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB meint. Wenn ja, wäre die Parallelisierung von inner- und außerbehördlich, hier: in der privatwirtschaftlichen Sphäre tätigen „Amts10

BGHSt 11, 125, 130. Vgl. BGHSt 15, 239, 249; 47, 260, 263; 48, 44, 49 ff.; Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 332 Rn 12. 11

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trägern“ in der Tat konsequent umgesetzt.12 Andererseits wäre allerdings auch der Abstand zu dem, was eine methodengetreue Auslegung dem § 11 Abs. 2 Nr. 2 c StGB entnehmen könnte, kaum noch zu vergrößern. Am Beispiel des Geschäftsführers eines Unternehmens, das z. B. in öffentlichprivater Partnerschaft mit einer Mehrheitsbeteiligung des öffentlichen Partners betrieben wird: Bei ihm fehlte nicht nur ein an ihn persönlich adressierter förmlicher Akt der „Bestellung“;13 sein Handeln als Geschäftsführer eines marktorientierten Unternehmens ließe sich auch ebenso wenig als „Diensthandlung“ bezeichnen wie anzunehmen wäre, dass er sich als „Träger“ eines „Amtes“ fühlt; und schließlich würde er seine unternehmerischen Entscheidungen auch kaum für vergleichbar halten mit Ermessensentscheidungen, die ein Beamter trifft. Das aus dieser Perspektive insbesondere nicht sonderlich fernliegende Wortlautargument hat den 5. Senat des BGH in der bislang wohl einzigen einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidung allerdings überhaupt nicht be- bzw. gerührt. Er überträgt - schlicht - die überkommene Definition des „uralten“ Ermessens-Beamten auf den erst seit BGHSt 43, 370 bzw. - etwa zeitgleich - dem KorrBekG „existierenden“ „Geschäftsführer“-(„Vorstand“etc.)Amtsträger neuer Prägung: Nach „der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift“ meint „Ermessen“ i. S. von § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB „lediglich das Vorhandensein mehrerer rechtmäßiger Entscheidungsvarianten, unter denen der Amtsträger die Wahl hat, nicht ein Ermessen im strikt verwaltungsrechtlichen Sinne“14. Als offenbar zugleich systematisches und teleologisches Argument verweist der BGH dann – allerdings ohne Nachweis – auch noch auf den „Gesetzgeber“, dem es lediglich darum geht, „die Beeinflussbarkeit bei einem derartigen Entscheidungsvorgang derjenigen bei zukünftigen rechtswidrigen Diensthandlungen gleichzusetzen“15. Was daraus allerdings speziell für die Gleichsetzung von „Geschäftsführerpflichten“16 und „Ermessen“ im verwaltungsrechtlichen Sinn herzuleiten sein soll, erschließt sich nicht. Im Gesetzgebungsverfahren wurde jedenfalls noch durchgängig vom „Ermessensbeamten“ gesprochen.17 Das könnte immerhin – mit Systematik und „Teleologie“ zwanglos vereinbar – dafür sprechen, dass nur die gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 a – StGB als „Amtsträger“ in Betracht kommenden Personen Täter des § 332 Abs. 1, 3 Nr. 2 StGB sein können, die – wie die in § 11 Abs. 1 Nr. 2 a StGB genannten „Beamten“ – über „Ermessen“ im verwaltungsrechtlichen Sinn verfügen. Dass „Ermes12

LK-Sowada, 12. Aufl. 2009, § 332 Rn 13. Vgl. BGHSt 43, 370, 382. 14 BGH wistra 2007, 17, 18. 15 BGH Fn 14. 16 BGH Fn 14. 17 Vgl. BT-Drucks. 7/550 S. 270. 13

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sen“ dabei schon immer auch sonstige, dem Verwaltungsrecht zuzuschlagende Fälle mitumfasst, in denen auch mindestens zwei unterschiedliche Entscheidungen rechtmäßig sein können18, wie es beim Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen, etwa in Zusammenhang mit Prüfungsentscheidungen der Fall sein kann, wäre kein durchschlagendes Gegenargument.19 Darin liegt nur eine vergleichsweise schwache Lockerung des verwaltungsrechtlich-technischen „Ermessensbegriffes“, nicht aber eine Abkoppelung des „Ermessensbegriffes“20 von jedem verwaltungsrechtlichen Bezug, wie sie der BGH betreibt.

III. Dass die der Ansiedlung von „Amtsträgern“ in GmbHs und AGs kongeniale Mediatisierung des Ermessensbegriffes, d. h. seine Befreiung von jedweder Verwaltungsrechtsakzessorietät, nicht nur auslegungstechnisch verfehlt, sondern auch eine nachgerade absurde Konsequenz hat, ergibt sich aus Folgendem: „Ermessen“ ist ein „Fundamentalbegriff“ des Verwaltungsrechts,21 der u. a. in § 40 VwVfG, aber auch z. B. in § 5 AO bzw. § 39 SGB I erscheint. Der Begriff meint insoweit die einer Verwaltungsbehörde durch Rechtsvorschrift eingeräumte Freiheit zum Handeln und damit zur Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten.22 Im jeweiligen Gesetz wird die Einräumung von „Ermessen“ durch „kann“, „darf“, „soll“, „ist befugt“, „ist berechtigt“ zum Ausdruck gebracht.23 Warum der Begriff des „Ermessens“ in § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB nicht in einem solchen verwaltungsrechtsakzessorischen Sinn zu verstehen sein sollte, lässt sich durch den apodiktischen Hinweis auf – in Wahrheit gar nicht vorhandene – systematische bzw. teleologische Erwägungen des Gesetzgebers des „AT 1975“ schon deswegen nicht begründen, weil der Amtsträgerbegriff des EGStGB nicht von der Existenz von Amtsträgern in privatisierten Unternehmen ausging.24 Abgesehen davon unterscheidet § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB auch jetzt noch zwischen Personen, die bei einer „Behörde“ und Personen, die bei einer „sonstigen Stelle“ zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben „bestellt“ sind. Dass z. B. eine GmbH allenfalls eine „sonstige Stelle“ sein kann, dürfte außer Streit sein. Wenn 18

Vgl. OLG Frankfurt NJW 1990, 2074 f. Vgl. MüKo-Korte, 2006, § 332 Rn 31; NK-Kuhlen, 2. Aufl. 2005, § 332 Rn 9. 20 Vgl. LK-Sowada, Fn 12. 21 Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 31 Rn 33. 22 Vgl. Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 55 Rn 2. 23 Vgl. Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, GG, 58. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn 189. 24 Vgl. dazu ausf.: Bernsmann, Fn 5. 19

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zusätzlich „Ermessen“ qua ausdrücklicher verwaltungsrechtlicher Zuweisung in § 40 VwVfG (nur) einer „Behörde“ zukommt, ist es – nach Maßgabe der ansonsten vom BGH zur Identifizierung einer „sonstigen Stelle“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB postulierten verwaltungsrechtsakzessorischen Begriffsbildung25 - ebenso folgerichtig wie in Ansehung des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 103 Abs. 2 GG geboten, „Ermessen“ in § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB nur einem solchen Handeln eines „Amtsträgers“ zuzuordnen, das im Ergebnis einer „Behörde“ zuzurechnen ist. Der etwaige Einwand, dass es auch den Begriff des „unternehmerischen“ Ermessensspielraums gebe und § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB insoweit allumfassend umgangssprachlich zu verstehen sei, würde nicht verfangen. Im Gesellschaftsrecht bzw. in betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen ist „Ermessen“ – anders als im Verwaltungsrecht – kein feststehender Begriff. Er steht vielmehr gleichberechtigt neben anderen, bedeutungsgleichen Termini: Der Bundesgerichtshof in Zivilsachen spricht z. B. in seiner Grundsatzentscheidung zum sog. Unternehmerischen Ermessensspielraum (vgl. §§ 76, 77, 93 Abs. 1, 2 AktG; 43 Abs. 1 GmbHG)26 – allerdings ohne den Begriff des „Ermessens“ zu verwenden – von einem „weiten Handlungsspielraum …, ohne den unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar“ sei. Dazu gehöre neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen.27 Diese Definition zeigt, dass „unternehmerischer Ermessensspielraum“, der das Charakteristikum der Gestaltungs-Freiheit eines Vorstands bzw. eines Geschäftsführers ist, etwas anderes bedeuten muss als die gesetzesdirigierte und gesetzestreue Verwirklichung des Staatswillens im Einzelfall, der die Ermessensausübung durch eine „Behörde“ zu dienen hat.28 Aus grammatikalischer Perspektive drängt sich daher auf, dass es nur um Handlungs- und Entscheidungsspielräume gehen kann, die von konkreten Normen eingeräumt werden, nicht aber um den generellen Freiheits(Spiel-)Raum, der der Leitung einer GmbH oder einer AG deswegen zuzubilligen ist, weil das „Unternehmensinteresse“, dem die Handlungen des Geschäftsführers bzw. des Vorstandes zu dienen haben, ein hochkomplexes Interessengeflecht umfasst und zudem im Wirtschaftsleben Chancen und 25

Vgl. hier nur: BGHSt 43, 370. BGHZ 135, 244, 253; zur Gleichsetzung der Begriffe „ordentlicher Geschäftsmann“ (§ 43 Abs. 1 GmbHG) und „ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter“ (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG) vgl. hier nur: Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 43 Rn 7; Hachenburg/Mertens, GmbHG, 8. Aufl., § 43 Rn 16; Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 43 Rn 3. 27 BGHZ 135, 244, 253. 28 Vgl. auch: Ossenbühl, FS für H. Huber, 1981, S. 283, 286. 26

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Risiken im Allgemeinen untrennbar miteinander verknüpft sind. Unternehmerisches „Ermessen“ hat sich grundsätzlich an betriebs- und ggf. volkswirtschaftlichen Vorgaben zu orientieren – mit dem „Ermessen“, das das Verwaltungsrecht einer Behörde im konkreten Einzelfall einräumt, weist unternehmerisches „Ermessen“ keinerlei materielle bzw. substantielle Ähnlichkeit auf. Das Strafrecht kann aber Unvergleichbares nicht allein deswegen gleich behandeln, weil es eine umgangssprachliche Definition gibt, die zufällig auf einen vom historischen Gesetzgeber nicht bedachten Fall außerhalb eines verwaltungsrechtlichen Zusammenhangs passt. Verwaltungsermessen und Unternehmensermessen sind grundverschiedene Phänomene. Das Strafrecht muss sich entscheiden. Dann aber ist die Zuordnung des „Ermessensamtsträger“ zum Handeln einer „Behörde“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB) die unabweisbare Konsequenz. Wie bereits angedeutet kann auch aus subjektiv-historischer Perspektive mit „Ermessen“ in § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB nur „Ermessen“ in verwaltungsrechtlichem Sinn gemeint sein. Die Frage, ob der Geschäftsführer einer privatisierten GmbH, deren Gesellschafter zur öffentlichen Hand gehören, bei Führung des Unternehmens „Ermessens“-Entscheidungen i. S. von § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB trifft, hat sich bis zur Entscheidung des 2. Senats des BGH vom 19.12.199729 nicht gestellt. Soweit ersichtlich gab es bis dahin keine höchstrichterliche Entscheidung zu einem Geschäftsführer (bzw. Vorstand) oder sonstigen Angestellten eines privatisierten Unternehmens, in der dessen „Beamten“- bzw. „Amtsträgereigenschaft“ nach § 359 a. F. bzw. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c a. F. StGB bejaht worden wäre.30 Unter Geltung des sog. „strafrechtlichen Beamtenbegriffs“ gab es ohnehin keine Entscheidung, in der über den sog. „Ermessensbeamten“ nachgedacht wurde, ohne dass es um verwaltungsrechtlich begründete Pflichten gegangen wäre.31 Wenn es aber nun – entsprechend den Beteuerungen von Gesetzgeber und Bundesgerichtshof32 - zutrifft, dass § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB in der Fassung des KorrBekG nur klarstelle, was schon zu Zeiten des § 359 a. F. bzw. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c a. F. StGB gegolten habe, kann der früher ausschließlich im verwaltungsrechtlich technischen Sinn verstandene „Ermessenbeamte“ nicht „einfach“, d. h. nur weil die verwaltungsrechtsorientierte Definition „passt“, zum universellen „Ermessens-Amtsträger“ mutieren und damit die in Betracht kommenden (Ermes29

BGHSt 43, 370. Dazu ausf.: Rausch, Fn 6, S. 13 ff. 31 Etwa: RGSt 1, 404; 25, 400; 74, 251; BGHSt 11, 125; BGH NJW 1960, 830 f.; BGH JR 1961, 507, 508; BGH GA 1960, 374; BayObLG GA 1959, 374; HansOLG StV 2001, 277, 281. 32 BT-Drucks. 13/5584, S. 12; BGHSt 43, 370, 377; 46, 301, 312. 30

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sens-)Handlungen um den fast grenzenlosen Bereich von Entscheidungsträgern erweitert werden, die unter gesellschaftsrechtlichen und betriebswirtschaftlichen Regime handeln. Der Einzugsbereich des früheren „strafrechtlichen Beamtenbegriffs“ mag durch die Ergänzung des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c n. F. StGB durch das KorrBekG („… unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Form“) ausgeweitet worden sein,33 offensichtlich ist aber zugleich, dass dem Gesetzgeber nicht bewusst war, dass sein Zugeständnis an die Privatisierungswelle öffentlicher Unternehmungen34 mit dem früheren „Ermessensbeamten“ nicht kompatibel ist. Auch die vom BGH ebenfalls für sich beanspruchte Gesetzessystematik35 spricht in Wahrheit gegen einen verwaltungsrechtsunabhängigen Ermessensbegriff. Zunächst ist nicht einsichtig, warum § 299 StGB keine Regelung enthält, die der des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB entspricht, obwohl auch bei der „Bestechlichkeit“ bzw. „Bestechung im geschäftlichen Verkehr“ (§ 299 Abs. 1, 2 StGB) zwischen gebundenen und „Ermessens“Entscheidungen differenziert werden könnte. Die Vorschrift des § 299 Abs. 1 StGB pönalisiert die Bestechlichkeit von Nicht-Amtsträgern weitgehend in Analogie zur Regelung des § 332 Abs. 1 StGB.36 Wenn einem Geschäftsführer (oder Vorstand) als idealtypischem Täter dann aber auch „Ermessen“ i. S. von § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB eingeräumt wäre, hätte es nahegelegen, § 299 Abs. 1 StGB mit einer entsprechenden Regelung für den Fall eines für eine künftige Handlung geforderten etc. Vorteils zu versehen. Dies ist nicht geschehen und führt zu einem auffälligen Ungleichgewicht strafrechtlicher Risiken. Über die „Behördengleichheit“ eines privatisierten Unternehmens können Zufälligkeiten insbesondere dann entscheiden, wenn es etwa um (Sperr-)Minoritätsbeteiligungen Privater geht.37 Warum der eine Beschäftigte von dem Risiko einer Strafbarkeit entsprechend der Regelung des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB ausgenommen ist, weil § 299 Abs. 1 StGB die künftige „Ermessens“-Entscheidung nicht behandelt, ein anderer aber, weil, besser: obwohl er bei einer „behördengleichen“ Einrichtung beschäftigt ist, für sein (angebliches) „Geschäftsführer-Ermessen“ einstehen muss, ist wenig einsichtig. Auch „Sinn und Zweck“ der Vorschrift des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB streitet entgegen der Annahme des BGH38 nicht dafür, z. B. Geschäftsführer von GmbHs, mögen deren Gesellschafter auch der öffentlichen Hand zuzurechnen sein und das Unternehmen wie ein „verlängerter Arm“ des Staates 33

Vgl. oben. Vgl. BT-Drucks. 13/5584, S. 12. 35 BGH wistra 2007, 17, 18. 36 Vgl. BT-Drucks. 13/3353, S. 13. 37 Vgl. hier nur: BGHSt 50, 299. 38 BGH Fn 1. 34

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wirken, als gleichsam „geborene“ „Ermessensbeamte“ zu betrachten. Jedenfalls dann nicht, wenn § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB in Zusammenhang mit dem gesamten Regelungskomplex gesehen wird: Zwar dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass der Schutzzweck der Bestechungsdelikte alles andere als eindeutig ist,39 doch liegt es gerade bei Zugrundelegung des vom Gesetzgeber und der Rechtsprechung angenommenen Schutzzwecks des „Schutzes der Reinheit oder Lauterkeit der Amtsausübung“,40 bzw. des „Vertrauens der Öffentlichkeit auf die Makellosigkeit und Lauterkeit des öffentlichen Dienstes“41 oder des „Schutzes des Staatswillens vor Verfälschung“42 durchaus nahe, nach Art der Stellung des Täters im – zu schützenden – „öffentlichen Dienst“ und der daraus folgenden Wirkung seiner Handlung in Bezug auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in das ordnungsgemäße Funktionieren des „öffentlichen Dienstes“ zu differenzieren. Wenn § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB eine Unterscheidung trifft zwischen a) Beamten oder Richtern, b) Personen, die in einem sonstigen öffentlichrechtlichen Amtsverhältnis stehen und c) Personen, die sonst bei Behörden oder sonstigen Stellen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, so steht dahinter eine Skalierung, die mit der Staatsnähe und dem Vertrauen korrespondiert, das die Öffentlichkeit dem jeweiligen Amt bzw. der Position im Gefüge der staatlichen Repräsentanz entgegenbringt. Der Geschäftsführer einer GmbH in öffentlicher Hand erscheint (nur) als „verlängerter Arm des Staates“, ist aber selbst gerade nicht Staat und damit staatsferner als ein Beamter im staatsrechtlichen Sinn. Ersterer genießt daher – idealtypisch – kaum mehr Vertrauen in seine Unbestechlichkeit als der Geschäftsführer einer GmbH in privater Trägerschaft oder einer solchen, die in „Public-Private-Partnership“ betrieben wird bzw. als der Geschäftsführer einer privatisierten Gesellschaft, die sich zwar in staatlichem Eigentum befindet, deren „Steuerung“ aber noch nicht der durch einen „verlängerten Arm“ gleichkommt. Insoweit könnten die Sonderregelungen der Bestechlichkeit für Richter (§ 332 Abs. 2 StGB) und Ermessens-„Beamte“ (§ 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB) dann aber durchaus einer abgestuften Schutzintention des Gesetzes entsprechen.

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Vgl. Fischer, § 331 Rn 3; NK-Kuhlen, § 331 Rn 9 ff.; LK-Sowada, Vor §§ 331 ff. Rn. 12 ff. 40 Vgl. RGSt 72, 233; BGHSt 10, 237, 241; 15, 88, 96. 41 BGHSt 30, 46, 48; BGH NJW 1984, 2654. 42 BT-Drucks. 7/550, S. 269; vgl. auch: Eb. Schmidt, Die Bestechungstatbestände, 1960, S. 149.

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IV. Der BGH wird die vorstehenden Argumente gegen die Erstreckung des „Ermessens“-Amtsträgers auf Beschäftigte privatisierter Unternehmen erwogen haben. Immerhin verweist er auf die gängigen Bezugspunkte strafrechtlicher Interpretation: „Systematik“, „Sinn und Zweck“, Anliegen des „Gesetzgebers“.43 Einen Aspekt, den der BGH wahrscheinlich auch zugleich „systematisch“ wie „teleologisch“ bezeichnen würde, hat er allerdings nicht berührt und wahrscheinlich auch nicht gesehen: Unter der der h. M. entsprechenden Voraussetzung, dass die von §§ 331 ff. StGB erfassten Drittvorteile auch Vorteile sein können, die der juristischen Person zugute kommen (sollen), in deren „Dienst“ der Amtsträger steht,44 dürfte ein Großteil der Handlungen von „Amtsträgern“ in privatisierten, am Wirtschaftsleben teilnehmenden Unternehmender Vorschrift des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB zuzurechnen sein. Worum sonst als um „Vorteile“ für das Unternehmen wird und sollte es z. B. einem Geschäftsführer bei Verhandlungen mit (potentiellen) Geschäftspartnern gehen. Er wird sich Vorteile versprechen bzw. anbieten lassen, die er bei seiner unternehmerischen Entscheidung für oder gegen das jeweilige Geschäft in Rechnung stellen wird. Damit ist aber das alltägliche Handeln eines „AmtsträgerManagers“ genau das, was § 332 Abs. 2 Nr. 3 StGB als pflichtwidrig pönalisiert. Derart Abwegiges kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben und kann § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB auch objektiv nicht normieren. Auswege, d. h. Möglichkeiten, diese Fälle aus § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB auszunehmen und dem argumentum ad absurdum zu entkommen, ohne zugleich den „Ermessensamtsträger“ ganz aus privatwirtschaftlichen Unternehmungen des Staates zu verbannen, lassen sich wahrscheinlich finden oder zumindest behaupten. Bei der Suche nach entsprechenden Argumenten wird allerdings nicht mitwirken, wer u. a. im Interesse der Rechtsklarheit und -sicherheit ohnehin keinen Bedarf sieht, den ins Privatrecht ausweichenden Staat zu Lasten der Normadressaten zu schützen, „als ob“ er Staat wäre!

43

BGH Fn 14. Vgl. OLG Karlsruhe NJW 2001, 907, 908; OLG Köln NStZ 2002, 35; OLG Celle NJW 2008, 164; Fischer, § 331 Rn 14; NK-Kuhlen, § 331 Rn 45; LK-Sowada, § 331 Rn 44. 44

Zur Zurückweisung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen eigener Sachkunde des Gerichts – § 244 Abs. 4 S. 1 StPO – bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage Zugleich eine Besprechung von BGH (2. Senat), Beschl. v. 27. 01. 2010 – 2 StR 535/09* RÜDIGER DECKERS

A. Vorbemerkung Eine Entscheidung des 2. Strafsenats vom 27.01.2010 – 2 StR 535/09 – verdient große Aufmerksamkeit und ist bereits in der Literatur1 überwiegend auf Zustimmung gestoßen.

B.

I. 2

Der in der JZ abgedruckte Leitsatz lautet: „Wenn der Tatrichter einen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens (§ 244 Abs. 4 Satz 2 StPO), der auf substantiiert dargelegten methodischen Mängeln des (vorbereitenden) Erstgutachtens gestützt ist, allein mit der Begründung zurückweist, er verfüge selbst über die erforderliche Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO), darf er sich in den Urteilsgründen hierzu nicht dadurch in Widerspruch setzen,

* NJW 2010, 1214 = JZ 2010, 471. 1 Eisenberg JZ 2010, 474. 2 JZ 2010, 471.

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dass er seiner Entscheidung das Erstgutachten ohne Erörterung der geltend gemachten Mängel zugrunde legt.“ Es liegt dem Beschluss folgender Fall zugrunde: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen, sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in acht Fällen, jeweils in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen – Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 52 weiteren Fällen – freigesprochen. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg; der Rüge liegt die fehlerhafte Zurückweisung eines Beweisantrags zugrunde. II. Die erfolgreiche Verfahrensrüge betrifft einen Beweisantrag der Verteidigung mit dem sie begehrt, ein alternatives Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen und dabei das zunächst von der Strafkammer erhobene Erstgutachten moniert: Das Ursprungsgutachten weise qualitative Mängel in der Fragetechnik sowie der Analyse der speziellen Aussagetüchtigkeit, Aussageentstehung und -entwicklung sowie der Prüfung motivationaler Faktoren für eine Falschaussage auf. Das Landgericht hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, die Kammer verfüge über die erforderliche eigene Sachkunde. Die Gutachterin sei durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren beauftragt worden, die Kammer hätte dies von sich aus nicht veranlasst. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen sei Aufgabe des Gerichts; ein aussagepsychologisches Gutachten könne nur eine zusätzliche Entscheidungshilfe sein. Der Beschluss führt sodann aus: „Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall die Hinzuziehung eines Sachverständigengutachtens erfordern würden, sind nicht ersichtlich. Die Kammer hat allein zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung die (...) Sachverständige U. zur Hauptverhandlung hinzugezogen, zumal ihr hinsichtlich der Angaben der Zeugin (...) im Rahmen der Exploration zwecks Überprüfung der Aussagekonstanz ohnehin die Funktion einer Zeugin zufiel.“ Das Urteil der Strafkammer setzt sich in seinen Gründen ausführlich mit der Aussage der einzigen Belastungszeugin auseinander und gelangt zum Ergebnis, die Aussage sei glaubhaft.

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Ergänzend hebt das Urteil: „Hinsichtlich der Bewertung der Zuverlässigkeit der Aussage auf das eingeholte aussagepsychologische Gutachten“ ab, die Kammer schließt sich den Ausführungen der forensisch erfahrenen Sachverständigen nach eigener Prüfung an. Während der Beweisantrag methodische und inhaltliche Mängel des „Erstgutachtens“ anführt, stützt sich der Beschluss ausschließlich auf § 244 Abs. 4 S. 1 StPO und verhält sich nicht zu den im Beweisantrag vorgetragenen monita, was der Senat als „insofern konsequent“ erachtet. Die Strafkammer hat nämlich – offenbar der von Fischer3 favorisierten Linie entsprechend – schon die Einholung des Erstgutachtens für nicht erforderlich gehalten. Sie ist lediglich deshalb zur Erhebung dieses Beweises in der Hauptverhandlung geschritten, weil die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren die Gutachterin beauftragt hat und diese in der Hauptverhandlung ohnehin als Zeugin hätte vernommen werden müssen. III. Das Urteil verfällt indes – nach der Entscheidung des Senats – deshalb der Revision, weil es sich – auch – auf das Erstgutachten stützt und eine Auseinandersetzung mit den methodenkritischen Einwänden aus dem Beweisantrag der Verteidigung gänzlich vermissen lässt. Das Urteil beruhe auch auf dem Mangel, weil es die Belastungsaussage als konstant bewertet, ohne die Methodenkritik aus dem Beweisantrag bei der Analyse der Entwicklungsgeschichte der Aussage zu würdigen. IV. Kernsätze der Entscheidung sind: 1. Der Sache nach ist die Ablehnung der beantragten Einholung eines weiteren Gutachtens - in der hier vorliegenden besonderen Konstellation - dem Ablehnungsgrund der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit einer Beweisbehauptung verwandt.

3 Vgl. Fischer Aussagewahrheit und Glaubhaftigkeitsbegutachtung in: FS Widmaier, S. 191 ff.; ders. NStZ 1994,1; KK-Fischer § 244 RN 49 ff.; differenzierend: Meyer-Goßner 53. Aufl., § 244 RN 74 m.w.N.

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2. Wie in jedem Fall in der Ablehnung des Beweisantrags eine konkludente Zusage des Gerichts liegt, den unter Beweis gestellten Tatsachen nicht nachträglich entgegen den Gründen des Ablehnungsbeschlusses doch Bedeutung zuzumessen4, kann die substantiiert geltend gemachte Fehlerhaftigkeit eines Sachverständigengutachtens nur dann dahinstehen, wenn es auf das Ergebnis des Gutachtens für das Beweisergebnis in keiner Richtung ankommt (Kongruenzgebot). Die Strafkammer hat sich mit ihrem Anschluss an das Erstgutachten in Widerspruch zur Ablehnungsbegründung gesetzt, mit der die Verteidigung nicht rechnen musste. Der Angeklagte konnte sich vielmehr nach der Begründung des Ablehnungsbeschlusses darauf verlassen, dass das Landgericht die geltend gemachten – sich nach dem Wortlautprotokoll der Exploration in der Tat aufdrängenden – methodischen Fehler des Gutachtens als solche erkannt hat und das Gutachten daher – im Hinblick auf seine eigene Sachkunde – seinem Urteil nicht zugrunde legen würde. 3. Anderenfalls hätte das Landgericht den Angeklagten auf seine abweichende oder geänderte Beurteilung hinweisen und die geltend gemachten Mängel in den Urteilsgründen erörtern müssen; bei Erneuerung des Beweisantrages hätte es einer gem. § 244 Abs. 4 S. 2 StPO substantiierten Begründung bedurft, wenn ein Zweitgutachten nicht eingeholt werden sollte.

C. Bemerkungen

I. Die Entscheidung stützt sich im Wesentlichen auf das Kongruenzgebot5, dass - klassischerweise - aus den Ablehnungsgründen der Bedeutungslosigkeit und der Wahrunterstellung folgt: Eine im Beweisantrag behauptete Tatsache, die der Ablehnungsbeschluss des angerufenen Gerichts als bedeutungslos qualifiziert, darf im Urteil nicht verwendet werden. Das Urteil darf sich zur Ablehnungsbegründung nicht in Widerspruch setzen, insbesondere nicht auf das Gegenteil der unter Beweis 4 Vgl. BGH NStZ 1988, 38; 1994, 195; BGH StV 1997, 338; Meyer-Goßner StPO, 53. Aufl., § 244 Rn. 56; Fischer in: KK-StPO, 6. Aufl. § 244 Rn. 146; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. Rn. 216a; jew. m.w.N. 5 Vgl. dazu: KK-Fischer § 244 Rn. 188.

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gestellten Tatsachen stützen.6 Inkongruenz kann auch dann vorliegen, wenn das Gericht die Tatsache als zweifelhaft, aber möglicherweise bedeutsam ansieht7 oder die Beweisbehauptung verkürzt, eingeengt oder umgedeutet wird, um ihre Erheblichkeit vermeiden zu können. Dabei kommt es für die Bewertung einer Tatsache als bedeutungslos auf den Zeitpunkt des Urteilserlasses an.8 Es versteht sich von selbst, dass ein Hinweis der Strafkammer in der laufenden Hauptverhandlung über diesen Bedeutungswandel, die Tatsache als erheblich anzusehen, den Mangel heilt. Damit korrespondiert das Gebot, dass die Urteilsgründe einer Wahrunterstellung nicht widersprechen dürfen.9 Besonders problematisch ist die Fallkonstellation, dass eine Tatsache zunächst als wahr unterstellt und später zuungunsten des Angeklagten als erwiesen angesehen und im Urteil verwendet wird. Die Inkongruenz liegt dann in der konkludenten Zusage, dass die unter Beweis gestellte als entlastend gewertet wird. Ohne einen entsprechenden Hinweis verstößt die gegenteilige Verwendung der Tatsache im Urteil gegen das Kongruenzgebot.10 II. In dem vom 2. Strafsenat entschiedenen Fall liegt nun die Inkongruenz nicht in der gegenteiligen Verwendung einer behaupteten Beweistatsache, sondern in der Behauptung der eigenen Sachkunde unter gleichzeitiger Beanspruchung sachverständiger Hilfe zur Beantwortung der Beweisfrage (Zuverlässigkeit der Zeugenaussage). Der Fehler in der Urteilsbegründung der Strafkammer erscheint indes relativ leicht vermeidbar. Allein das Weglassen der ergänzenden – nicht unbedingt tragenden - Begründung im Urteil: „…hat sich die Kammer auch der Beratung durch die (...) Sachverständige bedient“, hätte das zentrale Argument der Inkongruenz beseitigt. Das muss zu denken geben. Wenn der Senat – völlig zu Recht – von der Verwandtschaft der Ablehnung eines Beweisantrages wegen eigener Sachkunde mit dem Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit spricht, so kann dies nicht auf die Fallkonstellation beschränkt sein, in der der Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens abzielt (§ 244 Abs. 4 S. 2 StPO). 6

Meyer-Goßner § 244 Rn. 56 m.w.N.; KK-Fischer a.a.O; BGH 5 StR 110/02. KK-Fischer a.a.O.; BGH 5 StR 110/02. 8 Niemöller in: FS Hamm S. 537, 545 ff. 9 KK-Fischer § 244 Rn. 193; Meyer-Goßner Rn. 71a. 10 Vgl. BGHSt 51, 364 m. Anm. Niemöller. 7

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Der Senat scheint mit der Formulierung: „Insofern konsequent hat der ablehnende Beschluss daher die substantiierten Einwendungen des Beweisantrags gegen die Qualität des (vorbereitenden) Gutachtens weder erörtert noch überhaupt erwähnt“, die Ansicht zu vertreten, die Ablehnung eines Beweisantrages wegen „eigener Sachkunde“ – die nach der Gesetzessystematik sowohl für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines ersten als auch weiterer Gutachten angeführt werden kann – bedürfe keiner Auseinandersetzung mit dem Antragsvorbringen der Verteidigung im Ablehnungsbeschluss. Auch wenn es dann in der Urteilsbegründung an der Inkongruenz zwischen der Behauptung eigener Sachkunde und der Inanspruchnahme des Gutachtens fehlt, könnte das Antragsvorbringen auch in der Beweiswürdigung unberücksichtigt bleiben, ohne das Urteil zu gefährden. Denn, ob die beanstandete Fragetechnik, die Analyse der speziellen Aussagetüchtigkeit, Aussageentstehung und –entwicklung sowie die Prüfung motivationaler Faktoren im Urteil dargelegt und erörtert wird, bleibt der Gestaltung des Tatgerichts überlassen.11 Meyer-Goßner kommentiert: „Im Ablehnungsbeschluss muss nicht dargelegt werden, aus welchen Gründen sich das Gericht die erforderliche Sachkunde zutraut.“12 Fischer kommt indes in seiner Kommentierung des § 244 Abs. 4 S.1 StPO13 der Verwandtschaft des Ablehnungsgrundes der eigenen Sachkunde zum Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit erheblich näher: „Die Grundlagen eigener Sachkunde muss das Gericht in den Gründen des ablehnenden Beschlusses, jedenfalls aber in den Urteilsgründen darlegen, wenn es mehr als Allgemeinwissen in Anspruch nimmt (....). Die Berufung auf eigene Sachkunde ist nichtssagend, wenn das Gericht die im konkreten Fall geforderte Sachkunde nicht haben kann, insbesondere, weil unerlässliches Anwendungs- oder Auswertungswissen fehlt (.....); allein die theoretische Beschäftigung mit einem Wissenschaftsgebiet vermittelt noch nicht die Sachkunde praktischer Erfahrung.“

III. Der Formulierung bei Meyer-Goßner:„In 1. Hinsicht gelten aber die Ablehnungsgründe des Abs. 3“, ist der Ansatz zu jener „logischen Hierarchie der Ablehnungsgründe“ zu entnehmen, die hier vertreten wird. 11

Vgl. zur Problematik: Eschelbach Feststellungen, in: FS Widmaier S. 127 ff. Meyer-Goßner § 244 Rn. 73. 13 KK-Fischer § 244 Rn. 198; vgl. auch Eisenberg BewR der StPO, Rn. 255. 12

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Die Struktur der Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 u. 4 StPO legt nahe, dem Aspekt der Erheblichkeit/Bedeutung der behaupteten Beweistatsache Priorität zuzumessen. In einem vom 2. Strafsenat des BGH entschiedenen Fall zum Verhältnis zwischen Erheblichkeit/Bedeutungslosigkeit und Wahrunterstellung einer Beweistatsache wird diese innere Systematik verdeutlicht:14 „1. Die gleichzeitige Ablehnung eines Beweisantrages durch Wahrunterstellung und wegen Bedeutungslosigkeit ist nicht möglich, weil eine Wahrunterstellung nur bei erheblichen Tatsachen in Betracht kommt. 2. Sind die als wahr unterstellten Umstände mit den im Urteil getroffenen Sachverhaltsfeststellungen offensichtlich nicht in Einklang zu bringen, ist das Gericht gehalten, in den Urteilsgründen auf die als wahr unterstellten Tatsachen ausdrücklich einzugehen und näher zu erläutern, wie es trotz der Wahrunterstellung zu den Sachverhaltsfeststellungen gelangt ist.“ Diese Erkenntnis lässt sich auch für die übrigen Ablehnungsgründe verallgemeinern. Da das Verfahren der Erforschung der für ein Urteil erheblichen Tatsachen dient, ist bei jeder Prüfung eines Beweisantrages zunächst zu beantworten, ob die Beweistatsache überhaupt erheblich ist. Eine unerhebliche Tatsache ist unabhängig davon, ob sie offenkundig ist, ob sie mit den angebotenen Beweismitteln bewiesen werden kann oder ob sie schon erwiesen ist, nicht für das Verfahren von Bedeutung. Die fakultativen Ablehnungsgründe enthalten daher alle – als ungeschriebene Voraussetzung – das Erheblichkeitserfordernis.15 Das über einen Beweisantrag befindende Gericht hat deshalb stets die Prüfung voranzustellen, ob eine Beweisbehauptung erheblich bzw. bedeutungsvoll ist. Verneint es die Erheblichkeit, steht der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit an erster Stelle mit den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten besonderen Begründungsanforderungen.16 Werden diese eingehalten, stellen sie die bestmögliche Informationsplattform für den Antragsteller dar und ermöglichen einen fortschreitenden formalisierten und fairen Dialog17. Es erscheint in diesem Kernbereich der Rechte des 14

BGH 2 StR 431/05 = NStZ 2006, 497 bei Becker wistra 2006, 190; StV 2007, 18. Anders zur Erwiesenheit einer Tatsache der BGH (NJW 2003, 152), der ohne weitere Begründung anführt, auch die Beweiserhebung über eine nicht erhebliche Tatsache könne mit dieser Begründung abgelehnt werden. Diese Auffassung ist aus den genannten Gründen abzulehnen. 16 Vgl. BGH NStZ 2005, 224; EGMR NStZ 2005, 224; BGH NStZ 2007, 352; NStZ-RR 2007, 84. 17 Basdorf StV 1995, 310, 318 f.; BGHSt 43, 212 f.; BGH NStZ 2005, 224. 15

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Beweisantragstellers nicht überzogen, die Qualitätssicherung im Sinne einer qualifizierten Auseinandersetzung um die Sache einzufordern. Sie ist - auch – geeignet, eine entfaltete Streitkultur zu fördern, die den Boden für gegenseitige Wissensbildung und Überzeugung bereitet. Sie dient zugleich der Prozessökonomie, weil die Verteidigung nicht darauf verwiesen wird, vorsorglich absichernde Hilfsbeweisanträge zu stellen und ihr die Übersicht erleichtert wird, koordinierte Beweisanträge zu stellen.18 Die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache muss daher grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von den durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen entsprechen. Die Ablehnung darf nicht dazu führen, dass erklärbare, zu Gunsten des Angeklagten sprechende Umstände der gebotenen Gesamtabwägung in der Beweiswürdigung entzogen werden.19 IV. Bezogen auf den vom 2 Strafsenat entschiedenen Fall sind daher folgende – über die Entscheidung hinausgreifende - Konsequenzen zu ziehen: 1. Abgeleitet vom Gedanken der „Verwandtschaft“ des Ablehnungsgrundes der „eigenen Sachkunde“ mit dem der „Bedeutungslosigkeit“, wie sie in der logischen Struktur der Ablehnungsgründe verankert ist, muss sich der auf eigene Sachkunde stützende Ablehnungsbeschluss mit den Behauptungen im Beweisantrag auseinandersetzen, die über das allgemeine Wissen hinaus Fragen des jeweiligen Fachgebietes ansprechen, aus dem der Sachverstand eingefordert wird – unabhängig davon, ob der Antrag auf die Einholung eines ersten oder eines weiteren Gutachtens abzielt. Es ist deshalb eher als inkonsequent anzusehen, die inhaltlichen Anforderungen an die Beschlussbegründung dann – „gegen Null“ – abzusenken, wenn sich das erkennende Gericht auf eigene Sachkunde beruft. Der Antragsteller bliebe dann ohne Auskunft, sein Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG liefe leer. Er sollte auch nicht auf die Urteilsgründe verwiesen werden können, aus denen er erst dann erfahren soll, woraus sich die eigene Sachkunde und die Unerheblichkeit seiner Tatsachenbehauptungen ergibt; denn es entspricht dem Wesen des Beweisantragsrechts, dass der Antragsteller noch in

18

Vgl. dazu: Widmaier StraFO 2006, 437, 438. BGH NStZ 2005, 224; zum Ganzen: Deckers Der strafprozessuale Beweisantrag, 2. Aufl., 2007, S.72.ff. 19

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der Hauptverhandlung auf die tragenden Ablehnungsgründe reagieren kann. Das setzt voraus, dass der Antragsteller sie rechtzeitig erfährt.

2. Inkongruenz der Urteilsgründe liegt auch dann vor, wenn das Urteil sich auf solche Tatsachen stützt, die in Widerspruch zu behaupteten Beweistatsachen stehen, im ablehnenden Beschluss nicht erörtert sind, und im Urteil weder mitgeteilt, erörtert noch gewürdigt sind. 3. Wenn der 2. Strafsenat in einer weiteren bemerkenswerten Entscheidung20 eine Unterrichtungspflicht statuiert: „Wenn es nahe liegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache in Zusammenhang steht und das – im Gegensatz zu dieser Tatsache – für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung ist,“ dann wird die primäre Unterrichtungspflicht im Ablehnungsbeschluss – etwa wegen „der Annahme eigener Sachkunde“ - umso evidenter.

D. Schlussbemerkung Das Beweisantragsrecht stellt ein zentrales Element des Anspruchs auf rechtliches Gehör des unter Anklage stehenden Bürgers dar. Es bildet in diesem Sinne durch die Strafprozessordnung konkretisiertes Verfassungsrecht, prozessuales Grundrecht ab. Bestrebungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zielen darauf ab, dieses Recht einzugrenzen. So ist in richterlicher Rechtsfortbildung bei extremer Verfahrensverzögerung die Möglichkeit geschaffen worden, dem Antragsteller eine Frist zu setzen, nach deren Ablauf der Anspruch auf Bescheidung des Beweisantrages in der Hauptverhandlung nur noch dann bestehen soll, wenn er die Gründe für die Verspätung nachvollziehbar und substantiiert darlegen kann oder die Aufklärungspflicht die Beweiserhebung gebietet 21. Auch soll es möglich sein, einen Hilfsbeweisantrag selbst dann mit den Urteilsgründen zu bescheiden,

20

2 StR 296/05 = StV 2006, 121. Vgl. zum Streitstand und ablehnend: Meyer-Goßner § 244 RN 69b; vgl. auch zur Fehleranfälligkeit: BGH NStZ 2010, 161. 21

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wenn die Ablehnung auf den Grund der Prozessverschleppung gestützt wird.22 Der 2. Strafsenat hat sich in diese Restriktionen des Beweisantragsrechts nicht eingereiht. Stattdessen kündet die vorliegende Entscheidung von einem Ausbau des formalisierten Dialogs. Wenn das Kongruenzgebot gestärkt wird, wird der überraschende Rückgriff auf ausgeschiedene Tatsachen (Bedeutungslosigkeit) oder die Umdeutung wahr unterstellter Tatsachen verhindert. Der Antragsteller wird in die Lage versetzt, den Prozessfortgang zu „lesen“. Gleiches soll nun auch gelten, wenn das erkennende Gericht sich trotz substantiierten Sachvortrages in einer komplexen Beweisfrage auf eigene Sachkunde beruft. Dass dieser Impuls des Judikats über die besondere Konstellation des Beweisantrags, ein weiteres Gutachten einzuholen, hinauswirkt, war aufzuzeigen. Diese Konsequenz ist in der Entscheidung angelegt. Sie fordert beide Seiten – Antragsteller wie Gericht – zur vertiefenden Begründung des Antrags wie des antwortenden Beschlusses heraus. Die Chance zu höherem Erkenntnisgewinn liegt hüben wie drüben. Die geschätzte Jubilarin mag dem Autor nachsehen, dass ihr Wirken mehr als ihre Person im Zentrum der Betrachtung dieses Beitrages steht.

22

Vgl. zum Streitstand: Meyer-Goßner § 244 Rn. 44a u. 69b.

Einlassung mit oder durch den Verteidiger (Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?) KLAUS DETTER

I. Die Einlassung des Angeklagten nach § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO Eines der wesentlichen Rechte des Angeklagten im Strafverfahren ist die Möglichkeit, sich zu den ihm vorgeworfenen Straftaten zu äußern. Nach § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO (früherer Abs. 4; geändert mit Wirkung vom 4. 8. 2009 durch Art. 1 Nr. 7 Buchst. b des Gesetzes vom 29. 7. 2009 BGBl I 2353 – Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren) wird der Angeklagte darauf hingewiesen, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ist der Angeklagte zur Äußerung bereit, so wird ihm Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen (§ 243 Abs. 5 Satz 2 StPO in Verbindung mit § 136 Abs. 2 StPO). Mit dieser Regelung soll dem Angeklagten rechtliches Gehör gewährt und zugleich gewährleistet werden, dass dieser für seine Verteidigung die ihn entlastenden Umstände dartun und die ihn belastenden Umstände widerlegen kann, so dass das Gericht bei der Beweisaufnahme sein Augenmerk auch auf diese Gesichtspunkte richten kann1. Nicht als Einlassung in diesem Sinne einzuordnen sind Schriftsätze des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, die Angaben des Angeklagten zur Sache enthalten2, der Inhalt von Beweisanträgen bei schweigendem Angeklagten3 sowie schriftliche Äußerungen des Angeklagten unabhängig von der Verteidigung4. Derartige Äußerungen können aber im Wege des Zeugen- oder Urkundenbeweise Beweisbedeutung erlangen. Nicht der Beweisaufnahme 1 Becker in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. Rn. 65 f.; Schneider in KK 6. Aufl. Rn. 38 jew. zu § 243 StPO; vgl. dazu Schäfer in Festschrift für Dahs S. 441, 444 ff.; Müller in Festschrift für Hanack, S. 67 ff. 2 Anders für Schreiben des Angeklagten vgl. BGH NStZ 1994, 593 = StV 1994, 521 insoweit in BGHSt 40, 211 nicht abgedruckt; vgl. auch BGHSt 39, 305 ff.; BGH NStZ 2002, 555. 3 BGH NStZ 1990, 447. 4 BGHSt 39, 305; BGH NStZ 2000, 439 = StV 2001, 548.

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zugänglich. sind grundsätzlich Mitteilungen des Angeklagten an seinen amtierenden Verteidiger vor der Hauptverhandlung. Der Inhalt solcher Besprechungen zwischen einem Angeklagten und seinem Verteidiger dient der Vorbereitung der Verteidigung, vor allem der Frage, ob Angeklagte sich zur Sache einlässt oder schweigt5. Eine der Einlassung des Angeklagten im Sinne von § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO entsprechende Äußerung kann aber auch in Angaben zur Sache im Rahmen des „letzten Worts“ nach § 258 Abs. 2 und 3 StPO zu sehen sein6 oder in der Erklärung des Verteidigers in seinem Schlussvortrag, über die von seinem Mandanten eingestandenen Fälle hinaus seien bestimmte weitere Vorwürfe zutreffend, wenn der Verteidiger die Äußerung ausdrücklich für den Angeklagten abgegeben und dieser sich in seinem letzten Wort den Ausführungen seines Verteidigers angeschlossen hat7.

II. „Vertretung“ in der Einlassung Eine Art „Vertretung“ in der Wahrnehmung des Rechts auf Stellungnahme zur Anklage kennt die Strafprozessordnung nur in den Fällen, in denen der Angeklagte abwesend sein darf (§ 234 StPO8). Als die gesetzlich vorausgesetzte Form der Einlassung des in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten (§ 243 Abs. 5 Satz 2, § 136 Abs. 2 StPO) ist grundsätzlich seine mündliche Erklärung anzusehen. Lässt sich aber ein in der Hauptverhandlung anwesender Angeklagter selbst mündlich zur Sache ein, wird er mit seiner Aussage zu einem außerhalb der Beweisaufnahme gewonnenen, der richterlichen Beweiswürdigung zugänglichen, Beweismittel. Die Einlassung des Angeklagten zur Sache kann somit ein riskantes, aber auch effektives Mittel materieller Verteidigung sein. Die Verteidigung hat aber oft ein Interesse daran, die mündliche Äußerung des Angeklagten zu vermeiden und an deren Stelle eine ,,wohl formulierte" Verteidigererklärung zu setzen oder eine vorab gemeinsam ausgearbeitete, schriftliche Einlassung mit einer bestimmten Sachverhaltsdarstellung in das Verfahren einzuführen. Durch die schriftlich ausgearbeitete Erklärung bzw. Sacheinlassung verbunden mit dem Hinweis an das Gericht, dass darüber hinaus keine Fragen beantwortet werden, soll der möglicherweise rhetorisch nicht geschickte, intellektuell oder aufgrund der psychisch ungewohnt belastenden Situation überforderte

5

BGH StV 2008, 284 f. m. Anm. Beulke/Ruhmannseder StV 2008, 285 ff. BGH StraFo 2010, 71. 7 BGH Beschl. v. 23.02.2000 – 1 StR 605/99. 8 Vgl. dazu Becker aaO, § 234 Rn. 14 m. w. N. 6

Einlassung mit oder durch den Verteidiger

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Angeklagte9 vor der Befragung durch das Gericht und die Staatsanwaltschaft effektiv geschützt werden10. Die Praxis der Strafverteidigung hat deshalb, wohl aus Angst, der Angeklagte werde sich um Kopf und Kragen“ reden11, oder auch um die Angaben des Angeklagten für das Revisionsverfahren zu dokumentieren12, die “Stellvertretung“ bei der Einlassung des in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten zur Sache erheblich ausgedehnt und dadurch eine umfangreiche Diskussion ausgelöst13, was zu einer Vielzahl von Entscheidungen, auch des Bundesgerichtshofs14, geführt hat. Die schriftliche Sacheinlassung verbunden mit dem ansonsten schweigenden Angeklagten ist dabei nicht nur in der täglichen Praxis ein Dauerthema, auch die Revisionsgerichte befassen sich immer wieder damit. Von Verteidigerseite wird dabei sogar die Meinung vertreten, diese (neue) Form der Einlassung scheine von den Tatgerichten häufig als „persönliche Beleidigung" angesehen zu werden, sie nehme ihnen das scheinbar beste Beweismittel gegen den Angeklagten, nämlich das „gegen sich selbst“, und zwinge sie darüber hinaus, aus Revisionsgründen zur inhaltlich vollständigen Wiedergabe in den Urteilsgründen15. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass ein regelrechtes Wechselspiel von immer wieder neuen Verteidigungs9

Vgl. dazu Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397. Noll StRR 2008, 444 f.; Dahs NStZ 2004, 451 ff. 11 Vgl. dazu Wesemann StraFo 2001, 293, 295; Dencker in Festschrift für Fezer 2008, S. 115, 117; Eisenberg/Pincus aaO, S. 397; kritisch dazu Pfister NStZ Sonderheft Miebach 2009, S. 25, 26. 12 So z. B. Schlothauer StV 2007, 623, 624; Dencker aaO, S. 118; Voraussetzung ist aber die Verlesung der schriftlichen Einlassung als Urkunde: BGHSt 38, 14, 16; BGH StV 1993, 118; NStZ 1997, 296; NStZ-RR 2003, 52; vgl. auch Mehle in Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins 2009, 655: Schäfer Festschrift für Dahs 2005, 441, 448; vgl. auch BGH NStZ 2004, 163; NStZ 2007, 349; 2009, 282 f.; vgl. auch Becker aaO, Rn. 79 zu § 243; weicht nämlich die Darstellung der verlesenen Einlassung in den Urteilsgründen vom Text der verlesenen Erklärung ab oder enthalten die Urteilsgründe keine umfassende Würdigung der schuldspruch- oder strafzumessungsrelevanten Inhalte, kann darin ein revisibler Verstoß gegen § 261 StPO; vgl. auch BGHSt 38, 14, 16; BGH StV 1993, 118. 13 Vgl. dazu Salditt StV 1993, 442, 444, Michel MDR 1994, 648; Park StV 1998, 59 und 2001, 589 ff.: Miebach NStZ 2000, 234, 239; Wesemann StraFo 2001, 293, 294 ff.; Eisenberg/Pinkus JZ 2003, 397 ff.; Meyer-Mews JR 2003, 361 ff.; Dahs NStZ 2004,451 ff.; Geppert Festschrift für Rudolphi 2004. S. 643 ff.; Schäfer Festschrift für Dahs 2005, 441 ff.; Olk JZ 2006, 204 ff.; ders Die Abgabe von Sacherklärungen des Angeklagtem durch den Verteidiger Diss. 2006; Beulke Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer 2006 S.87 ff.; Schlothauer StV 2007, 623 ff.; Schlösser NStZ 2008, 310 ff.; Noll StRR 2008, 444 ff.; Dencker in Festschrift für Fezer 2008 S. 115 ff.; Mehle in Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins 2009, 655 ff.; Gillmeister Festschrift für Mehle 2009 S. 233 ff., Pfister NStZ Sonderheft Miebach 2009, S. 25 ff. 14 Vgl. ua NStZ 2004, 163; 2007, 349; 2008, 349; 2009, 282 f.; NStZ-RR 2008, 21; BGHSt 52, 175 ff.; zur Entwicklung der Rechtsprechung: Schäfer aaO, S. 450 ff. 15 Noll StRR 2008, 444. 10

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strategien bei den „Einlassungssurrogaten" und entsprechenden – oft ablehnenden - Reaktionen der Gerichte, vor allem auch der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, entstanden ist16.

III. Die „Sonderformen“ der Einlassung Unter den Strafverteidiger ist ersichtlich ein gravierender Wandel bei der Handhabung der Einlassung des Angeklagten im Rahmen von § 243 Abs. 5 StPO eingetreten17, wobei der Stellung des Verteidigers bei der Einlassung des Angeklagten mehr Raum gegeben wird als dies vom Gesetzgeber wohl gewollt war und von der Rechtsprechung toleriert werden kann. Es haben sich insoweit unterschiedliche Vorgehensweisen herausgebildet und zwar vor allem: (1)

der Angeklagte verliest seine mit Hilfe des Verteidigers vorbereitete schriftliche Einlassung

(2)

der Angeklagte übergibt eine schriftlichen Erklärung und beantragt bzw. regt an, diese durch das erkennende Gericht zu verlesen

(3)

der Verteidiger gibt mündlich eine Erklärung für Angeklagten ab

(4)

der Verteidiger verliest eine von ihm verfasste schriftliche Erklärung oder beantragt deren Verlesung durch das Gericht.

Nicht alle diese Vorgehensweisen sind von der Rechtsprechung akzeptiert und als der Strafprozessordnung entsprechend anerkannt worden. Der Bundesgerichtshof hat stets deutlich gemacht, dass er Versuchen entgegentritt, das strafprozessuale Grundprinzip der mündlichen Einlassung eines Angeklagten aufzuweichen und zu umgehen. (1) Der Angeklagte verliest seine mit Hilfe des Verteidigers vorbereitete schriftliche Einlassung18. Ein solches Vorgehen ist rechtlich nicht zu beanstanden19. Unerheblich ist, ob die Angaben vom Angeklagten in freier Rede vorgetragen oder von ihm verlesen werden. Dem Angeklagten darf die Verlesung jedenfalls nicht untersagt werden. Hier muss eine Parallele zu

16

Vgl. auch zur Skepsis der Gerichte: Gillmeister aaO, S. 240, 241. Dahs NStZ 2004, 452 spricht davon, die Strafverteidiger hätten insoweit einen „ungewöhnliche Ideenreichtum“ entwickelt. 18 Vgl dazu Schäfer aaO, S. 446 ff. 19 BGH NStZ 2000, 439; anders noch BGHSt 3, 368; Becker aaO, Rn. 76; Schneider KK 6. Aufl. Rn. 43 ff. jew. zu § 243 StPO; ausführlich Dencker aaO, S. 120 ff.; Schäfer aaO, S. 449; Pfister aaO, S. 26; Eisenberg/Pincus aaO, S. 399 f. 17

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letztem Wort im Rahmen von § 258 StPO gezogen werden20. Der Vorsitzende darf einem Angeklagten, der beim Schlusswort einen schriftlichen Entwurf zum Vorlesen benutzen will, das Vorlesen nicht von vornherein untersagen. Der Angeklagte hat zwar bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung, wie auch bei sonstigen Vernehmungen, seine Erklärungen, von den Ausnahmefällen des § 186 GVG (Taubheit oder Stummheit) abgesehen, nach der verfahrensrechtlichen Regelung der §§ 243 Abs. 5, 136 StPO mündlich abzugeben und darf grundsätzlich die mündlichen Erklärungen nicht durch die Vorlesung einer Verteidigungsschrift ersetzen. Aus keiner verfahrensrechtlichen Vorschrift ergibt sich aber, dass der Angeklagte seine Ausführungen zum letzten Wort nur in freier Rede machen dürfe. Selbst dem Anklagevertreter und dem Verteidiger steht es unbestritten frei, ihre Schlussvorträge schriftlich auszuarbeiten und die Entwürfe in der Hauptverhandlung zu benutzen21. Was aber für das letzte Wort als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör Geltung hat, darf für die Einlassung, die ebenfalls das rechtliche Gehör gewährleisten soll, nicht anders beurteilt werden. Ob sich Angeklagte des Verteidigers bei seiner Einlassung nur als Schreibhilfe bedient hat oder ob die Einlassung auf einer Absprache zwischen dem Verteidiger und dem Angeklagten beruht, ist für die Zulässigkeit des Vorgehens ohne Bedeutung. Die Angaben selbst sind deshalb zu werten als Einlassung des Angeklagten im Rahmen von § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO, ihr Beweiswert ist aber problematisch22, denn es steht nicht fest, von wem die Erklärung tatsächlich stammt, das gilt vor allem wenn keine Fragen zugelassen werden. Das Vorgehen bringt im Übrigen dem Angeklagter nicht nur Vorteile. Dieses Prozessverhalten kann sich nämlich auch negativ für den Angeklagten auswirken. Es kann insoweit von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Angeklagter zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen Angaben macht und insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen unterlässt (sog. Teilschweigen23). Daraus dürfen unter Umständen für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden. denn das Schweigen kann einen negativen Bestandteil seiner Aussage bilden, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO unterliegt24. 20

BGHSt 3, 368 zum letzten Wort gemäß § 258 StPO. BGHSt 3, 368. 22 Becker aaO, Rn. 77 zu § 243. 23 BGHSt 45, 367 ff.: BGH NStZ 1999, 47; 2003, 45 f.; auch Widmaier JR 2004, 85 f; Volk NStZ 1984, 377 f; Jäger JR 2003, 166 f.; Aselmann JR 2001, 80 ff.; Park StV 2001, 589, 590 f.; Meyer-Mews JR 2003, 361, 363 ff.; Richter StV 1994, 687 ff.: Miebach NStZ 2000, 234 ff.; Volk NStZ 1984, 377 ff.; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 7. 10. 2008 – 2 BvR 1494/08. 24 BGH NStZ 2000, 494 f.; StV 2002, 409 f. m. Anm. Jäger JR 2003, 166 f.; Widmaier JR 2004, 85 f. 21

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(2) Der Angeklagte oder der Verteidiger übergeben eine schriftliche Erklärung des Angeklagten dem Gericht mit dem Antrag oder der Anregung, diese zu verlesen25 Anfänglich hat der Bundesgerichtshof immer wieder betont, dass in Fällen, in denen der Angeklagte sich zur Sache äußern will, er dies mündlich muss tun26. Diese Meinung hat er aber in dieser Schärfe nicht mehr aufrechterhalten. Schriftliche Erklärungen, die der Angeklagte im anhängigen Verfahren zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgibt, sind nunmehr auch seiner Meinung nach verlesbar, selbst wenn der Angeklagte später Angaben verweigert. Das Gesetz lässt nämlich dort den Urkundenbeweis zu, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt; ein solches Verbot besteht für Erklärungen des Angeklagten nicht27. Seine Erklärung kann somit im Wege des Urkundenbeweises verlesen werden, aber nicht durch den Verteidiger, sondern durch das Gericht. Die Verlesung durch den Verteidiger genügt nicht, um den Beweiswert einer Urkunde zu schaffen. Die vom Gericht nicht angeordnete Verlesung einer Einlassung des Angeklagten zur Sache durch seinen Verteidiger wird mangels Beweiserhebung über den Wortlaut der Erklärung nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung; vielmehr wird Gegenstand der Hauptverhandlung lediglich der mündliche Vortrag des Verteidigers und die zustimmende Erklärung des Angeklagten28. Wenn sich ein Angeklagte bei seiner (geständigen) Einlassung in der Hauptverhandlung der Hilfe seines Verteidigers in der Form bedient, dass der Verteidiger mit seinem Einverständnis oder seiner Billigung für ihn eine schriftlich vorbereitete Erklärung abgibt und diese sodann vom Gericht – ohne prozessuale Verpflichtung - entgegengenommen und als Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wird, ist sie dadurch auch nicht zum Bestandteil des Hauptverhandlungsprotokolls geworden. Die Strafprozessordnung verbietet zwar nicht, in einem Schriftstück festgehaltene Äußerung des Angeklagten im Wege des Urkundenbeweises zu verwerten, das Tatgericht ist aber nach der nicht unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich nicht verpflichtet, die schriftliche Einlassung eines Angeklagten als Urkunde zu verlesen, da seine mündliche Vernehmung grundsätzlich nicht durch die Verlesung einer schriftlichen Erklärung durch das Gericht ersetzt werden kann29, da nach der Rechtsprechung die Vernehmung eines Angeklagten zur Sache grundsätzlich durch mündliche Befragung und mündliche Antworten erfolgen 25

Vgl. dazu Becker aaO, Rn. 79 ff. zu § 243. Vgl ua BGH NJW 1994, 2904, 2906; NStZ 2000, 439. 27 BGHSt 20, 161 ff.; 39, 305 ff. 28 BGH StV 2007, 621. 29 BGH NStZ 2004, 392; StV 2007, 621; 2007, 622 f.; vgl dazu Schlothauer StV 2007, 623 ff.; Schlösser NStZ 2008, 310 ff.; Pfister aaO, S. 27; Mehle aaO, S. 655, 660 ff. 26

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soll30. Nach den Umständen des Falles kann aber die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), deren Inhalt und Umfang sich nicht allein nach dem Prozessverhalten des Angeklagten richten darf, die Verlesung eines solchen Schreibens im Hinblick auf seinen Inhalt gebieten31. Das kann vor allem in Betracht kommen, wenn es sich um die erste Äußerung des Angeklagten zum Tatvorwurf handelt, ein Geständnis enthält oder in relevanter Weise frühere Einlassungen ergänzt oder von ihnen abweicht. Eine Einlassung wird wohl auch – abgesehen von der auch auf dem Gebot der Wahrheitsfindung beruhenden Aufklärungspflicht - verlesen werden müssen, wenn besondere Umstände, etwa Sprachfehler, Sprachhemmungen, ein deutlich unterdurchschnittlicher Intellekt oder eine Minderbegabung des Angeklagten diesen am eigenen, mündlichen Vortrag hindern oder ihn wesentlich beeinträchtigen würden32. Da die gesetzlich vorgesehene Form der Einlassung des Angeklagten (§ 243 Abs. 5 Satz 2, § 136 Abs.2 StPO) nicht dadurch umgangen werden kann, dass dieser seine Stellungnahme zur Anklage in einem Schreiben an das Gericht niederlegt und nach dessen Eingang einen Antrag auf Verlesung des Wortlauts im Urkundsbeweis stellt, kann das Tatgericht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch einen Beweisantrag mit der Beweisbehauptung, der Angeklagte habe sich in einem Schriftstück in einer bestimmten Weise zum Tatvorwurf geäußert, ablehnen. Der Beweisantrag betrifft nach der – nicht unbestrittenen33 - Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für sich grundsätzlich keine für die Entscheidung über den Schuldspruch oder Rechtsfolgenausspruch relevante Beweistatsache, die im formellen Strengbeweis aufzuklären ist. Anders liegt es nur, wenn gerade der Inhalt des Schriftstückes an sich als Beweisgrundlage für den Urteilsspruch heranzuziehen ist34. Eine Verlesung nach § 254 StPO scheidet aus35. Die schriftliche Einlassung eines Angeklagten, der sich nur durch einen vom Verteidiger verlesenen Schriftsatz erklärt und Nachfragen nicht zugelassen hat, darf aber ein nur erheblich geminderten Beweiswert zugemessen werden. Denn in einem solchen Fall ist die Einlassung des Angeklagten nur bedingt einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich, da mangels Möglichkeit von Nachfragen nur eingeschränkt nachgeprüft werden kann, ob die verlesenen Angaben auf einem tatsächlichen Geschehen basieren. Dazu kommt, dass sich ein unmittelbarer Eindruck des Aussageverhaltens, insbesondere 30

BGH NStZ 2004, 163; StV 2007, 621; BGHSt 52, 175 ff. BGH StV 2001, 548 f.; BGHSt 52, 175 ff.; Schlothauer StV 2007, 623 ff.; ders. NStZ 2008, 310 ff.; Eisenberg/Pincus aaO, S. 399, 400. 32 BGH NStZ 2008, 349 f. 33 Vgl. Mehle aaO, S. 660 ff. 34 BGHSt 52, 175 ff.; vgl dazu Mosbacher JuS 2009, 124 f. 35 BGH StV 2009, 454. 31

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vom Sprachfluss und der begleitenden Körpersprache, nicht gewonnen werden kann36. Zu beachten ist bei den Vorgehensweisen auch, dass aus der Sicht des Gerichts das Gewicht der Einlassung erheblich gemindert ist, wenn diese offensichtlich vom Verteidiger stammt. Dazu kommt auch hier in den Fällen, in denen Fragen nicht zugelassen werden, dass sich das Problem des „Teilschweigens“ bei der Beweiswürdigung durch das Tatgericht stellt. Entsprechendes kann gelten, wenn er zwar nicht die Beantwortung an ihn gestellter Fragen verweigert, jedoch zu dem ihm vorgeworfenen Geschehen von sich aus nur lückenhafte Angaben macht. Auch dann dürfen grundsätzlich für ihn nachteilige Schlüsse daraus gezogen werden, dass er einen bestimmten Punkt eines einheitlichen Geschehens von sich aus verschweigt. Die Schlussfolgerung ist jedoch nur dann berechtigt, wenn nach den Umständen Angaben zu diesem Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natur sind37. Die Verteidigung wird auch zu beachten haben, falls sie die schriftliche Einlassung gewählt hat, um diese für das Revisionsverfahren zu dokumentieren, dass in Fällen, in denen der Angeklagte entgegen § 261 StPO seine schriftliche Einlassung durch den Tatrichter unzureichend gewürdigt sieht, die zulässige Erhebung einer Verfahrensrüge (neben der Mitteilung des Einlassungsinhalts) voraussetzt, dass dargetan wird, in welcher Weise die Einlassung in der Hauptverhandlung Verwendung gefunden hat, insbesondere ob und durch wen das Schriftstück verlesen worden ist. Ansonsten ist das Revisionsgericht nicht in der Lage zu prüfen, ob der Wortlaut der Einlassung zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden ist. Weiter ist auszuführen, inwieweit die Würdigung der Einlassung vermisst wird; eine pauschale Darstellung reicht insofern nicht38. (3) Der Verteidiger gibt für Angeklagten eine Erklärung ab: Die Vernehmung des Angeklagten zur Sache erfolgt – wie dargelegt – an sich grundsätzlich persönlich und mündlich39. Er darf er aber auch seinen Verteidiger damit betrauen, sich für ihn zur Sache zu äußern. Dieser kann den Angeklagten wegen des höchstpersönlichen Charakters der Einlassung 36

BGH StV 2008, 126, 127 f. BGH StV 2002, 409. 38 BGH NStZ 2004, 163 f.; für den Fall eines Widerspruch zwischen Urteilsgründen und Hauptverhandlungsprotokoll hinsichtlich der Einlassung des Angeklagten zur Sache BGH StV 2008, 235 f. 39 BGH NStZ 2000, 439; 2004, 163; 392; 2008, 349 f. m. Anm. Schlösser NStZ 2008, 310; Schlothauer StV 2007, 622; zur Entstehungsgeschichte des jetzigen § 243 Abs. 5 StPO vgl. Olk Die Abgabe von Sacherklärungen des Angeklagtem durch den Verteidiger Diss. 2006, S. 91 unter Hinweis auf Hahn, Die gesamten Materialen zu den Reichs-Justizgesetzen Abt. 1. 37

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jedoch nicht in dem Sinne in der Willensbildung vertreten, dass er für ihn auch entscheidet, welchen Inhalt die Erklärung haben soll. Der Verteidiger ist vielmehr nur befugt, für den Angeklagten die Erklärung abzugeben, sie also für seinen Mandanten dem Gericht zu übermitteln40. Erklärungen des Verteidigers in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten, der selbst keine Erklärung zur Sache abgibt, können auch nicht ohne weiteres als Einlassung des Angeklagten verwertet werden. Die Verwertbarkeit setzt vielmehr voraus, dass der Angeklagte den Verteidiger zu dieser Erklärung ausdrücklich bevollmächtigt oder die Erklärung nachträglich genehmigt hat41. Gibt somit der Verteidiger eine Sacherklärung ab, ist dieser vom Vorsitzenden zu befragen, ob die von ihm abgegebene Erklärung als Einlassung des Angeklagten anzusehen ist. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Erklärung in diesem Fall zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht wird. Verneint der Verteidiger oder widerspricht der Angeklagte, so darf die Erklärung nicht als Beweismittel verwertet werden. Außerdem muss der Angeklagte entweder durch ausdrückliche Erklärung oder durch Äußerungen, die jeden Zweifel hieran ausschließen, zum Ausdruck bringen, dass er die Angaben des Verteidigers als seine eigene Einlassung verstanden wissen will. Eine in Gegenwart des Angeklagten vom Verteidiger in der Hauptverhandlung abgegebene Erklärung, sein Mandant trete der Anklage nicht entgegen, ist auch dann wohl nicht als Einlassung zu werten, wenn der Angeklagte zwar seinem Verteidiger "in keiner Weise widersprochen" hat, später aber erklärt, sein Verteidiger habe die fragliche Erklärung "aus pragmatischen Gründen" abgegeben42. Das Gericht ist nicht verpflichtet, den über sein Schweigerecht ordnungsgemäß belehrten Angeklagten vorab qualifiziert über die prozessualen Konsequenzen einer Zustimmung zu der durch seinen Verteidiger abgegebenen Erklärung, in der eine Sacheinlassung zu sehen ist, aufzuklären, wenn er sich im weiteren Prozessverlauf wiederholt zur Sache einlässt und damit zeigt, dass er von seinem Schweigerecht keinen Gebrauch machen will43. Ob die Förmlichkeiten im Zusammenhang mit der Genehmigung/ Billigung der Erklärung zur Sache durch den Verteidiger eingehalten sind, kann nur durch das Sitzungsprotokoll nachgewiesen werden. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist aber teilweise nicht sehr konsequent, sie lässt auch eine „stillschweigende“ Zustimmung genügen44. 40

Becker aaO, Rn. 74 zu § 243. BGH StV 2005, 536 m. Anm. Olk JZ 2006, 204 ff.; StV 1998, 59 m. Anm. Park; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 7. 10. 2008 - 2 BvR 1494/08; anders und zu weitgehend: BGH StV 1994, 468; 1998, 59. 42 BGH NStZ 2006, 408 f. 43 BVerfG Beschl. v. 7. 10. 2008 - 2 BvR 1494/08. 44 BGH StV 1998, 59. 41

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(4) Der Verteidiger verliest eine schriftliche Erklärung zur Sache Schriftsätzliche Ausführungen des Verteidigers, in denen er Angaben des Angeklagten wiedergibt, sind in aller Regel nicht als schriftliche Erklärung des Angeklagten verlesbar. In Betracht kommt die Vernehmung des Verteidigers als Zeuge, wenn es um die Feststellung geht, ob der Angeklagte das schriftlich Niedergelegte geäußert hat45. Denn wenn der Angeklagte sich gegenüber einer anderen Person geäußert und diese die Äußerung schriftlich festgehalten hat, so handelt es sich bei der Wiedergabe um die Erklärung eines Zeugen vom Hörensagen, der niedergeschrieben hat, was er als Äußerung des Angeklagten zur Kenntnis genommen hat. Geht es um die Feststellung, ob der Angeklagte das schriftlich Niedergelegte geäußert hat, so ist die niederschreibende Person über ihre Wahrnehmung bei der Unterredung mit dem Angeklagten als Zeuge vom Hörensagen zu vernehmen46. Nichts anderes gilt, wenn die niederschreibende Person der Verteidiger ist. Um Vertretung (§ 234 StPO) handelte es sich hier nicht. Anders kann es sein, wenn der Angeklagte sich des Verteidigers nur als Schreibhilfe bedient hat47. Wenn das Tatgericht eine schriftliche Erklärung des Angeklagten durch seinen Verteidiger verlesen lassen und - prozessordnungswidrig - als Protokollanlage entgegengenommen hat, muss es die Angaben dann als Einlassung auch in den Urteilsgründen dokumentieren. Die Abgabe der schriftlich vorbereiteten Erklärung ändert nichts daran, dass sich der Angeklagte damit mündlich geäußert und das Gericht den Inhalt dieser Äußerung in den Urteilsgründen festzustellen hat48. Zu den hier erfassten Schriftsätzen des Verteidigers gehören jedoch nicht allgemeine Äußerungen des Verteidigers, die Anträge und sonstige Prozesserklärungen beinhalten49 oder Tatsachenbehauptungen in Beweisanträgen50.

45

BGHSt 39, 305 f.; BGH StV 1994, 468; 2002, 182. BGHSt 17, 383, 384 ff.; BGH NStZ–RR 2002, 176; NStZ 1994, 502; vgl auch dazu Detter NStZ 2003, 1 ff. 47 BGHSt 39, 305,307. 48 BGH NStZ 2009,145 f.; 282 f. 49 BGH NStZ-RR 2008, 21. 50 BGH NStZ 1990, 447; 2000, 495 f.; vgl. auch Becker aaO Rn. 75 zu § 243, vor allem Fn. 241. 46

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IV. Bedenken gegen eine Einlassung mit oder über den Verteidiger Die neuen Arten von Einlassungen durch oder über den Verteidiger, wie sie oben dargestellt sind, werfen für das Strafverfahren nicht unerhebliche Probleme auf. Es fragt sich, ob sich bei diesem Vorgehen tatsächlich die Erwartungen auf Seiten der Verteidigung für den Angeklagten bei einer „kontrollierten“ Einlassung erfüllen. Wesentlich für die Beurteilung muss dabei Sinn und Zweck der Einlassung eines Angeklagten sowie deren Bedeutung im Strafverfahren sein. Mit der Einlassung werden Weichen für das gesamte weitere Verfahren gestellt51. Die Verteidigung wird insoweit meist dem erkennenden Gericht eine überzeugende Erklärung zur Sache präsentieren wollen52. Die Sacheinlassung eines Angeklagten selbst ist Teil der Beweisaufnahme im materiellen Sinn, weil sie den Umfang der durchzuführenden formellen Beweisaufnahme bestimmt. Sie ist aber kein Beweismittel im technischen Sinn53. Der Einlassung kommt jedoch unter dem Aspekt der Sachaufklärung erhebliche Bedeutung für den weiteren Gang der Hauptverhandlung zu; insbesondere kann ein glaubhaftes Geständnis eine Beweisaufnahme völlig oder in Teilen überflüssig machen. Andererseits kommt einer widerlegten Einlassung allein nur ein begrenzter Beweiswert für die Täterschaft zu, weil auch ein Unschuldiger vor Gericht Zuflucht zur Lüge nehmen kann54. Aus den unrichtigen Angaben des Angeklagten allein darf ebenso wenig ein sicherer Schluss auf die Täterschaft gezogen werden wie bei einem misslungenen Alibibeweis. Insbesondere muss sich das Tatgericht bei der Beweiswürdigung bewusst sein, dass eine wissentlich falsche Einlassung des Angeklagten ihren Grund nicht nur darin haben kann, dass er die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat und nur seine Täterschaft verbergen will, sondern sich oft auch eine andere Erklärung finden kann55. Soll die nachgewiesene Lüge als Belastungsindiz dienen, setzt dies die Feststellung voraus, dass eine andere Erklärung nicht in Betracht kommt oder den Umständen nach fern liegt56. Eine Einlassung des Angeklagten darf aber auch nicht kritiklos gefolgt werden, entlastende Angaben des Angeklagten, für die keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen, und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, dürfen 51 Teilweise wird ihr sogar eine Art „Schlüsselfunktion“ zugewiesen: Eisenberg/Pincus aaO S. 397. 52 Schäfer Festschrift für Dahs 2005 S. 441, 444. 53 BGHSt 52, 175,178 (Rn.16). 54 BGHSt 41, 153 ff. BGH NStZ 1986, 325; StV 1985, 356 f.: BGH StV 2001, 439 ; 1985, 356; 1994, 175 55 vgl dazu ua Meyer-Mews JR 2003, 361, 364 f. m. w. Nachw. 56 BGHSt 41, 153 ff.

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nicht im Hinblick auf den Zweifelssatz der Entscheidung zugrunde gelegt werden57, andererseits darf das Fehlen einer Einlassung oder deren Widerlegung nicht strafschärfend gewertet werden58. Das Recht des Angeklagten, zu schweigen, verbietet es dabei nicht nur, aus einem vollständigen Schweigen zum Tatvorwurf, sondern auch aus einer unterschiedlichen Ausübung des Aussageverweigerungsrechts während verschiedener Verfahrensstadien oder Vernehmungen Schlüsse zum Nachteil des Angeklagten zu ziehen, weil anderenfalls sein Recht, nicht zur Sache auszusagen, eingeschränkt würde. Von daher darf das Tatgericht selbst bei einer erfolgten Sachäußerung im Rahmen der polizeilichen Festnahme keine nachteiligen Schlüsse für den Angeklagten aus einem späteren uneingeschränkten Schweigen im Rahmen einer richterlichen Vernehmung ziehen59. Lässt sich ein Angeklagter aber nur zu bestimmten (Anklage-) Punkten ein und schweigt im Übrigen, darf dies bei der Beweiswürdigung mitberücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann es nämlich von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Angeklagter zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen Angaben macht und insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen unterlässt. Das Schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO unterliegt60. Entsprechendes kann gelten, wenn er zwar nicht die Beantwortung an ihn gestellter Fragen verweigert, von sich aus jedoch zu einem Geschehen nur lückenhafte Angaben macht. Auch dann dürfen grundsätzlich für ihn nachteilige Schlüsse daraus gezogen werden, dass er einen bestimmten Punkt eines einheitlichen Geschehens von sich aus verschweigt. Die Schlussfolgerung ist jedoch nur dann berechtigt, wenn nach den Umständen Angaben zu diesem Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natur sind61. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist die Einlassung eines die Tatvorwürfe bestreitenden Angeklagten, die nur über oder durch die Verteidigung erfolgt und bei der keine Fragen zugelassen werden, vom Gehalt und der prozessualen Bedeutung her massiv entwertet. Der Bundesgerichtshof hat insoweit ausdrücklich für zulässig erachtet, der schriftlichen 57 Vgl. dazu BVerfG, Beschl. vom 8. November 2006 - 2 BvR 1378/06; BGHSt 34, 29,34; BGH NStZ-RR 2003, 371; 2009, 90; NStZ 2004, 35, 36; 2008, 510; 646; 2009, 29; 226; NStZRR 2010, 85 ff.; NJW 2007, 2274; BGH Urt. v. 8. 4. 2009 - 5 StR 65/09; vgl. auch Nack GA 2009, 201, 206 (zur Problematik der Schuldfähigkeit). 58 Kammergericht VRS 114, 444 f. 59 BGH NStZ 1999, 47. 60 Vgl. oben Fn 23 und 24. 61 BGHSt 20, 298 ff.; BGH StV 2002, 409.

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Einlassung eines Angeklagten, der sich nur durch einen vom Verteidiger verlesenen Schriftsatz erklärt und Nachfragen nicht zugelassen hat, einen nur erheblich geminderten Beweiswert zuzumessen62. Zwar wird auch durch eine solche Einlassung dem Erfordernis der Eingrenzung des Prozessstoffes wohl genüge getan, ansonsten kommt dem Vorbringen, vor allem wenn daraus für den Angeklagten günstige Schlüsse gezogen werden sollten, kaum wesentliches Gewicht zu, da völlig offen bleibt, ob die Angaben die tatsächliche Einstellung des Angeklagten zu den Anklagevorwürfen wiedergibt. Einer Einlassung kommt zusätzlich auch dann geringeres Gewicht zu, wenn es sich nicht um eine eigentliche, mündlich vor Gericht abgegebene Aussage, sondern um eine schriftliche Verteidigererklärung handelte, die erst im Laufe der Hauptverhandlung in Kenntnis des wesentlichen Teils des Beweisergebnisses abgegeben worden ist und die sich der Angeklagte lediglich als Einlassung zu eigen macht63. Soweit in ihr entlastende Angaben enthalten sind, wird sie das Tatgericht normalerweise nicht ungeprüft seiner Entscheidung zugrunde legen. Auch falls der Angeklagte mit seiner Einlassung ein Geständnis abgeben will, ist die Wahl einer der „Sonderformen“ nicht unproblematisch. Ganz wesentlich ist dabei die Überlegung, wann und wie64 der Angeklagte ein Geständnis ablegt. Dabei ist von besonderer Bedeutung, welcher Stellenwert einem Geständnis im gegenständlichen Strafverfahren zukommt65. Ein Geständnis ist zwar grundsätzlich geeignet, Gewicht als strafmildernder Gesichtspunkt zu erlangen, auch wenn seine strafmildernde Wirkung gemindert sein kann, z.B. falls es auf prozesstaktischen Erwägungen beruht66. Es muss nicht strafmildernd gewertet werden, wenn es ersichtlich nicht aus einem echten Reue- und Schuldgefühl heraus abgelegt ist, sondern auf erdrückenden Beweisen beruht67. Wenn ein Geständnis in Betracht kommt, sei es aus Überzeugung, sei es, weil die Beweise erdrückend sind, dann muss es so früh wie möglich abgelegt werden, ansonsten ist es als ein wesentlicher Strafmilderungsgrund entwertet. Falls eine – geständige - Einlassung zur Sache, insbesondere Angaben auch zu in Betracht kommenden Strafzumessungserwägungen gemacht werden sollen, macht es oft keinen Sinn, die vom Gesetzgeber als höchstpersönliche und mündliche Erklärung 62

BGH StV 2008, 126 f.; dagegen Gillmeister aaO, S. 241. BGH NStZ 2003, 498,499 m. Anm. Dahs NStZ 2004, 451 ff. 64 Gillmeister aaO meint, in diesem Fall sei den Gerichten „jede Vortragsform“, vor allem durch den Verteidiger, S. 233, 249 f. willkommen oder oft zumindest im Hinblick auf die Person des Angeklagten ausdrücklich erwünscht. 65 Vgl. dazu Lammers StraFo 1999, 366 ff. 66 BGHSt 42, 191, 194/195. ausführlich Eschelbach in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB § 46 Rn. 125 ff. 67 BGHR StGB § 213 2. Alt. Gesamtwürdigung 2. 63

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gewollte Stellungnahme des Angeklagten in ihrer Substanz völlig umzugestalten und zu „entpersonifizieren“, indem eine vom Verteidiger vorgefertigte Erklärung als Geständnis gelten soll. Legt der Angeklagte ein Geständnis ab, so soll er dies nach dem Willen des Gesetzgebers nämlich im Grundsatz mit eigenen Worten tun (vgl. auch RiStBV Nr. 45 Abs. 2), gegebenenfalls ergänzt durch Erklärungen seines Verteidigers68. Möglich ist zwar, wie oben aufgezeigt, auch eine vom Verteidiger vorformulierte, vom Angeklagten lediglich pauschal übernommene Erklärung. Allerdings bedürfen von Dritten für den Angeklagten vorformulierte und von diesen nur summarisch bestätigte Geständnisse generell besonders kritischer Betrachtung hinsichtlich ihrer Substanz, ihrer Übereinstimmung mit dem Ermittlungsergebnis sowie dahingehend, ob sie wirklich als von dem jeweiligen Angeklagten stammend, als von diesem akzeptiert, angesehen werden können69. Auch insoweit gilt jedoch der Grundsatz der freien richterlichen Überzeugungsbildung. Bei einem Geständnis wird es aus der Sicht der Verteidigung deshalb häufig notwendig sein, zu überlegen, ob es tatsächlich ausschließlich schriftsätzlich niedergelegt, vom Angeklagten oder vom Verteidiger verlesen wird, um Missverständnisse zu vermeiden. Es ist sicherlich eine wichtige Aufgabe der Verteidigung, die Einlassung des Angeklagten kritisch zu überwachen und einzugreifen, wenn sich Ungenauigkeiten oder auch Missverständnisse zeigen. Der Angeklagte sollte sich deshalb zum Beispiel nicht selbst äußern, wenn er sprachlich nicht gewandt genug ist. Er kann in solchen Fällen Erklärungen, und damit auch Geständnisse, stellvertretend durch seinen Verteidiger abgeben. Das sollte aber gerade bei Geständnissen nicht der Normalfall sein, da hier der persönliche Eindruck vom Angeklagten von besonderer Bedeutung ist. Zu beachten ist dabei auch, dass das Geständnis gerade in Strafsachen, in denen der Opferschutz eine wesentliche Rolle spielt70, erhebliche strafmildernde Auswirkungen haben kann, denn „der Umgang mit dem Tatopfer“ wird nicht geringe Auswirkungen auf das Strafmaß haben. Zwar darf der „Opferschutz“ nicht immer vorrangig den Angeklagten zu einem Geständnis bewegen. Prozessverhalten, mit dem der - die Tat bestreitende - Angeklagte, ohne die Grenzen zulässiger Verteidigung zu überschreiten, den ihm drohenden Schuldspruch abzuwenden versucht, darf nämlich grundsätzlich nicht straferschwerend berücksichtigt werden71. Die Grenzen der zulässigen Verteidigung sind aber fließend, insbesondere wenn es um die Glaubwür68

BGHSt 52, 82. Eschelbach aaO, § 46 Rn. 130. 70 Vgl. dazu BGH NStZ 2005, 579 f.; NJW 2005, 1519 f.; BGH Beschl. v. 13. 5. 2009 – 1 StR 209/09. 71 BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 14; BGH NJW 2005, 1519. 69

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digkeit von Zeugen und damit vor allem um Angriffe gegen die Person des Tatopfers bei Sexualdelikten geht (vgl. auch § 68 a StPO). Gerade um dem Tatopfer eine Konfrontation mit dem Angeklagten zu ersparen, kommt dem Geständnis in diesem Bereich nicht unerhebliche Bedeutung zu. In diesen Fällen kann es tatsächlich wegen der persönlichen Beziehung zwischen Angeklagtem und Tatopfer manchmal aber auch geboten sein, von den Möglichkeiten einer „Vertretung“ bei der Äußerung zur Sache Gebrauch zu machen. Ansonsten bestehen jedoch nicht geringe Zweifel an der Effektivität der zwischenzeitlich in diesen Verfahren zum Handwerkszeug der meisten Strafverteidiger gehörenden „Sonderformen“ einer Einlassung des Angeklagten auch bei einem Geständnis. Denn es kann gerade aus der Sicht des Tatopfers geboten sein, dass der Angeklagte sich selbst, und nicht sein Verteidiger, in der Hauptverhandlung zur Tat mit eigenen Worten bekennt, um so dem Tatopfer zu zeigen, dass tatsächlich eine Schuldeinsicht beim ihm vorliegt und nicht nur eine – oft floskelhafte - Erklärung aus prozesstaktischen Gründen vorgeschoben wird, die nicht geeignet ist, dem Tatopfer die notwendige Genugtuung zu verschaffen. Oft wird sogar in diesen Fällen, bei denen zum Beispiel der vertypte Milderungsgrund des Täter-OpferAusgleich nach § 46 a StGB angestrebt wird, einem mündlichen Geständnis des Angeklagten besondere Wirkung zu kommen, vor allem wenn es überzeugend vorgetragenen wird72. Dies hängt aber mit der Sache selbst und vor allem mit der Persönlichkeit des Angeklagten zusammen. Es sind aber auch in diesem Bereich Fälle denkbar, bei denen es angebracht und meist nicht nachteilig für die Verteidigung ist, von den „Sonderformen“ der Einlassung Gebrauch zu machen, weil das Tatopfer dies wünscht, und somit eine schriftlich fixiertes, vom Angeklagten selbst vorgelesenes oder vom Verteidiger vorgetragenes Geständnis ausreicht. Insoweit könnten dann ausnahmsweise bei einem Geständnis die “Sonderformen“ der Einlassung tatsächlich verfahrensrechtlich angebracht sein. Gegen die Zulassung der „Sonderformen“ der Einlassung eines Angeklagten dürften dann kaum Bedenken bestehen, wenn im Rahmen einer Verständigung der Angeklagte (meist geständige73) Angaben zur Sache74 machen soll, die dann absprachegemäß dem Urteil zugrunde gelegt werden sollen. Hier ist oft eine mit dem Verteidiger abgesprochene, vielleicht auch schon schriftlich fixierte Erklärung sachgerecht, um „Überraschungen“ zu vermeiden. Vor allem bei einem auf einer Verständigung beruhenden Ges-

72

Vgl dazu BGHSt 48,134, zuletzt BGH NStZ 2010, 82 f. Vgl § 257 c Abs. 2 Satz 2 StPO nF. 74 Zu Geständnis und Absprache: Salditt in Festschrift für Widmaier 2008, S. 545 ff. 73

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Klaus Detter

tändnis75 bietet sich deshalb an, diese Angaben vom Angeklagten (ausnahmsweise) verlesen oder auch im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung einführen zu lassen. Dabei müssen aber auch Geständnisse, die auf Verfahrensabsprachen beruhen, so gestaltet sein, dass sie in ihren Grundlagen und ihrer Darstellung in den Urteilsgründen den allgemeinen Anforderungen an eine sachgerechte Beweiswürdigung genügen76. Ein Schluss auf die allgemeine Gebotenheit de Heranziehung der Sonderformen lässt sich aber auch bei einer Verständigung wegen der prozessualen Besonderheiten nicht ableiten. Nicht unberücksichtigt darf hier bleiben, dass das strafmildernde Gewicht eines Geständnisses, das im Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache abgegeben worden ist, dann geringer sein kann, wenn es allein auf dem Einfluß der Verteidigung beruht, wenn überwiegend prozesstaktische Überlegungen bestimmend waren und das Tatgericht dies durch das in den Urteilsgründen dargelegte sonstige Prozessverhalten bestätigt sieht77.

V. Resümee Im Ergebnis schwächen die neuen Arten der Einlassung des Angeklagten in den meisten Fällen deren Gewicht bei der Entscheidung über Schuld und Strafe, obwohl das Recht des Angeklagten auf Äußerung zur Sache nach § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO an sich als ein für den Angeklagten günstiges Instrument der Verteidigung gedacht war. Angesichts der Bedeutung der Einlassung im Strafverfahren erscheint die heftige Auseinandersetzung über Sonderformen der Sacheinlassung des Angeklagten deshalb kaum nachvollziehbar und die Meinung von Becker78, es handle sich bei den Problemen im Zusammenhang mit den „Sonderformen“ der Einlassung um einen „Sturm im Wasserglas”, ist nicht von der Hand zu weisen. Denn bei genauer Betrachtung überwiegen die einem Angeklagten bei einer „Stellvertretung“ bei der Einlassung entstehenden Nachteile nicht unerheblich die möglichen Vorteile. Vielleicht sollten sich deshalb pflichtbewusste Strafverteidiger zu Herzen nehmen, was ihnen Pfister79 bei einem Symposium ins Stammbuch geschrieben hat: „Die neuen Formen der Einlassung bringen dem Angeklagten in der Tatsacheninstanz nicht viel, im Revisionsverfahren wohl gar 75 Vgl. dazu ausführlich Niemöller/Schlothauer/Weider - Gesetz zur Verständigung in Strafverfahren 2010 Teil II § 257 c Rn. 89 ff. 76 BGHSt 50, 40, 49; BGHSt 52, 78 ff. m. Anm. Schmitz NJW 2008, 1751 f.; Stübinger JZ 2008, 798 ff. 77 BGH Beschl. v. 8. 5. 2007 - 1 StR 193/07. 78 aaO § 243 Rn. 73. 79 aaO S. 29.

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nichts“. Angesichts der doch zwischenzeitlich sehr eindeutig distanzierten Haltung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs zu den „Einlassungssurrogaten“ dürfte sich auch der schon im Jahr 2004 von Dahs80 geäußerte Wunsch nach einer Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen nicht erfüllen. Für den Angeklagten und seinen Verteidiger bleibt weiterhin ein nicht unerhebliches prozessuales Risiko bei der Inanspruchnahme der „Einlassungssurrogate“. Die Strafprozessordnung gewährt nach Sinn und Zweck der Regelung des § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO dem Angeklagte kein uneingeschränktes Recht, sich in einer selbstbestimmten Form zur Sache zu äußern.

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NStZ 2004, 452.

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Die Entwicklung des Beweisrechts verläuft historisch in Sinuskurven zwischen Formalisierung und Freiheit der Beweiswürdigung.1 Wenn es zutrifft, dass der Grad des Vorstellungsvermögens von Juristen darüber, dass und warum Geständnisse von Beschuldigten falsch sein können, Auskunft über den Entwicklungsstand einer Rechtsordnung gibt,2 dann hat das Strafprozessrecht derzeit einen Tiefpunkt erreicht. Auch deshalb ist es zu begrüßen, dass die Jubilarin nach langer Strafrechtspraxis nun ihren Erfahrungsschatz verstärkt der Ausbildung junger Juristen zur Verfügung stellt. Die folgende Kurzdarstellung von Geständnisproblemen mag zu Vertiefungen anregen.

I. Fehlerquellenforschung Ein Beispielsfall für das Problemfeld sieht wie folgt aus: Der minderbegabte Klaus B. hatte sich als Voyeur betätigt. Er geriet in dem von regem Medieninteresse begleiteten Fall3 eines Doppelmordes an Mutter und Tochter in einer Villa in Mainz ins Visier der Fahnder, nachdem sich drei „Mörder“ gemeldet und aus Renommiersucht falsche Geständnisse abgelegt hatten. Auch in andere Richtungen hätte der Verdacht gelenkt werden können, etwa weil die ermordete Schülerin mit der Drogenszene Kontakt gehabt hatte oder weil der zur Tatzeit abwesende Familienvater in riskante Geschäfte verwickelt gewesen war. Aber das Verfahren4 befasste sich nach 1

Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2008, S. 17, 19 ff. Hussmann, Das falsche Geständnis, 1935, S. 12. 3 Dazu Karl Peters, Justiz als Schicksal. Ein Plädoyer für die „andere Seite“, 1979, S. 92 ff. und ders., Strafprozess, 4. Aufl., S. 2 ff.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1983, S. 361 ff. 4 Der Beschuldigte hatte nach seiner Verhaftung die Bestellung eines Verteidigers beantragt. Kurz bevor sie erfolgte, begaben sich ein Staatsanwalt und ein Richters des Landgerichts (sic!) zu ihm und vernahmen ihn. Das Protokoll (Bl. 1416 d. A.) betrug nur eine Seite und enthielt die Zurücknahme einer Haftbeschwerde und des Geständniswiderrufs. Vorangegangen war eine polizeiliche Vernehmung (Bl. 1425 ff. d. A.), in welcher „kriminalistische List“ vorkam: 2

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Aussonderung von 300 Spurenakten mit solchen Alternativen nicht mehr.5 Nach der Verdachtshypothese sollte Klaus B. der Täter gewesen sein, weil ihm als „Spanner“ ein sexuell motivierter Übergriff zugetraut wurde. Nach den späteren Urteilsfeststellungen6 drang er in der Nacht vom 12. zum 13. April 1970 in das Haus ein, in dem er zuvor das Mädchen beobachtet hatte. Er erstach zuerst die Mutter, die ihm im Wege war, um dann zu dem Mädchen vordringen zu können. Als dieses sich widersetzte, tötete Klaus B. das Mädchen aus Verärgerung. Nach der Tat fanden sich im Haus keine Einbruchsspuren, keine Finger- oder Fußabdrücke und keine sonstigen Täterspuren, so dass der Eindruck entstand, Spuren seien gezielt vermieden worden.7 Der minderbegabte, als Voyeur gemeinlästige, aber bei Auftreten von Widerstand sonst feige Mann soll demnach einen Mord zur Ermöglichung einer sexuellen Nötigung und dann einen Mord aus niedrigen Beweggründen begangen haben, wonach er noch eine Spurenbeseitigung betrieben habe.8 Im Vorverfahren hatten die Festnahme, Vernehmungen ohne Verteidigerbeistand,9 stets nach stundenlangen informellen Vorgesprächen, die nicht dokumentiert wurden, die Widerstandskraft des Beschuldigten übertroffen.10 Er räumte ein, was die Ermittler hören wollten und änderte seine Angaben auf Vorhalte passend. Nach dem Geständnis fragte ihn der Anstaltspfarrer, ob er die Morde auch ihm beichten wolle. Dies lehnte Klaus B. mit der Bemerkung ab, dass er die Taten nicht begangen habe. Der Pfarrer riet zum Geständniswiderruf. Bei Beachtung dieser Genese könnte dem „Wenn Du nicht sagst, wo der Revolver ist, kann jemand anders mit dem Revolver einen Mord begehen!“. Es folgte die Antwort des Beschuldigten, er habe die (vom Täter am Tatort entwendete) Waffe verkauft, was sich später als falsch erwies. 5 Bemerkenswert ist, dass die Verdachtshypothese, die am 19.7.1972 in Urteilsfeststellungen mündete, der „Fallanalyse“ eines 25jährigen Kriminalmeisters vom 3.6.1970 folgte, sich unverändert durch das Vor-, Zwischen- und Hauptverfahren fortpflanzte, und Alternativhypothesen keinen Erfolg haben konnten. 6 Kurzreferat in BVerfGE 117, 71, 77 f. 7 Dies wurde dahin gedeutet, dass der Täter Handschuhe getragen habe. Der minderbegabte Klaus B. antwortete auf diesbezügliche Frage: „Wieso Handschuhe? Es war doch Frühling!“ 8 Klaus B. wurde von den Polizeibeamten zu einem Waschbecken geführt, in dem der Täter sich nach den Blutantragungen die Hände gewaschen hatte. Das Waschbecken hatte einen ungewöhnlichen Wasserhahn, dessen Bedienung dem Beschuldigten nicht gelang. 9 Es ist international üblich, dass Verteidigerbeistand vor der polizeilichen Vernehmung vermieden wird, um an ein Geständnis zu gelangen; vgl. für die deutsche Praxis den Fall BGH, NJW 1993, 338, 339 (Vernehmung ohne Verteidiger „bis Klarheit herrscht“); für Japan Yoshida, in: FS für Müller-Dietz, 2001, S. 995, 1000. 10 Der Vernehmungsbeamte KK F. begegnete dem Beschuldigten bald „väterlich“, bald „polternd“ (Bl. 2133 d. A.) und räumte ein „Ich war nach der Vernehmung so fertig, dass ich Formulierungsfehler machte“ (Bl. 2126 d. A.). Der Beschuldigte „verlangte immer wieder nach einem Arzt“ (Bl. 2101, 2133 d. A.).

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anschließenden Widerruf hoher Beweiswert zugebilligt werden, was aber von der Justiz nicht angenommen wurde. Es schlossen sich mindestens 21 weitere Beschuldigtenvernehmungen an, wieder zunächst ohne Verteidigerbeistand, zweifach erneut mit dem Resultat eines Geständnisses. Die Geständnisse wurden jeweils widerrufen. Sie divergierten in Details, wurden aber Beweisgrundlage von Anklageschrift, Eröffnungsbeschluss einerseits (mit einer Variante) und Urteil andererseits (mit einer anderen Variante). In der Hauptverhandlung bestritt Klaus B. die Taten konstant. Er wurde aufgrund seiner widerrufenen Geständnisse wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt,11 die heute noch vollstreckt wird. Die Geständnisüberprüfung hatte sich auf „Täterwissen“ konzentriert und war angeblich fündig geworden. Jedoch waren die informellen Vorgespräche, Fragen und Vorhalte bei den förmlichen Vernehmungen sowie eventuelle Informationen des Angeklagten aus Presseberichten nicht rekonstruierbar. Glaubhaftigkeit wegen Existenz von „Täterwissen“ kann einem Geständnis dann eigentlich nur beigelegt werden, wenn Detailangaben durch spätere Ermittlungsmaßnahmen bestätigt werden, was hier nicht der Fall war. Das Urteil betonte dagegen, dass der Angeklagte kein Motiv zur Ablegung eines falschen Geständnisses gehabt habe. Damit wurde eine rationale Verhaltensweise unterstellt, die angesichts des Vernehmungsdrucks nicht vorgelegen haben musste, um falsche Angaben des Minderbegabten zu bewirken. Da divergierende Geständnisse abgelegt wurden, steht fest, dass mindestens eine Variante objektiv falsch war. Der Geständniswiderruf wurde dagegen nicht auf seine Motivlage überprüft. Daher stellt sich die Frage, ob er im Gegensatz zu einem Geständnis bedeutungslos ist. Wäre ein Geständnis eine Prozesshandlung, so würde sich die Frage stellen, ob es unwiderruflich ist. Da das Geständnis aber ebenso wie der Widerruf eine Realhandlung ist, müssen beide beweistechnisch auf dieselbe Weise überprüft werden. Unterschiede in den Einlassungen von Klaus B. kamen besonders darin zum Ausdruck, dass die Anklageschrift daraus herleitete, er habe zuerst die Tochter aus niedrigen Beweggründen und danach die Mutter in Verdeckungsabsicht getötet, während das Urteil einen Mord an der Mutter zur Ermöglichung eines Sexualdelikts an der Tochter sowie den anschließenden Mord an der Tochter feststellte. Das machte für den Schuld- und Strafausspruch im damaligen Erkenntnisverfahren, bei dem die besondere Schwere der Schuld noch keine Rolle spielte, keinen Unterschied. Es wäre heute aber für die Kriminalprognose nach §§ 57, 57a StGB von Bedeutung; denn ein Mord zur Ermöglichung einer anderen Tat verlangt mehr Zielstrebigkeit als die auch einem ängstlichen Täter eher zuzutrauende Tötung zur Verdeckung 11

LG Mainz, Urt. vom 19.7.1972 - 2 Ks 2/72; BGH, Beschl. vom 6.12.1973 - 2 StR 265/73 (§ 349 Abs. 2 StPO).

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einer Vortat. Die Geständnisdivergenzen und deren Auflösung durch das Schwurgericht wirken sich damit über Jahrzehnte hinweg aus. Seit der Hauptverhandlung ist Klaus B. Tatverleugner und auch deshalb weiter in Haft.12 Karl Peters hat nach Rechtskraft der Verurteilung von Klaus B. ein Gutachten angefertigt. Ein darauf gestützter Wiederaufnahmeantrag blieb ohne Erfolg.13 Peters war jedoch zeitlebens überzeugt, dass der Minderbegabte den perfekten Doppelmord nicht begangen haben konnte. Tatsächlich spricht manches dagegen; zumindest sind die Feststellungen zur Reihenfolge der Morde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsch, weil die vom Gericht bevorzugte Variante mit der Persönlichkeitsstruktur unvereinbar erscheint. Im Vollstreckungsverfahren entzündete sich ein „Gutachterstreit“ an der Frage, ob auch dann von Urteilsfeststellungen auszugehen ist, wenn sie Sachverständigen nachträglich unmöglich erscheinen. Die Frage der Bindungswirkung ist aber nicht abschließend beantwortet, nachdem das Bundesverfassungsgericht sie trotz entsprechender Rügen übergangen hat.14 Der Beispielsfall zeigt Einflüsse auf,15 die zu Fehlurteilen führen können: Alternativhypothesen werden im Ermittlungsverfahren nicht verfolgt, während eine Verdachtshypothese fast ausschließlich alleine nachexerziert wird. „Spurenakten“ werden der Überprüfung entzogen.16 Die Ermittler stehen in Fällen, die Öffentlichkeitsinteresse entfalten, unter erheblichem Erfolgs12 LG Koblenz, Beschl. vom 10.11.1997 - 7 StVK 715/95 nahm an, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht gebiete. LG Koblenz, Beschl. vom 29.1.2002 – 7 StVK 583/98 lehnte die Strafrestaussetzung ab: „Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass der Verurteilte die Tat selbst verneint und infolge dessen einer Bearbeitung des spezifischen Motivationsgefüges für die Tat in keiner Weise zugänglich ist.“ OLG Koblenz, Beschl. vom 22.4.2002 - 2 Ws 308/02 bestand darauf, dass bei der Prognosebeurteilung von einer Tatbegehung in der Weise auszugehen sei, wie sie vom Schwurgericht festgestellt worden war. 13 LG Bad Kreuznach, Beschl. vom 22.6.1982 - 1 AR 1/82; OLG Koblenz, Beschl. vom 3.1.1983 - 1 Ws 465/82. 14 BVerfGE 117, 71, 120 ff. 15 „Der Vorgang wirft die Frage auf, welche Bedeutung widerrufenen Geständnissen zukommt, wenn keinerlei objektive und subjektive Beweismittel vorhanden sind, wenn zu erwartende Spuren nicht vorhanden sind, wenn der Geständige über die Vorgänge selbst keine einwandfreien Angaben machen kann, wenn bei seinen geistigen Fähigkeiten nicht angenommen werden kann, dass er in vorbildlicher Weise Spuren vernichtet haben kann, wenn die Tatsache eines Sexualdelikts fragwürdig ist, wohl aber nach den Tatortvorstellungen ein Racheakt naheliegt, wenn die Reihenfolge der Ermordungen nicht festzustellen ist (Staatsanwalt und Gericht waren darüber verschiedener Meinung)?“ Karl Peters, Strafprozess, 5. Aufl., S. 3. 16 Im Fall des aufgrund seines Geständnisses wegen Kindermordes zu lebenslanger Haft verurteilten Gensmer verschwand ein einwandfreies Alibi in den Spurenakten. Gensmer wurde nach 16 Jahren Haft im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen; LG Hamburg, Urt. vom 15.12.1987 – (83) 74/86 Ks.

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druck, der sich bei der Intensität und Ausrichtung der Vernehmungen auswirkt. Ziel der Ermittlungen müsste die neutrale Erforschung der Wahrheit sein. Stattdessen wird nur nach Bestätigung der Verdachtshypothese durch ein Geständnis gesucht, dessen Herbeiführung als größter Erfolg gilt. Alle Aussagen von Auskunftspersonen werden an der Verdachtshypothese gemessen, nur unter diesem Blickwinkel wahrgenommen und mit den Worten der Verhörspersonen aufgezeichnet.17 Fragen und Vorhalte, auch Informationen aus Presseberichten, die dazu geführt haben können, dass scheinbares „Täterwissen“ in Wahrheit aus Fremdinformationen stammt, werden nicht festgehalten. Der verhaftete Beschuldigte steht, auch wenn die Schwelle des § 136a Abs. 1 StPO nicht überschritten wird, unter psychischem Druck, der von den Strafverfolgungsorganen taktisch ausgenutzt wird, dessen Wirkungen später aber unterschätzt werden. Die Suggestibilität, besonders bei Minderbegabten, wird nicht berücksichtigt. Das Geständnis des Beschuldigten ist die Kapitulation vor dem Vorwurf, seine Äußerung aber oft inhaltlich kein aussagekräftiger Beweis. Es wird durch die Hypothesen der Ermittler aufgrund von Fragen oder Vorhalten bei kargen Antworten angereichert, ohne dass dies den Vernehmungsprotokollen genau zu entnehmen ist. Die Glaubhaftigkeitsfrage müsste auch an der Widerstandskraft des Beschuldigten und dem konkreten Druck, unter dem sie zusammengebrochen ist, gemessen werden. Das geschieht aber kaum jemals, weil der Gedanke überbewertet wird, dass ein Beschuldigter sich nicht ohne zwingenden Grund selbst belasten werde. Genau das aber geschieht nicht selten. Das Geständnis nimmt in den Köpfen der Justizjuristen eine Sonderrolle ein, die ihm in der Wertung generell ein größeres Beweisgewicht als allen Gegenindizien zukommen lässt, namentlich größere Bedeutung als einem Geständniswiderruf. Von einem aussagepsychologischen oder kriminologischen Standpunkt aus ist das falsch. Genaue Maßstäbe dazu hat die Rechtsprechung aber noch nicht entwickelt. Jedenfalls zeigt der Beispielsfall des Klaus B. das eine Geständnisüberprüfung anhand des Akteninhalts trügerisch ist und den Kontrollzweck des Strengbeweisverfahrens verfehlt.

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Im Fall des Klaus B. sind Fragen und Vorhalte meist nicht protokolliert worden. Soweit das doch geschah, lässt sich erkennen, dass ausführliche Vorgaben in Frageform schlicht mit „ja“ beantwortet wurden, woraus an anderen Stellen unter Umformulierung in die Ich-Form scheinbar eine substantiierte Aussage des Beschuldigten wurde. Die Detailliertheit und Plausibilität einer Angabe ist aber kein relevantes Glaubhaftigkeitskriterium mehr, wenn der Aussageinhalt gar nicht vom Vernommenen stammt.

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II. Rechtliche, psychologische und kriminologische Bedeutung des Geständnisses Das Geständnis ist für die Praxis heute alles, sein Widerruf nichts. Das durch Folter herbeizuführende Geständnis war der Dreh- und Angelpunkt im gemeinen Recht. Entweder ein unterzeichnetes Geständnis oder zwei klassische Zeugen waren damals zur Verurteilung nötig. Heute reichen in der Praxis meist eine geständnisgleiche Handlung oder ein „Opferzeuge“. Das Geständnis steht vor allem bei Urteilsabsprachen im Brennpunkt.18 Es ist aber schon im Vorverfahren aus der Sicht der Ermittler das zentrale Ziel der Vernehmung.19 Warum das mit dem Gericht später „vereinbarte“ Geständnis eine andere Bedeutung haben soll als ein im Vorverfahren abgelegtes Geständnis, entzieht sich einer rationalen Erklärung. Wegen seiner die Arbeit erleichternden Wirkung und Erfolgsbedeutung ist das Geständnis für chronisch überlastete Justizjuristen von besonderem Reiz.20 Schließlich führt es zu einer Reduzierung der Verantwortung der Juristen für alle Urteilsfolgen, im Fall von Klaus B. für 40 Jahre Haft trotz immer noch zweifelhafter Beweislage. Angesichts der überragenden Bedeutung des Geständnisses wirkt es überraschend, dass schon der Begriff, aber auch die Beweisbedeutung und das Strafzumessungsgewicht des Geständnisses heute unklar wirken, nachdem früher Klarheit geherrscht hatte.21 Ob ein Geständnis schon beim Einräumen irgendwelcher Tatsachen zum inkriminierten Sachverhalt22 oder erst auch bei einem Schuldbekenntnis vorliegt, ob eine Äußerung außerhalb des Offizialverfahrens auch ein „Geständnis“ ist und welche inhaltliche Qualität ein Geständnis haben muss, um tragfähige Beweisgrundlage einer Verurteilung oder relevanter Strafzumessungspunkt zu sein, erscheint zum Beispiel angesichts der ausufernden Absprachenpraxis mit inflationären Strafrabatten für Geständnisse oder geständnisgleiche Leistungen in der Hauptverhandlung wieder ungewiss. Der Gesetzgeber hat sich bisher einer Äußerung enthalten, obwohl der Strafprozess gerade in malam partem revolutioniert wird. Das Geständnis ist kein Beweismittel im engeren Sinne, weil in der Hauptverhandlung nach der Vernehmung des Angeklagten (§ 243 Abs. 4 StPO) die Beweisaufnahme erst beginnen soll (§ 244 Abs. 1 StPO). Das tut sie nach einem in der Hauptverhandlung sogleich abgelegten Geständnis heute nicht mehr. Der Sache nach ist das Geständnis traditionell dennoch ein Beweismittel, das sogar die Beweisaufnahme entbehrlich machen 18

Stübinger JZ 2008, 798, 800. Geipel, (Fn. 1) S. 342; vgl. als Beispiel den Fall BGHSt 51, 367, 373. 20 Rieß, FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 436. 21 Wimmer ZStW 50 [1930], 538 f. 22 So die Rechtsprechung zu § 254 StPO seit RGSt 45, 196, 197. 19

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kann.23 Jedoch ist das Geständnis aus einer am Wahrheitserforschungsziel ausgerichteten Perspektive nur ein Indiz wie jeder andere auch. Es geht um sachbezogene Angaben einer Auskunftsperson. Geständnis, Geständniswiderruf, Unschuldsbeteuerungen und neutrale Tatsachenmitteilungen sind allesamt Sachaussagen des Beschuldigten. Der geständige Mitbeschuldigte, der drittbelastende Angaben macht,24 hat im deutschen Recht eine Zwitterstellung zwischen einem (Mit-) Beschuldigten und einem Zeugen der Anklage gegen den anderen Beschuldigten. Im Sinne des innerstaatlichen Rechts ist er bis zur (Teil-) Erledigung des gegen ihn gerichteten Verfahrens Beschuldigter, im konventionsrechtlichen Sinne des Art. 6 EMRK ist er Zeuge. Die Geständnisaussage des Beschuldigten oder eines Mitbeschuldigten ist deshalb beweismethodisch ebenso zu behandeln wie die Aussage eines Zeugen. Von einem aussagepsychologischen oder kriminologischen Standpunkt aus gesehen hat sie keine andere Beweisbedeutung. Das Geständnis kann ganz oder teilweise richtig oder falsch sein, es kann glaubhaft wirken oder auch nicht. Das bedarf genauer Prüfung im Einzelfall, namentlich bei wechselnden Einlassungen oder drittbelastenden Geständnissen.25 Das Geständnis und der Geständniswiderruf als sein actus contrarius sind beweistechnisch gleichwertig, da falsche Geständnisse ebenso vorkommen wie falsche Widerrufserklärungen. Die Glaubhaftigkeit des Einen wie des Anderen hängt von der Bewertung des Aussagemotivs, der Entstehungsgeschichte, der Plausibilität und der Vereinbarkeit der Angaben mit anderen Beweisen ab. Jedoch wird dies von Richtern, Staatsanwälten und auch von Nebenklagevertretern oft nicht so empfunden. Dem Geständnis wird besondere Beweisbedeutung zugemessen, welche diejenige von Zeugenaussagen und diejenige des Geständniswiderrufs im Allgemeinen weit übersteigen soll. Diese Vorstellung ist psychologisch und kriminologisch aber nicht begründbar. Sie resultiert aus der Fehlvorstellung, dass Menschen sich jedenfalls nicht ohne Zwang im Sinne von § 136a StPO26 oder ohne pathologische Ursachen zu Unrecht selbst bezichtigen. Unbewusst steht dahinter auch die Wunschvorstellung vom sicheren und von Eigenverantwortung entlastenden Schuldbeweis. Anders ist es kaum zu erklären, dass im Einzelfall einem „schlanken Geständnis“ der Vorzug vor einem substantiierten 23

KK/Fischer, StPO, 6. Aufl., § 244 Rn. 2. Zu extrem weit reichenden Zusagen an Mitbeschuldigte im Vorverfahren für drittbelastende Geständnisse Volk NJW 1996, 879 ff. 25 BGH NJW 1967, 2020, 2021 26 Ein Geständnis muss nicht deshalb falsch sein, weil es erzwungen wurde; RGSt 58, 298, 299. Das Verbot der Anwendung von Zwang nach § 136a Abs. 1 StPO ist deshalb nicht dadurch begründet, dass der Beweisinhalt unbrauchbar sei, vgl. BGH NJW 1953, 1114, 1115, sondern dadurch, dass ein Aussagezwang den Beschuldigten zum Objekt des Verfahrens degradieren und daher seine Menschenwürde verletzen würde. 24

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Geständniswiderruf gegeben wird oder das Auffinden von klaren Entlastungsindizien nicht einmal zur Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages führen soll, wenn dieser sich gegen ein auf Geständnissen beruhendes Urteil richtet.27 Derzeit ist die Praxis der Geständnisüberprüfung uneinheitlich. Tatgerichte, die eine Urteilsabsprache treffen, prüfen das daraufhin abgelegte Geständnis meist kaum noch nach,28 vor allem dann nicht, wenn es ihrer Verdachtshypothese aus dem Eröffnungsbeschluss exakt entspricht und diese Hypothese als Extrakt des Akteninhalts den Maßstab für die Glaubhaftigkeitskontrolle bildet.29 Durch diese Vorgehensweise gerät aber die nach Art. 97 Abs. 1, 101 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK geschuldete Neutralität der gerichtlichen Untersuchung in Gefahr; denn das Gefühl, mit seiner schon früher einer Entscheidung zu Grunde gelegten Vorstellung bestätigt zu werden, korrumpiert fast jeden Beurteiler.30 Wird die Sache danach rechtskräftig erledigt, dann interessiert sich zunächst niemand mehr dafür. In einem Vollstreckungs- oder Wiederaufnahmeverfahren oder auch in einem Haftpflichtprozess zum gleichen Vorfall können jedoch nachträglich Bedenken aufkommen. Die Revisionsgerichte, die keine umfassende inhaltliche Richtigkeitskontrolle der Verurteilung vornehmen können und dazu auch nicht berufen sind, greifen im Bereich der Beweiswürdigung im Ergebnis so selten zugunsten des Angeklagten ein,31 dass das rechtsstaatliche Prinzip der Kontrolle dadurch nicht erfüllt werden kann.32 Eine effektivere Kontrolle müsste geboten erscheinen, wenn die Folgen bekannt wären. Fehlurteile sind häufiger,33 als es gemeinhin angenommen wird, wobei

27 Im Fall des nach einem Gaststättenbesuch verschwundenen Landwirts Rudolf R. führten widerrufene Geständnisse zur Verurteilung von vier Angeklagten wegen Beteiligung an einem Totschlag, nach dem die Leiche zerstückelt und an Tiere verfüttert worden sein soll; LG Ingolstadt, Urt. vom 13.5.2004 – JKLs 11 Js 491/04. Jahre später fand sich das unversehrte Skelett des Toten in seinem Auto sitzend auf dem Grund der Donau. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens wurde dennoch wegen des angeblichen Beweiswerts der widerrufenen Geständnisse zunächst als unzulässig verworfen, was erst von der Beschwerdeinstanz korrigiert wurde; LG Landshut, Beschl. vom 17.11.2009 – JKLs 7 Js 14112/09 jug; OLG München, Beschl. vom 9.3.2010 – 3 Ws 109-112/10. 28 Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397. 29 Vgl. BGHSt 50, 40, 49. 30 „Wie es einer Zeugen- und Sachverständigenpsychologie bedarf, sollte auch eine Richterpsychologie entwickelt werden. Ihre Kenntnis ist für den Gesetzgeber notwendig, um geeignete gesetzliche Regelungen zu treffen, für den Richter um sich immer wieder der Selbstkritik zu stellen, und für den Verteidiger, um nicht ungünstige Reaktionen für den Beschuldigten hervorzurufen“; Karl Peters, in: Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 366. 31 Geipel, (Fn. 1) S. 23 ff. 32 Graf/Eschelbach, StPO, 2010, § 261 Rn. 66 f. 33 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl., Rn. 913.

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infolge von Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekten34 die fehlerhafte Verurteilung wiederum häufiger ist als der falsche Freispruch; denn ein objektiv fehlerhaftes Aussondern nur angeblich unrichtiger oder übersetzter Vorwürfe erfolgt meist schon im Vorverfahren nach §§ 170 Abs. 2, 153 ff. StPO. Die Existenz einer nicht unerheblichen Fehlurteilsquote wird auch durch die (zu) geringe Freispruchsquote von unter drei Prozent unterstrichen. Eine der Quellen für Fehlurteile ist das unkritische Hinnehmen falscher Geständnissen,35 die aus verschiedenen Gründen vorkommen36 und ihrerseits häufiger sind als es Juristen ahnen.37 Gründe für falsche Geständnisse sind vor allem: -

die Angst die Angst vor Straf- oder Untersuchungshaft,38 die zu einem Geständnis auch zur Erlangung nur kurzfristiger Vorteile führt, bisweilen sogar in der Erwartung, das Geständnis später erfolgreich widerrufen zu können,39

-

über oder unterhalb der Schwelle des § 136a Abs. 1 StPO liegende Drohungen für den Fall der Tatverleugnung oder Versprechungen für den Fall des Geständnisses,40

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allgemeiner Vernehmungsdruck41 und die Anpassung des Beschuldigten an die Erwartungshaltung von Verhörspersonen, wie im Beispielsfall des Klaus B.,

34 Geipel, (Fn. 1) S. 345 ff.; Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 18; Schünemann StV 2000, 159 ff. 35 Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozess, 1960, S. 17 ff.; Karl Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, Bd. 2, 1972, S. 13; Stern StV 1990, 563; s. a. Gisela Friedrichsen, Im Zweifel gegen die Angeklagten, 2008, S. 42 ff. 36 Eisenberg, (Fn. 33) Rn. 730 ff.; Lawaczeck, Das Phänomen des falschen Geständnisses im Strafverfahren, 2010, S. 36 ff.; Volbert/Böhm, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 253 ff. 37 Beneke, Das falsche Geständnis als Fehlerquelle im Strafverfahren unter kriminologischen, speziell kriminalpsychologischen Aspekten, 1990, S. 26; Eisenberg, (Fn. 33) Rn. 729; Gudjonsson/Sigurdsson, in: Psychology, Crime and Law 1 (1994), S. 21 ff.; Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, S. 189 ff.; Köhnken, in: Gisela Friedrichsen, (Fn. 35) S. 222 ff.; Lawaczeck, (Fn. 36) S. 33 ff.; Volbert/Böhm, (Fn. 36), S. 253, 255. 38 Vgl. BGH NJW 1965, 2262; StV 2001, 440, 441. 39 Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. Rn. 1123. 40 Bedenklich ist es daher zwar nicht nach § 136a StPO, wohl aber nach §§ 244 Abs. 2, 261 StPO, wenn Richter und Verteidiger dem Angeklagten nachdrücklich „ins Gewissen reden“, damit er zur Erlangung einer Strafmilderung ein Geständnis ablege; vgl. den Fall BGH NJW 1960, 1212, 1213.

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suggestive Fragen und Vorhalte,42

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Resignation des Beschuldigten gegenüber einer vermeintlich erdrückenden Beweislage43 oder gegenüber der Präsentation objektiv falscher Belastungsbeweise,44 aber auch gegenüber dem bloßen Eindruck des Beschuldigten, der Vernehmende halte ihn für überführt,45

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Furcht vor Medienöffentlichkeit oder das umgekehrte Interesse daran, in den Brennpunkt der Öffentlichkeit zu gelangen,46

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die Absicht andere Taten oder weiter gehende negative Sachverhaltsteile zur „Schadensbegrenzung“47 zu verdecken,48

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der Wunsch, einem anderen zu schaden oder einen anderen zu begünstigen,49

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der objektiv falsche Rat des Verteidigers zur Geständnisablegung.50

Ob ein solcher Fall vorliegt, wäre nach dem überkommenen Strafprozessrecht abstrakt-generell mittels einer förmlichen Beweisaufnahme zu prüfen und vor einer Verurteilung sicher auszuschließen.51 Es ist aber schon daran zu zweifeln, dass alle Juristen die Notwendigkeit einer Geständniskontrolle erkennen. Intuitiv wird meist davon ausgegangen, dass ein Unschuldiger durch den natürlichen Selbsterhaltungstrieb52 daran gehindert werde, ein falsches Geständnis abzulegen, sofern nicht gerade ein pathologischer Fall erkennbar ist.53 Dies ist jedoch ein Irrglaube, weil die Motive für falsche 41 Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397; zweifelhaft ist daher die generalisierende Annahme, der Beschuldigte habe bei der Vernehmung nach seiner Verhaftung „frei von physischem oder psychischem Druck“ ein Geständnis abgelegt; vgl. den Fall BGH NJW 1951, 122. 42 Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 16 f. 43 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1105 f.; Hirschberg, (Fn. 35) S. 16 ff.; Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 19. 44 Volbert/Böhm, (Rn. 36), S. 253, 258 ff. 45 Volbert/Böhm, (Fn. 36) S. 253, 258 ff.; Wimmer ZStW 50 (1930), 537, 547. 46 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1102, 1107. 47 Rieß, in: FS für Richter II, 2006, S. 433, 437. 48 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1108 ff. 49 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1113. 50 Zu einem Fall des Geständnisses nach Drittbelastung durch einen Kronzeugen Eschelbach, in: FS für Stöckel, 2010, S. 199 (215 ff.). 51 Zur Abweichung der Absprachenpraxis davon Fezer NStZ 2010, 177, 178 f. 52 Wimmer ZStW 50 (1930), 537, 547. 53 Stern StV 1990, 563.

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Geständnisse zahlreicher sind und die Hemmschwelle gegenüber einer falschen Selbstbezichtigung leichter überwunden wird, als es meist vermutet wird. Die Absprachenpraxis reduziert die gerichtliche Geständnisüberprüfung oft auf Null,54 obwohl der Geständniszweck hier gerade in besonders dubioser Weise darauf ausgerichtet ist, den favor iudicis55 zu erlangen und Nachteile durch eine „streitige“ Verhandlung zu vermeiden. Die Quote der falschen Geständnisse wird vor allem durch das Vorzeigen einer Sanktionsschere drastisch erhöht. Hatte sie vorher nach den Forschungen von Karl Peters schon mindestens 7 % betragen, so steigt sie zumindest im Experiment auf 43 %, wenn ein „Deal“ im Raum steht.56 Das müsste in einem Rechtsstaat genügen, um Urteilsabsprachen ohne empirische Untersuchung zu untersagen;57 der Gesetzgeber ist dem nicht gefolgt, er hat aber auch keine klare Aussage über die notwendigen Beweisgrundlagen einer Verurteilung gemacht. Vor allem muss von der Rechtsprechung eine wirkungsvolle Geständnisüberprüfung verlangt werden, weil bei einer derart hohen Fehlerquote eine sichere richterliche Überzeugung nicht alleine auf die Annahme der Glaubhaftigkeit von Geständnissen gestützt werden darf.58 Die Geständnisüberprüfung alleine anhand des Akteninhalts ist aber weder eine ausreichende Richtigkeitsgarantie, noch entspricht sie dem Zweck des Strengbeweisverfahrens, der in einer Gegenkontrolle des Aktenbefundes bestehen soll.

III. Begriff und Bedeutung des Geständnisses Es herrscht schon Unklarheit über den Begriff des Geständnisses.59 Das Geständnis soll Beweismittel, Prozesshandlung und Strafzumessungsgrund sein.60 Das kann aber auch alles anders gesehen werden. Ein Geständnis im Strafverfahren ist jedenfalls die Sachaussage eines Beschuldigten, die auf einen strafrechtlichen Vorwurf bezogen ist und dazu Tatsachenangaben macht.61 „Blankogeständnisse“ sind ohne jeden Wert.62 Bei einem beweisre54

Zu Recht kritisch Fezer NStZ 2010, 177 ff. Hammerstein StV 2007, 48, 51. 56 Volbert/Böhm, (Fn. 36), S. 253, 259. 57 S. a. Fischer NStZ 2007, 433, 436. 58 Zu dem Grad der notwendigen Wahrscheinlichkeit als objektiver Grundlage der richterlichen Überzeugung bietet „die Rechtsprechung selbst kein einheitliches oder systematisches Bild“; Geipel, (Fn. 1) S. 99. 59 Rieß, FS Christian Richter II, 2006, S. 433, 434. 60 Rode StraFo 2007, 98, 99. 61 Geständnis im Sinne von § 254 StPO ist nur das Eingestehen von Tatsachen zum Gegenstand des konkreten Verfahrens, RGSt 54, 126, 127 f.; auch sonst ist zumindest der Schwerpunkt in der Tatsachenäußerung zu sehen; Rieß, FS Christian Richter II, 2006, S. 433, 434. 55

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levanten Geständnis geht es auch nicht nur um eine Aussage allein mit Rechtsbegriffen.63 Begrifflich wird die Annahme des Vorliegens eines „Geständnisses“ zumindest erschwert, wenn der Angeklagte zwar die Tatsachengrundlage des Vorwurfes einräumt, aber davon ausgeht, dass er kein Unrecht begangen habe. Die Prozesspraxis nimmt dann das Tatsachenzugeständnis hin und wertet die Fakten selbst. An der Qualität der Sachaussage als Geständnis soll das auf eigenen Wertungen beruhende Schulddementi nichts ändern und das angebliche Teilgeständnis wird dem Angeklagten in einem gegenüber dem Vollgeständnis reduzierten Umfang, dem Grunde nach aber dennoch zu Gute gehalten. Beides ist zweifelhaft; denn ersteres beruht auf einer Fehldeutung von § 254 StPO, letzteres auf dem heute nahezu übiquitären Fehlen einer Reflexion darüber, worin der Grund für die Strafmilderung des (Teil-) Geständnisses liegen soll.

1. Beweismittel Legt der Angeklagte in der Hauptverhandlung ein Geständnis ab, dann ist dies beweisrelevant. Eine Äußerung des Angeklagten zur Sache im Rahmen seiner Vernehmung nach § 243 Abs. 4 StPO, bei Anmerkungen zu Beweiserhebungen nach § 257 StPO oder im „letzten Wort“ nach § 258 StPO64 sind Gegenstand der richterlichen Beweiswürdigung. Deswegen ist es anerkannt, dass ein in der Hauptverhandlung abgelegtes Geständnis die Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 1 StPO) entbehrlich machen kann, wenn es genügend Aussagekraft besitzt, um alle entscheidungserheblichen Tatsachen glaubhaft zu belegen. Der Schluss von der Ablegung eines Geständnisses auf die Glaubwürdigkeit des Angeklagten ist freilich ein Trugschluss,65 weil das Geständnis ganz oder teilweise falsch sein kann. Die geständige Einlassung in der Hauptverhandlung kann von Rechts wegen jedenfalls ein alleine entscheidendes Beweismittel sein.66 Das früher im Vor- oder Zwischenverfahren oder ganz außerhalb des Verfahrens abgelegte Geständnis ist dagegen kein Beweismittel, sondern auch und gerade im Fall einer späteren Aussageänderung Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.67 Es muss nach §§ 244 Abs. 2, 261 StPO dort eingeführt,68 überprüft

62

BGH NJW 1957, 719, 720. Vgl. schon RGSt 1, 415, 416. 64 OLG Köln NJW 1961, 1224; Eisenberg, (Rn. 36) Rn. 887. 65 Wimmer ZStW 50 (1930), 538, 543. 66 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 55; Jerouschek ZStW 102 (1990), 793, 805. 67 BGH NJW 1966, 1524. 68 Soweit angenommen wird, das Geständnis eines früheren Mitangeklagten könne durch Erläuterung des gegen diesen ergangenen Urteils durch den Vorsitzenden eingeführt werden 63

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und gewürdigt werden.69 Freilich fehlt in der Praxis wiederum bisher meist eine zuverlässige Dokumentation als Mittel zur Rekonstruktion der früheren Aussage. Um die Aussage eines Geständigen korrekt beurteilen zu könnten, müsste am besten auf eine Videoaufnahme zurückgegriffen werden können,70 die aber technischer Möglichkeiten im Regelfall nicht existiert. Die deutsche Prozesspraxis begnügt sich immer noch mit der Technik des 19. Jahrhunderts, aus dem die Strafprozessordnung stammt. § 254 StPO regelt eine erleichterte Form der Beweiserhebung über „ein“ Geständnis, also gegebenenfalls auch dasjenige eines Mitangeklagten,71 gegenüber einem Richter72 durch Urkundenverlesung anstelle einer Zeugenvernehmung. Wo diese Durchbrechung des Prinzips der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nicht eingreift, muss mit personellen Beweismitteln über die frühere Äußerung des Beschuldigten Beweis über das Geständnis erhoben werden. Jedenfalls ist die Ablegung eines Geständnisses dann selbst ein Beweisthema, aber kein Beweismittel. Es bedarf auch sonst beweisrechtlich der gleichen Überprüfung wie eine Zeugenaussage.73 Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht ist das Geständnis ein Indiz dafür, dass sich die mitgeteilten Tatsachen so zugetragen haben können.

2. Prozesshandlung Die Praxis versteht das Geständnis auch als Prozesshandlung. Das ist führt jedoch auf Irrwege, zumal dann der Geständniswiderruf eine prozessuale Bedeutung haben könnte, die noch unerforscht ist. Die Gerichte lassen den Verteidiger im konsensualen Verfahren wie einen Vertreter des Angeklagten auftreten und eine vorformulierte Geständniserklärung übermitteln, die der Angeklagte dann allenfalls noch durch bejahende Erklärung auf die richterliche Frage, ob dies zutreffe, „autorisiert“.74 (BGH NStZ-RR 2007, 20 f.) beruht dies auf einer Umgehung des Strengbeweises. Wie darauf eine genaue Beweiswürdigung aufbauen soll, bleibt unklar. 69 BGH NStZ 2007, 538. 70 Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 19. 71 BGHSt 22, 372, 374. 72 Zur frühzeitigen Ausdehnung der Beweiserleichterung auf nichtrichterliche Vernehmungen, die im richterlichen Vernehmungsprotokoll (etwa mit der Bemerkung: „meine polizeiliche Aussage ist richtig“) in Bezug genommen wurden, RGSt 40, 425, 426. Der Vorhalt eines richterlichen Geständnisprotokolls gegenüber dem bestreitenden Angeklagten ist aber kein förmlicher Geständnisbeweis, RGSt 52, 243, 244. 73 Rieß, in: FS für Christian Richter II, S. 433, 437. 74 BGH JZ 2008, 796 f. mit Anm. Stübinger; unkritisch auch BVerfG Beschl. vom 7.10.2008 – 2 BvR 1494/08 aufgrund einer Verfassungsbeschwerde, die mit Beulke, in: FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der BRAK, 2007, S. 87, 96 f. eine qualifizierte Belehrung des Angeklagten über die Bedeutung der offenbar auf eine Reduzierung des Tatbeitrags von Mittä-

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Eine Prozesshandlung, bei der sich der Angeklagte vertreten lassen könnte, ist das Geständnis jedoch schon deshalb nicht, weil es schließlich auch außerhalb des Verfahrens abgelegt werden kann und eine Wissenserklärung darstellt. § 362 Nr. 4 StPO verdeutlicht dies.75 Damit wird im Übrigen auch die Möglichkeit eröffnet, dass ein Geständnis in einer Urkunde mit strafrechtlichen Folgen u.a. aus §§ 164, 267 StGB gefälscht werden kann.76 Das Geständnis ist vom Prozessgeschehen unabhängig und stellt eine Realhandlung dar. Daher bestimmt etwa auch § 254 StPO nicht, dass „Geständnisse“, welche in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, verlesen werden können, sondern dass „Erklärungen“ des Angeklagten, welche in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis verlesen werden können.77 Das Geständnis ist dort also das Beweisthema, aber kein Beweismittel. Diese Erkenntnis ist auch wichtig für die Bewertung der in der Praxis als geständnisgleiche Handlung bewerteten anwaltlichen Erklärungen zur Sache. Der Strafverteidiger ist, solange er nicht förmlich als Zeuge vernommen wird, keine Auskunftsperson im Strengbeweisverfahren. Der Verteidiger ist auch im Allgemeinen kein Stellvertreter des Angeklagten.78 § 234 StPO bestätigt als Ausnahme nur diese Regel. Die anwaltliche Erklärung selbst ist demnach für sich genommen beweisrechtlich irrelevant.79 Ihr kommt auch nicht deshalb erhöhte Glaubhaftigkeit zu, weil der Verteidiger in besonderer Weise der Unschuldsvermutung verpflichtet ist.80 Nur das Verhalten des Angeklagten kann Gegenstand der Beweiswürdigung sein.81 Es hat aber für sich genommen keinen Aussagegehalt. Die anwaltliche Erklärung wird praktisch wie ein Vorhalt gebraucht, dessen Bestätigung durch den Angeklagten zum angeblich aussagekräftigen Beweis mutiert. Damit ist zwar verfahrensrechtlich irgendetwas vorhanden, aber es bleibt die Frage zu beantworten, welchen Beweiswert die Bestätigung der anwaltlichen Erklärung besitzen kann. Genau genommen muss man annehmen, dass jeder Beweiswert fehlt, solange jedenfalls unklar bliebt, aus welchen Informationsquellen und aufgrund welcher Motivlage der anwaltlich vorformulierte Geständnistext entstanden terschaft auf Beihilfe ausgerichteten Verteidigungserklärung und ihrer „Bestätigung“ als ernsthafter Schuldbeweis vermisst hatte. 75 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 63. 76 Vgl. den Fall eines - gefälschten - drittbelastenden Geständnisses RGSt 7, 47 ff. 77 RGSt 45, 196, 197. 78 Beulke, in: FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, S. 87 ff.; Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397, 402 f. 79 BGH NStZ 2005, 703; OLG Düsseldorf NJW 2002, 2728; OLG Hamm StV 2000, 187 f.; OLG Saarbrücken NStZ 2006, 182, 183; großzügiger zugunsten der Genehmigungslösung Beulke, in: FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der BRAK, S. 87, 93 ff. 80 Salditt, in: FS für Widmaier, 2008, S. 545. 81 BGH JZ 2006, 204 mit Anm. Olk.

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ist. Schon die Tatsache, dass der Verteidiger die Erklärung vorformuliert hat und anstelle des Angeklagten äußert, zeigt, dass nicht alleine das Wissen des Angeklagten aus seiner Erinnerung an das Tatgeschehen zum Gegenstand der Äußerung gemacht wurde. Die Verteidigererklärung wird typischerweise einerseits anhand des Akteninhalts auf den Erwartungshorizont des Gerichts ausgerichtet, dem sich die Verteidigung im konsensualen Verfahren gefügig zeigt; andererseits wird innerhalb dieses Rahmens zur „Schadensbegrenzung“ nur das unbedingt zur Erlangung der gerichtlichen Zusagen Erforderliche eingeräumt.82 Demnach ist die anwaltliche Geständniserklärung als Sachaussage zum historischen Geschehen generell mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zumindest zum Teil falsch. Dies als Beweisgrundlage in einem auf Wahrheitserforschung ausgerichteten Strafverfahren zu machen, ist paradox. Die anwaltliche Erklärung ist eher eine Prozesserklärung als eine Wissensmitteilung (vom Hörensagen). Die Zustimmung des Angeklagten hierzu ist der Sache nach keine Bestätigung der Übereinstimmung des Erklärungsinhalts mit dem wahren historischen Geschehen, sondern wiederum eine prozessuale Äußerung des Akzeptierens. Die „Aussageentstehung“ und das „Aussagemotiv“ bleiben so dubios, dass eine Beweiswürdigung nach herkömmlichen Maßstäben zu § 261 StPO unmöglich wird; eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§§ 257c Abs. 1 Satz 2, 244 Abs. 2 StPO) durch Hinnahme solcher Erklärungen ist evident. Ist das substantiierte mündliche Geständnis des Angeklagten eine Aussageleistung, so ist der fixierte Text, dessen Motivation, Urheberschaft und Quellen unklar bleiben, beweisrechtlich nichts wert. Er lässt sich als solcher nicht hinterfragen und sein Zweck der „Schadensbegrenzung“ besteht gerade darin, dass er nicht überprüft wird. Wäre das Geständnis eine Prozesshandlung, so könnte eine geständnisähnliche Äußerung auch konkludent in anderen Prozesserklärungen, insbesondere in einem Verzicht auf Beweisanträge oder Rechtsmittel, in einer Rechtsmittelzurücknahme oder -beschränkung, gesehen werden. Tatsächlich versuchen Gerichte etwa, einem Wiederaufnahmeantrag entgegenzuhalten, dass im Erstverfahren eine Rechtsmittelbeschränkung,83 ein Rechtsmittelverzicht oder eine Zurücknahme84 erklärt wurde und dies wie ein Geständnis zu bewerten sei. Indes hat eine solche Prozesserklärung keinen Erklärungsgehalt zur Sache selbst. Abweichende Deutungsversuche sind Fiktionen. Dagegen müssen Bedenken angemeldet werden.85 82

Noll StRR 2008, 444 ff. So hat LG Passau, Beschl. vom 15.10.2003 - 1 Qs 133/03 - eine absprachenbedingte Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch als geständnisgleiche Handlung gewertet, die einem Wiederaufnahmeantrag entgegen stehen soll. 84 LG Karlsruhe NStZ 2003, 108 f. 85 Eschelbach HRRS 2008, 190, 202 ff. 83

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3. Strafmilderungsgrund Bis zur Ablegung des Geständnisses steht die Strafjustiz dem Angeklagten „in Kampfstellung“ hinsichtlich der Schuldfrage gegenüber; erst danach wendet sich ihre Aufmerksamkeit der Frage des Strafmaßes zu. Wird die Tat aufgrund des Geständnisses erst verständlich, dann bricht sich eine erhebliche Strafmilderung Bahn86 nach dem Motto: „Alles verstehen heißt alles verzeihen“.87 Das Tatschuldprinzip geht dabei über Bord. Das Geständnis soll in jedem Fall, auch bei einer taktisch motivierten Vorgehensweise, ein bestimmender Strafmilderungsgrund sein,88 wobei aber nicht mehr nachzuvollziehen ist, warum in dieser Honorierung des Geständnisses nicht zugleich eine härtere Bestrafung des schweigenden oder leugnenden89 Angeklagten liegen soll.90 Die Absprachenpraxis honoriert letztlich die Arbeitsersparnis mittels eines Geständnisses.91 Eine Selbststeuerung der Arbeitslast durch die Gerichte in der Weise, dass ein Geständnis honoriert wird, weil es der Justiz Aufklärungsarbeit erspart, verletzt Art. 3 Abs. 1 GG.92 Wo genau die Sanktionenschere93 beginnt, die zulässige von nicht mehr zulässigen Sanktionsalternativen für ein Urteil mit und ohne Geständnis unterscheiden soll, ist zudem noch nicht definiert worden. Ein Begrenzungsmittel dieser Fehlentwicklung wäre es zumindest, wenn im Urteil der Strafrabatt wegen des Geständnisses konkret ausgewiesen werden müsste. Selbst das „taktische Geständnis“ wird als allgemeiner Strafmilderungsgrund anerkannt,94 obwohl früher klar war, dass der Angeklagte nicht alleine wegen seines Geständnisses milder bestraft werden kann.95 Die ohnehin schon zweifelhaften Kriterien der Schuldeinsicht und Reue als mittelbarer Grund für eine Strafmilderung in Form eines Indizes für mindere Tatschuld werden nun nicht einmal mehr zwingend vorausgesetzt, weil die rasche Wiederherstellung des Rechtsfriedens und die Genugtuung für das Opfer durch die Verurteilung aufgrund des Geständnisses als genügender Grund für eine Strafmilderung gilt.96 Mit dem Tatschuldprinzip im engeren Sinne 86 Zum traditionell stärkeren Bedürfnis nach Geständnis und Entschuldigung in Japan Shitara, in: Kunig/Nagata (Hrsg.), Persönlichkeitsschutz und Eigentumsfreiheit in Japan und Deutschland, 2009, S. 189, 193 ff.; Yoshida, in: FS für Müller-Dietz, 2001, S. 995, 1002 ff. 87 Wimmer ZStW 50 (1930), 537, 541. 88 Rode StraFo 2007, 98, 101 ff. 89 Zum „hartnäckigen Leugnen“ BGH NJW 1961, 85; HansOLG Bremen NJW 1951, 286. 90 Wimmer ZStW 50 (1930), 538, 539. 91 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 52. 92 Vgl. in anderem Zusammenhang BVerfGE 54, 277, 293. 93 BGH NStZ 2008, 170 f. 94 BGHSt 43, 195, 209. 95 BGHSt 1, 105, 106. 96 BGH NStZ 2000, 366.

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ist die Strafmilderung wegen eines Geständnisses aber schon im Allgemeinen unvereinbar.97 Die dogmatische Rechtfertigung der Strafmilderung wegen eines taktischen Geständnisses ist danach ungeklärt.98 Wenn das Prozessrecht die Wahrnehmung bestimmter Rechte vorsieht, wie das Schweigen zur Sache oder das Insistieren auf Beweiserhebungen durch Beweisantrag, dann kann aus ihrer Nichtwahrnehmung kein ernst zu nehmender Grund für eine Strafmilderung hergeleitet werden.99 Die derzeitige Praxis ist mit Art. 3 Abs. 1 GG, § 46 Abs. 1 StGB unvereinbar. Das Geständnis nach der Tat verändert nämlich nicht nachträglich den Umfang der Tatschuld, die den zentralen Maßstab für die Strafbemessung liefert (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Es kann allenfalls durch eine doppelte Indizkonstruktion100 dahin gewertet werden, dass der später in reumütiger Weise geständige Täter schon bei der Tatbegehung nicht mit besonders hoher krimineller Energie vorgegangen war. Außerdem wird die Indizwirkung des späteren Geständnisses auf die Tatzeitpersönlichkeit des Täters hinsichtlich spezialpräventiver Strafzwecke, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), erstreckt. Ein singuläres Indiz für mindere Schuld und geringeres spezialpräventives Strafbedürfnis ist aber kein zwingender Beweis. Es dürfte auch nicht abstrakt-generell als Strafmilderungsgrund herangezogen werden, was aber in der Praxis geschieht. Das beruht auf Fiktionen. Das wirklich reumütige Geständnis wird dadurch entwertet; auch darin zeigt sich eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG.

4. Indiztatsache Im Ganzen gesehen ist das Geständnis eine Indiztatsache, die Beweisbedeutung für das Ob und Wie der Tatbegehung einerseits sowie das Schuldgewicht bei der Begehung der Tat andererseits haben kann. Es bedarf daher der Überprüfung wie andere Beweise auch.101 Das Geständnis ist für die Beweiswürdigung und die Strafzumessung weder erforderlich noch ausreichend. Es kann allenfalls dann als alleinige Beweisgrundlage eines Urteils genügen, wenn es aussagekräftig und hinsichtlich seiner Entstehungsgeschichte, seines Motivs und Inhalts glaubhaft ist. Andernfalls bedarf es im prozessordnungsgemäß geführten Verfahren der Ergänzung und Überprüfung durch weitere Beweise. Die Möglichkeit der Verständigung hat daran nichts geändert (§ 257c Abs. 1 Satz 2 StPO). Es besteht im Übrigen kein 97

Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, S. 108 ff., 164 ff. Rieß, in: FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 442 f. 99 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 59. 100 Hammerstein StV 2007, 48, 49; krit. Dencker ZStW 102 (1990), 51, 56 f. 101 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 52; Jerouschek ZStW 102 (1990), 793, 799. 98

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Grund, das umfassende Geständnis technisch anders zu bewerten, als eine bestreitende Einlassung oder ein Teilgeständnis mit Teilbestreiten oder aber eine Äußerung, der man für sich genommen zunächst nicht glauben möchte.102

IV. Geständnisinhalt Unklarheit herrscht über den notwendigen Inhalt des Geständnisses und die Möglichkeiten sowie die Notwendigkeit seiner Auffüllung mit weiteren entscheidungserheblichen Tatsachen, die im Geständnistext nicht auftauchen oder als Normalfall103 vorausgesetzt werden. In den Anfangstagen der Strafprozessordnung hatte sich die Rechtsprechung noch dazu veranlasst gesehen zu betonen, dass der Tatrichter seine Überzeugung nicht schon anhand des Akteninhalts auf weitere Umstände, die nicht Gegenstand des Geständnisses waren oder durch andere Beweismittel im Strengbeweisverfahren belegt wurden, erstrecken dürfe.104 Ein Geständnis das keine Tatsachenmitteilung enthält, sondern sich zum Beispiel auf die Wiedergabe der gesetzlichen Merkmale des Straftatbestands beschränkt, ermöglichte nach dieser heute noch dem Gesetz entsprechenden Rechtsprechung105 keine tragfähigen Urteilsfeststellungen; eine gerichtliche Geständnisüberprüfung wird dadurch nicht ermöglicht. Obwohl dies nach § 261 StPO selbstverständlich sein sollte, muss heute daran erinnert werden. Zweck des Strengbeweisverfahrens ist die Kontrolle der Ergebnisse des Vor- und Zwischenverfahrens, nicht nur deren Rekapitulation. Das wird von der Urteilsabsprachenpraxis ignoriert. Eine geständige Aussage des Beschuldigten kann nach einer in der Literatur vertretenen Meinung sogar dann, wenn sie umfassend ist, nicht den vollen Schuldbeweis ersetzen.106 Die Rechtsprechung folgt dem nicht und lässt es im Fall eines substantiierten Geständnisses bisweilen dabei bewenden. Wann das ausreichend ist, bleibt unklar. Die erste Entscheidung zum Thema verdeutlicht das Problem. Dort hatte der Angeklagte zwei Schuldscheinurkunden im Zwangsvollstreckungsverfahren gefälscht und verwendet, was er einräumte; er bestritt aber die Absicht, sich durch Gebrauchma102

Rieß, in: FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 437. Ist etwa ein Messergebnis einer Blutalkoholuntersuchung vorhanden, so wird vorausgesetzt, dass auch die richtige Probe untersucht wurde. Ohne konkreten Prüfanlass wird diese Frage nicht vertieft. Solche Normalfallannahmen aufgrund der Lebenserfahrung scheinen unverzichtbar; Dencker ZStW 102 (1990), 51, 71 f. 104 RGSt 1, 81, 82. 105 RGSt 1, 415, 416. 106 Eisenberg, (Fn. 36) Rn. 727. 103

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chen von den falschen Urkunden einen Vermögensvorteil zu verschaffen. Für das Reichsgericht war es selbstverständlich, dass dies eine ergänzende Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nicht entbehrlich machte, weil damit kein vollumfängliches Geständnis vorlag.107 Ob das heute noch überall so gesehen würde, muss bezweifelt werden. Die meisten Gerichte dürften in einem solchen Fall aus den zugestandenen äußeren Umständen auf den inneren Willen schließen und es bei dem Geständnis als Beweisgrundlage des Urteils belassen. Die genaueste Geständnisüberprüfung findet in Schwurgerichtssachen statt, insbesondere wenn es um innere Tatsachen, wie Tatmotive, den Zeitpunkt und die Zielrichtung des Tatentschlusses, einen Vorsatzwechsel, verschiedene Grade der Steuerungsfähigkeit und um den Rücktrittshorizont geht. Weil auch der Angeklagte selbst die Nuancen der inneren Vorgänge mit einigem zeitlichem Abstand zum Tatgeschehen kaum noch sicher rekonstruieren kann, müssen alle seine Äußerungen dazu in die Hauptverhandlung eingeführt, mit anderen Beweisergebnissen abgeglichen und in einer Gesamtwürdigung beurteilt werden. Deshalb wird in Schwurgerichtssachen oft trotz Geständnisses umfangreich Beweis erhoben. Das erscheint mit Blick auf die Folgen unverzichtbar. Auch die Überprüfbarkeit eines Geständnisses, namentlich für eine Inhaltsanalyse108 und Plausibilitätskontrolle, ist nur möglich, wenn das Geständnis substantiiert vorgetragen wird und zumindest der Angeklagte selbst auf Fragen und Vorhalte Rede und Antwort steht. Je weniger Aussagegehalt das Geständnis hat, desto weniger ist es geeignet, alle entscheidungserheblichen Tatsachen zu belegen und auch einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich zu sein. Indes ist die Überprüfung des Geständnisses alleine anhand seines Inhalts und im Abgleich nur mit dem Akteninhalt109 oder anhand der dort zugrunde liegenden Verdachtshypothese ungeeignet, um Fehlvorstellungen des Vorverfahrens zu korrigieren. Das sollte oben mit dem Beispielsfall des Klaus B. aufgezeigt werden. Die Absprachenpraxis der Tatgerichte begnügt sich aber auch heute noch oft mit „schlanken Geständnissen“,110 die nichts anderes als eine pauschale Bestätigung der Richtigkeit des Vorwurfes enthalten. Das keinen besonderen Zweifeln unterliegende Geständnis muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber wenigstens so konkret sein, dass geprüft werden kann, ob es derart im Einklang mit der Aktenlage

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RGSt 1, 81, 82. Zu dieser Methode in der Soziologie Wasserburg, Rechtstheorie 1981, 491 ff., in der Aussagepsychologie Volbert/Böhm, (Fn. 36) S. 253, 261. 109 Zur Unsinnigkeit des Aktenabfragens Prüfer, StV 1993, 602, 605; zustimmend Deckers, in: Deckers/Köhnken (Hrsg.), Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2007, S. 89, 94. 110 KK/Fischer, StPO, § 244 Rn. 30. 108

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steht,111 dass sich hiernach keine weitergehende Sachaufklärung aufdrängt. Das ist oftmals mehr als die Praxis der Tatgerichte leistet, aber weniger als der Zweck des Strengbeweisverfahrens es eigentlich erfordert. Bei der Absprachenjudikatur wird der eigentlich zu kontrollierende Befund nach Aktenlage zum Maßstab für die Geständniskontrolle. Diese Perspektive ist falsch und begünstigt Fehlurteile, die nicht selten aufgrund von falschen Geständnissen entstehen. Ein inhaltsleeres Formalgeständnis reicht jetzt von Rechts wegen nicht mehr aus.112 Mit einem solchen Geständnis, das die Mindestvoraussetzungen der Zuverlässigkeit und Überprüfbarkeit verfehlt, darf sich das Tatgericht nicht begnügen.113 Erst recht ist es ungenügend, wenn der Angeklagte114 oder sogar nur sein Verteidiger115 zur Sache lediglich erklärt, dass er den Vorwürfen der Anklage nicht entgegentrete und das in Aussicht gestellte Strafmaß akzeptiere. An einem Geständnis fehlt es überhaupt, wenn der Angeklagte erklärt, er werde sich „nur aus prozessökonomischen Gründen“ gegen die näher bezeichneten Vorwürfe „nicht weiter verteidigen“.116 Damit wird konkludent die Richtigkeit der Vorwürfe bestritten. Indes zeigt die Erörterung solcher und ähnlicher117 Fälle in der Rechtsprechung, dass die Tatgerichte sich oft nicht an die minimalistischen Vorgaben der höchstrichterlichen Erwartungen halten. Auch der Bundesgerichtshof ließ zeitweise „schlanke Geständnisse“ als alleinige Urteilsgrundlage genügen.118 Begründet wurde dies damit, dass für eine Verurteilung nur die subjektive richterliche Überzeugung von der Schuld119 erforderlich und ausreichend sei. Das Gesetz schreibe nicht vor, wie und auf welcher Grundlage der Richter seine Überzeugung zu gewinnen habe und das Revisionsrecht gestatte dem Revisionsgericht keine Inhaltskontrolle der Beweiswürdigung. Damit wurde freilich der konkrete Anklagesatz zum Beweisinhalt, der gleichsam auf Vorhalt an den Angeklagten inhaltlich einem personalen Beweismittel zugeordnet wurde. Damit fehlt jede Möglichkeit der Beweisprüfung im Sinne einer Inhaltsanalyse oder Plausibilitätskontrolle. Zudem ist die Aussage, dass alleine die subjektive 111

Vgl. Schmitt GA 2001, 411, 420; krit. Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof?, 2004, S. 146. 112 BGHSt 50, 40, 49; BGH NStZ-RR 2007, 20, 21. 113 BGH NJW 2004, 1335, 1336. 114 BGH NJW 2004, 1885, 1886. 115 BGH NStZ 2006, 408 f. 116 BGH NStZ 2006, 634, 635. 117 Zur bloß moralischen Verantwortungsübernahme BGH StraFo 2003, 381 f. 118 BGHSt 48, 161, 167; BGH NJW 1999, 370, 371 f. mit Anm. Weigend NStZ 1999, 57, 61 ff. 119 So allgemein noch der frühere Maßstab für die Beweiswürdigung in BGHSt 10, 208, 209.

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richterliche Überzeugung eine ausreichende Urteilsgrundlage ergebe, mit den jüngeren Überlegungen in der Rechtsprechung dazu unvereinbar, dass neben der Überzeugung des Richters auch eine objektive Beweisgrundlage vorhanden sein muss, welche zumindest die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Verdachtshypothese begründet.120 Die Billigung einer Verurteilung nur aufgrund eines „schlanken Geständnisses“ ist daher unhaltbar geworden. Das „schlanke Geständnis“ kann andererseits im Zusammenwirken mit weiteren Beweisen eines tragfähige Urteilsgrundlage liefern; dann fehlt freilich ein Grund dafür, dass sich die Richter und Verfahrensbeteiligten in einer Weise „verständigen“, dass hierdurch eine besondere Strafmilderung zu rechtfertigen wäre. Auf Probleme stößt die Praxis, wenn sie sich alleine auf ein mehr oder weniger substantiiertes Geständnis stützen und weitere Beweiserhebungen, bisweilen auch zum Opferschutz,121 vermeiden will, soweit es darum geht, Tatsachen festzustellen, zu denen der Angeklagte keine Angaben aufgrund eigenen Wissens machen kann.122 Das gilt etwa beim Betrug für den Irrtum des Getäuschten. Der Angeklagte kann aus eigenem Erleben gegebenenfalls nur über seine Täuschungshandlung berichten, aber nicht darüber, ob sich der Erklärungsadressat deswegen tatsächlich geirrt hat. Wird der Geschädigte nicht vernommen, weil diese Beweisaufnahme eingespart werden soll, wird ferner auch nicht im Einvernehmen mit den Parteien gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 4 oder Abs. 2 StPO zum Urkundenbeweis übergegangen, etwa weil die Geschädigten auch im Vorverfahren nicht oder jedenfalls nicht sämtlich befragt worden waren, dann fehlt ein aussagekräftiger Beweis der Tatvollendung. Der Angeklagte könnte eigentlich nur wegen einer versuchten Tat verurteilt werden. Sich darauf ohne Not zurückzuziehen, ist der Absprachenpraxis nach §§ 257c Abs. 1 Satz 2, 244 Abs. 2 StPO aber verboten, weil der Schuldspruch als nicht verhandelbar gilt.123 Soweit sich die Praxis daran nicht hält, nimmt sie Interpolationen vor. Das ist jedoch generell rechtsfehlerhaft.

120 BGH NJW 1999, 1562, 1564 m.w.N.; gegen eine Gleichsetzung von (intuitiv bestimmter) Wahrscheinlichkeit und Sicherheit auf der subjektiven Ebene Karl Peters, in: Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 374. 121 BGHSt 49, 84, 88; 50, 40, 55. 122 Dencker StV 1994, 503, 505; Hauer, Geständnis und Absprache, S. 178 f.; Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof? S. 149 f.; Schünemann NJW 1989, 1895, 1898 und ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005, S. 16 f. Fn. 40. 123 BGHSt 43, 195, 204; 50, 40, 47.

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V. Prüfungsgebote und Prüfungsmittel Als Grund für die ausufernde Akzeptanz des Geständnisses werden neben dem Entlastungseffekt das Beschleunigungsgebot und der Opferschutz vor sekundärer Viktimisierung genannt.124 Auch deshalb wird danach getrachtet, dass das Urteil praktisch schon vor der Hauptverhandlung feststeht, damit diese möglichst schlank gestaltet werden kann. Damit wird aber das einzige kontradiktorisch ausgestaltete Verfahrensstück annulliert, in dem eine Fehlvorstellung aus dem Vor- und Zwischenverfahren innerhalb der Verdachtshypothese korrigiert werden könnte. Das durch Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte faktisch bewirkte Vorurteil aufgrund der Verdachtshypothese wird demnach im Absprachenverfahren auch für das Urteil zum alleinigen Maßstab. Die Gewährleistung der mündlichen und öffentlichen Verhandlung der Sache durch ein neutrales Gericht wird aufgehoben. Die Neutralitätsgarantie als notwendige Ergänzung zum strikten Richtervorbehalt für einen Schuldspruch und Straf- oder Maßregelausspruch aus Art. 97 Abs. 1, 101 Abs. 1 Satz 2, 104 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK wird annulliert, wenn der Richter zur eigenen Arbeitsentlastung handelt und dann parteiisch ist. Alle Versuche, das Urteilsabsprachenverfahren in die überkommene Prozessordnung einzubauen, sind gescheitert. Denn es passt nicht zu dem Gebot, eine kontradiktorische Hauptverhandlung ergebnisoffen zu gestalten, wenn das Ergebnis vor der Verhandlung feststehen muss, um eine Verständigung zu ermöglichen. Das Geständnis muss nach der Rechtsprechung aber auch im konsensualen Verfahren auf seine Glaubwürdigkeit überprüft werden. Das Insistieren der Verteidigung auf Geständnisüberprüfung ist dann kein Geständniswiderruf.125 Sich aufdrängende Beweiserhebungen des Gerichts dürfen von Amts wegen nicht unterbleiben.126 Was damit gemeint sein soll, bleibt aber bisher unklar. Praktisch sind Aufklärungsgebote aus der „Richterpsychologie“127 des Abspracheverfahrens nicht mehr gegeben. Ein „glaubhaftes“ Geständnis wird oft zur Bedingung für gerichtliche Zusagen gemacht und was „glaubhaft“ ist, sollen letztlich der Anklagesatz oder die vorläufigen Feststellungen in einer Zwischenentscheidung sagen. Jede Behauptung der Ergebnisoffenheit dieses Verfahrens beruht auf einer Fiktion. Sie ist freilich schon

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BGHSt 49, 84, 88; 50, 40, 55. Salditt, in: FS für Widmaier, S. 545, 548. 126 BGHSt 43, 195, 203; 48, 161, 167; 50, 40, 47; Nack, in: Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2006, § 33 Rn. 17. 127 Allgemein dazu Karl Peters, in: Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 366 f. 125

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außerhalb des Abspracheverfahrens eine Unterstellung.128 Eine Justiz, die einen Freispruch als Niederlage betrachtet und dem mit aller Kraft entgegenwirkt, ist nicht neutral. Die Richtigkeit eines Geständnisses darf nach Meinung des Bundesgerichtshofs vom Tatgericht nicht durch bloß theoretische und spekulative Erwägungen in Frage gestellt werden.129 Folgt das Tatgericht dagegen dem Geständnis, dann trägt der Bundesgerichtshof ihm nur in besonderen Konstellationen bestimmte Erörterungspflichten auf, die sich auf das Geständnismotiv, die Aussageentstehung und den Aussageinhalt sowie die Aussagekostanz beziehen.130 Das gilt etwa für Fälle widersprüchlicher Äußerungen des Angeklagten131 oder bei einem nachträglichen Geständniswiderruf.132 Auch im letzteren Fall behält das frühere Geständnis aber angeblich seinen bisherigen Beweiswert;133 nur muss wegen des Widerrufs unter Berücksichtigung naheliegender Möglichkeiten erörtert werden, warum es zunächst abgelegt und später widerrufen wurde.134 Wird dies im Urteil aber dargelegt und liegt kein Denkfehler vor, dann nimmt das Revisionsgericht das Beweisergebnis hin. Unklar bleibt noch, ob in Fällen von Vorteilsversprechungen für den Fall des Geständnisses eine besondere Prüfungspflicht besteht. Ein Geständnis braucht natürlich nicht allein aufgrund der Tatsache, dass äußere Einflüsse auf den Beschuldigten eingewirkt haben, unwahr zu sein.135 Routinemäßig wird etwa in Missbrauchsfällen, in denen der Opferschutz besonders bedeutsam ist, von Tatrichtern gegenüber dem Angeklagten – an sich zu Recht136 - darauf hingewiesen, dass ein Geständnis, das zur Entbehrlichkeit der Zeugenvernehmung des „Opfers“ führt, erheblich strafmildernd ins Gewicht fallen werde. Legt der Angeklagte vor diesem Hintergrund ein Geständnis ab, so wird es jedenfalls nicht durch weitere Beweiserhebungen im Strengbeweisverfahren überprüft, denn diese sollen zum „Opferschutz“ gerade vermieden werden. Der zugrunde liegende Gedanke wirkt aber zirkelschlüssig, wenn die Eigenschaft des Angeklagten als Täter und diejenige eines Belastungszeugen als Opfer erst am Ende der Hauptverhandlung feststehen kann. Ähnlich ist es in Abspra128

Karl Peters, (Fn. 127) S. 364, 367. BGH NStZ 1998, 265 f. 130 Zur Methode der Geständniskontrolle Stern StV 1990, 563, 567 ff. 131 BGH wistra 2003, 351, 352 f. 132 BGH NStZ-RR 2004, 238, 239 f.; zur Verteidigerarbeit am Widerrufsfall Stern StV 1990, 563, 564 ff. 133 BGH StV 2003, 150, 151. 134 BGHSt 21, 285, 287; Nack, (Fn. 126) § 33 Rn. 18; s. a. BGH NStZ 1998, 475 f.; 1999, 153 zum freisprechenden Urteil nach Widerruf eines wiederholten Geständnisses. 135 RGSt 58, 298, 299. 136 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 60 f. 129

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chenverfahren, für welche die Arbeitsersparnis durch Wegfall der Beweisaufnahme der zentrale Beweggrund ist. Die Überprüfung des Geständnisses erfolgt dort, wenn überhaupt, nur anhand der Akten oder durch ergänzende Fragen und Vorhalte. Die Äußerungen des Angeklagten dazu sind aber kaum geeignet, Aktenwissen von „Täterwissen“137 zu unterscheiden. Mit dem Unmittelbarkeitsprinzip ist die Geständniskontrolle anhand der Akten unvereinbar.138 Erst recht gilt dies dann, wenn ein bestimmter Geständnisinhalt zur Absprachenbedingung gemacht wird. Das erfolgt in Fällen, in denen das Gericht für eine eigenen Zusagen ein „glaubhaftes Geständnis“ voraussetzt139 und betont, dass glaubhaft nur sei, was der Verdachtshypothese entspreche, wie sie im Anklagesatz ausformuliert wurde. Gibt der Angeklagte den Verlockungen oder Drohungen im Absprachenkontext statt und hat er nur die Wahl, ob er den Deal so, wie angeboten, annimmt oder gar nicht, dann formuliert praktisch das Gericht vor, was es hören will. Denn für die Verteidigung besteht ein neuer Unsicherheitsfaktor darin, dass sie nicht vorhersehen kann, ob sich das Gericht noch an seine Zusagen gebunden fühlt, wenn das Geständnis nicht exakt dem Erwartungshorizont entspricht.140 Das Verwertungsverbot nach § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO bietet keine Sicherheit dafür, dass der status quo ante ernsthaft wiederhergestellt wird; denn es entfaltet für die nachfolgende Verhandlung mit denselben Richtern oder auch für eine Neuverhandlung immer noch erhebliche Suggestivwirkung und hat nach herrschender Ansicht weder Folge- noch Fernwirkungen.141 Daher empfiehlt auch der Verteidiger, der die Verständigung befürwortet, das Geständnis möglichst anklagekonform zu gestalten. Damit wird der Boden der Erforschung materieller Wahrheit verlassen. Die Selbsterfüllung der Prognose des Eröffnungsbeschlusses wird durch das gerichtliche Postulat eines in seinem Sinne glaubhaften Geständnisses perfektioniert.142 Dies zeigt, dass eine Geständniskontrolle anhand der Akten keinen ernsthaften Rechtsschutz gewährleistet und nichts anderes bewirkt als eine Art von guilty plea.143

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Nack (Fn. 126) § 33 Rn. 19. Rieß, in: FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 438. 139 Zur früher abweichenden Bewertung nach § 136a StPO BGH NJW 1960, 1212, 1213. 140 Salditt, in: FS für Widmaier, S. 545, 546. 141 KMR/von Heintschel-Heinegg, StPO, 2010, § 257c Rn . 52; Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2629; Meyer-Goßner, StPO § 257c Rn. 28; Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, StPO § 257c Rn. 150. 142 Hettinger, in: FS für Egon Müller, 2008, S. 261, 268. 143 Weigend, in: Goldbach (Hrsg.), Der Deal mit dem Recht. Absprachen im Strafprozess, 2004, S. 37, 46. 138

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Eine beinahe konventionelle Verfahrenslage könnte in den Fällen der drittbelastenden144 Geständnisse angenommen werden. Erhöhte Anforderungen an die Beweisführung sind nach der Rechtsprechung zu stellen, wenn die Feststellungen entscheidend auf die geständigen Angaben eines tatbeteiligten Mitangeklagten145 oder gesondert verfolgten Zeugen146 gestützt sind, zumal wenn diese abwechselnd widerrufen und bestätigt worden sind.147 Basiert die Verurteilung eines Angeklagten auf Angaben eines Belastungszeugen, die seinem Geständnis in der gegen ihn geführten Hauptverhandlung entsprechen, und war dieses Geständnis seinerseits Gegenstand einer Absprache zugunsten des informellen Kronzeugen, dann muss die Glaubhaftigkeit der drittbelastenden Bekundungen in einer nachprüfbaren Weise gewürdigt werden.148 Das klingt gut, ist aber dennoch zu wenig, um den alltäglichen Problemen wirksam zu begegnen. Wie niedrig der Standard geworden ist, zeigt sich am historischen Vergleich: Verlangte das gemeine Recht noch zwei klassische Zeugen für eine Verurteilung, dann genügt heute schon ein notorisch unzuverlässiger Zeuge,149 der Eigeninteressen verfolgt. Bei der faktischen Beweisführung mit informellen Kronzeugen150 fällt auch immer wieder auf, dass die Justiz geneigt ist, demjenigen entgegen zu kommen, der eine Verdachtshypothese unterstützt. Das führt zu einem „Wettlauf um die erste Anzeige“.151 Informelle Kronzeugen sind „privilegierte Zeugen“. Dieses Resultat wäre nur hinnehmbar, wenn das Tatgericht einer Kontrolle durch ein leistungsfähiges Rechtsmittel unterläge. Das ist in der Revisionsinstanz jedoch nicht der Fall, da eine Rüge der Aktenwidrigkeit des Urteils unzulässig ist, eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht stattfindet und das Gebot, im Urteil alle wesentlichen Aspekte vollständig zu würdigen, folgenlos verletzt werden kann, wenn sich aus dem Text des „revisionssicheren“ Urteils selbst heraus eine Darstellungslücke nicht entnehmen lässt.

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Vgl. zum Schutz Dritter vor sie belastenden Geständnissen im Zivilprozess, Wolf, in: FS für Nakamura, 1996, S. 685 (690 ff.). 145 BGHR StPO § 261 Mitangeklagte 1 und 2; BGH, StV 1997, 172. 146 BGH NStZ-RR 1997, 105 f. 147 BGH NStZ-RR 1998, 17; Kuckein/Pfister, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 657. 148 BGHSt 48, 161, 168 mit Anm. Kargl/Rüdiger NStZ 2003, 672 ff.; Weider StV 2003, 266 ff.; BGHSt 52, 78, 82 mit Anm. Schmitz NJW 2008, 1751 ff.; Stübinger JZ 2008, 798 ff. 149 Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bestimmte in Art. 64 „Vonn belonten zeugen: Jtem belonte zeugen sein auch verworffenn vnd nit zulessig, sonndern peinlich zu strafen.“ 150 Kargl/Rüdiger NStZ 2003, 672, 673; Schünemann, in: FS für Baumann, 1992, S. 970. 151 Geipel, (Fn. 1) S. 332 ff.

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Das abgesprochene Urteil ist wiederaufnahmeanfällig,152 weil das Wiederaufnahmerecht noch so Geltung besitzt, wie es der historische Gesetzgeber erdacht hatte, nämlich in Strafkammersachen neben der inzwischen abgeschafften richterlichen Vorprüfung als funktionaler Berufungsersatz.153 Der Geständniswiderruf154 ist ein anerkannter Wiederaufnahmegrund,155 der freilich nur dann durchgreift, wenn der Widerruf mehr Beweiswert besitzt als das widerrufene Geständnis. Das wäre bei einem substantiierten Geständniswiderruf im Vergleich mit einem schlanken Geständnis als alleiniger Urteilsgrundlage eigentlich stets der Fall.156 Die Annahme, das Motiv für die anfängliche Ablegung eines falschen Geständnisses müsse plausibel dargelegt werden,157 geht an der zutreffenden Gewichtung des Geständnisses einerseits und der Plausibilität des Widerrufs meist vorbei. Mit der generellen Zulassung des Geständniswiderrufs als ausreichendem Wiederaufnahmegrund gegenüber einem Urteil, das alleine auf ein „schlankes Geständnis“ gestützt wurde, wird aber das Fortbestehen des Urteils praktisch davon abhängig, dass das Geständnis als alleinige Beweisgrundlage nicht widerrufen wird.158 Das zeigt andererseits, dass eine Absprachenpraxis fehlerhaft ist, die sich auf ein schlankes Geständnis oder eine anwaltliche Sachaussage verlässt. Die Praxis sucht auch dann Auswege, um die gegebene Wiederaufnahmemöglichkeit zu annullieren.159 Deshalb wird auf der Ebene der Geeignetheitsprüfung von Wiederaufnahmegerichten gefordert, dass der Antragsteller in seinem Wiederaufnahmeantrag nicht nur die Beweisgrundlage des Urteils, also das Geständnis, bekämpft, sondern auch zu allen Belastungsbeweisen, wie sie sich nur aus den Akten ergeben, Stellung 152

Hellebrand NStZ 2008, 374, 379; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Aufl., Rn. 243. 153 Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, 1913, S. 47; Dippel, in: Jescheck/Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht, 1974, S. 13, 39 f.; KMR/Eschelbach, StPO Vor § 359 Rn. 18; LR/Gössel, StPO Vor § 359 Rn. 29 und § 359 Rn. 160 f. 154 Stern StV 1990, 563 ff. 155 BGH NStZ-RR 1997, 173, 174; OLG Köln StV 1989, 98; OLG Stuttgart NJW 1999, 375, 376; Küpper/Bode Jura 1999, 393, 397 f.; Wasserburg/Eschelbach GA 2003, 335, 339 f. 156 KG StraFo 2006, 169 f. mit Anm. König; Eschelbach HRRS 2008, 190, 200; Hellebrand NStZ 2008, 374, 379; Schünemann NJW 1989, 1895, 1900; Wasserburg, in: Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl., § 16 Rn. 36. 157 OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454, 455. 158 Die wiederaufnahmerechtliche Rechtsprechung betont im Prinzip zu Recht, dass ein Urteil nicht von der Aufrechterhaltung eines Geständnisses abhängig sein dürfe; OLG Hamm, Beschl. vom 12.9.2000 – 2 Ws 232/00; OLG Köln NStZ 1991, 96, 97; OLG Koblenz, Beschl. vom 8.1.2001 – 1 Ws 718/00; OLG München NJW 1981, 594. Das betrifft jedoch nur das genau überprüfte Geständnis als tragfähige Urteilsgrundlage. 159 Vgl. dazu krit. Eschelbach HRRS 2008, 190, 202 ff.; Hellebrand NStZ 2004, 413 ff.; 2008, 374 ff.

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nimmt und deren Widerlegung Punkt für Punkt erläutert.160 Setzt er sich nicht mit allen Punkten auseinander, soll sein Antrag unzulässig sein.161 Damit wird aber der Wiederaufnahmeantrag nicht nur als Angriff auf das Urteil des Erstgerichts, sondern auf den Akteninhalt umfunktioniert, der als solcher nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen war; das „geht nicht an“.162 Freilich wünschen der Gesetzgeber163 und die Justiz nicht, dass bekannt wird, wie viele Fehlurteile vorkommen. Nur so ist zu erklären, warum es immer noch kein rechtliches Gebot der Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung gibt. Das kann kein Dauerzustand bleiben.

VI. Fazit War Klaus B. ein Doppelmörder, dann ist seine weitere Inhaftierung nach 40 Jahren rechtsstaatlich hinnehmbar. Bedenklich erscheint aber, dass auch in Justizkreisen noch Zweifel bleiben. Da das Revisionsverfahren mangels reproduzierbarer Dokumentation von Aussageinhalten und das Wiederaufnahmeverfahren wegen einer zu restriktiven Praxis keine befriedigende Inhaltskontrolle eröffnen, ist eine Reform der Kontrolle dringend. Eine einheitliche Rechtslage und Praxis der Handhabung von Geständnissen existiert nicht, denn es gibt nicht „ein“ Geständnis, sondern zahllose Varianten. Es gibt auch nicht „die“ Überprüfung eines Geständnisses, sondern nur ausnahmsweise eine schulmäßige Nachprüfung im Strengbeweisverfahren, meist allenfalls eine Überprüfung anhand des Akteninhalts, oft aber gar keine. Und es gibt nicht „die“ richterliche Sicht dieser Dinge, sondern eine divergierende Rechtsprechung. Zur Überprüfung des durch die Abspra160

OLG Hamm, Beschl. vom 14.4.2008 – 2 Ws 44/08. OLG Nürnberg, Beschl. vom 4.10.2007 – 2 Ws 343/07, zu dem Fall eines Geständnisses im Vor- und Hauptverfahren und des jeweiligen Widerrufs bei Vorliegen eines drittbelastenden Geständnisses eines informellen Kronzeugen. S. a. BayVerfGH, NStZ 2004, 447, 448 f., der Darlegungen aber nur in dem Umfang erwartet, dass „vernünftige Zweifel an der Wahrscheinlichkeit des die Urteilsfeststellungen mit tragenden Geständnisses“ aufkommen. Auch BVerfG NStZ 1994, 510 billigte das Postulat, der Antragsteller müsse die Umstände anführen, die ein für ihn sprechendes Beweisergebnis „mindestens als möglich“ erscheinen ließen; so auch BGH JR 1977, 217, 218. 162 Hellebrand NStZ 2008, 374, 379. 163 Hirschberg, (Fn. 35) S. 113. Auf Anfrage im Deutsche Bundestag wurde durch das BMJ im Einvernehmen mit den Landesjustizverwaltungen davon abgesehen, den Ertrag von Wiederaufnahmeverfahren offiziell zu bilanzieren (Deutscher Bundestag 4. Wahlperiode 14. Sitzung vom 14.2.1962 S. 408), weil sonst eine Beunruhigung der Bevölkerung und Richterschaft drohen könnte; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, 1998, S. 10. 161

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chenpraxis eingeschlagenen Irrweges ist die erneute Erstellung einer Fehlerquellenlehre erforderlich, ferner einer „Richterpsychologie“, danach die Fortbildung der Strafrichter in der Beweislehre und schließlich eine Änderung des Richterberufes, der nach angelsächsischem Vorbild erst nach einigen Jahren der forensischen Erfahrung an anderer Stelle dazu führen dürfte, dass bestimmte Personen von hoher Hand über Lebensschicksale entscheiden. Das sollte angestrebt werden und dafür gilt der Satz: Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Spuren der Strafrechtswissenschaft Eine Leseempfehlung THOMAS FISCHER

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. Franz Kafka: Wunsch, Indianer zu werden

1. Einleitung Im Sommer 2010 sind zwei Beiträge zu Begriff, Inhalt und Sinn von (Straf-) Rechtswissenschaft erschienen: Ein Vortragsmanuskript von Rainer Maria Kiesow: Rechtswissenschaft – was ist das?1, und ein von Eric Hilgendorf herausgegebenes umfangreiches biographisches Sammelwerk: Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen.2 Kiesow bestreitet, dass es so etwas wie Rechts-Wissenschaft – als Rechtsdogmatik – überhaupt gebe.3 In Hilgendorfs Sammelband soll sie sich darstellen. Beide 1

Rainer Maria Kiesow, Rechtswissenschaft – was ist das? Vortrag, gehalten am 19. November 2009 an der Universität Erlangen-Nürnberg, JZ 2010, S. 585 – 591. 2 Eric Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 4: Leben und Werk, Bd. 12), Verlag Walter de Gruyter Berlin/New York, 2010, XIV/702 Seiten. Im Folgenden verweisen alle Zitierungen (nur) mit Namen und Seitenzahl auf dieses Werk. 3 Vgl. aber Kiesow, Die Tage der Juristen, myops 10 (2010), S. 4, 13 ff.: Rechtswissenschaft als Reflexion.

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Veröffentlichungen haben in Zielsetzung und Anlage wenig gemein. Gleichwohl soll die Erstgenannte zum Anlass genommen werden, Projekt und Ergebnisse der Letzteren zu besprechen. Dass dies hier, in der Festschrift für eine Richterin und Vertreterin der Strafrechts-Praxis geschieht, bedarf kurzer Begründung.4 „Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen“ ist ein vertrackter Titel5 für das Unterfangen Hilgendorfs, durch Zusammenstellung autobiographischer Skizzen zum einen die Lebensgeschichten von deutschsprachigen Strafrechtsdogmatikern6 darzustellen, zum anderen hierdurch „einen Eindruck von der Vielfalt der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft zu vermitteln“.7 Zu diesem Zweck haben 21 Personen – Frauen sind, da es keine gab, die die Mitwirkungsvoraussetzungen erfüllten, nicht darunter – der Geburtsjahrgänge 1915 bis 1939, in alphabetischer Reihenfolge geordnet, ohne im Einzelnen vorgegebenes Konzept8 Schilderungen ihrer Lebensläufe verfasst.9 Die Verfasser waren – mit einer Ausnahme – Lehrstuhlinhaber und hauptamtliche Professoren für Fächer der „Gesamten Strafrechtswissenschaften“ an deutschen (17 von 21), österreichischen (einer) und schweizerischen (zwei) Universitäten; bei Beginn des Projekts waren sie mindestens 70 Jahre alt. Ihre Selbstbildnisse sollen in ihrer Gesamtheit ein Bild der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft entwerfen. Der Begriff der Wissenschaft, die der Titel des Sammelbands zunächst meint, ist somit kein wissenschaftstheoretischer oder materieller, sondern beschreibt eher den Berufs-Weg und die Berufs-Tätigkeit der Protagonisten, 4 Einleitungen von Beiträgen zu Festschriften klagen bisweilen über deren hohe Zahl sowie die (eigene) Mühe, ein Thema zu finden (besonders oft: Kühl, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 715; ders., Festschrift für Gössel, 2002, S. 191; ders., Festschrift für Jakobs, 2006, S. 293; ders., Festschrift für Herzberg, 2008, S. 177; ders., Festschrift für Seebode, 2008, S. 61; ders., Festschrift für Volk, 2009, S. 275; ders., Festschrift für Maiwald, 2010, S. 433; ders., Festschrift für Krey, 2010, S. 269, 272; und öfter). Diese Misshelligkeiten haben aber kein großes Gewicht. Die Klage über eine angebliche Inflation gab es vor 30 Jahren schon; sie gehört wohl ihrerseits zur Literaturgattung. Man kann im Übrigen wenigen Beschwernissen so leicht entgehen wie dieser: indem man für sich selbst akzeptiert, was man anderen empfiehlt. 5 Vorbild: Hans Planitz, Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I 1924; Bd. II 1925. 6 Siehe Hilgendorf, XIII. Die Einschränkung auf Strafrechts-Dogmatik wird allerdings in der Einleitung Hilgendorfs und in den Autobiographien nicht durchgehalten; jedenfalls teilweise wird der Begriff wohl synonym mit dem der „Strafrechtswissenschaft“ verwendet. 7 Hilgendorf, Einführung, XIII. 8 Einige Beiträge (Lackner, Maihofer, Schreiber) sind nach Interviews vom Herausgeber entworfen, wurden aber von den Autoren überarbeitet (Hilgendorf, XIII). Der Text über Theodor Lenckner entstand posthum und ist von Edward Schramm verfasst. 9 Der Text von Lüderssen (351–383) entspricht, mit kleineren Ergänzungen, dem letzten Kapitel seines autobiographischen Buchs „Kein Gershwin mehr in Wernigerode. Unregelmäßige Erinnerungen“, das 2009 erschienen ist (dort S. 151–196). Leider fehlt ein Hinweis hierauf.

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aus welcher sich Wissenschaft als Beruf, vielleicht auch das „Wesen“ von Strafrechtswissenschaft erschließen können, wenn und soweit die Verfasser Lebensbilder vermitteln, die Strafrechts-Wissenschaft als Inhalt beschreiben. Das Verhältnis zwischen Strafrechtspraxis, namentlich der Praxis der Strafgerichte, und Strafrechts-Wissenschaft10 gilt als spannungsreich, ungeklärt, jedenfalls problematisch.11 Es ist damit freilich mehr angesprochen als die bloße Frage nach „gegenseitiger Befruchtung“, Kenntnis- und Bezugnahme, nach Bemühungen um Begegnung und Austausch. Vielmehr stellt sich am Grunde die Frage, ob und ggf. wie das Strafverfolgungssystem der Gesellschaft überhaupt von „Wissenschaft“ beeinflusst, gesteuert oder abhängig ist; umgekehrt, ob Strafrechtspraxis überhaupt Ziel, Gegenstand, Anwendung von „Strafrechts-Wissenschaft“ sein kann oder soll: Ist Strafjustiz die Praxis von Strafrechtswissenschaft? Und: Was ist das überhaupt für eine Wissenschaft, deren Ergebnisse „vertretbare“ Urteile und deren gleichermaßen vertretbares Gegenteil sind? Eine Selbstdarstellung der Strafrechtswissenschaft, die nicht allein immanenten Strukturen dogmatischer Ausdifferenzierung folgt, sondern Ergebnisse persönlicher Motivationen beschreibt, könnte hierüber vielleicht Auskunft geben. Ich hoffe, mit der Frage hiernach das Interesse der Jubilarin jedenfalls nicht zu verfehlen.12

10 Eine breit angelegte, zusammenfassende Bestandsaufnahme aus der Innensicht findet sich bei Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, FS für Claus Roxin, 2001, S. 1 – 32. 11 Beispielhaft seien genannt: Erb, Strafrechtswissenschaft, höchstrichterliche Rechtsprechung und tatrichterliche Praxis des Strafrechts, ZStW 113 (2001), S. 1 ff.; Fischer, FS für Rainer Hamm, 2008, S. 63 ff.; Radtke, Gestörte Wechselbezüge? Zum Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung, ZStW 119 (2007), S. 69 ff. Zum Verhältnis zur Gesetzgebung: Joachim Vogel, Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 105 ff.; Wolfgang Frisch, Zur Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Entwicklung des Strafrechts, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, Kap. 5. Fezer (HRRS 2010, 281) denunziert die Frage (unzutreffend) als „Modethema“ – freilich nur, um sich ihr alsdann selbst vertieft zuzuwenden. 12 Ruth Rissing-van Saan gehörte von Anfang an zu den Protagonisten des „Karlsruher Strafrechts-Dialogs“, einer seit 2007 stattfindenden, inzwischen wohl als „eingeführt“ geltenden Veranstaltungsreihe beim Bundesgerichtshof zum Meinungs-Austausch namentlich zwischen Strafrechtslehrern und Angehörigen von Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft. Es ist zu wünschen, dass die Veranstaltung zukünftig mehr noch als bisher zum Dialog genutzt wird, etwa durch gezielt „gekreuzte“, auf die jeweils andere Seite bezogene Themenauswahl.

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2. Literarisches a) Aus Titelei oder Vorwort des Sammelbands ergibt sich nicht, ob es sich um den Beginn einer Reihe handelt. Die im Titel formulierte Regel der Selbst-Darstellung ist insoweit gebrochen, als ein fremd-biographischer Text über Theodor Lenckner wegen dessen Bedeutung für die deutsche Strafrechtswissenschaft13 in die Sammlung aufgenommen wurde. Die Erläuterung der Autorenauswahl weist, neben dem Anforderungsprofil „Strafrechtswissenschaftler“, nur auf das objektive Kriterium eines Mindestalters von 70 Jahren hin, daneben auf nicht näher erläuterte subjektive Präferenzen des Herausgebers sowie auf die Einschätzung, es seien „überwiegend Autoren ausgewählt (worden), deren strafrechtswissenschaftliche Arbeiten internationale Wirkung entfaltet haben“ (Hilgendorf, XIII). Letzteres erklärt freilich noch nicht, warum andere nicht berücksichtigt wurden, deren internationale Wirkung – woran auch immer man diese messen mag – vermutlich nicht geringer ist.14 Der Grund könnte in einer nach ganz subjektiv-emotionalen, also zwar legitimen, aber eher wissenschafts-fernen Kriterien vorgenommenen Auswahl liegen; aber auch darin, dass weitere Autoren zwar angesprochen wurden, einen Beitrag aber nicht liefern wollten. Die Angabe, ob das eine oder das andere der Fall war, wäre zur Orientierung des Lesers zumindest hilfreich, fast schon erforderlich. Denn ein Portrait „der Strafrechtswissenschaft“ muss unter dem Bedenken der Ungenauigkeit stehen, wenn die Auswahlmethode keine einigermaßen hinreichende Gewähr für Repräsentativität bietet oder wenn für deren Fehlen – oder Fraglichkeit – keine inhaltlichen Gründe genannt werden. So formuliert der Titel des Sammelbands im Ergebnis vielleicht eher dessen Wunsch oder Versprechen als seinen Inhalt; ein Titel „Selbstdarstellungen deutschsprachiger Strafrechtswissenschaftler“ hätte besser getroffen, was der Leser erwarten kann.

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Hilgendorf, XIII. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien beispielsweise genannt: Knut Amelung, Ulrich Eisenberg, Gerhard Fezer, Karl-Heinz Gössel, Gerald Grünwald († 18. 12. 2009; Nachruf Dencker StV 2010, 110), Ernst-Walter Hanack, Winfried Hassemer, Rolf Dietrich Herzberg, Günther Jakobs, Heike Jung, Wilfried Küper, Manfred Maiwald, Heinz Müller-Dietz, Harro Otto, Hans-Joachim Rudolphi († 24. 7. 2009; Nachrufe Wolter/Rogall NJW 2009, 3219; Paeffgen StV 2009, 615), Manfred Seebode, Ernst Amadeus Wolff († 3. 5. 2008; Nachruf Zaczyk JZ 2008, 885). 14

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b) Die literarische Form der Autobiographie kennt viele Gestalten, folgt eigenen Regeln und hat immanente Kriterien der Qualität. Freilich sind die Anforderungen der Form, die an die Autobiographie eines (Strafrechts)Wissenschaftlers in seiner Rolle als Repräsentant seiner Berufsgruppe gestellt werden, gewiss andere als die Erwartung an die Selbstdarstellung von Personen, die als solche im Interesse der Öffentlichkeit stehen oder stehen sollen. Ernst-Joachim Lampe formuliert den Unterschied in seinem Beitrag so: „Ihre Autobiographie werden (Wissenschaftler) weniger wie die Künstler und Politiker zur Selbstbesinnung bzw. der Darstellung der eigenen Entwicklung benutzen als vielmehr zur Zusammenfassung ihrer Forschungsergebnisse. Was ihnen darüber hinaus an persönlichem Erleben mitzuteilen bleibt, (…) betrifft hauptsächlich die zeitgeschichtlichen Verhältnisse, unter denen sie ihre Arbeit verrichtet (haben)… Insoweit haben sie nichts Außergewöhnliches mitzuteilen…“ (Lampe, 305).15 Das sieht nicht jeder der 21 Autoren so16, vielmehr wohl nur eine Minderheit; auf die Gründe dafür oder auf deren Richtigkeit kommt es hier nicht an. Die Mehrzahl hat sich für Mischformen zwischen – teils sehr persönlichen – Schilderungen des Lebens-Wegs und mehr oder minder ausführlich kommentierten Berichten über den „Werdegang“ in Ausbildung und Beruf entschieden. Dabei ist auffällig, dass bei fast allen Autoren Ausführungen persönlich-lebensgeschichtlichen Inhalts, Schilderungen von Emotionen, Vorstellungen oder Plänen sich beinahe ganz auf die Zeit ihrer Kindheit und Jugend beschränken – die durchweg, aber mit recht unterschiedlichem Gewicht als berichtenswert angesehen wird –, während die Neigung zur persönlich-biographischen Öffnung oder Reflexion mit dem Fortschreiten der berichteten Lebensabschnitte abnimmt. Es ist kaum anzunehmen, dass diese – gerade in ihrer Wiederholung deutlich werdende – Gewichtung auf jeweils bewussten Entscheidungen beruht. Sie offenbart daher eine durchaus sympathische Laienhaftigkeit im Umgang mit nicht-fachlichen Texten; zugleich aber auch eine Haltung der Vorsicht gegenüber möglichen Risiken

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Vgl. auch Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 10. Aufl. 1996, S. 14: „Es hat sich, soweit seine Kunst in Betracht kommt, selbst bei einer Persönlichkeit vom Range Goethes gerächt, dass er sich die Freiheit nahm, sein ’Leben’ zum Kunstwerk machen zu wollen (…) Auf dem Gebiet der Wissenschaft aber ist derjenige ganz gewiss keine ‚Persönlichkeit’, der als Impresario der Sache, der er sich hingeben sollte, mit auf die Bühne tritt, sich durch ‚Erleben’ legitimieren möchte und fragt: Wie beweise ich, dass ich etwas anderes bin als nur ein ‚Fachmann’, wie mache ich es, dass ich, in der Form oder in der Sache, etwas sage, das so noch keiner gesagt hat wie ich: – eine heute massenhaft auftretende Erscheinung, die überall kleinlich wirkt, und die denjenigen herabsetzt, der so fragt (…).“ 16 Vgl. etwa Stratenwerth, 568.

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der Offenbarung – mögen dies solche der Selbstreflexion oder der sozialen Sichtbarkeit sein. Die heftigen Abneigungen, die Schulen von Haltungen und sogenannten „Grundeinstellungen“, die von außen oft als gegenseitige Zuschreibungen erscheinen, ermüdende Kämpfe um Bedeutungen17: Sozialpsychologisch sind auch diese Erscheinungen fast unvermeidlich in den bisweilen engen Räumen der Fakultäten und Lehrstühle mit ihrer strukturell vorgegebenen Eigenbezogenheit; sie sind jedem vertraut, der sich dem (Verwaltungs)System der (Rechts)Wissenschaft nähert. In den Autobiographien bleiben solche Misshelligkeiten unsichtbar. Schwierige Kollegen, unangenehme Arbeitssituationen, berufliche Unzufriedenheit, mangelnde Anerkennung, unfairer Konkurrenzkampf, schlechtes Personal: All dies gab es angeblich, wenn überhaupt, nur in lang vergangener Zeit. Eine solchermaßen verschönte Darstellung der Rahmenbedingungen hat freilich auch ihre sachlichen Gründe: Eine Wissenschaftsbiographie ist kein Ort der Abrechnung; und in einem weitgehend geschlossenen System von wenigen hundert Personen müssen Grenzen der Toleranz gut bedacht werden.18

c) Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit des Stils, der erzählerischen Haltung, der literarischen Emotion, in welcher die Skizzen verfasst sind. Fast die Hälfte der Autoren hebt eigene Nähe zur Kunst, nicht zuletzt auch zur schönen Literatur hervor. Gleichwohl bleiben Versuche, der eigenen Biographie künstlerische Form zu geben, auf den 700 Seiten des Sammelwerks selten.19 Auch hier, im Rückblick auf das eigene Leben, bleibt der Jurist bei seinem Leisten: Die mittlere Tonlage dominiert bei weitem; die Furcht vor dem Exzess ist spürbar; selbst die Beschreibung der Exzentriker, denen Juristen 17

Otto Lagodny: Strafrechtswissenschaft als „Kampfsport“, Festschrift für Volkmar Mehle, 2009, S. 339. 18 Hinzu kommen Eigenheiten der Sache, auf welche noch einzugehen ist. Eine Wissenschaft, in der man (fast) immer Recht hat, die kaum ein Misslingen kennt und keine Supervision, betrieben von Personen, die in (fast) vollständiger inhaltlicher Unabhängigkeit jeweils an der Spitze von kleinen Gruppen stehen, deren Mitglieder von ihrem persönlichen Wohlwollen existenziell abhängig sind: Es drängt sich auf, dass in einer solchen Struktur auch unsachliche Motive, individuelle Beschränktheiten und kollektive Ausgrenzungen ihren Platz haben. Das mindert den Wert dieser Struktur für die Entwicklung des kritischen Geistes nicht unbedingt, verlangt aber hohe Aufmerksamkeit gegenüber Fehlerquellen. Insofern gilt für die (Straf)Rechtswissenschaft nichts anderes als für vergleichbare Stukturen. 19 Anders etwa: Klaus Lüderssen (oben Fn. 9). Dagegen ist die autobiographische Skizze Günter Spendels, Jugend in einer Diktatur. Erinnerungen eines Zeitzeugen, 1998, nicht mit literarischem, sondern vorwiegend historisch-aufklärerischem Engagement geschrieben.

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im Berufsleben begegnet zu sein gern behaupten, ist erkennbar von der Sorge getragen, nicht etwa selbst für einen solchen gehalten zu werden; Belanglosigkeiten, Schicksalsschläge und Triumphe verschwimmen gleichermaßen im milden Licht des Imperfekt aktiv zum Bericht: Nun starb mein Vater; nun schrieb ich ein Buch; nun heiratete ich; nun wurde ich Privatdozent. Natürlich gibt es, wie stets, Ausnahmen. Wer Vorträge von Gunther Arzt hörte, wird in dessen Beitrag intellektuelle Eleganz und feine Linien der Ironie jenseits üblichen Juristenhumors wieder finden. Die hochreflektierte Darstellungs-Kunst Claus Roxins, der mit dem Gestus des Weltbewegers selbst da noch souverän spielt, wo er eigenen Worten in weiten Räumen nachlauscht, die Arme erhoben wie Charlton Heston zur Teilung des Roten Meers, ist auch in gedruckter Form stets eine Freude. Auf der anderen Seite der Waagschale können einige nicht ganz gelungene Bemühungen ums Anekdotische, einige literarisch weniger überzeugende Versuche, der eigenen Vita durch Erwähnung von griechischen Göttern oder italienischen Architekten retrospektiv eine Nähe zur Hohen Kunst, vielleicht gar eine Neigung zur Bohème abzugewinnen, leicht ertragen werden: Auch hier wird der Leser mit Exzessen nicht strapaziert. All das ist streckenweise sehr interessant, menschlich oft sympathisch, manchmal vielleicht etwas klein kariert.20 Ein wenig anstrengend sind die Ausführungen, mit denen drei der vier aktiven Kriegsteilnehmer unter den Autoren Einzelheiten ihrer Teilnahme am Russland-Feldzug21 einschließlich eigener Hochbegabung auch auf diesem Gebiet22 erläutern. Interessanter als die Wiedergabe soldatischer Pflichterfüllung23 und die Erwähnung hierfür

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Dieses Urteil ist, zugegeben, entschieden subjektiv und sollte mit Blick auf das eigene Spiegelbild geprüft werden. Es berechtigt weder den Verf. noch den geneigten Leser zur Selbstgefälligkeit. 21 S. 173 ff.; 278 ff.; 598 ff.; anders, knapp und klar Maihofer, 392: “Eine ungeheuerliche Erfahrung … war der Russlandfeldzug, den ich als Nachrichtenoffizier (…) erlebte, von den Schlachten um die Ukraine und die Krim bis zu den wahnwitzigen Versuchen einer Eroberung von Leningrad und Stalingrad, mit denen dieser Feldzug in einer militärischen Katastrophe endete.“ 22 „Ich brachte es binnen kurzer Zeit im Morsen auf 120 Buchstaben in der Minute, was allgemein als respektable, bisher nur von Berufssoldaten erreichte Leistung beurteilt wurde“ (Lackner, 277); „Ich vermochte als Jurist durch gut formulierte und gegliederte Bataillonsbefehle meine Lücken in der Führung von Panzerverbänden teilweise auszugleichen…“ (Jescheck, 174). 23 „(Ich schrieb) einen kleinen Artikel über die Haltung der deutschen Offiziere in diesem Krieg (…) Als er mich fragte, warum von uns keiner desertiert sei, antwortete ich: ‚Un officier allemand ne déserte pas’“ (Jescheck, 177).

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erlangter Belobigungen wären hier Gedanken über Schrecken, Trauma, Verantwortung gewesen.24 Unter den Lebensschilderungen finden sich sehr interessante und lesenswerte, vor allem von Autoren, die die Begebenheiten des Lebens nicht als Echo der eigenen Bedeutsamkeit vorstellen. Das ist in autobiographischen Texten nicht einfach zu erreichen. Diese werden, wenn es gelingt, zur Literatur; andernfalls bleiben sie in den Zähheiten einer ermüdend ausgebreiteten „Lebenslauf“-Prosa stecken. Es geht an dieser Stelle freilich weder um eine Kritik der literarischen Fähigkeiten der Autoren noch gar um eine Bewertung ihrer Lebensgeschichten, die mit Enthüllungen kleiner Schwächen Aufmerksamkeit erregt.25 Mein Erkenntnisinteresse folgt der Ambition des Sammelwerks: Es fragt, ob sich aus den Selbstdarstellungen der Personen Elemente ergeben, die einen Rückschluss auf belangvolle Inhalte von Strafrechts-Wissenschaft erlauben.

3. Autobiographisches a) Dass alle Autoren Männer sind, wurde schon erwähnt. Personen mit „Migrationshintergrund“ sind nicht darunter; nur ein „Flüchtling“ im engeren Sinne; kein Jude. Sieben Autoren stammen aus Ostdeutschland, sind aber schon vor dem Mauerbau nach dem Westen gelangt; eine DDRBiographie findet sich nicht.26 24 Die Kriegsteilnehmer sahen dies in ihrer großen Mehrheit anders. Die Mehrzahl schwieg anhaltend; eine Minderheit berichtet bis heute vom anrennenden Russen, dessen man sich pflichtgemäß erwehrte (hierzu auch: Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, 2010). Für die Nachkriegsgeneration war ersteres fast noch schwerer zu ertragen. Deutsches Spezifikum waren nicht die Ausdrucksformen der Traumatisierung, wohl aber deren lebenslange trostlose Ausweglosigkeit. Die ins Weinerlich-Gemütvolle verklärte Form kann man im Kino der 50er und 60er Jahre in den verschiedenen Gestalt-Angeboten des anständigen deutschen Soldaten besichtigen, der in Stalingrad Weihnachtslieder sang und über all dem Völkermord ein guter Mensch blieb. 25 Hierzu nur ein Gemeinplatz: Der sichere Tod der Bedeutsamkeit ist die gravitätische Pose. Ihr verfallen, tragisch, gerade diejenigen, denen am Wissen der Welt um ihre Bedeutung besonders gelegen ist. Die kundigen Geier des Feuilletons wissen das. Dies ist der Quell ihrer eigenen Hybris. 26 Das entspricht dem Stand der Wiedervereinigung im Jahr 20. Zu einzelnen Personen findet sich insoweit etwas z. B. bei Klein/Saar/Schulze (Hrsg.), Zwischen Rechtsstaat und Diktatur. Deutsche Juristen des 20. Jahrhunderts, Berlin 2005; vgl. auch Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der DDR 1949-1971. Dokumente zur politischen Steuerung im Grundlagenbereich, 1996; Mahlmann, Die Strafrechtswissenschaft der DDR, 2002 (Diss. Kiel). Von hohem Anschaulichkeits-Wert ist ein

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Erkenntnisse der Juristen-Soziologie werden bestätigt: Ausnahmslos stammen die Autoren aus kleinbürgerlichem Milieu: Mittlere und höhere Beamte, Ingenieure, Lehrer, selbständige Handwerker, mittlere Offiziere, Kleinunternehmer und Freiberufler waren die Väter, die Mütter Hausfrauen. Ein Autor gibt an, er stamme aus „einfachen Verhältnissen“. Die (Fach)Arbeiterschicht als Wurzel findet sich nicht; ebenso wenig großbürgerliche Kreise oder das Milieu des höheren Adels. Dieser Herkunft entsprechen viele Angaben zu den Motiven der Wahl des Studienfachs: Hoffnungen auf sichere Positionen, auf breite Berufsmöglichkeiten, auf „etwas Vernünftiges“. Die biographischen Urspünge sind für Juristen repräsentativ; sie sind interessant, da sie regelmäßig auch prägend sind für den Blick auf die Welt: Das Kleinbürgertum – die „Mittelschichten“ – ist das Zentrum unserer Kultur, der Kraftquell ihres Erfolgs, das Laboratorium ihrer Innovation.27 Hier schaut man bewundernd hinauf zu den mächtigen Herren und den anerkannten Künstlern, und schaudernd hinab in die Abgründe des Poverismus, aus denen die Großväter einst emporstiegen. Hier steht die Wiege der herrschenden Meinung, des Stolzes über den Aufstieg aus eigener Kraft, der Liebe zum mittleren Maß.

b) Kaum einer der Autoren versäumt, eine gewisse Offenheit des Elternhauses, der Biographie und des eigenen Denkens zur Kunst zu erwähnen, oft zur Musik.28 Bemerkenswert ist auch die Häufigkeit der Schilderung einer frühen Hinwendung zu grundsätzlichen Fragen, etwa in Philosophie, alten Sprachen, Geschichte. Ob dies tatsächlich die Wirklichkeit des jeweiligen Knabenalters wiedergibt oder eher die Schwerpunkte der Rückschau, mag dahinstehen. Erfahrungen oder lebensgeschichtliche Prüfungen durch die NS-Zeit werden überwiegend nur gestreift, von etwa der Hälfte der Autoren nur knapp

Video-Interview mit Erich Buchholz (geb. 1927; em. Ordinarius HU Berlin, seit 1976 Direktor der Sektion Rechtswissenschaft), abzurufen etwa unter www.heimat-ddr.de. 27 Schöne Beschreibungen stammen von Hans Magnus Enzensberger; vgl. etwa Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums, Kursbuch 45 (1976), 1; Verteidigung der Normalität, Die Zeit v. 28. 5. 1982 (in: Der fliegende Robert, 1982); Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, 1990. 28 Durchweg bleibt freilich offen, was man sich hierunter konkret vorzustellen hat (Ausnahme: Lampe, 310). Auch dies entspricht einem von den Autoren unterstellten (kulturellen) „Grundkonsens“, der, so ist zu vermuten, seinen Schwerpunkt im Bereich des bildungsbürgerlichen Kanon der 50er und 60er Jahre hat. Erfrischend ist das Bekenntnis von Ulrich Weber zur Unmusikalität (Weber, 641).

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erwähnt.29 Nur zwei Autoren teilen mit, ihre Väter seien NS-Anhänger gewesen; mehrere berichten aber von dezidiert antifaschistischen Einstellungen, Aktivitäten und Erfahrungen in ihrer Kinder- und Jugendzeit (insb. Weber, 635 ff.; auch Spendel, 529).30 Manche erwähnen vage die „Verhältnisse“, wobei auch Beschönigungen nicht fehlen31; vor allem aber die Wirren und Erschwernisse der Niederlage (meist: „der Zusammenbruch“). Von Erleichterung über das Ende der Diktatur und Hoffnung auf einen bewussten „ganz anderen“ Neuanfang 1945 berichten nur wenige dezidiert (vor allem Maihofer, 392 f.; vgl. auch Lüderssen, 351 f.; Naucke, 417; Roxin, 458; Stratenwerth, 556, 564; Weber, 639 f.). Für die meisten scheint die NS-Zeit eine eher blasse Erinnerung der Kindheit zu sein32; die späten Kriegsjahre erlebten sie im Jugendalter als Zeit der Bedrückung und Angst, die Nachkriegszeit als Lebensperiode der erstmals eigenen Strukturierung eines Alltags-Lebens. Erstaunlich immerhin ist, dass, von Ausnahmen abgesehen (insb. Spendel, 529 ff.; Roxin, 458 f.), in den Autobiographien eine „Aufarbeitung“ weithin fehlt.33 Es finden sich meist (Ausnahme etwa: Weber, 638 ff.) weder autobiographische Hinweise auf eigenen Umgang mit Informationen zu Taten und Tätern des NS-Regimes, die bei fast allen Autoren der hier vertretenen Generation in unmittelbarer – familiärer, sozialer, beruflicher – Nähe verfügbar gewesen sein müssen, noch Erwägungen zur „insgesamt fehlgeschlagenen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz“34 in der (jungen) Bundesrepublik, in der sich die im Sammelband dargestellten juristischen Karrieren entfalteten. Es enttäuscht, dass in den 21 Autobiographien von vor dem Krieg geborenen deutschen Rechtsgelehrten ein Erkenntniszusammenhang zwischen der „vollständigen Missachtung der Idee von Gerechtig29 Die vertretenen Jahrgänge 1915 bis 1939 können unterteilt werden in die Altersgruppe der aktiven Kriegsteilnehmer (1915 bis 1922), eine zur „Flakhelfer-Generation“ zählende Gruppe (1924 bis 1929) und eine Gruppe von nach 1930 Geborenen, die NS-Diktatur und Krieg nur als Kinder erlebten. 30 Zu Lüderssen vgl. ders. (oben Fn. 8), S. 58 ff. 31 „Erst 1940 blieb (meinem Vater) mit Rücksicht auf die Familie nichts anderes übrig, als der Partei beizutreten“ (Hirsch, 126). Lackner (Abitur 1933 in Bonn) erinnert sich, dass es in den Jahren 1930 bis 1933 einen „latenten (!) Antisemitismus (gab), der in den Medien bisweilen (!) erhoben wurde“ (Lackner, 272). 32 Ausführliche biographische Erinnerungen bei Lüderssen (oben Fn. 8), S. 43 ff. 33 Die NS-Prozesse der Nachkriegszeit erwähnt Spendel; Maihofer die Nürnberger Prozesse; interessant sind auch die Hinweise von Naucke (426) auf Gespräche mit dem in Kiel weiter Strafrecht lehrenden NS-Strafrechtler Georg Dahm. Vgl. dazu aber: Thomas Horstmann/Heike Litzinger, An den Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NSVerbrechen, 2006. Als Gesprächspartner vertreten sind dort unter anderem die auch hier vertretenen Autoren Karl Lackner (ebd., S. 149 ff.) und Claus Roxin (ebd., S. 203 ff.). 34 BGHSt 41, 317, 339.

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keit und Menschlichkeit, die das Bild der NS-Justiz prägte“35, und der eigenen Rechtsidee nur von einer Minderheit überhaupt explizit angesprochen wird.36 Für die Jüngeren unter den Autoren begann in der Rückschau mit der Nachkriegszeit ersichtlich erst das Leben. Hierfür waren die Gründung der Bundesrepublik und die Bedeutung des Grundgesetzes wohl nicht wirklich wichtig; sie werden kaum einmal erwähnt. Auch die traumatisierende Erfahrung, dass fast zwei komplette Väter-Generationen, die große Mehrheit der 1949 (noch) lebenden erwachsenen Männer in Deutschland, ihren Kindern (und sich selbst) nicht nur als (prima facie) mutmaßliche Handlanger von Menschheitsverbrechen, sondern vor allem auch als gedemütigte Verlierer gegenüberstanden, findet in den Autobiographien der Söhne weder Erwähnung noch Reflexion.37 Es soll hier nicht der Versuch einer (spekulativen) Projektion dieser Tatsache auf die Lebenswege und wissenschaftlichen Berufslaufbahnen unternommen werden. Als Hypothese mag freilich formuliert sein, dass es eines höchst komplizierten innerpsychischen und sozialen „Bewältigungs“-Prozesses bedurft haben muss, diese katastrophale Erkenntnis im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik bis in die 60er Jahre fast vollständig zu ignorieren und in den individuellen Familien- und Lebensgeschichten in eine im Rückblick oft merkwürdig indifferent und leer erscheinende Haltung vorgeblicher Kontinuität des „Normalen“ umzuwandeln. Dass dies ohne Einfluss auf den Beruf blieb, ist wenig wahrscheinlich.

c) Die Wege ins Rechtsstudium und an die Schwelle des Berufs gleichen einander in überraschenden Aspekten; Ausnahmen sind selten. Die eindrucksvollste, auch biographisch riskanteste Schilderung liefert HansHeinrich Jescheck: „Ein Jahr vor dem Abitur hatte (…) ich Gelegenheit, an einer ‚Hellas-Fahrt’ von deutschen Professoren und Studenten teilzunehmen (…) Bedeutsam war für mich damals ein Erlebnis bei dem Rundgang auf der Akropolis in Athen. Der große Archäologe Wilhelm Dörpfeld legte mir (…) die Hand auf die Schulter, wie um sich auf mich zu stützen. In diesem Augenblick entstand in meiner Vorstellungswelt der Gedanke: Ich will auch Professor werden (…)“ (Jescheck, 169 f.). 35

BGHSt 41, 317, 340. Vgl. hierzu auch Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, 2010, S. 77 ff. Auf die Darstellungen in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33) zur „Königsteiner Tagung“ im April 1966 sei ausdrücklich verwiesen. 37 Ein entfernter Hinweis findet sich bei Lampe, 307. Vgl. auch Lüderssen (oben Fn. 8), S. 108 ff. 36

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Dieses Erweckungserlebnis steht in seiner anrührenden Zerbrechlichkeit allein unter den Autobiographien. Dort überwiegen stattdessen Schilderungen bemerkenswert früher Begabungen, Höchstleistungen und Beurteilungsfähigkeit. Nicht stets wird die Grenze etwas kleinrahmigen Selbstlobs gemieden: Dass Noten von Lateinklausuren oder Belobigungen für die Mitarbeit im Schulorchester international bekannten Hochschullehrern noch nach 60 Jahren zum Beleg ihrer Begabung dienen, ist mitunter etwas anstrengend. Es gilt für den Bereich des „Allzumenschlichen“ bei Strafrechtsprofessoren ersichtlich nichts anderes als bei Richtern und überhaupt im Leben. Dies müsste nicht besonders erwähnt werden, wäre die inhaltliche Basis berichteter Meriten nicht so erstaunlich schmal und so entschieden aufs Milieu derjenigen bezogen, die Etwas Besseres werden, aber bestimmt nicht zu hoch hinaus wollen.38 Kein einziger schlechter, nur ein einsamer „mittelmäßiger“ Schüler; kein präsumtiver Weltumsegler, Industriekapitän, Tyrannenmörder oder Hollywoodstar, keine Träume von den Quellen des Nils. Stattdessen ein paar Sportler, Wandersleute und Opernfreunde: Mehr Extreme finden sich nicht in der Wüste Klavier spielender guter Lateiner, leidlich begabter Mathematiker39 und philosophierender Knaben. Die Liste früher Interessen und Studien ist bei manchem lang und von beeindruckender Tiefe: Schon mit Anfang 20, so will es die Erinnerung wissen, kannte man seinen Goethe; und die Überlegung, ob man Zahnarzt, Erdkundelehrer oder Strafrechtsprofessor werden solle, stützte sich auf eine im autobiographischen Rückblick erstaunlich verbreitete Liebe zu alten Sprachen, schönen Etüden und südländischer Philosophie. Auch die Erkenntnisse, dass Schullehrer wesensmäßig zu übertriebener Fortschrittlichkeit neigen40 und dass der Vergleich des Bildungsniveaus heutiger Abiturienten mit dem des Rechtsgelehrten als Jüngling ein „bestürzendes

38 Dieses sozialpsychologische Leitmotiv kleinbürgerlicher Lebenskultur findet sich namentlich auch unter Justizjuristen und Rechtsanwälten weithin: Nichts wird verächtlicher angesehen und ist so risikoreich wie das offene Bemühen, sich über die „Kollegen“ zu erheben. Zugleich gelten freilich, im jeweiligen forum internum, fast alle Karrieren außer der eigenen als unverdient, zufällig, von Glück, Beziehungen oder Unverstand gesteuert. 39 Auch die seltsame Theorie „Schlechter Mathematiker – schlechter Jurist“ findet Erwähnung (Spendel 528); allerdings auch Widerspruch (Lüderssen, 535). Der Verf. dieses Beitrags erlebte die Praxis dieser Regel beim Besuch von Spendels Vorlesung „Strafrecht AT“ im Wintersemester 1980/81: Wer eine „falsche“ Antwort gab, wurde vom Professor nach der Mathematik-Note im Abiturzeugnis befragt. War diese schlechter als „gut“, gab das dem Rechtsgelehrten, zur eigenen und zur Erheiterung des Auditoriums, Anlass zur nachdrücklichen Empfehlung des Studienabbruchs. 40 Lackner, 272. Das Wort „Fortschrittlichkeit“ steht, wie meist, auch hier in Anführungszeichen. Sie deuten zugleich die eigene Kenntnis des Bewertungsmaßstabs wie die Verächtlichkeit seiner fremden Verkennung an.

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Niveaugefälle“ enthülle41, werden dem Leser leider nicht erspart. Die meisten Autoren des Sammelbands vertiefen die Meriten ihrer frühen Jahre aber nicht weiter. Vor diesem Hintergrund überraschend ist, dass die wenigsten Autoren das Jurastudium aus ursprünglichem Interesse, Neigung oder Überzeugung wählten: Nur drei der 21 geben dies an. Ebenso viele bezeichnen die Rechtswissenschaft ausdrücklich als zweite Wahl. Die überwiegende Mehrheit wählte das Rechtsstudium, weil es die Berufswahl nicht festlege, weil man „etwas Sicheres“ suchte, weil andere Interessen zu risikoreich erschienen. Es besteht insoweit, entgegen häufig zu hörenden Klagen vieler Hochschullehrer, kein Unterschied zu heutigen Verhältnissen. Andere Motive und Erfahrungen fehlen in den Selbstportraits fast ganz: Erfahrungen von Niederlagen, Motive von Furcht, Erlebnisse des Scheiterns.42 Das ist psychologisch verständlich und menschlich nahe liegend, freilich vor dem Hintergrund der Aufgabe objektivierender Selbstbetrachtung von Rechtsgelehrten bemerkenswert. Es setzt sich in den Schilderungen von Studium und Berufskarrieren fort.

d) Beinahe durchweg könnten die Selbstdarstellungen den Eindruck nahe legen, es habe die Zeit der Abenteuer und der Offenheit des Lebensentwurfs schon mit dem Eintritt ins Studium ein Ende gefunden, als sei der lebhafte Fluss der frühen Jahre nun endlich eingemündet in einen ruhigen Strom der Gewissheit, Sicherheit, Zielgerichtetheit des Lebens. Das mag ein wenig der Altherren-Perspektive geschuldet sein, die hier – mitunter etwas zu betont – eingenommen wird. Es ist schwierig und bedarf eines hohen Maßes an Reflexion, in der autobiographischen Darstellung zwischen der Folgerichtigkeit des eigenen Lebensablaufs und dessen Bewertung zu unterscheiden, anders gesagt: In der Rückschau Entscheidungen der Vergangenheit als in dem Maße unsicher, offen, fehlerbehaftet, gar zufällig zu erleben oder darzustellen, welches sie damals tatsächlich oft prägte. Denn was am Ende gelungen erscheint, muss keineswegs richtig, alternativlos, befriedigend gewesen sein. Wer sein Leben darzustellen versucht, als sei es nicht auch ein stetes Orientieren und ausdauerndes Anschwimmen gegen eigene Fehler und Unsicherheiten gewesen, wird, so lehrt das Leben, meist schon nicht die eigenen Kinder, gewiss aber nicht den Rest der Welt überzeugen. Die schwierige Aufgabe wird noch komplizierter, wenn Reiz und Bestreben, das eigene Leben zu beschreiben, fast zwangsläufig in Widerspruch geraten mit 41 42

Hirsch, 130. Ausnahme Lampe, 309: Scheitern des Versuchs, Konzertpianist zu werden.

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der Anforderung, durch die Schilderung eines „Lebens in der Wissenschaft“ diese selbst zu erfassen. Manche der Autoren wollen oder können das hierfür erforderliche Maß an Selbstreflexion und Distanz nicht aufbringen; in den schwächeren Texten ist es wohl auch unterschätzt oder nicht verstanden worden. Zwischen dem ersten Semester und dem Abschluss der Promotion herrscht, von wunderbaren Ausnahmen abgesehen, eine autobiographisch gleichförmige Ödnis des Lernens und Durchdringens, die den Leser beim vergleichenden Blick aufs eigene Leben beunruhigen müsste, wüsste er nicht um die Regeln psychologischer Wahrscheinlichkeit und lebensweltlicher Plausibilität. Das Rechtsstudium erledigten die Verfasser durchweg überaus zügig; fast alle halten diese Tatsache für wichtig.43 Welche Botschaft man den Schilderungen der rasanten Studienabschlüsse entnehmen soll, wird freilich nicht ganz klar: Heutigen Studenten wird gern eine bildungs- und wissenschaftsferne Orientierung am Hauruck-Studium vorgehalten; zugleich aber auch eine der „Behaglichkeit“ (Arzt, 6) hingegebene, übermäßige Ausdehnung des Studiums. Zu empfehlen ist natürlich die im wirklichen Leben seltene Kombination: Extrem kurz, unübertrefflich intensiv, grandios erfolgreich. In den Autobiographien ist sie, was der durch die Karrieren belegten Positivauswahl zuzuschreiben sein dürfte, keine Ausnahme, sondern die Regel. Viele, aber nicht die Mehrzahl der Autoren wechselten mindestens einmal den Studienort; nur wenige verbrachten eine Zeit im Ausland.44 Einer wurde schon im zweiten (!) Semester ins Doktorandenseminar gebeten und erfand schon vor dem sechsten Fachsemester einen gleichrangig neben dem kausalen und dem finalen stehenden eigenen Handlungsbegriff (Maihofer, 393). Fast alle bewältigten in der Kürze der Studienzeit und während der Referendarausbildung45 beeindruckende Studien- und Lesepensen, gründeten Familien, arbeiteten als wissenschaftliche Mitarbeiter, fertigten Dissertationen und verschafften sich einen – im Rückblick – nahezu umfassenden Überblick über den Stand der Strafrechts-Wissenschaft.

43 Acht geben die Anzahl ihrer Fachsemester an (sechs oder sieben), fünf die Noten in den Staatsexamen, drei gar die Notenskala und die von ihnen errungene Platzziffer. Einzelnen Autoren genügt selbst dies zur hinreichenden Präsentation ihrer Leistungen nicht; sie betonen zusätzlich noch, wie schwierig gerade die von ihnen gut bestandenen Prüfungen waren (vgl. etwa S. 603). 44 Informativ und schön geschrieben: Arzt, 7 ff.; vgl. auch Eser, 81. 45 Ein Referendar beherrschte nach sechs Monaten alle Aufgaben des Amtsgerichts und versah während der restlichen Zeit „den größten Teil“ sämtlicher staatsanwaltschaftlicher Dienstgeschäfte für sechs Amtsgerichte zugleich (Tröndle, 603).

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e) Da es um „Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen“ geht, müsste spätestens hier erläutert werden, warum man ausgerechnet Strafrecht sich zum Beruf erwählte. Was war so wichtig, reizvoll oder erfüllend daran, sich jahrzehntelang mit dem Bestrafen von Menschen zu befassen, einem lebensweltlich eher düsteren Gebiet der Ausübung von Macht knapp vor der Grenze der gewalttätigen Willkür oder des Ausnahmezustands?46 Welches war das entscheidende eigene Motiv? „Ich will auch Professor werden“ ist gewiss ein rührender, allemal ein ehrenwerter Lebensplan. Er ist aber als solcher nicht wirklich interessant: Manche möchten dies, andere jenes werden; Geschichten des Gelingens von Beamtenlaufbahnen bewegen sich entschieden am unteren Ende der literarischen Erregungsskala. Die Forderung nach kritischer Selbst-Vergewisserung gilt für StrafrechtsDogmatiker noch mehr als für Vertreter empirischer Kriminalwissenschaften: Wonach will man forschen, wenn man sich entschließt, StrafrechtsWissenschaftler zu werden; was will man lehren, wenn die venia endlich erlangt ist? Ein ausdifferenziertes, letztlich das ganze Leben umspannendes „Arbeitsprogramm“, wie es Naucke skizziert (422 f.), kann gewiss nicht erwartet werden. Es ist aber für den Leser die Erkenntnis etwas enttäuschend, dass er, selbst nachdem die Habilitationen (19 von 21) geschafft sind, immer noch nicht erfahren hat, was „Strafrechts-Wissenschaft“ aus Sicht der Verfasser nun eigentlich ist und warum diese beschlossen haben, sie zu ihrem Beruf zu machen. War der Weg ins Strafrecht purer Zufall, berufstaktisches Kalkül, Suche nach Lebenssinn; oder gab es grundlegende inhaltliche Fragen und Anliegen an die Wissenschaft, auf welche man sich einließ? Überraschend viele Autoren halten dies im Dunkeln. Die meisten Straf-Richter antworten auf die Frage nach der eigenen Motivation, es reize sie am Strafrecht dessen Nähe zum (so genannten) „wirklichen Leben“. Das ist, betrachtet man zum Vergleich andere juristische und vor allem nichtjuristische Berufsbilder, allenfalls ein kleiner Teil der Wahrheit, überdies perspektivisch schon verzerrt durch die Spiegelungen des Rechts. Bei Strafrechtslehrern überwiegt, da der Zugriff auf das Lebensweltlich-Konkrete schon beinahe sprichwörtlich fehlt47, die Begründung mit einer angeblich besonderen „Nähe zum Grundsätzlichen“. Damit ist meist nicht ein Evidenzerlebnis sozialer Grenzerfahrungen gemeint, sondern die allgemeine Öffnung von hochgradig normativen Fragestellungen des Straf46

Informativ immerhin Arzt, 6 (Fn. 2): „Strafrecht hat mich als Student nicht mehr interessiert als andere Fächer.“ 47 Endlos ist die Reihe der Scherze über die „Lehrbuchkriminalität“ fernab angeblicher Wirklichkeit.

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rechts zur Philosophie und zur Staatslehre, zu denen die Grenzen bisweilen mehr zu verschwimmen scheinen als in anderen Rechtsgebieten. Die Begründungen des Sammelbands bleiben meist an der Oberfläche; in Autobiographien hätte man einen schärferen, selbstkritischeren, auch mutigeren Blick erwartet. Man müsste, wenn man Strafrecht als (eigenen) Beruf beschreibt, jedenfalls auch die persönliche Perspektive auf die Macht48 einbeziehen, gewiss in zweierlei Hinsicht: als Reflexion über die Bedingungen sozialer Regulierung und als Reflexion über den Anteil an der Gewalt, den man selbst erstrebt, und über die Gründe dafür.49 „Die Schuld ist immer zweifellos,“ erklärt der Offizier in Kafkas: „In der Strafkolonie“ dem Forschungsreisenden, und über den Text des Gesetzes, das sich des Körpers des Unterworfenen bemächtigt, sagt er: „Es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.“50 Hierzu müsste man, als StrafrechtsWissenschaftler, eine Meinung haben. Da wir sie von den meisten der Forschungsreisenden des Sammelbands in ihren Selbstdarstellungen nicht erfahren, bleibt der Gegenstand am Ende seltsam fern und fremd.51

4. Schüler, Lehrer, Professoren a) Was lern(t)en Strafrechtswissenschaftler von ihren Lehrern? In Selbstdarstellungen von Wissenschaftlern, die sich als Schüler von jemand verstehen und selbst Lehrer wurden, sollte das beantwortet werden, im Rückblick auf eigene Lehrtätigkeit auch die Frage, was man die eigenen Schüler lehrte oder zu lehren versuchte. Insoweit enttäuscht die „Strafrechtswissenschaft

48

In in dem ganz weiten, funktionalen Sinne Luhmanns: Macht und physische Gewalt (vgl. Luhmann, Macht, 2. Aufl, 1988, S. 60 ff.). Anders die Blickrichtung etwa bei Maiwald, „Recht und Macht, JZ 2003, 1073 ff., die keine soziologische, sondern eine rein normative ist. 49 Vgl. Puppe, Gespräch in einem Wartezimmer über die Macht und die Wissenschaft, Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 417, 424: „Galilei: Glaubt Ihr, die Astronomen des Vatikans hatten kein Fernrohr? (…) Für alles fanden sie eine Erklärung, indem sie das System immer noch komplizierter machten.“ 50 „Die Scharfrichter standen beisammen, und Damiens sagte ihnen, sie sollten nicht lästern, sie sollten ihre Arbeit tun, er sei ihnen nicht böse“ (Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1975/1989, S. 11). 51 Überhaupt ist erstaunlich, dass der Jurist Kafka in keiner der 21 Autobiographien erscheint, trotz der beschriebenen Neigungen zur Literatur: Nicht die Strafkolonie, nicht der Prozess, nicht das Schloss, nicht der Landarzt. Konnte man als junger Mensch über Schuld und Strafe, Gewalt und Stigma, Macht und Recht nachdenken, ohne hiervon beunruhigt zu sein?

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in Selbstdarstellungen“ meist:52 Die eigenen Lehrer sind „verehrt“, „hochverehrt“, „dankbar verehrt“ oder „bewundert“. Aber für was?53 Man erfährt viel Interessantes, auch Beeindruckendes, von Offenheit, fairem Umgang, nobler Haltung, von Kampfgeist, Optimismus54 und Bescheidenheit der früheren Lehrer-Generation.55 Die übrigen 60 Millionen Deutsche lernten aber (neue) Bescheidenheit vielleicht ebenso gut von Ludwig Erhard, Fairness von Uwe Seeler und Optimismus von Inge Meysel. Es muss mehr daran sein am Verhältnis der wissenschaftlichen Lehrer zu ihren sich erinnernden Schülern. Die Terminologie rückt die Beziehung der Schüler in die Nähe der Jüngerschaft: Als blicke der junge Mönch auf den alten Meister.56 Dann ginge es vielleicht um eine Haltung, um die Erfahrung des Kreislaufs der Dinge, um den Gleichmut aus langer Betrachtung der Welt. Dies alles aber hat mit Wissenschaft nur am Rande zu tun; ihre „Selbstdarstellung“ kann es nicht sein. Freilich wird oft eindrücklich davon berichtet, wie sehr bestimmte Arbeitshaltungen und Argumentationsstile der Lehrer – die überwiegend zugleich auch Arbeitgeber, Vorgesetzte, Prüfer waren, also über die Lebenschancen der Schüler noch in deren fortgeschrittenem Erwachsenenalter umfassend bestimmten – eigene Einstellungen und Arbeitsweisen beeinflusst haben (vgl. z. B. Weber, 647 f.).

52

Anders etwa Ulrich Weber (647 f.). Lüderssen berichtet, er sei enttäuscht gewesen über den Hinweis Coings in einem (positiven) Gutachten: „Herr L. (…) ist nicht mein Schüler.“ Im Übrigen ist das Verhältnis zu den Lehrern aber nicht ohne Ambivalenz. Geringeres als seine Meister meint wohl keiner der Autoren geleistet zu haben. 54 Schön ist die Schilderung, mit der Ulrich Weber (647) den Tatendrang Jürgen Baumanns beschreibt. 55 Selbst von ehedem fanatischen Nationalsozialisten konnte man 1953 wieder „viel für die wissenschaftliche Arbeit“ lernen (Hirsch, 133, über den ehemaligen Kieler [1935]) und Berliner [1938]) Zivilrechtsprofessor Wolfgang Siebert [1905–1959]), HJ-Bannführer, NSDAPMitglied seit 1933, stellvertretender Leiter des Jugendrechtsausschusses in der Akademie für Deutsches Recht, ab 1953 wieder ordentlicher Professor in Göttingen und Heidelberg [vgl. zu diesem Haferkamp in Neue Deutsche Biographie [NDB], Bd. 24, 2010, S. 325]). Es wird berichtet, Siebert habe sich 1935 bei der Tagung der „Reichsfachgruppe Hochschullehrer im Bund Nationalsozialistischer deutscher Juristen“ dafür eingesetzt, den Gesetzes-Begriff „Mensch“ durch einen völkisch bestimmten Begriff zu ersetzen, da er die Unterschiede zwischen Volksgenossen und Juden verschleiere (vgl. die Nachw. im wikipedia-Artikel „Wolfgang Siebert“). 56 Hier also, was viel komplizierter ist: ein alter Meister auf sich selbst als jungen Mönch, der auf einen alten Meister blickt. Da können Traum und Wirklichkeit gelegentlich zum Kitsch verschwimmen. 53

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b) Den meisten Autoren haben die Betreuer ihrer Dissertationen und namentlich auch ihrer Habilitationsschriften „freie Hand“ gelassen57; nur wenige berichten, zunächst unzureichende Bemühungen seien von ihren Lehrern zurückgewiesen, korrigiert oder verbessert worden (vgl. etwa Burgstaller, 47 f.; Lampe, 309 f.). Eine bemerkenswerte Darstellung findet sich bei Hirsch: „Gespräche über Probleme, bei denen man zeitweilig festsaß, gab es grundsätzlich nicht. Welzel war ein sehr strenger Lehrer (…) Wenn er irgendetwas benötigte, rief er mich an, ob am Wochenende oder früh am Morgen (…) Rückblickend bin ich ihm für die harte Schule aber dankbar.“58 Was genau man in einer Schule solcher Art lernen muss, um zu bestehen, bleibt unerörtert und – nicht allein hier – unklar. Sollten es, wofür es immerhin Hinweise gibt, vor allem auch Unterordnung, Dienstleitung, Ergebenheit sein, so wären dies keine günstigen Bedingungen für den wissenschaftlichen Beruf, und es bestünde wohl die Gefahr, dass hierdurch gerade solche Persönlichkeiten gefördert würden, die ein problematisches Verhältnis zu Autorität, Selbstkritik, Empathie und Selbstwertgefühl haben. Eigenständige, souveräne wissenschaftliche Karrieren würden dann nicht wegen, sondern trotz einer solchen „Schule“ errungen. Man hat als Leser gelegentlich den Verdacht, als stehe einem offeneren Umgang mit solcher Ambivalenz eine Furcht entgegen, am Ende die in schmerzlichem Bemühen erkämpften eigenen Ansprüche auf entsprechende Beflissenheit der wiederum Nachfolgenden zu verlieren. Hieraus entsteht die Gefahr, dass sich ein filigranes Oberflächen-System fortpflanzt, dessen innere Pracht und Zwangsläufigkeit in Widerspruch steht zum unbefangenen äußeren Blick auf des Kaisers Kleider. Da die mangelnde Substanz der tragenden Pfeiler eines solchen Systems den Eingeweihten bekannt ist, haftet seiner sprachlosen Fortführung freilich stets auch ein selbstquälerisches Moment an, da die Freude am Erfolg auf Dauer vergällt bleibt von der Furcht vor dem Versagen. Führungskräfte in der Wirtschaft und Berufspolitiker kennen diese Probleme heute oft und versuchen ihnen mit Supervision und Coaching entgegen zu wirken. In der Rechtswissenschaft wie in der Justiz springt man über solche Schatten nur schwer. Aus den vielfach interessanten Schilderungen der Berufslaufbahnen als Hochschullehrer ergibt sich – auch hier – das verwirrende Bild, dass die „Schüler“ allesamt im selben Moment, da sie terminologisch als solche hervortreten, ihrerseits als Meister sich entpuppen, die allenfalls noch der kollegialen Anregung, gewiss aber nicht mehr der Lehre oder Ausbildung 57 58

Manche waren wohl auch schlicht desinteressiert (vgl. etwa Kaiser, 220). Hirsch, 137.

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bedürfen. Dies gilt namentlich auch deshalb, weil schon die Meisterstücke, deren Annahme den Eintritt in den terminologischen Status des „Schülers“ ernstlich erst erlaubt, also die Habilitationsschriften, ihrerseits – zumindest im Selbstverständnis der Autoren – gleichrangig neben die Meisterwerke der Lehrer traten und am Ende gar sich noch über diese erhoben. „Lernen“ findet, nach aller Erfahrung, vor einer Zeit statt, in der solches gelingt. Es kann freilich auch kaum in der Korrektur von Übungsklausuren, dem Abhalten von Klausurübungen für Anfangssemester oder dem Korrekturlesen (oder Fußnoten-Schreiben) der Werke des jeweiligen Meisters als Assistent bestanden haben. Manche fuhren in der Welt umher, sprachen aufmerksam mit den Menschen und betrachteten die Unterschiede des Lebens und der Rechtskulturen. Manche häuften große Bildungsmassen auf, so dass sich ihre Autobiographie liest wie der kommentierte Katalog der Bibliothek eines studium generale furiosum. Manche gingen in sich und gelangten im Zentrum der Konzentration über sich selbst und die anderen hinaus. Und manchen gelang all dies zugleich. Das Sammelwerk bietet schöne Beispiele für jede dieser Gruppen. Sie alle verdienen Respekt, selbst wenn in Einzelfällen das Licht der Erinnerung vielleicht ein wenig zu rosafarben strahlen mag. Die Wissenschaft aber – und hierauf kommt es an – erklärt all dies nicht; aus der „Selbstdarstellung“ der Protagonisten erschließt sich ihre Darstellung nicht. Man würde nicht auf die Idee kommen, Augenheilkunde, Festkörperphysik oder Archäologie so darzustellen.

c) Der Bereich der Lehre tritt in vielen Beiträgen zurück (anders etwa Roxin, 468 ff.). Gemeint ist, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, nicht das Generieren von „Schülern“ im oben genannten Sinn, sondern die Ausbildung von Rechtsstudenten an der Universität. Dies wird meist59 nur äußerlich, als Ablauf von Lehrveranstaltungen beschrieben. Die Ansicht, früher seien zwar nicht die Lehrer, wohl aber die Schüler (also man selbst) irgendwie besser gewesen (fleißiger, begabter, ernsthafter, gebildeter, berufener), ist in allen Altersgruppen der Autoren vertreten. Da fast jeder Richter bei der Selbstbetrachtung denkt, er kenne eigentlich keinen, der zu ähnlich souveräner Verhandlungsführung fähig sei wie er selbst, und beinahe jeder Strafverteidiger, die Verbindung von sozialer Kompetenz und fachlichem Wissen sei gerade bei ihm optimal gelungen, überrascht es

59

Hervorstechende Ausnahmen etwa: Lüderssen, 366 f.; auch Roxin, 468 f.

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nicht, dass sich auch unter Hochschullehrern selten einer findet, der die eigenen pädagogischen Fähigkeiten gering schätzt.60 Meist nicht thematisiert wird, dass die Auflösung der Einheit von Forschung und Lehre, welche die Autoren, so oder so, beinahe durchweg schildern, im Grunde auch einen Anfang vom Ende der Rechts-Wissenschaft spiegeln könnte, wie sie sich hier selbst versteht61: Dass die Mehrzahl der Rechts-Studenten eine Wissenschaft erlerne, lässt sich auch mit gutem Willen nicht behaupten. Es ist, wie man gesprächsweise erfährt, auch für Hochschullehrer immer weniger erkennbar, welche Art von Wissenschaft es noch sein sollte, die in einem engen Tunnel von Klausurübungen, Präsentationen, Repetitorien, Skripten, Kurzanleitungen und deren Evaluationen die Masse von Jurastudenten binnen neun oder zehn Semestern der Examensreife entgegen schleust.62 60 Die Bezeichnung als „begnadeter Lehrer“ mag Festschrift-typisch sein, trifft auf einige der Autoren gewiss zu, sollte aber gelegentlich kritischer gebraucht werden: Da der Stand dieser Gnade sich (per definitionem) ohne jede Ausbildung, allein durch Anlage und Wollen einstellt, ist es unwahrscheinlich, dass ihn bis zur Emeritierung jeder erreicht. 61 Zur programmatischen Bedeutung dieser Einheit für den Begriff von Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Kiesow JZ 2010, 585, 587. 62 In der Festschrift für Rainer Hamm, 2008, hatte der Verf. bemerkt: Für die Rechtspraxis seien Lehrbücher des Strafrechts von geringer Bedeutung: Schon Studenten bevorzugten eher ‚Skripten’, und Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger läsen Lehrbücher nicht, „weil sie – angeblich oder tatsächlich – keine Zeit haben“ (S. 63, 66). Dies sei, so zürnte vom Berge herab der Strafrechtslehrer Kristian Kühl, „die haltlose und anmaßende Polemik eines Kommentators aus der Praxis“ (Kühl, Festschrift für Volker Krey, 2010, S. 269, 273), und die Ansicht, die Strafrechtswissenschaft müsse sich der Erkenntnis stellen, dass erhebliche Teile ihrer Dogmatik außerhalb ihrer Binnenstruktur „als überflüssiges spectaculum gelten“ (Fischer, a.a.O, S. 81), sei gar „noch (!) anmaßender“ (a.a.O., S. 274, Fn. 6). Es erstaunt, dass Kühl seinen Ausfall in die Komparation ausgerechnet in der Festschrift für Krey platzierte: Der dort Geehrte hatte sich nämlich kurz zuvor unter dem Titel „Die Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel“ ganz ähnlich wie der „Kommentator“ geäußert (Krey/Nuys, Festschrift für Knut Amelung 2009, S. 203): Strafrechtsdogmatiker neigten zu „selbstzweckhafter, eitler Beschäftigung mit Begriffen ohne Wirklichkeitsbezug.“ Beipielhaft sei die Theorie des „Täters hinter dem Täter“: „Ob die Überflüssigkeit jenes Kunstprodukts irgendeinen Einfluss auf seine Preisgabe hat, ist angesichts der Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel fraglich“ (ebd., S. 223).– Vermutlich sind aber die „Kommentatoren aus der Praxis“ das eigentliche Ziel des Kühlschen Unmuts: Sie werden auch dort denunziert, wo die merkwürdige Bezeichnung sachlichen Sinn suggeriert: Für strafrechtliche Kommentierungen stehe, so schreibt der Gelehrte, heute „ein Arsenal von Strafrechtspraktikern – anscheinend beruflich unausgelastet – bereit“ (aaO, S. 278). Andernorts sinniert er: „Die Eigenschaft als ‚Kommentator’ enthält nicht mehr automatisch ein Qualitätssiegel“ (Festschrift für Günter Jakobs, 2007, S. 293), und stellt gar die drängende „Frage, ob die Qualität der Festschriftenbeiträge gehalten werden kann.“– Während man noch überlegt, auf welches Niveau die Kritik noch sinken mag, findet man aber, dass der Kritiker auch vor dem selbstquälerischsten Verdacht nicht zurückschreckt: „Es könnte sich herausstellen, dass Festschriften… weitgehend im Kollegenkreis zirkulieren“ (Kühl, Festschrift für Karl Heinz Gössel, 2002, S. 191).

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Das böseste aller Gleichnisse über die juristische Ausbildung findet sich in einer Skizze von Klaus Eschen63: Die Juristenausbildung gleiche der Dressur von Flöhen - Man sperrt die Tiere in eine Schachtel und legt einen Glasdeckel darauf. Wenn die Flöhe zu springen versuchen, stoßen sie an den Deckel. Im Laufe der Zeit lernen sie, auch bei geöffnetem Deckel weniger hoch zu springen. Man wiederholt den Vorgang mit immer niedrigeren Deckeln so lange, bis die Flöhe nur noch kriechen: „Wenn sie gelernt haben, sich nur noch kriechend fortzubewegen, ist ihre Ausbildung für den Flohzirkus abgeschlossen. Bezogen auf die Juristen ist dies etwa der Zeitpunkt des Assessorexamens.“ 64 Man muss das nicht derart deprimiert sehen, um der Ansicht zu sein, dass der weitaus größte Teil des Rechtsstudiums jedenfalls nicht darin besteht, als wissenschaftlich zu bezeichnende Methoden zur Lösung von Problemen, zum Entwickeln und Überprüfen von Hypothesen zu erlernen oder solche Methoden selbständig anzuwenden: Was als „Methodik der Falllösung“ gelehrt wird, kann Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gewiss nicht erheben. Die Methoden der Auslegung von juristischen Texten, welche Juristen, wenn man sie später nach dem „Wissenschafts“-Gehalt Ihrer Ausbildung befragt, fast regelmäßig als einziges Stichwort nennen (können), beschränken sich meist auf ein recht oberflächlich-schematisches Abarbeiten von „Wortlaut, Sinn und Zweck“.65 Gelehrt wird eine „Kunst der Auslegung“, mit Hilfe derer den begrifflichen Systemen am Ende entlockt wird, was am Anfang in sie hinein gegeben wurde. Wissenschaft findet statt in Veranstaltungen zu Grundlagen- oder Nebenfächern: Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie66 – also Fächern, deren Lehrveranstaltungen kaum jemand besucht, deren „Examensrelevanz“ gegen Null tendiert und deren 63 Einem sog. „linken Anwalt“, Sohn des jüdischen Berliner Fotografen Fritz Eschen, 1969 Mitbegründer des „Sozialistischen Anwaltkollektivs“, später nach Schwierigkeiten als Notar zugelassen, 1992 bis 2000 Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. 64 Eschen, Vor den Schranken, in: Kursbuch Nr. 40 (1975), S. 103, 104. 65 „Auslegung“ wird nicht als Sprach-Wissenschaft verstanden oder gelehrt; Germanistik oder Linguistik gelten nicht als erforderliche Grundlagenfächer. Im äußersten argumentativen Notfall wird Grimms Wörterbuch herbeigeholt. 66 Sie ist im Sammelband, wie in der Strafrechtswissenschaft überhaupt, in besonderen individuellen Interessen und Mehrfach-Qualifikationen verstärkt vertreten. Aus laienhafter Perspektive hat man aber gelegentlich der Eindruck, es werde in der – jedenfalls die Studenten gelehrten – (Straf)Rechtsphilosophie doch meist mit Wasser und auch immer wieder dasselbe gekocht. Von den Diskussionen der Spezialisten scheint die rechtswissenschaftliche Rechtsphilosophie relativ weit entfernt. Das ist freilich streitig (vgl. dazu etwa Roxin, FS für Wilfried Küper [2007]; S. 489 ff.; Zaczyk, FS für Manfred Maiwald [2010], S. 885 ff.), und Ausnahmen gibt es wie überall (beispielhaft, und ohne Hervorhebung im Einzelnen: vgl. etwa die unter „Grundlagen“ zusammengefassten Beiträge in Herzog/Neumann [Hrsg.], Festschrift für Wilfried Hassemer, 2010).

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„Erledigung“ in den Anfangssemestern dringend empfohlen wird; der Rest des „fortgeschrittenen“ Studiums ist dann der „Examensrelevanz“ und der Einübung der Falllösung gewidmet.67 Schwierig am Rechtsstudium ist nicht eigentlich das in Klausuren und Examen geprüfte Auswendiglernen der Merkmale einer Urkunde oder der „Theorien“ zu ihrer Begründung68, sondern das intuitive Erlernen jener unnachahmlichen Mischung aus „Gesetzestreue, Rechtspolitik, eigener und fremder Erfahrung, persönlicher Meinung, Natur der Sache, traditionellen Begründungen, Sprache und Dezisionismus“69, welche den altklugen Studenten des zweiten Semesters noch als zu groß geratene Verkleidung um die Schultern schlottert und den frischgebackenen Assessoren später als ihr wahres Selbst erscheint. Wissenschaftler fragen, wie die Welt ist; Juristen, ob sie so sein dürfe. Gelehrt wird juristische Dogmatik; das Jurastudium ist daher, wenn es gut geht, eine Ausbildung in Rechtskunde und Rechtsanwendungstechnik, also eine Kunstlehre.70 Nur vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die meisten der im Sammelband vertretenen Strafrechtslehrer sich mit dem Verhältnis ihrer Wissenschaft zu den Ergebnissen ihrer Lehre kaum aufhalten, obgleich es aus der Sicht von Wissenschaftlern Anlass zur Sorge geben müsste. Strafrechtslehrer hören dies natürlich nicht gern; es ist aber keine Herablassung damit verbunden festzustellen: Die Vorlesungen zum AT ziehen an der großen Mehrzahl der Studenten des ersten und zweiten Semesters regelmäßig – und: notwendig – vorüber wie Nachrichten aus einer fremden Welt; hieran vermag fast nichts zu ändern, ob der Professor begna-

67 Der Verf. erinnert sich an ein „Grundlagenseminar zur deutschen Rechtsgeschichte“, welches er im 1. Fachsemester (1980/81) bei Friedrich Merzbacher in Würzburg absolvierte. Jeder der etwa 250 Teilnehmer hatte ein Referat von maximal 10 Schreibmaschinenseiten Länge anzufertigen und – in alphabetischer Reihenfolge bis zur Erschöpfung des Semesters – auszugsweise vorzutragen, wobei die maximale Redezeit jeweils 8 Minuten betrug; es gab keine Fragen und keine Diskussion. Alle Teilnehmer bestanden erfreulicherweise mit sehr guten Noten. Damit war die Ausbildung in den wissenschaftlichen Grundlagenfächern erledigt. 68 Anforderungsniveau und Lernpensen des Studiums von Informatikern, Medizinern oder Diplomingenieuren gehen über die Anforderungen des Jurastudiums in der Regel deutlich hinaus. Die Selbstgewissheit von Juristen bereits im Ausbildungsstadium rührt überwiegend wohl weniger aus einem wissenschaftlichen Verständnis der Welt als aus der Freude über den (zunächst unverbindlichen) Erwerb von Herrschaftswissen. Denn ab dem zweiten Semester kennt man die Antworten auf zentrale Lebensfragen: Was kann K von V verlangen?, und: Wie ist T zu bestrafen? 69 Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972, S. 46 (hier zit. nach Lüderssen, 353). 70 Kiesow, JZ 2010, S. 585. 591: „Juristische Dogmatik ist eine an der Universität gelehrte Fachlehre, die kunstvoll betrieben werden kann, so wie kunstvoll gemauert, gebacken und getanzt werden kann.“ Treffenderes Beispiel wäre vielleicht: Gehirn-Chirurgie.

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det oder kurzweilig ist.71 Eine der aus dem 19. Jahrhundert stammenden deduktiven System-Idee geschuldete, substanziell merkwürdige Vorstellung der Strafrechtsdogmatik ist, dass man das Allerwichtigste am Strafrecht, nämlich die extrem verästelten, komplizierten „Allgemeinen Lehren“, im „Grundkurs I“, also ganz zu Beginn des Studiums lehren und lernen müsse. Sie wirft ein trübes Licht auf den Wissenschafts-Charakter des Fachs; Ähnliches dürfte nur dort vorkommen, wo es um Glaubens-Inhalte geht. Drei Vierteln der Strafrechtsstudenten des zehnten Semesters ist der Begriff der „Rechtsgutstheorie“ – immerhin einer der wichtigsten72 Versuche theoretischer Legitimation strafrechtlicher Gewalt – kaum mehr als eine vage Erinnerung; und die ihnen im mündlichen Examen mit Glück zu entlockende Behauptung, jene Theorie sei – wie alle anderen auch – „umstritten“, führt für sie keineswegs zur Beunruhigung über Gründe, Anlass, Legitimität oder Effekte des Strafens, wie es ja auch offenkundig ihre Chance nicht gefährdet, alsbald Richter oder Staatsanwalt zu werden. 73

71 Vgl. auch Arzt, 6 (Fn. 2): „Den AT bei Schmidhäuser habe ich als seltsam realistätsfremd in Erinnerung. Horst Schröder hat den BT schnell vorgetragen. Seine Fallbesprechungen waren eine Klasse für sich, wenn es darum ging, uns mit einem kräftigen Schuss Ironie unsere Fehler um die Ohren zu schlagen“ (Hervorh. v. Verf.). 72 Und sei es auch nur in seinem Anspruch an die „Vereinigungstheorien“, endlich einmal praktisch kritische Kraft zu zeigen. Eine Ablösung des „Rechtsgutsdogmas“ durch einen frei (!) begründeten Begriff der Verhältnismäßigkeit (vermutlich: eines Verhältnisses von Belastungen und Sicherheiten) dürfte diesen Anspruch jedenfalls nicht erfüllen. 73 Fezer (HRRS 2010, S. 281, 283) meint, während die Rechtsprechung (namentlich der BGH) Gegenmeinungen „verschweige“ und inhaltlich-argumentative Substanz ganz vermissen lasse, werde den Rechtsstudenten „beigebracht, dass und wie sie eine umstrittene Rechtsfrage methodisch behandeln müssen“. Dies habe der Verf. „ins Lächerliche gezogen“ (indem er in der Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 63, 66 in einer Fußnote die schaurige universitäre Angewohnheit erwähnte, jeden Lösungsvorschlag für ein Rechtsproblem zu einer angeblichen „Theorie“ aufzublasen, was den Studenten Anlass nicht zum kritischen Denken, sondern zur unkritischen Reproduktion gebe). Solche Empörung zeigt, wie voreingenommen selbst vorsichtige Kritik zur Kenntnis genommen und bewertet wird: Kritische Anmerkungen der vorgeblichen „Gegenseite“, werden als kenntnislose Einmischung abgetan; dieselbe Kritik von (anerkannten) Mitgliedern des eigenen „Lagers“ als luzide Weitsichtigkeit beklatscht. So lange die gern geforderte „Kritikfähigkeit“ stets nur die jeweils andere, nicht aber die eigene Position betrifft, ist sie wenig wert.– Zur zitierten Anmerkung: Der kritische Hinweis auf die Angewohnheit, jeden Lösungsvorschlag zur „Theorie“ zur erklären, findet sich ebenso bei Roxin; und als Sachverständige für das durchschnittliche Niveau der Lehr-Ergebnisse mag, als Beispiel unter vielen, die Strafrechtslehrerin Ingeborg Puppe zitiert werden, die unter dem Beifall der versammelten deutschen Strafrechtslehrer die Lage der Ausbildung beschrieb: „Die Erfahrung aus Prüfungen, Übungen und Seminaren (lehrt), dass die Studenten kaum die Fähigkeit erlernen, sich gewissenhaft und redlich mit Gegenpositionen auseinanderzusetzen“ (zit. bei Gropengießer, in: Eser/Hassemer/Burkhardt [Hrsg.], Die Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 228). Vgl. auch unten Fn. 102.

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d) Erwähnt werden muss das Kapitel „1968“, die im Sammelband meist als „Studentenunruhen“ apostrophierte Phase institutioneller Modernisierung, Ausweitung sozialer Mobilität, kultureller Öffnung – kurz: einer schmerzhaften, 20 Jahre verspäteten Frage nach den Legitimationsgrundlagen der Bundesrepublik und einer Anpassung der aus den 30er Jahren stammenden sozialen Verkehrsformen an die Erfordernisse der modernen (Produktions)Welt, paradigmatisch zugespitzt in der Lebenswelt der bürgerlichen Jugend in Oberschulen und Universitäten; konkret auch verbunden mit moralischem Rigorismus74, pubertärer Bedeutungsschwere, ideologieanfälligem Extremismus. Die Autoren des Sammelbands gehören der „68er“-Generation nicht an und können aus deren Innensicht nichts berichten; keiner fühlte sich ihr inhaltlich nahe. Zwei oder drei äußern vorsichtige (anfängliche) Sympathie, zumindest Verständnis für die Anliegen der Bewegung (Lüderssen, 365; Naucke, 430; Stratenwerth, 560). Die Hälfte der übrigen erwähnt sie als für die eigene Biographie bedeutungsloses Vorkommnis; manche schildern ihre Abneigung gegen undemokratische Formen des Protests und Gewalt gegen Minderheiten. In auffälligem Widerspruch zum Bemühen der Marginalisierung steht, dass nicht wenigen Schilderungen, erstaunlicherweise, noch nach 40 Jahren die persönliche Beleidigtheit des Autors über Sprechchöre, Vorlesungsblockaden und allfällige „Entlarvungs“-Parolen anzuhören ist75. Dies zeigt zum einen wohl, wie tief der Schock wirkte und wie schmerzlich die Fragen empfunden wurden, die jene Provokationen für die eigene Selbstvergewisserung aufwarfen. Die fast demonstrativ wirkende Verschiebung ins Belanglose offenbart zum anderen ein etwas unangenehm anmutendes Bemühen, selbst im Rückblick über Jahrzehnte keine Zweifel an der Bedeutung des eigenen Tuns zuzulassen: Nachdrücklich wird betont, dass nicht etwa die 68er „Vorkommnisse“ zur Modernisierung des Strafrechts geführt oder beigetragen haben; vielmehr war es, nicht ganz selten, gerade jene Schrift, an welcher der jeweilige Autor mitwirkte. Wer die Strafrechtsreformen der vergangenen 45 Jahre – durchaus zu Recht – zumindest teilweise auch als eigenes Werk darstellen möchte, von der „68er“-Bewegung 74

Die Moral derjenigen, die am Schweigen und Lügen der Älteren über die deutschen Völkermordverbrechen und an den Gräueln des Vietnamkriegs verzweifelten, wird freilich nicht schon dadurch rückwirkend lächerlich, dass einige von ihnen wenig später den großen Führer Enver Hoxha verehrten und ein paar Versprengte gar meinten, der Faschismus sei nach Deutschland zurückgekehrt. 75 Besonders nachdrücklich Hirsch (140 f.), dem in der Gestalt eines langhaarigen nichthabilitierten Rektors mit rotem Hemd und Sandalen, der Lehrveranstaltungen „über Physik und Marxismus“ gehalten haben soll, der Untergang des Abendlands leibhaftig begegnete.

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jedoch nur mitteilt, sie sei „nach zwei Semestern abgeflaut“, nachdem (oder weil) sich die juristische Fakultät als Bollwerk bewährt habe, überschätzt sich, mindert hierdurch die eigene Überzeugungskraft und hat manches schlicht nicht verstanden.76 Ernsthafter ist Folgendes: Die sich im Sammelband darstellende Generation von Strafrechtslehrern war, von der Nachkriegszeit über die 50er- bis in die frühen 60er Jahre, als damals aufstrebende Hochschullehrergeneration unmittelbar mit der Unwilligkeit und Unfähigkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft konfrontiert, die Verbrechen der NS-Diktatur überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn „aufzuarbeiten“. Die Generation ihrer Lehrer war zu einem nicht geringen Teil – sei es als Scharfmacher und Täter, sei es als Mitläufer, sei es als schweigende Wegseher – mehr oder weniger in die Schuld der NS-Herrschaft verstrickt. Nachdem die naturrechtlichen Aufwallungen verklungen und kurze Schamfristen des Schweigens abgelaufen waren, kehrten nicht wenige Helden des totalitären Präventionsstrafrechts an die Universitäten zurück, nunmehr in der von ihnen zuvor verhöhnten Gestalt von „strengen Dogmatikern“ und Konstrukteuren strafrechtlicher Begriffspyramiden; schon wieder „begnadete Lehrer“.77 Es darf, wenn von den Errungenschaften und Verdiensten der nachfolgenden, 76

Der am 6. Juli 2010 an der Parkinson-Krankheit verstorbene so genannte „ExKommunarde“ und spätere Straftäter Fritz Teufel erklärte zu dem damals von der Presse in die Nähe des Kennedy-Mordes emporphantasierten geplanten „Pudding-Attentat“ auf den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey vom 2. April 1967 (Planung, „Bomben“ aus Mehl und Puddingpulver auf Humphrey zu werfen): „Wir wollten den Amivize Hamfrie mit Napalm beschmeißen, weil die Amis Vietnam mit Pudding bombardierten.“ Die auf den Korrekturreflex abzielende enthüllende Qualität dieses Satzes war gewiss nicht schlechter als die eines der klassischen Zitate Karl Valentins. Sie wird nicht dadurch schlechter, dass Teufel später ein Straftäter und wegen Bankraubs verurteilt wurde. Zu seinem Tod hat Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Juli 2010 geschrieben: „Die deutsche Justiz hat sich von diesem Mann zum Glück nie wieder erholt.“ Was damit positiv gemeint ist, bleibt leider außerhalb des autobiographischen Rückblicks der Strafrechtswissenschaftler. – Die SZ selbst lieferte ein abschließendes schönes Stück, das Teufel gefreut hätte: Die 1968-Sachverständige Constanze von Bullion schrieb dort, Teufel sei Mitte der 60er Jahre aus der schwäbischen Provinz in die große Stadt Berlin gezogen, um dort kommunistischer Schriftsteller zu werden (SZ vom 16. 07. 2010). Tatsächlich hatte er vor dem Landgericht Berlin einmal zu Protokoll gegeben, er habe humoristischer Schriftsteller werden wollen. 77 Joachim Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, S. 28 ff., unterscheidet zwischen „dem Nationalsozialismus nicht besonders nahe stehenden“ Strafrechtslehrern (zu denen er auch Eduard Kern, Eduard Kohlrausch und Hans Welzel zählt), die ohne wesentliche Unterbrechung im Amt blieben, dezidierten NS-Anhängern (Hans-Jürgen Bruns, Georg Dahm, Heinrich Henkel, Edmund Mezger, Friedrich Schaffstein, Erich Schwinge), die fast durchweg nach einiger Zeit wieder berufen wurden, und (sehr wenigen) NS-Anhängern, denen dies nicht gelang (Johannes Nagler, Karls Siegert); er kommt zu dem beschämenden Ergebnis: „Für die Strafrechtswissenschaft ist nach 1945 eine überwältigende personelle Kontinuität zu konstatieren“ (ebd. S. 28).

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hier nun zurückblickenden Generation von Rechtslehrern die Rede ist, wohl auch nach dem Maß an Interesse, Mut, Rückgrat und Aufrichtigkeit gefragt werden, mit denen diese sich nach 1950 mit der Strafrechtswissenschaft vor 1945 wissenschaftlich und persönlich auseinandersetzte, deren Vertreter sie promovierten und habilitierten. Sie hatte dabei kein größeres Risiko zu tragen als das des Unmuts der Lehrer, des Abbruchs eines Habilitationsvorhabens, des Ausbleibens eines Rufes oder der Missstimmung in einer Fakultät. Die im Sammelband aufzufindenden (wenigen) Schilderungen sind insoweit von großer Zurückhaltung: Man erfährt fast nichts. Auch die den Biographien nachgestellten Verzeichnisse ausgewählter Schriften enthalten, mit Ausnahme der von Jescheck, Roxin und Spendel sowie Aufsätzen zur Verjährung von NS-Morden (Lüderssen, Schreiber), kaum Arbeiten zum Thema.78 Das berechtigt nicht zu pauschalen Urteilen und ist zur Überhebung kein Anlass; es mag im Gesamtüberblick aber doch einen allgemeinen Hinweis darauf geben, dass die kritische Rückschau auf Verantwortung und Entwicklung des eigenen Fachs am Beginn der Berufslaufbahnen der hier vertretenen Juristengeneration nicht zu den Schwerpunkten des Interesses zählte79: Viel wurde nicht gefragt in den 50er und frühen 60er Jahren, und die wieder aufgetauchten feinsinnigen älteren Herren in den Rechtsfakultäten, die freundliche Zweitgutachten schrieben und Neuauflagen ihrer vor 1933 erschienenen Bücher besorgten, ließ man höflich in Ruhe.80 78

Ich habe nicht nachgeprüft, ob dies einem Zufall der Auswahl oder der Tatsache geschuldet ist, dass es solche Veröffentlichungen nicht gibt. 79 Die erste (!) Strafrechtslehrertagung, die sich mit dem Thema befasste, war die Tagung 2003 in Passau. Vgl. dazu den Diskussionsbericht von Julius, ZStW 115 (2003), S. 671, 695 ff., zu den Referaten von Vogel (ZStW 115 [2003], S. 638) und Höpfel. 80 Vgl. aber etwa Jürgen Baumann, in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33), S. 132:„…Es gibt ein paar Kollegen, um die ich ostentativ herumgehe. Dazu gehören sehr bekannte Professoren, die zum Beispiel die Rechtsfähigkeit seinerzeit von der rassischen Zugehörigkeit abhängig gemacht haben (…) Ich mache einen Bogen um sie und gebe ihnen nicht die Hand (…) Als ich hierher kam nach Tübingen, wurde ich erstmal bekannt gemacht mit einem Schrank, der die Asservate enthielt. Die Asservate waren die Schriften, Bücher und Aufsätze derjenigen Leute, die sich hier in der Nazi-Zeit unmöglich verhalten hatten. Es ist doch kein einziger hinausgeschmissen worden. Nicht einer.“ Beispielhaft: Zur Karriere des Marburger Strafrechtslehrers Erich Schwinge vgl. etwa die bei Detlef Garbe, „In jedem Einzelfall … bis zur Todesstrafe“. Der Militärstrafrichter Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben, 1989, aufgeführten Quellen. Zu Bemühungen, die deutschen Strafrechtslehrer zu (dogmatischen oder rechtspolitischen) Aktivitäten hinsichtlich der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu motivieren, vgl. Just-Dahlmann/Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945, 1988, S. 160 ff., 191 ff. Zur versehentlichen Verjährung der Taten von als „Gehilfen“ angesehenen Tätern durch Novellierung des § 50 Abs. 2 a. F. StGB (§ 28 Abs. 2) vgl. etwa Greve, Amnestierung von NS-Gehilfen – eine Panne?, KJ 2000, 402 ff., m.w.N. Umfassende Nachweise zur Diskussion auch bei Joachim Vogel (oben Fn. 77), S. 28 ff.

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An der Universität, ganz oben bei den Erforschern der Gerechtigkeit, war es nicht anders als im übrigen Leben. Der Löwenmut nicht allein der Justiz, sondern auch der deutschen Strafrechtswissenschaft ist ersichtlich erst bei der Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur erwacht.81 Ein selbstkritischer Blick auch hierauf hätte den Leser der „Selbstdarstellungen“ gefreut und die wohlfeile Verachtung einiger Autoren für die „68er“-Anliegen zumindest im Rückblick vielleicht etwas mildern können.82

5. Wissenschaften a) Bei der Darstellung ihrer wissenschaftlichen Arbeit verfolgen die Autoren unterschiedliche Konzepte: Drei Autoren (Lampe, 311 ff.; Lüderssen, 363 ff.; vor allem Naucke, 423 ff.) legen ausdifferenzierte Konzepte der Forschung vor, sei es als retrospektive Übersicht über das Werk (Lampe), als Schilderung eines Erkenntnisverlaufs (Lüderssen) oder als antizipierter Arbeitsplan für das Professorenleben (Naucke). Eine nicht geringe Anzahl der Autoren beschränkt sich auf Aufzählungen von beruflichen Positionen, Projekten und für sie wichtigen Veröffentlichungen. Insoweit bietet der Sammelband wenig Anhaltspunkte für eine inhaltliche Bestimmung dessen, was als Strafrechtswissenschaft zu gelten hat. Die wohl größte Gruppe der Autoren wählt einen „mittleren“ Weg: Eine konzeptionelle Klärung wird nicht vorgenommen oder als bekannt vorausgesetzt; was genau der Inhalt eigener Forschung und Fragestellung war, bleibt oft im Ungewissen. Meist werden jedoch Stichworte genannt, welche eine Zuordnung zu bestimmten inhaltlichen Positionen erlauben. Kritische Resümees der eigenen Arbeit werden vereinzelt gezogen (vgl. neben Lampe, Lüderssen, Naucke vor allem Arzt, 24 ff.).

81 Dazu auch Dencker, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Lehren aus der Justizgeschichte der Bundesrepublik, KritV 1990, 299; Rogall, Bewältigung von Systemkriminalität, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), Festgabe Bundesgerichtshof, Bd. IV, 2000; S. 383 ff.; vgl. auch Roxin, in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33) 203, 210 f.: „An dem zweierlei Maß, da ist schon was dran (…) Es sind eben keine Verstrickten beteiligt bei der Behandlung der DDRKriminalität (…) Die glimpfliche Beurteilung dieser NS-Gewalttäter hängt ja auch ursächlich mit dem Kalten Krieg zusammen…Um Deutschland rasch wieder aufzurüsten, musste natürlich auf die vorhandenen alten Strukturen zurückgegriffen werden (…)“ 82 Im Angesicht welch vergleichsweise geringer Risiken (Verbeamtung) der Furor der „68er“ dahinging und zu welch bemerkenswerten autobiographischen Dichtungen dies führt(e), ist hier nicht zu behandeln.

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b) Soweit sich die Beschreibung der eigenen Berufstätigkeit auf die Beteiligung an Gesetzgebungs-Arbeiten bezieht, sei es als Mitarbeiter des E 1962, sei es als Beteiligter am AE 196683 oder an späteren Gesetzes-Projekten, handelt es sich wohl auch nach dem Selbstverständnis der meisten Autoren nicht eigentlich um „Wissenschaft“, auch wenn solche Aktivitäten teilweise unter dieser Überschrift abgehandelt werden (etwa Roxin, 455, 461). Praktische Kriminalpolitik ist keine Wissenschaft, auch wenn sie wissenschaftliche Erkenntnisse umsetzen mag, allgemeine Anforderungen an Systematik setzt oder deduktive Strukturen normativ formuliert. Erst Recht gilt das für die Tätigkeit von Ministerialbeamten bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen (vgl. 287 ff.). c) Allgemein auffallend ist, von den oben unter a) genannten Autoren abgesehen, das fast gänzliche Fehlen von Berichten über Fehlschläge oder Niederlagen vor den Anforderungen wissenschaftlicher Probleme. Zwar steht in autobiographischen Rückblicken regelmäßig nicht das Scheitern von Ambitionen im Vordergrund. In Wissenschaftler-Biographien wird man jedoch, wenn es in deren Wissenschaft mit rechten Dingen zugeht, unmöglich eine ununterbrochene Kette von gelungenen Entdeckungen und Erfolgen erwarten können. Kennzeichnend für den Gang wissenschaftlichen Fortschreitens sind gerade auch das Scheitern von Hypothesen, die Widerlegung durch Fachkollegen, das Lernen aus Fehlern, die methodische Strenge und Disziplin gegen sich selbst, das Veralten von Errungenem84; das gilt für Geisteswissenschaften nicht minder als für Fächer, die einem „härteren“, naturwissenschaftlicheren Wissenschaftsbild entsprechen. In der Mehrzahl der Selbstdarstellungen findet sich davon schlechterdings nichts: Von der Habilitation bis zur Emeritierung wird ohne Rückschlag eine Grenze nach der anderen überwunden, jede Herausforderung angenommen85, ein wissen83

Die Urheberschaft an der Idee des AE reklamiert Werner Maihofer für sich (Maihofer, 399; vgl. auch Roxin, 459); dagegen schreibt Ulrich Weber die „Initialzündung“ Jürgen Baumann zu (Weber, 647, Fn. 8). 84 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 10. Aufl. 1996, S. 15: „Die wissenschaftliche Arbeit ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts (…) Jeder von uns in der Wissenschaft weiß, dass das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja, das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft…“ 85 Erfreuliche Ausnahme etwa bei Stratenwerth (567): „Um internationale Kontakte habe ich mich nie bemüht. Das Bestreben, in zwei Fachgebieten … einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, erschien mir anspruchsvoll genug.“

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schaftlicher Erfolg nach dem anderen errungen (beeindruckende Ausnahme: Naucke; vgl. unten c) und stets Bleibendes geschaffen.86 Ein solches Resümee ist wissenschafts-immanent nur schwer erklärlich. Es könnte auf bloßer Selbstüberschätzung beruhen87; wahrscheinlicher ist aber, dass es sich aus dem Gegenstand der Tätigkeit ergibt. Wissenschaft ist, im allgemeinsten Ausdruck, eine methodische Suche nach Erkenntnis von Wahrheit. Der Begriff kann, auf welcher theoretischen Grundlage auch immer, hinter die Anforderungen der Rationalität nicht zurück genommen werden. Wissenschaft ist daher nicht ein Erahnen einer den Dingen und Verhältnissen der Welt innewohnenden materiellen Wahrheits-Qualität, sondern das Herstellen kommunikativer Einigung über Wirklichkeit. Wissenschaftliche Forschung ist eine systematische, nachvollziehbare, nach kommunikativen Standards und Regeln verlaufende Überprüfung von Hypothesen anhand methodischer Versuche der Falsifikation in der Wirklichkeit. Eine Wissenschaft vom Richtigen gibt es nicht; nur eine Wissenschaft von den Begriffen und der Geltung des Richtigen. Dies dürfte auch der Grund sein, warum die Systemtheorie so tiefe Verwirrung in der Rechtsdogmatik ausgelöst hat und ihr bis heute erscheint wie eine Ausgeburt manischen Irreseins: Eine mit mathematischer Gnadenlosigkeit operierende Abstrahierung von Normativierungsvorgängen, welche sich qua definitionem weigert, eigene Normativierungen vorzugeben, muss der Dogmatik schon im Ansatz fremd bleiben.88 So ist die schlimmste Verdammung, die ein Rechtsdogmatiker über die Systemtheorie aussprechen kann: Sie gelange nicht zu werthaltigen Urteilen, für diese pure Selbstverständlichkeit, da sie von Werten nicht mehr kennt als ein abstraktes Konstruktionsschema und einen Begriff, der sich seinerseits im selben Moment zur Kontingenz verflüchtigt, da sie seinen wirklichen Namen auszusprechen versucht. Und daher führt der Versuch, die Systemtheorie auf die wirklichen

86 Mit einer Selbstgewissheit, die bei Jüngeren wohl nicht mehr so ungebrochen formuliert würde, etwa Hirsch (131): „Ich begann das juristische Studium in Göttingen (…) Meine heutigen wissenschaftlichen Gegner werden die Entscheidung vielleicht bedauern; ich selbst habe sie nie bereut.“ 87 Vielleicht auch auf Furcht? Kristian Kühl schreibt über die kollegiale Kultur: „’Rückzieher’ macht niemand gern, auch wenn sie vom Publikum … beklatscht werden, denn im strafrechtlichen ‚Rechthaberbereich’ steckt hinter dem Beifall oft auch ein gutes Stück Häme“ (Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 289). Vom „Kampfsport“ berichtet auch Otto Lagodny (Rechtswissenschaft als „Kampfsport“, Festschrift für Volkmar Mehle, 2009, 339, 345): „Oft fehlt in unserer Wissenschaft eine kleine Spur der Demut im ursprünglichen Sinn, um die unfaire Seite zu verhindern oder wenigstens zu reduzieren.“ 88 Dazu auch: Lüderssen, „Systemtheorie“ und Wirtschaftsstrafrecht, Festschrift für Knut Amelung, 2009, S. 67 ff.

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Bedürfnisse des Rechtssystems „anzuwenden“, zu inhaltsleeren Abstraktionen oder zu inhaltsvollen Affirmationen von Macht.89

d) Einen besonderen Weg, auch in der Darstellung, gehen die Autobiographien von Lampe, Lüderssen und Naucke. Sie beschreiben aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln, die jeweils auf eigene Art faszinierend, spannend und aufschlussreich sind, Versuche, die Jurisprudenz als RechtsWissenschaft zu verstehen und Dogmatik entweder als Konsequenz wissenschaftlicher Forschung zu entwickeln oder an ihren Ergebnissen kritisch zu prüfen. Eine solche Sichtweise war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Minderheit und ist es geblieben: Dass „die Rechtssoziologie (…) die einzig mögliche Wissenschaft vom Recht (sei)“, hat Eugen Ehrlich 1913 geschrieben.90 Lampe (311 ff.) skizziert ein überaus ambitioniertes, in seiner Tiefe beeindruckendes wissenschaftliches Gesamtmodell der Forschung zur Entstehung eines als „geschichtlich“ verstandenen (Straf-)Rechts durch Integration biologischer (neurologischer), psychologischer, soziologischer und normativer Faktoren.91 Es kann dazu hier nicht adäquat Stellung genommen werden. Ganz oberflächlich mag man anmerken: Der Versuch, eine Hypothese der „Homologie zwischen biotischer und Rechtsevolution“ zu überprüfen (vgl. Lampe, 336 ff.), gleicht dem Unterfangen, den Gedächtnisinhalt eines menschlichen Gehirns mit den Mitteln aller betroffenen Wissenschaften zugleich gültig zu erforschen, um auf dieser Grundlage Vorhersagen über das zukünftige Erleben und Handeln des Individuums machen zu können. Das klingt wie science fiction und ist es auch: Eine solche Ambition ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – was nicht bedeutet, dass nicht der Weg das Ziel sein könnte, wenn ihm ein rationales Konzept der Integration von Faktizität und Normativität zugrunde liegt. Unvernünftig wäre etwa die Vorstellung, man müsse, um dies zu erreichen, alle Worte aller Sprachen dieser Welt miteinander und mit allen Bedeutungen zu einer Abbildung normativer Geltung verknüpfen und könne hieraus dann – normative – 89

Zutreffend der Hinweis von Hirsch, 147 f.; vgl. auch Naucke, 439 f. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, 3. Aufl. 1967, S. 198. Dezidiert anders etwa Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1 ff. 91 Beispielhaft hierfür erscheint mir auch der Abschnitt „Strafbegriff und Strafbegründung“ in: Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 21 ff. Zahlreiche, teils interessante Auseinandersetzungen dokumentiert die von Dieter Dölling herausgegebene Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, 2003, Teil I: Grundlagen des Rechts. 90

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Schlussfolgerungen mit hoher empirischer Richtigkeitsgewähr ableiten. Das ist Lampe selbstverständlich bekannt. Sein Ansatz ist gerade deshalb radikal, setzt aber eine hohe Enttäuschungsschwelle voraus. Eine „Neurologie des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes“ wird in menschlich absehbarer Zeit nicht geschrieben werden. Auch Lüderssen beschreibt ein sich über Jahrzehnte erstreckendes wissenschaftliches Bemühen um eine Integration empirischer und normativer Quellen (366 ff.), über einen soziologisch-psychoanalytischen Ansatz92 über rechtsphilosophische, literaturtheoretische, kriminologische Konzepte bis zu demokratie-theoretischen Begründungen neuer Zeit. Damit werden die notwendigen, ernsthaften, nicht allein auf Terminologie reduzierten Folgerungen daraus gezogen, dass sich Normen, erst recht: „richtige Normen“, aus Fakten schon deshalb nicht „ableiten“ lassen, weil deren Erkenntnis ihrerseits von Beginn an normativ geprägt ist.93 Die Erforschung des „Mischverhältnisses“ (Lüderssen, 372) ist der wissenschaftliche Kern der Strafrechtswissenschaft. Dogmatik muss sich hiervon nicht notwendig lösen, tut dies aber in bedauerlichem Maß. Eindrucksvoll schließlich ist auch die Beschreibung eines schon früh formulierten Erkenntnis- und Forschungsprogramms durch Naucke (415, 425 ff.), dessen Enttäuschung über das Nichterreichen mancher Ziele angesichts des weiten Umfangs, in welchem er zu substanziellen Präzisierungen der wissenschaftlichen Fragen gelangt ist, und angesichts seiner beispielhaft selbstkritischen Offenheit beinahe schmerzlich überrascht. Als einziger Autor des Sammelbands, hierauf mag hingewiesen sein, thematisiert Naucke auch die Probleme der spezifischen Materialisierung von Strafbegründungen seit den 70er Jahren des 20 Jahrhunderts, welche nach seiner Ansicht das Strafrecht zu einem „Teil des Präventionsbetriebs“ degradiert und einen (wissenschaftliche) Anspruch auf einen „wahren“ Begriff von Gerechtigkeit aufgegeben habe (Naucke, 439). e) Mit der Hervorhebung der genannten drei Autoren soll keine Herabsetzung der übrigen bewirkt sein. Eine Vielzahl von ihnen bietet Überblicke 92

Nicht der Strafrechts-Geltung, sondern des abweichenden Verhaltens. Auch die ausufernde Diskussion über die neuronalen Grenzen von Willensfreiheit und (strafrechtlicher) Verantwortung weist, neben anderen Schwächen (vgl. dazu auch Fischer StGB 58. Aufl. vor § 13 Rn. 9 ff. m. w. N.), eine Sichtweise typisch medizinischer Beschränkung auf individuelle Erkenntnisstrukturen auf. Es gibt aber entstehungsgeschichtlich kein „menschliches“ Denken oder Wollen ohne soziale Erkenntnisstrukturierung (vgl. dazu etwa Adolf Heschl, Darwins Traum. Die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2009, S. 190 ff.). 93

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über beeindruckende Lebenswerke. Es ist hier aber nicht der Ort, die dogmatischen oder wissenschafts-organisatorischen Leistungen der Autoren zusammenzufassen, zu vergleichen oder gar zu bewerten. Ohne Zweifel sind in der hier vertretenen Generation von Strafrechtslehrern bedeutende systematische und dogmatische Leistungen erbracht worden, von denen die Auswahl-Bibliographien Zeugnis ablegen. Als kriminal-politische Leistungen hervorzuheben sind namentlich die Reform des Sanktionen- und Vollzugssystems sowie die Ersetzung des alten „Sittlichkeits“-Konzepts durch eine rechtsgüterorientierte Strafverfolgung im Bereich der Sexualdelikte und der Störung der Öffentlichen Ordnung. Nicht alle im Sammelband Vertretenen haben diese Veränderungen seinerzeit begrüßt; manche waren eher ihren Gegnern zuzurechnen. Jeweils auf ihre Weise hatten aber alle Anteil daran. Soweit einzelne Autoren nicht allein das eigene Werk, sondern die Leistungen ihrer Generation im Überblick zusammenfassen, weichen die Ergebnisse und Bewertungen teilweise deutlich voneinander ab. Auch hierdurch entsteht ein facettenreiches und informatives Bild. Unter dem Blickwinkel des Werktitels bleiben aus den genannten Gründen gleichwohl Zweifel, ob sich aus den Selbstdarstellungen der Autoren auch schon eine solche „der Strafrechtswissenschaft“ entfaltet.

f) Nicht ganz überraschend, aber in der Nebeneinanderstellung der Beiträge auffällig ist, dass die Darstellung von 60 Jahren Strafrechtsdogmatik in den Biographien der Mehrzahl der Autoren, wenn man vom WissenschaftsPersonal absieht, praktisch ohne Menschen auskommt: Als gehe es ernstlich allein um den richtigen Handlungs-Begriff oder um die Frage, ob der Verbotsirrtum nur die Schuld oder auch den Vorsatz einer Straftat berühre, und nicht um soziale Konstruktionen abweichenden Verhaltens und um das Erleiden von Straftaten und Strafen; als könne der empirisch marginale, sozialpsychologisch weithin symbolische Bereich formeller Sozialkontrolle durch Androhung und Vollzug von Kriminalstrafe ohne Kenntnis seiner tatsächlichen Bedingungen und Wirkungen wissenschaftlich verstanden und ohne laufende Kontrolle seiner Wirkungen rational gestaltet werden. Ein solches Verständnis einer „Wissenschaft vom Strafen“ erscheint auf eine unvernünftige Weise abgeschnitten schon von der Möglichkeit sie tragender Erkenntnisse. Man wird nicht annehmen, dass die Mehrzahl der Autoren dies nicht weiß; gleichwohl bleibt ein beunruhigtes Gefühl angesichts des Umstands, dass ein Professorenleben in der Strafrechtswissenschaft zwar vielleicht nicht die Regel, aber doch ohne weiteres möglich ist,

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ohne jemals ein Gefängnis von innen oder einen wirklichen Straftäter von Nahem gesehen zu haben.94 Vor diesem Hintergrund mag die Gewissheit, mit welcher die hohe, auch internationale Bedeutung der deutschen Strafrechtswissenschaft von vielen Autoren auch für die Zukunft gewünscht und prognostiziert wird, in Zweifel gezogen werden. Dass deutsche Strafrechtsdogmatik den Prozess der europäischen Integration dort, wo es darauf ankommt, heil überstehen wird, erscheint nicht sicher.95 Die in Deutschland recht enge Bezugnahme von Strafrechtsdogmatik und Justizpraxis, die in anderen Rechtskulturen, auch in Europa, lange nicht so ausgeprägt ist, droht gerade in dem Moment abzureißen, in welchem angesichts von Internationalisierung und kriminalpolitischer Veränderung96 eine Wissenschaft vom (richtigen) Strafrecht erforderlich wäre. Dass diese nurmehr in Gestalt von „Orchideenfächern“ betrieben wird, die ohne Widerspruch als „praxisfern“ verspottet werden können97 und in dem mit hoher Umdrehungszahl laufenden Dogmatikbetrieb98 kaum eine Rolle spielen, gibt Anlass zu Sorge und Widerspruch.

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Interessante Schilderungen von Ausnahmen etwa bei Lüderssen, Naucke, Stratenwerth. Vgl. etwa im Referat von Björn Burkhardt: Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik, bei der Tagung der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 1999 (Tagungsband [Hrsg. Eser/Hassemer/ Burkhardt, 2000], S. 111): zwölf Klagen an die Strafrechtswissenschaft, etwa: „das aus den Fugen geratene Verhältnis von Aufwand und Ertrag“ (Ziff. 5); oder „die Praxisferne…, welche die deutsche Binnendogmatik in ihrem Faraday-Kafig erlitten hat“ (Ziff. 12; ebd. S. 129 f.; vgl. auch Ergänzung von Puppe, ebd. S. 229). Burkhardt fasste das zusammen: „Dogmatica se ipse alet“ (Übers.: „Die Dogmatik [er]nährt sich selbst“); so auch Lagodny, Festschrift für Amelung, 2009, S. 51). 96 Und nicht vordringlich, wie behauptet wird, wegen der „neuen Formen der Kriminalität“. Das Internet erfordert, wie früher die Eisenbahn und das Telefon, wohl einige neue Straftatbestände und allgemeine Regeln für deren Anwendung, trotz § 9 StGB aber nicht einen neuen Begriff vom Strafrecht. 97 Es ist eine gravierende Verkennung, Wissenschaften wie der Rechtssoziologie „Praxisferne“ vorzuhalten. In einer solchen Perspektive ist wohl die Kriminologie nur eine Art Polizeiwissenschaft, Strafprozessrecht ein Präventionshindernis und Kriminalstrafe ein Allgemeines Äquivalent rechtspolitischen guten Willens. 98 Kritisch zum „selbsttragenden“ Bedarf Arzt, Die deutsche Strafrechtswissenschaft zwischen Studentenberg und Publikationsflut, Festschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 839; ders., Wissenschaftsbedarf nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz, ZStW 111 (1999), S. 757; ders. in: Hilgendorf (Fn. 2), S. 3 f., 24 f. 95

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6. Ausblick: Richter und Gelehrte a) Richter sind, als solche, keine Wissenschaftler.99 Sie sollten dies auch nicht dadurch vorzutäuschen versuchen, dass sie die schriftlichen Gründe von Strafurteilen so abfassen, als handle es sich dabei um Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung.100 Freilich ist auch die terminologische Gegenüberstellung von Hochschullehrern als „Wissenschaftler“ und Richtern als „Praktiker“ etwas albern, denn sie täuscht einerseits nicht Vorhandenes vor und verkennt andererseits das Gegebene: Rechtsanwendung durch Strafjustiz ist nicht die Praxis der Wissenschaft vom Strafrecht, etwa wie das Brückenbauen die Praxis der Wissenschaft von der Statik ist. Sie ist auch nicht die Praxis der Rechts-Dogmatik. Rechtsprechung ist, in ihrem wirkmächtigen, dem lebensweltlichen Einblick verborgenen Kern, vielmehr Herstellung von Recht. Sie bringt Dogmatik hervor, aber auch Erwartungsnormativität, Geltung, Macht, Vertrauen. Dogmatische Figuren werden von der Rechtspraxis genutzt, nicht vor allem weil sie wissenschaftlich überzeugend sind, sondern wenn und soweit sie dem konkreten Bedürfnis entgegen kommen.101 Es ist ungerecht, die Begründungen und Erscheinungsformen dieses Bedürfnis allein als jeweilige Façon eines verachtungswürdigen common sense zu denunzieren, wie dies Rechtsgelehrte bisweilen tun. Um solche Herablassung praktisch zu widerlegen, bedarf es nur des Betrachtens eines Hochschullehrers beim Bearbeiten wirklicher Fälle durch Bestrafen wirklicher Menschen als (nebenamtlicher) Richter. 99 Sie werden dies auch nicht dadurch, dass sie an obersten Bundesgerichten über „wissenschaftliche Mitarbeiter“ verfügen. 100 Die Begründungs-Anforderungen von Fezer (HRRS 2010, S. 281 ff.) erscheinen jedenfalls in ihrer Pauschalität und im Ergebnis überzogen. Es kann etwa, wenn ein BGH-Senat an einer seit langem bestehenden Rechtsansicht festhalten will, nicht legitimatorisch unakzeptabel sein zu schreiben, man habe die in der Literatur vorgetragene Kritik gesehen und geprüft, halte sie aber im Ergebnis nicht für durchgreifend. Dass Fezer vor allem eigene kritische Äußerungen für nicht hinreichend erörtert hält, entwertet die Objektivität seines Anliegens ein wenig. 101 Beispiel: Die Lehre Roxins von der „mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft“. Sie ist, zum Verdruss Ihres Urhebers (Roxin, 458), ohne großes Federlesen von ihrer dogmatischen und rechtspolitischen Grundlegung (vgl. dazu auch Roxin, in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33, S. 203, 208 ff.) gelöst und „angewendet“ worden, wo immer sie einem kriminalpolitischen Bedürfnis entsprach und ihre Übernahme sozusagen im fertigen Paket die Mühen einer Befassung mit den Schleifen der Theorien objektiver Zurechnung ersparte (vgl. dazu etwa Heinrich, Zur Frage der mittelbaren Täterschaft kraft Ausnutzung hierarchischer Organisationsstrukturen bei Wirtschaftsunternehmen, Festschrift für Volker Krey, 2010, S. 147 ff.). Wo die (herrschende) Dogmatik Entscheidungsergebnissen entgegen stehen würde, treten dogmatische Begründungen hingegen nicht selten zurück (vgl. auch Kubiciel JZ 2010, S. 422, 423 bei Fn. 19 [zu BGH NStZ 2010, 88]).

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Es wäre unzutreffend zu behaupten, die Rechtslehre habe ihren Einfluss auf die Justizpraxis bereits verloren.102 Wichtige Korrekturen der Rechtsprechung auch in den vergangenen Jahren beruhten auch auf Auseinandersetzungen mit dogmatischer Kritik.103 Diskussionen werden auch gegenwärtig zwischen BGH und Strafrechtslehre in intensivem Austausch geführt; gegenüber früheren Jahrzehnten dürfte dieser aus verschiedenen Gründen sogar zugenommen haben.104 Andererseits ist zu konstatieren, dass unter dem Druck der praktischen Kriminalpolitik und der Internationalisierung der Strafverfolgung die Strafrechtspraxis sich zunehmend einer von Generalklauseln und schwer überprüfbaren Gesamtabwägungen bestimmten „weichen“ Dogmatik zuwendet, die von der Kritik der universitären Strafrechtsdogmatik nurmehr schwer erreicht werden kann. Dieses Problem kann hier nicht vertieft erörtert werden; festzustellen bleibt: Man müsste, um das Auflösungs- und Ungenauigkeitsbedürfnis der Strafrechtspraxis in den Griff zu bekommen, dieses verstehen. Das ist aber nicht mit noch mehr Strafrechtsdogmatik zu erreichen, sondern nur mit Wissenschaft vom Strafrecht. Das Verhältnis von (universitärer) Strafrechtsdogmatik und Justizpraxis ist, psychologisch betrachtet, wohl auch von erheblichen gegenseitigen 102 Das wollte auch der Verf. nicht behaupten, als er – offenbar: missverständlich – davon sprach, die Straf(prozess)rechtswissenschaft habe „kein Instrumentarium und keine inhaltliche Autorität entwickelt, welche es ihr möglich machten, Entwicklungen des Prozessrechts mit zu gestalten…“ (Fischer, Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 65, 77; gemeint waren natürlich: „strukturelle“ Autorität, Einfluss). Fezer hat dies, in bis zum Überdruss langweiliger, tagungsüblicher Lager-Terminologie, als „anmaßend und bewusst (!) irreführend“ kritisiert (Anforderungen an die Begründung revisionsgerichtlicher Entscheidungen – Verfahrenswirklichkeit und normativer Anspruch, HRRS 2010, S. 281, 282). Er selbst wirft dem BGH vor, eine Vielzahl von durch Ignoranz, Argumentationsverweigerung und Widersprüchlichkeit geprägten Entscheidungen zu treffen, denen es (deshalb) an „demokratischer Legitimität“ fehle (ebd., S. 288). Für die Behauptung permanenter Missachtung der Prozess-Wissenschaft durch die Praxis beruft er sich (ebd. S. 283, Fn. 25) auch auf Roxin: Dieser hatte am zitierten Ort freilich ausgeführt (Die Strafrechtswissenschaft vor den Aufgaben der Zukunft, in: Eser/Hassemer/Burkhardt [oben Fn. 95], S. 369): „Wenn der Einfluss der Wissenschaft auf die Praxis im materiellen Recht stärker ist als im Prozessrecht, wo oft erst die Rechtsprechung die Wissenschaft zu vertiefter Forschung angeregt hat, so beruht das auf der schon geschilderten, etwas unterschiedlichen Entwicklung von materiellem Recht und Prozessrecht. Insgesamt stehen aber Wissenschaft und Rechtsprechung in einem sehr lebendigen, für beide Seiten wertvollen Meinungsaustausch“ (a.a.O. S. 384).– Das stützt die Argumentation Fezers nicht. 103 Etwa Änderungen der Rechtsprechung des BGH zu § 315b, § 316a, § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB. 104 Aus Sicht des Verf. nahe liegendes Beispiel: Diskussion über Einschränkungen des Anwendungsbereichs von § 266 StGB; etwa über den Vorschlag des 2. Strafsenats, die Figur des „Gefährdungsschadens“ mit einer (richterrechtlichen) „schwach überschießenden Innentendenz“ (Bernsmann) zu kombinieren (BGHSt 51, 100 [Kanther]; hierzu, umfassend und unter sorgfältiger Abwägung, zuletzt Hillenkamp, Zur Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand der Untreue, Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, 323 ff.).

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narzisstischen Kränkungen geprägt: Das Ausmaß praktischer Machtlosigkeit von Strafrechtsdogmatikern muss angesichts häufigen „BesserWissens“ immer wieder schmerzlich sein und auch als herabsetzend empfunden werden105; die Erkenntnis, bei der praktischen Arbeit das strafrechtsdogmatische Diskussionsniveau der Strafrechtslehre oft – vermeidbar oder unvermeidbar – hoffnungslos zu verfehlen, ist umgekehrt für das Selbst-Bewusstsein von Strafrichtern nicht immer leicht zu verdauen.106 Ein jeder erkennt im anderen nicht zuerst dessen, sondern vorwiegend die eigene Natur: Dogmatiker halten Strafrichter für schlechte Dogmatiker; Richter halten Dogmatiker für schlechte Richter. So lange es hierbei verbleibt, helfen noch so viele Tagungen nichts. Auch diese Wechselbeziehungen bedürften noch vertiefter Befassung. Hier jedenfalls scheinen mir Ansatzpunkte für einen vertieften und fruchtbringenderen Austausch zu liegen, der sich nicht in wechselseitigen Darstellungen erschöpft. Allzu oft wird die jeweils eigene Aufgabe beim Dialog als erfüllt angesehen, wenn der anderen Seite das ganze Ausmaß ihrer Schwäche enthüllt ist. Tatsächlich kann gemeinsames Bemühen aber erst entstehen, wo Stärken des anderen als mögliches Korrektiv eigener Schwächen ernst genommen werden. Dass die Strafjustiz mehr Dogmatik benötige, lässt sich mit Gründen bezweifeln.107 Dass sie mehr Wissenschaft benötigt, scheint mir hingegen gewiss. Hinweise hierauf werden bisher vom dogmatischen Lehrbetrieb manchmal mit Unverständnis aufgenommen108 oder mit noch mehr Dogmatik zugeschüttet; von Seiten der Justiz werden sie mit Argwohn, gelegentlich gar Feindseligkeit betrachtet, weil man sich kriminologische, soziologische und psychologische Wirklichkeiten lieber mit der (so genannten) Methode der Gesamtwürdigung vom Leibe hält, als ihnen allzu nah ins Auge zu blicken. Auflösungserscheinungen, welche das dogmatisch ausdifferenzierte Strafrecht und Strafprozessrecht heute allenthalben zeigen, werden sich aber in der Zukunft nicht aufhalten lassen, sondern vermutlich beschleunigen, wenn es nicht gelingt, eine Strafrechts-Wissenschaft zu implementieren, die Empirie und Normativität (wieder?) ernstlich zu integrieren versucht. Vorschläge und bemerkenswerte Ansätze hierzu hat es immer wieder gegeben; sie finden sich auch im Werk der hier vertretenen Autoren. Vom Mut dazu 105 Und könnte, spekulativ, eine Quelle von gelegentlich für Außenstehende etwas skurril erscheinenden kompensatorischen Bedeutsamkeits-Ritualen sein. 106 Und fördert, ebenfalls spekulativ, vielleicht eine unangenehme „Praktiker“Überheblichkeit, welche sich letztlich auf wenig mehr stützt als das Bewusstsein, die Macht zu haben, nach welcher der Anmerkungsschreiber, wie unterstellt wird, sich nur sehne. 107 Vgl. auch oben Fn. 95. 108 Vgl., beispielhaft, oben Fn. 62, 102.

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und vom Gelingen hängt, nicht zuletzt und gerade auch für die Rechtspraxis, viel ab. Denn in einem europäischen oder internationalen GesamtPräventionsrecht hätte die deutsche Rechtsdogmatik nurmehr den Platz einer versunkenen Professorenkultur. Man wird sehen, wie viel Verantwortung, Kreativität und Selbstkritik die nächste Generation sich am Ende wird bescheinigen können!

b) Dieser Beitrag ist, wie der Untertitel ankündigt, eine Leseempfehlung. Hilgendorfs Sammelwerk hat manche Stärken; es ist interessant aber auch gerade da, wo es schwach ist. Das Buch sollte von Strafrechtslehrern gelesen werden, weil es in der Zusammenstellung selbst-bewerteter Bedeutungen auch eine Verantwortung für den Beruf einer inhaltlich gehaltvollen Wissenschaft vom Strafrecht deutlich werden lässt. Richter sollten es mit dem Blick auf die eigene Verantwortung hierfür lesen. Den Verfassern sind der Stolz auf die eigene Berufskarriere zu gönnen, kleine Selbst-Erhebungen zu verzeihen und die Risikobereitschaft zur öffentlichen Selbstdarstellung zu danken. Denn sie teilen das Risiko aller Autobiographen: Neben das Bild, welches diese von sich selbst haben, und jenes, welches sie für die Welt von sich entwerfen, tritt als Drittes das Bild, welches diese sich von dem Entwurf macht. Auf dieses Bild verliert der Autor den Einfluss, wenn er seinen Text aus der Hand gibt; und je weniger er hiermit rechnet, desto mehr kann das Eigenleben, welches es führt, ihm als fremdes gegenübertreten und ihn enttäuschen oder gar verletzen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Risiko dort besonders groß ist, wo der Wille zur „Selbst-Darstellung“ im wörtlichen Sinn sich verwirklichen will. Wem die eigene Autobiographie als eine Art überdimensionaler Lexikon-Eintrag erscheint, wird vermutlich enttäuscht werden oder, noch schlimmer, die Vergeblichkeit solchen Bemühens gar nicht erkennen. Wer sie als Aufgabe der Reflexion versteht, kann für sich selbst und Dritte viel erreichen. Die Autoren des Sammelbands haben sich der Aufgabe mit unterschiedlicher Intention, unterschiedlichem Talent und unterschiedlichem Erfolg gestellt. Ob der Wunsch, Indianer zu werden, sie an Orte der Freiheit geführt hat, ihr Flug sie, gleich bereit, zu neuem Begreifen trug, oder, schief in der Luft, sich als stumpfer Traum erwies auf glattgemähter Heide: Dies haben sie uns freilich, jeder für sich, nicht verraten. Diese Frage bleibt uns.

§ 127 StGB - Aktuell oder noch im Dornröschenschlaf? GERD GEILEN

I. In einer der wenigen, bis jetzt vorliegenden Abhandlungen zur Neufassung des § 127 StGB1 spricht Lenckner2 von einem „zu neuem Leben erweckten“ Tatbestand, hält aber diesen Reanimierungsversuch des Reformgesetzgebers für weder wünschenswert noch optimal gelungen. Volkersen3 bezeichnet § 127 StGB als vorher „vergessene“, jetzt aber zum „Schwert des Damokles“ gewordene „Norm“, wobei Volkersen in so jedenfalls übertriebener Dramatik die Neufassung als „praktisch jedermann“ einbeziehende „Rundumkriminalisierung“ betrachtet. Im Rückblick war dagegen die Rede von einer (zu Recht?!) „vergessenen Norm“, von ihrem (wohl nur noch theoretisch existierenden) „Dornröschendasein“ und ihrem bis zur Neufassung sprichwörtlich antiquierten, weil noch mit dem Begriff des „bewaffneten Haufen“ operierenden Wortlaut, der kaum mehr als ein „Anlass zur Heiterkeit“ gewesen sei4. In diesem Zusammenhang hatte schon Rogall5 - ausdrücklich auch im Hinblick auf § 127 StGB a.F. - eine „Entrümpelung6 des strafrechtlichen Begriffarsenals“ gefordert. 1

Vgl. 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26.01.1998 (BGBl. I, S. 164). - Die vorauf gegangene, bis auf den Strafrahmen unverändert stehengebliebene Fassung lautete wie folgt: „Wer unbefugterweise einen bewaffneten Haufen bildet oder befehligt oder eine Mannschaft, von der er weiß, dass sie ohne gesetzliche Befugnis gesammelt ist, mit Waffen oder Kriegsbedürfnissen versieht, wird ... bestraft“ (Abs. 1). „Wer sich einem solchen bewaffneten Haufen anschließt, wird .... bestraft“ (Abs. 2). 2 Zur Strafgesetzgebung unserer Zeit ...; Gedächtnisschrift Keller, 2003, S. 151. 3 Vgl. § 127 StGB - Von der vergessenen Norm zum Schwert des Damokles in: Irrwege der Strafgesetzgebung, 1999, S. 285. 4 Zu diesem Meinungsbild vgl. (nur stellvertretend) von Bubnoff, LK-StGB, 11. Aufl., § 127; Ostendorf, NK-StGB, 3. Aufl., § 127 Rn. 5 und 3; Rudolphi/Stein, SK-StGB, § 127 Rn. 1. 5 ZRP 1982, 124, 125 N. 34. 6 Nebenbei bemerkt: Die Antiquiertheit der Ausdrucksweise wird im Schrifttum etwas übertrieben. „Haufen“ ist ein aus der Landsknechtssprache stammendes Synonym für „Schar“, was früher eine sogar militärtechnische Bedeutung hatte („verlorener, heller Haufen“; dazu Röh-

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II. Diese Bagatellisierungstendenz steht in einer bis auf die Anfänge des StGB zurücklaufenden Entwicklungslinie. In seltsamer Eintracht war sich der Reformgesetzgeber der NS- wie der Nachkriegszeit einig, dass der Tatbestand als überflüssig zu streichen war. Dabei ging es dem NSGesetzgeber natürlich darum, auch theoretisch eine strafrechtsfreie Zone7 für seine paramilitärischen Milizen, d.h. für SA und SS, zu öffnen, vielleicht auch darum zu zeigen, dass im totalitären NS-Staat gegnerische paramilitärische Gruppen überhaupt nicht aufkommen konnten und schon deshalb kein Schutzbedürfnis mehr bestand. Dagegen war das gleiche Streichungsvorhaben im E 19628 ein umgekehrt charakteristischer Ausdruck für die naive Harmlosigkeit der Bonner Republik9. Auch schon früher hatte § 127 StGB a.F. auf dem Prüfstand gestanden. Immerhin hatte bereits von Hippel in der Vorweltkriegszeit in VDB II S. 41 die „praktisch nur minimale“ Bedeutung des § 127 StGB und seinen materiell nur polizeirechtlichen Charakter betont, auch wenn er sich trotz dieser Bedenken im Ergebnis für die Beibehaltung des Tatbestandes aussprach. Auch sonst wird im früheren Schrifttum durchgängig die polizeirechtliche und deshalb letztlich untergeordnete Bedeutung der Vorschrift hervorgehoben. Die Auseinandersetzung kreiste schwerpunktmäßig um Randfragen wie das (auch heute noch diskutierte) Problem der Ausklammerung sozialadäquater Gruppen, etwa traditioneller Schützen oder Jagdgesellschaften; aber auch Notwehr(hilfe)problemen (heute im Zusammenhang mit sog. „Bürgerwehren“ und dem bewaffneten Kampf gegen Neonazismus thematisiert)10 wurde am Beispiel des (obrigkeitsstaatlich kontrollierten!) Partisanenkampfes nachgegangen. So heißt es zum Beispiel bei Binding11 - wohl im Rückblick auf Reminiszenzen aus der Zeit der Befreiungskriege und die Aktivitäten der schon damals sog. „Freikorps“: Die Strafbarkeit entfällt,

rich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. II, 1994). - Noch im letzten Krieg wurde von zurückgekehrten Fronturlaubern brieflich mitgeteilt, man sei jetzt wieder bei seinem „Haufen“. - „Gruppe“ als das jetzt eingeführte Surrogat ist jedenfalls sprachlich kaum schöner. 7 Praktisch bestand sie schon in der Weimarer Republik, weil § 127 StGB in dieser Richtung ebenso wenig wie gegen den kommunistischen RFB ausreichend aktiviert worden war. 8 Vgl. Begründung S. 462. 9 Das gilt trotz der propagandistischen Breitseiten gegen sog. Notstandsgesetze, politisches Strafrecht usw. durch die linke, trotz zeitweise dubioser Finanzquellen den Mainstream damals wie heute beherrschende Publizistik. 10 Vgl. Ostendorf in NK-StGB, 3. Aufl., § 127 Rn. 4. 11 Vgl. BT II 2 S. 902.

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wenn es darum geht, mit mutmaßlicher Zustimmung12 der Staatsgewalt „dem Vaterland in bedrängter Lage Hilfe zu leisten“. Es mag auch sein, dass Binding a.a.O. die Erinnerung an 1870/1871 und den französischen Widerstand durch die damals sog. „Franc-Tireurs“ vorgeschwebt hat.

III. Aber auch wenn § 127 StGB a.F. als im Grunde überflüssig galt13, so heißt es andererseits wesentlich realistischer, er sei „ein Tatbestand unruhiger Zeiten“14. Verfolgt man die Mitteilungen über die Kriminalstatistik, so ist in der Tat für die Zeit der Weimarer Republik, die bekanntlich besonders in ihren Anfängen und in ihrer Schlussphase ein politisch hochbrisanter Unruheherd gewesen ist, eine jedenfalls im relativen Sinn inflationäre Zunahme der Verurteiltenziffern festzustellen. Daraus hat der damalige Entwurfsgesetzgeber die dramatische, aber nicht unberechtigte Konsequenz gezogen, statt § 127 StGB den „Bandenkrieg“15 einer sonst gegen das Reich gerichteten Kriegsführung16 gleichzustellen, wobei allerdings die Einbeziehung auch bürgerkriegsartiger Kämpfe nach der Entwurfsbegründung17 zweifelhaft war. Dass man die schon für die alte Fassung einschlägigen Phänomene nicht immer harmlos sehen kann, zeigt sich auch im weiteren Kontext der Entstehungsgeschichte. Eine § 127 StGB a.F. im wesentlichen entsprechende Regelung enthielt schon § 97 PrStGB, der erklärtermaßen18 dem damaligen Artikel 92 des Code Pénal19 nachgebildet war. Trotz dieser formulierungstechnischen Berührungspunkte waren aber die Strafrahmen auch nicht ansatzweise vergleichbar. Der Code Pénal sah nicht nur eine weitaus höhere, sondern (damals) sogar die Todesstrafe vor, wobei der Preußische Gesetzgeber die konträre Regelung mit systematischen, so wohl kaum ausreichenden Erwägungen über die unterschiedliche Einordnung des Tatbestandes 12

Allerdings konnte damals, z.B. bei dem Aufstandsversuch von v. Schill, aber auch bei der Abspaltung der Armee durch York und seine Konvention von Tauroggen, beim König von Preußen wegen seines vorsichtigen Lavierens von „Zustimmung“ keine Rede sein. 13 Die Rede war von „Dornröschendasein“, „bloßer Signalwirkung“ usw.. 14 Vgl. von Bubnoff , LK-StGB, 11. Aufl., § 127 Rn. 1; mit Hinweisen auf die Aktualität der Vorschrift auch Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2, 8. Aufl., S. 120. 15 Vgl. § 97 E 1927; ebenso E 1925. 16 Vgl. §§ 95, 96 E 1927. 17 E 1927 S. 66. 18 Vgl. Goltdammers Materialien, Band II, S. 151. - Mit Recht verweist Ostendorf, a.a.O. Rn. 2 auch auf ALR II, 20, § 128. 19 Text bei Goehrs, Rechtsfrieden, 1900, S. 80 und von Hippel VDB II S. 43.

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begründet20. In Wahrheit dürfte dieser Diskrepanz ein radikal unterschiedlicher Erfahrungshorizont zugrunde liegen. „Bewaffnete Haufen oder Mannschaften“ entsprachen im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts einer geradezu alltäglichen, deshalb auch alles andere als unterschätzten, vielmehr als bedrohliches Risiko empfundenen Revolutionserfahrung21. Auch sind, wie sich damals gezeigt hat, Bürgerkriegswirren nicht immer reibungslos dem klassischen Tatbestandsarsenal des politischen Strafrechts, wie insbesondere dem Hochverrat, zuzuordnen. Man denke vergleichsweise an den in der Weimarer Zeit von Hitler im sog. „Ulmer Reichswehrprozess“ beschworenen Legalitätseid22, dessen Beurteilung aus dem damaligen Blickwinkel ambivalent war, so dass aus der Sicht naiver Zeitgenossen trotz SA und SS als der Privatarmeen Hitlers keine Möglichkeit des Zugriffs auf Hochverrat bestand. Ähnlich im damaligen Frankreich: Nicht nur der revolutionäre Umsturz, sondern auch die Konsolidierung der neuen Ordnung in Paris (und anderer Metropolen) ist nicht anders erfolgt als unter permanenter Mitwirkung „bewaffneter Haufen“, zum Teil sogar in Verbindung mit einer von der städtischen Kommune finanzierten Besoldung. Restaurative Kräfte, denen es nach ihrer Vorstellung nicht um Hochverrat, sondern umgekehrt um die Wiederherstellung der alten, legitimen Ordnung ging, sammelten sich zu Bürgerkriegsarmeen, sei es in der Vendée, sei es in der Emigration in Koblenz. Auch im weiteren Verlauf zeigte sich in ähnlicher Form das gleiche Phänomen. Erinnert sei nur an die wiederholten Putschversuche (Straßburg und in Bologne) des späteren Präsidenten und dann Kaisers Napoleon III23, an 1848 und den damals blutig niedergeschlagenen Aufstand der Arbeiter und an die Kämpfe um die Pariser Kommune 1871. Erinnert sei auch daran, dass 20

Vgl. Goltdammers Materialien a.a.O.. Vgl. dazu etwa Furet/Richet, Die Französische Revolution, 1968; Aubry, Die Französische Revolution, 2 Bd., 1942; vor allem die besonders farbige, klassische Darstellung von Michelet, Geschichte der Französischen Revolution, 2 Bd., Neuausgabe 2009. 22 Das in Ulm stationierte Regiment der Reichswehr (damals unter dem Kommando des später als Widerstandskämpfer bekannt gewordenen Generals Beck) war auf der Offiziersebene (zu der auch der spätere Attentäter des 20. Juli v. Stauffenberg gehörte) besonders stark durchsetzt mit zu dieser Zeit noch engagierten NS-Sympathisanten. Infolge des Einsatzes für die „Bewegung“ kam es 1930 gegen betroffene Offiziere, u.a. Scheringer und Ludin, zu einem Hochverratsverfahren, in dem Hitler in damals aufsehenerregender (und auch praktisch folgenschwerer) Weise vor dem Reichsgericht die Legalität seines politischen Programms beschwor, nicht ohne die gleichzeitige Versicherung, nach der „Machtergreifung“ würden „legal möglicherweise ....Köpfe rollen“! - Vgl. dazu Fest, Hitler, 1973, S. 406 f. und Kershaw, Hitler, 1998, S. 228. - Später - nach Dienstentlassung und während der Festungshaft - ging Scheringer ins Lager der Kommunisten über (vgl. Scheringer, Das große Los, 1959), während Ludin NSParteigänger blieb und als späterer deutscher Gesandter in der Slowakei 1947 hingerichtet wurde. 23 Vgl. Rieder, Napoleon III, 1989, S. 62 f. u. 96 f.. 21

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in Frankreich (ebenso in Russland 1812 wie nach 1941) Widerstandsakte durch Partisanen ein Stück der nationalen Tradition sind, während für Deutschland deren geradezu obrigkeitsstaatliche Konzessionierung typisch ist. So blieb 1809 der Versuch Österreichs, durch Flugblätter und sonst zeittypisch mediale Aktionen nach spanischem Vorbild Guerillakämpfe auch in Deutschland auszulösen, bis auf ganz vereinzelte und gescheiterte Unternehmen24 praktisch wirkungslos25. Napoleon konnte in einem Brief vom 02.12.1811 Befürchtungen wegen eines in Deutschland ebenfalls drohenden Guerillakrieges mit folgender, wohl nicht nur schmeichelhaft gemeinten Begründung zurückweisen26: „Urteilen Sie doch, was zu befürchten ist von einem so braven, so vernünftigen, so kalten, so geduldigen Volk, das von jeder Ausschreitung soweit entfernt ist, dass kein einziger Mann während des Krieges in Deutschland ermordet wurde“. Heinrich Heine fasst das Resümee über den deutschen Widerstandsgeist und seine Spontaneität wie folgt zusammen: „Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl, uns vom fremden Joche zu befreien, und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzu lang ertragenen Knechtschaft und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und die schlechten Verse der Körnerschen Lieder27, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird!“28 24

von Schill in Norddeutschland; von Dörnberg in Westfalen; Herzog von Braunschweig mit seiner „Schwarzen Freischar“; dazu Kleßmann, Napoleon und die Deutschen, 2007, S. 169 f.; Venohr, Napoleon in Deutschland, 2. Aufl., 1990, S. 209 f.. 25 Wiederum anders, weil relativ erfolgreicher, der damals geführte Partisanenkampf in Tirol. 26 Zitiert nach Venohr a.a.O. S. 261. 27 Körner, dessen Gedichte vor dem 1. Weltkrieg noch zum Kanon der deutschen Lesebücher gehörten, machte zur Behandlung französischer Kriegsgefangener den Vorschlag, man solle sich „an ihrem Blut sattsaufen“; „und wenn sie winselnd auf den Knien liegen/ und zitternd Gnade schreien/, lasst nicht des Mitleids feige Stimme siegen/, stoßt ohn Erbarmen drein“. Wenig anders, sollte es sich zwar um Deutsche, aber um Rheinbundsoldaten handeln: „Ha, welche Lust, wenn an dem Lanzenknopfe/ ein Schurkenherz zerbebt/ und das Gehirn aus dem gespaltnen Kopfe/ am blutgen Schwerte klebt“. - Um mit Heine zu sprechen, müssen die „Melodien“ dazu nicht nur „gut“, sondern schon geradezu Ohrwürmer gewesen sein, um bei solchen Texten zu „begeistern“! - Kaum weniger schlimm das von v. Kleist zusammengereimte Hetzgedicht „Germania an ihre Kinder“ („Alle Trifften, alle Stätten/Färbt mit ihren Knochen weiß ...“); genauere Nachweise bei Venohr a.a.O. S. 207 f.; Kleßmann a.a.O. S. 230 f.. - Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass in den schließlich mit „fürstlicher Erlaubnis“ geführten, sog. „Befreiungskriegen“ die im damals noch engeren Sinn „preußischen“ Truppen im Westen Deutschlands ebenso wie in Frankreich als besonders grausam galten, wie ja auch bekanntlich die sofortige standrechtliche Erschießung Napoleons ein von keinem der anderen Verbündeten mitverfolgtes Spezialanliegen der preußischen Führung war.

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IV. Insofern mag die andersartige, deutsche Tradition mit obrigkeitsstaatlichem Konformismus und Neigung zu initiativloser Passivität zusammenhängen. Trotzdem war mit dem Übergang zur Weimarer Republik ein Epochenwechsel eingetreten. An „bewaffneten Haufen“ bzw. „Mannschaften“ fehlte es jedenfalls jetzt nicht mehr. Die Rote Armee einschließlich ihrer stark diversifizierten Spezialgruppen rivalisierten (natürlich auch bewaffnet) mit rechten Freikorps, Femegesellschaften, „Stahlhelm“ und last not least mit SA und SS als den Hitler zur Verfügung stehenden paramilitärischen Milizen, wobei man auf Kuriosität gebliebene Einzelvorgänge wie das Treiben von Max Hölz29 im Vogtland nicht einmal einzugehen braucht. Zwar wurde im Hinblick auf die Kriminalstatistik für die Weimarer Zeit eine gewisse Aktualisierung des § 127 StGB registriert, aber ohne dass sich deshalb an der Bagatellisierung der Vorschrift etwas geändert hätte. Obwohl die Zuspitzung der Gegensätze jedenfalls in der Anfangs- und der Spätphase der Republik bürgerkriegsähnlich war, traten die sich ergebenden Konsequenzen für § 127 StGB kaum in den Blick. Dabei wäre gerade dieser einfache, von differenzierten und ex ante sehr kontroversen Prämissen losgelöste Tatbestand ein durchaus praktikables Instrument gegen die damals um sich greifende Paramilitarisierung gewesen (abgesehen davon, dass man angesichts der geradezu armeeartigen Größenordnung der Entwicklung den Strafrahmen hätte anheben müssen). Für diese Ausblendung exemplarisch ist die (nach dem Krieg von Kempner herausgegebene) Preußische Denkschrift von 1930, die später (1983) unter dem sehr berechtigten Titel „Der verpasste Nazistopp“ publiziert wurde. Diesem - damaligen - Verbotsplädoyer lagen Strafvorschriften des Republikschutzgesetzes, des § 129 StGB a.F. sowie des Hochverrats zugrunde, ohne dass der - z.B. für ein SA-Verbot besonders praktikable § 127 StGB einbezogen war. Heute liest man dieses Dokument nicht ohne Erschütterung, besonders über die unbegreifliche Blindheit der damals Verantwortlichen. Man kann das - und heute wiederum anderes -, wie von Max Frisch mit überzeitlicher Gültigkeit dargestellt, nur mit einer schon wahnhaften Verkennung von „Brandstiftern“ durch „Biedermänner“ erklären. Dabei ging es bei der SA - nebenbei bemerkt - nicht nur um waffentechnische Effekte. Propagandistisch noch wirksamer war das Auftreten „marschierender Kolonnen“. Wie es heißt: Der Anblick solcher „wohlgeordne28

Vgl. Heine in: Die Romantische Schule, Gesammelte Werke, 1890, Bd. 5, S. 237 f.! Später in die Sowjetunion emigriert und dort (vermutlich) als anarchistischer Abweichler ermordet; Einzelheiten bei R. Fischer, Stalin und der Deutsche Kommunismus, Bd. 1, 1991, S. 170 f.. - Dort auch (passim) Schilderung der verschiedenen, paramilitärischen Organisationsformen der KPD. 29

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ten, uniformierten, sich im Gleichschritt diszipliniert bewegenden Kolonnen mit ihren rassigen, energischen Männergesichtern“ „lässt das Herz jedes deutschen Mannes (und) jeder deutschen Frau ... höher schlagen. In ihnen beginnt das soldatische Blut der Germanenrasse zu sprechen30“.

V. Zu dieser praktischen Lahmlegung des § 127 StGB a.F. hat das Reichsgericht entscheidend beigetragen. Die so gut wie gar nicht diskutierte Schlüsselentscheidung findet sich in RGSt 56, 281, die (u.a.) § 127 StGB a.F. im Zusammenhang mit einem in Sachsen unternommenen Aufstandsversuch der Roten Armee betraf. Angeklagt war ein Kurier, der einem in einem Bergwerk agierenden „Aktionsausschuss“ eine auf einem zugeklebten Zettel enthaltene Information überbrachte und sich dann auf den Weg machte, um für den Aktionsausschuss einen Kraftwagen zurückzuholen. Das Reichsgericht kam zum Freispruch mit der (insoweit schon den Wortlaut nicht voll ausschöpfenden) Begründung, die damalige „Rote Armee“ sei über „einen Teil von Deutschland verbreitet“ gewesen und habe sich „aus verschiedenen einzelnen, militärisch organisierten, räumlich voneinander getrennten Teilen“ zusammengesetzt; anders als für den „bewaffneten Haufen“ im Sinne des damaligen § 127 StGB erforderlich, fehle es an einer „räumlich eng aneinander geschlossenen Menschenmenge (weshalb auch keine für den mitangeklagten Aufruhr notwendige „Zusammenrottung“ gegeben sei); außerdem habe sich der Angeklagte der Formation nicht „angeschlossen“ (§ 127 Abs. 2 StGB a.F.), weil dafür mehr als eine Unterstützung, nämlich „ein Eintreten in die Armee“ erforderlich sei. Damit war (abgesehen von der für Hilfsdienste geschaffenen Freizone der Strafbarkeit) § 127 StGB auf eine ausschließlich räumlich-kumulative Bedeutung festgelegt und die Erfassung differenzierterer Organisationsformen trotz ihrer auch im paramilitärischen Bereich besseren Effizienz konsequenterweise nicht mehr möglich. Auffallend ist, dass sich das RG mit dieser Begründung begnügt, aber nicht der Frage nachgeht, ob nicht der alternative Mannschaftsbegriff zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Zwar sprach Abs. 2 a.F. nur von „solchen bewaffneten Haufen“; trotzdem war nicht streitig, dass Abs. 2 eine Rückverweisung auf beide Alternativen des Abs .1, also auch auf die - im Vergleich zum „Haufen“ nicht bunt zusammengewürfelte, sondern straffer organisierte und disziplinierte - „Mannschaft“ bedeutete.

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Vgl. von Killinger, zitiert nach Longerich, Die Braunen Bataillone, 1989, S. 117 bei und in N. 97.

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Schon Binding31 hatte sich gegen eine zu weit gehende Differenzierung zwischen „Haufen und Mannschaft“ ausgesprochen. In einer sehr gründlichen Kommentierung der alten Fassung in der 9. Aufl. des LK stimmt Hübner32 Binding zu und stellt damit auch die für § 127 StGB a.F. praktisch entscheidende Frage: „Sollte denn, wer eine zwar nicht kasernierte oder sonst zusammengezogene, aber jederzeit milizartig griffbereite bewaffnete Mannschaft bildet oder sie befehligt, nicht (erst recht) strafbar sein? Sollte straflos ausgehen, wer den (schon oder noch nicht) bewaffneten Haufen mit anderen Kriegsbedürfnissen als Waffen versieht, z.B. Munition, Transportmitteln, Proviant u. dgl. m.?“ Aus diesem Grund seien auch in Abs. 1 „Haufen und Mannschaft“ begrifflich nicht als Gegensätze zu verstehen. - Wäre das RG a.a.O. davon ausgegangen, hätte es auch und gerade bei einem paramilitärischen Verband Organisationsstruktur und Logistik realitätsnäher beurteilen und sich dadurch den Weg in § 127 StGB öffnen können. Der einzige, dann noch neuralgische Punkte betraf die weitere, andere Frage, ob für den in Abs. 2 a.F. vorausgesetzten „Anschluss“ ein materielles Mitmachen, also im Sinne der Neufassung eine „Unterstützung“ genügt oder ob in einem wesentlich engeren Sinn eine mitgliedschaftliche Eingliederung zu fordern ist33. In dieser Hinsicht ist die Neufassung nicht mehr zweifelhaft, weil sie außer dem „Anschließen“ auch jede sonstige „Unterstützung“ als sogar gleichrangige Tatalternative ausdrücklich einbezieht. Bei dieser Marschroute des RG war klar, dass man dem paramilitärischen Unwesen zur Zeit der Weimarer Republik mit der a.F. des § 127 StGB nicht ausreichend effektiv beikommen konnte34. Das wurde aber im damaligen Schrifttum, wenn überhaupt bemerkt, dann jedenfalls nicht bedauert. Es blieb bei der Bagatellisierung des § 127 StGB als zweitrangiger, materiell dem Polizeirecht zuzuschlagenden Materie, bei der man trotz des höchst präsenten Anschauungsunterrichts durch Rote Armee, Rotfrontkämpferbund, SA und SS und trotz der sich zuletzt zuspitzenden und offen ausgetragenen Straßenkämpfe (mit vielen Todesopfern!) keinen aktuellen Bezugspunkt sah35. Stattdessen wurde in höchst wirkungsloser Weise in das 31

BT II, 2, S. 901. Rn. 3; von Bubnoff hat diese Kommentierung in den Neuauflagen im Wesentlichen übernommen. 33 Insoweit ebenfalls restriktiv Hübner a.a.O. Rn. 6. 34 Nebenbei bemerkt: An der Entscheidung zeigt sich auch die Fragwürdigkeit der heute gängigen These, das RG sei (nur und ausschließlich!) auf dem rechten Auge blind gewesen. Immerhin betraf der Freispruch den Beteiligten bei einem regionalen, aber auch als auslösendes „Fanal“ gedachten Aufstandsversuch der Roten Armee als des bewaffneten Arms der Linksextremisten. 35 Ebenso eindrucksvolle wie materialreiche Darstellung bei Striefler, Kampf um die Macht, 1993. 32

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politische Nebenstrafrecht, nicht zuletzt in Notverordnungen, ausgewichen36. Man wird lange suchen müssen, um im Strafrecht einen ähnlich unbegreiflichen Fall von Betriebsblindheit zu finden.

VI. Deshalb ist zu begrüßen, dass sich der Reformgesetzgeber für die Beibehaltung des § 127 StGB entschieden hat, mag man auch über Details der Neufassung streiten. Der Schwerpunkt der nach wie vor aktuellen Bedeutung der Vorschrift mag zwar nicht mehr auf den während der Weimarer Zeit gemachten Erfahrungen liegen. Trotzdem wäre es kurzsichtig, im StGB als einer für eine gewisse Permanenz gedachten Kodifikation die Möglichkeit der Wiederkehr solcher - zur Zeit nicht aktueller - Zustände auszuschließen. Wichtiger sind aber andere, heute in den Vordergrund gerückte Phänomene. Neu ist der inzwischen erreichte, hohe Verbreitungsgrad von Waffen. Inzwischen hat sich, um den überholten Ausdruck zu gebrauchen, das waffentechnische Potential für die „Bildung bewaffneter Haufen“ (angefangen vom Molotow-Cocktail bis hin zum knetbaren Sprengstoff und zur von „Heimwerkern“ gebastelten Bombe) erheblich vergrößert. Auch extremistische Gruppen - von rechts bis links einschließlich der neu hinzugekommenen Dimension ebenfalls radikaler Islamisten - sind als Kristallisationskerne für das Zustandekommen einer kollektiven Bewaffnung in ausreichender Zahl präsent. Historisch muten im Vergleich mit dem heutigen Bedrohungspotential die waffentechnischen Möglichkeiten der im 19. Jahrhundert geführten Barrikadenkämpfe geradezu idyllisch an. Hinzu kommt die jetzt anonymer gewordene Form der Waffenprivatisierung. Heute handelt es sich um im Dunkeln operierende, nur schwer überschaubare Kleingruppen, auf denen (und auf deren plötzlichem Zusammenschluss) das Gefährdungspotential beruht, während die aus der Weimarer Zeit bekannten Parteiarmeen schon äußerlich durch Uniformierung und/oder ihr massenhaftes Auftreten auffallen wollten und sollten. Neu (und für die praktische Bedeutung des § 127 StGB ebenso wenig folgenlos) ist der inzwischen unter dem Einfluss marktradikaler Ideologen um sich greifende Privatisierungswahn. Es ist unverkennbar, dass infolgedessen die Tendenz besteht, wirkliche oder vermeintliche Sicherheitslücken im 36

Überblick über Republikschutzgesetze und Notverordnungen bei Gusy, Weimar - Die wehrlose Republik, 1991, S. 128 ff.; dort auch (vgl. S. 219 ff.) - unter anderem, negativen Vorzeichen - Darstellung des Amnestieunwesens, das in der Weimarer Republik zur Lahmlegung der Justiz beigetragen hat.

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öffentlichen Sektor - sei es durch Bürgerwehren bzw. durch angestellte Kräfte wie Überwachungsdienste und sonstiges Sicherheitspersonal - zu kompensieren. Gegenüber diesem - nicht unbedenklichen, weil wenig kontrollierten - Kollektivierungsprozess im Sicherheitsbereich besitzt § 127 StGB eine präventiv zwar nicht unzweifelhafte, aber trotzdem zu begrüßende Signalfunktion. Auch in dem traditionellen, schon bei § 127 a.F. mit angeschnittenen Rechtsgutsaspekt der Neutralitätssicherung des Staates schlägt sich diese - nicht mehr zu übersehende - Entwicklung privater Sicherheitsdienste nieder. Kürzlich berichtete die Presse (wahrheitsgemäß oder auch nicht) über die Anwerbung deutscher Söldner für den Bürgerkrieg in Somalia. Auch in diesem Punkt wäre an § 127 StGB zu denken37, wobei nur zu ergänzen ist, dass der in diesem Zusammenhang traditionell herangezogene Rechtsgutsaspekt eines ausschließlich eigenstaatlichen Neutralitätsschutzes inzwischen zu kurz greift. Es geht nicht mehr nur um das durch eine Neutralitätsverletzung gefährdete, quasi diplomatische Staatsinteresse, sondern primär darum, die „unbefugte“ Beteiligung Deutscher an einem auswärtigen (Bürger)Krieg zu unterbinden - und damit um eine letztlich pazifistische Rechtsgutsdeutung38.

VII. Insofern gab es für den Reformgesetzgeber Gründe genug, den Tatbestand in anderer, zeitgemäßer Formulierung fortzuschreiben. Es handelt sich um ein (abstraktes) Gefährdungsdelikt, dessen Brisanz sich daraus ergibt, dass die technische wie untechnische Ausrüstung mit Waffen - insoweit in einer dem Massendelikt vergleichbaren Form - auf einen größeren, numerisch ins Gewicht fallenden Personenkreis verteilt ist. Das Risiko liegt in der Verbindung von personeller Massierung und der daraus resultierenden Ge37 Der zur Verfügung stehende Raum erlaubt es nicht, die sich hier zusätzlich stellende Problematik des internationalen Strafrechts anzuschneiden. Bekannter - in anderem, größerem Rahmen - ist die Privatisierung des Krieges durch Sicherheitsdienste bei Auslandseinsätzen der USA. 38 Das bei § 127 StGB zugrundeliegende Rechtsgut ist vielschichtig komplex und alles andere als eindimensional. Zunächst geht es um den inneren Rechtsfrieden durch Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols, um den Schutz der Wehrhoheit und die Verhinderung einer dem Neutralitätsinteresse zuwiderlaufenden Verstrickung der Bundesrepublik in einen auswärtigen Krieg, wobei dieser Aspekt, wie im Text ausgeführt, eine über die traditionelle Deutung hinausgehende, letztlich pazifistische Wurzel hat. Auf weitere Einzelfragen wird hier nicht eingegangen. Bei dem heute zur Mode gewordenen Streit um die Deutungshoheit beim jeweils zugrundeliegenden Rechtsgut wird von den Kontrahenten die praktische Bedeutung ihrer Kontroversen überschätzt.

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fahr der Streuung von Waffen über ein auf Anhieb nicht mehr überschaubares Kollektiv. Geht man unter diesem Blickwinkel an die Neufassung heran, so bestehen bei grundrechtskonformer Auslegung keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Abgesehen von der sprachlichen Bereinigung, der Streichung des als obsolet empfundenen „bewaffneten Haufens“, bezieht sich die erfolgte Ausweitung des Tatbestandes im wesentlichen auf zwei zentrale Punkte. Einmal ist die Tathandlung insofern erweitert, als neben dem „Anschließen“ (herkömmlich interpretiert als quasi mitgliedschaftliche Eingliederung) auch die „Unterstützung“, materiell also der Fall der Beihilfe, als Tatalternative einbezogen ist. Wie schon zu RGSt 56, 281 ausgeführt, hat sich die bisherige Handhabung des „Anschließens“ als zu eng erwiesen und zur Praktikabilität des Tatbestandes durch Erfassung auch der Helfershelfer nicht gerade beigetragen. Hinzu kommt, dass auch ohne diese Erweiterung der Möglichkeit der (allgemeinen) Beihilfe im Sinne von § 27 StGB (heute wie damals!) nachgegangen werden müsste, so dass sich aus der jetzt nur vorgenommenen tatbestandlichen Gleichstellung der Beihilfe auch keine (als inflationär bedenkliche) Überdehnung des Tatbestandes ergeben kann. In einem zweiten Punkt ist die Umgestaltung des Tatbestandes bedenklicher. Die Neufassung umschreibt den jetzt (nur noch) zu fordernden Zusammenschluss der Beteiligten als „Gruppe“. Deshalb soll man sich jetzt ausweislich der Begründung und der damit übereinstimmenden Auslegung durch die h.M.39, was die Größe der Gruppierung betrifft, mit dem rechnerisch absoluten Minimum von nicht mehr als drei Mitgliedern begnügen. Damit hätte der Gesetzgeber im Zuge der sprachlichen Modernisierung, dem terminologischen Verzicht auf den „bewaffneten Haufen“, auch das als Risikofaktor charakteristische Wesensmerkmal der Regelung, d.h. das Erfordernis einer gewissen personellen Massierung und der damit verbundenen breiten, den Verbleib intransparent machenden Streuung der Waffen aufgegeben. Zwar ist klar, dass bei einer anderen, die bisherige Tradition fortschreibenden Auslegung eine numerisch exakte Definition nicht möglich ist. In früheren Entscheidungen bewegte sich die geforderte Größenordnung zwischen 40-50 oder zwischen 20 und 30 Mann, aber auch „mindestens 10 Personen“ sollten noch genügen40. Dazu ist hier nicht Stellung zu nehmen. Wie immer, wenn man Tatbestandsmerkmale in Zahlen übersetzt, muss man sich in einem nach außen fließenden Grenzbereich bewegen. Trotzdem sollte man im Ergebnis berücksichtigen, dass trotz der sprachlichen Bereinigung der Gruppenbegriff tatbestandsspezifisch ausgelegt und deshalb 39 40

Vgl. dazu m.w.N. Fischer, StGB, 56. Aufl., Rn. 3. Vgl. von Bubnoff, LK-StGB, 11. Aufl., § 127 Rn. 4 m.Nachw.

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rechnerisch nicht minimalisiert werden sollte. Der „bewaffnete Haufen“ dürfte bei aller sprachlichen Obsoletheit als Leitbild und Orientierungsrahmen immer noch brauchbar sein.

VIII. Ein praktisch nicht ganz unwichtiger Ausblick auf eine durch die jetzige Fassung neu geöffnete Dimension des § 127 StGB sei noch angeschlossen. In einer Mitteilung vom 15.06.2010 berichtet die FAZ über einen anlässlich einer Demonstration verübten Bombenanschlag auf Polizisten in Berlin. Neben zahlreichen Leichtverletzten erlitten durch die „gezielt gezündeten Splitterbomben“ zwei Beamte schwere, d.h. lebensgefährliche Verletzungen, so dass die Berliner Staatsanwaltschaft von „versuchtem Totschlag“ sprach. Der Verlauf entsprach der inzwischen bekannten Taktik extremistischer Chaoten. Ein „schwarzer Block“ vermummter Gewalttäter hatte sich in den Demonstrationszug eingereiht und war so durch die mitmarschierenden Demonstrationsteilnehmer gegenüber dem polizeilichen Zugriff abgeschirmt. Aus dieser - nicht nur durch die Vermummung optischen, sondern durch die Marschformation auch physischen - Deckung heraus konnte praktisch folgenlos dieser tückische, zweifellos als Mordversuch einzustufende Sprengstoffanschlag gegen die diensttuenden „Bullen“ erfolgen. Weiter berichtet die FAZ, die Veranstalter hätten sich zwar nachträglich und verbal distanziert, hätten aber nicht erwähnt, dass seitens der Demonstrationsleitung bei und in der Demonstration der „Block untergehakt marschierender vermummter Gewalttäter“ „geduldet“, d.h. auch noch nach dem Anschlag durch die anderen Demonstranten abgeschirmt worden war. Obwohl man sich aus diesem Anlass von amtlicher Seite (wiederum) für eine Verschärfung des Strafrechts aussprach, sei auf die sich schon jetzt anbietenden Möglichkeiten der Neufassung des § 127 StGB hingewiesen. Der Block der vermummten Chaoten, um nicht sagen: Terroristen, war eine mit sogar technischen Waffen versehene „Gruppe“, was spätestens bei und nach dem Anschlag auch für die anderen Demonstranten ersichtlich war. Deshalb stellt sich die trotzdem fortgesetzte Abschirmung der Chaoten und die daraus resultierende Blockierung des polizeilichen Zugriffs als jedenfalls nach § 127 StGB tatbestandsmäßige „Unterstützung“ dar41. Hinzu 41 Strafbarkeitslücken, die nach der Neuregelung des Landfriedensbruchs bei § 125 StGB inzwischen offen sind, sind bei einem in diesem Sinn über rollenkonformes Mitmarschieren hinausgehenden Hilfsexzess der Demonstranten durch Rückgriff auf § 127 StGB n.F. zum Teil zu schließen; zum Auslegungsstand bei § 125 StGB vgl. Fischer, StGB, 56. Aufl., § 125 Rn. 13 m.w.Nachw.; vgl. auch Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl., § 125 Rn. 1; zur Problematik insbe-

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kommt noch, dass nach insgesamt „drei aufeinanderfolgenden Explosionen“ die Polizei über Megaphon aufgefordert wurde, ihre (wohl in ihrer bloßen Präsenz gesehene) „Provokation .... einzustellen und abzurücken“. Umso wichtiger ist es, einem solchen Fall einer - sämtliche Tatsachen auf den Kopf stellenden - Verhöhnung wenigstens dadurch beizukommen, dass man über § 127 StGB auch auf die „Unterstützer“ unter solchen Demonstranten zugreift.

IX. Der Vorsitzenden Richterin am BGH, Frau Professor Dr. Rissing-van Saan, der Adressatin der Festschrift, widme ich diese Skizze in dankbarer Erinnerung an frühe gemeinsame Jahre der Zusammenarbeit in Bochum. In der Aufbauphase der Ruhr-Universität war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin eine der tragenden Säulen des Lehrstuhls. Indem ich auf diese Zeit - nicht ganz ohne Wehmut - zurückblicke, spreche ich der Jubilarin meine besten und herzlichsten Wünsche aus.

sondere LK-Krauß, StGB, 12. Aufl., § 125 Rn. 75. - Leider reicht der Raum nicht, um hier dieser Konsequenz der Neufassung des § 127 StGB genauer nachzugehen.

Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge RAINER HAMM

Auf dem 13. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV 2010 kam es zu einer interessanten Diskussion um die Tendenzen der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung der letzten Jahre. Während mehrere Redner eine zunehmende Entformalisierung des Strafverfahrens durch Gesetzgebung und BGH-Rechtsprechung beklagten und als Beispiele die Rügeverkümmerung und die Fristenlösung im Beweisantragsrecht angeführt hatten, schaltete sich Nack mit der Empfehlung an die Strafverteidiger ein, diese Entscheidungen nicht ständig zu beklagen, sondern sie als die jetzt feststehende „Meinung des BGH“ hinzunehmen. Daraufhin meldete sich die verehrte Jubilarin dieser Festschrift zu Wort und wies darauf hin, dass es hinsichtlich der Fristsetzung für Beweisanträge zum Zwecke der erleichterten Annahme von Verschleppungsabsicht mit Blick auf die entgegenstehende Gesetzeslage (§ 246 Abs. 1 StPO) verfrüht sei, bereits von der Auffassung des Bundesgerichtshofs zu sprechen. Und sie begründete diese bei uns Verteidigern Hoffnung weckende Aussage mit dem Hinweis darauf, dass jedenfalls der 2. Strafsenat noch keine Gelegenheit hatte zu entscheiden, ob er sich der Auffassung des 1. Strafsenats anschließen werde. Und auch ihr Senatskollege Thomas Fischer machte deutlich, dass Bedenken gegen eine so weitgehende Entfernung des Richterrechts vom Gesetzesrecht bestehen. Das könnte dafür sprechen, dass bei dieser Variante des zunehmenden Abbaus der Justizförmigkeit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Aber diese Hoffnung besteht in all den Verfahrensfragen, über die der Große Senat bereits entschieden hat, nicht mehr. So blieb in dem Symposium letztlich der Befund unwidersprochen, dass der BGH in seiner neueren Rechtsprechung ganz allgemein die Erfolgschancen von Verfahrensrügen erheblich herabgesetzt hat. Am Ende wies aber Peter Rieß auf den statistischen Befund hin, dass diese Entwicklung nicht etwa zu einer Herabsetzung der Erfolgsquote der Gesamtheit aller Revisionen geführt habe,1 weil näm1 Vgl. dazu schon meinen Vortrag beim 1. Strafverteidiger-Symposium abgedruckt in: Band 3 der Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft des DAV 1986, 9 ff.; überarbeitete Fassung in StV 1987, 262 ff.

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lich im Ausgleich zur geringeren Erfolgsquote bei den Verfahrensrügen durch die Erweiterung der Revisibilität von Beweiswürdigung und Strafzumessung (Darstellungsrüge, Plausibilitätsrüge) die Statistik wieder ins Lot gebracht sei. Ähnlich, aber nicht so wertneutral sieht es auch die Mehrheit des 2. Senats des BVerfG, der über einen anderen Abbau strenger Justizförmigkeit zu befinden hatte. In der Entscheidung um die Vereinbarkeit der rügeverkümmernden nachträglichen Protokollberichtigung finden sich die bemerkenswerten Sätze: „Im Übrigen ergibt eine Gesamtbetrachtung der strafrechtlichen Revision, dass deren Koordinatensystem sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs einseitig zu Lasten des Beschuldigten verschoben hat. Zwar ist eine gewisse Tendenz in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte erkennbar, den Einfluss von Verfahrensrügen zu begrenzen. Im Gegenzug hat die Rechtsprechung indes insbesondere durch die Ausweitung der so genannten Darstellungsprüfung das revisionsrechtliche Prüfungsprogramm – im Wesentlichen zu Gunsten des Beschuldigten – erheblich ausgedehnt.“2 Ist das wirklich so etwas wie ein gerechter Ausgleich? Eine Kompensation für verlorengegangene Formenstrenge? Das wäre allenfalls dann so, wenn die hinzugewonnenen Revisionschancen „über die Sachrüge“ auch nur annähernd so kalkulierbar und voraussehbar wären, wie es die aus dem Prüfprogramm der Revisionsgerichte herausgenommenen Verfahrensrügen waren. Aber davon kann bisher keine Rede sein, weil in den Fällen, in denen der BGH „auf die Sachrüge“ hin wegen Mängeln in der Darstellung der Beweisergebnisse und der Beweiswürdigung in den Gründen Urteile aufhebt, dies so gut wie nie auf einer Verletzung allgemeiner Normen beruht, sondern auf der Nichterfüllung einer aus den Besonderheiten der konkreten Beweissituation entwickelten Begründungsanforderung. Zwar gibt es inzwischen allgemein normativ formulierte Anforderungen an die tatrichterliche Urteilsbegründung für einige typische Fallgruppen (z.B. bei Aussage gegen Aussage3), aber den Regelfall des revisiblen Beweiswürdigungsfehlers kennzeichnet doch eher die Kritik des Revisionsgerichts, die Überzeugung des Tatrichters sei solange nicht plausibel,4 als aus der Singularität der kon-

2 BVerfG NJW 2009, 1469 ff., Tz. 82; abweichend die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio Tz. 142. 3 Dazu Maul und Hamm StraFo 2000, 253ff.; Deckers in: FS Hamm, 2008, 53 ff. 4 Zur Ersetzung der bisher üblichen Bezeichnung „Darstellungsrüge“ durch „Plausibilitätsrüge“ vgl. Dahs in: FS Hamm, 2008, 41 ff.

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kret dargestellten Beweislage noch Lücken in der Erörterung naheliegender alternativer Sachverhaltsvarianten offen geblieben sind.5 Die viel diskutierte Frage nach der Berechtigung dieser „erweiterten Revision“ unter dem Aspekt des subjektiven Willens des historischen Gesetzgebers oder auch unter dem des gesetzlichen Richters,6 soll nicht Gegenstand dieses Beitrages sein. Mir kommt es vielmehr auf die Vorfrage an, auf welcher Rechtsgrundlage die Revisionsgerichte eigentlich ebenso routiniert wie bedenkenlos derartige Fehler stets als sachlichrechtliche Fehler bezeichnen. Genauer sollte man vielleicht sagen: Der BGH hebt, wenn er einen Darstellungsmängel ausgemacht hat, das Urteil „auf die Sachrüge“ hin auf, und zwar unabhängig davon, ob (auch) eine Verfahrensrüge erhoben ist und gegebenenfalls welche. Nach § 337 Abs. 1 StPO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Und in Abs. 2 heißt es ziemlich tautologisch: „Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.“ Also: Ein Gesetz ist eine Rechtsnorm und eine Rechtsnorm ist nur ein Gesetz. Und: Eine Rechtsnorm = ein Gesetz - ist (nur dann) verletzt, wenn sie = es - nicht richtig angewendet wurde. Und was das „Stützen“ der Revision auf eine solche Verletzung = nicht richtige Anwendung einer Rechtsnorm = eines Gesetzes angeht, so verlangt § 344 Abs. 2 S. 1 StPO, dass der Beschwerdeführer ausdrücklich sagt (in der Revisionsbegründung schreibt), „ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird“. Nur im erstgenannten Fall muss er nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO die seine rechtliche Beanstandung tragenden Verfahrenstatsachen vortragen. Soweit ihm dabei eine Auslassung unterläuft, kann er Glück haben, wenn er auch die Sachrüge erhoben hat und die im Rahmen seiner Verfahrensrüge fehlenden Tatsachen im Urteil stehen. Dann macht die Lücke im an sich nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO notwendigen Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BGH die Verfahrensrüge nicht unzulässig, weil ja das Revisionsgericht aufgrund der Sachrüge ohnehin verpflichtet ist, die Urteilsgründe zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb sind die Urteilsgründe bei einer zulässig erhobenen Sachrüge zur Ergänzung des (für sich genommen unvollständigen) Vortrags der Verfahrensrüge vom Revisionsgericht heranzuziehen7,

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Dazu auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., 429 ff., Rn. 32 und 35. Nur beispielhaft Foth NStZ 1992, 444; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., 429 ff. (Rn. 32 und 35) machen zudem verfassungsrechtliche Bedenken bei einer Anwendung der Darstellungsrüge in malem partem, also zur Aufhebung freisprechender Urteile geltend. 7 BGH NStZ 1993, 142; StV 1995, 564; BGH NStZ 1997, 478. 6

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ohne dass es dazu einer ausdrücklichen Bezugnahme innerhalb der Ausführungen zur Verfahrensrüge bedürfte.8 Fragt man nach den dogmatischen Grundlagen für diese im Einzelnen nie ausführlich und unter Benennung eines normativen Aufhängers begründete Rechtsprechung, so schwanken die möglichen Erklärungen zwischen rein pragmatischen Erwägungen (was wir ohnehin zur Kenntnis nehmen müssen, dürfen wir dem Beschwerdeführer nicht als Mangel seiner Verfahrensrüge anlasten) und einer bestimmten Vorstellung vom systematischen Verhältnis zwischen Sach- und Verfahrensrüge: Dass das materielle Recht richtig angewendet wird, schuldet die Strafjustiz als Ganze dem durch die Staatsanwaltschaft verkörperten Gemeinwesen, aber auch dem Angeklagtem, ohne dass davon Abstriche unter Beibringungsaspekten einer „Parteidisposition“ überlassen werden dürften. Demgemäß sind alle Straftatbestände im Besonderen Teil des StGB und im Nebenstrafrecht imperativ und absolut formuliert: „Wer … (sich wie beschrieben verhält), wird … bestraft“. Dagegen stehen in der StPO zahlreiche Gesetzesbefehle, die weniger hart formuliert sind (Kann- und Soll-Vorschriften9), und es gibt insbesondere auch positiv formulierte Rechtspositionen, auf die - mit der Folge der revisionsrechtlichen Irrelevanz - der Inhaber des Rechts auch verzichten kann. Wer keinen Beweisantrag stellt, ist, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, auf die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht angewiesen. Wer sich nicht ausdrücklich mit der Verlesung eines polizeilichen Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Zeugenerklärung nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO oder im Falle von richterlichen Vernehmungsprotokollen nach § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO einverstanden erklärt hat, kann in der Revision die Verletzung des § 250 StPO geltend machen, wenn keine der sonstigen Ersetzungsmöglichkeiten der §§ 251 ff. StPO vorliegt. Und wer in anderen Fällen einen Verstoß gegen das Ersetzungsverbot des § 250 StPO geltend machen will, muss dies in der Revisionsbegründung ausdrücklich ausführen, wobei die „Negativtatsache“, dass keine der Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 oder 2 StPO vorgelegen habe, nicht zum notwendigen Vorbringen gehören sollte,10 weil das Nichtvorliegen von gesetzlichen Ausnahmen auch bei der Auslegung der Revisionsbegründung als Regelfall zu unterstellen ist. Zu den disponiblen Verfahrensvorschriften, auf deren strenge Einhaltung der Angeklagte (konkludent) verzichten kann, gehören auch die meisten der 8

Meyer-Goßner StPO § 344 Rn. 22. Ob es daneben auch bloße „Ordnungsvorschriften“ gibt, ist umstritten; vgl. dazu Hamm Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl., 2010, Rn. 249 ff. 10 A.A. und als Empfehlung, auf „Nummer sicher“ zu gehen, sicherlich zutreffend Weider/Schlothauer Verteidigung im Revisionsverfahren, 2008, Rn. 1151. 9

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in § 267 Abs. 1 bis 3 StPO vorgeschriebenen Inhaltsanforderungen an ein Urteil, das im Tenor einen Schuldspruch enthält. Denn nach § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO reduzieren sich diese Anforderungen im Falle des (ausdrücklichen oder durch Verstreichenlassen der Frist „erklärten“) Verzichts auf Rechtsmittel auf die Angaben der den Tatbestand erfüllenden erwiesenen Tatsachen und die Angabe des angewendeten Strafgesetzes, was bei Verurteilungen zu Geldstrafe sogar durch eine Bezugnahme auf den zugelassenen Anklagesatz bzw. Strafbefehl ersetzt werden darf. Der Verzicht auf das Rechtsmittel wird also von Gesetzes wegen gleichzeitig als Einverständnis mit der Abfassung eines „abgekürzten Urteils“ und somit als Verzicht auf die ausführliche Begründung, wie sie in den Absätzen 1 – 3 des § 267 StPO für ein verurteilendes Erkenntnis gerade auch mit Blick auf die revisionsgerichtliche Überprüfung vorgeschrieben ist, gedeutet. Dies alles wären nun Selbstverständlichkeiten und ihre Hervorhebung in einer Festschrift für eine erfahrene und verdiente Revisionsrichterin geradezu eine Zumutung, wenn es da nicht auch noch die in § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht ausdrücklich und als zwingend vorgeschriebenen Anforderungen an ein „revisionssicheres“ tatrichterliches Urteil gäbe, die erst im Laufe der Zeit von der Rechtsprechung entwickelt und den Instanzgerichten aufgegeben wurden. Die genannte Vorschrift sagt nämlich nichts weiter, als dass die so genannten Indiztatsachen, jene Tatsachen also, aus denen der Beweis der den Schuld- (und Rechtsfolgen-) Ausspruch tragenden Umstände, „gefolgert“ wird, im Urteil ebenfalls „angegeben werden sollen“. Bekanntlich geht die revisionsrechtliche Rechtsprechung inzwischen weit darüber hinaus, indem sie nicht nur die Sollvorschrift als Mussvorschrift verstanden wissen will, sondern auch dem Tatrichter neben der bloßen „Angabe“ der (wesentlichen) Indiztatsachen bis zu einem gewissen Grad auch die Dokumentation der Schlussfolgerung abverlangt. Diesen richterrechtlich entwickelten Anforderungen kann der Tatrichter nur entsprechen, wenn er auch die Einlassung und das sonstige Verteidigungsvorbringen des für schuldig gehaltenen Angeklagten und die dem entgegenstehenden Ergebnisse der Beweisaufnahme unter Darlegung des jeweiligen Wertes der einzelnen belastenden Indiztatsachen auch in ihrer Beziehung zu anderen, sie verstärkenden oder abschwächenden Tatsachen erörtert. Dabei müssen die Verfasser der tatrichterlichen Urteilsgründe auch kenntlich machen, dass sie alle, sich nach Lage der Dinge aufdrängenden, dem Angeklagten günstigeren Sachverhaltsalternativen erkannt, und warum sie sie gedanklich wieder verworfen haben. Erst wenn alle diese Anforderungen erfüllt sind, gilt die in nahezu jeder einschlägigen BGH-Entscheidung hervorgehobene gesetzlich gewollte Arbeitsteilung zwischen Tat- und Revisionsrichter, dass die Überzeugung des Tatrichters selbst vom Revisionsgericht „hinzunehmen“ ist – was nichts anderes heißt, als dass dieser jenem die Verantwor-

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tung für die Richtigkeit (Wahrheit) des Ergebnisses seines Überzeugungsschöpfungsaktes i.S.d. § 261 StPO nicht abnehmen kann und darf. Man mag zu dieser Erweiterung des revisionsgerichtlichen Prüfungsprogramms stehen, wie man will. Einvernehmen sollte darin bestehen, dass es sich bei den durch die Rechtsprechung über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 StPO hinaus entwickelten Begründungsanforderungen um Verfahrensrecht und nicht etwa um materielles Strafrecht oder auch nur um die Aufstellung „anderer“ Rechtsnormen i.S.d. § 344 Abs. 2 Satz 1 StPO handelt. Ebenso wie die Verpflichtung, überhaupt schriftliche Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 StPO niederzulegen, sind alle Anforderungen an deren Inhalt, mögen sie sich unmittelbar aus der Verfahrensvorschrift des § 267 StPO oder auch ihrer Ausdehnung durch die Rechtsprechung ergeben, Gebote des Prozessrechts. Auch darüber sollte es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Anlass, diese Selbstverständlichkeit hier hervorzuheben, besteht auch nur deshalb, weil der Sprachgebrauch des BGH, wonach die Mängel in der Darstellung des festgestellten Sachverhalts oder auch das Fehlen einer Erörterung naheliegender Sachverhaltsalternativen in Ausführungen zur Beweiswürdigung „auf die Sachrüge hin“ zur Urteilsaufhebung führen, zu dem Missverständnis verleiten könnte, der die Revisionsentscheidung notwendig machende Rechtsfehler des Tatgerichts sei auch als Verletzung des sachlichen Rechts einzuordnen. Das hätte z.B. Auswirkungen auf § 357 StPO, weil, wer ernsthaft behaupten wollte, die Darstellungsrüge ziele auf eine Verletzung materiellen Rechts, verlangen müsste, dass die Urteilsaufhebung auch in diesen Fällen auf den Nichtrevidenten erstreckt wird. Das wird auch tatsächlich im Schrifttum vertreten,11 kann aber schon deshalb nicht richtig sein, weil für den Mitangeklagten, der sein Urteil überhaupt nicht anfechten wollte, schon hinsichtlich der gesetzlich ausdrücklich geregelten Mindestinhalte der Urteilsgründe die oben genannten und sich ohne weiteres aus § 267 Abs. 4 StPO ergebenden stark reduzierten Anforderungen gelten. Und dass die von der Rechtsprechung zusätzlich aufgestellten Begründungsgebote für abgekürzte Urteile nicht gelten können, sollte sich auch von selbst verstehen. Es kommt hinzu, dass das völlige Fehlen von Urteilsgründen, das als „Super-GAU“ unzureichender Gründe verstanden werden kann, in § 338 Nr. 7 StPO unter jenen Verfahrensverstößen aufgelistet ist, bei deren Vor11 KK-Kuckein StPO, § 357 Rn. 1 ohne Begründung unter Hinw. auf Meyer-Goßner StPO § 357 Rn. 9, dieser unter Hinw. auf Peters in: FS Karl Schäfer, 1979, 152, der aber sehr wohl erkannt hat, dass es bei der erweiterten Revision nicht um sachlichrechtliche Fehler geht, weshalb er eine gesetzliche Klarstellung und bis dahin die analoge Anwendung des § 357 StPO postuliert.

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liegen sogar eine konkrete Beruhensprüfung unterbleibt. In einem solchen Falle fehlt auch für das Revisionsgericht, das sich nur auf eine allgemeine Sachrüge hin mit dem Urteil zu befassen hat, jegliche Möglichkeit, das ordnungsgemäße Zustandekommen der (nicht vorhandenen) Feststellungen und die Subsumtion unter das Strafgesetz zu prüfen, sodass das Urteil auch ohne Verfahrensrüge aufzuheben ist.12 Ist aber die Pflicht zum Niederschreiben von Urteilsgründen überhaupt unzweifelhaft eine verfahrensrechtliche Pflicht und der Verstoß dagegen ein Verfahrensfehler, so kann für die abgeschwächte Form, nämlich das Niederschreiben unzulänglicher Urteilsgründe nichts anderes gelten. Nun mag die eine oder der andere Leser(in) dieser Zeilen sich wundern, dass ausgerechnet aus der Sicht der gewöhnlich interessegeleitet argumentierenden Anwaltschaft eine doch eigentlich beschwerdeführerfreundliche Rechtsprechung zum Anlass für die Forderung nach einer Korrektur zumindest des üblichen Sprachgebrauchs („auf die Sachrüge“) genommen wird. Mein Anliegen ist jedoch ein anderes: Die Formel, wonach es die Sachrüge sei, die in den genannten Fällen zur Aufhebung führt, ist dann zutreffend, wenn man darunter nur versteht, dass auch beim Fehlen einer (auf den Darstellungsmangel gerichteten) Verfahrensrüge und bei zulässig erhobener Sachbeschwerde die Urteilsgründe vom Revisionsgericht von Amts wegen zur Kenntnis genommen werden müssen. Um darin aber nicht nur ein pragmatisches Argument im Sinne der „Leistungsmethode“13 zu sehen, erscheint es durchaus sachgerecht, den durch die Sachbeschwerde ausgelösten Zwang zur Überprüfung der Urteilsgründe in jeder rechtlichen Hinsicht unmittelbar aus § 337 Abs. 1 StPO abzuleiten. Wer nämlich behauptet, das Urteil beruhe auf einer Verletzung sachlichen Rechts, kann damit auch meinen, dass die Subsumtion unter einen Straftatbestand über einem durch Fakten nicht hinreichend fundierten Sachverhalt „in der Luft hängt“ Ein Tatgericht, das beispielsweise sagt, der Angeklagte habe einen Diebstahl begangen, indem er eine vom Voreigentümer weggeworfene Sache „weggenommen“ hat, verstößt gegen das materielle Recht, weil es bei derelinquierten, also herrenlosen Sachen an dem Merkmal der „fremden Sache“ fehlt. Ein Tatgericht, das in den Rechtsausführungen richtigerweise ausführt, dass es im Falle der Herrenlosigkeit der weggenommenen Sache noch keine Tatbestandserfüllung sehen würde, ohne aber auch in der Beweiswürdigung auszuführen, ob und wie es die (als solche mitgeteilte) Einlassung 12 KK-Kuckein StPO § 338 Rn. 92. Anders ist dies bei der 2. Alternative des § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 StPO, wenn das Urteil mit Gründen nur zu spät zu den Akten gelangte. BGHSt 46, 204 = NJW 2001, 839 = StV 2001, 155. 13 Dazu näher LR-Franke 26. Aufl. 2010, § 333 Rn. 5 mwN.

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des Angeklagten als widerlegt ansieht, er habe eine vorausgegangene Handlung des Voreigentümers eindeutig als „Wegwerfen“ verstanden, kommt seiner verfahrensrechtlichen Pflicht zur vollständigen Darlegung seiner Beweiswürdigung nicht nach. Im letzteren Falle ist nicht einzusehen, weshalb es einer gesonderten Verfahrensrüge bedürfen soll, um das Revisionsgericht zu berechtigen und auch zu verpflichten, den Rechtsfehler, der gleichsam auf der Beweiswürdigungsebene dem materiellrechtlichen Subsumtionsfehler im ersteren Falle korrespondiert, mit der gleichen Verfahrenssanktion (Urteilsaufhebung) zu belegen wie bei allen anderen bereits aus den Urteilsgründen selbst heraus erkennbaren Rechtsfehlern. Bei wirklich allen? Hier schließt sich nämlich eine heikle Frage an, deren zutreffende Beantwortung noch einer Klärung in Dogmatik und Praxis bedarf: Was ist eigentlich mit sonstigen Verfahrensfehlern, deren Vorliegen und Auswirkung auf das Urteil sich vollständig aus dessen Gründen ergibt, die der Beschwerdeführer in der Begründungsschrift versäumt hat anzusprechen. Die Rechtsprechung sagt hier bisher, dass in solchen Fällen vom Revisionsführer wenigstens gesagt werden muss, was er beanstanden will (er müsse „den Finger auf die Wunde legen“)14. Erst dann könnten die nicht mitgeteilten Verfahrenstatsachen, so sie im Urteil enthalten sind, als über die Sachrüge vervollständigt verstanden werden.15 Aber warum sollte nicht in den Fällen die Sachrüge ausreichen, wenn sich sämtliche einen Verfahrensfehler belegenden Verfahrenstatsachen aus dem Urteil selbst geben? Wie oben schon erwähnt, wird wohl kein Revisionsgericht beim Fehlen jeglicher Urteilsgründe, auch wenn nur die allgemeine Sachrüge erhoben ist, das Rechtsmittel verwerfen, nur weil der bei fehlendem Tatsachenvortrag gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO meist unsinnige Satz fehlt: „Gerügt wird die Verletzung (sachlichen und) formellen Rechts.“ Und dass auch nicht ausdrücklich behauptet und beanstandet wird, das Urteil enthalte keine Gründe, sollte – wenn dies so ist und die Sachrüge erhoben wurde –der Aufhebung nicht entgegenstehen. Ist das Urteil aber formal mit Gründen versehen, die diesen Namen nicht verdienen, so sollte nichts anderes gelten. Man denke z.B. an ein Urteil, in dem im Einzelnen beschrieben ist, dass der Angeklagte bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei nicht belehrt worden war, dass die Verteidigung in der Hauptverhandlung der Verwertung jenes Protokolls auch wider14 G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl., Rn. 1771: „Er muss den von ihm beanstandeten Mangel auf den Punkt bringen und die ‚Angriffsrichtung’ seiner Rüge verdeutlichen.“ 15 BGHSt 36 385 mwN; BGH NJW 1992, 2305; 1998, 839; nach BGH StV 1996, 197 st. Rspr.

Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge

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sprochen hatte und dass das Gericht gleichwohl die Verwertung für zulässig hielt. Auch hier ist der Verfahrensfehler, der sich auf die unter den betreffenden Straftatbestand zu subsumierenden Sachverhalt unmittelbar ausgewirkt hat, evident. Ein anderes Beispiel, das nach der Änderung der §§ 59 ff. StPO in seiner praktischen Relevanz eher unterrepräsentativ ist, das aber als Denkmodell durchaus geeignet ist, das Anliegen nahezubringen, mag verdeutlichen, dass das „Warten“ auf die Verfahrensrüge bei erhobener Sachrüge unangebracht wäre: Angenommen, ein Tatgericht bewertet die Aussage eines kindlichen Zeugen deshalb als besonders glaubwürdig, „weil der Zeuge trotz seines Alters von nur 13 Jahren bereit war, seine Aussage zu beschwören.“ Oder ein aktuelleres Beispiel: Das Gericht lehnt im Urteil einen Hilfsbeweisantrag mit der Begründung ab, der Antrag sei erst nach Ablauf einer vom Gericht gesetzten Frist im Plädoyer gestellt worden und „deshalb“ sei er wegen Prozessverschleppung i.S.d. § 244 Abs. 3 StPO nur unter dem Aspekt zu beurteilen, ob die Aufklärungspflicht die Beweiserhebung gebiete, und dies sei nach der Bewertung der bisher durchgeführten Beweisaufnahme nicht der Fall. Wenn in einem solchen Fall der vollständige Inhalt des Hilfsbeweisantrages im Urteil ebenso wie die erstmals hier ausgeführten Zurückweisungsgründe dokumentiert sind, so fehlt für eine nach dem bisherigen Praxisbrauch zulässige Verfahrensrüge nur noch der Satz in der Revisionsbegründung: „Gerügt wird die mit den §§ 244, 246 StPO nicht vereinbare Zurückweisung des Hilfsbeweisantrages.“ Mein Vorschlag für eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung geht nun dahin, in allen Fällen, in denen sich der Verfahrensfehler vollständig aus den Urteilsgründen ergibt, auf die Behauptung, es läge (neben der gerügten Verletzung des materiellen Rechts auch) ein Verfahrensfehler vor, völlig zu verzichten und die Verfahrensrüge als in der Sachrüge konkludent mitgerügt zu behandeln – ebenso wie dies in den Fällen der (auch nicht ausdrücklich neben der allgemeinen Sachrüge erforderlichen) Darstellungsbzw. Plausibilitätsrüge ohne Weiteres praktiziert wird. Die derzeit in ständiger Rechtsprechung praktizierte unterschiedliche Behandlung der beiden Typen von Verfahrensfehlern wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn wirklich die Verstöße gegen die Begründungsanforderungen der Beweiswürdigung näher an (oder gar als Unterfall von) der Sachrüge einzuordnen wären als z.B. die Verletzung des Beweisantragsrechts. Das ist aber nicht der Fall, weil beide Verfahrensfehlertypen den Herstellungsprozess des unter das materielle Recht subsumierten Sachverhalts betreffen. Diese Notwendigkeit einer einheitlichen Behandlung der „(Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge“ würde aber vielleicht erst dann in das Bewusstsein aller Rechtsanwender dringen, wenn der Gesetzgeber sich entschließen könnte, die von der Rechtsprechung entwickelten erweiterten

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Begründungsanforderungen für die Darstellung der tatrichterlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung in § 267 Abs. 1 StPO anstelle der inzwischen praktisch obsoleten „Sollvorschrift“ hinsichtlich der Indiztatsachen ausdrücklich zu normieren. Ein solcher Eingriff des Gesetzgebers könnte seine Legitimation aus einem ähnlichen Rechtsgedanken beziehen, wie er in dem Appell des Großen BGH-Senats für Strafsachen zum Tätigwerden des Gesetzgebers bei der Regelung der Urteilsabsprachen zum Tragen kam: Ebenso wie dort16 ist bei der (hier in der Sache vernünftigen) Korrektur der Gesetzeslage durch die Rechtsprechung die Grenze zulässiger richterrechtlichen Rechtsfortbildung tangiert, so dass ein gesetzgeberisches Eingreifen mehr als nur wünschenswert wäre. Damit könnte dreierlei erreicht werden: 1. wäre die Rechtsunsicherheit zur gesetzlichen Verankerung der erweiterten Revision und damit auch zur Kompetenzverteilung zwischen den Tat- und den Revisionsrichtern beseitigt, wobei auch versucht werden könnte, den Mindestinhalt der Urteilsgründe auf einer höheren Abstraktionsebene als der kasuistischen Einzelfallentscheidung zu normieren. 2. wäre damit auch hinreichend klargestellt, dass es sich bei allen Verstößen gegen diese dann gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Begründungsanforderungen um Verfahrensfehler handelt. Und schließlich sollte 3. eine solche Gesetzesänderung gleichzeitig mit einem kleinen Zusatz in § 344 Abs. 2 S. 2 StPO verbunden werden, der wie folgt lauten könnte: „Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden, soweit bei erhobener Sachrüge sie nicht vollständig im angefochtenen Urteil enthalten sind.“ Und um auch die Regelung über den revisionsgerichtlichen Prüfungsumfang damit konsistent zu gestalten, könnte § 352 Abs. 1 StPO folgende Fassung erhalten: „Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit Mängel des Verfahrens die Revision begründen, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge oder in den Gründen des angefochtenen Urteils bezeichnet worden sind.“ Dass ein solcher moderater Eingriff des Gesetzgebers dem in letzter Zeit vorherrschenden Trend zur Entformalisierung und zum Abbau verfahrensrechtlicher Garantien entgegenlaufen würde, sollte kein Gegenargument sein. Mehr Rechtssicherheit brächte er allemal. Und vielleicht könnte am Ende sogar das Argument, die Statistik der Erfolgsquote von Verfahrensrügen enthalte in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ein Element ausgleichender Gerechtigkeit, ein wenig an Plausibilität gewinnen.

16

BGHSt 50, 40 ff., 64.

Digitale Außenprüfung und Strafrecht ERIC HILGENDORF

I. Einleitung Das Spannungsverhältnis zwischen Privatsphäre und Datenverarbeitung1 gehört seit vielen Jahren zu den Standardthemen des Informationsrechts. Einerseits scheinen viele Nutzer sozialer Netze und anderer Kommunikationsplattformen des Internet auf den Schutz ihrer persönlichen Daten keinerlei Wert mehr zu legen,2 andererseits warnen Datenschützer immer häufiger und mit durchaus beträchtlicher öffentlicher Resonanz vor nicht genehmigter Offenlegung oder gar Nutzung privater Daten.3 Ähnlich zwiespältig verhält sich der Staat: Während einerseits Politiker öffentlichkeitswirksam den Datenschutz verteidigen, werden andererseits die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten auf private Daten fortwährend erweitert. Dabei gerät der Gesetzgeber bisweilen in ein Spannungsverhältnis zu älteren Normen, die den Schutz privater Daten bezwecken.4 Ein besonders bemerkenswertes Beispiel eines solchen Spannungsverhältnisses existiert derzeit im Steuerrecht, wo § 147 Abs. 6 AO5 in Form der „digitalen Außenprüfung“ den Zugriff des Finanzamtes auf die gesamte EDV-Buchführung, auch die von Anwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, zu erlauben scheint, während andererseits § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Herausgabe von Mandantendaten durch die genannten Berufsgruppen unter Strafe stellt. Hier stehen, abstrakt gesprochen, die fiskalischen Interessen des Staates gegen das durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung6 geschützte private Geheimhaltungsinteresse des Einzelnen an den Daten, wo1 Dazu schon Rissing-van Saan Privatsphäre und Datenverarbeitung. Ein strafrechtlicher Beitrag zum Datenschutz. Diss. Bochum 1978. 2 Dies zeigt sich u.a. an der Fülle höchst persönlicher Texte, Fotos und Videos unter Facebook und StudiVZ. 3 Schaar Das Ende der Privatsphäre: Der Weg in die Überwachungsgesellschaft, 2007, Taschenbuchausgabe 2009. 4 Aufschlussreich zur Zielsetzung des Datenschutzes in strafrechtlicher Perspektive Rissingvan Saan (Fn. 1), S. 23 ff. 5 Eingeführt durch das StSenkG vom 23.10.2000, in Kraft getreten am 1.1.2002. 6 BVerfGE 65 1 ff. (Volkszählungsurteil); dazu etwa Simitis NJW 1984, 398 ff.

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bei die hier in Frage stehenden Daten zusätzlich dem Schutz des § 203 StGB unterfallen. Das Problem lässt sich durch folgendes Fallbeispiel beleuchten: Eine interprofessionelle Kanzlei, bestehend aus Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Rechtsanwälten, befindet sich in einer Auseinandersetzung mit dem Finanzamt. Die Kanzlei soll einer steuerlichen Außenprüfung unterzogen werden. Dabei fordert das Finanzamt insbesondere die Fakturierungsdaten (wozu auch der Mandantenname und der Betreff der Rechnung gehören), um einen Abgleich mit der Finanzbuchhaltung vornehmen zu können. Die Kanzlei wehrt sich dagegen, wobei sie u.a. auf § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB verweist, da sie der beruflichen Verschwiegenheit unterliege. Ist der Argumentationsgang der Kanzlei stichhaltig?

II. Der Tatbestand des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB Der objektive Tatbestand des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt zunächst die Offenbarung eines fremden Geheimnisses voraus, welches dem Täter in seiner Funktion als Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer anvertraut wurde oder sonst bekannt geworden ist. Unter den Begriff des Geheimnisses fallen Tatsachen, die sich auf die Person des Betroffenen sowie auf seine vergangenen und bestehenden Lebensverhältnisse beziehen.7 Dabei kann bereits das Bestehen einer Vertragsbeziehung ein Geheimnis sein,8 so dass schon allein der Name des Mandanten dem Begriff des Geheimnisses unterliegt. Erst recht gilt dies für den Gegenstand des Mandats.9 Ein Geheimnis wird offenbart, wenn es an Dritte mitgeteilt wird und so den „Kreis der zum Wissen Berufenen“ verlässt.10 Durch die Herausgabe der Fakturierungsdaten wird das Geheimnis gegenüber den Mitarbeitern des Finanzamtes also offenbart i.S.d. § 203 StGB. Schon in der elektronischen Übermittlung ist ein „Offenbaren“ zu sehen.11 Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Weise die Informationen beim Berufsgeheimnisträger gespeichert waren. Das Tatbestandsmerkmal des Offenbarens scheitert insbesondere nicht daran, dass die Mitarbeiter des Finanzamts selbst der Geheimhal7

Fischer § 203 Rn. 4, ausf. LK/Schünemann § 203 Rn. 19 ff.. Fischer § 203 Rn. 6. 9 Ausf. Rotger van Lengerich, Das Verhältnis von steuerrechtlichen Mitwirkungspflichten und strafrechtlicher Schweigepflicht des § 203 StGB, 1999 (Diss. Kiel 1999), S. 13 ff. 10 A/W-Hilgendorf § 8 Rn. 32. 11 LK/Schünemann § 203 Rn. 41; ausf. Hilgendorf Strafrechtliche Probleme beim Outsourcing von Versicherungsdaten, in: ders. (Hg.) Informationsstrafrecht und Rechtsinformatik, 2004, S. 98 ff. 8

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tungspflicht nach § 30 AO unterliegen.12 Falls die Offenbarung vorsätzlich erfolgt, ist somit der Tatbestand der Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt, wenn der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer die Daten der Mandanten an die Finanzbehörde herausgibt.

III. Rechtswidrigkeit der Datenherausgabe Problematischer ist die Rechtswidrigkeit der Offenbarung der Daten. Es ist zu prüfen, ob eine – nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB tatbestandsmäßige Übergabe bzw. Übertragung von Mandantendaten von der Kanzlei an die Finanzbehörde von einem Rechtfertigungsgrund erfasst wird.

1. Rechtfertigung aufgrund einer Offenbarungspflicht Die Offenbarung könnte zunächst durch eine Offenbarungspflicht gerechtfertigt sein, wie sie sich aus § 147 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben könnte, wo dem Finanzamt das Recht gewährt wird, Einsicht in die Buchführungsunterlagen zu verlangen. Aus diesem Recht des Finanzamts folgt jedoch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, keine vollständige Offenbarungspflicht des Berufsgeheimnisträgers. Zwar darf die Finanzbehörde grundsätzlich Zugriff auf die gewünschten Daten nehmen. Dies wird im Rahmen einer Außenprüfung in aller Regel aber nur dann möglich sein, wenn der Steuerpflichtige mitwirkt und die in Frage stehenden Daten zur Verfügung stellt. Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sind bei Betriebsprüfungen verpflichtet, bei der Feststellung von Sachverhalten, die für die Besteuerung von Bedeutung sein können, mitzuwirken. Insbesondere haben sie Auskünfte zu erteilen, Aufzeichnungen, Bücher, Geschäftspapiere und andere Urkunden zur Einsicht und Prüfung vorzulegen, und die zum Verständnis der Aufzeichnungen erforderlichen Erläuterungen zu geben, § 200 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO. Dies hat der Ausschuss Steuerrecht der Bundesrechtsanwaltskammer in einer Stellungnahme vom Juli 2009 zu der Frage, ob bei steuerlichen Betriebsprüfungen in Rechtsanwaltskanzleien (und damit auch in interprofessionellen Sozietäten) die Namen von Mandanten offenbart werden dürfen, noch einmal bestätigt13 und entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH.14 12

Vgl. Fischer § 203 Rn. 30b. Vgl. auch unten III. 2. a.E. BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 2). 14 Vgl. nur BFH NJW 2008, 2366 mit Anm. Bilsdorfer NJW 2008, 2368. 13

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Sofern Aufzeichnungen mit Hilfe eines Datenverarbeitungssystems erstellt worden sind – was heute der Regelfall sein dürfte – darf die Finanzbehörde im Rahmen der „digitalen Außenprüfung“ Einsicht in die gespeicherten Daten nehmen und auch das Datenverarbeitungssystem zur Prüfung benutzen. Die Behörde darf verlangen, dass die Daten nach ihren Vorgaben maschinell ausgewertet oder ihr die gespeicherten Unterlagen und Aufzeichnungen auf einem maschinell verwendeten Datenträger zur Verfügung gestellt werden, § 147 Abs. 6 Satz 2 AO.15 Dieses Recht, umfassend Auskunft zu verlangen, führt aber nicht dazu, dass der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer verpflichtet wäre, sämtliche angeforderten Mandantendaten ohne Weiteres herauszugeben. Nach § 43 a Abs. 2 BRAO ist der Anwalt zur Verschwiegenheit verpflichtet, wobei sich diese Pflicht auf alles bezieht, was dem Anwalt in Ausübung seines Berufs bekannt geworden ist. Entsprechende Regelungen finden sich in § 43 Abs. 1 WPO für Wirtschaftsprüfer und in § 9 BOStB für Steuerberater. Diese Verschwiegenheitspflicht wird in § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafrechtlich gesichert. Hinzu tritt § 102 AO: Gemäß § 102 Abs. 3b AO darf der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer Auskünfte über das, was ihm in seiner jeweiligen Eigenschaft anvertraut oder bekannt wurde, verweigern. Auch die Vorlage von Urkunden darf nach Maßgabe des § 102 AO verweigert werden, § 104 Abs. 1 AO. Die skizzierten Auskunftsverweigerungsrechte werden auch in der Rechtsprechung unmissverständlich anerkannt: Nach der Rechtsprechung des BFH darf eine zur Berufsverschwiegenheit verpflichtete Person der Finanzbehörde die Einsicht in alle Daten verweigern, auf die sich ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach § 102 AO erstreckt.16 Dies muss auch im Fall des § 147 Abs. 6 AO gelten. Daraus ergibt sich, dass § 147 Abs. 6 AO keine vollständige Offenbarungspflicht des Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers begründet, sondern nur ein grundsätzliches Zugriffsrecht der Finanzbehörden. Wird die Mitwirkung des Berufsgeheimnisträgers erforderlich, so kann der Berufsgeheimnisträger die Auskunft nach § 102 AO verweigern.17 Dieses Ergebnis wird durch die bereits zitierte Stellungnahme des Ausschusses Steuerrecht der Bundesrechtsanwaltskammer vom Juli 2009 bestätigt: „Soweit … Namen von Mandanten wegen der beruflichen Verschwiegenheitspflicht, deren Verletzung unter Strafandrohung steht (§ 203 Abs. 1 15

BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 2) am Ende. Zuletzt BFH NJW 2008, 2366 (2367); BFH DStR 2010, 950 f. mit Anm. Mutschler; Brandt Die steuerliche Betriebsprüfung 2010, S. 118 (122); ebenso schon z.B. BFH NJW 1958, 646; vgl. auch Seer in: Tipke/Kruse, AO/F60 § 200 Rn. 30. 17 BFH NJW 2008, 2366 (2367). 16

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Nr. 3 StGB) auch gegenüber der Finanzverwaltung geheim gehalten werden müssen, greift das Auskunftsverweigerungsrecht für Rechtsanwälte gemäß § 102 Abs. 1 Nr. 3b AO ein. Dieses Auskunftsverweigerungsrecht ist Bestandteil der allgemeinen Verfahrensvorschriften für die Durchführung der Besteuerung. Diese Verfahrensvorschriften gelten auch im Falle einer Außenprüfung. Die in § 200 AO normierten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bei einer Außenprüfung schränken das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 102 AO nicht ein.“18 Der Vorrang des Auskunftsverweigerungsrechtes nach § 102 Abs. 1 Nr. 3b AO wurde für die Auskunftsverpflichtung Beteiligter gemäß § 93 Abs. 1 AO bereits vom BFH anerkannt.19 Diese Rechtsprechung wurde im Jahr 2009 für die Außenprüfung nach § 193 AO bekräftigt.20 Für die §§ 147 Abs. 6, 200 AO kann nichts anderes gelten. Dies bedeutet für die digitale Außenprüfung, dass der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer auf der Grundlage seiner gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht berechtigt ist, die Mandantennamen mit Hilfe einer geeigneten Software zu sperren und nur diejenigen Namen zu offenbaren, für die (etwa wegen einer Einwilligung, siehe sogleich unter 2) keine Verschwiegenheitspflicht besteht. Soweit Namen aus technischen Gründen nicht gesperrt werden können, sind die entsprechenden Unterlagen auszudrucken, der Anwalt hat die Namen, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, zu schwärzen, 21 und darf erst dann die Unterlagen der Finanzbehörde übergeben. Das Verweigerungsrecht erstreckt sich sowohl auf die Identität des Mandanten als auch auf die Tatsache und den Inhalt der Beratung.22 Es sind dieselben Tatsachen erfasst, die nach § 203 StGB der Geheimhaltung unterliegen. Damit wird die Schweigepflicht nach § 203 StGB umfassend berücksichtigt. Es besteht also keine Auskunftspflicht, die eine Offenbarung i.S.d. § 203 StGB rechtfertigen könnte. Wegen § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB darf der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer vielmehr nur solche Unterlagen vorlegen, aus denen Geheimnisse nach § 203 StGB nicht hervorgehen. Nur angemerkt sei, dass die Finanzbehörde die Absicht, Kontrollmitteilungen zu erstellen, die sich auf Mandanten beziehen, der Sozietät vorab bekannt geben muss.23 Hat der Anwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer versäumt, durch geeignete technische Maßnahmen eine Trennbarkeit von der Verschwiegen18

BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 7). BFH DStR 2002, 1300. 20 BFH DStR 2010, 326; 950 f. mit Anm. Mutschler; Brandt Die steuerliche Betriebsprüfung 2010, 118 (122). 21 Wünsch in: Pahlke/König, § 102 Rn. 14; BFH DStR 2010, 950 (951). 22 BFH NJW 2008, 2366 (2367); Wünsch in: Pahlke/König § 102 Rn. 13. 23 BFH NJW 2008, 2366 (2367); BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 6). 19

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heit unterliegenden und der Verschwiegenheit nicht unterliegenden Mandantendaten herzustellen, so kann dies – schon mit Blick auf den Verfassungsrang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – nicht ohne Weiteres gegen den Mandanten in Anschlag gebracht werden. Vielmehr ist auch in diesem Fall der Weg des „Papierverfahrens“ mit Schwärzung der bedenklichen Passagen zu wählen. In vorliegendem Beispielsfall braucht dieser Frage nicht weiter nachgegangen zu werden, da die Behörde ohnehin die Herausgabe auch solcher Daten verlangt hat, die der Verschwiegenheitspflicht des Anwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers unterliegen. Im Übrigen hat ein Fehlverhalten der Kanzlei bei der Datenverwaltung und Datenaufbewahrung keine Auswirkungen auf die Strafbarkeit einer unbefugten Herausgabe geschützter Mandantengeheimnisse, da daraus ein Rechtfertigungsgrund im Verhältnis zu den Mandanten nicht hergeleitet werden kann. Auf das Unterlassen einer technischen Vorrichtung zur Datentrennung kommt es also in vorliegendem Zusammenhang nicht an. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Offenbarung der Fakturierungsdaten nicht durch eine Offenbarungspflicht der Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer nach § 147 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 AO gerechtfertigt wäre.

2. Rechtfertigung durch Einwilligung der Mandanten Die Offenbarung wäre jedoch gerechtfertigt, wenn der jeweilige Mandant in die Offenlegung der Fakturierungsdaten eingewilligt hätte. Da eine ausdrückliche Einwilligung nicht vorliegt, kommt nur eine konkludente oder eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht. Die konkludente Einwilligung setzt voraus, dass einer Handlung ein bestimmter, den Schutz des jeweiligen Rechtsguts einschränkender Erklärungswert zukommt. In diesem Fall müsste das Aufsuchen der Anwaltskanzlei und die Mandatserteilung die schlüssige Erklärung beinhalten, der Mandant sei mit der Offenbarung seines Namens und auch des wesentlichen Inhalts des Mandats an die Mitarbeiter des Finanzamts im Rahmen des Steuerverfahrens einverstanden. Wegen des durch § 203 StGB geschützten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sind hohe Anforderungen an die konkludente Einwilligung zu stellen.24 Eine solche konkludente Einwilligung hat der BFH etwa im Fall der Bewirtung von Mandanten angenommen: Danach muss derjenige, der sich von einem Rechtsanwalt im Zusammenhang mit einem Mandatsverhältnis zum Essen einladen lässt, sozialadäquat damit rechnen, dass der Rechtsanwalt die Bewirtungsaufwendungen als Betriebsausgaben geltend macht und die 24

LK/Schünemann § 203 Rn. 107.

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zu diesem Zweck steuerlich erforderlichen Formalitäten eingehalten werden. Mit Annahme der Einladung willige der Mandant also konkludent in die Offenbarung gegenüber dem Finanzamt ein.25 Dieser Rechtsprechung lässt sich allerdings entgegenhalten, dass die konkludente Einwilligung voraussetzt, dass dem Mandanten zumindest bewusst war, dass seinem Handeln ein bestimmter Erklärungswert zukommt. Es ist jedoch fraglich, ob sich der in steuerrechtlichen Fragen nicht bewanderte Mandant über derartige Fragen überhaupt Gedanken macht, wenn er nicht explizit darauf hingewiesen wird.26 Allein aus der Tatsache, dass die Einwilligung sachgerecht wäre, kann die konkludente Einwilligung nicht hergeleitet werden.27 Weiterhin nimmt der BFH in einem neueren Urteil zur Rechtmäßigkeit der Außenprüfung bei Berufsgeheimnisträgern an, dass ein Verzicht auf Geheimhaltung der Identität des Mandanten in der Regel angenommen werden könne, wenn der Geheimnisträger (z.B. der Steuerberater) an der Steuererklärung mitwirkt und dies dem Finanzamt kenntlich gemacht wurde.28 In diesem Fall mag eine konkludente Einwilligung in der Tat vorliegen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Mandant in aller Regel die Einwilligung nur erteilen wird, soweit der Rechtsanwalt oder Steuerberater in seinem Interesse handelt. Mit der Mitteilung ihm ungünstiger Tatsachen an das Finanzamt wäre der Mandant wohl kaum einverstanden. Für diesen Fall kann ihm deshalb auch keine konkludente Einwilligung unterstellt werden. Unabhängig von den grundsätzlichen Bedenken gegen die skizzierten Urteile lässt sich diese Rechtsprechung jedenfalls nicht ohne Weiteres auf die vorliegende Problemsituation übertragen. Voraussetzung einer (konkludenten) Einwilligung ist stets, dass sie freiwillig und frei von Willensmängeln erklärt wird und dass nach den äußeren Umständen ein dahingehender Wille des Erklärenden anzunehmen ist. Sie kann deshalb nur angenommen werden, wenn die Offenbarung nach der Natur der Sache selbstverständlich oder zumindest nach allgemeinem Verständnis regelmäßig üblich ist.29 So hat der BGH im Fall des ärztlichen Behandlungsvertrags eine konkludente Einwilligung in ein Outsourcing der ärztlichen Verrechnung verneint.30 Noch weniger selbstverständlich ist es jedoch, dass ein Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer im Rahmen eines Steuerverfahrens geheime Daten an das Finanzamt weitergibt. Zwar ist jedem Mandanten 25

BFH NJW 2004, 1614 (1616). Hentschel NJW 2009, 810 (812). 27 Fischer § 203 Rn. 33a. 28 BFH NJW 2008, 2366 (2367). 29 Fischer § 203 Rn. 33a; Schönke/Schröder/Lenckner, § 203 Rn. 24b. 30 BGHZ 115, 123 (128). 26

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grundsätzlich klar, dass auch die interprofessionelle Sozietät den Vorschriften des Steuerrechts unterliegt und sich einem Besteuerungsverfahren unterziehen muss. Wie jedoch ein solches Verfahren im Einzelnen aussieht, ist weniger bekannt; eine nähere Kenntnis davon kann dem Durchschnittsmandanten nicht ohne Weiteres zugerechnet werden. Dagegen weiß der Mandant, dass der Rechtsanwalt, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer der beruflichen Geheimhaltungspflicht unterliegt, vielleicht weiß er auch, dass die betreffenden Berufsgruppen Auskünfte im Steuerverfahren verweigern dürfen. Daraus ergibt sich, dass die Mitteilung von Mandantendaten gegenüber dem Finanzamt gerade nicht selbstverständlich und sozialadäquat ist. Wie beim ärztlichen Behandlungsvertrag auch ist die Schweigepflicht des Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers grundlegende Voraussetzung einer erfolgreichen Beratung, man denke nur an ein Strafverfahren, in dem für den Mandanten sehr viel auf dem Spiel steht, von der Schädigung seines guten Rufes bis hin zu einer hohen Freiheitsstrafe. Dass vertrauliche Tatsachen hier nicht nach außen dringen dürfen, bedarf keiner näheren Begründung und ist für den Mandanten Grundlage dafür, dass er sich überhaupt dem Verteidiger anvertraut. Eine Einladung zum Essen wie im oben genannten Urteil des BFH31 kann der Mandant ohne weitere Folgen ausschlagen. Die für ihn notwendige juristische Beratung erlangt er jedoch nur dann, wenn er eine Vertragsbeziehung mit dem Rechtsanwalt eingeht. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Nähme man an, in jeder Mandatserteilung liege zugleich eine Einwilligung in die Weitergabe anvertrauter Informationen an das Finanzamt, so wäre der Mandant gezwungen, stets in die Offenbarung seiner Daten einzuwilligen, wenn er sich bei den genannten Berufsgruppen fachlichen Rat holt.32 Eine solche Konstruktion erscheint lebensfremd und wird dem Verfassungsrang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung33 nicht gerecht. Eine konkludente Einwilligung kann auch nicht mit dem Argument bejaht werden, die Mitarbeiter des Finanzamtes unterlägen gemäß § 30 AO selbst der Geheimhaltungspflicht, das Geheimnis des Mandanten sei also weiterhin geschützt. Zum einen wird der Mandant wohl trotz § 30 AO kaum damit einverstanden sein, dass dem Finanzamt Tatsachen bekannt werden, die ihn steuerlich belasten. Zum anderen erweitert sich durch die Offenlegung der Daten gegenüber dem Finanzamt der Kreis der Wissenden erheblich. Auch wenn diese selbst zur Geheimhaltung verpflichtet sind, erhöht eine solche 31

Vgl. oben Fn. 25. Zu Recht weist Rissing-van Saan (Fn. 1), S. 239 darauf hin, „dass der Betroffene den [in § 203 StGB, E.H.] aufgezählten Vertrauenspersonen mehr oder weniger gezwungen oder notwendigerweise Geheimnisse anvertrauen muss“. 33 Vgl. oben Fn. 6. 32

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Erweiterung immer die Gefahr, dass Inhalte des Geheimnisses nach außen dringen. Aus diesem Grund kann allein wegen der Verschwiegenheitspflicht nach § 30 AO eine konkludente Einwilligung nicht bejaht werden. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Offenbarung nicht durch eine konkludente Einwilligung des Mandanten gerechtfertigt wäre.34 Die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung setzte voraus, dass der Mandant nicht rechtzeitig befragt werden kann.35 Bloße Schwierigkeiten bei der Durchführung der Befragung oder ein hoher Kostenaufwand reichen dabei nicht aus.36 Schon wegen der Möglichkeit der Rückfrage scheidet daher die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung aus.37

3. Rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB Zu denken ist des Weiteren an eine Rechtfertigung des Daten übertragenden Anwalts nach § 34 StGB. Die Annahme eines rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB setzt zunächst eine Notstandslage, d.h. eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut voraus. Das Finanzamt verlangt die Herausgabe der Daten. Konkrete Rechtsfolgen für den Fall einer Weigerung sind bislang nicht angedroht worden; zu denken ist aber etwa an eine Steuerschätzung (§ 162 Abs. 2 AO), die im Zweifel für die Kanzlei finanzielle Nachteile bringen würde. Zu bedenken ist auch der Reputationsverlust für die Kanzlei, der sich leicht wirtschaftlich niederschlagen kann. Mittelbar dient die Herausgabe der Daten der Abwehr einer Gefahr für die Gleichmäßigkeit der Besteuerung als allgemeinem Rechtsgut mit Verfassungsrang (Art. 3 Abs. 1 GG, § 85 AO). Dabei ist anerkannt, wenn auch nicht unstreitig, dass § 34 StGB nicht nur Individualrechtsgüter, sondern auch allgemeine Rechtsgüter wie z.B. die Volksgesundheit38 oder die Sicherheit des Luftverkehrs39 schützt. Eine gegenwärtige Gefahr ist anzunehmen, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist.40 Auch dies kann bejaht werden. Es fehlt aber an einem wesentlichen Überwiegen der geschützten gegenüber den beeinträchtigten Interessen i.S.v. § 34 StGB. Es müssten die skizzierten Interessen der interprofessionellen Sozietät sowie das Interesse an der Gleichmäßigkeit der Besteuerung das Geheimhaltungsinteresse der Mandaten und damit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung we34

Göpfert DB 2006, 581 (584). Vgl. MK/Cierniak § 203, Rn. 83. 36 Otto wistra 1999, 201 (204); MK/Cierniak § 203 Rn. 83. 37 BGH NJW 1991, 2955; NJW 1995, 2026; MK/Cierniak § 203 Rn. 83. 38 BGH NStZ 1988, 558 f. 39 BGH NStZ 2006, 243 (244). 40 Fischer § 34 Rn. 4. 35

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sentlich überwiegen. Dabei ist einerseits zwischen dem abstrakten Rang der beteiligten Rechtsgüter abzuwägen, andererseits sind aber auch die konkreten Interessen der Beteiligten in den Blick zu nehmen.41 Angesichts der Tatsache, dass hier auf beiden Seiten Rechtsgüter von Verfassungsrang involviert sind, wird man von einem „wesentlichen Überwiegen“ einer Seite nicht ausgehen können. Das Schutzinteresse der Kanzlei ist zwar stark, überwiegt aber das grundrechtlich gestärkte Schutzinteresse der Mandanten nicht wesentlich. Eine Offenbarung der Mandanteninformationen wäre deshalb nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt.

4. Rechtfertigung aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen Möglicherweise könnte der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, der die Daten an die Finanzbehörde weitergibt, aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 StGB, gerechtfertigt sein. Allerdings ist schon umstritten, ob sich aus § 193 StGB ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund ableiten lässt.42 Voraussetzung der Wahrnehmung berechtigter Interessen ist jedenfalls, dass der Handelnde eigene Interessen wahrnimmt oder allgemeine Interessen, die jeden Staatsbürger berühren und als berechtigtes Interesse nahe angehen.43 Auch hier ist eine Interessenabwägung durchzuführen. Ein Überwiegen der Kanzleiinteressen ist nicht anzunehmen (s.o. 3). Damit scheidet auch eine Rechtfertigung aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen aus. Als Zwischenergebnis lässt sich damit festhalten, dass eine Herausgabe der Mandanteninformationen rechtswidrig wäre. Sofern die sonstigen Voraussetzungen einer Strafbarkeit, insbesondere Verschulden, ebenfalls vorlägen, würde sich der Berufsgeheimnisträger der interprofessionellen Sozietät, der den Finanzbehörden die Fakturierungsdaten offenlegt, mangels Rechtfertigung nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar machen.

IV. Strafrisiken für den Finanzbeamten? Zu klären bleibt, ob im Falle einer Herausgabe von Daten durch die Kanzlei eine Strafbarkeit des handelnden Finanzbeamten wegen Anstiftung zur Verletzung von Privatgeheimnissen, §§ 203 Abs. 1 Nr. 3, 26 StGB zu befürchten ist. Eine dem Grundsatz der limitierten Akzessorietät genügende 41

Vgl. zur Durchführung der Interessenabwägung Wessels/Beulke Strafrecht AT, Rn. 310 ff. Vgl. dazu Nachweise bei LK/Rönnau Vor § 32 Rn. 304; LK/Schünemann § 203 Rn 131. 43 Fischer § 193 Rn. 13. 42

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tatbestandsmäßige und rechtswidrige Haupttat läge vor, vgl. oben II. - III. Erst durch die Aufforderung der Finanzbehörde wurde der Tatenschluss des Berufsgeheimnisträgers zur Offenbarung des Geheimnisses hervorgerufen. Er wird deshalb objektiv zur Begehung der Haupttat bestimmt, § 26 StGB. Problematisch ist hingegen der erforderliche Anstiftungsvorsatz, der sich sowohl auf die vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat, als auch auf das Hervorrufen des Tatentschlusses bei dem Geheimnisträger erstrecken muss.44 Letzteres ist jedenfalls gegeben, da der Finanzbeamte die Herausgabe mit seiner Aufforderung gerade bezweckt. Fraglich ist jedoch, ob der Finanzbeamte dabei damit rechnet und zumindest billigend in Kauf nimmt, dass der Geheimnisträger sich aufgrund dieser Aufforderung durch Herausgabe der Daten eine Haupttat nach § 203 Abs. 1 StGB begeht. Das hier in Frage stehende Verfahren ist gesetzlich so ausgestaltet, dass §147 Abs. 6 AO dem Mitarbeiter des Finanzamtes das Recht gewährt, Auskunft zu verlangen, andererseits dem Berufsgeheimnisträger nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 b AO das Recht zusteht, diese Auskunft zu verweigern, wenn er von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit nicht entbunden wurde, § 102 Abs. 3 AO. Die §§ 43 a Abs. 2 BRAO, 43 Abs. 1 WPO und 9 BOStB verpflichten die Berufsgeheimnisträger sogar zur Verschwiegenheit. Der Mitarbeiter des Finanzamtes kann deshalb ebenso wie auch der befragende Polizeibeamte, Staatsanwalt oder Richter im Strafverfahren davon ausgehen, dass der Berufsgeheimnisträger, der schließlich seine Schweigepflicht kennt und der allein weiß, ob der Mandant ihn von dieser Verpflichtung entbunden hat, sich gegebenenfalls auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen wird. Er nimmt dann aber nicht billigend in Kauf, dass sich der Berufsgeheimnisträger mit seiner Auskunft strafbar macht und handelt in diesem Fall somit ohne Vorsatz. Anders ist die Situation zu bewerten, wenn dem Mitarbeiter des Finanzamtes positiv bekannt ist, dass keine Einwilligung der Mandanten vorliegt45 und er auch nicht vom Vorliegen eines anderen Rechtfertigungsgrundes für den Berufsgeheimnisträger ausgeht. Der Mitarbeiter des Finanzamts weiß in diesem Fall, dass der Berufsgeheimnisträger zur Herausgabe der Daten nicht befugt ist. Er handelt mit Blick auf eine Tat nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB also vorsätzlich, wenn er den Berufsgeheimnisträger ernstlich zur Herausgabe von Daten auffordert, die dem Schutz des § 203 StGB unterliegen. Eine Rechtfertigung kann nicht schon aus einem etwaigen Versäumnis des Berufsgeheimnisträgers hergeleitet werden, i.S.d Geheimhaltungspflicht 44

Fischer § 26 Rn. 7. Eine solche Kenntnis kann sich etwa aus einer entsprechenden vorab erteilten Auskunft der Sozietät ergeben. 45

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des § 203 StGB bedenkliche von unbedenklichen Daten zu trennen. Im Strafrecht ist ein derartiges „Mitverschulden“ grundsätzlich bedeutungslos. Hinzu kommt, dass die Finanzbehörde im vorliegenden Beispielsfall (vgl. oben I) gerade auch Einsicht in die bedenklichen Daten begehrte. Eine Rechtfertigung des Herausgabeverlangens könnte sich aber aus § 147 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben. Durch diese Bestimmung wird ein Recht der Finanzbehörde festgelegt, eine Herausgabe der fraglichen Daten zu fordern. Ein solches Recht entfaltet nach dem Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ auch im Strafrecht Wirkung.46 § 147 Abs. 6 AO ist deshalb grundsätzlich als ein Rechtfertigungsgrund anzusehen.47 Fraglich ist aber, ob § 147 Abs. 6 AO auch dann eine rechtfertigende Wirkung entfalten kann, wenn das Finanzamt sicher weiß oder zumindest davon ausgehen muss, dass der Berufsgeheimnisträger durch die Herausgabe der Daten den § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllen würde. Wird in einem solchen Fall ein Herausgabebegehren in Form eines Verwaltungsaktes erlassen, so ist der Verwaltungsakt gem. § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nichtig. § 147 Abs. 6 AO bezieht sich nur auf ein rechtmäßiges Herausgabeverlangen. Gerade mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung erscheint es schwerlich vertretbar, dem § 147 Abs. 6 eine rechtfertigende Wirkung zuzuschreiben, wenn der Verwaltungsakt, welcher auf § 147 Abs. 6 AO gestützt wird, nicht bloß rechtswidrig, sondern wegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers sogar nach § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nichtig ist Es ist davon auszugehen, dass der Erlass eines nach § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nichtigen Verwaltungsakts, der eine Herausgabe von Daten i.S.v. § 147 Abs. 6 AO fordert, nur in seltensten Fällen vorkommen dürfte. Wird etwa der die Aufforderung zur Datenträgerüberlassung enthaltende Verwaltungsakt so formuliert, dass er sich nur auf solche Daten bezieht, deren Herausgabe rechtlich zulässig ist, liegt eine Nichtigkeit i.S.v. § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nicht vor. Würde eine Finanzbehörde jedoch sehenden Auges einen Verwaltungsakt nach § 147 Abs. 6 AO erlassen, der die Begehung einer strafrechtswidrigen Tat verlangt, so kann § 147 Abs. 6 AO keine rechtfertigende Wirkung entfalten. Dies gilt etwa dann, wenn die Behörde sicher weiß, dass keine Einwilligung der Betroffenen vorliegt. Das Herausgabeverlangen ist dann rechtswidrig. Dies betrifft nicht bloß diejenigen Fälle, in denen der Finanzbehörde von Anfang an die genauen Umstände des Falles bekannt waren, sondern auch solche Fälle, in denen die Umstände erst nachträglich (aber noch vor dem eigentlichen Herausgabeverlangen) offenkundig werden. Auf der Schuldebene kommt die Annahme eines Verbotsirr-

46 47

Jescheck/Weigend AT, S. 327. Dazu schon oben III.1.

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tums, § 17 StGB, in Frage, der hier jedoch als vermeidbar einzustufen wäre, da die Finanzbehörde die Möglichkeit hat, sachkundigen Rat einzuholen. Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass sich ein Finanzbeamter strafbar machen kann, wenn er in Kenntnis der Tatsache, dass keine Einwilligung der Mandanten vorliegt, von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern oder Rechtsanwälten die Herausgabe der Mandantendaten fordert. Die digitale Außenprüfung ist nur in den durch § 203 StGB gesteckten Grenzen zulässig.

Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte HANS JOACHIM HIRSCH

I. Beim 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009 hat Ruth Rissing-van Saan, der dieser Beitrag mit vielen guten Wünschen für den bevorstehenden Ruhestand gewidmet ist, ein stark beachtetes Referat über „Das systematische Verhältnis von Mord und Totschlag und die Reform der Tötungsdelikte – Eine kritische Betrachtung aus der Perspektive der Rechtsprechung“ gehalten.1 Es gibt wohl keine zweite Frage, bei der sich in der deutschen strafrechtlichen Diskussion Theorie und Praxis bisher so geschlossen gegenüberstehen: Aus theoretischer Sicht bildet § 212 StGB den Grundtatbestand, der § 211 StGB einen qualifizierten Tatbestand.2 Die Rechtsprechung geht dagegen von eigenständigen Tatbeständen aus.3 In jüngster Zeit lassen sich in Teilen der höchstrichterlichen Judikatur Annäherungen an die Auffassung der Theorie beobachten.4

II. 1. Rissing-van Saan leitet ihre Ausführungen mit der Bemerkung ein, dass jeder, der sich mit diesem Thema als Autor oder Referent befasst, „durch sein Vorverständnis und eigenen Erfahrungen mit Auslegung und Anwendung der Strafnormen geprägt“ sei. Sie sieht sich daher zu dem Hinweis veranlasst, dass wie bei jeder Diskussion über Divergenzen in rechtlichen Fragen zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft trotz der gemein1 Rissing-van Saan in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, 2010, S. 26 ff. 2 Vgl. die umfangreichen Nachw. bei Sch/Sch-Eser 28. Aufl. 2010, Vor §§ 211 ff. Rn 2 ff. 3 Seit BGHSt. 1, 368, 370 ff., st. Rspr., bestätigt in BGHSt. 50, 1, 5 f.; BGH NStZ 2006, 288, 290. Weitere Nachw. bei Fischer 57. Aufl. 2010, § 211 Rn 89. 4 Siehe BGH NJW 2006, 1008, 1012 f.; BGH NStZ 2006, 34, 35; 288, 290.

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samen Grundlage in den jeweiligen Gesetzen die unterschiedliche Aufgabenstellung und der unterschiedliche Wirkungskreis beider mitbedacht werden müsse.5 De lege lata stehen Literatur und Rechtsprechung in der Tat vor einer unterschiedlichen Einordnung. Nach den Regeln der Strafrechtsdogmatik haben die Theoretiker recht, weil die Tatbestandsmerkmale des § 212 StGB in vollem Umfang in dem durch straferhöhende Merkmale ergänzten Mordtatbestand des § 211 StGB enthalten sind. Diese den Gesetzen der Logik folgende Auslegung führt jedoch zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass der Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung – und das bedeutet: der Normalfall vorsätzlicher Tötung – nur eine Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren vorsieht. Dass § 212 Abs. 2 StGB für besonders schwere Fälle lebenslange Freiheitsstrafe androht, ändert daran nichts. Ganz abgesehen davon, dass die Rechtsfigur der besonders schweren Fälle ohnehin fragwürdig ist und an dieser Stelle ihren bedenklichsten Punkt erreicht,6 ändert sich nichts an der Rechtsnatur des in Bezug genommenen Tatbestands. Auch hat der Begriff des Totschlags im allgemeinen Sprachverständnis eher eine gegenüber dem Mord privilegierende Bedeutung. Hinzu kommt, dass bei den in § 211 StGB enthaltenen besonderen persönlichen Merkmalen (d.h. den Merkmalen der 1. und der 3. Gruppe im Unterschied zu den tatbezogenen der 2. Gruppe) nach der zu den §§ 211 und 212 StGB vertretenen Schrifttumsmeinung unbefriedigende Ergebnisse in Teilnahmefällen gemäß der bei § 28 Abs. 2 StGB vorherrschend vertretenen Tatbestandslösung7 die Folge sind: Hat der Anstifter zwar Kenntnis von ihrem Vorliegen beim Täter, erfüllt er das Merkmal aber nicht selbst, kann er nur wegen Teilnahme am Totschlag bestraft werden. Weist dagegen der Täter ein solches Merkmal nicht auf, liegt es nur beim Anstifter vor, wird dieser wegen Anstiftung zum Mord bestraft, obwohl kein Mord gegeben ist. Es ist daher verständlich, dass die Rechtsprechung bemüht ist, angemessenere Ergebnisse, wenn auch auf dogmatisch-wissenschaftlichen Maßstäben nicht entsprechende Weise, zu erzielen. Das bedeutet allerdings nicht, dass für Wissenschaft und Rechtsprechung unterschiedliche Auslegungs5 (o. Fn. 1) S. 26. Anschließend heißt es dort: „Die Domäne der Rechtswissenschaft ist das Forschen und das Hinterfragen von Problemstellungen, die durch die Gesetze vorgegeben sind, sowie die freie wissenschaftliche Disputation mit Rede und Gegenrede. ... Die Rechtsprechung hat demgegenüber die Aufgabe, das Gesetz für alle ... Rechtsunterworfenen verbindlich auszulegen und so Rechtssicherheit zu schaffen. Zugleich hat sie das Gesetz auf die ihr unterbreiteten Sachverhalte anzuwenden und den jeweils konkreten Einzelfall einem rechtlich richtigen und möglichst gerechten Ergebnis zuzuführen“. 6 Dazu näher Hirsch Gössel-FS, 2002, S. 287, 300 f. mwN. 7 Zur Tatbestandslösung bei § 28 Abs. 2 StGB vgl. BGHSt. 6, 308; 8, 205, 208; 50, 1, 5; BGH StV 1994, 17; 1995, 84; st. Rspr.; Sch/Sch-Cramer/Heine § 28 Rn 28 mwN.

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grundsätze gelten. Die Auslegung unterliegt vielmehr den durch die Interpretationsmöglichkeiten des Gesetzestextes gezogenen Grenzen, und jeder der auslegenden Akteure, sei er Wissenschaftler oder Richter, hat dieselbe Aufgabe: nach dem Ergebnis zu suchen, das als geltendes Recht anzusehen ist. Handelt es sich um einem misslungenen Gesetzestext, und so verhält es sich bei der Regelung der §§ 211 und 212 StGB, kann aber die Situation bestehen, dass sich kein zwingendes, in jeder Hinsicht schlüssiges Ergebnis aus dem Text entnehmen lässt. In solchem Fall findet statt, wovon Rissingvan Saan spricht: die Theoretiker richten den Blick vor allem auf die dogmatische Seite, die Praktiker vornehmlich auf das praktische Ergebnis. Dass eine solche Lage bei der Auslegung der §§ 211 und 212 StGB entstanden ist, dafür sind der NS-Gesetzgeber und seit 1949 wohl auch Unvermögen der bundesdeutschen Legislative verantwortlich. Zwar fand der Gesetzgeber bei der 1940 erfolgten Konzipierung der jetzigen Fassung bereits in dem ursprünglichen Text von 1871 eine Regelung vor, die zu Unklarheiten über das Verhältnis von § 211 a.F. StGB und § 212 a.F. StGB geführt hatte: War § 211 a.F. der die „mit Überlegung“ ausgeführte vorsätzliche Tötung regelte, oder § 212 a.F., der die „ohne Überlegung“ begangene betraf, der Grundtatbestand?8 Dafür, dass § 211 a.F. den Grundtatbestand enthielt, sprach immerhin: Er erfasste alle Fälle vorsätzlicher Tötung, soweit sie nicht, weil namentlich im Affekt begangen,9 unter den strafmildernden Tatbestand des § 212 a.F. fielen. Man ordnete die „Überlegung“ auch nicht den besonderen persönlichen Merkmalen zu, so dass der damalige § 50 (=heutiger § 28 Abs. 2) unberührt blieb.10 Bei der Reform von 1940 hat man dann § 211 StGB mit einem Katalog schärfender Merkmale von der einfachen vorsätzlichen Tötung nach § 212 StGB abgehoben und dadurch in dogmatisch-systematischer Sicht das Verhältnis von beiden Tötungsvorschriften vom Normal-Minus-Verhältnis in ein Normal-Plus-Verhältnis verändert und dabei auch noch durch Aufnahme besonderer persönlicher Merkmale Teilnahmeprobleme verursacht. Immerhin wurde gesehen, dass der Totschlagstatbestand, obgleich der Mordtatbestand durch schärfende Merkmale auf der vorsätzlichen Tötung aufbaut, eigentlich nicht im Sinne der sonst geübten Gesetzgebungstechnik materiell als Grundtatbestand passt. Man beließ den Mordtatbestand deshalb am Anfang des Abschnitts und regelte die Totschlagsstrafbestimmung hinter ihm. Auch sah der BGH bereits in seiner ersten einschlägigen Entscheidung, dass bei einer systematischen Einordnung des geltenden § 212 StGB als Grundtatbestand die hinsichtlich der in § 211 StGB aufgenommenen besonderen persönlichen 8

Vgl. Olshausen 11. Aufl. 1927, § 211 Anm. 5, § 212 Anm. 1, mwN. Vgl. Olshausen (o. Fn. 8) § 211 Anm. 5 u. 7. 10 Vgl. Olshausen (o. Fn. 8) § 211 Anm. 9 mwN. 9

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Merkmale zur Anwendung kommende Teilnahmeregelung (heute § 28 Abs. 2 StGB) – mit der bei ihr herkömmlich vertretenen Tatbestandsverschiebung – zu „sonderbaren Ergebnissen“ führen würde.11 Was die Rechtsprechung bei alledem in praktischer Hinsicht der Schrifttumsauffassung voraus hat, entbehrt sie an systematischer Folgerichtigkeit. Dies ist inzwischen auch an weiteren Problemen deutlich geworden: Die Interpretation, wonach §§ 211 und 212 StGB zwei eigenständige Tatbestände sind, lässt sich nur mit Hilfe angreifbarer Hilfskonstruktionen durchhalten.12 Der Meinungsstreit, der also seine Ursache in einem unzulänglichen Gesetzestext hat, zeigt, dass die tatbestandliche Anordnung reformbedürftig ist, wobei weder die eine noch die andere der beiden vorgenannten Meinungen die Lösung sein kann. Was de lege lata lediglich möglich erscheint, ist die Durchsetzung des Strafzumessungskonzepts bei § 28 Abs. 2 StGB. Damit würde wenigstens einer der gegen die Schrifttumsauffassung zu erhebenden Einwände entfallen.13

2. Es geht bei den Fragen der §§ 211 und 212 StGB nicht nur um die vorstehenden systematischen Einordnungsprobleme, sondern ebenso um fachspezifische Relikte der NS-Zeit. Die Vorschriften spiegeln zum Teil das Täterund Gesinnungsstrafrecht jener Jahre wider. Das wird einmal deutlich an den Formulierungen „Mörder ist…“ und „als Totschläger wird…“ Es gehört zu den Peinlichkeiten bundesdeutscher Gesetzgebung, dass man es nicht für nötig gehalten hat, diese Erinnerungen an die NS-Zeit zu beseitigen, obwohl eine an die Formulierungstechnik anderer Strafbestimmungen angepasste tatstrafrechtliche Neufassung ohne weiteres möglich gewesen wäre.14 Hier 11 BGHSt 1, 368, 371. Dass im übrigen keine der lege lata zum Verhältnis von § 211 und § 212 StGB vertretenen Auffassungen eine sachentsprechende Lösung de lege ferenda sein kann, wird offenbar in einem Arbeitspapier des BMJ, von dem Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 28 kritisch berichtet, übersehen, wenn dort der Totschlag als Grundtatbestand geregelt werden soll. 12 Vgl. die Nachw. und Erörterung der betreffenden Entscheidungen bei Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 36 ff., die aber die in der Literatur geäußerte Kritik als unberechtigt einschätzt. 13 Dazu Hirsch Tröndle-FS, 1989, S. 19, 35. 14 Das 3. StÄG (StrafrechtsbereinigungsG) von 1953 wäre eine naheliegende Möglichkeit gewesen. Die Formulierungsänderung hätte bei Wahrung des Tatbestandsinhalts bei § 211 StGB lauten können: „Wer aus ... einen Menschen tötet, wird wegen Mordes mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“. Parallel hätte sich § 212 Abs. 1 StGB leicht umformulieren lassen: „Wer einen Menschen tötet, ohne dass die Merkmale des Mordes vorliegen, wird wegen Totschlags mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ Gesetzliche Überschriften der Strafbestimmungen gab es zu der Zeit noch nicht.

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hat sich ereignet, was inzwischen allgemein bei der deutschen Strafgesetzgebung festzustellen ist: Wenn die Rechtsprechung eine fehlerhafte Gesetzesfassung korrigiert, fühlt sich der Gesetzgeber von der Verpflichtung befreit, für einen einwandfreien Gesetzestext zu sorgen.15 Es handelt sich bei der Neufassung des Mordtatbestands aber nicht nur um die vorgenannten Täterformulierungen, sondern mehr noch darum, gesinnungsstrafrechtliche Mordmerkmale des bisherigen Textes durch tatstrafrechtliche zu ersetzen.

3. Ein weiteres Hauptproblem bildet die lebenslange Freiheitsstrafe. Nach der Bejahung ihrer grundsätzlichen Zulässigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unter der Auflage, dass eine Restriktion der Anwendung bei den Mordmerkmalen „heimtückisch“ und „Verdeckungsabsicht“ stattfindet, hat der Große Senat des BGH bekanntlich eine Strafzumessungslösung eingeführt.16 Diese Konstruktion kam völlig überraschend. Ihr fehlt die Verankerung im Gesetzestext.17 In der Praxis läuft sie weitgehend leer.18

4. Es bestätigt sich also, dass eine Reform der §§ 211 ff. StGB sachlich geboten ist.19 Bei den de lege ferenda zu unterbreitenden Vorschlägen geht es folglich vor allem um das Verhältnis der Strafbestimmungen von Mord und Totschlag sowie die tatstrafrechtliche Ausrichtung der Inhalte und um die tatbestandlichen Voraussetzungen der lebenslangen Freiheitsstrafe als der höchsten Strafdrohung. Neben diesen zentralen Problemkreisen sind auch die Fälle der Tötung in der Geburt, der Tötung auf Verlangen und des Behandlungsabbruchs sowie der Todesfolge bei erfolgsqualifizierten Delikten in den Blick zu nehmen.

15

Zu dieser allgemeinen Beobachtung näher Hirsch Puppe-FS, 2011, S. 1, 17. BGHSt. (GrS) 30, 105, 119 ff. 17 Bruns Kleinknecht-FS, 1985, S. 49, 57 ff.; Sch/Sch-Eser § 211 Rn 10b mwN. 18 Vgl. BGH NJW 1983, 54; NStZ 1982, 69; 1983, 553; 1984, 20; dazu Heine LdR 8/1680, 3; Sch/Sch-Eser § 211 Rn 10b. Gesetzeskonform wäre eine restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals „heimtückisch“ gewesen, für die Vorschläge vorhanden waren und sind. 19 So schon die Forderung des 53. DJT 1980, vgl. Verhandlungen des 53. DJT, M 163 ff. Siehe auch Lackner/Kühl 26. Aufl. 2007, Vor § 211 Rn 25 und die dortigen umfangreichen Nachweise. Rissing-van Saan (o. Fn. 1) gelangt ebenfalls zu dem Ergebnis: „Vorrangig ist ... der Gesetzgeber gefordert“ (S. 43). 16

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III. 1. Der jüngste Reformvorschlag ist ein Alternativ-Entwurf von 2008 (AELeben).20 Er greift die vorgenannten Problempunkte auf. Zu Mord und Totschlag unterbreitet er folgende Neufassung: „§ 211 Mord“ (1) Wer einen anderen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Auf lebenslange Freiheitsstrafe darf nur erkannt werden, wenn besonders erhöhtes Unrecht verwirklicht wird, das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist. Dazu ist notwendig und in der Regel ausreichend, dass der Täter 1. durch eine oder mehrere Handlungen mehrere Menschen tötet oder zu töten versucht oder durch die Tat das Leben weiterer Menschen unmittelbar gefährdet, 2. in bandenmäßigem Zusammenschluss oder innerhalb eines organisierten Netzwerkes, deren Tätigkeit Gewalttaten zum Gegenstand hat, tötet, 3. einen Menschen wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen oder politischen Anschauung tötet. 4. Das Opfer nach Zufügung erheblicher körperlicher oder seelischer Qualen tötet. 5. Die Tat um des Tötens willen durchführt, 6. zum Zweck der sexuellen Erregung tötet, 7. zur Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat tötet oder 8. im Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen tötet. „§ 212 Totschlag“ (1) Wer einen anderen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er 1. aus Verzweiflung oder aus Mitleid mit dem Opfer handelt, um sich oder eine ihm nahe stehende Person aus einer ihm ausweglos erscheinenden und allgemein begreiflichen Konfliktlage zu befreien, 2. durch eine erhebliche Straftat des Getöteten, die gegen Leben, Leib oder Freiheit des Täters oder einer ihm nahe stehenden Person gerichtet war, unter dem bestimmenden Einfluss einer heftigen Gemütsbewegung, deren Beherrschung von ihm nicht erwartet werden konnte, zur Tat motiviert worden ist oder 3. durch eine vergleichbare Konfliktlage zur Tötung bestimmt worden ist. 20

Veröffentlicht in GA 2008, 193, 200 ff., vorgelegt von Heine u.a.

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(2) Treffen die Voraussetzungen von Absatz 1 und § 211 Abs. 2 zusammen, ist auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu erkennen. Der bisherige § 213 StGB entfällt nach dem Entwurf, weil er neben der vorgenannten Fassung des § 212 StGB überflüssig sein würde.21

2. a) An diesen Reform-Vorschlägen des AE-Leben ist positiv zu vermerken, dass sie bestrebt sind, den Mord als allgemeinen Tatbestand der vorsätzlichen Tötung zu regeln und den Totschlag als privilegierten Tatbestand davon abzustufen. Terminologische Einwände lassen sich hiergegen nicht erheben. Den Regelfall der vorsätzlichen Tötung als Mord zu bezeichnen, entspricht dem Herkommen. Wie schon erwähnt, war bis zur Reform von 1940 im StGB der Mord als Tötung mit Überlegung definiert, und der Totschlag war als Fall, bei dem es an der Überlegung fehlt – namentlich wenn der Täter im Affekt gehandelt hat22 – geregelt, also als Milderung eingestuft. Auch erfassen die Mordmerkmale der geltenden Fassung des § 211 StGB die im Vordergrund stehenden Fälle, während der Totschlagstatbestand in der Praxis Anwendung findet, wenn man vom Vorliegen einer geringer einzuschätzenden Tatbegehung ausgeht. Sachlich spricht für eine solche Lösung, dass sie ausgerichtet ist an der Einstufung des Lebens als höchstrangigem Rechtsgut und dass der Gesetzgeber vom Normalfall auszugehen hat. Auch § 75 österr. StGB von 1974 bezeichnet den Normalfall der vorsätzlichen Tötung als Mord und stuft in § 76 den Totschlag als privilegierten Fall davon ab. So verhält es sich außerdem im 2. Abschn. Kap. 3 §§ 1f. schwed. StGB von 1962. In diesem Sinne hat sich ebenfalls Rissingvan Saan ausgesprochen.23 Hinsichtlich der vom AE-Leben vorgeschlagenen übrigen Ausgestaltung erheben sich jedoch gewichtige Einwände:

b) Wenn man den Mord als vorsätzliche Tötung definiert und ihn damit als zentralen Tatbestand der vorsätzlichen Tötungsdelikte begreift, stellt sich vor allem die Frage der angemessenen Rechtsfolgenregelung. Ein Normal21

GA 2008, 201, 244 f. Man spricht in Bezug auf die damalige Auffassung auch vom Gegensatzpaar „Überlegung-Affekt bei Ausführung der Tat“; vgl. Olshausen (o. Fn. 8) § 211 Anm. 5 mwN. 23 Vgl. (o. Fn. 1) S. 41. 22

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strafrahmen, der bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe herunterreicht, wie ihn der AE-Leben vorsieht, steht in keiner Weise in Relation zu dem Gewicht des durch die Strafbestimmung geschützten Rechtsguts „Leben“. Zwar ist bei Vorliegen eines besonders schweren Falles i.S. von § 12 Abs. 3 StGB auch lebenslange Freiheitsstrafe möglich. Aber ein solcher Fall kommt nach dem Entwurf nur in Betracht, wenn „besonders erhöhtes Unrecht verwirklicht wird, das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist,“ und dazu im Entwurf genannte Mindesterfordernisse vorliegen. Der Blick richtet sich daher primär auf den Normalstrafrahmen der angedrohten zeitigen Freiheitsstrafe, wobei es nicht nur um die Untergrenze, sondern auch um die Obergrenze geht. Deren Höchstmaß beträgt gemäß § 38 Abs. 2 StGB fünfzehn Jahre. Da die lebenslange Freiheitsstrafe an erschwerende Umstände gebunden wird, rückt mithin die Strafdrohung „fünf bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe“ in den Mittelpunkt des § 211 AE-Leben, und nimmt man hinzu, dass die deutsche Gerichtspraxis allgemein dazu neigt, sich im unteren bis mittleren Bereich der Strafdrohungen zu bewegen, wird zusätzlich deutlich, dass der Strafrahmen unangemessen ist.24 Während das geltende Recht grundsätzlich lebenslange Freiheitsstrafe für Mord androht, meinen die Verfasser des Entwurfs jetzt, dass sich sogar im Normalfall mit einem Strafrahmen von fünf bis fünfzehn Jahren auskommen lässt. Woher stammen solche Wertvorstellungen? Jedenfalls nicht aus der Rechtsgemeinschaft, schon gar nicht aus dem Verfassungsrecht.

c) Es ist noch ein zweiter Punkt zu kritisieren: Die Verwendung der Rechtsfigur der besonders schweren Fälle mit Regelbeispielen. Die Verfasser lassen unberücksichtigt, dass diese wie ein Krebsgeschwür sich im StGB ausbreitende Rechtsfigur fragwürdig und umstritten ist. Wegen der Unbestimmtheit und Einladung zu Analogieschlüssen zu Ungunsten des Täters erheben sich ihr gegenüber straf- und verfassungsrechtliche Einwände.25 An der sensiblen Stelle der Anwendbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bedeutet sie hier die Eröffnung von zwei richterlichen Ermessensentscheidungen: der Annahme eines besonders schweren Falles und der Bejahung der Angemessenheit der fakultativ angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe. Will man innerhalb der Mordfälle eine Gruppe schwerstwiegender Taten 24

So schon Hirsch in: Jahn/Nack (o. Fn. 1), Diskussionsbericht (Pintaske/Sitzer), S. 62. Dass man auf sie im AE-Leben zurückgegriffen hat, kritisiert bereits Gössel in: Jahn/Nack (o. Fn. 1), Diskussionsbericht (Pintaske/Sitzer), S. 62. Eingehende Kritik dieser Rechtsfigur bei Calliess NJW 1998, 929 ff.; Hirsch Gössel-FS, S. 287, 292 ff., 296 ff. mwN. Zudem ist unklar, auf welche Sachgesichtspunkte sich der Gesetzgeber stützt, wenn er einerseits Tatbestandsqualifizierungen, andererseits der Strafzumessung zugeordnete besonders schwere Fälle vorsieht. 25

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herausheben und für sie die lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, stellt die Bildung eines qualifizierten Tatbestands mit klar umrissenen Tatbestandsmerkmalen – zu bezeichnen als „Besonders schwerwiegender Mord“ – die strafgesetzlich in Betracht kommende Lösung dar. Der Sache nach geht es daher um ein dreigliedriges und nicht, wie die Verfasser meinen, zweistufiges Konzept.26

d) Zu kritisieren sind ferner die inhaltlichen Voraussetzungen, an die der AE-Leben die Strafschärfungen knüpfen will. Steht bei den Merkmalen des geltenden § 211 StGB die erhöhte Verwerflichkeit der Motivation des Täters im Vordergrund und damit Gesinnungsstrafrecht,27 soll jetzt der leitende Gesichtspunkt im Anschluss an frühere Vorschläge von Arzt und Eser in der Gefährlichkeit bestehen.28 Der AE-Leben spricht von der Verwirklichung besonders erhöhten Unrechts, „das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist“. Dass die Verwirklichung eines Todeserfolgs objektiv die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist, wird sich indes nur in wenigen Fällen sagen lassen. In § 211 Abs.2 Nr. 1 AE-Leben ist der Fall genannt, dass jemand durch die Tat das Leben weiterer Menschen unmittelbar gefährdet. Ein Beispiel wäre, dass jemand einen Busfahrer erschießt und durch das führerlose Fahrzeug außer den Insassen auch andere Verkehrsteilnehmer in Lebensgefahr geraten. Man wird kaum behaupten wollen, dass nur solche Fälle den die Strafschärfung begründenden erhöhten Unrechtsgehalt aufweisen. In den weiteren Ziffern der Vorschrift sind denn auch Regelbeispiele aufgeführt, die genau besehen nicht Fälle betreffen, bei denen von dem verwirklichten Taterfolg eine Gefährdung der Allgemeinheit ausgeht, so u.a.: Tötung innerhalb eines bandenmäßigen Zusammenschlusses, dessen Tätigkeit Gewalttaten zum Gegenstand hat, Tötung wegen der Rasse oder des Glaubens des Opfers, Tötung um des Tötens willen, Tötung zum Zwecke der sexuellen Erregung. Hier lässt sich zwar ebenfalls davon sprechen, dass die Lebenssicherheit der Allgemeinheit bedroht ist. Die Bedrohung geht jedoch nicht von der begangenen Tat aus, 26 Dreigliedrig: Vorsätzliche Tötung (Mord), qualifizierte vorsätzliche Tötung (qualifizierter Mord), privilegierte vorsätzliche Tötung (Totschlag). Von bloßer Zweistufigkeit infolge der Verwendung der – fragwürdigen und hier ohnedies unpassenden – Rechtsfigur „Besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen“ ist in der Begründung GA 2008, 218 ff. die Rede. 27 Vgl. die Merkmale und Definitionen der 1. Gruppe (niedrige Beweggründe), auch die Einbeziehung von Gesinnungselementen in die Definitionen der übrigen Merkmale. 28 GA 2008, 200 (§ 211 Abs. 2), 220 ff. Siehe bereits Arzt ZStW 83 (1971), 1, 16 ff.; Eser Gutachten 53. DJT 1980, D 168 ff.; Sch/Sch-Eser Vor §§ 211 ff. Rn 4; auch Lackner in: 53. DJT 1980, Sitzungsbericht, M 41, 44 f.

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sondern von der Person des Täters hinsichtlich seines künftigen Verhaltens. Damit aber ist man wieder beim Täterstrafrecht angelangt, das eine Reform des geltenden § 211 StGB gerade zu beseitigen und durch eine tatstrafrechtliche Fassung, wie sie einem rechtsstaatlichen Strafrecht entspricht, zu ersetzen hat.29

e) Was die Strafbestimmung des Totschlags (§ 212 AE-Leben) betrifft, so ist, wie schon erwähnt, zu begrüßen, dass im AE-Leben der Privilegierungscharakter der Vorschrift deutlich wird und bei ihm auf seelische Konfliktlagen und Erregungszustände, damit auf schuldmindernde Gesichtspunkte abgestellt wird.30 Für diese passt auch der Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe, wie der bisherige § 213 StGB bestätigt. Da jedoch die Alternative zur Verurteilung nur wegen § 212 AE-Leben das Eingreifen des allgemeinen Tötungsdelikts des Mordes gem. § 211 AELeben ist, bedarf die gesetzliche Abgrenzung klarer Angaben. Wenn in § 212 Abs. 1 Nr. 3 von einer „vergleichbaren Konfliktlage“ zu Absatz 1 Nr. 1 und 2 gesprochen wird, bewirkt das in diesem schwierigen Bereich eine zu große Rechtsunsicherheit.

f) Zur Regelung der §§ 211 und 212 AE-Leben ist daher festzustellen, dass sie weiterführende Ansätze enthält, aber insgesamt noch keinen überzeugenden Reformvorschlag darstellt.

IV. Wie sollte eine sachentsprechende Aufteilung der Strafbestimmungen von Mord und Totschlag aussehen?

1. Den Grundtatbestand hat, wie schon vom AE-Leben und Rissing-van Saan31 angenommen, die als Mord zu bezeichnende vorsätzliche Tötung 29 So schon die Kritik bei Hirsch in: Jahn/Nack (o. Fn. 24), S. 62. Dass es um die „Gefährlichkeit des Täters“ geht, betont auch Arzt ZStW 83 (1971), 1, 16 ff. NK-Neumann 3. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn 139 sieht die Gegenüberstellung von Verwerflichkeit und Gefährlichkeit „schon als solche problematisch“. 30 Vgl. o. III 1. 31 Vgl. Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 41.

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eines anderen Menschen zu bilden (Neufassung von § 211 StGB). Nur eine solche Einordnung ist ausgerichtet am Gewicht der Rechtsgutsverletzung, wie oben schon aufgezeigt worden ist. Zur angesprochenen terminologischen Seite bleibt noch zu bemerken: Wer unter dem Einfluss der seit 1940 bei uns geltenden Gesetzesterminologie Bedenken dagegen hat, den in der vorsätzlichen Tötung bestehenden Grundtatbestand als „Mord“ zu bezeichnen, könnte vielleicht erwägen, ob nicht in Parallele zu den Körperverletzungsdelikten (§ 223 StGB „Körperverletzung“) hier die Bezeichnung „Tötung“ zu wählen wäre. So verfahren mehrere ausländische Strafgesetzbücher.32 Dagegen spricht jedoch aus deutscher Sicht, dass der Begriff des Mordes nach unserem Rechts- und Sprachverständnis die Normalfälle der vorsätzlichen Tötung umfasst und daher der Verzicht auf ihn kaum akzeptabel sein und zu Missverständnissen Anlass geben würde. Es wäre aber unangemessen, bereits an diesen Grundtatbestand die lebenslange Freiheitsstrafe als absolute Strafdrohung zu knüpfen. Vielmehr muss alternativ auch eine angemessene zeitige Freiheitsstrafe möglich sein. Zwar sieht § 38 Abs. 2 StGB allgemein als Obergrenze der zeitigen Freiheitsstrafe fünfzehn Jahre vor. Der Abstand zur lebenslangen ist jedoch deutlich zu groß (auch unter Berücksichtigung der gemäß § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB wenigstens bestehenden Möglichkeit der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung). Notwendig ist eine Strafdrohung, die alternativ zur lebenslangen Freiheitsstrafe eine über die Grenze von fünfzehn Jahren hinausgehende zeitige Freiheitsstrafe androht. Es gibt keinen zwingenden sachlichen Grund, der entgegensteht, in § 38 Abs. 2 StGB angemessene gesetzliche Ausnahmen vorzusehen. Die Vorschrift lässt sich ohne Schwierigkeit um den Zusatz ergänzen: „… soweit das Gesetz nichts anderes vorschreibt“. Für die in § 211 n.F. StGB alternativ zur lebenslangen Freiheitsstrafe androhende zeitige Freiheitsstrafe kämen zwanzig Jahre in Betracht. Diese Strafdrohungen entsprächen denen neuerer ausländischer Kodifikationen.33 Zu weit ginge es jedoch, auf die Möglichkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe hier zu verzichten oder sie nur dem im Folgenden behandelten qualifizierten Tatbestand „Besonders schwerer Mord“ vorzubehalten. Blickt man 32 Vgl. etwa Art. 148 § 1 poln. StGB von 1997; Art. 105 russ. StGB von 1996; Art. 448 türk. StGB i.d.F. von 1998. 33 Die alternativ zur lebenslangen Freiheitsstrafe angedrohten zeitigen Freiheitsstrafen gehen bis zu 20 Jahren (Österreich) oder 25 Jahren (Polen, Russland). Dort vorgesehene niedrigere Mindeststrafen erklären sich damit, dass die Abschichtung zu den bei uns dem Totschlag zuzuordnenden Fällen nicht in vergleichbarer Weise erfolgt. Eine Ausnahme von der vorherrschenden Tendenz bildet der franz. c.p. von 1994. Nach Art. 221-1 wird die vorsätzliche Tötung mit 30 Jahren Zuchthaus bedroht; und Art. 221-3 ordnet für die mit Vorbedacht begangene Tat lebenslanges Zuchthaus an.

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ins geltende StGB, finden sich etwa 20 Vorschriften, in denen alternativ zeitige und lebenslange Freiheitsstrafe angedroht sind. Zumeist handelt es sich um todeserfolgsqualifizierte Tatbestände, zu deren Verwirklichung Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesfolge genügt. Das Rechtsfolgensystem des StGB verlangt daher erst recht, dass bei vorsätzlicher Tötung (soweit es nicht um einen privilegierten Tötungstatbestand geht) die lebenslange Freiheitsstrafe möglich sein muss.34 Dies steht in Relation zu der das höchste Rechtsgut der Person vorsätzlich verletzenden Tat. Das Bundesverfassungsgericht hat die lebenslange Freiheitsstrafe dementsprechend bei § 211 StGB und § 212 Abs. 2 StGB grundsätzlich für verfassungsgemäß erklärt,35 d.h. in dem von dem obigen Vorschlag erfassten Fällen. Für ihre Beibehaltung bei dem den Mord als Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung regelnden Konzept spricht sich auch Rissing-van Saan aus.36 Wenn im Vorhergehenden vom in der vorsätzlichen Tötung bestehenden Grundtatbestand des Mordes die Rede war, deutete das bereits darauf hin, dass auch ein qualifizierter Tatbestand angezeigt ist. Eine vorsätzliche Tötung kann trotz der Absolutheit des Todeserfolgs einen erhöhten Unrechtsgehalt aufweisen. Davon gehen auch das geltende Recht und der AE-Leben aus. Erfasst man dieses erhöhte Unrecht in einem gegenüber dem allgemeinen Mordtatbestand qualifizierten Tatbestand, wie es die Gesetzesbestimmtheit verlangt, so bietet sich die Tatbestandsbezeichnung „Besonders schwerer Mord“ an.37 Als unrechtssteigernde Merkmale kommen dabei aber nur tatstrafrechtliche Merkmale in Betracht, also entgegen dem geltenden Recht und dem AE-Leben keine täterstrafrechtlichen. Der erhöhte Unrechtsgehalt muss rechtsgutsbezogen sein. Die Merkmale müssen in tatstrafrechtlicher Sicht eine zusätzliche Beeinträchtigung oder Gefährdung des Lebens der jeweiligen Opfer betreffen. Grausamkeit der Tatausführung, heimtückische Begehung, gemeinschaftliche Begehung, die Tötung mehrerer Personen oder die Tötung einer als Geisel genommenen Person bilden

34 Auch wenn bei todeserfolgsqualifizierten Delikten die bisherige Einbeziehung der Fälle vorsätzlicher Folgeverwirklichung in diese Tatbestände (von „wenigstens“ Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit ist im StGB die Rede) dahinter steht, wird durch die betreffenden Vorschriften jedenfalls unterstrichen, dass in Fällen vorsätzlicher Tötung die Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe grundsätzlich unserer Rechtsordnung konform ist. – Zur Einbeziehung vorsätzlicher Tötungen in jene Tatbestände auch noch unten Fn. 66. 35 BVerfGE 45, 187 (zu § 211) und BVerfG JR 1979, 28 (zu § 212 Abs. 2). 36 Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 41. 37 Eine entsprechende Bezeichnung gab es bei § 225 („Besonders schwere Körperverletzung“) i.d.F. von 1994. Sie ist als Tatbestandsbezeichnung zu unterscheiden von den die Strafzumessung betreffenden „Besonders schweren Fällen“ i.S.v. § 12 Abs. 3 StGB. Gegen eine bloße Strafzumessungsvorschrift mit Regelbeispielen, wie sie in § 211 Abs. 2 AE-Leben vorgesehen wird, schon oben III 2 c.

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die typischen Fälle.38 Ob dagegen jemand aus Rachsucht, Rassenhass, um des Tötens willen oder als Zugehöriger eines terroristischen Netzwerks tötet,39 bedeutet für den Getöteten in Bezug auf die Tatausführung keinen Unterschied, es kann nur hinsichtlich des Tatmotivs sowie mit dem Blick auf zu befürchtendes künftiges Verhalten des Täters von Relevanz sein. Diese Befunde haben daher nichts mit der Tatbestandsebene zu tun, sondern können nur für die Rechtsfolgenseite des allgemeinen Mordtatbestands von Bedeutung sein, sei es für die Höhe der zu verhängenden Freiheitsstrafe (zeitige, lebenslängliche), sei es den späteren Zeitpunkt der Aussetzung des Strafrestes, sei es bei einschlägigem Befund die Sicherungsverwahrung. Als § 211a StGB lässt sich der qualifizierte Mordtatbestand „Besonders schwerer Mord“ in das StGB einordnen. Auf die von ihm erfassten außerordentlich schwerwiegenden Fälle passt die lebenslange Freiheitsstrafe als absolute Strafdrohung. Die Absolutheit stützt sich hier auf das den Normalfall des Mordes, d.h. die Verwirklichung des oben bezeichneten Grundtatbestands, deutlich übersteigende Unrecht.40 Wenn der Verwirklichung der qualifizierenden Merkmale privilegierende Umstände gegenüberstehen, kann die wie im AE-Leben als privilegierte Vorschrift auszugestaltende Totschlagsstrafbestimmung mildernd Berücksichtigung finden.

2. Zu dieser Strafbestimmung (künftiger § 212 StGB), für die ein Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren in Betracht kommt, ist schon im Vorhergehenden bei der Würdigung des AE-Vorschlags das Wesentliche ausgeführt worden. Aufzunehmen unter die privilegierenden Konfliktsituationen wäre auch noch die Kindstötung, d.h. die Tötung in oder gleich nach der Geburt. Der alte § 217 StGB, der die psychische Situation der unehelichen Mutter privilegierte, ist bekanntlich 1998 gestrichen worden. Da die 38 Hinsichtlich des Merkmals „heimtückisch“ sind de lege lata die Probleme (s.o. Fn. 18) dadurch entstanden, dass es von der Rspr. zu weit ausgelegt wird. Hier wäre dagegen eine engere Definition angezeigt, bei der man restriktiv auf die Gesichtspunkte des „schwerwiegenden Vertrauensbruchs“ und der „Tücke“ zurückgreifen kann. Wegen des bisherigen Auslegungsstreits wäre wohl eine gesetzliche Definition notwendig. – Was in Betracht kommende weitere tatstrafrechtliche Qualifikationsmerkmale betrifft, könnte sich vielleicht aus den darauf hin zu prüfenden umfangreichen Katalogen qualifizierender Merkmale in Art. 148 § 2 poln. StGB von 1997 und in Art. 105 Nr. 2 russ. StGB von 1996 noch der eine oder andere Hinweis ergeben. 39 Letztere genannt unter den schärfenden Merkmalen in § 211 AE-Leben (s.o. III 1). 40 Eine Relativierung der Vollzugsdauer unter den Voraussetzungen des § 57a Abs. 1 StGB bleibt unberührt, stellt die präventive Notwendigkeit der absoluten Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe aber nicht in Frage.

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Unehelichkeit heute nicht mehr stigmatisiert, erschien die Vorschrift als überholt. Anstatt nun aber eine allgemeine Privilegierung der unter seelischem Druck stehenden Gebärenden, sei sie unverheiratet oder verheiratet, vorzusehen, hat man alle diese Fälle dem Bereich der geltenden §§ 211, 212 StGB überlassen und eine niedrigere Bestrafung von einer den § 213 StGB anwendenden Ermessensentscheidung des Gerichts abhängig gemacht.41 Eine Privilegierung, die darauf abstellt, dass es sich um die besondere Situation des Gebärens handelt, gehört deshalb ebenfalls unter die in § 212 StGB ausdrücklich aufzunehmenden schuldmindernden Merkmale. Hinzu kommt: Es würde damit wieder gesetzlich klargestellt sein, dass das geschützte Rechtsgut der §§ 211 ff. StGB bereits von Beginn der Geburt an gegeben ist.42 Für die Teilnahmefälle hat der Charakter des vorgeschlagenen § 212 StGB als Schuldminderungsregelung die Konsequenz, dass die Milderung nur dem Teilnehmer zustattenkommt, der die Voraussetzungen selbst aufweist (§ 29 StGB).

V. Auch hinsichtlich anderer Probleme aus dem Bereich des strafrechtlichen Lebensschutzes stellen sich Reformfragen.

1. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lautete eine Forderung sog. progressiver Kreise: „§ 216 StGB muss weg“. Es ging dabei um die strafrechtliche Freigabe der direkten aktiven Euthanasie. Der Kampfruf war allerdings schief formuliert, weil § 216 StGB lex specialis ist und daher die Streichung die Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften, d.h. hier der geltenden §§ 211 und 212 StGB, bedeutet haben würde. Will man zur Straflosigkeit gelangen, müsste § 216 StGB vielmehr dahingehend erweitert werden, dass er die Zulässigkeit vorsieht. Inzwischen hat glücklicherweise die Einsicht zugenommen, dass eine Freigabe der Tötung auf Verlangen große Gefahren für den Schutz des Rechtsguts Leben, sei es dessen Achtung im Allgemeinen, sei es beim Einzelnen, mit sich bringen würde.43 Der AELeben lässt den § 216 StGB aus guten Gründen unverändert.44 41

Fischer (o. Fn. 3) § 213 Rn 16 mwN. Dazu Hirsch Eser-FS, 2005, S. 309 ff. 43 Nachdrücklich in dieser Richtung bereits Engisch H. Mayer-FS, 1966, S. 399, 415. Vgl. ferner Geilen Euthanasie und Selbstbestimmung, 1975; Hanack in: Hiersche (Hrsg.), Euthana42

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2. Einen weiteren Problembereich bildet der Behandlungsabbruch. In § 214 StGB AE-Leben wird eine ausdrückliche Regelung vorgesehen. Es geht um die viel diskutierten Fragen des Beendens lebenserhaltender Maßnahmen. Hier ist erst einmal zu beantworten, ob das StGB überhaupt der richtige Ort für eine derartige Regelung wäre oder ob sie nicht eher in ein die ärztliche Tätigkeit betreffendes Spezialgesetz gehört. Auch andere Berufsgruppen müssen ihre Verhaltensweisen gegenüber dem Strafrecht abgrenzen, so Architekten, Bauingenieure, Strafverteidiger (diese bzgl. Strafvereitelung), Apotheker, ohne dass sich dazu spezielle Vorschriften im StGB finden. Hinzu kommt, dass die Thematik nicht neu ist. Erst die Möglichkeiten moderner Apparatemedizin haben sie ins Blickfeld treten lasse. Schon immer standen Ärzte vor der Frage, ob eine Weiterbehandlung noch sinnvoll ist oder man den Patienten nicht besser in Ruhe sterben lassen soll. Das Treffen dieser Entscheidung war offenbar so selbstverständlich, dass niemand auf den Gedanken verfallen war, hier liege ein strafrechtsrelevantes Problem.45 Für eine Regelung innerhalb des StGB, und zwar im hier zur Erörterung stehenden 16. Abschnitt, spricht heute nun aber Folgendes: Durch nicht unbedingt zur Verdeutlichung der Rechtslage beitragende höchstrichterliche Rspr.,46 eine Flut von literarischen Äußerungen47 und die Befassung sogar des DJT mit dem Themenkreis48 sind die einschlägigen Fragen so ins Blickfeld getreten, dass Klarstellungen im StGB wünschenswert erscheinen. Auch ist zu bedenken, dass infolge der Entwicklung der Apparatemedizin es inzwischen nicht mehr nur um das Verhalten von Ärzten geht, sondern auch Handlungen Dritter in Betracht kommen. Vor allem aber hat man zu beachten: Wird eine zur Lebenserhaltung eingesetzte Apparatur abgeschaltet, weil lebenserhaltende Maßnahmen medizinisch nicht mehr indiziert sind, so geht es um aktives Tun und nicht um bloßes Unterlassen. Das wird sofort deutlich, sobald man sich den Fall vorstellt, das Gerät werde vorzeitig vom Arzt oder einem Außenstehenden abgeschaltet. Das Fehlen der Unrechtstatbesie, 1975, S. 121; Hirsch Welzel-FS, 1974, S. 775, 777 ff., 787 ff.; LK-Jähnke 11. Aufl. 2001 Vor § 211 Rn 14; Roxin in: Blaha/Gutjahr-Löser/Niebler (Hrsg.), Schutz des Lebens, Recht auf Tod, 1978, S. 85, 90 ff.; Schreiber Euthanasie, in: Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. 33 (1975), S. 37; Dölling NJW 1986, 1011. 44 GA 2008, 202. 45 Vgl. die Kommentierungen der Tötungsdelikte bei Frank, 18. Aufl. 1931, und Olshausen (o. Fn. 8). 46 Siehe insbesondere BGHSt. 32, 367 aus dem Jahre 1984, aber auch BGH NJW 1988, 1532; OLG München NJW 1987, 2940. 47 Siehe die Nachw. bei Sch/Sch-Eser Vor §§ 211 ff. Rn 27 ff. 48 53. DJT Berlin 1980.

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standsmäßigkeit bei Entfallen der Indikation der Maßnahme lässt sich daher nicht einfach damit erklären, dass die Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts nicht erfüllt seien. Die Erklärung ist vielmehr die, dass es bei der Handlung des Abschaltens um einen in die Kategorie der Handlungsfälle des Unterbrechens eines rettenden Kausalverlaufs geht und hier die Tatbestandsmäßigkeit ausscheidet, weil das Rettungsziel – d.h. die Lebenserhaltung – nicht mehr möglich ist,49 Aus allen diesen Gründen ist eine ausdrückliche strafgesetzliche Regelung, wie sie vom AE-Leben vorgeschlagen wird, eine sinnvolle Klarstellung. Das betrifft auch die dort genannten einwilligungsgebundenen Sachverhalte.50 Ob der von Papst Pius XII bereits moraltheologisch abgesegnete Fall, dass bei einem tödlich Kranken auf schmerzstillende Mittel zurückgegriffen werden muss, bei denen als unbeabsichtigte Nebenwirkung eine Beschleunigung des Todeseintritts in Rechnung zu stellen ist,51 einer ausdrücklichen Regelung im StGB bedarf, mag dagegen auf den ersten Blick zweifelhaft erscheinen. Für eine Vorschrift, wie sie in § 214a StGB des AE-Leben vorgeschlagen wird, spricht aber, dass es um ein mit Eventualvorsatz begangenes positives Tun handelt. Im Schrifttum wird bisher auf Rechtfertigung nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstands verwiesen.52 Da sich diese sachgemäße Lösung nicht unmittelbar dem § 34 StGB entnehmen lässt, ist eine klarstellende spezielle Notstandsvorschrift sinnvoll.

3. Zu den Besonderheiten des geltenden deutschen StGB gehört es, dass es im Unterschied zu vielen ausländischen Strafgesetzen keine Strafbarkeit der Teilnahme am freiverantwortlichen Selbstmord vorsieht. Die allgemeinen Teilnahmevorschriften sind nicht anwendbar, weil keine tatbestandliche Haupttat gegeben ist. Für Fälle der Beteiligung am nicht freiverantwortlichen Suizid kommt dagegen mittelbare Täterschaft mittels des Opfers als unfrei handelndem Werkzeug in Betracht und damit die allgemeine Vorschrift für mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1, 2. Altern. StGB).

49 Vgl. Hirsch Lackner-FS, 1987, S. 604 ff. Eingehend zu diesen Fragen auch MüKoSchneider 2003, Vor §§ 211 ff. Rn 108 ff. mwN. 50 Siehe § 213 Abs. 1 Nr. 1-3 StGB-AE-Leben. Zu einem solchen Fall auch neuestens BGH v. 25.6.10; vgl. FAZ v. 26.6.10, S. 1 f. 51 Die bereits aus dem Jahre 1957 stammende päpstliche Stellungnahme ist abgedruckt in: Herder-Korrespondenz 1956/57, 373. Wiedergabe der entscheidenden Stelle auch bei Hirsch Lackner-FS, S. 608. 52 Vgl. Rieger, Lexikon des Arztrechts, 1984, Rn 1722 mwN.

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In der Rechtsprechung hat sich das Bestreben gezeigt, das Nichtvorhandensein einer die Teilnahme am freiverantwortlichen Selbstmord regelnden Strafbestimmung dadurch auszugleichen, dass dem Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) hier ein Anwendungsbereich eröffnet worden ist.53 Zunächst ist sogar bei in Betracht kommender Garantenstellung eine Tötung durch Unterlassen bejaht worden.54 Ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB soll bereits dann vorliegen, wenn der Selbstmörder zur Tat schreitet, also beim Ansetzen zum Suizid.55 Aber ganz abgesehen davon, dass ein Unglücksfall als „plötzliches, unerwartetes Ereignis“ zu definieren ist, wovon hier keine Rede sein kann, steht die Bejahung einer strafrechtlichen Verpflichtung, den freiverantwortlichen Suizidenten vom Beginn der Selbstmordhandlung abzuhalten oder ihn jedenfalls aus der von ihm herbeigeführten lebensbedrohlichen Lage zu retten, in Widerspruch zu der grundsätzlichen Position des StGB, die freie Entscheidung des Einzelnen zu respektieren und deshalb die Teilnahme am Selbstmord nicht zu pönalisieren.56 Der AE-Leben will solchen Hilfskonstruktionen einen Riegel vorschieben, indem er in einem § 215 vorschreibt, dass in diesen Fällen keine Strafbarkeit gegeben ist. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob das eine befriedigende Lösung darstellt. Zwar wäre es zu weitgehend, die Unterscheidung von freiverantwortlichem und unfreiem Selbstmord überhaupt in Frage zu stellen und darauf eine allgemeine Strafbarkeit der Teilnahme am Selbstmord stützen zu wollen.57 Das entspräche weder der Realität noch respektierte es die autonome Entscheidung des Einzelnen. Eine befriedigende Lösung ergibt sich jedoch unter anderem Blickwinkel: Der Respekt vor dieser autonomen, wenngleich von der Gesellschaft bedauerten Entscheidung gebietet es, dass sich jeder andere von einer Mithilfe an der Selbsttötungshandlung fernhält. Während noch die Anstiftung die Autonomie der Entscheidung unberührt lässt, greift die Beihilfe bereits in die Ausführung ein und überschreitet damit die Grenze zu dem nur dem Suizidenten zugestandenen Handlungsbereich. Diese Lösung ermöglicht es auch, dass den Veranstaltern von Einrichtungen, welche die Anleitung zum Suizid kommerzialisiert haben, das Handwerk gelegt werden kann. Gleichzeitig würde sie die Aufgabe erfüllen, den Bereich der strafbaren Teilnahme am freiverantwortlichen Suizid deutlich zu markieren. 53

Vgl. BGHSt. St 6, 147; 7, 272; 32, 381. BGHSt. 2, 150. 55 BGHSt. 13, 162, 169. 56 Näher dazu Sch/Sch-Eser Vor §§ 211 ff. Rn 43 mwN.; anders Otto Gutachten 56. DJT 1986, D 71 f., 98 f.; NK-Neumann Vor § 211 Rn 79. 57 Vgl. die Kritik an solchen Vorschlägen bei Sch/Sch-Eser Vor § 211 ff. Rn 34 f. mwN. 54

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Im Übrigen steht der AE-Leben einer partiellen Pönalisierung der Teilnahme am freiverantwortlichen Selbstmord nicht gänzlich ablehnend gegenüber. Er schlägt einen § 215a StGB vor, nach dem bestraft werden soll, wer aus Gewinnsucht einen freiverantwortlichen Suizid unterstützt.58 Die Verfasser haben dabei wohl vor allem die kommerzielle Selbsttötungsberatung vor Augen. Die Vorschrift ist aber zu punktuell. Strafwürdige Beihilfe kann auch andere negative Motive haben, z.B. die Entledigung des Ehemanns der ehebrecherischen Ehefrau. Aber ohnedies ist nicht das Motiv für die Frage der Strafbarkeit entscheidend, sondern das Faktum, dass man eine nur dem freiverantwortlichen Suizidenten vorbehaltene Handlung unterstützt.

4. In den Blick zu nehmen sind auch noch die erfolgsqualifizierten Delikte mit Todesfolge. Erfolgsqualifzierte Delikte haben in der neueren Gesetzgebung geradezu Hochkonjunktur. Georg Küpper59 hat vor einem Jahrzehnt darauf hingewiesen, dass die Anzahl im StGB bereits auf rund 40 Tatbestände angewachsen war, wobei es sich um etwa 30 mit Todesfolge handelt. Der Expansion ist bisher kein Einhalt geboten. Der AE-Leben scheint in dieser Entwicklung kein Problem zu sehen.60 Die Ursache der Expansion liegt darin, dass man ausgesprochen oder unausgesprochen von einer Idealkonkurrenzfrage ausgeht und fälschlich meint, durch das Erfordernis einer leichtfertigen, also grob fahrlässigen Folge sei die Umgrenzung gewährleistet.61 Das überlieferte objektive Kriterium der sog. Unmittelbarkeit ist inzwischen so aufgeweicht worden, dass es praktisch keine eingrenzende Funktion mehr ausübt.62 Begreift man das erfolgsqualifizierte Delikt nur als qualifizierten Fall der Idealkonkurrenz, so erhebt sich die Frage: Wie soll eigentlich zu begründen sein, dass die mit einem vorsätzlichen Vergehenstatbestand (z.B. dem der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung) verbundene grob fahrlässige Tötung bewirkt, dass ein bloßes Vergehen deshalb, weil es mit einem derartigen Fahrlässigkeitsdelikt verknüpft ist, zu einem Verbrechen wird und mit höchsten Strafen bedroht ist? Das stünde nicht nur in Widerspruch zu der 58

GA 2008, 202. G. Küpper ZStW 111 (1999), 785, 804 ff. 60 Siehe GA 2008, 263 ff. 61 Vgl. auch AE-Leben, dessen Verfasser sich ausdrücklich auf die Konkurrenzlösung berufen und meinen, dass das Merkmal „leichtfertig“ am besten den besonderen Unrechts- und Schuldgehalt ausdrücke (GA 2008, 264 f.) 62 Siehe BGHSt. 14, 110, 112; 31, 96, 99 m. krit. Anm. Hirsch JR 1983, 78, BGH NStE § 226 Nr. 1; NStZ 1997, 341; st. Rspr. 59

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sonstigen Bewertung der Idealkonkurrenz durch den Gesetzgeber, sondern widerspräche allen strafrechtlichen Maßstäben.63 Die Verfasser des E 1962, denen man üblicherweise Strenge nachsagt, gingen so weit, dass sie meinten, es sei generell ausgeschlossen, dass eine (unvorsätzliche) Erfolgsqualifizierung ein Vergehen zu einem Verbrechen werden lasse.64 Soll dies weiterhin möglich sein, hat man sich an die früher allgemein anerkannte Rolle des sog. Unmittelbarkeitsgesichtspunkts zu erinnern. Danach kommt es darauf an, dass die schwere Folge daraus resultiert, dass der vorsätzlich herbeigeführte konkrete Erfolg des Grundtatbestandes typischerweise objektiv das Risiko birgt, die Folge zu bewirken.65 Nach dieser bei Todeserfolgsqualifizierungen als Letalitätstheorie bezeichneten Auffassung ist die starke Strafverschärfung einigermaßen erklärbar. Bei einer Reform des Tötungsstrafrechts wird mithin zu prüfen sein, welche der heutigen Strafbestimmungen mit qualifizierender Todesfolge den Voraussetzungen überhaupt genügt. Außerdem hätte man in § 18 StGB die objektiven Erfordernisse des erfolgsqualifizierten Delikts präziser anzugeben, ferner bei todeserfolgsqualifizierten Delikten die Erfassung einer Vorsätzlichkeit der Folge ganz den §§ 211 ff. zu überlassen.66

63 Unklar ist auch die Stellungnahme der Verfasser des AE-Leben. Sie geben zunächst an: „Bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten ist die Kombination eines vorsätzlichen Grunddelikts mit einer bloß fahrlässigen Tötung nicht geeignet, einen besonderen Unrechts- und Schuldgehalt auszudrücken.“ Wieso die Eignung gleichwohl schon zu bejahen sein soll, wenn die Fahrlässigkeit sich als grob (d.h. Leichtfertigkeit) darstellt, ist schwerlich erklärbar. 64 Vgl. § 149 Abs. 1 E 1962. 65 Näher zum sog. Unmittelbarkeitserfordernis, d.h. dem gefahrspezifischen Zusammenhang zwischen dem vorsätzlichen konkreten Erfolg des Grundtatbestands und der besonderen Folge, vgl. Geilen Welzel-FS, 1974, 655, 681; Hirsch Oehler-FS, 1985, S. 111, 129 ff.; LK-Hirsch 11. Aufl. 2008, § 227 Rn 5; G. Küpper Der „unmittelbare“ Zusammenhang, 1982; ders. Hirsch-FS, 1999, S. 615 ff.; ders. ZStW 111 (1999), 792 ff.; NK-Paeffgen 3. Aufl. 2010, § 226 Rn 11 ff.; Roxin Allg. Teil I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn 115; Sowada Jura 1994, 643; jeweils mwN. 66 Unglücklich ist es, bei todeserfolgsqualifizierten Delikten entsprechend der in § 18 StGB getroffenen allgemeinen Regelung auf wenigstens Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesfolge abzustellen. Dass das Gesetz bisher so verfährt, hängt damit zusammen, dass de lege lata andernfalls bei Tötungsvorsatz aus dem Kreis der Tötungsdelikte § 212 StGB in Betracht kommen kann, dieser aber einen niedrigeren Strafrahmen aufweist als manche todeserfolgsqualifizierte Tatbestände. Solche Strafrahmenverwerfungen, die mit den überhöhten Strafdrohungen von erfolgsqualifizierten Delikten zu tun haben, erledigen sich letztlich mit der oben vorgeschlagenen Neuregelung des Mordtatbestands, der in seiner Ausgestaltung als Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung einen angemessenen Strafrahmen zur Abdeckung der Tötungsseite aufweisen würde. Diese Lösung ermöglicht zugleich, dass de lege ferenda das todeserfolgsqualifizierte Delikt als durch den Unmittelbarkeitszusammenhang verbundene „Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination“ klar zur Geltung kommt und als solche zutreffend strafrechtlich eingeordnet und bewertet werden kann.

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VI. Wie sich im Vorhergehenden gezeigt hat, lässt sich ein in sich stimmiges Konzept der Tötungsstrafbestimmungen konzipieren. Wenn man dennoch bezweifeln muss, ob es in absehbarer Zeit zu einer Reform kommt oder nur kommen sollte, liegt dies am gegenwärtigen Zustand der bundesdeutschen Strafgesetzgebung. Nach allem, was sie in den letzten Jahren geboten hat, traut man ihr eine haltbare Reform kaum noch zu. Die Ursachen liegen nicht nur in der Selbstüberschätzung und der damit verbundenen Beratungsresistenz der Verantwortlichen, sondern mehr noch in politischen Einflussnahmen. Die lebenslange Freiheitsstrafe sowie die Fragen der Sterbehilfe bieten genügend Stoff für sachlich inkompetente politische Interventionen. Wahrscheinlich ist es deshalb doch besser, wenn der Gesetzgeber einstweilen den Dingen ihren Lauf lässt, anstatt neue Probleme zu schaffen. De lege lata könnte die Rechtsprechung aber ihren Spielraum ausnutzen und die bisherige Fassung des § 211 StGB tatstrafrechtlich auslegen, so dass die verbliebenen Spuren der gesinnungsstrafrechtlichen NS-Vergangenheit verringert werden. Das eingangs geschilderte Verständnis zulässiger richterlicher Auslegung erwies sich zwar als zu weitgehend, aber auch innerhalb berechtigter Grenzen ist eine strafrechts- und verfassungsrechtskonforme Auslegung des § 211 StGB möglich und angezeigt.

Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung TATJANA HÖRNLE

I. Einleitung Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), 5. Sektion, hat mit Kammerentscheidung vom 17.12.20091 (rechtskräftig seit dem 10.5.2010) über die Klage des Sicherungsverwahrten M. gegen die Bundesrepublik Deutschland entschieden. Gegenstand der Entscheidung war die Frage, ob der Beschwerdeführer, gegen den im Jahr 1986 gem. § 66 StGB Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, zu entlassen ist, weil zum Zeitpunkt der Tat § 67d Abs. 1 StGB a.F. vorschrieb, dass erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung nicht länger als zehn Jahre dauern dürfe. Das Gericht befand, dass die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung eine Verletzung von Art. 5 Abs. I und Art. 7 Abs. I EMRK bedeute, und es verurteilte Deutschland zur Zahlung von 50.000 Euro an M. Für diesen Beschwerdeführer hat das OLG Frankfurt am 24.6.2010 entschieden, dass er zu entlassen ist.2 Das Urteil des EGMR wirft weit über den entschiedenen Fall hinaus Folgefragen auf. Zum einen befinden sich Verwahrte in deutschen Haftanstalten, bei denen die rechtlichen Rahmenbedingungen vergleichbar sind,3 zum anderen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der EGMR auch bei anderer Rechtsgrundlage, nämlich bei nachträglich angeordneter Sicherungsverwah1 EGMR, Fifth Section, Case of M. v. Germany (Application no. 19359/04). Ich zitiere die §§ der englischen Urteilsfassung, abgerufen bei www.coe.int. Eine abgekürzte deutsche Fassung ist abgedruckt in NStZ 2010, 263. 2 3 Ws 485/10, abgerufen bei Juris. 3 Dies betrifft Täter, die in den Jahrzehnten vor 1998 die Anlasstat begangen haben. Wer z.B. 1980 zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe und erstmaliger Sicherungsverwahrung verurteilt wurde und 1998, als die Zehnjahresfrist in § 67d StGB a.F. aufgehoben wurde, noch nicht entlassen war, war von der Rückwirkung dieser Gesetzesänderung betroffen. Der EGMR gibt an, dass in deutschen Haftanstalten im Jahr 2008 noch 70 von der Abschaffung der Zehnjahresfrist Betroffene verwahrt wurden (§ 67).

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rung (§ 66b StGB) Verstöße gegen die EMRK beanstanden wird. Die angestoßene rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Diskussion wird unsere Jubilarin Ruth Rissing-van Saan, der dieser Beitrag mit herzlichen Glückwünschen gewidmet ist, spätestens bei der nächsten Auflage ihrer Kommentierung der §§ 66 ff. StGB im Leipziger Kommentar intensiv beschäftigen. In meinem Beitrag werde ich am Schluss (IV. und V.) auf die beiden Fragen eingehen: Was ist aus M. v. Germany für andere Fallkonstellationen abzuleiten? Und: Welcher Handlungsbedarf ergibt sich für Gerichte und den Gesetzgeber? Der Schwerpunkt liegt allerdings an anderer Stelle, nämlich bei einer Analyse der Urteilsgründe. Zum einen sind die wesentlichen Aussagen zusammenzufassen (II.), zum anderen die Qualität der Argumente zu untersuchen (III.). Die Bereitschaft, Letzteres zu tun, ist in der deutschen Diskussion schwach ausgeprägt. Politische, aber auch rechtswissenschaftliche Stellungnahmen4 neigen dazu, Beurteilungsmaßstäbe und Ergebnisse des EGMR als Faktum zu nehmen. Während unhinterfragte Akzeptanz des aus Straßburg Kommenden aus politischer Sicht erklärbar sein mag, gilt dies für die Rechtswissenschaft nicht, zu deren Aufgabe es gehört, alle Gerichtsentscheidungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

II. Zusammenfassung der wesentlichen Entscheidungsinhalte 1. Die Anordnung von Sicherungsverwahrung durch das Tatgericht gem. § 66 StGB kollidierte nicht mit Vorschriften der EMRK Eine Fundamentalkritik am Institut der Sicherungsverwahrung5 ist im Urteil des EGMR nicht enthalten. Ob genuin lebenslange Verwahrung möglicherweise eine in Art. 3 EMRK verbotene grausame Bestrafung sein könnte, war nicht Gegenstand der Entscheidung. In dieser wurde vielmehr darauf hingewiesen, dass die im Jahr 1986 vom LG Marburg wegen eines 1985 begangenen versuchten Mordes und Raubes neben der Freiheitsstrafe gemäß § 66 Abs. 1 StGB verhängte und seit 1991 vollzogene Sicherungsverwahrung zunächst (bis zum Jahr 2001) eine konventionsgemäße Freiheitsentziehung (nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 9 EMRK) war (§ 96).

4

S. die Besprechungen von Kinzig NStZ 2010, 233, 235 ff.; Laue JR 2010, 198 ff. S. für eine solche etwa Weichert StV 1989, 265 ff.; Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, S. 39 ff.; Krahl KritV 2009, 310 ff.; Böllinger/Pollähne NK, 3. Aufl. 2010, § 61 Rn. 20 ff. Dagegen Rissing-van Saan/Peglau LK, 12. Aufl. 2008, § 66 Rn. 21 ff.; Ullenbruch MK, 2005, § 66 Rn. 10. 5

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2. Die Vollziehung der gem. § 66 StGB erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren verstieß aber gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK Nach der Rechtsauffassung des EGMR hätte der Beschwerdeführer im Jahr 2001 entlassen werden müssen, weil zum Zeitpunkt der Tat § 67d Abs. 1 StGB a.F. vorsah, dass erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung nicht länger als zehn Jahre dauern dürfe. Mit dem zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.19986 war diese Bestimmung allerdings geändert worden. Seither ist in § 67d Abs. 3 StGB bestimmt, dass nach zehnjähriger Vollziehung die Maßregel nur dann für erledigt zu erklären ist, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. § 2 Abs. 6 StGB ordnet für Maßregeln der Besserung und Sicherung an, dass es nicht auf den Zeitpunkt der Tat ankommt, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung, und Art. 1a Abs. 3 EGStGB a.F. sah für die Neuregelung des § 67d StGB rückwirkende Kraft vor. Das BVerfG hat dies gebilligt.7 Es war auf der Grundlage des StGB die Sicherungsverwahrung gegen den Beschwerdeführer, bei dem ein fortbestehender Hang zu erheblichen Straftaten festgestellt wurde, auch nach 2001 weiter zu vollstrecken. Der EGMR geht dagegen davon aus, dass Sicherungsverwahrung eine „penalty“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 EMRK (No punishment without law) sei und deshalb das Rückwirkungsverbot gelte. Hinzu komme eine Kollision mit Art. 5 Abs. 1 EMRK (Right to liberty and security), wenn nachträglich, nach der Verurteilung, die Vollstreckungszeiten verlängert werden. Freiheitsentziehung sei nur dann nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK (lawful detention of a person after conviction by a competent court) legitimiert, wenn die Verantwortung für die Freiheitsentziehung bei dem Gericht liege, das den Schuldspruch gefällt hat (§ 87). Es bedürfe einer hinreichenden Kausalbeziehung („sufficient causal connection“) zwischen dem gerichtlichen Schuldspruch und der Freiheitsentziehung (§ 88). An dieser Kausalbeziehung fehle es im zu entscheidenden Sachverhalt, weil das 1986 urteilende Tatgericht davon ausgehen musste, dass die Sicherungsverwahrung gemäß der damals geltenden Fassung von § 67d Abs. 1 StGB nach zehn Jahren ein Ende finden würde (§ 100). Auch Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK 6

BGBl. I, S. 160, in Kraft seit dem 31.1.1998. BVerfGE 109, 133, 167 ff. Zust. Degenhart in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 103 Rn. 58; Schulze-Fielitz in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 103 II Rn. 21; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 67d Rn. 61. Krit. zur Änderung des § 67d StGB Kinzig StV 2000, 330; Ullenbruch NStZ 1998, 326; s. ferner die Nwe. in Fn. 11. 7

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(Var.: lawful arrest or detention …. when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence) sei nur einschlägig, wenn spezifische, konkrete Taten zu verhindern seien (§ 102).

III. Überzeugen die Argumente im Urteil M. v. Germany? 1. Die Argumente zu Art. 7 Abs. 1 EMRK Das Rückwirkungsverbot gilt nicht nur für die Beschreibung des strafbaren Handelns oder Unterlassens (Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK), sondern auch für die Rechtsfolgen (Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK): Nor shall a heavier penalty be imposed than the one that was applicable at the time the criminal offence was committed. Der Begriff, der auszulegen war, lautet: „penalty“. Handelt es sich bei Sicherungsverwahrung um eine penalty i.S.v. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK? Einleuchtend ist eine erste methodische Festlegung, die der EGMR trifft: Es bedarf einer autonomen Auslegung, für den die nationalen Bezeichnungen nur ein Anhaltspunkt neben anderen sind (§ 120). Nicht ausschlaggebend kann sein, ob sich eine Rechtsordnung verschleiernder Euphemismen bedient und Kriminalstrafe umetikettiert. Ebenso überzeugt die Festlegung des EGMR, dass es nicht allein auf die Schwere der Maßnahme ankomme (§ 120). Vor allem bei nicht-freiheitsentziehenden Sanktionen ist die Beschreibung der Eingriffsschwere (etwa: Verlust von Vermögen in bestimmter Höhe) nicht geeignet, „penalties“ von anderen staatlichen Eingriffen (etwa: Steuern) abzugrenzen. Zur Auslegung von „penalty“ gibt es zwei Wege. Der eine würde die Vorgabe des BVerfG analysieren,8 das zwischen Kriminalstrafe und Maßregeln der Besserung und Sicherung unterscheidet. Es wäre nicht überzeugend, den Begriff der Maßregel als bloßes Etikett des nationalen Rechts abzutun, da konzeptuell eine Unterscheidung gut zu begründen ist. Zentrales Element von Kriminalstrafe ist das damit verbundene missbilligende oder tadelnde Unwerturteil, während Maßregeln ausschließlich präventive Funktionen haben.9 Auch die Bedeutung der abzuurteilenden Tat ist für Kriminalstrafe einerseits, Maßregeln andererseits unterschiedlich: Im ersteren Fall ist sie Grund für die Strafe, im zweiten nur Beweisanzeichen für Gefährlichkeit (ein angesichts der Unsicherheiten von auf Persönlichkeitsbegutachtung gestützten Prognosen wichtiges Beweisanzeichen). Der zweite Weg, der Weg des EGMR, besteht darin, entgegen der Differenzierungs-

8 9

BVerfGE 109, 133, 167 ff. m. Bspr. durch Kinzig NJW 2004, 911 ff. BVerfGE 109, 133, 172.

Bemerkungen zum EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung

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these des BVerfG alle langen Freiheitsentziehungen nach einem Schuldspruch für strafbares Verhalten einheitlich als „penalty“ einzuordnen. Der EGMR stellt oberflächlich entwickelte Argumente nebeneinander, ohne in systematischer und gründlicher Weise Gründe, die für eine Differenzierungsthese vorgebracht werden könnten, zu erwägen. Die Kammer zitiert im deskriptiven Teil die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2004 ausführlich (§§ 26-40), wobei diese aber in den Überlegungen der Kammer nicht mehr als zu Widerlegendes fungiert. Wenig überzeugend ist die in § 129 vom EGMR angestellte Überlegung, dass Sicherungsverwahrung keine „richtige“ präventive Maßnahme sein könne, weil in der Vollzugsrealität zu wenig resozialisierende Behandlung stattfinde. Prävention von Straftaten kann, muss aber nicht durch resozialisierende Maßnahmen erstrebt werden. Auch Maßregeln der Sicherung wirken präventiv. Ferner wird auf das Überlappen von präventiven Funktionen und strafenden Reaktionen verwiesen: Sicherungsverwahrung enthalte ein eindeutig abschreckendes Element (§ 130). Aber das spricht nicht dagegen, Sicherungsverwahrung als rein präventive Freiheitsentziehung einzuordnen. Die Kombination „Sicherung der Allgemeinheit vor dem Täter“ plus „abschreckende Effekte bei anderen potentiellen Tätern“ wäre ebenfalls als „rein präventiv“ einzuordnen. Gegen die Differenzierungsthese führt der EGMR außerdem die äußerlichen Gemeinsamkeiten von Kriminalstrafe und Sicherungsverwahrung an, nämlich den Vollzug in denselben Anstalten, die (wenigen) einschlägigen Rechtsnormen im Strafvollzugsgesetz und die Tatsache, dass Strafgerichte für Entscheidungen zuständig sind (§§ 127, 131). Aber kann es wirklich auf die äußeren Erscheinungsformen ankommen? Würde das Gericht zu einem anderen Ergebnis kommen wollen, wenn separate Anstalten und von den Strafgerichten organisatorisch getrennte „Verwahrungsgerichte“ eingerichtet würden? Das ist zweifelhaft. Das relativ stärkste Argument gilt der Eingriffsintensität aus der Perspektive des Verwahrten. Dass dieser Sicherungsverwahrung als zusätzliche Strafe empfindet (darauf verweist die Kammer in § 130), ist nachvollziehbar,10 und zwar handelt es sich um eine empfundene zusätzliche Strafe, die wesentlich länger dauern kann (s. den Fall des Beschwerdeführers M.), in Hoffnungslosigkeit stürzt und aus der Sicht des Verwahrten schlimmer ist als die zuvor verbüßte, überschaubare Freiheitsstrafe. Auf diesen Gedanken aufbauend, kann man argumentieren, dass das reale Gewicht des Eingriffs für die davon Betroffenen wichtiger ist als objektiv zu beschreibende Unterschiede zwischen Kriminalstrafe und Maßregeln.

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S. Hassemer/Kargl NK, 3. Aufl. 2010, § 2 Rn. 61.

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Meine Kritik an den Ausführungen des EGMR zu Art. 7 Abs. 1 EMRK bezieht sich nicht primär auf das Ergebnis,11 sondern auf das flache Niveau der Begründung. Selbst wenn man der Bewertung aus einer Betroffenenperspektive den Vorzug gegenüber konzeptuell-theoretischen Differenzierungen gibt, hätten weitergehende Überlegungen angestellt werden müssen. So fehlt jegliche Auseinandersetzung damit, warum Art. 7 Abs. 1 EMRK ein wichtiges Grundrecht enthält. Eine Auslegung, die Hintergründe und Ziele einer Regelung nicht thematisiert, greift zu kurz und vermag bei grundsätzlichen, stark umstrittenen Fragen nicht zu überzeugen. Skizziert man mit Stichworten wie „Vertrauensschutz“ oder „Fairness“ das Anliegen, Personen vor nachträglich-ungünstigen, unvorhersehbaren Änderungen von Strafgesetzen zu bewahren, zeigen sich Unterschiede zwischen der Ratio des Art. 7 Abs. 1 S. 1 und der des Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK. Offensichtlich ist ein absolutes Rückwirkungsverbot unabdingbar, soweit es um Tatbestandsbeschreibungen geht, um zu verhindern, dass Personen für zum Handlungszeitpunkt legales Verhalten sanktioniert werden. Soweit die Verbotsnorm unverändert bleibt und nur Rechtsfolgen verschärft werden, kommt Vertrauensschutz und Fairness immer noch Gewicht zu – aber etwas weniger als bei dem evidenten Fairnessbruch, der in nachträglich verschobenen Grenzen zwischen Recht und Unrecht liegt, was die Befolgung von Verhaltensnormen unmöglich macht. Und vor allem: Bei der Bestimmung der Reichweite von Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK hätten weitere Aspekte einbezogen werden müssen. Vertrauensschutz für die von rückwirkenden Belastungen Betroffenen muss unter bestimmten Umständen gegen gegenläufige Interessen abgewogen werden, was dafür sprechen kann, den Bereich des absoluten Rückwirkungsverbotes eng zu fassen. Wenn man gegenläufige Interessen nicht völlig ausblendet, wie es der EGMR tut, wäre zu berücksichtigen, dass Sicherungsverwahrung potentielle Opfer vor sehr schwerwiegenden Straftaten schützt (hierauf weisen die Gerichte hin, die es ablehnen, nach dem EGMR-Urteil andere Sicherungsverwahrte zu entlassen).12 Es bedarf einer sorgfältigen, ausführlichen Beschäftigung mit dem Begriff „penalty“ in Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK, weil man einem Spannungsverhältnis gerecht werden muss. Einerseits ha11 Im deutschen Schrifttum ist die Ansicht, dass das Rückwirkungsverbot auch für Sicherungsverwahrung gelten müsse, weit verbreitet, s. Kinzig NJW 2001, 1455, 1456 f.; ders. NJW 2004, 911, 913; Best ZStW 114 (2002),88, 99 ff.; Rzepka R & P 2003, 191, 195 ff.; Gazeas StraFo 2005, 9, 13; Streng StV 2006, 92, 96; Krahl KritV 2009, 310, 313 ff.; Böllinger/Pollähne (Fn. 5), § 66b Rn. 7; Hassemer/Kargl (Fn. 10); Renzikowski in: Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 7 Rn. 32 (Stand Juni 2009); Ullenbruch NStZ 1998, 326, 330. A.A. Kadelbach in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 15 Rn. 16. 12 S. die Nwe. unten Fn. 27.

Bemerkungen zum EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung

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ben, insoweit ist dem EGMR beizupflichten, Personen ein berechtigtes Interesse daran, nicht in unvorhersehbarer Weise gravierenden Freiheitseingriffen unterzogen zu werden. Andererseits kann die Errichtung der Barriere des absoluten Rückwirkungsverbotes zur Folge haben, dass andere (als Opfer schwerer Gewaltdelikte) dafür einen hohen Preis bezahlen müssen.13 Die Einsicht, dass diesem Spannungsverhältnis und damit einem genuinen Dilemma nicht zu entgehen ist und die Entscheidung sich zu beiden Polen verhalten müsste, ist beim EGMR zu vermissen.

2. Die Argumente zu Art. 5 Abs. 1 EMRK a) Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c, Nr. f Freiheitsentziehungen sind ferner an Art. 5 Abs. 1 EMRK zu messen. Die Überlegungen des EGMR sind insofern nachvollziehbar, als die Kammer davon ausgeht, dass Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK (Var.: lawful arrest or detention …. when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence) nicht Sicherungsverwahrung legitimieren kann.14 Zu Recht weist das Gericht (leider nur an dieser Stelle) darauf hin, dass Bestimmungen im Lichte des Gesamtkontextes von Art. 5 Abs. 1 EMRK zu sehen sind (§ 102). Eine systematische Auslegung zeigt, dass die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK angeführten Varianten sich auf Situationen der nur vorläufig sichernden Festnahme und Festhaltung beschränken. Aus Art. 5 Abs. 3 EMRK (shall be brought promptly before a judge) ergibt sich eindeutig, dass sich Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK nur auf vorläufige Ingewahrsamsnahme bezieht, nicht auf Freiheitsentziehung nach Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens. Auch die Ablehnung einer Rechtfertigung aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. f EMRK (Var.: detention of persons of unsound mind) für den konkreten Fall (§ 103) ist überzeugend, wobei sich der EGMR auf die Einschätzung der deutschen Gerichte bezieht, dass M. zwar eine auffällige Persönlichkeitsstruktur aufweist (narzisstische Persönlichkeit, Mangel an Empathie), aber keine andere schwere seelische Abartigkeit vorliegt (§§ 18, 22).

13 Wer behauptet, dass es keinen Bedarf etwa für nachträgliche Sicherungsverwahrung gebe, weil es sich nur um „absolute Ausnahmefälle“ handele (Krahl KritV 2009, 310, 314), bedient sich einer im Grunde zynischen Argumentation (man kann dies nur so verstehen, dass es auf einige wenige Opfer von Sexual- und Tötungsdelikten, die sich nicht in statistisch messbarer Form zeigen, nicht ankomme). 14 So auch Renzikowski JR 2004, 271, 273; Kinzig NStZ 2010, 233, 236; a.A. Peglau NJW 2001, 2436, 2438; Würtenberger/Sydow NVwZ 2001, 1201, 1204 (bezogen auf Landesgesetze zur Unterbringung).

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b) Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK Der EGMR befindet, dass die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des LG Marburg vom 10.4.2001 nicht ausreiche, um fortgesetzte Sicherungsverwahrung nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK (lawful detention of a person after conviction by a competent court) zu legitimieren. Dahinter stehen zwei Thesen: These 1: Die Verantwortung müsse bei dem Strafgericht liegen, das den Schuldspruch gefällt hat. Der letzte Satz in § 96 betont dies ausdrücklich: Die Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer sei nicht geeignet, die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK vorgeschriebene gerichtliche Legitimierung zu schaffen (§ 96). These 2: Es bedürfe einer hinreichenden Kausalbeziehung zwischen dem Schuldspruch und der nachfolgenden Freiheitsentziehung. Die Überlegungen zur angeblich unzureichenden Kausalbeziehung sind angreifbar. Natürlich war der Schuldspruch des LG Marburg vom 17.11.1986 kausal für die fortgesetzte Sicherungsverwahrung auch nach dem Jahr 2001 – denkt man ihn hinweg, wäre es nicht zum Aufenthalt in Sicherungsverwahrung gekommen. Ein Kausalzusammenhang besteht, oder er besteht nicht. Kausalität ist nicht quantitativ steigerbar und es ist die Annahme unzutreffend, dass Kausalverbindungen im Laufe der Zeit allmählich abnehmen (so § 88). Der Sache nach gemeint ist offensichtlich Zurechnung: Man muss den EGMR so verstehen, dass dem Strafgericht, das den Schuldspruch gefällt hat, auch die Entscheidung für fortgesetzte Freiheitsentziehung zurechenbar sein müsse. Die Kammer rekapituliert zunächst (§§ 86-89) die Vorgaben der EGMRRechtsprechung (relevant principles). Eine „gebrochene Kausalverbindung“ sei dann anzunehmen, wenn die Entscheidung für fortgesetzten Freiheitsentzug auf Gründe gestützt wird, die nicht mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung konsistent seien, oder auf eine Bewertung, die im Lichte dieser Ziele unvernünftig sei (§ 88). Wendet man diesen Maßstab an, fällt es schwer, eine „gebrochene Kausalverbindung“ zu erkennen: Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 10.4.2001 führte die Ziele des Urteils vom 17.11.1986 fort und stützte sich auf dieselben Bewertungsgrundlagen (die Notwendigkeit, die Allgemeinheit vor einem Täter zu schützen, bei dem der 1986 festgestellte Hang zu erheblichen Straftaten auch 2001 noch bestand). Trotzdem kommt der EGMR (in § 99) zu dem Ergebnis, dass die fortgesetzte Sicherungsverwahrung dem Tatgericht nicht mehr zugerechnet werden könne. Richtig ist, dass für die im Jahr 1986 urteilenden Richter nicht vorhersehbar war, dass der Gesetzgeber zwölf Jahre später § 67d StGB ändern würde. Hierauf abzustellen, wäre jedoch nur dann ein durchschlagendes Argument, wenn das Tatgericht die Verhän-

Bemerkungen zum EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung

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gung von Sicherungsverwahrung vermutlich unterlassen hätte, hätte es vorhersehen können, dass der Täter möglicherweise, bei fortbestehendem Hang zu schweren Gewaltdelikten, nicht automatisch nach zehn Jahren entlassen werden wird. Diese Annahme ist jedoch wenig plausibel. Der EGMR unterlässt, was an anderer Stelle (§ 102) gefordert wird: die Einzelbestimmung im Lichte der Gesamtnorm des Art. 5 EMRK auszulegen. In Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK wurden Verfahren der Freiheitsentziehung aufgelistet, die in den Vertragsstaaten im Jahr 1950 üblich waren und die als konventionsgemäß eingeordnet wurden. Die am Anfang stehende Nr. a enthält die unproblematischste Rechtfertigung, die für eine Freiheitsentziehung möglich ist: Der zu Inhaftierende hat, in einem Schuldurteil festgestellt, eine Straftat begangen, und das Freiheitsentziehung anordnende Gremium war ein Gericht. Bei Vorliegen beider Bedingungen wird hohen Ansprüchen an die Legitimität der Freiheitsentziehung genügt. Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK enthält andere Modalitäten, die nach dem Wortlaut der Konvention ebenfalls genügen, um Freiheitsentziehung zu legitimieren. So dürfen Personen, die als „vagrants“ bezeichnet werden („Landstreicher“ in der deutschen Übersetzung), gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. e EMRK in Haft genommen werden, wofür nicht einmal die Entscheidung eines Gerichts erforderlich ist. Würde man eine Skala konstruieren, um den Grad der Legitimität einer Freiheitsentziehung nach Anlassgrund und Verfahren zu erfassen, wäre Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. e EMRK am unteren Ende anzusiedeln, Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK dagegen am oberen Ende. Das Gesamtbild des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK lässt es als fernliegend erscheinen, ausgerechnet bei dem Erlaubnissatz, der relativ hohe Legitimitätsmaßstäbe anlegt, per Auslegung durch Einführung einer im Text nicht vorgesehenen „besonderen Kausalbeziehung zum Schuldurteil“ noch strengere Maßstäbe einzufordern. Überhaupt nicht gewürdigt wird in M. v. Germany ein wichtiger Umstand, nämlich, dass mit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer eine zweite gerichtliche Entscheidung vorlag. Die vom EGMR geforderte „hinreichende Kausalbeziehung“ zum Schuldspruch des Tatgerichts müsste eigentlich genau dann von Bedeutung sein, wenn über die Dauer der Freiheitsentziehung nicht unabhängige Gremien entscheiden, etwa Strafvollzugspersonal. An dieser Stelle zeigen sich aber Unstimmigkeiten in der EGMR-Rechtsprechung. Das Gericht hat unter Umständen, die an der Rechtsstaatlichkeit der Freiheitsentziehung stärker als im Fall M. v. Germany zweifeln lassen (etwa im Fall Van Droogenbroeck gegen Belgien), einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verneint, weil Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK eingreife. Van Droogenbroeck war wegen Einbruchsdiebstahls zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden und zusätzlich dazu, auf zehn Jahre in der „Verfügungsgewalt der Regierung“ zu verbleiben. Damit wurde der Exekutive weites Ermessen dahingehend eingeräumt, was in diesen

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zehn Jahren mit dem Verurteilten geschehen sollte (Freiheitsentziehung unter unterschiedlichen Bedingungen, Aussetzung der Freiheitsentziehung).15 Ähnlich war die Sachlage im Fall Weeks gegen Vereinigtes Königreich. In diesen Fällen wurden die Freiheitsentziehungen vom EGMR gebilligt, weil das den Schuldspruch aussprechende Gericht eine Sanktion wählte, die der Exekutive in der Folge weites Ermessen zugestand.16 Überzeugend ist dies nicht. Anstatt bei der Auslegung des Merkmals „after conviction“ in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK ausschließlich auf die Verbindung zum Schuldurteil zu achten, sollte darauf abgestellt werden, ob es ein System engmaschiger gerichtlicher Kontrolle für die nach einem Schuldspruch anfallenden weiteren Entscheidungen gibt.

3. Fazit M. v. Germany ist nur dem äußeren Umfang nach kein dünnes Urteil. Der weitaus größere Teil des Texts besteht, wie auch in anderen Urteilen des EGMR, in einer Beschreibung des Vorverfahrens und der nationalen Rechtshintergründe, verbunden mit einigen Hinweisen zum Umgang mit gefährlichen Straftätern in anderen europäischen Staaten. Die entscheidenden, die EMRK auslegenden Teile sind im Umfang schmal und es bleibt die Argumentationstiefe flach, weil entscheidende Festlegungen nur postuliert oder mit dem Verweis auf Vorentscheidungen versehen werden. Die Vorstellung, dass Schlüsselstellen der Auslegung durch Zitatketten abgesichert werden könnten statt durch Argumente, die etwa Sinn und Zweck von Konventionsbestimmungen oder systematische Zusammenhänge analysieren, dürfte auf Einflüsse des Common-Law-Rechtskreises zurückzuführen sein. In der an verschiedenen Stellen festzustellenden Oberflächlichkeit der Argumentation zeigen sich vielleicht auch Schwierigkeiten, die entstehen, wenn innerhalb eines international besetzten Gerichts Richterpersönlichkeiten mit sehr unterschiedlichen Hintergründen sich verständigen müssen.

IV. Was ist auf der Basis der Auslegung des EGMR für die Frage der Konventionswidrigkeit in anderen Fällen abzuleiten? Für die Rechtspraxis ist es offensichtlich nicht mit Kritik an M. v. Germany getan, sondern es muss auf der Basis des vom EGMR Vorgegebenen untersucht werden, ob die Beurteilung als „konventionswidrig“ auch für 15

Van Droogenbroeck gegen Belgien, § 34, EGMR-E 2, 101. Van Droogenbroeck gegen Belgien, § 39; Weeks gegen Vereintes Königreich, § 50, EGMR-E 3, 393. 16

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andere Konstellationen zu erwarten ist. Es gibt zwei Fallgruppen, in denen sich dies aufdrängt, nämlich erstens bei den auf der Basis von § 66 StGB erstmalig Verwahrten, wenn die Rahmenbedingungen (Zeitpunkt von Tat und Urteil) denen des Falls M. ganz oder teilweise entsprechen, und zweitens bei Personen, gegen die gem. § 66b StGB nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.

1. Verurteilungen zu erstmaliger Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB a) Tat und Urteil oder Tat vor 1998 Ein der Lage in M. v. Germany entsprechender Altfall liegt vor, wenn sowohl die Tat vor dem 31.1.1998 geschah (dem Zeitpunkt, als die Änderung des § 67d StGB wirksam wurde) als auch die Verurteilung mit Anordnung der Sicherungsverwahrung vor diesem Zeitpunkt erfolgte. In diesen Fällen müsste der EGMR zum Ergebnis kommen, dass länger als zehn Jahre währende Sicherungsverwahrung gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK verstoße. Lag nur die Tat vor dem 31.1.1998, nicht aber das Sicherungsverwahrung anordnende Urteil, sind die Ausführungen zu Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht übertragbar. War zum Urteilszeitpunkt § 67d StGB bereits auf den heutigen Stand gebracht, bedeutete die Anordnung von Sicherungsverwahrung durch das Tatgericht bereits die Möglichkeit einer über zehn Jahre hinausreichenden Vollziehung. Eine „hinreichende Kausalbeziehung“ zwischen Urteil und Freiheitsentziehung müsste dann angenommen werden. Es bleibt aber dabei, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK nach der Auslegung des EGMR verletzt wäre, wenn Sicherungsverwahrung länger als zehn Jahre andauert.

b) Tat und Urteil nach 1998 Liegen sowohl Verurteilung als auch Tatzeitpunkt nach dem 31.1.1998, ist die Entscheidung des EGMR für Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB nicht von Bedeutung. Diese stellt, wie erwähnt, das Institut der Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich in Frage.

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2. Vorbehaltene Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB und nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB a) Tat vor 2002 bzw. 2004 Die Vorschrift über vorbehaltene Sicherungsverwahrung wurde mit Gesetz vom 21.8.2002, in Kraft seit dem 28.8.2002, eingeführt,17 nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Gesetz vom 23.7.2004, in Kraft getreten am 29.7.2004.18 Ist die jeweilige Anlasstat vor diesen Zeitpunkten begangen, so sind die Festlegungen des EGMR zu Art. 7 Abs. 1 EMRK anwendbar. Nach der Auslegung des EGMR ist Sicherungsverwahrung unter diesen Bedingungen als konventionswidrig zu kennzeichnen. Das BVerfG hat zwar mehrfach unter Bekräftigung der Unterscheidung von Kriminalstrafe und Maßregel festgestellt, dass auch bei vor dem Jahr 2004 begangenen Anlasstaten die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung gem. § 66b Abs. 2 StGB und gem. § 66b Abs. 3 StGB weder gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot noch gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße.19 Jedenfalls für das Erwachsenenstrafrecht führt jedoch kein Weg an der Folgerung vorbei, dass die Einstufung von Sicherungsverwahrung als „penalty“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 EMRK zur Folge hat, dass der EGMR Sicherungsverwahrung gem. § 66b StGB wegen Alttaten als Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK ansehen würde.20 Der 4. Strafsenat am BGH zieht in einer Entscheidung vom 12.5.2010 diesen Schluss für eine Anwendung von § 66b Abs. 3 StGB wegen einer Alttat.21

b) Tat nach 2002 bzw. 2004 Fraglich ist, ob auch dann Probleme im Hinblick auf die EMRK entstehen, wenn für eine Anlasstat, die nach dem 29.7.2004 begangen wurde, Unterbringung in Sicherungsverwahrung gem. § 66 b StGB nachträglich angeordnet wird. Unter diesen Umständen ist nicht Art. 7 Abs. 1 EMRK 17

BGBl. I, S. 3344. BGBl. I, S. 1838; dazu Braum ZRP 2004, 105 ff.; Kinzig NStZ 2004, 655 ff.; Poseck NJW 2004, 2559 ff.; Passek GA 2004, 96, 110 ff. 19 BVerfG, NJW 2006, 3483, 3484 m. Anm. Rau/Zschieschack JR 2006, 477; Ullenbruch NStZ 2007, 62; Foth NStZ 2007, 89; Rosenau/Peters JZ 2007, 584; BVerfG, NJW 2010, 1514, 1515. 20 Kinzig NStZ 2010, 233, 239; Laue JR 2010, 198, 203. So auch schon Trechsel FS für Burgstaller, 2004, S. 201, 208. 21 4 StR 577/09, zu finden bei juris.de. Der 1. Strafsenat meint (vielleicht zu optimistisch), dass die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach jugendstrafrechtlichen Verurteilungen (§ 7 Abs. 2 JGG) wegen der Besonderheiten des Jugendstrafrechts vom EGMR gebilligt werden würde: BGH, NStZ 2010, 381, 384. 18

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einschlägig, da es nicht darauf ankommt, ob der Täter mit einer zwingend eintretenden Rechtsfolge rechnen musste. Die Möglichkeit der Anwendung (s. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK: applicable) genügt, d.h., es genügt, dass die „penalty“ zum Tatzeitpunkt im gesetzlichen Arsenal der Reaktionsmöglichkeiten vorgesehen war. Im deutschen Schrifttum zu § 66b StGB wird schon seit längerem darüber debattiert, ob die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung mit Art. 5 Abs. 1 EMRK kompatibel ist.22 Verneint man dies, sind alle gem. § 66b StGB erfolgten Anordnungen konventionswidrig, auch die für Anlasstaten nach 2004. In M. v. Germany wurde betont, dass Entscheidungen von Strafvollstreckungskammern (courts responsible for the execution of sentences), die die Fortsetzung einer Freiheitsentziehung anordnen, nicht die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 a EMRK vorausgesetzten Gerichtsentscheidungen sein können (§ 96). Dieser Hinweis passt nicht direkt für § 66b StGB, da nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht eine Strafvollstreckungskammer, sondern regelmäßig dieselbe Strafkammer des Landgerichts anordnet, die schon wegen der Anlasstat verurteilt hat (§§ 74 Abs. 1, 74f Abs. 1 GVG). Aber es ist zu erwarten, dass die Identität des Spruchkörpers nicht ausreichen wird, um den EGMR dazu zu bewegen, eine hinreichende Kausalverbindung zum Schuldspruch zu bejahen. Dies ist zu bedauern, weil das Verfahren für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung durchaus hohen Ansprüchen an die Legitimierung von Freiheitsentziehung genügt (neue Hauptverhandlung, Einholung zweier Gutachten, § 275a Abs. 2 bis 4 StPO). Der Sache nach ist es nicht gerechtfertigt, die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung als illegitime Freiheitsentziehung zu brandmarken. Jedoch: Der EGMR hat sich darauf versteift, dass es auf die „sufficient causal connection“ zum Schuldspruch ankomme. Führt er diese Linie fort, dürfte er es für entscheidend ansehen, dass § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB die Feststellung neuer Tatsachen23 verlangen, also das Anknüpfen an einen Umstand, der in der Verurteilung wegen der Anlasstat nicht erwähnt wird. Es ist damit zu rechnen, dass der EGMR auch in Neu-

22 Von einem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 gehen aus Kinzig NJW 2001, 1455, 1458 f.; Renzikowski JR 2004, 271 ff.; ders. (Fn. 11), Art. 5 Rn. 132; Gazeas StraFo 2005, 9, 14 f.; Streng StV 2006, 92, 98; Römer JR 2006, 5 f.; Dörr in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 13 Rn. 161; Böllinger/Pollähne (Fn. 5), § 66b Rn. 7; Ullenbruch (Fn. 5), § 66b Rn. 53; a.A. Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 66b Rn. 47 ff., zusammenfassend Rn. 64. 23 Das Wort „neu“ taucht zwar in § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB nicht auf. Es ergibt sich aber aus dem Sachzusammenhang. S. dazu BGHSt. 50, 121, 125; 50, 275, 278; Rissing-van Saan FS für Nehm, 2006, 191, 196 ff.; Streng StV 2006, 92 ff.

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fällen Sicherungsverwahrung auf der Basis von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB als Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK einordnen wird.24 Vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB ist dagegen so konstruiert, dass das Tatgericht in diesem Urteil die Anordnung von Sicherungsverwahrung explizit vorbehält, wobei es für die später zu treffende Entscheidung nicht auf neue Tatsachen ankommt. Damit ist im schuldfeststellenden Urteil der „Haken“ gesetzt, an dem eine spätere Anordnung der Maßregel festzumachen wäre. Unter diesen Umständen liegt es nahe, ggf. eine „hinreichende Kausalbeziehung“ zu bejahen,25 so dass der EGMR wahrscheinlich insoweit den Legitimationsgrund in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK annehmen und Konventionswidrigkeit verneinen würde.

V. Welcher Handlungsbedarf ergibt sich für Gerichte und Gesetzgeber? 1. Die Situation der Gerichte a) Altfälle Gegenwärtig müssen Strafvollstreckungskammern und Oberlandesgerichte als Beschwerdegerichte darüber entscheiden, ob in Parallelfällen zum Fall M. die Betroffenen entlassen werden müssen.26 Hierzu besteht Uneinigkeit.27 Eine unkompliziert festzustellende Entlassungspflicht bestand lediglich gegenüber dem Beschwerdeführer im Verfahren vor dem EGMR, da 24 Meine abweichende Einschätzung in StV 2006, 383, 386 f. gebe ich auf. Wie hier Trechsel (Fn. 20), S. 217: Kinzig NStZ 2010, 233, 239; Laue JR 2010, 198, 203 f.; optimistischer Rosenau/Peters JZ 2007, 584, 586; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 66b Rn. 60 (Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK). Geht es um nachträgliche Sicherungsverwahrung von Straftätern, die zunächst in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht waren (§ 66b Abs. 3 StGB), kommt es allerdings für die Entscheidungsfindung der Strafkammer nicht auf neue Tatsachen an, BGHSt. 52, 31, 33; BVerfG, NJW 2010, 1514, 1516. Unter diesen Umständen wäre es eher vorstellbar, dass der EGMR eine hinreichende Kausalverbindung zum tatgerichtlichen Schuldurteil bejaht. Da diese Formel aber von einiger Vagheit ist, fällt eine Prognose des Entscheidungsverhaltens des EGMR nicht leicht. 25 Böllinger/Pollähne (Fn. 5), § 66b Rn. 7; Dörr (Fn. 22), Kap. 13 Rn. 161; Renzikowski (Fn. 11), Art. 5 Rn. 131; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 66a Rn. 16; Ullenbruch (Fn. 5), § 66a Rn. 18; Laue JR 2010, 198, 203. Skeptischer Kinzig NStZ 2010, 233, 238 f. 26 Für eine Entlassungspflicht Kinzig NStZ 2010, 233, 238; Laue JR 2010, 198, 202. 27 Für die Entlassung in Parallelfällen OLG Frankfurt, 3 Ws 485/10; OLG Frankfurt, 3 Ws 539/10; dagegen OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. Der Gesetzgeber sah sich daraufhin veranlasst, in § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG n.F. im Falle der Abweichung von der Entscheidung eines anderen OLG oder des BGH, die nach dem 1.1.2010 erging, zur Vorlage an den BGH zu verpflichten.

Bemerkungen zum EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung

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für den entschiedenen Einzelfall sich aus Art. 46 EMRKdie Pflicht ableiten lässt, einen konventionswidrigen Zustand zu beenden.28 Wurde nachträglich gem. § 66b StGB Sicherungsverwahrung wegen einer vor 2004 geschehenen Tat angeordnet, scheidet bei eingetretener Rechtskraft eine Entlassung durch die Strafvollstreckungskammer aus.29 Für Strafkammern wie die ggf. gegen deren Urteile angerufenen Revisionsgerichte stellt sich aber die Frage, ob nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf, wenn die Anlasstat vor 2004 geschah. Entscheidungsgrundlage für Gerichte ist das geltende Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Zu klären ist zunächst, ob ein unauflösbarer Widerspruch zwischen § 2 Abs. 6 StGB (es ist das zur Zeit der Entscheidung geltende Gesetz anzuwenden, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist) einerseits, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK in der Auslegung des EGMR andererseits besteht. Dies wäre ein Widerspruch innerhalb des deutschen Bundesrechts (wenn man mit dem BVerfG davon ausgeht, dass die EMRK im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht und dass sich in Entscheidungen des EGMR der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt)30. Statt der Feststellung eines Widerspruchs ist allerdings die Möglichkeit einer harmonisierenden Interpretation zu erwägen. In diesem Sinne gehen der 4. Strafsenat des BGH und das OLG Frankfurt davon aus, dass die Klausel in § 2 Abs. 6 StGB „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“ es erlaube, das vom deutschen Gesetzgeber geschaffene Recht und die Auslegung des EGMR von Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK zu harmonisieren.31 Ist es aber überzeugend, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK mit der Interpretation des Begriffs „penalty“ durch den EGMR als „andere gesetzliche Bestimmung“ i.S.v. § 2 Abs. 6 StGB einzuordnen? Die Mehrheit der Oberlandesgerichte sieht dies mit guten Gründen anders.32 Das BVerfG hat in der Görgülü-Entscheidung befunden, dass Entscheidungen des EGMR „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ berücksichtigt werden müssen.33 In den Fällen, in denen die Änderung von § 67d StGB im Zentrum steht, ist eine methodisch vertretbare Harmonisierungslösung schon deshalb nicht möglich, weil der Gesetzgeber eindeutig und unmissverständlich in 28

BVerfGE 111, 307, 320 f. OLG Frankfurt, 3 Ws 418/10. Insoweit, bei rechtskräftiger Anordnung von Sicherungsverwahrung, stellt sich die Frage, ob ein Wiederaufnahmegrund gem. § 359 Nr. 6 StPO auch für die nicht am Verfahren vor dem EGMR Beteiligten besteht. Dies deutet das OLG Frankfurt an; im Schrifttum ist dies allerdings umstritten, s. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 359 Rn. 52. 30 BVerfGE 111, 307, 317, 319. 31 BGH 4 StR 577/09; OLG Frankfurt, 3 Ws 485/10, abrufbar bei juris.de. 32 OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. 33 BVerfGE 111, 307, 323. 29

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Art. 1a Abs. 3 EGStGB festgelegt hat, dass es bei der Regel in § 2 Abs. 6 StGB bleiben sollte. Spielraum für die Ausnahmeklausel bestand insoweit nicht.34 In Bezug auf § 66b StGB ist eine harmonisierende Lösung ebenfalls wenig plausibel. Die Konsequenzen dessen, was der EGMR vorgezeichnet hat, laufen vielmehr auf eine dem Willen des deutschen Parlaments eindeutig zuwiderlaufende Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hinaus. Die vom BVerfG für Gerichte angenommene Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR ist keine Anweisung, im Kollisionsfalle die Regeln des StGB hintanzusetzen.35 Zu Recht weist das BVerfG darauf hin, dass bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen komplizierte Abwägungen erforderlich sind.36 Ein solches mehrpoliges Grundrechtsverhältnis liegt nach der zutreffenden Ansicht des 1. Strafsenats am BGH und mehrerer Oberlandesgerichte bei Entscheidungen in Sachen Sicherungsverwahrung vor,37 da im Falle der Freilassung Straftaten drohen, die Opfer schwer schädigen. Es handelt sich um ein ernst zu nehmendes Risiko. Zwar bedeutet eine ungünstige Prognose nicht zwangsläufig, dass es zu Rückfällen kommt,38 und infolge fortgeschrittenen Lebensalters kann dies auch für Entlassene gelten, bei denen die Vorgeschichte auf eine beträchtliche Gewaltneigung schließen lässt. Aber auch wenn die Entlassung in einigen Fällen nicht zu Gewaltverbrechen führt, wird es wahrscheinlich nicht gelingen, dies für alle Betroffene sicherzustellen.39 Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung sprechen gute Gründe dafür, dass die schwierige und hochpolitische Abwägung, ob die Erfüllung völker- und europarechtlicher Verpflichtungen oder ob Opferschutz als Verfassungsauftrag vorrangig ist, vom Parlament verantwortet werden sollte und Gerichte bis zur Entscheidung dieser Frage von den Regeln des StGB ausgehen müssen.

34

OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. S. zu dieser Frage Schilling Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, 164 ff. 36 BVerfGE 111, 307, 324. 37 BGH, NStZ 2010, 381, 384; OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. S. zur Mehrpoligkeit auch bei strafrechtlichen Fragen Hoffmann-Riem EuGRZ 2006, 492. 38 Dazu Kinzig Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2010, 48, 55 ff. 39 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob gegen zu Entlassende Führungsaufsicht angeordnet werden kann (dafür Kinzig NStZ 2010, 233, 238). Das OLG Frankfurt hat dies im Fall M. (oben Fn. 2) mit Verweis auf § 67d Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2 StGB getan. Dabei handelt es sich aber um eine Analogie zu Lasten des Betroffenen, da weder die in § 67 Abs. 3 S. 1 StGB beschriebene Situation noch die des § 67 Abs. 4 S. 1 StGB vorliegt. 35

Bemerkungen zum EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung

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b) Neufälle Ferner kann auf Strafkammern und Revisionsgerichte die Frage zukommen, ob nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich ist, wenn zum Zeitpunkt der Anlasstat § 66b StGB bereits existierte. Solange der EGMR über Entscheidungen gem. § 66b StGB und deren Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 EMRK noch nicht explizit geurteilt hat, wird man dies bejahen können. Aber auch dann, wenn ein Urteil vorliegt, das einen Konventionsverstoß feststellt, hat aus den vorstehend skizzierten Gründen das Parlament die Verantwortung für schwierige Abwägungsentscheidung zu übernehmen.

2. Kriminalpolitische Überlegungen Erwogen wird, durch eine Umgestaltung der Verwahrungspraxis die Sicherungsverwahrung aus dem Bereich dessen herauszunehmen, was der EGMR als „penalty“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK einordnet. So haben Rechtspolitiker der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, ein neues System der „Sicherungsunterbringung“ mit anderen Anordnungs- und Vollzugsregeln, u.a. mit Ausweitung des Therapieangebots, zu schaffen.40 Damit wäre allerdings nicht zu bewirken, dass der EGMR keine Einwände gegen fortgesetzte Freiheitsentziehung bei Altfällen mehr hätte. Vielleicht würde (selbst das ist nicht genau prognostizierbar) das Gericht unter solchen Umständen nicht mehr einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK annehmen. Keinen Einfluss hätten Änderungen der Verwahrungspraxis jedoch auf die Beurteilung nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK. Solange der EGMR darauf besteht, dass die Verantwortung beim Gericht, das den Schuldspruch fällt, liegen muss, muss damit gerechnet werden, dass weitere Beschwerden von denjenigen, die von der Änderung des § 67d StGB betroffen sind, erfolgreich sind. Und dasselbe gilt für die nachträgliche Sicherungsverwahrung, sowohl in Alt- als auch in Neufällen. Besser vereinbar mit der Position des EGMR sind die im Juni 2010 von der Bundesjustizministerin vorgelegten Eckpunkte zur Reform der Sicherungsverwahrung, in denen die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und ein Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vorgeschlagen wird.

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Positionspapier der Rechtspolitiker der CDU/CSU-Fraktion vom 8. 6. 2010.

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VI. Schlussbemerkungen Das Urteil M. v. Germany ruft heterogene Reaktionen vor. Vertreter des Völker- und Europarechts, die schon die Görgülü-Entscheidung des BVerfG als zu defensiv gegenüber völkerrechtlichen Vorgaben kritisiert haben,41 werden von einer Entscheidung angetan sein, die über die deutsche Verfassungsrechtsprechung hinwegfegt. Wer der EMRK übergesetzlichen Rang beimisst,42 hat ebenfalls keine grundsätzlichen Zweifel an der Legitimität einer weitgehenden Korrektur nationaler Kriminalpolitik. Der Anspruch des EGMR, dem Menschenrechtsschutz Geltung zu verschaffen, bedeutet in, aber auch jenseits der rechtswissenschaftlichen Diskussion Vorteile für den Grad der Anerkennung, die seine Urteile finden (im Hinblick auf die gesamte Medienöffentlichkeit wird sich das allerdings drastisch ändern, wenn ein aufgrund des Urteils Entlassener ein Gewaltverbrechen begeht). Grund zur uneingeschränkten Freude ist M. v. Germany und der sich in dieser Entscheidung zeigende wachsende Einfluss des EGMR aber nicht. Der für das Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft zentrale Bereich der Kriminalpolitik wird dadurch zunehmend demokratischen Entscheidungsstrukturen entzogen. In der Literatur steht das Verhältnis von BVerfG und EGMR im Zentrum der Aufmerksamkeit43 – das gravierendere Problem liegt jedoch in der Schwächung des Demokratieprinzips durch eine Entmachtung der Parlamente. Die breitere Diskussion über das angemessene Verhältnis von Legislative und Judikative kann hier nicht aufgenommen werden.44 Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der Diskussionsbedarf wächst, wenn weitere Faktoren hinzutreten: unzureichende Überzeugungskraft der Urteile des EGMR wegen des oberflächlichen Niveaus der Begründungen; Zweifel, ob die vom Gericht gestellten Ansprüche an die Rechtsstaatlichkeit von Freiheitsentziehungen auf einem in sich konsistenten Konzept beruhen; und die Tendenz in der EGMR-Rechtsprechung, bipolare Strukturen statt komplexer mehrpoliger Verhältnisse in den Vordergrund zu stellen.45 41 Klein JZ 2004, 1176, 1178; Cremer EuGRZ 2004, 683 ff.; Pernice EuZW 2004, 705; Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2005, 15, 19; Walther in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 31 Rn. 12; Heckötter Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 188 ff.; Schilling (Fn. 35), S. 189 ff. 42 Giegerich in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 2 Rn. 47 ff. 43 Heckötter (Fn. 41); Schilling (Fn. 35); Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, 2009. 44 S. dazu Schlaich VVDStRL 39 (1981), 99, 106 ff.; Möllers Die drei Gewalten, 2008, S. 136 ff., 209 ff. 45 Hoffmann-Riem EuGRZ 2006, 492, 497.

Bemerkungen zum EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung

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Sollte der deutsche Gesetzgeber die nachträgliche Sicherungsverwahrung zugunsten einer Ausweitung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung abschaffen, wie dies die Bundesjustizministerin vorschlägt, würde dies vermutlich Kritiker der Sicherungsverwahrung erfreuen. Allerdings ist vor dem Plädoyer für diese Lösung zu bedenken: Eine wahrscheinliche Folge wäre, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten dadurch stark anwächst. Wissen Tatrichter, dass eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung unter keinen Umständen mehr möglich ist, und werden gleichzeitig die Anforderungen für vorbehaltene Sicherungsverwahrung gesenkt, ist mit einer deutlich höheren Zahl von „sicherheitshalber“ getroffenen Entscheidungen nach § 66a StGB zu rechnen. In der Folge wäre dann unvermeidbar, dass von diesem Vorbehalt tatsächlich auch öfter Gebrauch gemacht wird, weil der bereits formulierte Gefährlichkeitsverdacht nicht mehr auszuräumen ist.

„Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen KRISTIAN HOHN

Unter der Leitung der Jubilarin hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zahlreiche wegweisende Entscheidungen gefällt, die unser Verständnis vom Strafgesetz maßgeblich geschärft haben. Zu diesen gehört auch das vielfach besprochene – und gescholtene – Urteil in Sachen „Siemens“.1 Den zahlreichen Anmerkungen und Besprechungen2 soll hier keine weitere hinzugefügt werden. Doch die Entscheidung führt zu einer interessanten rechtlichen Verwicklung, der bislang in der Diskussion keine so rechte Beachtung geschenkt worden ist: Die „Fronten“ im Streit um die Reichweite der Tatbestände der Untreue sind einigermaßen „verhärtet“.3 Da kann es schon einmal vorkommen, dass man aneinander vorbeiredet. Die Kritik an der Annahme des Senats in dem zitierten Urteil, das Einrichten bzw. Unterhalten einer schwarzen Kasse4 könne den Tatbestand der Untreue erfüllen, hat sich in der Hauptsache an dem Begriff der Dispositionsmöglichkeit entzündet, den das Gericht zur Begründung eines Vermögensnachteils heranzieht. Von hier ausgehend hat 1

BGHSt 52, 323 ff. Bernsmann, GA 2009, 296; Brammsen/Apel, WM 2010, 781; Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94; Jahn, JuS 2009, 173; Knauer, NStZ 2009, 151; Marxen/Taschner, EWIR 2009, 253; Otto, WuB IX. § 266 1.09; Ransiek, NJW 2009, 95; Reinhold, HRRS 2009, 107; Rönnau, StV 2009, 246; Satzger, NStZ 2009, 297; Schlösser, HRRS 2009, 19; Schünemann, StraFo 2010, 1, 7 ff.; Sünner, ZIP 2009, 937. 3 Die Literatur beklagt vor allem eine generelle Tendenz der Rechtsprechung zu ausweitender Anwendung des § 266 StGB sowie den Versuch, die Untreuetatbestände auch in Bereichen fruchtbar zu machen, in denen bereichsspezifische Strafvorschriften (wie etwa Korruptionstatbestände) wegen Beweisschwierigkeiten versagen, s. zur Diskussion etwa Beulke, in: FS Eisenberg, 2009, S. 245 ff., Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8 ff. (auch zu der unter den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs geführten Diskussion um den Begriff der Vermögensgefährdung) und Saliger, in: SSW, § 266 Rn. 8 u. 76 f. jeweils m. w. N. 4 Zu dem Begriff und den verschiedenen Spielarten der schwarzen Kasse s. näher Weimann, Die Strafbarkeit der Bildung sogenannter schwarzer Kassen gem. § 266 StGB (Untreue), Diss. Tübingen 1996, S. 12 f. und Strelczyk, Die Strafbarkeit der Bildung schwarzer Kassen, Diss. München 2008, S. 2 ff. Zu Einsatzzwecken schwarzer Kassen s. auch Bernsmann, GA 2009, 296, 300 f. 2

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sich die Diskussion um die Berechtigung dieses Standpunkts auf die bekannten Pfade begeben, die von Rechtsprechung und Literatur in der Diskussion um die Einordnung der sog. Haushaltsuntreue ausgetreten worden sind.5 Möglicherweise ist dabei übersehen worden, dass der 2. Strafsenat mit der „Möglichkeit zur Disposition über das Vermögen“ einen rechtlichen Sachverhalt bezeichnet, der mit dem, was von manchem Kritiker unter diesem Begriff verstanden wird, nicht identisch ist; Gericht und seine Kritiker also nicht um die richtige Deutung des Begriffs „Disposition“ und dessen Bedeutung für das Vermögen einer Person streiten, sondern Verschiedenes meinen, obwohl sie vordergründig von Demselben zu reden scheinen.

I. Die Positionen im Streit um die Bedeutung des Verlusts der Dispositionsmöglichkeit 1. Zweiter Strafsenat: Verlust der Dispositionsmöglichkeit als (endgültiger) Vermögensschaden Wenn im Folgenden nun die Überlegungen des Gerichts in diesem einen Punkt der Begründung eines Vermögensschadens nachgezeichnet werden, so muss gegenüber der Entscheidung, der dieser Gedankengang entnommen ist, vorab eine Vereinfachung vorgenommen werden: Der dem Senat vorgelegen habende Sachverhalt zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Angeklagten die schwarze Kasse nicht selbst angelegt, also selbst keine Mittel der Siemens AG abgezweigt und einem nur ihnen bekannten Konto zugeführt hatten. Vielmehr hatten sie eine schon bestehende – von einem Vorgänger mit anderweit nicht verbrauchten Geldern eingerichtete – schwarze Kasse übernommen. Mit dieser Besonderheit ist ein anderenorts hinlänglich erörtertes Problem des Unterlassungsdelikts verknüpft,6 das hier nicht weiter von Belang sein soll. Im Rahmen dieser Überlegungen geht es 5

Vgl. Saliger, in: SSW, § 266 Rn. 94 ff. m. zahlreichen N. S. dazu Rönnau, StV 2009, 246 f., Satzger, NStZ 2009, 297, 301 u. 302 und Schünemann, StraFo 2010, 1, 9 f., die annehmen, es fehle an einem durch das Unterlassen verursachten (gegenüber dem schon durch das Einrichten angerichteten weiteren) Schaden; anders Ransiek, NJW 2009, 95, 96: ein Vermögensnachteil entstehe auch dann, wenn der Treunehmer eine kontrafaktische, weil in ihrer Realisierung von der Willkür des Treunehmers selbst abhängige Chance seines Geschäftsherrn auf Rückerlangung der verborgenen Mittel vereitele. Interessanterweise dient dieselbe Begründung – lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen verwendet – den Kritikern der Siemens-Entscheidung zur Ablehnung eines Vermögensnachteils auch beim Einrichten der schwarzen Kasse, wenn verlangt wird, es müsse die Absicht des Kassenwarts zur Verwendung der Mittel zugunsten des Geschäftsherrn berücksichtigt werden, s. dazu unten 2. und II. 1. 6

„Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen

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allein um die Frage, ob der Geschäftsführer durch das Einrichten oder (was rechtlich dasselbe bedeutet) das Aufstocken einer schwarzen Kasse einen Vermögensnachteil verursacht. Dabei sei unter einer schwarzen Kasse ein Konto verstanden, auf dem Gelder des Geschäftsherrn vor diesem verborgen gehalten werden (das diesem also unbekannt ist), um damit Tätigkeiten zu finanzieren, die im Zusammenhang mit dem Auftrag/den Aufgaben stehen, den/die der Verbergende für den Geschäftsherrn erbringt.7 Der Senat begründet – übersetzt man die auf das Unterlassen der ordnungsgemäßen Verbuchung gemünzten Ausführungen auf den Fall der Einrichtung einer außerhalb des gewöhnlichen Buchungs- und Kontensystems geführten Kontos – den Erfolg der § 266 StGB mit folgenden Überlegungen:8 Wer eine schwarze Kasse einrichtet, entziehe ihrem Inhaber9 auf Dauer die Verfügungsmöglichkeit über die vor ihm verborgenen Vermögenswerte, weil dieser darauf nicht Zugriff nehmen kann, und gefährde so nicht nur das betreute Vermögen, sondern verursache einen endgültigen Vermögensnachteil, so dass es auf die spätere Mittelverwendung nicht ankomme. Mehr noch: Auch der mit der Einrichtung der Kasse verfolgte Zweck spiele keine Rolle; irrelevant ist also, ob die Verwalter der schwarzen Kasse die gute Absicht hegen, das dort geparkte Geld für wirtschaftlich sinnvolle oder gar letztlich erfolgreiche Unternehmungen zugunsten des Geschäftsherrn zu verwenden. Der Senat hat versucht, vorhersehbare Kritik an seinem verwendungs- und verwendungszweckunabhängigen Standpunkt vorwegzunehmen und dem auf den ersten Blick naheliegenden Einwand vorab zu begegnen, er bestrafe bloße Einschränkungen der Dispositionsmöglichkeit als Vermögensschädigung und vermische so die Tatbestandsmerkmale Vermögensnachteil und Pflichtverletzung:10 Von der bloßen Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit könne dann keine Rede sein, „wenn der Vermögensinhaber infolge von Manipulationen des Treunehmers von Vermögenswerten keine Kenntnis und auf sie keinen Zugriff erlange [ ... ].“ „Denn“, so führt der Senat weiter aus, „die Möglichkeit zur Disposition über das eigene Vermögen gehört zum Kern der von § 266 StGB geschützten Rechtsposition.“11 Diese letzte Aussage muss im Zusammenhang mit einer weiteren interpretiert werden: Schon zuvor bemerkt das Gericht: 7 Vgl. Weimann (Fn. 4), S. 12 f. Ob der Verbergende dabei spezifische Pflichten gegenüber dem Geschäftsherrn verletzt (so etwa die Definitionen bei Saliger, NStZ 2007, 545, 547 oder Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713) spielt hier eine nur untergeordnete Rolle. 8 BGHSt 52, 323, 336 – Rn. 42 – 47. 9 Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 17 bezweifelt allerdings schon, dass der Treugeber Inhaber der in einer schwarzen Kasse enthaltenen Gelder ist. 10 So der von Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 70 gegenüber den Aussagen der Vorinstanz erhobene Vorwurf. 11 BGHSt 52, 323, 339 – Rn. 47.

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„Die Bestimmung über die Verwendung des eigenen Vermögens obliegt dem Vermögensinhaber, im Fall einer Kapitalgesellschaft dessen zuständigen Organen.“12

2. Kritik aus der Lehre Mit dem Satz über die Möglichkeit zur Disposition hat der Senat die Hauptstoßrichtung der Kritik aus der Lehre vorprogrammiert: Indem er es nicht bei dem schlichten Hinweis auf fehlende Kenntnis und mangelnden Zugriff des Vermögensinhabers belässt, stattdessen die Dispositionsmöglichkeit zum selbständigen Teil des Schutzgutes der Untreue zu erheben scheint, provoziert er geradezu jenen Widerspruch, den das Siemensurteil in der ganz überwiegenden Mehrheit der Anmerkungen und Besprechungen erfahren hat. Die Autoren bemängeln an der Annahme eines Vermögensnachteils in der vollen Höhe des Kasseninhalts vor allem drei Dinge: Der Bundesgerichtshof schließe unzulässigerweise von der durch Missachtung siemensinterner Verbote zum Führen schwarzer Kassen13 begangenen Pflichtverletzung auf den Vermögensnachteil, wenn das Gericht auf den Verlust der Dispositionsmöglichkeit abstelle – dadurch werde aus § 266 StGB ein Delikt gegen die Freiheit des Vermögensinhabers, autonom über die Zusammensetzung seines Vermögens und die mit seinem Einsatz verfolgten Zwecke zu entscheiden, obwohl es bei dieser Vorschrift wie bei allen anderen Vermögensdelikten i. e. S. doch eigentlich allein um den Schutz des Vermögensinhabers vor einem Ärmerwerden gehe.14 Insoweit sehen die Kritiker im Einrichten einer schwarzen Kasse die bloße Anmaßung der dem Rechtsgutinhaber vorbehaltenen Zwecksetzungsbefugnisse: Indem die Treunehmer die Vermögenswerte vor ihrem Inhaber verbergen, 12

BGHSt 52, 323, 337 Rn. 44. Dass es ein solches ernstgemeintes Verbot gegeben habe, wird vielfach bezweifelt – s. nur Schünemann, StraFo 2010, 1, 9 m. Fn. 47 und Sünner, ZIP 2009, 937, 938 f., beruht aber auf Erkenntnissen bzw. Vermutungen, von denen sich die Tatsacheninstanz nicht hat überzeugen können, so dass die Zweifel ohne Bedeutung sind. Bernsmann, GA 2009, 296, 308 ff. bezweifelt das Vorliegen einer Pflichtverletzung (für den Fall, dass der Vorstand selbst die schwarze Kasse eingerichtet hätte) hingegen schon deshalb, weil und soweit diese wirtschaftlich betrachtet im Unternehmensinteresse dauerhafter Rentabilität eingesetzt wird. Das ist konsequent, sofern man die hier dargestellte Kritik an der Annahme eines Vermögensnachteils teilt. 14 Bernsmann, GA 2009, 296, 303 f.; Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Jahn, JuS 2009, 173, 175; Knauer, NStZ 2009, 151, 153; Otto, WuB IX. § 266, StGB 1.09; Reinhold, HRRS 2009, 107, 109 f.; Satzger, NStZ 2009, 297, 303; Schlösser, HRRS 2009, 19, 23 f.; abschwächend, im Ergebnis aber ähnlich Rönnau, StV 2009, 246, 249; auch Brammsen/Apel, WM 2010, 781, 785, die allerdings unabhängig davon einen Vermögensnachteil – wie der Senat – schon in der Verschleierung der Schwarzgelder sehen. Anders Ransiek, NJW 2009, 95 f., der dem Senat uneingeschränkt zustimmt. 13

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schaffen sie sich einen Fonds, bei dem allein sie anstatt des Treugebers über die Verwendung der darin enthaltenen Mittel entscheiden. Es liegt in der Konsequenz dieser Kritik, dass erst die spätere tatsächliche Verwendung dieser Mittel den Vermögensinhaber endgültig ärmer macht, so dass der mit Einrichtung der Kasse einhergehende Kontrollverlust allenfalls eine Vermögensgefährdung sein könne, was allerdings voraussetzt, dass sich eine konkrete Gefahr des Verlusts feststellen lässt. Dabei soll es dann auf die von den Treunehmern verfolgten Zwecke oder etwa die Möglichkeit des ungehinderten Zugriffs Dritter auf die Kasse (etwa in Form der von einem Gläubiger des Treunehmers betriebenen Kontenpfändung, wenn das Konto auf dessen Namen lautet) ankommen. Nach dieser Lesart ist die Einrichtung der schwarzen Kasse also nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für einen Vermögensverlust und damit die typische Situation einer „bloßen“ Vermögensgefährdung.15 In der Sache vermuten die Kritiker, das Gericht habe aus dem Vermögensdelikt Untreue einen Korruptionsvorfeldtatbestand gemacht, mit dem sich Bestechungen (im geschäftlichen Verkehr) auch dort verfolgen lassen, wo die Unrechtsvereinbarung nicht nachweisbar oder der Bestechungstatbestand anderweit nicht erfüllt ist.16 Einen Teil der Kritiker treibt im Zusammenhang mit dieser Anmaßung von Dispositionsmacht gerade bei einer Kapitalgesellschaft als Vermögensinhaberin noch etwas anderes um:17 Wer als Angestellter einer Kapitalgesellschaft mit deren Vermögen18 ein geheimes Konto eröffnet oder solches Vermögen darauf „einzahlt“, tut äußerlich zunächst nichts Ungewöhnliches, also nichts, was gehorsame Angestellte nicht auch täten. Der einzige Unterschied zu einem treuen Angestellten besteht darin, dass dieser dabei buchhalterische Transparenz walten lässt. Allein dieser Umstand – gegebenenfalls flankiert dadurch, dass das Konto unter einem ande15

Schünemann, StraFo 2010, 1, 8 f. Bernsmann, GA 2009, 296, 304; Marxen/Taschner, EWIR 2009, 253, 254; Satzger, NStZ 2009, 297, 298 f. 17 S. zum Folgenden mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Satzger, NStZ 2009, 297, 303; Schünemann, StraFo 2010, 1, 8 f.; Sünner, ZIP 2009, 937, 939. 18 Es ist allerdings zweifelhaft, ob es sich bei den Geldern, die sich auf schwarzen Konten befanden, die schon ein Angestellter der auf die Siemens AG konsolidierten Kraftwerk Union AG angelegt hatte, überhaupt um Vermögen der Siemens AG gehandelt hat. Nimmt man wie der Senat an, durch Anlegen der schwarzen Kasse entstehe ein Verlust in Höhe des Kasseninhalts, scheiden die dort geparkten Mittel endgültig aus dem Vermögen des Geschäftsherrn aus. Da dies bereits zu Zeiten der Kraftwerk Union AG geschehen war, spricht einiges dafür, dass die Siemens AG nach den vom Senat gesetzten Maßstäben nie Inhaberin der Mittel geworden ist, so dass man anders als die in Fn. 6 Genannten nicht erst die Verursachung einer Vermögensschädigung durch Unterlassen, sondern bereits die Existenz eines zur Tatbestandsverwirklichung geeigneten Rechtsgutobjekts verneinen müsste. 16

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ren Namen als dem des Geschäftsherrn geführt wird – sorgt nach der Auffassung des 2. Strafsenats für den vollständigen Entzug der Dispositionsmöglichkeit. Dem entgegen die Kritiker, der Vermögensinhaber bzw. bei einer Aktiengesellschaft der Vorstand als das Organ, das die Dispositionsmacht für die Vermögensinhaberin ausübe,19 wisse ohnehin grundsätzlich nicht über das Schicksal jedes einzelnen Vermögenswerts Bescheid und habe vielfach auch kein Interesse daran. Gerade in Unternehmen von der Größe einer Siemens AG mit einem Umsatz von mehr als 70 Mrd. € sei es bereits aufgrund der schieren Menge an Vermögensbewegungen ausgeschlossen, dass die Mitglieder des Vorstands Kenntnis vom Verbleib oder Einsatz sämtlicher Mittel der Gesellschaft hätten. Die fehlende Kenntnis, die der Senat als Voraussetzung für den Entzug der Dispositionsmöglichkeit ausgemacht hat, sei danach als Folge arbeitsteiligen Wirtschaftens ein alltäglicher Zustand, bei dem niemand auf die abwegige Idee käme, den Entzug von Disposi-ionsmacht und einen Vermögensnachteil anzunehmen. Dieser Einwand zielt auf die faktischen Voraussetzungen von Dispositionsmacht: Ist Unkenntnis des Vermögensinhabers von den einzelnen Vermögensgegenständen der Regelfall, kann das Verbergen eines einzelnen solchen Vermögens-gegenstands durch Transfer in eine schwarze Kasse diesen Zustand nicht verschlechtern. Auf die Spitze getrieben ließe sich sagen, dass aus Sicht des Inhabers eines (großen) Vermögens, dessen Verwaltung er in andere Hände gelegt hat, alle bzw. zumindest die meisten im Zuge dieser Verwaltung angelegten Kassen schwarz sind, weil nur dem Verwalter bekannt. Teilweise wird noch weiter gegangen und werden leitenden Angestellten wie dem angeklagten Bereichsvorstand – im Fall der Siemens AG dem Bereichsvorstand der (rechtlich unselbständigen) Abteilung Power Generation, ein Geschäftsbereich mit einem Umsatz von damals 10 Mrd. € und 30.000 Mitarbeitern20 – selbst Dispositionsbefugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung zugestanden, sofern sie – etwa als kaufmännische Leiter – autorisiert sind, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen, also die Vermögensinhaberin unbegrenzt rechtsgeschäftlich verpflichten können.21 Dieser Einwand zielt nicht auf die faktische, sondern auf die rechtliche Dimension der Dispositionsbefugnisse: Wem schon vor der fraglichen Handlung Dispositionsbefugnisse vom Inhaber des betreuten Vermögens oder dem für diesen handelnden Organ eingeräumt worden sind, kann diese 19

So Schünemann, StraFo 2010, 1, 9. Vgl. BGHSt 52, 323, 325 – Rn. 8. 21 Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713, 734; Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 71, wobei die beiden zuletzt Genannten annehmen, mit der Einräumung solcher Befugnisse gehe eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Vermögensinhabers und damit eine ihm zurechenbare Kontrollaufgabe einher. 20

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dem Vermögensinhaber dann nicht nehmen, wenn er sich innerhalb der ihm eingeräumten Zuständigkeiten hält.22

II. Analyse der Einwände Es spricht viel dafür, dass die Einwände letztlich an den rechtlichen Feststellungen des Siemensurteils vorbeigehen. So unterschiedlich die Vorwürfe auch sind – sie fußen zu einem großen Teil auf einem Missverständnis oder zumindest auf dem Mangel an Übereinkunft darüber, was der Begriff „Disposition“ meint.

1. Erster Einwand: § 266 StGB schützt nicht vor isolierten Angriffen auf die Dispositionsfreiheit Es darf mittlerweile zu dem Schatz gesicherter Erkenntnisse zählen: Vermögensdelikte i. e. S. schützen den Rechtsgutinhaber allein vor Schmälerungen seines Vermögens, nicht aber vor reinen Beeinträchtigungen seiner Dispositionsbefugnis. Obwohl die Freiheit, über den Einsatz eigener Güter zu entscheiden, beim Vermögen ebenso wie bei anderen Individualrechtsgütern allein dem Rechtsgutinhaber zusteht, sind isolierte Verletzungen dieses Rechts lediglich als Nötigung oder Wucher verboten. Wer den Vermögensinhaber durch Täuschung über den Urheber eines Gemäldes dazu bringt, statt eines „Macke“ einen von dem Vermögensinhaber nicht sehr geschätzten „Marc“ zu erwerben, begeht unabhängig von Fragen zur Absicht rechtswidriger Bereicherung keinen Betrug, wenn der Erwerber für den „Marc“ nicht zu viel bezahlt. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geht im Grundsatz von dieser Regel aus, wie sich an den Entscheidungen zur Haushaltsuntreue ablesen lässt. Auch das Gericht hält reine Angriffe auf die Dispositionsbefugnis des Budgetverantwortlichen nicht für ein Vermögensdelikt; hinzutreten muss jeweils eine Vermögensminderung.23 Der Vorwurf wäre also berechtigt, ginge es dem 2. Strafsenat bei seiner Feststellung vom Entzug der Dispositionsmöglichkeit tatsächlich um die Dispositionsfreiheit in Sinne autonomer Zwecksetzungsmacht, wie sie allein dem Inhaber eines Individualrechtsguts zukommt. Doch das ist nicht der 22

Schünemann, StraFo 2010, 1, 9; so auch schon Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 70 f. BGHSt 43, 293, 297, BGH NJW 2003, 2179, 2180 jew. m. w. N.; dabei geht es in der Hauptsache um Einschränkungen der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit des Vermögensinhabers durch die Fehlleitung der Haushaltsmittel, wie eine Liquiditätskrise, die dazu zwingt, teure Kassenkredite aufzunehmen; s. dazu auch Schlösser, HRRS 2009, 19, 27. 23

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Fall: Zwar ist das Gericht an diesem Missverständnis nicht ganz unschuldig, wenn es zur Begründung, die Siemens AG sei durch das Verhalten der Angeklagten ärmer geworden, auf den Entzug der Dispositionsmöglichkeit abstellt, was von manchem Autor recht freimütig mit Dispositionsbefugnis24 oder Dispositionsfreiheit25 übersetzt wird. Auch ist der Begriff der Disposition im Strafrecht – vor allem im Zusammenhang mit der Einwilligungsdogmatik – bereits in dem oben genannten Sinne besetzt.26 Doch bei genauerer Besichtigung zeigt sich, dass im Urteil keineswegs diese allein dem Vermögensinhaber zustehende Rechtsmacht gemeint ist: Zwar heißt es auf S. 337 in Rn. 44, die Bestimmung über die Verwendung des eigenen Vermögens obliege dem Vermögensinhaber. Und es spricht Einiges dafür, dass an dieser Stelle tatsächlich echte Dispositionsfreiheit gemeint ist, auch wenn es dazu nicht so recht passen will, wenn „für den Fall einer Kapitalgesellschaft dessen zuständigen Organe[n]“ als diejenigen genannt werden, denen diese Verwendungsbestimmung obliege.27 Doch will der Senat mit dieser Feststellung allein den Einwand widerlegen, ein Vermögensnachteil sei ausgeschlossen, wenn der Kassenverwalter die Absicht hege, den Kasseninhalt ausschließlich im Sinne des Vermögensinhabers (nämlich zur Erlangung von Werkverträgen) zu verwenden. Mit anderen Worten: Der Kassenverwalter kann gegen den Vorwurf der Vermögensschädigung nicht einwenden, er habe nur zum Besten des Vermögensinhabers handeln wollen, weil es sich dabei um eine Bevormundung des Vermögensinhabers handelt. Was das Beste ist, bestimmt der Vermögensinhaber selbst. Entscheidend ist für den hier untersuchten Zusammenhang, dass es nicht um die Begründung eines Ärmerwerdens geht, sondern um die Überlegung, ob eine anderweit – nämlich durch Vorenthalten der Kenntnis über finanzielle Mittel und den Entzug der Zugriffsmöglichkeit auf diese – begründete Vermögensminderung wegen der Abwesenheit egoistischer Motive des Täters nicht zu einem Vermögensnachteil erstarkt. Kann die reine Missachtung fremder Zwecksetzungsmacht durch altruistischen, aber selbstherrlichen Umgang mit Vermögensgegenständen einen Vermögensnachteil nicht begründen, so wird diese Selbstherrlichkeit einen solchen auch nicht ausschließen können: Entzieht der Täter dem Vermögensinhaber in einem ersten (noch näher zu beleuchtenden) Schritt Mittel so, das diese zumindest bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht mehr dessen Vermögen zuzuordnen sind, weil sie für ihn wertlos geworden sind, entfällt die Vermögensbeschä24

So etwa Knauer, NStZ 2009, 151, 153; Satzger, NStZ 2009, 297, 303. So Bernsmann, GA 2009, 296, 303; Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Jahn, JuS 2009, 173, 175. 26 S. nur Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 178 m. w. N. 27 Zu den Besonderheiten bei der Wahrnehmung der Dispositionsfreiheit bei Kapitalgesellschaften sogleich unter 2. 25

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digung nicht dadurch, dass in einem zweiten Schritt jene entzogenen Mittel nun zugunsten des ehemaligen Vermögensinhabers eingesetzt werden (sollen). Denn der Täter hat den Schaden im ersten Schritt bereits angerichtet. Darin unterscheidet sich der Fall der schwarzen Kasse von dem aufgedrängten äquivalenten Geschäft.28 Bei letzterem entsteht im Zeitpunkt der Entziehung von Vermögenswerten ein Gegenwert im beanspruchten Vermögen, also mindestens eine werthaltige Forderung oder vermögenswerte Exspektanz. Die Kritiker des Senats setzen die bloße, wenn auch feste Absicht des Kassenwarts zum unternehmensnützlichen Einsatz der Mittel mit einem solchen Anspruch29 gleich und stellen damit eine Grundvoraussetzung jedes Vermögensgegenstands in Frage, wie sie besonders deutlich in der Definition der vermögenswerten Exspektanz hervortritt: Der Umgang mit dem Gegenstand bzw. die Erlangung des Vollrechts, auf den bzw. das sich die Exspektanz bezieht, muss vom Willen desjenigen, von dem es erlangt werden soll, im Grundsatz unabhängig sein, anderenfalls dem Inhaber die Herrschaft über den Gegenstand fehlt.30 Aus der zitierten Textstelle des Urteils lässt sich also nicht herleiten, der Senat habe mit dem an anderer Stelle (Rn. 47) festgestellten Entzug der Dispositionsmöglichkeit – ein Begriff, der im Übrigen in Rn. 44 auch nicht vorkommt – die Freiheit des Vermögensinhabers zu autonomer Interessendefinition in wirtschaftlichen Angelegenheiten gemeint. Entscheidend ist vielmehr, dass der 2. Strafsenat den Verlust der Dispositionsmöglichkeit damit begründet, der Treunehmer verhindere durch das Einrichten der schwarzen Kasse, dass der Vermögensinhaber Kenntnis und Zugriff auf die in der Kasse enthaltenen Vermögenswerte erhält.31 Es geht also nur in zweiter Linie um einen Verlust von Dispositionsfreiheit, der sich erst als Folge des Vorenthaltens von Kenntnis und Zugriff einstellt. In den Fällen der bloßen zweckverfehlenden Mittelverwendung, bei der der Treunehmer ihm anvertraute Vermögenswerte anders verwendet als er soll – 28

Anders Bernsmann, GA 2009, 296, 303 f. Auch der Vermögensinhaber hat natürlich gegenüber dem Einrichter einer schwarzen Kasse einen Anspruch auf „Rückschaffung“ der Mittel in den offiziellen Buchhaltungskreislauf. Doch dieser ist, weil es sich gerade um eine verdeckte Mittel„verwahrung“ handelt, genauso wenig werthaltig, wie es der Anspruch des Betrugsopfers gegenüber dem Täuschenden ist. 30 Vgl. Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, Diss. München 1993, S. 117 f.; Schünemann, in: LK, § 266 Rn. 135. Daher widerlegt der Einwand von Bernsmann, GA 2009, 296, 304, der Angeklagte im Siemensverfahren habe die Kasse für das Unternehmen eingesetzt, was er genauso gut auch schon in dem Zeitpunkt hätte tun können, als er die Kasse entdeckte (ihm von seinem Vorgänger von deren Existenz berichtet wurde), den Standpunkt des Gerichts nicht, auf den geplanten Einsatz könne es nicht ankommen. Ähnlich wie hier schon Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 18. 31 BGHSt 52, 323, 338 f. – Rn. 47. 29

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etwa entgegen haushaltsrechtlicher Vorgaben, beseitigt der Einrichter der schwarzen Kasse bereits die Grundlage von Dispositionsfreiheit: Wer von einem Vermögensgegenstand nicht weiß und davon auch nicht wissen kann, kann über diesen Gegenstand nicht verfügen.32 Das gilt in einem erhöhten Maße bei abstrakten Vermögensgegenständen wie Forderungen oder sonstigen Rechten.33 Die Voraussetzungen der Freiheit sind ersichtlich nicht mit der Freiheit selbst identisch. Das Verstecken von Buchgeld ist der klassischen Herbeiführung eines Vermögensschadens durch Verschwenden sehr viel ähnlicher als der selbstherrlichen Mittelverwendung, weil der Treunehmer beim Verstecken und Verschwenden die Basis der Dispositionsfreiheit verkleinert, während sie bei der nur zweckverfehlenden Mittelverwendung unverändert bleibt. Dem Vermögensinhaber wird in diesem letzten Fall lediglich ein Vermögensgegenstand aufgezwungen, den er nicht haben will, aber jederzeit in etwas tauschen könnte, das ihm zusagt.34 Dies ist ihm nach einem Verstecken und einem Verschwenden gleichermaßen nicht möglich. Jemanden „ärmer Machen“ als Voraussetzung der zum Vermögen aufgestellten Verbote i. e. S. heißt nicht weniger, als dem Vermögensinhaber die Basis seiner Freiheit in wirtschaftlichen Dingen zu entziehen. Aber eben auch nicht mehr. Danach ist das Einrichten einer schwarzen Kasse mit Mitteln einer Aktiengesellschaft kein isolierter Entzug der Dispositionsbefugnis im Sinne autonomer Zwecksetzungsmacht. Es betrifft vielmehr einen Aspekt der Geschäftsführungsbefugnis, die das AktG den Organen der Aktiengesellschaft in Form einer Kompetenzverteilungsordnung einräumt, damit die Gesellschaft überhaupt handlungsfähig ist: Eine juristische Person kann nur durch ihre Organe handeln – das gilt auch dann, wenn man dieses Organhandeln als ein Handeln des Verbands selbst ansieht.35 Dieser Befund trifft natürlich auch zu auf Kenntnisse als Voraussetzung solcher Handlungsfähigkeit. Wer die Existenz von Vermögenswerten der Gesellschaft verbirgt, macht es dem Vorstand unmöglich, insoweit die Geschäfte der Gesellschaft zu führen und nimmt dadurch der Gesellschaft ihre Handlungsfähigkeit. Der 2. Strafsenat macht aus § 266 StGB nach alledem kein Entscheidungsfrei-

32

Vgl. Rönnau, StV 2009, 246, 249. S. dazu Bublitz/Gehrmann, wistra 2004, 126, 130 f.. 34 Dagegen wende man nicht ein, der aufgezwungene Vermögensgegenstand lasse sich häufig nicht so ohne weiteres (zurück-)tauschen. In einem solchen Fall liegt schon deshalb ein Vermögensnachteil vor, weil der Marktpreis des aufgezwungenen Gegenstands niedriger sein muss als der des dafür hingegebenen Vermögensstücks, denn „Marktpreis“ und „Tauschbarkeit“ sind Synonyme. 35 Vgl. zum Streit um Verbandshandeln oder zugerechnetem Fremdhandeln zusammenfassend K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 I m. w. N. 33

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heitsgefährdungsdelikt,36 sondern lastet dem Einrichter einer schwarzen Kasse an, dem Vermögensinhaber die Entscheidungsfähigkeit genommen zu haben, soweit es den Inhalt der Kasse betrifft. Weil es sich dabei um einen Aspekt der Geschäftsführung handelt, kann von Freiheit keine Rede sein: Wenn Organmitglieder im Rahmen ihrer Geschäftsführungsbefugnisse handeln oder Kenntnisse erwerben, sind sie gerade nicht frei von den zum Schutz des fremden Vermögens aufgestellten Verboten (anderenfalls das Verhalten der Organe einer Kapitalgesellschaft von den in § 266 StGB enthaltenen Vorschriften ausgenommen wäre). Nichts anderes gilt für Personen, die ohne Organmitglied zu sein, ihnen – letztlich vom Vorstand kraft seiner Geschäftsführungsbefugnisse – angetragene Aufgaben wahrnehmen. Ist aber das Verhalten aller dieser Personen kein Ausdruck der Dispositionsfreiheit des Rechtsgutinhabers, ist es auch die dabei erfolgende Zurechnung von Handlungen und Kenntnissen nicht. Es betrifft allein deren Voraussetzungen.

2. Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit trotz fehlender Kenntnis Allerdings wird mit dem zweiten aus den Reihen der Lehre erhobenen Einwand bezweifelt, dass es beim Einrichten einer schwarzen Kasse überhaupt zu einem Verlust der Kontrolle und damit der Handlungsfähigkeit kommt. Der Einwand läuft darauf hinaus, dass man jemandem nicht nehmen kann, was dieser ohnehin nicht hat und auch nicht haben muss: An der Kenntnis des Vorstands als dem Organ, das „in letzter Instanz“ für die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft sorgt, ändert sich durch das Verbergen der Vermögenswerte nichts. Wenn die Zurechnung von Kenntnissen regelmäßig keine aktuelle Kenntnis des Vorstands erfordert, muss sie, so lässt sich der Gedanke zu Ende führen, auch dann stattfinden, wenn sich ein Angestellter entschließt, die Vermögenswerte zu verbergen. Zugegeben: Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Vermögensinhabers oder des Vorstands verlangt keine aktuelle Kenntnis von allen Vorgängen. Die Kritiker verschweigen allerdings, dass immerhin Kenntnisnahmemöglichkeit vonnöten ist. Und hierin unterscheidet sich das in einer schwarzen Kasse angelegte Geld von sonstigen dem Vermögensinhaber/Vorstand nicht bekannten Wertgegenständen: Jeder nachgeordnete Mitarbeiter oder Auftragnehmer ist dem Geschäftsherrn oder dem diesen vertretenden Vorstand gegenüber zur Auskunft über das Schicksal der Vermögensgegenstände verpflichtet. Während nun der redliche Mitarbeiter bereit ist, dieser Verpflichtung nachzukommen, so dass nicht nur eine kon36 So aber Jahn, JuS 2009, 173, 175, der damit die hier widerlegte Kritik der Lehre prägnant zusammenfasst.

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trafaktische, sondern eine tatsächliche Chance besteht, über alle Vorgänge Bescheid zu erhalten, fehlt dem Errichter einer schwarzen Kasse37 eine derartige Auskunftswilligkeit, anderenfalls er die Mittel nicht vor der Geschäftsleitung verborgen hätte. Der Fall Siemens zeigt, dass solche Kassensysteme mitunter jahrelang parallel zu der offiziellen Buchhaltung geführt und im Fall des Ausscheidens eines Kassenwarts dem Nachfolger persönlich – und niemandem sonst – übergeben werden.38 Teilweise wird in Bezug auf das Fehlen einer Kenntnisnahmemöglichkeit ergänzend eingewandt, es liege solange eine bloß abstrakte Gefahr des Verlusts von Kontroll- bzw. Dispositionsmöglichkeiten vor, wie der Vorstand nicht konkret „Verwaltungsmacht für den betreffenden Vermögensgegenstand in Anspruch nehmen will“.39 Doch das geht zu weit. Sieht man einmal davon ab, dass unklar bleibt, wie Vorstandsmitglieder konkrete Verwaltungsmacht für einen Vermögensgegenstand beanspruchen sollen können, von dem sie nicht nur nicht wissen, sondern auch nicht wissen können, führen grundsätzlich Durchsetzungshindernisse bei Forderungen zu einer bilanziellen Abwertung auch dann, wenn die Durchsetzung nicht konkret ansteht. Ist das Durchsetzungshindernis wie hier total, muss das zu einer vollständigen Abwertung führen.40 Auch eine Kontrollüberlegung zum Marktpreis dieser Forderung bestätigt das: Einen Marktpreis erhält man immer dann, wenn der betreffende Vermögensgegenstand die Hände wechselt. Ein Teil der schwarzen Kasse bestand schon zu Zeiten der Kraftwerk Union AG, einer hundertprozentigen Tochter der Siemens AG. Außer dem damaligen Kassenwart wusste niemand von deren Existenz.41 Nimmt man einmal an, die Kraftwerk Union AG wäre nicht auf die Siemens AG konsolidiert worden, sondern die Siemens AG hätte die Kraftwerk Union AG von einem Dritten erworben, lässt sich recht sicher sagen, welchen anteiligen Betrag die Siemens AG bzw. die für diese handelnden Personen für diese schwarze Kasse bezahlt hätte. Damit die Organe der Siemens AG überhaupt einen Anlass hätten, darüber nachzusinnen, wie viel die Siemens AG für die in einer schwarzen Kasse zusammengefassten Mittel auszugeben bereit ist, 37 Anderes gilt, wenn es ein unternehmensweites System solcher Kassen und ein entsprechendes Einvernehmen gibt, in das auch der Vorstand einbezogen ist, und die Gelder allein vor den Augen der Strafverfolgungsorgane oder des Steuerfiskus verborgen werden. Doch davon hatte sich die Tatsacheninstanz nicht überzeugen und der 2. Strafsenat in dieser Annahme keine Denkfehler entdecken können (vgl. BGHSt 52, 323, 325 – Rn. 9), was ihn zu einer Aufhebung der Tatsachenfeststellungen befugt hätte. 38 BGHSt 52, 323, 326 – Rn. 11. 39 Schünemann, StraFo 2010, 1, 9; zuvor schon Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713, 735 f., s.a. ders., StV 2009, 246, 249. 40 Ähnlich wie hier schon Ransiek, NJW 2007, 1727, 1728; Brammsen/Apel, WM 2010, 781, 785. 41 BGHSt 52, 323, 326 – Rn. 11.

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müsste man den Sachverhalt so bilden, dass ihnen von den Verantwortlichen der Kraftwerk Union AG Folgendes mitgeteilt wird: Man wisse, dass in der Vergangenheit 12 Millionen Schweizer Franken aus der offiziellen Buchhaltung verschwunden seien. Das Geld sei nirgends wieder aufgetaucht, es bestehe der dringende Verdacht, dass es den Weg in eine schwarze Kasse gefunden hat. Man habe aber keine Kenntnis, wo sich diese Kasse befindet, noch kenne man die Person des Kassenwarts. Man mag das als eine abenteuerlich konstruierte Situation abtun, die sich so selbstverständlich nie abspielen würde. Da es sich jedoch lediglich um eine hypothetische Kontrollüberlegung handelt, ist der Einwand nicht von Belang. Fragt man nun noch einmal, was die Verantwortlichen der Siemens AG für eine Kasse mit 12 Millionen Schweizer Franken auszugeben bereit wären, lautet die Antwort mit ziemlich großer Sicherheit: Nichts!

3. Dritter Einwand: Dispositionsmöglichkeiten lassen sich nur dem entziehen, der sie innehat Der dritte und letzte Haupteinwand ist zweideutig. Soweit er die Annahme betrifft, eine selbstherrliche Anmaßung von Dispositionsmacht müsse ausscheiden, weil der Kassenwart selbst Dispositionsbefugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung der Vermögensangelegenheiten der Gesellschaft innehabe, beruht die Kritik auf einer ungenauen Verwendung des Begriffs „Disposition“, bei dem die Grenzen zwischen der freien Entscheidung eines Vermögensinhabers und der zwar mit einem weiten unternehmensleitenden Ermessen ausgestatteten, aber doch an das fremde Vermögenswohl gebundenen und damit unfreien Geschäftsbesorgung durch den Treunehmer verwischt werden. Soweit mit „Disposition“ die Rechtsmacht des Vermögensinhabers gemeint sein sollte, frei über das Vermögen zu bestimmen,42 kann der Aussage schon deshalb nicht näher getreten werden, weil – bei allem Streit über die Frage, ob bei der AG überhaupt ein Einverständnis in Vermögensschädigungen erklärt werden kann und bejahenden42 So wohl Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98, die annehmen, leitende Angestellte entschieden nach selbstgesetzten Zweckmäßigkeitserwägungen. Ähnlich Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 71, die davon ausgehen, die Befugnisse eines Bereichsvorstands umfassten die Bestimmung dessen, was das Unternehmenswohl sei. Doch derart weitgehende Rechte kommen nicht einmal dem Vorstand als („nur“) geschäftsführendem Organ zu. Der Vorstand hat bei seinen Entscheidungen zwar einen weiten Ermessensspielraum. Doch das bedeutet nicht, er gäbe die Zwecke seines Handelns vor oder legte den Zuschnitt des Unternehmenswohls fest. Seinem Handeln ist das Unternehmenswohl bzw. sog. Unternehmensinteresse vielmehr vorgegeben; das ist im Gesellschaftsrecht allgemein anerkannt, s. nur Spindler, in: MünchKomm AktG, Vor § 76 Rn. 43 u. § 76 Rn. 30 m. w. N., Hüffer, AktG, § 82 Rn. 9, und wird von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG auch vorausgesetzt.

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falls: wer dies statt der handlungsunfähigen Vermögensinhaberin tun kann43 – jedenfalls der Vorstand oder gar leitende Angestellte ohne Organzugehörigkeit dafür sicher nicht in Betracht kommen, wenn man nicht möchte, dass diese sich selbst bei Bedarf ein Einverständnis erteilen und so von dem Verbot des § 266 StGB befreien können. Sollte hingegen mit „Disposition“ lediglich die Befugnis zum Umgang mit dem fremden Vermögen im Rahmen der dem Organ eingeräumten Geschäftsführungskompetenz angesprochen sein, wäre der Einwand ad absurdum geführt, weil sich jedenfalls solche Kassenwarte gerade nicht an die Grenzen ihrer Kompetenzen halten, die entgegen entsprechender Compliancevorschriften eine schwarze Kasse anlegen.44 Auch muss jeden der Versuch überraschen, den Vermögensnachteil damit zu widerlegen, dass sich der Kassenwart pflichtgemäß weil kompetenzwahrend verhält, dem noch die oben wiedergegebene Mahnung in Erinnerung ist, der Vermögensnachteil dürfe nicht schon deshalb bejaht werden, weil sich der Kassenwart (unter Verstoß gegen Compliancevorschriften) pflichtwidrig verhalten hat. Bernsmann und Schünemann haben den auf die normative Dimension der Dispositionsfreiheit zielenden Einwand allerdings noch verfeinert. Sie nehmen an, das Einrichten einer schwarzen Kasse gehe dann nicht mit dem vom 2. Strafsenat angenommenen Verlust der Dispositionsmöglichkeit einher, wenn die Vorstandsmitglieder selbst die Kassenwarte sind bzw. das Ganze auf ihre Veranlassung oder mit ihrem Wissen geschieht.45 Beide unterstellen dem Senat, es gehe bei dem Untreuevorwurf darum, dass gerade der organschaftliche Zugriff auf Vermögenswerte (durch einen nicht organangehörigen Mitarbeiter)46 beseitigt werde. Schünemann ergänzt, Mitglieder des Vorstands könnten eine Untreue durch Einrichten schwarzer Kassen schon per definitionem nicht begehen, weil ihr Handeln und Wollen nach der maßgeblichen gesellschaftsrechtlichen Sichtweise immer das des von ihnen vertretenen Verbands sei.47 Gegen diese Differenzierung zwischen Vorstandsmitgliedern einerseits und sonstigen (leitenden) Angestellten andererseits spricht aber zum einen, dass auch dann, wenn man von einem Verbandswillen und -handeln ausgeht, diese erst das Ergebnis eines Zurechnungsakts sind.48 Dies bei der Frage nach strafrechtlicher Haftung zu überspielen, führte in letzter Konsequenz dazu, dass Vorstandsmitglieder nie Untreue begehen könnten, wäre ihr Verhalten doch gesetzmäßig von 43 S. zu dieser Diskussion statt vieler Rönnau, in: FS Amelung, 2009, S. 247, 250 ff. sowie Hohn, in: FS Samson, 2010, S. 315, 322 ff., jew. m. w. N. 44 Vgl. zur Pflichtwidrigkeit Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713, 721 m. w. N. 45 Bernsmann, GA 2009, 296, 305 f.; Schünemann, StraFo 2010, 1, 8. 46 Unter Berufung auf die Textstelle BGHSt 52, 323, 337 – Rn. 44. 47 Schünemann, StraFo 2010, 1, 8. 48 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 I 2 c.

„Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen

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dem Verbandswillen und damit von einem Einverständnis gedeckt. Zum anderen ist trotz der vom AktG herausgehobenen Rolle des Vorstands als Leitungsorgan gar nicht ausgemacht, dass der Bundesgerichtshof allein den Ungehorsam gegenüber Organen für schadensbegründend hält oder halten sollte. Im Gegenteil liegt es viel näher anzunehmen, es gehe bei der Zugriffs- und Kenntnisnahmemöglichkeit von Vermögenswerten letztlich um die des Verbands selbst. Denn er ist es als Vermögensinhaber letztlich, dem diese Voraussetzungen von Freiheitsbetätigung in wirtschaftlichen Angelegenheiten durch das Verhalten des Vorstands vermittelt werden sollen. Bedient sich der Vorstand anderer Personen zur Aufgabenerledigung im Wege der Arbeitsteilung, so entsteht ein hierarchisches Gebilde, in dem Zurechnungsketten entstehen, die mit jeder weiteren Spezialisierung und Aufgabenaufgliederung länger werden. Jedes Glied der Kette trägt seinen Teil dazu bei, dass dem Verband die angesprochene Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit vermittelt wird, so dass es diese Zurechnung auch dadurch unterbrechen kann, dass es dem nächsthöheren Kettenglied die Zugriffsmöglichkeit nimmt. Besteht aber der Zweck dieser Vermittlung von Kenntnis- und Zugriffsmöglichkeit von unten nach oben allein darin, letztlich dem Verband die Voraussetzungen individueller Freiheit zu gewährleisten, kommt es nicht mehr darauf an, ob man es wegen Besonderheiten in der Position des Vorstands mit Bernsmann und Schünemann für ausgeschlossen hält, seine Mitglieder könnten Vermögensnachteile dadurch bewirken, dass sie sich vom Geschäftsführer zum Geschäftsherrn aufschwingen.49 Auch wenn man meint, das Zurechnungsband zwischen Organmitglied und Gesellschaft lasse sich in einer Rechtsordnung, dem der Gedanke der „ultra vires“ weitgehend fremd ist, auch durch gesteigert rechtswidriges Verhalten nicht zerschneiden, gilt das doch nicht, solange es um das Verhalten nicht organangehöriger Personen geht. Denn in derlei Konstellationen kappt der nicht Organangehörige das Zurechnungsband und nimmt dem Vorstand, der sich hier gleichsam auf die Rolle einer „Zurechnungsvermittlungsstelle“ beschränkt, auf diese Weise schon die Voraussetzungen dieser Rolle.

49 Dieser interessanten Frage kann im Rahmen dieses bescheidenen Beitrags nicht nachgegangen werden; sie muss einer eigenständigen Untersuchung vorbehalten bleiben.

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III. Schlussbemerkung Man muss die vom Senat oder die hier ergänzend angestellten Überlegungen nicht für richtig halten. Doch sie machen deutlich, dass man die Annahme eines (endgültigen) Vermögensnachteils durch das Anlegen einer schwarzen Kasse nicht pauschal als bloße Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit des Vermögensinhabers abtun kann, weil man zwischen der Freiheit selbst und ihren Voraussetzungen unterscheiden muss. Das gilt vor allem dann, wenn der Begriff der Dispositionsfreiheit in wechselnden Bedeutungen verwendet wird. Unter Dispositionsfreiheit, -befugnis, -macht und -möglichkeit sollte ausschließlich die Rechtsmacht des Rechtsgutinhabers zum autonomen Umgang mit seinen Gütern verstanden werden. Wer demgegenüber als Fremder mit Vermögen umgeht, disponiert nicht, sondern geht mit ihm im Rahmen der allgemeinen Schädigungsverbote um, wie sie durch die Grenzen des erlaubten Risikos näher festgelegt werden; und fremd ist in dieser Hinsicht auch das Vorstandsmitglied. Solches Verhalten sollte zur Vermeidung von Missverständnissen nicht mehr als Gebrauchmachen von Dispositionsmöglichkeiten oder Dispositionsbefugnissen bezeichnet werden. Die Überlegungen haben noch ein Weiteres gezeigt: Wenn es um den Umgang mit Vermögen geht, das in Form von Forderungen oder Rechten vorliegt, richtet sich die Verursachung von Vermögensnachteilen nach etwas anderen Regeln als bei Sachen. Der wirtschaftliche Wert einer Forderung ist anders als der eines körperlichen Gegenstands äußerst empfindlich gegenüber Angriffen auf die Realisierbarkeit des darin liegenden Werts. Da diese wiederum ganz wesentlich von der Kenntnis oder Kenntnisnahmemöglichkeit ihres Inhabers von Bestehen, Umfang usw. abhängt, können Handlungen, die dem Vermögensinhaber diese entziehen, durchaus dazu führen, dass der Anspruchsinhaber ärmer wird. Insoweit ließe sich die Untreue durchaus als Bilanzdelikt beschreiben. Aber es bestehen ernsthafte Zweifel daran, die jüngste Rechtsprechung des 2. Strafsenats habe die Untreue wirklich erst zu einem solchen umgeformt,50 zumal dasselbe auch für den Betrug oder die Erpressung gilt. Wer mehr verlangt für die Annahme eines Vermögensnachteils oder –schadens als eine bilanzielle Abwertung, nähert diese Tatbestände den Eigentumsdelikten an.

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So aber kritisch Saliger, in: SSW, § 266 Rn. 77.

Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts* MATTHIAS JAHN

I. Einführung Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts wird schon seit mehr als einem Jahr auf die Praxis gewirkt haben,1 wenn Ruth Rissing-van Saan nach 22 Jahren als Richterin am Bundesgerichtshof Ende Januar 2011, kurz nach Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, in den Ruhestand treten wird. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich bislang noch nicht eingehender zur U-Haft-Reform in ihren Auswirkungen auf den 11. Abschnitt des Ersten Buches der Strafprozessordnung äußern können.2 Ob der 2. Strafsenat unter ihrem seit 2002 bewährten Vorsitz noch Gelegenheit haben wird, zu den das Recht der Strafverteidigung betreffenden Vorschriften dieser Novelle Stellung zu nehmen, ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen naturgemäß offen.3 Der unter reger Beteiligung der Praxis stattfindenden Debatte wäre das zu wünschen. Die Judikatur des 2. Senats verdeutlicht vielfach die fundamentale Bedeutung des Rechts der Strafverteidigung für die Geschicke eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Herausgegriffen sei der Beschluss4 über die zu Recht erfolglose sofortige Beschwerde einer (Ex-) Verteidigerin wegen ihres Ver* Für wichtige Vorarbeiten und Anregungen danke ich meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Richterin Dr. Dana Reichart und Rechtsreferendarin Anja Schaller. 1 Es ist zum 1.1.2010 in Kraft getreten (Art. 8 des Gesetzes, BGBl. I 2009, S. 2274 [2279] v. 31.7.2009). 2 Zum Pflichtverteidigerwechsel nach einer Bestellung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO siehe jedoch die Dokumentation zum Verfahren des BGH-Ermittlungsrichters 2 BGs 73/10 bei Weider, StV 2010, 390. Genauer dazu unten III.1.c. 3 Der Text und die im Apparat nachgewiesenen Links auf Internetquellen befinden sich sämtlich auf dem Stand vom 30.6.2010, in den Fußnoten konnten noch Ergänzungen bis zum 31.8.2010 berücksichtigt werden. 4 BGH, NJW 2006, 2421 m. Anm. Jahn, JZ 2006, 1134 f.

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fahrensausschlusses nach § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO im Mannheimer Revisionistenfall Zündel. Dort heißt es, die Achtung der rechtsstaatlich notwendigen effektiven Strafverteidigung gebiete erhebliche Zurückhaltung bei der gerichtlichen Fremdkontrolle von Verteidigerverhalten, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG. Diesem Grundsatz kann man rückhaltlos zustimmen.5 Der Einfluss des U-Haft-Änderungsgesetzes für die Bedeutung der Strafverteidigung in der Kräftebalance der Strafprozessordnung kann dabei kaum überschätzt werden. Mit der Regelung der frühen Pflichtverteidigung in Haftsachen wurde immerhin eines der Desiderate einer seit Jahrzehnten währenden Reformdiskussion verwirklicht.6 Gleichzeitig liegt mit den Vorschriften der §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO n.F. eine für den Alltag des Strafverfahrens vom Amtsgericht bis zum BGH besonders bedeutsame Neuregelung vor. Deren bisherige Diskussion hat allerdings noch keine klaren oder gar allseitig konsentierten Ergebnisse erbracht. Das ist Anlass genug, die bisherige Debatte darzustellen, den erreichten Meinungsstand zu den neuralgischen Fragen der Reform zu würdigen und im Nachfolgenden durch eigene Vorschläge zu fördern.

II. Überblick über die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung nach den §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO

1. Zur Genese des Kompromisses im geltenden Recht Nach der bis zum 1.1.2010 gültigen Rechtslage war dem inhaftierten Beschuldigten erst nach Vollzug von drei Monaten Untersuchungshaft auf Antrag ein Pflichtverteidiger zwingend beizuordnen (§ 117 Abs. 4 S. 1 StPO a.F.). Diese Regelung wurde nicht nur aus der Verteidigerschaft, sondern auch in Wissenschaft und Rechtspolitik seit langem kritisiert.7 Sowohl 5

Siehe dazu Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, Vor § 137 Rn. 115a und § 138a Rn. 64a. 6 Siehe statt vieler Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010, Rn. 282; Schlothauer, FS Samson, 2010, S. 709 (710 f.); Deckers, StraFo 2009, 441 (444); Tsambikakis, ZIS 2009, 503 (509); Paeffgen, in: SK-StPO, Stand: September 2007, 54. Lieferung, Vor § 112 Rn. 3; zu indistinkt Kotz, NJW 2010, 2028. Zur – ebenfalls – neuen Rechtslage und voraufgegangenen Reformdiskussion in der Schweiz Ruckstuhl, ZStrR 128 (2010), 132 (137 ff.). 7 Für eine möglichst frühe Verteidigerbestellung – mit weiteren Nachweisen – Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 24a. Vgl. auch die Forderungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) aus seinem Bericht an die deutsche Regierung vom 28.7.2006 (dazu Tsambikakis, ZIS 2009, 503 [506 f.]) sowie zur älteren Diskussion Beschlüsse des 65.

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der Strafrechtsausschuss der BRAK8 als auch der DAV9 und Stimmen aus der Wissenschaft10 hatten schon vor dem und im Gesetzgebungsverfahren die Verteidigerbestellung bereits für den Zeitpunkt befürwortet, in dem die Staatsanwaltschaft in der Vorführungsverhandlung Antrag auf Erlass eines Haftbefehls zu stellen beabsichtigt (vgl. §§ 125, 128 Abs. 2 S. 2 StPO). Dennoch haben entsprechende Änderungen zunächst keine Rolle gespielt.11 Erst in seiner Beschlussempfehlung vom 20.5.200912 hatte sich der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages für eine Streichung der Absätze 4 und 5 in § 117 StPO und Modifizierungen der §§ 140, 141 StPO ausgesprochen. Dagegen hielt der Rechtsausschuss des Bundesrates in seiner Beschlussempfehlung vom 26.6.200913 eine Änderung im Hinblick auf die bestehenden Regelungen und – natürlich – die von den Ländern letztlich zu tragenden fiskalischen Lasten nicht für erforderlich. Zur Begründung wurde angeführt, es existierten keinerlei weit reichende und repräsentative Untersuchungen, welche belegten, dass eine derartige Neuregelung zu einer nachhaltigen Vermeidung von Untersuchungshaft und deren Kosten führen könne – eine angesichts des Standes der bundesdeutschen Rechtstatsachenforschung zur U-Haft recht gewagte Behauptung.14 Eine vom Bundesrat angeregte Anrufung des Vermittlungsausschusses gemäß Art. 77 Abs. 2 GG hätte jedoch das gesamte Vorhaben wegen des Diskontinuitätsgrundsatzes kurz vor dem Ende der 16. Legislaturperiode gefährdet. Der Bundesgesetz-

DJT, NJW 2004, 3241 (3245); Schöch, StV 1997, 323; Gebauer, StV 1994, 622; Schäfer/Rühl, StV 1986, 456; zusf. Püschel, StraFo 2009, 134 (138). 8 Strauda, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren – Thesen mit Begründung, 2004, S. 12, 13. 9 Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht im Deutschen Anwaltverein, Entwurf für eine Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Stellungnahme Nr. 51/2005, www.anwaltverein.de/downloads/stellungnahmen/2005-51.pdf. 10 Vgl. Schlothauer/Weider, StV 2004, 504 (516); Weider, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts zur Öffentlichen Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses am 22.4.2009, Prot.-Nr. 136, S. 4 (s. dazu BT-Ds. 16/13097, S. 16); zusf. R. Michalke, NJW 2010, 17. 11 Weder der erste Regierungsentwurf (RegE) v. 7.11.2008 (BR-Ds. 829/08, dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2008/0829-08.pdf) noch der durch die Föderalismusreform veranlasste zweite RegE v. 21.1.2009 (BT-Ds. 16/11644, dip21.bundestag.de/dip21/ btd/16/116/1611644.pdf) sahen Derartiges vor. 12 BT-Ds. 16/13097, dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/130/1613097.pdf. Mit Superlativen für die Bewertung dieser – ähnlich wie beim Verständigungsgesetz (siehe Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 [2526]) – besonders selbstbewussten Haltung des 16. Bundestags-Rechtsausschusses wird deshalb von Seiten der berufsständischen Vereinigungen nicht gespart: Ignor, BRAK-Mag. 6/2009, S. 3, spricht von einer „kleine(n) Sensation“ und Stefan König, AnwBl. 2010, 50, bezeichnet den Vorgang als „Sternstunde des Parlaments“. 13 BR-Ds. 587/1/09, dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2009/0587-1-09.pdf. 14 Siehe sogleich unter II.2.b.

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geber15 hat sich deshalb mit §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO zu einem Kompromiss entschlossen, der aus der Sicht praktischer Rechtspolitik nachvollziehbar ist. Die Bestellung des Pflichtverteidigers geht danach seit dem 1.1.2010 erst mit dem Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO oder der einstweiligen Unterbringung nach den §§ 126a, 275a Abs. 5 StPO einher. Sicherlich wäre ein noch früher einsetzender Bestellungsmechanismus nach dem Modell der BRAK/DAV-Forderungen wünschenswert gewesen. Der Pflichtverteidiger wäre so in den Stand gesetzt worden, schon in der Vorführungsverhandlung auf die Entscheidung des Ermittlungsrichters zugunsten seines Mandanten einzuwirken. Dass sich diese Position nicht hat durchsetzen können, ist vom Standpunkt der Beschuldigtenrechte aus bedauerlich, aber als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers angesichts der Gefahr des Scheiterns des Gesamtvorhabens hinzunehmen. 2. Die Notwendigkeit frühzeitiger Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren Im Folgenden sollen das Ensemble der Argumente, die für eine möglichst frühzeitige Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren sprechen, zunächst noch einmal knapp umrissen werden. Erst vor diesem Hintergrund können die geänderten Vorschriften einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. a) Subjektiv-rechtliche Ebene Der von der Unschuldsvermutung umhegte Beschuldigte ist der öffentlichen Gewalt bei Anordnung und Vollzug von Untersuchungshaft wie sonst nirgends ausgeliefert.16 Neben dem offensichtlichen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG kann die Haftsituation schwerwiegende berufliche, familiäre und soziale Konsequenzen haben, wenn der Verhaftete unvorbereitet aus seinem sozialen Kontext gerissen wird. Der Beschuldigte hat zudem selbst nun kaum noch die Möglichkeit, sich um das Erforderliche zu kümmern und seine Ansprüche auf Partizipation am Ver-

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BT-Ds. 16/13097, S. 14. Dieses Argument ist auch der Ausgangspunkt der im hiesigen Umfeld besonders durchsetzungskräftigen Rechtsprechung des BVerfG, vgl. nur Güntge, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen (erscheint demnächst), Rn. 718 ff.; Jahn, NStZ 2007, 255 (257). 16

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fahren wirksam durchzusetzen.17 Da aber gerade im Ermittlungsverfahren bekanntermaßen die Weichen für den Ausgang des Verfahrens gestellt werden, ist die Dringlichkeit effektiver Verteidigung offensichtlich.18 Der Grundsatz fairen Verfahrens des Art. 6 Abs. 1 EMRK, das Gebot der Waffengleichheit und nicht zuletzt die von Verfassungs wegen gebotene Chancengleichheit für wohlhabende und mittellose Inhaftierte gebieten daher die alsbaldige Bereitstellung fachkundiger Unterstützung.19 Die dem an sich Rechnung tragende Vorschrift des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO, der zufolge die Staatsanwaltschaft schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen kann, wenn nach ihrer Auffassung dessen Mitwirkung notwendig sein wird, begründete für den Beschuldigten nach – freilich zu undifferenzierter20 – h.M.21 keinen Rechtsanspruch; die Ablehnung der Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft wird konsequent, aber wiederum nicht überzeugend, als nie anfechtbar angesehen.22 Wohl auch deshalb wird von der Regelung ohne ausreichende Rezeption der rechtstaatlich aufgeladenen Rechtsprechung des EGMR für die Fälle konfrontativer Zeugenbefragungen immer noch zu wenig Gebrauch gemacht.23

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So z.B. die Suche nach Zeugen, die Durchführung von Reisen, die notwendig sind, um Beweismittel aufzufinden oder Zeugen zur Aussage zu bewegen usw.; dazu Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 140 Rn. 32. 18 Zu dem von Karl Peters (Fehlerquellen im Strafprozess II, 1972, S. 299) inspirierten Bild des Ermittlungsverfahrens als „Rutschbahn“ Jahn, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, 2008, Kap. I Rn. 42 ff. m.w.N. 19 Nach zutreffender Einschätzung von Danckert, 205. BT-Sitzung v. 12.2.2009, BT-Prot. 16/22201, gab es unter der alten Gesetzeslage „den Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt und ihn möglicherweise von der Untersuchungshaft bewahrt; andererseits (…) den nichtverteidigten Beschuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungshaft wandert und nach drei Monaten (… ) möglicherweise einen Anspruch auf einen Verteidiger hat“. 20 Siehe im Einzelnen Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 24a. 21 OLG Karlsruhe, NStZ 1998, 315 (316); LG Cottbus, StV 2002, 414 mit abl. Anm. Klemke; Meier, GA 2004, 441 (452); Laufhütte, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. 2008, § 141 Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 141 Rn. 5; Krekeler/Werner in: Anwaltkommentar StPO, 2. Aufl. 2010, § 141 Rn. 4. 22 Dazu mit Nachweisen Meyer-Goßner (o. Fn. 21), § 141 Rn. 5. Siehe demgegenüber wiederum (o. Fn. 20) Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 24. 23 So auch Wohlers, StV 2010, 151. Zur EGMR-Rspr. zusf. BGHSt 46, 93 (94 ff.); BGH, StV 2010, 342 (343 Tz. 16); zur weiterführenden Kritik an Konzeption und Rezeption Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 624 ff. und passim.

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b) Objektiv-rechtliche Ebene Dass die frühzeitige Verteidigerbestellung aber nicht nur aus rechtsstaatlichen, sondern auch aus verfahrensökonomischen und damit letztlich fiskalischen Gründen angezeigt sein kann, wurde auch empirisch vielfach belegt.24 Insbesondere kann – entgegen der Befürchtung einiger Bundesländer im Gesetzgebungsverfahren zur U-Haft-Reform – die rechtzeitige Einschaltung des Pflichtverteidigers zu Einsparungen führen, wenn überflüssige Kosten in Bagatellfällen vermieden werden, bei denen nur der Haftgrund der Fluchtgefahr im Raum steht. Soweit ein Teil des Schrifttums und der ihm folgende Rechtsausschuss des Bundesrates demgegenüber die der Gerichtshilfe eingegliederte Haftentscheidungshilfe (§ 160 Abs. 3 StPO) als Mittel zur Haftvermeidung bzw.- beendigung aktivieren wollten, hätte sich dies als nicht in gleichem Maße zweckdienlich erwiesen. Wie das Landesrecht zeigt,25 spielt die Haftentscheidungshilfe bislang dort nur im Jugendstrafrecht und bei erwachsenen Beschuldigten bei den Haftgründen der Flucht oder Fluchtgefahr eine gewisse Rolle. Jede weitere Aufgabenübertragung würde schon deshalb zu einer deutlichen finanziellen Mehrbelastung führen, weil nicht bei allen Staatsanwaltschaften bereits Gerichtshilfestellen existieren. Darüber hinaus zählt die Gerichtshilfe zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltungen mit einer Vielfalt an Organisationsmodellen (Art. 294 S. 1 EGStGB). Wollte man die Rolle der Haftentscheidungshilfe stärken, müsste zunächst die Frage geklärt werden, ob nicht unter Gleichheitsaspekten die Befassung mit den Forderungen nach Vernetzung der ambulanten Straffälligenhilfe und bundeseinheitlicher Neustrukturierung der sozialen Dienste vorgreiflich ist.26 Auch würde die dogmatische Folgefrage aufgeworfen, ob die Anrufung der Haftentscheidungshilfe obligatorisch sein oder weiterhin im Ermessen der Staatsanwaltschaft stehen solle. Darüber hinaus ist auf den Zusammenhang mit der kontroversen Diskussion um die Privatisierung der 24 Siehe Schöch, Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft, 1997, S. 68 f.; ders. StV 1997, 323 ff.; Jehle/Bossow, BewHi 2002, 73; Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, 2008, S. 95 ff., 316 ff.; Busse/Hohmann, in: Sicherheit durch Strafe?, (Hrsg.) Strafverteidigervereinigungen, 2003, S. 157 ff.; Gebauer, StV 1994, 622 ff. Derzeit läuft ein EU-weites Forschungsprojekt zu den „Verteidigungsrechten im Vorverfahren - bewährte Praxis und effektive anwaltliche Journal (Not-) Dienste/Pre-trial Emergency Defence“, vgl. den Nachweis bei ÖBWMF, Forschungsförderungen und Forschungsaufträge 2009, III-154 Beil. XXIV. GP – Bericht (Hauptdok. Teil 3), S. 34. 25 Vfg. des saarländischen JuMi Nr. 4/1987 v. 9.3.1987, geänd. d. Vfg. Nr. 6/1998 v. 4.3.1998 (4205-3); Erl. des schleswig-holsteinischen JuMi v. 6.4.1990 (Amtsbl. Schl.-H. 1990, 317); Vfg. des brandenburgischen JuMi v. 26.10.1994 (4420-IV.2) und 26.4.2001 (4210III.24). 26 I.d.S. Dünkel, NK 2003, 2 (4).

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sozialen Strafrechtspflege hingewiesen worden.27 Und nicht zuletzt haben empirische Untersuchungen wichtige Indizien dafür geliefert, dass der Einsatz der Haftentscheidungshilfe kaum die erhofften finanziellen Einsparungen zu erbringen vermag.28 Mit Recht hat sich der Bundesgesetzgeber also bei der Frage des „Ob“ für das Modell der frühzeitigen Verteidigerbestellung und gegen den Ausbau der Haftentscheidungshilfe entschieden. Der Frage, ob er das „Wie“ richtig gelöst hat, soll im Folgenden nachgegangen werden. 3. Überblick über die Änderungen im Bereich der Pflichtverteidigerbeiordnung a) Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO Die frühe Pflichtverteidigerbeiordnung beschränkt sich auf die Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO und die vom Gesetzgeber in ihrer Gewichtigkeit mit Recht gleichgestellten Fälle der einstweiligen Unterbringung nach den §§ 126a und 275a Abs. 5 StPO. Die Neuregelung gilt damit e contrario weder für die Hauptverhandlungshaft nach §§ 127b Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 StPO noch die Sicherungshaft gemäß § 453c Abs. 1 StPO29 und auch nicht in einigen weiteren Fällen.30 Die Verteidigung ist nur dann notwendig, wenn und solange die Untersuchungshaft vollstreckt wird. Voraussetzung ist also, dass der Haftbefehl bereits erlassen und in Vollzug ist. Demnach muss nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO kein Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn der Haftbefehl zugleich mit seiner Verkündung oder später (§ 116 StPO) außer Vollzug gesetzt wird.31 Gleiches gilt für den Fall der Haftunfähigkeit. Legt man die Vorschrift streng nach ihrem Wortlaut („vollstreckt“) aus, schadet jede auch nur kurzfristige Haftunterbrechung. Dies entspricht sowohl dem Sinn und

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Ostendorf, BewHi 2006, 26 ff. Jehle, BewHi 1994, 373 ff. 29 A.A. – ohne Begründung und wegen des unverändert fortgeltenden § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO contra legem – AG Aschersleben, StV 2010, 493. Siehe dazu sogleich II.3.b. 30 Vgl. BT-Ds. 16/13097, S. 19; dazu R. Michalke, NJW 2010, 17. Ausgenommen sind auch sonstige freiheitsentziehende Sanktionen (Jugendstrafe, § 17 JGG, oder Jugendarrest, § 16 JGG, sowie Strafarrest, § 9 WStG), Abschiebe- und Auslieferungshaft (§§ 15, 16 IRG), die freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 Nr. 1 bis 3 StGB) sowie die Fürsorgeerziehung und die Unterbringung in einem Erziehungsheim. 31 Wessing, in: BeckOK-StPO, Ed. 7 (Stand: 1.8.2010), § 140 Rn. 5a. Die Auffassung von Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 285, die zeitliche Beschränkung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gelte entsprechend, ist daher missverständlich: Es kommt nicht auf eine starre Frist, sondern stets auf die Umstände der Vollstreckung im Einzelfall an. 28

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Zweck der Ziffer 4, weil das auf der Haft beruhende Autonomiedefizit nunmehr beseitigt ist, als auch der Systematik des § 140 Abs. 1 StPO. Anders als Nr. 5 stellt § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO nicht auf einen bezifferten Zeitraum ab, obgleich der Beschuldigte hier wie dort gehindert ist, sich selbst um das für das Verfahren Erforderliche zu kümmern. b) Abgrenzung zu § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO und Kumulationsfälle (Haft und/oder Unterbringung in anderer Sache) Auch nach Inkrafttreten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bleibt damit für § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch ein sinnvoller Restregelungsbereich bei Strafoder Abschiebehaft, die Unterbringung nach den §§ 63 ff. StGB, sowie für die Hauptverhandlungshaft nach §§ 127b Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 StPO, die Sicherungshaft nach § 453c Abs. 1 StPO und in weiteren, hier nicht interessierenden Verfahrenssituationen.32 Für die Fälle der Anstaltsunterbringung hätte sich damit im Vergleich zur früheren Gesetzeslage im Grunde nichts geändert. Freilich stellt sich für den bereits in einer Anstalt Untergebrachten, der vor Ablauf der Drei-Monats-Frist in einem neuen Verfahren beschuldigt wird, das Problem, nicht die erforderliche Freiheit zu haben, das für eine effektive Verteidigungsvorbereitung Nötige selbst tun zu können. Auch die nicht ganz seltene Konstellation der vollstreckten Straf- und U-Haft in anderer Sache ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Man kann daraus aber nicht den Schluss ziehen, der Gesetzgeber habe diese Kumulationsfälle von der Neuregelung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO unberührt gesehen, auch wenn dies sachlich nach dem beschuldigtenschützenden Sinn und Zweck der Vorschrift nicht unbedingt einzuleuchten vermöge.33 Gemeinsamer Grund für die Bestellung des Pflichtverteidigers in beiden Fällen des § 140 Abs. 1 StPO ist, dass der Beschuldigte nicht die Freiheit hat, sich selbst um das Erforderliche zu kümmern . Das Schweigen der Materialien indiziert deshalb, dass der Gesetzgeber die zu der Nachbarvorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO seit langem anerkannte Rechtsprechung stillschweigend rezipiert hat. Dort ist der Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte sich richterlich angeordnet oder genehmigt mindestens drei Monate in einer Anstalt befunden hat und nicht zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Die drei Monate Verwahrung können verschiedene 32 Siehe zum Anwendungsbereich der Nr. 4 soeben II.3.a., dort (o. Fn. 29) auch mit Nachw. zu abw. Auffassungen; zu Nr. 5 siehe Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 140 Rn. 34 ff. 33 So aber LG Saarbrücken, Beschl. v. 16.6.2010 – 3 Qs 28/10; Wohlers, StV 2010, 151 (152). A.A. mit Recht LG Itzehoe, StV 2010, 562 (563) m. Anm. Tachau.

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Sachen betreffen; eine Beziehung zu der zur Aburteilung anstehenden Tat wird nicht verlangt. 34 Die – sogleich genauer darzustellende – Zuständigkeitszuweisung in § 141 Abs. 4 Hs. 2 StPO ist in diesen Fällen also teleologisch zu reduzieren, soweit die Notwendigkeit der Verteidigung in dem anderen Verfahren außerhalb des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in Frage steht.35 c) Zuständigkeit für die Beiordnung nach § 141 Abs. 4 StPO Nach § 141 Abs. 4 Hs. 2 StPO entscheidet damit nur in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO das nach § 126 bzw. § 275a Abs. 5 StPO zuständige Gericht36, d.h. im Falle der Vollstreckung von Untersuchungshaft der Haftrichter und in den Fällen einstweiliger Unterbringung die Strafkammer. Dieses Gericht ist, so die zutreffende Begründung des Rechtsausschusses, am besten mit der Sache vertraut, und zwar insbesondere auch dann, wenn der Haft- oder Unterbringungsbefehl durch das „nächste“ Amtsgericht (§ 115a StPO) verkündet worden ist. Daneben bleibt für die anderen Fälle der Pflichtverteidigerbestellung (also z.B. Kammersachen, Verbrechen, Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO) weiterhin das erkennende Gericht zuständig. Dies führt zu der allgemeinen Frage,37 wie zu verfahren ist, wenn in derselben Sache nicht nur § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO einschlägig ist, sondern auch einer der anderen Katalogfälle des Absatzes 1, es also z.B. um eine Schwurgerichtssache geht (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Richtigerweise ist die mit dem 1.1.2010 geschaffene Rechtslage nicht so auszudeuten, dass die Pflichtverteidigerbestellung bei nur kumulativer Einschlägigkeit des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO allein durch den Ermittlungsrichter erfolgen könnte. Das entspricht weder der Systematik des § 141 Abs. 4 StPO, dem zum Zweck der frühen Verteidigerbestellung nur ein weiterer Halbsatz beigegeben wurde, noch dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Durch die Notwendigkeit der Bestellung des Pflichtverteidigers wegen eines der Fälle außerhalb des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO kann sich der Vorsitzende des für die Hauptsache zuständigen Gerichts vielmehr – wie bisher – in den in Kürze bei ihm zur Verhandlung anstehenden Sachverhalt einarbeiten und unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots seine

34

Vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 140 Rn. 32 m.w.N. Zutr. Tachau, StV 2010, 563. Wegen der – zufälligen – Doppelzuständigkeit des LG Itzehoe, StV 2010, 562 hat sich der Kammer dieses Problem im konkreten Fall nicht gestellt, so dass sich der Beschluss zu dieser Frage auch nicht verhält. 36 Wegen des Ziels einer geschlechtsneutralen Gesetzessprache ist in § 126 StPO seit 1.1.2010 als zuständiges Organ nicht mehr „der Richter“ sondern nunmehr „das Gericht“ zuständig, vgl. BT-Ds. 16/11644, S. 33 (dort auch zu den weiteren Änderungen in § 126 StPO). 37 Zur Kumulation der Bestellungsgründe in verschiedenen Verfahren bereits soeben II.3.b. 35

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Terminbelastung abschätzen. Hier bleibt es also bei der Grundregel des § 141 Abs. 4 Hs. 1 StPO.

III. Hauptprobleme der Neuregelung bei Bestellung eines vom Beschuldigten bezeichneten Verteidigers Trotz der insgesamt erfreulichen Änderungen im Bereich der Pflichtverteidigerbeiordnung bei U-Haft werfen die Neuregelungen nicht wenige komplexe Fragen auf. Es ist insbesondere zu prüfen, ob und – bejahendenfalls – wie der Beschuldigte den Anspruch auf Beiordnung des Verteidigers seines Vertrauens durchsetzen kann, ohne an anderer Stelle untragbare Rechtsverluste hinnehmen zu müssen. 1. Zum Streit um die Beiordnung eines Verteidigers nach Wahl des inhaftierten Beschuldigten gemäß § 142 Abs. 1 S. 2 StPO Es ist zunächst schon in Streit geraten, ob die Regel des § 142 Abs. 1 S. 2 StPO auch für die Pflichtverteidigerbestellung in U-Haft-Fällen gilt. Die Beantwortung dieser Frage hat erhebliche Auswirkungen auf die Praxis. So ist bereits weniger als zwei Monate nach Inkrafttreten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf dem 34. Strafverteidigertag 201038 beanstandet worden, den Beschuldigten würde in vielen Fällen nicht in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt, sondern vielmehr unmittelbar ein vom Richter ausgewählter Pflichtverteidiger beigeordnet. a) Zur Anwendbarkeit von § 142 Abs. 1 S. 2 StPO in U-Haft-Fällen Nach zutreffender Ansicht, die auch in der Rechtsprechung39 geteilt wird, ändert das Erfordernis der „unverzüglichen“ Verteidigerbestellung gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO nichts am Anhörungs- und Bestimmungsrecht des Inhaftierten. Die am elaboriertesten von Reinhold Schlothauer40 ausgearbeitete Gegenauffassung überzeugt nicht. Hiernach soll es für die Einräumung einer Frist zur Bezeichnung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 38

Siehe die Resolution des 34. Strafverteidigertages, abrufbar unter www strafverteidigertag.de/ Strafverteidigertage/ Material/ Strafverteidigertage/ Resolution. pdf. Die nahe liegende Frage, welche Aussagekraft eine kurz nach Inkrafttreten eines Gesetzes stattfindende Evaluation auf Basis von nicht systematisch erhobenen Berichten aus der Praxis sein kann, kann hier dahinstehen. 39 So LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236). 40 Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (711 ff.). A.A. aber ders./Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 289.

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1 Nr. 4 StPO an einer gesetzlichen Gestattung mangeln. Die Vorschrift des § 142 Abs. 1 S. 2 StPO werde vielmehr durch die Spezialregelung in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO aus sachbezogenen Gründen verdrängt. Dieses Rangverhältnis ergebe sich daraus, dass § 141 Abs. 3 S. 4 StPO die „unverzügliche“ Beiordnung ausdrücklich gebiete, während es sich bei § 142 Abs. 1 S. 2 StPO nur um eine „Soll-Vorschrift“ handelt. Bei dieser Auslegung werden jedoch zugunsten des systematischen Vorrangs der §§ 140, 141 StPO vor § 142 StPO sowohl der Wortlaut als auch die Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck des § 142 StPO gering geachtet. § 142 Abs. 1 Sätze 1 und 2 StPO erfassen unterschiedlos alle Fälle „der“ Bestellung eines Verteidigers, also auch den U-Haft-Fall und die ihm gleichgestellten Konstellationen.41 Der Gesetzgeber des StVÄG 1987 wollte mit diesem Wortlaut gerade die einschlägige Judikatur des BVerfG42 positivieren, nach der den Wünschen des Beschuldigten bei der Auswahl der Person des Pflichtverteidigers möglichst Rechnung zu tragen ist.43 Die Vorschrift solle nach dem erklärten Willen ihrer Verfasser „von der Praxis in dem Sinne ernst genommen werden, daß sie dem auf einen bestellten Verteidiger angewiesenen Beschuldigten wenigstens hinsichtlich der personellen Auswahl ähnliche Chancen bietet wie demjenigen, der selbst einen Verteidiger mandatieren kann“44. Schon diese Historie muss ein Verständnis zweifelhaft erscheinen lassen, das die Regelung für einen ganz besonders praxisbedeutsamen Fall gänzlich leerlaufen lässt. Dass § 142 StPO im Ganzen auch für den U-Haft-Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO anwendbar ist, unterstreicht in systematischer Perspektive Absatz 2 der Vorschrift. Er nimmt explizit – wenn auch wegen der Kürze des juristischen Vorbereitungsdienstes heute weitgehend bedeutungslos geworden45 – auf die Vorschrift des § 140 StPO Bezug. Bereits nach alter Rechtslage vor dem 1.1.2010 wurde § 142 Abs. 1 S. 2 StPO zuletzt trotz seines insoweit missverständlichen Wortlauts („soll“) nach seinem erkennbaren Sinn und Zweck so ausgelegt, dass die Anhörung des Beschuldigten keinesfalls im Ermessen des Vorsitzenden liegt, sondern eine Anhörungspflicht besteht („intendiertes

41

Oben II.3.a. Insbesondere BVerfGE 39, 238 (243) – Croissant. Siehe zuletzt OLG München, NJW 2010, 1766 m.w.N. 43 Laufhütte, in: KK-StPO (o. Fn. 21), § 141 Rn. 7; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 142 Rn. 12, je m.w.N. 44 Rieß/Hilger, NStZ 1987, 145 (147). 45 Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2007, § 4 Rn. 43; s. auch Jahn, JuS 2006, 660 (661) zum vergleichbaren Problem bei § 139 StPO. Das mag, neben anderen Motiven, erklären, warum § 142 Abs. 2 StPO auch nach dem 1.1.2010 nicht auf § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO verweist. 42

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Ermessen“).46 Dieses Verständnis resultiert aus dem verfassungsrechtlich anerkannten Recht des Beschuldigten, sein Interesse an der Bestellung des Verteidigers seines Vertrauens grundsätzlich selbst definieren zu können. Dazu tritt die grundrechtsgleiche Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, in deren Lichte § 142 Abs. 1 S. 2 StPO stets zu interpretieren ist. Nicht die Einräumung der Möglichkeit der Verteidigerbezeichnung bedarf im U-Haft-Fall entgegen Schlothauer also einer einfachgesetzlichen Grundlage, sondern deren Einschränkung. Eine verfassungsimmanente Beschränkung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten aus Art. 103 Abs. 1 GG zugunsten des Grundsatzes der Verfahrensbeschleunigung ist aber – wie nun zu zeigen sein wird – in der Praxis regelmäßig schon nicht erforderlich, darüber hinaus aber auch nicht angemessen.

b) Praktische Umsetzung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten bei U- Haft Im Ganzen kann von § 142 Abs. 1 S. 2 StPO damit auch bei U-Haft nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden. Dies setzt voraus, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs eine erhebliche Verfahrensverzögerung zur Folge hätte und die konkrete Verfahrenslage ausnahmsweise die sofortige Bestellung eines Pflichtverteidigers gebietet.47 Bereits das normative Erfordernis „erheblicher“ Verfahrensverzögerung wird angesichts der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten in praxi kaum einmal einschlägig sein. Schon bisher war, wenn die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit eine schriftliche Erklärung des Beschuldigten nicht zulässt, die Anhörung fernmündlich (z.B. in der JVA) durchzuführen.48 Dass angesichts der flächendeckenden Verbreitung moderner Kommunikationstechnik in Untersuchungshaftanstalten und Justizbehörden eine solche fernmündliche Anhörung „erhebliche“ Verfahrensdauer in Anspruch nehmen könnte, ist praktisch auszuschließen.49 Vor der 46 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 3695 (3697); BGH, StV 2003, 210 (211); OLG Frankfurt, NStZRR 1996, 271; LG Cottbus, StV 2006, 687; Wohlers, in: Systematischer Kommentar, StPO, Stand: Juni 2004, 39. Lieferung, § 142 Rn. 3; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 142 Rn. 14 a.E. A.A. OLG Karlsruhe, StV 2001, 557 (558) m. abl. Anm. Braum. 47 I.d.S. auch LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236). S. erg. unten V. 48 OLG Düsseldorf, StV 2004, 62 (63); Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 142 Rn. 14a. 49 Zum Folgeproblem des (Eil-) Falles der Ermöglichung eines telefonischen Anbahnungsgespräches zwischen Mandant und dem bezeichneten Verteidiger in der U-Haft nach § 148 StPO siehe bereits Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (27) sowie Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 293 a.E.

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Bestellung des Verteidigers muss allerdings noch der Staatsanwaltschaft rechtliches Gehör gewährt werden (§ 33 Abs. 2 StPO); auch das ist fernmündlich, per Telefax oder E-Mail möglich und häufig geboten. Einer Anhörung des im Falle einer Anklageerhebung zuständigen Gerichts bedarf es entgegen einer aus der Praxis empfohlenen Handhabung mangels Rechtsgrundlage nicht; sie ist auch unter Beschleunigungsaspekten untunlich.

c) Folgen einer unterbliebenen Anhörung des Beschuldigten gemäß § 143 StPO Ein Verteidigerwechsel auf Initiative des Beschuldigten ist über den Wortlaut hinaus analog § 143 StPO dann möglich, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Die an solche Gründe zu stellenden inhaltlichen Anforderungen sind aber umstritten. Akzeptiert werden nach noch vorherrschender Auslegung insbesondere die erhebliche Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem oder eine besondere Pflichtwidrigkeit bei der Führung der Verteidigungsgeschäfte. Das war in dieser Allgemeinheit schon bislang zweifelhaft.50 Im neuen Recht seit dem 1.1.2010 ist diese (zu) enge Auslegung des § 143 StPO für den vom Beschuldigten gewollten Austausch des Pflichtverteidigers mit dem Gesetz schlechthin nicht mehr vereinbar. Es will die Verteidigungsbelange und damit die Autonomie des Beschuldigten stärken, nicht schwächen. Es steht daher zu erwarten, dass infolge der Anerkennung dieses Zusammenhanges durch die bislang vorliegende Rechtsprechung zum U-Haft-Reformgesetz auch die bisherige Auslegung des § 143 StPO im Ganzen auf den Prüfstand gestellt wird – ein längst überfälliger Vorgang. Sofern die erforderliche Anhörung gänzlich unterblieben ist, ist der vom Gericht bestellte Verteidiger also auf Antrag des Beschuldigten nach § 143 StPO zu entpflichten und der vom Beschuldigten benannte Rechtsanwalt beizuordnen, sofern dem seinerseits keine (anderen) wichtigen Gründe entgegenstehen.51 Ebenso ist zu verfahren, wenn ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bereits vor dem ungenutzten Verstreichen der dem 50 Siehe zu den notwendigen Differenzierungen aufgrund der unangefochtenen Prämisse der Gleichstellung von Pflicht- und Wahlverteidigung nur Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 143 Rn. 9 und § 140 Rn. 6 (extensive Auslegung bei Artikulation der Autonomie des Beschuldigten); sich dem jetzt erfreulicherweise annähernd Bittmann, JuS 2010, 501 (513). A.A. Kett-Straub, NStZ 2006, 361 (363) und zuletzt OLG München, NJW 2010, 1766 f., je m.w.N. 51 Vgl. OLG Düsseldorf, StV 2010, 350 m. zust. Anm. Burhoff, StRR 2010, 223; OLG Karlsruhe, StV 2010, 179; LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236); LG Bonn, StV 2010, 180 (181); LG Landshut, Beschl. v. 1.7.2010 – 4 Qs 172/10.

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Beschuldigten zu setzenden angemessenen Frist bestellt wird bzw. dem Beschuldigten keine der U-Haft-Situation angemessene Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich über die zur Verfügung stehenden Verteidiger zu informieren.52 Die Bundesanwaltschaft hat diese Rechtsprechung in einem von ihr geführten Ermittlungsverfahren unlängst in zutreffender Weise und unter Billigung des BGH-Ermittlungsrichters fortgeführt. So ist eine Auswechselung eines Pflichtverteidigers im Falle einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auch ohne ein gestörtes Vertrauensverhältnis dann zulässig, wenn es sich bei dem beigeordneten Verteidiger lediglich um eine „Verlegenheitswahl“ handelte, der Beschuldigte nun selbst einen Wechsel ausdrücklich wünscht, der bisher beigeordnete Verteidiger damit einverstanden ist und dadurch keine Verfahrensverzögerungen und – wie regelmäßig – nennenswerten Mehrkosten entstehen.53 Dem ist ohne Einschränkungen zuzustimmen. 2. Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „unverzüglich“ in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO Die Freiheit, eine autonome Entscheidung treffen zu können, kann auch zur Last werden. Der Druck, die Auswahl nach § 142 Abs. 1 S. 2 StPO treffen zu „sollen“, bekommt durch das in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO enthaltene Zeitmoment nunmehr eine neue Qualität für den Beschuldigten. Insofern kann sich die Neuregelung bei unzweckmäßiger Auslegung negativ auf seine Lage auswirken. Insbesondere ist an Fälle zu denken, in denen die Entscheidung über die Person des zu bestellenden Verteidigers mangels ausreichender Zeit für die Formulierung eines Vorschlags durch den Beschuldigten letztlich beim Gericht verbleibt. Hier besteht die – abstrakte – Gefahr, dass Verteidiger beigeordnet werden, die nicht das Vertrauen des Beschuldigten, sondern des Gerichts genießen. Mangels Transparenz kann 52

Wohlers, StV 2010, 151 (157); Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn.

326. 53

Stellungnahme des GBA vom 1.3.2010 im Verfahren 2 BGs 73/10, dokumentiert bei Weider, StV 2010, 390 (391). Kommt es während des Ermittlungsverfahrens zum Pflichtverteidigerwechsel, entstehen durch die Beiordnung des neuen Pflichtverteidigers eine weitere Grundgebühr (VV RVG Nr. 4100, 4101) und eine Verfahrensgebühr (VV RVG Nr. 4104, 4105). Die Zusatzkosten belaufen sich also auf € 299,--. Dem neu bestellten Verteidiger einen (rechtlich zulässigen: Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg [o. Fn. 5], § 143 Rn. 9 Fn. 46) Verzicht auf die Geltendmachung dieser Gebühren anzusinnen, muss angesichts der besonderen Anforderungen, die mit der Verteidigung von nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten verbunden sind, ausscheiden (so auch Strafrechtsausschuss der BRAK, Thesen zur Praxis der Verteidigerbestellung nach §§ 140 Abs. 1 Ziff. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 StPO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, BRAK-Stellungnahme Nr. 16/2010 [Juli 2010], S. 15, auch abgedr. in StV 2010, 544 f.).

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damit im Einzelfall der böse Anschein entstehen, für die Auswahl seien in erster Linie Routine, persönliche Bekanntschaft und die Erwartung geschmeidiger Zusammenarbeit mit dem Gericht verantwortlich.54 Zuspitzungen wie das böse Wort vom „Geständnishelfer“, der „verurteilungsbegleitende Rechtsanwalt“ sowie das Berufsbild „Beiordnungsprostitution“ stehen in ihrem sachlichen Kerngehalt für in Einzelfällen nicht a limine von der Hand zu weisende Bedenken. Vieles hängt also am Zeitmoment – und damit an einer besonders interessensensiblen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ in § § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. a) „Unverzüglich“ ist nicht „sofort“ Mit dem Begriff „unverzüglich“ wird dem Gericht – und damit mittelbar dem Beschuldigten – ein gewisser zeitlicher Spielraum für die Bestellung des Pflichtverteidigers bei Vollzug der U-Haft eröffnet. Der Gesetzgeber hat sich mit dieser Formulierung bewusst von den zeitlichen Anforderungen an den Bestellungsakt in anderen Fällen des § 140 StPO abgesetzt. Meist „wird“ der Verteidiger nach § 141 Abs. 1 StPO „bestellt“, im Falle des § 141 Abs. 2 StPO ist die Bestellung sogar ausdrücklich per „sofort“ angeordnet. Gemeint ist in beiden Situationen aber der Sache nach die sofortige Bestellung.55 Ausweislich der Begründung in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages56 soll die Formulierung „unverzüglich“ in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO demgegenüber den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragen, z.B. wenn die Verkündung auf ein Wochenende fällt oder ein vom Beschuldigten gewünschter Verteidiger nicht unmittelbar erreichbar oder hic et nunc bereit ist, die Verteidigung zu übernehmen. Diese vernünftige, an der Autonomie des Beschuldigten orientierte gesetzgeberische Zielbestimmung lässt eine Auslegung des Gesetzesbegriffes angezeigt sein, die dem Beschuldigten einen zweckmäßigen Zeitraum zugesteht, in dem er 54

Vgl. Stefan König, AnwBl. 2010, 50 (51: „Danaergeschenk“); Wohlers, StV 2010, 151 (153); Heydenreich, StRR 2009, 444 (446); Strafverteidigervereinigungen, Gemeinsame Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 1.1.2010, StV 2010, 109; Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht DAV, Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidigern nach Inkrafttreten der Neuregelungen in §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 StPO, Stellungnahme Nr. 55/2009, S. 4 f. (www.anwaltverein.de/downloads/Stellungnahmen-09/SN55-09.pdf). Zur grundsätzlichen Diskussion Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71); Thielmann, HRRS 2009, 452 (454). 55 Die Wendung „… sobald … ist“ in Abs. 1 könnte auf den ersten Blick im Gegenschluss zu Abs. 2 („sofort“) so verstanden werden, als gebe es noch einen zeitlichen Ermessensspielraum. Das ist nicht der Fall. Vielmehr ist auch in Abs. 1 die Gleichzeitigkeit der Aufforderung gemäß § 201 StPO und der Bestellung des Pflichtverteidigers gemeint, vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 19 m.w.N. 56 BT-Ds. 16/13097, S. 19.

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sich wegen der Auswahl eines geeigneten Verteidigers selbst informieren und entscheiden kann. Die wiederum von Reinhold Schlothauer57 entwickelte Gegenauffassung vermag auch hier nicht zu überzeugen. Danach konterkariere dieses Verständnis des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO den Sinn und Zweck der Neuregelung. Er liege (allein) darin, dem inhaftierten Beschuldigten nach Beginn der Vollstreckung schnellstmöglich einen Verteidiger zu sichern. Dieser gesetzliche Auftrag sei für das Gericht bindend; auch der Beschuldigte könne keinen Dispens erteilen. Zur Widerlegung dieser monothematischen Interpretation der Norm mag man darüber streiten, ob die hier zugrundegelegte Lesart des Beschleunigungsgrundsatzes als wesensmäßig objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip sakrosankt sein muss. Sie ist, was zuzugestehen ist, jedenfalls aber derzeit so absolut vorherrschend,58 dass die grundsätzliche Frage der (Grenze der) Disponibilität des Beschleunigungsprinzips für den Beschuldigten hier auf sich beruhen muss. Jedenfalls ist es der Sinn des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO nicht, dem Beschuldigten schnellstmöglich einen Verteidiger zu verschaffen, sondern den Verteidiger seines Vertrauens (arg. ex § 142 Abs. 1 S. 2 StPO). In Anlehnung an die gängige Auslegung des Gesetzesbegriffes „unverzüglich“ im Zivilrecht ist darunter also weder „sofort“ noch „zeitgleich“ zu verstehen.59 Es verstößt damit gegen den erklärten gesetzgeberischen Willen, wenn dem Inhaftierten „sogleich“ ein Pflichtverteidiger bestellt werden soll.60 b) Wochenfrist entsprechend der Interessenlage bei wichtigen Rechtsbehelfsfristen Im Zivilrecht wird die Wendung „unverzüglich“ häufig verwendet, nicht nur in § 121 BGB, sondern auch in den §§ 355, 510, 536c, 625, 650 und 703 BGB und in § 377 HGB. In allen Fällen besteht für den Adressaten der Erklärung eine unklare Situation, die erst durch die Mitteilung aufgeklärt wird. In Ansehung der beiderseitigen Interessenlage muss diese Klärung aber möglichst bald erfolgen, d.h. ohne eine durch die Sachlage nicht be57

Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (714 f.); ders., in: Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 296 ff.; siehe bereits oben III.1.a. Dass sich der Mitautor Weider, aaO. Rn. 300 ff. im Gemeinschaftswerk dezidiert gegen diese Ansicht ausspricht, belegt die Bedeutung der Streitfrage. 58 Statt vieler Kudlich, Gutachten C für den 68. DJT 2010, S. C 16 f.; Trüg, StV 2010, 528 f. m.w.N. 59 Siehe nochmals BT-Ds. 16/13097, S. 19. 60 A.A. Bittmann, JuS 2010, 501 (513), der allerdings im Gegenzug – insoweit bei isolierter Betrachtung wieder zutreffend (oben III.1.c) – die Entpflichtung nach § 143 StPO erleichtern will.

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gründete Verzögerung, damit der Schwebezustand oder der Zustand der Ungewissheit beseitigt werden kann.61 Das entspricht der Situation zwischen dem Beschuldigten und dem Gericht im Falle des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. Entscheidend ist also, dass die Erklärung des Beschuldigten „ohne schuldhaftes Zögern“62 erfolgt, technischer: ohne eine Obliegenheit in eigenen Angelegenheiten durch zurechenbar zu langes Zuwarten zu verletzen. Eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer Woche (§ 43 Abs. 1 StPO) erscheint daher geboten, aber auch ausreichend. Wenn schon für die regelmäßig noch gewichtigere Frage, ob ein Rechtsmittel wie Berufung oder Revision eingelegt (§§ 314, 341 StPO) oder ein sonstiger Rechtsbehelf weiterverfolgt (§§ 45 Abs. 1 S. 1, 311 Abs. 2, 356a S. 2 StPO) werden soll, die Wochenfrist hinreichen muss, kann für die Pflichtverteidigerbestellung auch in Ansehung der Erschwernisse der U-Haft keine großzügigere Regelung gelten.63 Aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit ist diese Höchstfrist zur Beendigung des Schwebezustandes ohne Rückausnahmen starr zu bemessen. Die vielfach aus der Praxis der Strafverteidigung64, der Staatsanwaltschaften (so der weit verbreitete „Praktische Leitfaden zur Umsetzung des Untersuchungshaftrechts ab 1.1.2010“ der Staatsanwaltschaft bei dem LG München I65) und im Schrifttum66 vorgeschlagene (re61

Siehe BGHZ 76, 81 (84 f.); BGHR BGB § 121 Abs. 1 Anfechtungsfrist 1. BT-Ds. 16/13097, S. 19; JuMi Thüringen, LT-Ds. 5/617 v. 12.3.2010, S. 1. 63 Siehe zur früheren Gesetzeslage bereits OLG Düsseldorf, StV 2004, 62 (63) m. – insoweit ergebnisoffener – Anm. Bockemühl; Stern, in: AK-StPO, Bd. II/1, 1992, § 141 Rn. 26; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 14a a.E. Im Ergebnis ebenso, wenn auch ohne nähere Begründung Stefan König, AnwBl. 2010, 50 (51); Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht DAV, Stellungnahme Nr. 55/2009, S. 6; Strafrechtsausschuss der BRAK (o. Fn. 53), S. 6. Sich dem annähernd (mindestens fünf Arbeitstage), aber gegen eine starre Frist Weider, in: Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 301 ff. Eine Frist von zwei Tagen ist in jedem Fall zu kurz bemessen (unverständlicherweise offengelassen von OLG Düsseldorf, StV 2010, 350 [351]: „Die Frage, ob eine Frist von zwei Tagen, wie sie nach Ansicht des LG Kleve gesetzt wurde, für einen in Haft befindlichen Beschuldigten überhaupt ausreichend ist, um das rechtliche Gehör in qualifizierter Form wahrnehmen zu können, bedarf demnach keiner Entscheidung“). 64 Strafverteidigervereinigungen, StV 2010, 109 und bereits Strafverteidigervereinigung NRW, (strafverteidigervereinigung-nrw.de/files/beiordnung_von_notwendigen_verteidigern.pd f), S. 3. Unentschieden JuMi Thüringen, LT-Ds. 5/617 v. 12.3.2010, S. 2. 65 Mir lag die Fassung vom 1.3.2010 (ohne Gz.) vor; das als solches bezeichnete „Skript“ solle „die mit Haftsachen befaßten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte auf das neue Untersuchungshaftrecht vorbereiten und ihnen praktische Anleitungen zum Umgang mit (...) ‚neuen‘ Haftsachen geben“ (aaO., S. 2). Danach sei folgendermaßen vorzugehen: Wolle sich der Beschuldigte einen Wahlverteidiger suchen, so sei ihm Gelegenheit zur Suche einzuräumen. Sollte „nach ca. 10 bis 14 Tagen“ noch kein Verteidiger benannt werden, so solle durch die Staatsanwaltschaft nochmals eine schriftliche Anhörung des Beschuldigten mit dem Ziel erfolgen, „dass er nunmehr die Auswahl in das Ermessen des Gerichts stellt. Nach Ablauf der dem Beschuldigten einzuräumenden Frist (z.B. eine Woche) kann dann die Pflichtverteidiger62

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gelmäßige oder zumindest optionale) Zwei-Wochen-Frist ist daher zu lang bemessen und mit dem Wortlaut des Erfordernisses „unverzüglicher“ Bestellung nicht mehr in Einklang zu bringen. Auch das denkbare Gegenargument einer Analogie zur Zwei-Wochen-Einspruchsfrist beim Strafbefehl würde nicht zu überzeugen vermögen. Die durch das StVÄG 1987 gegenüber den sonstigen Rechtsmittelfristen verlängerte Sonderfrist des § 410 Abs. 1 S. 1 StPO soll nur eine Einschränkung von Wiedereinsetzungsanträgen sowie Verfassungsbeschwerden wegen angeblicher Verletzungen des rechtlichen Gehörs bewirken, die gerade bei Strafbefehlen besonders häufig sind.67 3. Korrespondierende Belehrungspflichten Gem. § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO ist der Beschuldigte über sein Recht zu belehren, einen von ihm gewählten Verteidiger seines Vertrauens befragen zu können. Dies soll ihm eine i.S. der Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 EMRK angemessene Vorbereitung auf die erste Vernehmung ermöglichen.68 a) Effektive „erste Hilfe“ durch Belehrung Das Recht des Beschuldigten, jederzeit einen von ihm zu wählenden Verteidiger konsultieren zu können, findet sich seit langem ausdrücklich für die erste richterliche (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) sowie die staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Vernehmung im Gesetz (§ 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2 StPO). Darin erschöpft sich aber § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO nicht.69 Seit bestellung beim zuständigen Gericht veranlasst werden.“ Wolle der Beschuldigte einen (Wahl) Pflichtverteidiger, sei ihm auf Wunsch eine Frist „(z.B. drei Tage oder eine Woche)“ einzuräumen. Andernfalls solle er die Auswahl in das Ermessen des Gerichts stellen. Die Staatsanwaltschaft habe dann die Pflichtverteidigerbestellung durch das zuständige Gericht herbeizuführen (aaO., S. 11). 66 Heydenreich, StRR 2009, 444 (446). Im Grundsatz ebenso Wohlers, StV 2010, 151 (153), jedenfalls soweit absehbar sei, dass der Beschuldigte an der umgehenden Aufnahme der Bemühungen um einen Verteidiger seines Vertrauens gehindert ist; die Frist sei so anzusetzen, dass der Beschuldigte effektiv zwei Wochen zur Verfügung habe, um den Verteidiger seines Vertrauens zu finden. 67 Fischer, in: KK-StPO (o. Fn. 21), § 410 Rn. 3; Gössel, in: Löwe/Rosenberg, 26. Aufl. 2009, § 410 Rn. 6. 68 Vgl. BT-Ds. 16/11644, S. 17; LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236); Kazele, NJ 2010, 1 (3); Wankel, in: KMR-StPO, Stand: Januar 2010, 57. Lieferung, § 114b Rn. 4. Das BMJ hat hierzu Belehrungsformulare erstellt, die das Gesetz bundeseinheitlich umsetzen sollen und unter www.bmj.bund.de/ enid/ 693a6f82d65d024364404b879bfd16b7,0/ Fachinformationen/ Belehrungsformulare_1mi.html einsehbar sind. 69 Anders wohl Wankel, in: KMR-StPO (o. Fn. 68), § 114b Rn. 4. Mit anderem Schwerpunkt (Unentgeltlichkeit, Dolmetscher) auch Paeffgen, in: SK-StPO (o. Fn. 6), 114b Rn. 9 f.

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mehr als einem Jahrzehnt ist vielmehr anerkannt, dass die Angebote an „erster Hilfe“ für den Beschuldigten in der Festnahmesituation eine gewisse inhaltliche Qualität aufweisen müssen.70 Dem Beschuldigten muss über den Gesetzeswortlaut des § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO hinaus deshalb auch die notwendige Hilfestellung zuteil werden, die er benötigt, um die für die effektive Ausübung seines Auswahlrechts unverzichtbaren Informationen einzuholen. So ist er über die Existenz anwaltlicher Notdienste, welche auch außerhalb der Bürozeiten und an Wochenenden zu erreichen sind, sowie über Informationsangebote der Rechtsanwaltskammern, Anwaltsvereine und Strafverteidigervereinigungen zu informieren. Es handelt sich nicht (mehr nur) um ein nobile officium.71 Bleibt die Belehrung über das Recht auf Anwaltskonsultation aus, ist in der U-Haft-Situation der Wesensgehalt des Grundrechts auf Verteidigung betroffen.72 Dies bewirkt ein Verwertungsverbot für die ohne Verteidigerbeistand erfolgte Einlassung des Beschuldigten.73 b) Weitergehende Belehrungspflicht zum Anwendungsbereich der Pflichtverteidigung? Der weitergehenden Forderung,74 den Beschuldigten in § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO n.F. auf den gesetzlichen Anwendungsbereich der Pflichtverteidigerbestellung hinweisen zu müssen, hat sich der Gesetzgeber verschlossen. Ist damit das letzte Wort gesprochen? Die Möglichkeit, in der Praxis über das vom Gesetz gewährte (Konventions-) Minimum hinausgehen zu können, dürfte damit nicht zwingend ausgeschlossen sein. Das Bedürfnis hierfür ist mit Händen zu greifen. Es ist immer wieder zu beobachten, dass gerade mittellose Festgenommene das 70

BGHSt 42, 15 (19); Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 137 Rn. 66a; Jahn, JuS 2006, 272 (273) m. zahlr. weit. Nachw. aus der Rspr. des BGH. 71 Ebenso Deckers, StraFo 2009, 441 (444); Weider, StV 2010, 102 (103). Ferner ist es dem Beschuldigten zu ermöglichen, mit dem in Aussicht genommenen Verteidiger nach § 148 StPO telefonisch Kontakt aufzunehmen und ein unüberwachtes fernmündliches Anbahnungsgespräch durchzuführen. Es muss dem Beschuldigten dabei auch gestattet sein, gegebenenfalls mit unterschiedlichen Verteidigern in Kontakt zu treten, vgl. Wohlers, StV 2010, 151 (154) unter Hinweis auf Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (27). 72 Siehe zur näheren Begründung aus Sicht der Beweisbefugnislehre Jahn, Gutachten C zum 67. DJT 2008, S. C 73. 73 So auch Bittmann, JuS 2010, 501 (512 f.) (anders wohl noch ders., NStZ 2010, 13 [14]: „grundsätzlich kein Beweisverwertungsverbot“); Weider, StV 2010, 102 (103); D. Herrmann, StRR 2010, 4 (6) und bereits Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 137 Rn. 78. 74 Stellungnahme BRAK Nr. 10/2009, S. 5 f., www.german-bar.de/seiten/ pdf/Stellungnahmen/2009/Stn10.pdf. In diese Richtung auch Paeffgen, GA 2009, 451 (452); Weider, StV 2010, 102 (103) und Neuhaus, StV 2010, 45 (47).

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Recht auf Hinzuziehung eines (bestimmten) Verteidigers nicht in Anspruch nehmen, weil sie der Ansicht sind, dessen Dienste nicht sofort honorieren zu können und sie das Institut der Pflichtverteidigung einschließlich der in § 142 Abs. 1 S. 2 StPO enthaltenen Regelung nicht kennen. Gerade diese Fehlvorstellung könnte jedoch vielfach durch einen einfachen Hinweis auf die geltende Rechtslage korrigiert werden. Der Inhaftierte ist aber grundsätzlich über alle Möglichkeiten zu orientieren, sich gegen den Freiheitsentzug zur Wehr zu setzen – auch das meint „Parität des Wissens“75. Die Rechtsprechung des BGH76 erkennt eine derartige Belehrungspflicht bislang nur in Fällen an, in denen der Beschuldigte bei seiner polizeilichen Vernehmung äußert, dass er sich aufgrund seiner Mittellosigkeit gehindert sehe, einen Rechtsanwalt zu kontaktieren, und dadurch inzident zu verstehen gibt, grundsätzlich eine Verteidigerkonsultation zu wünschen. Jedoch wird es häufig dem Zufall überlassen bleiben, ob ein Beschuldigter sich im Rahmen seiner Vernehmung gerade so äußert oder vielmehr aus Resignation angesichts der eigenen Mittellosigkeit zum Thema Verteidigerbestellung gänzlich schweigt. Angesichts der mit weitreichenden Grundrechtseingriffen verbundenen Untersuchungshaft und unter Berücksichtigung der besonderen Situation des inhaftierten Beschuldigten wäre ein Überdenken der bisherigen Position der Rechtsprechung sinnvoll. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie über das vom Gesetzgeber gewährte Minimum auf der Primärebene hinausginge, zumal nach Lage der Dinge eine Änderung der Rechtsprechung zum unselbstständigen Beweisverwertungsverbot auf Sekundärebene zu dieser Frage kaum zu erwarten ist. 4. Flankierung durch Führung von „Haftpflichtverteidigerlisten“ In diesem Zusammenhang empfiehlt sich die Führung von mindestens jährlich zu aktualisierenden Listen, auf denen zur Übernahme der Pflichtverteidigung in Haftsachen (in den Grenzen der § 49 Abs. 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO) bereite Rechtsanwälte verzeichnet sind. Sie sind dazu bestimmt - und müssen dazu auch geeignet sein –, dem unentschlossenen und unsicheren Beschuldigten als effektive Auswahlhilfe zu dienen.77 Diesen Anforderungen genügende Fotokopien sind dem Beschuldigten physisch auszuhändigen, da ein Zugang über das Internet aus vollzuglichen Gründen regelmäßig nicht umsetzbar sein wird. Angesichts des Ziels möglichst ef75

Zum Topos „Parität des Wissens“ BGHSt 36, 305 (309); Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (26); Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 147 Rn. 4. 76 BGH, NStZ 2006, 236 (mit unzutreffender Konsequenz für die Verwertungsfrage); angedeutet schon in BGHSt 47, 233 (234 f.). 77 Zu den Vorschlägen im Einzelnen Strafverteidigervereinigung NRW (o Fn. 64), S. 3 ff.; Thielmann, HRRS 2009, 452 (454 f.).

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fektiver Verteidigung sollten dabei insbesondere am Ort der Untersuchungshaftanstalt ansässige oder ortsnahe Fachanwälte für Strafrecht, zumindest aber Rechtsanwälte mit einschlägigen Tätigkeitsschwerpunkten und möglichst Fortbildungsnachweisen im Haftrecht unter Hervorhebung ihrer einschlägigen Zusatzqualifikation(en) (z.B. Steuerberater, vereidigter Buchprüfer), ihrer Sprachkenntnisse, der Dauer ihrer Zulassung und der Erreichbarkeit auch an Wochenenden sowie Sonn- und Feiertagen (Handynummer) in derartige Listen aufgenommen werden.78 Neben diesen praktischen Problemen werfen die Verteidigerlisten allerdings auch Wettbewerbsfragen auf, wenn beispielsweise dem bestellungswilligen und nach § 142 Abs. 1 StPO seit dem 2. ORRG auch grundsätzlich bestellungsfähigen auswärtigen Junganwalt die Aufnahme in eine solche Liste verweigert wird. Diese Fragen haben vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Gehalt und mögen in Zukunft eine Anpassung der BRAO erforderlich machen. Den Einzelheiten kann im Rahmen dieses Beitrages allerdings nicht nachgegangen werden.79

IV. Hauptprobleme bei Beiordnung des Pflichtverteidigers nach Auswahl durch das Gericht Bezeichnet der Beschuldigte innerhalb der ihm gesetzten Frist keinen Verteidiger – was in der Praxis keinen Einzelfall darstellt –80, obliegt es dem Haftrichter bzw. der nach § 275a Abs. 5 StPO zuständigen Strafkammer, einen Verteidiger von Amts wegen zu bestellen.81 Welche Kriterien dabei die richterliche Auswahl begünstigen und ob sie stets sachlicher und fachlicher Natur sind, bleibt dabei nach dem Gesetz im Dunkeln. 1. Sachliche Kriterien der Pflichtverteidigerauswahl Eine richterliche Verteidigerbestellung ohne die Heranziehung generalisierender Auswahlkriterien kann den Vorwurf einer Konterkarierung des mit dem U-Haft-Änderungsgesetz verfolgten Regelungsziels der Stärkung der Verteidigungsrechte im Vorverfahren erwecken und mit dem Recht des

78 Vgl. Wohlers, StV 2010, 151 (154). Die von Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 317, aufgeführten weiteren Kriterien wie Publikationen, Vorträge und Falllisten sind zweifelhaft. 79 Dazu Huff, Pflichtverteidigerlisten – eine Aufgabe der Rechtsanwaltskammer? Unveröff. Referat auf der 209. der Strafrechtsausschusses der BRAK in Hamburg am 17.10.2009, S. 4 ff. 80 Siehe nur Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (716). 81 Vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), §142 Rn. 27.

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Beschuldigten auf ein faires Verfahren in Konflikt geraten.82 Die gesteigerten Verteidigungsbedürfnisse des inhaftierten Beschuldigten gebieten es also, ihm unter Heranziehung generalisierender Entscheidungskriterien einen geeigneten Verteidiger zur Seite zu stellen. Daher steht dem Gericht, entgegen einer teilweise anders verfahrenden Praxis, kein freies Ermessen bei der Auswahl zu.83 Entscheidungsleitend sind vielmehr zumindest84 die nachfolgend aufgeführten Faktoren: Zunächst kommt die Bestellung eines Verteidigers ungeachtet der berufsrechtlichen Verpflichtung zur Übernahme des Mandats sinnvollerweise nur dann in Betracht, wenn er tatsächlich in der Lage ist, den Beschuldigten zu verteidigen. Dabei kann auch dem Kriterium der Ortsferne eines Verteidigers trotz der Neufassung des § 142 Abs. 1 StPO durch das 2. ORRG noch eine gewisse Rolle zukommen. Dies muss aber beschränkt auf solche Einzelfälle bleiben, in denen die Kontaktmöglichkeiten zu dem in der JVA einsitzenden Mandanten konkret beeinträchtigt erscheinen.85 Der stereotype Hinweis auf das staatliche Kosteninteresse mit dem Ziel der Bestellung eines ortsansässigen Verteidigers genügt jedenfalls nicht. 2. „Schematische“ Bestellung und richterliche Unabhängigkeit Aus der Anwaltschaft wird gefordert,86 neben fachlichen Aspekten eine gleichmäßige Verteilung bei der Bestellung von Pflichtverteidigern sicherzustellen, da die Wahrnehmung solcher Mandate mindestens für solche Rechtsanwälte, deren beruflicher Schwerpunkt das Strafrecht ist, vielfach einen erheblichen Anteil an der wirtschaftlichen Grundlage ihrer Tätigkeit hat. Es wird deshalb angeregt,87 den Ermittlungsrichtern von den regionalen Rechtsanwaltskammern erstellte Pflichtverteidigerlisten an die Hand zu geben, die diese nach schematisierten Verfahren (Abarbeitung von „A bis Z“, Bestellung nach dem Zufallsprinzip o.ä.) zu erschöpfen hätten. So könne auch den turnusmäßigen Eilrichtern im Nacht-, Feiertags- und Wochenenddienst die Auswahl erleichtert werden, da diesen mit ihrem (häufig zivil-

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Zur Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung durch die Vorschriften über die notwendige Verteidigung vgl. nur Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5),Vor § 137 Rn. 73 m.w.N. 83 Zutr. Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. S. 709 (717). 84 Eine abschließende Aufzählung soll hier nicht vorgelegt werden. Ob sie überhaupt zu leisten ist, mag offenbleiben. 85 So auch Wohlers, StV 2010, 151 (155) unter Hinweis auf Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (27). 86 Vgl. nur Thielmann, StraFo 2006, 358 (359). 87 Siehe Latz, DRiZ 2010, 16; Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71).

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rechtlichen) Regeldezernat nicht immer aktuelle und breite Kenntnisse übernahmebereiter Pflichtverteidiger zur Verfügung stehen werden. Diesen Vorschlägen sollte nicht näher getreten werden. Es wird übersehen, dass eine rein schematische Bestellung von Pflichtverteidigern den Interessen des Beschuldigten jedenfalls in solchen Fällen nicht ausreichend Rechnung tragen kann, in denen dieser an Hand der Aktenlage nachvollziehbare Wünsche – etwa bestimmte Sprach- oder Rechtskenntnisse – zur Qualifikation seines Verteidigers äußert. Dann liegt ein Ermessensausfall vor, der zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt.88 Eine Auswahl nach einem ohne inhaltlichen Spielraum vorgegebenen Muster ohne die ergänzende Heranziehung sachlicher Kriterien im Einzelfall dürfte zudem nur schwerlich mit der richterlichen Unabhängigkeit zu vereinbaren sein.89 Legt man die für den Bereich der Insolvenzverwaltung durch das BVerfG90 entwickelten Kriterien zum Rechtsprechungsbegriff i.S.d. Art. 92 GG an, wird man nicht umhin können, die Pflichtverteidigerbestellung als letztverbindliche Klärung der Rechtslage im Rahmen eines besonders geregelten Verfahrens anzusehen.91 Auch hier hat nochmals Schlothauer92 eine Gegenposition zu entwickeln versucht: Die Pflichtverteidigerbeiordnung sei zwar dem Beschuldigten gegenüber Akt der Rechtsprechung, dem Rechtsanwalt gegenüber jedoch Justizverwaltungsakt gem. § 23 EGGVG auf Grundlage von § 49 BRAO. Diese – nicht weiter begründete – „Theorie von der Bestellungsaktsrelativität“ kann schon deshalb nicht überzeugen, weil jeder Akt der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG schon aus Gründen der Rechtssicherheit in seiner Rechtsnatur grundsätzlich unteilbar ist.93 Es muss damit in letzter Konsequenz dem Richter selbst überlassen bleiben, den nach seiner Einschätzung geeignete(re)n Verteidiger zu bestellen.

88 So auch Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (720); Strafrechtsausschuss der BRAK (o. Fn. 53), S. 13 f. 89 So auch Wohlers, StV 2010, 151 (156); Fühling, DRiZ 2010,17. A.A. Thielmann, StraFo 2006, 358 (362); Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71). 90 BVerfGK 4, 1 (6) = NJW 2004, 2725 (2726) unter Hinweis auf BVerfGE 103, 111 (137 f.). 91 So auch Wohlers, StV 2010, 151 (155) und bereits Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5),Vor § 137 Rn. 72. 92 Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (713 f.) sowie ders./Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 290. Siehe bereits oben III.1.a. und III.2.a. 93 Siehe für den Verwaltungsakt gegen die „Lehre vom relativen VA“ nur Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 23 m. zahlr. Nachw.

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V. Durchführung dringlicher Ermittlungshandlungen mit einem Notverteidiger entsprechend § 118a Abs. 2 S. 3 StPO Es dürfte keinen ganz seltenen Einzelfall darstellen, dass aufgrund ermittlungstaktischer Überlegungen der Staatsanwaltschaft Untersuchungshandlungen bereits zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden sollen, in dem der Beschuldigte innerhalb der ihm gem. § 142 Abs. 1 S. 1 StPO gesetzten Wochenfrist noch keinen Verteidiger seiner Wahl benannt bzw. das Gericht ihm noch keinen Verteidiger beigeordnet hat. Im doppelten Sinne besonders dringlich wird dies etwa bei der geplanten richterlichen Vernehmung eines zentralen, aber moribunden oder nur auf der Durchreise befindlichen Belastungszeugen, bei der der Verteidiger anwesend sein muss (§ 168c Abs. 2 StPO, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK)94, weil ansonsten die Ergebnisse jener Ermittlungshandlung unverwertbar sein werden.95 Nichts anderes gilt in den Fällen, in denen der Beschuldigte aufgrund eines bestehenden Haftbefehls ergriffen wird und unverzüglich, spätestens aber am nächsten Tag dem zuständigen Gericht vorzuführen und durch dieses verantwortlich zu vernehmen ist (§ 115 Abs. 1 und 2 StPO). Zur Lösung der Eilfallproblematik wird zu Recht vorgeschlagen,96 auch dann, wenn der Beschuldigte selbst an der Vernehmung teilnimmt, in analoger Anwendung des § 118a Abs. 2 S. 3 StPO einen Verteidiger nur für die konkret in Frage stehende Vernehmung zu bestellen. Dieses Verteidigungsverhältnis kann gegebenenfalls auf Wunsch des Beschuldigten fortgesetzt, ansonsten nach Maßgabe des § 143 StPO gelöst werden. 97

VI. Gesamtbewertung Für das Recht der Strafverteidigung hat das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts begrüßenswerte inhaltliche Neuregelungen gebracht, auch wenn im Detail den legitimen Verteidigungs- und Informationsinteressen des inhaftierten Beschuldigten nicht immer ausdrücklich Rechnung getragen wurde. Dadurch entstandene Regelungslücken und Unklarheiten sind im Wege der Auslegung zu beseitigen. Es ist darüber hinaus anzuer94 Die richterliche Vernehmung des Beschuldigten außerhalb von Terminen im Zusammenhang mit Haftentscheidungen nach § 168c Abs. 1 StPO hat in der Praxis keine große Bedeutung, vgl. Jahn, in: HbStrVf, (Hrsg.) Heghmanns/Scheffler, 2008, Kap. II Rn. 73. 95 Vgl. Erb, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2008, § 168c Rn. 53 f.; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 320 ff.; Jahn, in: HbStrVf (o. Fn. 94), Kap. II Rn. 232, 238, 253 ff.; ders., Gutachten C zum 67. DJT 2008, S. C 73 f. 96 Wohlers, StV 2010, 151 (156). Die Bedenken von Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (712 ff.) dürften damit (weitgehend) ausgeräumt sein. 97 Oben III.1.c.

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kennen, dass sich der Gesetzgeber um einen weiteren Ausbau der Garantien einer rechtsstaatlichen Verteidigung bemüht und – nicht zuletzt im Hinblick auf das ein Vierteljahr vorher in Kraft getretene 2. Opferrechtsreformgesetz – versucht hat, die Balance mit den weiter ausgebauten Rechten des Verletzten im Strafverfahren nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren.

Vollzugslockerungen und Reststrafenaussetzung CHRISTOPH KREHL

I. Die Verschränkung von Vollzugslockerungen und Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung Vollzugslockerungen sind zwar von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung,1 sie gehen aber – das hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Vollzug lebenslanger Freiheitsstrafen klargestellt – als „Erprobung in Freiheit“ einer Entscheidung über die Aussetzung des Strafrests regelmäßig voraus.2 Der Grund hierfür liegt auf der Hand. Bei langem Freiheitsentzug erweist es sich in besonderer Weise als notwendig, den Gefangenen schrittweise wieder auf die Freiheit vorzubereiten und ihm dabei Gelegenheit zu geben, wenigstens ansatzweise Orientierung für und in einem normalen Leben zu finden. Die dauerhafte, vollständige Vorenthaltung der Freiheit kann nicht schlagartig von einer totalen Wiedereinräumung dieses Fundamentalrechts abgelöst werden, die Gefahr des Scheiterns scheint zu groß, damit einher ginge bei einer unvorbereiteten Entlassung in die Freiheit ein zu hohes Risiko für die erneute Verletzung von Rechtsgütern, die der Staat zu schützen verpflichtet ist. Aber nicht nur aus der Sicht des schützenden Staates, auch aus der Perspektive des einzelnen Strafgefangenen ist es – sogar mit verfassungsrechtlicher Implikation – grundsätzlich geboten, der Entlassung in die Freiheit gestufte Erprobungsschritte vorangehen zu lassen. Der Anspruch eines Gefangenen auf Resozialisierung wird sich regelmäßig nur dann mit wirklicher Aussicht auf Erfolg realisieren lassen, wenn er vor Haftentlassung Gelegenheit erhält, sich an die verantwortungsvolle Ausübung seines Freiheitsrechts in Schritten heranzutasten, und zudem die Möglichkeit hat, im Vorfeld resozialisierungsfördernde Maßnahmen zum Aufbau oder zur Verbesserung späterer Lebensbedingungen in Freiheit in die Wege zu leiten.3 1

Vgl .in diesem Sinn BVerfG StV 2002, 677. BVerfGE 117, 71 . 3 Davon unberührt bleibt die menschenrechtliche Dimension von Vollzugslockerungen, die um der Person des lange Inhaftierten willen fordert, dass dieser – ohne dass es auf die Frage einer sich darauf aufbauenden Prognose ankäme – Gelegenheit zu Außenkontakten hat. Dazu BVerfGE 117,71 2

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Die rechtlichen Regelungen im Umgang mit dem Strafgefangenen während der Freiheitsentziehung einerseits und im Zusammenhang mit einer (vorzeitigen) Entlassung andererseits tragen diesem dem Achtungsanspruch eines Inhaftierten geschuldeten Konzept vollständig Rechnung. Das Strafvollzugsgesetz räumt die Möglichkeit gestufter Vollzugslockerungen ein, das Strafgesetzbuch knüpft mit der Notwendigkeit einer positiven Sozialprognose für eine (vorzeitige) Entlassung inhaltlich daran an: mit der Gewährung von Vollzugslockerungen und dem Verhalten des Strafgefangenen während dieser Erprobung verbreitert sich die Basis für die zu beantwortende Frage, ob eine Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Das Verhalten eines Gefangenen während solcher Erprobungen stellt einen wichtigen Indikator für die künftige Legalbewährung dar.4 Ob dieses auf den ersten Blick einleuchtende Konzept der Lockerungserprobung als Vorstufe einer bedingten Entlassung wirklich zu einer belastbareren Prognose hinführt, mag allerdings zweifelhaft sein. Rückfälle bei Ausgängen und Urlauben sind eher selten, der Erprobungseffekt bei Lockerungen scheint schon mit Blick auf den sich auf das System einstellenden Gefangenen überschätzt zu werden. Und auch ohne Erprobung kann – wie Studien belegen5 – hinreichend Aussicht auf ein Leben ohne Rückfall bestehen. Diese Zweifel ändern freilich nichts daran, dass ein anderes System bedingter Entlassung, ohne die Verschränkung mit Vollzugslockerungen, gegenwärtig nicht einmal diskutiert wird.

II. Vollzugslockerungen in der Praxis Der Umgang mit dem Recht der Vollzugslockerungen stellt damit wichtige Weichen für eine spätere Aussetzungsentscheidung. Die Chancen, zu einer zutreffenden Prognoseentscheidung zu gelangen, verbessern sich mit der Gewährung von Vollzugslockerungen, ihre Versagung führt zu einer auf schmalerer Tatsachengrundlage zu treffenden Entscheidung und stellt tendenziell ihre Richtigkeitsgewähr in Frage.6 Könnte man nun davon ausgehen, dass ohnehin nur in den Fällen Vollzugslockerungen verweigert werden, in denen später eine negative Aussetzungsentscheidung zu erwarten ist, 4

Vgl. BVerfGE 117, 71 . Vgl. dazu P.-A. Albrecht, Zur sozialen Situation entlassener „Lebenslänglicher“, Göttingen 1977, der im Hinblick auf die in den70-iger Jahren ohne jegliche Vorbereitung erfolgte Entlassung Lebenslänglicher in Niedersachsen feststellt, dass nahezu keine gravierenden Rückfälle auftraten. 6 BVerfGE 117, 71 ; BVerfG NJW 1998, 2202, 2203; NJW 2000, 501, 502. 5

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käme den von der Justizvollzugsanstalt zu treffenden Entscheidungen über Vollzugslockerungen allerdings kein maßgeblicher Einfluss auf die Aussetzungspraxis der Vollstreckungsgerichte zu. Die Realität sieht freilich anders aus. Im Zuge einer seit Jahren zunehmenden Betonung von Sicherheitsinteressen, die nicht nur die allgemeinpolitische Diskussion bestimmt und den Gesetzgeber immer wieder zur Verschärfung von Strafvorschriften veranlasst, sondern auch den Rechtsanwender, auch denjenigen im Strafvollzug, erfasst, lässt sich ein allgemeiner Rückgang von positiven Lockerungsentscheidungen feststellen. Unter dem maßgeblichen Einfluss der Exekutive verstärkt sich damit der Trend der Vollzugsanstalten, immer weniger und immer später Lockerungen einzuräumen. Begünstigt dadurch, dass die Gerichte den Anstalten bei der Überprüfung dieser Entscheidungen einen weitgehenden Beurteilungsspielraum einräumen,7 kommt es auch in gerichtlichen Verfahren eher selten zu einer Korrektur negativer Lockerungsentscheidungen. Der Trend zu einer mehr als restriktiven Lockerungspraxis kann sich so ungebremst durchsetzen.

III. Die Antworten des Bundesverfassungsgerichts 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Lockerungsentscheidung Die möglichen Auswirkungen auf die Aussetzungsentscheidungen sind konkret und greifbar. Es besteht die Gefahr, ihr Inhalt und Ergebnis könnten durch die vorangehenden Lockerungsentscheidungen maßgeblich präjudiziert sein. Dies hat das Bundesverfassungsgericht früh erkannt und mit Blick auf den möglichen Einfluss der Lockerungsentscheidungen auf freiheitsentziehende Maßnahmen klargestellt, dass auch insoweit schon – gewissermaßen im Wege der Vorwirkung – das Freiheitsgrundrecht betroffen ist und Bedeutung für die Anwendung und Auslegung der Vorschriften über die Gewährung von Vollzugslockerungen gewinnt. Die prognostische Entscheidung, die der Anstalt dabei zukommt, darf nicht ohne zwingenden Grund die prognostische Basis der Richterentscheidung schmälern, indem sie an die Gewährung von Vollzugslockerungen einen unverhältnismäßig strengen Maßstab anlegt. Dies hat – insbesondere bei langfristig Inhaftierten – Konsequenzen bei der Auslegung der Flucht- und Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2 StVollzG), die regelmäßig über die Gewährung oder Versagung von Lockerungen entscheidet. Die Vollzugsanstalt muss danach bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten, dessen Entlassung dem7

Vgl. BGHSt 30, 320 . S. dazu unten V. 3.

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nächst nur noch von einer positiven Kriminalprognose abhängt, beachten, dass sie dem Gefangenen, soweit vertretbar, eine Bewährung zu ermöglichen und ihn auf die Entlassung vorzubereiten hat. Andernfalls ist sie gehalten, nähere Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, das Vorliegen einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr zu konkretisieren. Dabei bleibt ihr freilich der bisher zugestandene Beurteilungsspielraum mit der eingegrenzten gerichtlichen Überprüfbarkeit erhalten. Die eine Versagung im Verfahren nach dem StVollzG überprüfende Strafvollstreckungskammer muss bei ihrer gerichtlichen Entscheidung auch diese auf das Freiheitsgrundrecht zurückzuführende Vorgabe auf ihre Einhaltung im Blick behalten und zugleich bei eigener umfassender Aufklärung des Sachverhalts feststellen, ob der Entscheidung der Vollzugsbehörde ein umfänglich ermittelter, zutreffender Sachverhalt zugrunde gelegt ist.8 Wer nun meint, damit sei für die gerichtliche Aussetzungsentscheidung das Problem einer (zu) restriktiven Lockerungspraxis aus dem Weg geräumt und so eine Entscheidung auf einer breiten Tatsachenbasis gewährleistet, sieht sich getäuscht. Das Beharrungsvermögen der Vollzugsbehörde einerseits und die Neigung der Gerichte andererseits, den Beurteilungsspielraum bei der Prognoseerstellung weiter anzuerkennen und an den Grenzen ihrer Überprüfbarkeit nichts entscheidend zu ändern, sorgen dafür, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf die Lockerungsentscheidung nahezu wirkungslos bleiben.

2. Die Überprüfbarkeit der Lockerungsentscheidung Die Antwort des Bundesverfassungsgerichts blieb nicht lange aus. Es legte dem Vollstreckungsgericht im Aussetzungsverfahren nach den §§ 57, 57a StGB eine besondere Prüfungspflicht auf, indem es diesem aufgab, sich im Falle verweigerter Vollzugslockerungen nicht mit dem Umstand einer – von der Vollzugsbehörde verantworteten – begrenzten Tatsachengrundlage abzufinden, sondern die Rechtmäßigkeit der bisherigen Versagung von Lockerungen eigenständig zu prüfen, selbst dann, wenn sie ihrerseits schon Gegenstand gerichtlicher Überprüfung im Verfahren nach dem StVollzG gewesen ist.9 Schon in der nicht erfolgten oder nicht hinreichenden Überprüfung der Nichtgewährung von Lockerungen sah das Bundesverfassungsgericht einen verfassungsrechtlichen Mangel der Aussetzungsentscheidung, die insoweit auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage beruht. Aber auch mit dieser Überprüfung einer ablehnenden Lockerungsentscheidung im Aussetzungsverfahren und der Feststellung ihrer unberechtig8 9

BVerfG NJW 1998, 1133, 1134. BVerfGE 107, 71 ; BVerfG NJW 1998, 2202, 2204; NJW 2000, 502, 504.

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ten Versagung war noch nichts erreicht. Es zeigte sich, dass sich weder die Justizvollzugsanstalten noch die deren Entscheidung überprüfenden Gerichte von einer solchen in einem anderen Verfahren getroffenen, sie nicht bindenden Feststellung wirklich beeindrucken ließen. Häufig genug blieb (und bleibt) es nach einer negativen Aussetzungsentscheidung, die Vollzugslockerungen anmahnte, bei der Verweigerung durch die Vollzugsanstalten, deren Entscheidungen auch im gerichtlichen Verfahren unbeanstandet blieben. Da sich auch die über die vorzeitige Entlassung entscheidenden Strafvollstreckungskammern angesichts des durch Fehlen von Lockerungen bestehenden Prognosedefizits regelmäßig außer Stande sahen, zu einer positiven Sozialprognose zu gelangen, schied eine Freilassung des Gefangenen regelmäßig aus. Auch Drohungen der Aussetzungsgerichte, den Inhaftierten ggf. auch ohne Lockerungen freizulassen, halfen nichts; die Justizvollzugsanstalten scheuten die Verantwortung für Lockerungen, von denen sie aus welchen Gründen auch immer nicht überzeugt waren; die Vollstreckungsgerichte waren letztlich auch nicht bereit, einen über viele Jahre inhaftierten Gefangenen ohne jede Erprobung auf freien Fuß zu setzen. Eine verfassungswidrige Lockerungspraxis drohte damit, generell folgenlos zu bleiben.

3. Vorgehen nach § 454a StPO Angesichts dieser Ausgangslage sah sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst, ein noch weitergehendes Instrumentarium zu entwickeln, das dieser mit der Freiheitsgarantie nicht in Einklang zu bringenden Folgenlosigkeit, die sich auch nicht formell mit dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Nebeneinander von zwei Rechtszügen rechtfertigen lässt,10 entgegenwirkt. Es ist geprägt von dem Bestreben, den Vollstreckungsgerichten eine effektive Einwirkungsmöglichkeit auf die Vollzugsanstalten zu geben, die ansonsten mit ihrer Verweigerungshaltung den Freiheitsanspruch des Gefangenen dauerhaft in Frage stellen könnten. Mit anderen Worten: einen Gefangenen, dessen bedingte Entlassung nur noch von einer günstigen Prognose des Richters abhängt, ohne greifbare Konsequenzen, ggf. auch wiederkehrend, auf künftige Aussetzungsverfahren zu verweisen, in denen sich eine unverändert fortbestehende Prognoseunsicherheit immer wieder aufs Neue zu seinem Nachteil auswirkt, ist von Verfassungs wegen nicht hinnehmbar. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht, das zwar (nicht bindende) Hinweise an die Vollzugsanstalten nicht von vornherein als ungeeignet angesehen hat, als zusätzliche prozessuale Handlungsoption der 10

So u.a. aber OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311, 312 ff; OLG Hamm NStZ 2006, 64.

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Vollstreckungsgerichte ein Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO in Betracht gezogen. Besonders in den Fällen, in denen ohnehin eine positive Entwicklung des Gefangenen festzustellen ist und ansonsten lediglich das Fehlen einer Bewährung in Vollzugslockerungen das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit berührt, kann eine Strafaussetzung zur Bewährung, die die Entlassung nicht sofort, sondern erst für einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt anordnet, die nachteiligen Folgen einer unberechtigten Verweigerung von Lockerungen wirksam begrenzen. Mit einer angeordneten Entlassung ist nicht nur sichergestellt, dass der Freiheitsentzug allenfalls bis zum Entlassungszeitpunkt auf einer rechtswidrigen Schmälerung der Prognosebasis beruht. Es besteht zudem bei einer entsprechend in der Zukunft liegenden Strafaussetzung genügend zeitlicher Spielraum, der den Vollzugsbehörden eine angemessene Erprobung des Verurteilten in Lockerungen ermöglicht.11

IV. Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2009 An diese Überlegungen knüpft nun – mehr als 10 Jahre nach der ersten Entscheidung hierzu – das Bundesverfassungsgericht mit seinem neuesten Beschluss vom 30. April 2009 an.12 Dies zeigt nicht nur, dass sich das Problem (zu Unrecht) verweigerter Vollzugslockerungen auch angesichts der bisherigen Rechtsprechung nicht erledigt hat; es belegt auch die Ernsthaftigkeit, mit der das Bundesverfassungsgericht trotz der gegen seinen Lösungsansatz in Literatur13 und Rechtsprechung14 erhobenen Einwänden seinen Weg zur Durchsetzung des Freiheitsanspruchs eines Strafgefangenen weiter verfolgt.

1. Zur praktischen Anwendbarkeit des § 454a Abs. 1 StPO Dabei füllt das Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung, allerdings gestützt auf Senatsrechtsprechung,15 die Option eines Vorgehens nach § 454a StPO mit praktischem Leben. Es legt überzeugend dar, dass die einfach-gesetzliche Ausgestaltung eine Strafaussetzung – etwa unter Berücksichtigung eines von einem Sachverständigen für erforderlich gehalte11

Vgl. zuerst BVerfG NJW 1998, 2202, 2204. Dazu auch BVerfGE 117, 71 . NJW 2009, 1941 ff. 13 S. etwa Fischer StGB, 57. Aufl., § 57, Rdn. 17; neuerdings Reichenbach NStZ 2010, 424ff. 14 Vgl. z.B. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311; OLG Jena NStZ-RR 2006, 354; OLG Oldenburg NdsRPfl 2009, 191 15 BVerfGE 117, 71 . 12

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nen entlassungsvorbereitenden Erprobungszeitraums - auch erst in ferner Zukunft zulässt. Und es macht auch deutlich, dass mit einem solchen Vorgehen eine unverantwortbare Risikoverlagerung zu Lasten der Allgemeinheit nicht verbunden ist. In der gesamten Zeit bis zur Entlassung des Gefangenen ist eine Korrektur der Entscheidung unter den erleichterten Voraussetzungen des § 454a Abs. 2 StPO möglich. Ein engmaschiges Netz von Auflagen und Weisungen und die Unterstützung durch einen Bewährungshelfer können zudem schon in der Phase bis zur Entlassung helfen, die Voraussetzungen für ein späteres straffreies Leben in Freiheit zu schaffen. Das Werben für ein solches Vorgehen im Einzelfall bekräftigt das Bundesverfassungsgericht mit seinem nicht zu unterschätzenden Hinweis, Vollstreckungsgerichte hätten ihre prozessualen Möglichkeiten auszuschöpfen, wenn es darum ginge, den Vollzugsbehörden das Gebotensein von Vollzugslockerungen deutlich zu machen. Damit ist der Weg nach § 454a Abs. 1 StPO nicht nur eine Handlungsoption für die Vollstreckungsgerichte; er kann je nach der tatsächlichen Fallgestaltung – was der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt – verfassungsrechtlich geboten der einzige sein, der das Freiheitsrecht des Gefangenen praktisch wirksam werden lässt.

2. Die sofortige Entlassung Bemerkenswerterweise belässt es das Bundesverfassungsgericht nicht bei diesen Bemerkungen zu § 454a Abs. 1 StPO, sondern versäumt nicht, auch darauf hinzuweisen, dass auch eine sofortige Entlassung eines Inhaftierten (verfassungsrechtlich) geboten sein kann. Dies soll in Betracht kommen, wenn etwa ein enges Netz von Auflagen und Weisungen und die Betreuung durch einen Bewährungshelfer das von der Vollzugsbehörde zu verantwortende Prognosedefizit so zu kompensieren verspricht, dass das schwer einschätzbare Risiko einer Rückfalltat effektiv begrenzt wird und dadurch dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung getragen ist. Freilich sieht das Bundesverfassungsgericht eine unvorbereitete Entlassung bei langen Haftzeiten offenbar nur als seltene Ausnahme, während sie bei kurzen bis mittleren Haftzeiten - bei längerer rechtswidriger Versagung von Lockerungen und zeitlicher Nähe zum Endstrafentermin, angesichts derer andere Maßnahmen (Erteilung eines Hinweises oder nach Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO) nicht erfolgversprechend sind – durchaus praktisch werden kann. So sehr dieser Hinweis letztlich auch zu begrüßen ist, so sehr ist zu bedauern, dass das Bundesverfassungsgericht – allein mit dem Hinweis auf gegenüber einem Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO begrenzte Widerrufsmöglichkeiten – eine sofortige Freilassung wohl nahezu ausschließen will. Zumindest wäre es an dieser Stelle hilfreich gewesen, hätte

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sich das Gericht einmal mit dem tatsächlichen Rückfallrisiko etwa von Inhaftierten, die ein Tötungsdelikt begangen haben und typischerweise lange Freiheitsstrafen zu verbüßen haben, auseinandergesetzt. Häufig steht in diesen Fällen einem langen Freiheitsentzug ein doch eher geringes Rückfallrisiko gegenüber, dem womöglich auch durch im Rahmen einer Aussetzungsentscheidung anzuordnende Auflagen und Weisungen wirksam zu begegnen ist.

3. Rezeption der Entscheidung Es erscheint auf den ersten Blick zweifelhaft, ob durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Problem rechtswidrig verweigerter Vollzugslockerungen und dessen Auswirkungen auf zu treffende Aussetzungsentscheidungen endlich gelöst werden kann. Zu lange schon besteht die Zwangslage, in der sich die Vollstreckungsgerichte angesichts einer mitunter notorischen Verweigerungshaltung der Vollzugsbehörden befinden; und zu groß war schon in der Vergangenheit der Widerstand gegen die jetzt noch einmal mit Leben gefüllte Lösung des Problems über § 454a StPO,16 der sich zudem (wenn auch weitgehend mit alten Argumenten) neu formiert.17 Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass das Verfassungsgericht mit seinen grundlegenden, aber auch zugleich praktischen Ausführungen zur Durchsetzung der berechtigten Freiheitsinteressen inhaftierter Gefangener vielleicht doch Erfolg haben könnte. Erste Entscheidungen weisen in diese Richtung. a. So hat das OLG Köln bereits in einem Beschluss vom 19. Juni 200918 in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung eine es bindende verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung des § 454a StPO gesehen, die das bisher in Literatur und Rechtsprechung19 als gleichwertig angesehene Vollstreckungsinteresse der Rechtsgemeinschaft bei Prognoseunsicherheiten ggf. hinter das Resozialisierungsinteresse des Verurteilten zurückstehen lasse. Kennzeichnend für diese Entscheidung war, dass nach sachverständi16 Dazu schon oben Fn. 13/14. Eine Ausnahme bildet insoweit in der Vergangenheit die Entscheidung des OLG Karlsruhe StraFo 2008, 129ff. 17 S. hierzu typisch Reichenbach NStZ 2010, 424ff, der die Interpretation des § 454a StPO durch das Bundesverfassungsgericht, das damit verbundene Aufbrechen des gesetzlichen Rechtsschutzkonzepts im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung von Vollzugslockerungen und damit einhergehend eine Rechtsfindung contra legem beanstandet, ohne sich auch nur einmal mit dem Freiheitsanspruch eines Inhaftierten auseinander zu setzen, der eine generelle Folgenlosigkeit einer verfassungswidrigen Lockerungspraxis verbietet. 18 OLGSt StPO § 454a Nr. 3. 19 Vgl. z.B. Appl in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. § 454a, Rdn. 2; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311.

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ger Einschätzung die Erprobung des Verurteilten in Vollzugslockerungen für eine positive Sozialprognose unverzichtbar und ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Lockerungsverweigerung ohne absehbares Ende bereits seit fast einem Jahr anhängig war. Gleichwohl hat das OLG eine durch die Vorinstanz angeordnete vorzeitige Haftentlassung (aus einer zeitigen Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 8 Monaten) aufgehoben, um der Strafvollstreckungskammer durch Einholung eines Lockerungsgutachtens die Möglichkeit zur Prüfung zu geben, ob dem Verurteilten die Überweisung in den offenen Vollzug zu Unrecht verwehrt worden ist. Warum nicht bereits auf der vorliegenden, im Verfahren nach § 454 StPO eingeholten gutachterlichen Stellungnahme zur Entscheidung nach § 57 StGB eine endgültige Entscheidung (ggf. nach § 454a StPO) getroffen werden konnte, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Womöglich hat sich das OLG Köln noch vor einer konsequenten Umsetzung der erst kurz zuvor ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgericht gescheut. b. Diesen Schritt ist es dann mit einer weiteren Entscheidung vom 11. Dezember 200920 - bemerkenswerterweise in einem Fall von Sicherungsverwahrung – gegangen und hat trotz im Entscheidungszeitpunkt an sich ungünstiger Prognose eine langjährige Unterbringung selbst zur Bewährung ausgesetzt. Hintergrund war die Verweigerung von Vollzugslockerungen durch die Vollzugsanstalt, obwohl zwei Gerichte diese angeregt bzw. sogar – gestützt auf sachverständige Äußerungen – ausdrücklich befürwortet hatten. Hinzu kam ein hinhaltendes Taktieren; der erste gerichtliche Hinweis war fast 4 Jahre zuvor gegeben worden. Zudem gab die Anstalt hinsichtlich der zuletzt beantragten Lockerung zu verstehen, dass angesichts eines Zustimmungsvorbehalts des Justizministeriums mit Bearbeitungszeiten von ca. einem Jahr gerechnet werden müsse. Mit Blick darauf, dass es sich bei der beantragten Lockerung wohl zunächst lediglich um die Durchführung eines begleiteten Ausgangs gehandelt hat, schien dem Senat – durchaus nachvollziehbar – der bürokratische Aufwand unter Berücksichtigung des Freiheitsinteresses nicht hinnehmbar. Dass er dies zum Anlass genommen hat, die wegen Vermögensdelikten angeordnete Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen, ist wohl der fallspezifischen Besonderheit geschuldet, dass es nach der gutachterlichen Einschätzung allein von der Willensentscheidung des Untergebrachten abhängen werde, ob er wieder rückfällig werde. Bei dieser Ausgangslage kommt Vollzugslockerungen, durch die der Verurteilte die Chance hat zu beweisen, dass er es mit seinen guten Vorsätzen ernst meint und auch das erforderliche Durchhaltevermögen aufweist, eine besondere Bedeutung zu. Angesichts eines fast fünfmonatigen Zeitraums bis zum Entlassungszeitpunkt bestand für die 20

StV 2010, 199.

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Anstalt auch noch hinreichend Möglichkeit, Vollzugslockerungen zu gewähren, an deren Ende entweder der durch Taten untermauerte Wille des Verurteilten, keine Straftaten mehr zu begehen, oder die durch Unregelmäßigkeiten oder gar Rückfall begründete Enttäuschung der Erwartung eines Lebens ohne Straftaten stehen konnte. c. Am 11. Februar 2010 schloss sich ein Beschluss des OLG Hamm an, der eine seit 21 Jahren vollzogene lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzte und den Zeitpunkt der Entlassung auf ein Jahr später festsetzte.21 Zugleich wurde die Vollzugsbehörde angewiesen, den Verurteilten in den offenen Vollzug zu überweisen. Dabei legte das OLG ohne Einschränkungen die vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 30. April 2009 dargelegten Maßstäbe zugrunde und kam deshalb zu einer Strafaussetzung, obwohl im jetzigen Zeitpunkt eine positive Prognose nicht gestellt werden konnte. Auch dieser Fall war gekennzeichnet von der durch gutachterliche Stellungnahmen festgestellten Notwendigkeit einer (weiteren) Erprobung in Vollzugslockerungen. Die Besonderheit des Falles lag darin, dass der Verurteilte sich zwischen 2004 und 2007 bereits dreieinhalb Jahre beanstandungsfrei im offenen Vollzug bewährt hatte, nach einer im Aussetzungsverfahren überraschenden Neubewertung seiner Gefährlichkeit durch eine bisher nicht mit seinem Fall befasste Gutachterin rechtswidrig in den geschlossenen Vollzug zurück verlegt worden und sein nach erneut positiven psychologischen und psychiatrischen Stellungnahmen im März 2009 gestellter Antrag auf Rücküberweisung in den offenen Vollzug infolge zögerlicher Sachbehandlung durch Justizvollzugsanstalt, Aufsichtsbehörde und wohl auch Gericht (noch) ohne Erfolg geblieben war. Der bis zur angeordneten Entlassung verbleibende Zeitraum gab nach Ansicht des Senats genügend Zeit zur weiteren Erprobung im offenen Vollzug, den er gleich selbst anordnete. Ob dies freilich, wie er meint, so von ihm anzuordnen war, erscheint doch eher fraglich. Die vom Senat angesprochene verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der Entscheidung mit seiner sich daraus ergebenden Verlegung in den offenen Vollzug berechtigt wohl nicht zur Anordnung einer entsprechenden Verlegung. Es bleibt Angelegenheit der Anstalt, dieser verfassungsrechtlich festgestellten Pflicht zu genügen oder nicht: mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben können, bis hin zu. einer Entlassung ohne Erprobung.22 d. Schließlich folgte am 23. Februar 2010 ein Beschluss des OLG Frankfurt.23 Auch er betraf einen Fall (zeitiger Freiheitsstrafe), in dem auf der 21

1 Ws (L) 479/09 – juris. Dies - ungeachtet einer verfassungsrechtlichen Argumentation - wohl schon deshalb, weil für diesen Fall die Aufhebung der Entscheidung gesetzlich nicht vorgesehen wäre. 23 3 Ws 142/10 – BeckRS 2010, 07316. 22

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Grundlage sachverständiger Äußerungen eine günstige Sozialprognose nur noch von der Bewährung in gestuften, im Einzelnen bezeichneten Vollzugslockerungen über drei Monate abhing und diese in der Vergangenheit ohne zureichenden Grund versagt worden waren. Das OLG gab in dieser Entscheidung seine entgegenstehende Ansicht zur Unanwendbarkeit des § 454a StPO auf, weil es – wie das OLG Köln – in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung eine bindende verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift sah. Es ordnete deshalb – in Orientierung an der vom Sachverständigen für notwendig gehaltenen Zeit der Bewährung in Lockerungen – eine Entlassung in drei Monaten an. Hinsichtlich der Versagung dieser Lockerungen durch die Vollzugsanstalt sah der Senat trotz einer dahingehenden Äußerung eines weiteren Sachverständigen eine Ermessensreduzierung auf Null, weshalb dem Senat im Ergebnis nur noch die Gewährung von Lockerungen vertretbar erschien: dies vor allem mit Blick auf zwei anderslautende Gutachten und darüber hinaus einen zu strengen Maßstab der Justizvollzugsanstalt bei der Flucht- und Missbrauchsgefahr nach § 11 Abs. 2 StVollzG, die sich an der Gefahrenprognose nach § 57 StGB orientiert hatte.

V. Ausblick 1. Begrenzter Anwendungsbereich des § 454 a StPO Die genannten Entscheidungen dürfen trotz zurzeit fehlender entgegenstehender Rechtsprechung nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Problem zu Unrecht verweigerter Vollzugslockerungen damit nicht als gelöst angesehen werden kann. Zu bedenken ist zum einen, dass alle Entscheidungen nur Konstellationen erfassen, in denen es für die Bejahung einer an sich günstigen Prognose allein noch auf eine Bewährung in Vollzugslockerungen ankommt. Nicht erfasst sind damit alle diejenigen Fälle, in denen eine solche, in Richtung einer positiven Prognose laufende Einschätzung (noch) gar nicht möglich ist und in denen der Verurteilte auch keine Chance erhält, sich diese jedenfalls auch über eine Bewährung bei Lockerungen zu erarbeiten. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung hilft also nur dann weiter, wenn eine weitgehend positive Entlassungsprognose – gestützt auf gutachterliche Einschätzungen - schon gestellt werden kann, nur als letzte Hürde gewissermaßen die Lockerungsbewährung zu durchlaufen ist.24

24

Vgl. hierzu BVerfG NJW 2009, 1941, 1945.

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2. Entlassung auch ohne Mitwirkung der JVA Es verwundert, dass schon angesichts dieses begrenzten Anwendungsbereichs für § 454a StPO jedenfalls in der Literatur der Widerstand nicht aufgegeben zu werden scheint.25 Dabei wird nicht nur übersehen, dass die Kammerentscheidung aus dem Jahre 2009 auf ausdrückliche Senatsrechtsprechung zurückzuführen ist26, insoweit nichts wirklich Neues bringt und die darin enthaltene verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift über ihre verfassungsprozessuale Bindungswirkung (§ 31 BVerfGG) die Fachgerichte schon länger bindet. Es ist auffällig, dass eine das Freiheitsgrundrecht beachtende Betrachtung des Problems nicht vorgenommen wird, stattdessen über eine rein formale Betrachtungsweise Gesichtspunkte vorgebracht werden, die dafür sprechen sollen, an dem bestehenden Zustand einer Lockerungsverweigerung ohne Konsequenzen (der offenbar als hinnehmbar akzeptiert wird, allenfalls den Gesetzgeber zum Handeln veranlassen könnte) nichts zu ändern. Diese Ansicht mag einem Zeitgeist entsprechen, der bereit ist, den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit jederzeit den Vorrang vor den Freiheitsrechten auch von Straftätern einzuräumen; in diesem Fall sollte dies aber auch klar zum ausdrücklichen Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden. Es ist – trotz des bestehenden Nebeneinanders zweier Rechtswege nach §§ 109 ff StVollzG und § 454 StPO, trotz der im Kern beschränkten Überprüfbarkeit von Lockerungsentscheidungen und trotz einer fehlenden gesetzlichen Regelung zur Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen nach dem StVollzG – selbstverständlich nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen, den Justizvollzugsanstalten mit ihren Entscheidungsbefugnissen zur Gewährung von Vollzugslockerungen einen (womöglich noch gerichtsfesten) Freiraum zuzugestehen, in dem sie maßgeblich nach eigenem Gutdünken (oder nach den Weisungen und verfahrensverzögernden prozeduralen Vorgaben der Aufsichtsbehörden und Justizministerien) tiefgreifende, auch die Freiheit des Einzelnen berührende Entscheidungen treffen können. Wer wie das Bundesverfassungsgericht nach effektiven Wegen sucht, den so nicht vorgesehenen Einfluss von Justizvollzugsanstalten zu begrenzen, der bricht weder „gesetzliche Rechtsschutzkonzepte“ auf noch findet er im Hinblick auf mangelnde Vollstreckungsmöglichkeiten Recht „contra legem“.27 Natürlich verbleibt es bei den Entscheidungsmöglichkeiten der Justizvollzugsanstalt auch nach einer Entscheidung gemäß § 454a StPO. Diese muss allerdings damit rechnen, dass es im Falle einer fortdauernden 25

So besonders in jüngerer Zeit: Reichenbach NStZ 2010, 424 ff; s. dagegen aber auch Groß jurisPR-StrafR 12/2009 Anm. 1. 26 BVerfGE 117, 71 . 27 So aber Heinrich NStZ 2010, 424, 428.

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Versagung gleichwohl zu einer Entlassung kommt.28 Nur dies entspricht der Wirkkraft des Freiheitsrechts, das die generelle Folgenlosigkeit einer verfassungswidrigen Lockerungspraxis im Aussetzungsverfahren verbietet.29 Käme es nicht zur Entlassung, liefe ein Vorgehen nach § 454a StPO genauso ins Leere wie die früher an die Vollzugsanstalten von Seiten der Gerichte erteilten Hinweise. In ihrer ansonsten gern in den Vordergrund gerückten Verantwortung für Sicherheitsbelange der Allgemeinheit wird die Vollzugsanstalt in dieser Situation eigenverantwortlich zu erwägen haben, ob sie auf Lockerungen verzichtet und eine aus ihrer Sicht nicht zu verantwortende Entlassung ohne Bewährung in Lockerungen mit all ihren möglichen Konsequenzen in Kauf nimmt oder stattdessen den Weg der Lockerungen beschreitet und damit den Gefangenen entweder auf seine - ihm von einem Gericht in Aussicht gestellte – Freiheit vorbereitet oder auch den Gerichten im Falle von Lockerungsversagen die Möglichkeit zu einem Widerruf ihrer Entscheidung gibt.

3. Umfassende Kontrolle im Verfahren nach GG 109 ff. StVollzG Das Problem verfassungswidrig verweigerter Lockerungen wird sich - über den Anwendungsbereich hinaus, der jetzt § 454a StPO nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeräumt ist - grundsätzlich nur lösen lassen, wenn man bereits im Verfahren nach § 109 StVollzG zu einer umfassenderen Kontrolle von Entscheidungen der Vollzugsanstalten gelangt. Die maßgebliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 198130 ist längst überholt. Sie kann nicht berücksichtigen, dass unter dem Blickwinkel des Freiheitsgrundrechts, das das Bundesverfassungsgericht erst später auch für Lockerungsentscheidungen als maßgeblich bezeichnet, eine weitgehend der Vollzugsanstalt überlassene und allein auf Ermessensmissbrauch überprüfbare Entscheidung nach altem Stil verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar ist. Dagegen könnte zwar sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht in der Folgezeit nahezu keine fachgerichtliche Entscheidung im Verfahren nach § 109 StVollzG verfassungsrechtlich beanstandet, vielmehr immer wieder den Spielraum der Justizvollzugsanstalten und die den Fachgerichten und auch dem Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen bei der Überprüfung deren Entscheidungen betont hat.31 Nimmt man allerdings den in der Entschei28

Andere Ansicht Heinrich NStZ 2010, 424, 427f. Dazu: BVerfG NJW 2009, 1941, 1943. 30 BGHSt 30, 324 ff. 31 Als Ausnahmen: BVerfG NStZ 1998, 430; StV 1998, 434 Vgl. im Übrigen: BVerfG NJW 1998, 1133; NStZ 2002, 222; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2003 – 2 BvR 24/03 – juris; Beschluss der 3. Kammer des 29

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dung des Bundesgerichtshofs nicht erwähnten Einfluss einer Lockerungsentscheidung auf die spätere Aussetzung einer Strafvollstreckung und damit - neben dem betroffenen, grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Resozialisierungsinteresse32 - das Freiheitsgrundrecht im Lockerungsverfahren ernsthaft in den Blick, muss sich das sowohl auf die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt als solche als auch auf ihre Überprüfbarkeit auswirken. Es bleibt zwar dabei, dass die Vollzugsanstalt mit ihrer Lockerungsentscheidung (auch) ihrer Aufgabe der Gestaltung des Vollzugsalltags nachkommt, sie schafft aber auch Grundlagen für eine später zu treffende Aussetzungsentscheidung. Damit erweitert sich der Zweck der ihr übertragenen Befugnisse, was sich auch im Rahmen der Kontrolle ihrer Entscheidung auswirken muss. Die Nähe der Anstalt zu dem Gefangenen vermittelt ihr, worauf der Bundesgerichtshof zutreffend hingewiesen hat, unmittelbare Eindrücke von dem Gefangenen, die sie im Rahmen ihrer Befugnisse in den Entscheidungsprozess weiter einbringen kann und soll. Mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht dürfen diese Eindrücke aber nicht als bloße subjektivierte Zweifel in die Lockerungsentscheidung eingebracht werden, sie müssen im Rahmen einer auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG richtig verstandenen Missbrauchs- und Fluchtgefahr (§ 11 Abs. 2 StVollzG)33 und unter Berücksichtigung des Gewichts der jeweils beantragten Lockerung34 hinreichend konkretisiert und objektiviert sein. Bloße Vermutungen, subjektive Einschätzungen und Zweifel allein können trotz eines anzuerkennenden Beurteilungsspielraums der Vollzugsanstalten eine Lockerungsversagung nicht rechtfertigen. Damit erhöht sich die Darlegungslast der Anstalt, die sich nicht allein auf ihre geäußerten Zweifel zurückziehen kann, sondern nachvollziehbar konkrete Anhaltspunkte darzulegen hat, aus denen auf das Vorliegen der Flucht- oder Missbrauchsgefahr geschlossen werden kann.35 Dass dabei – wie es der Bundesgerichtshof noch im Jahre 1981 für möglich gehalten hat36 – mehrere Entscheidungen vertretbar sein können, erscheint

Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. September 2008 – 2 BvR 719/08 – juris. 32 Vgl. BVerfG NStZ 1998, 430. 33 Anders noch BGHSt 30, 324, 325: ermessensähnlich zu bestimmen. 34 So wie sich grundsätzlich der Maßstab bei einer Prognose nach §§ 57, 57a StGB und einer solchen nach § 11 Abs. 2 StVollzG im Hinblick auf die Konsequenz der zu treffenden Entscheidung unterscheidet, müssen auch die Begriffe der Missbrauchs- und Fluchtgefahr im Hinblick auf die jeweils im Raum stehende Lockerung durchaus differenziert verwandt werden. Für die Annahme einer Flucht- und Missbrauchsgefahr bei einem überwachten Ausgang bedarf es wesentlich konkreterer Anhaltspunkte als etwa bei der Frage des offenen Vollzugs. 35 BVerfG NJW 1998, 1133, 1134. 36 BGHSt 30, 324, 325.

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mit Blick auf die grundrechtsbezogen37 zu treffende Entscheidung fernliegend. Vielmehr wird es neben nicht zu beanstandender Versagung von Lockerungen – ähnlich wie es die Fachgerichte jetzt schon im Rahmen ihrer Prüfung nach §§ 57, 57a StGB angenommen haben – häufiger zu einer Reduzierung des Beurteilungsspielraums auf Null und damit zu einer Verpflichtung kommen, Lockerungen zu gewähren. Die Rationalisierung der Lockerungsentscheidung mit ihren sich auch auf den Maßstab auswirkenden Folgen muss auch für ihre Überprüfbarkeit im fach- und verfassungsgerichtlichen Verfahren Konsequenzen haben. Ohne dass an dieser Stelle ein umfassendes Rechtsschutzkonzept entwickelt werden kann, liegt es auf der Hand, dass schon die erwähnte Erweiterung des Zwecks bei den den Vollzugsanstalten übertragenen Befugnissen im Rahmen der Lockerungsgewährung zu einer höheren Kontrolldichte führen muss. Lockerungsversagungen etwa, die erst gar nicht in den Blick nehmen, dass durch sie auch die Grundlagen einer späteren Aussetzungsentscheidung berührt sind, können ebenso wenig Bestand haben wie solche, die ohne hinreichend konkrete und nachvollziehbare Darlegung vom Vorliegen einer Missbrauchs- und Fluchtgefahr ausgehen. Schließlich werden auch solche Entscheidungen zu beanstanden sein, die bei ihrer Gefahrenprognose, z. B. im Hinblick auf das Gewicht der beantragten Lockerung, einen zu strengen Maßstab, womöglich orientiert an sachverständigen Äußerungen zur Aussetzungsfrage nach §§ 57, 57a StGB, zugrunde legen.

37

Also im Sinne einer Auslegung, die die Wirkkraft eines Grundrechts am stärksten entfaltet: vgl. BVerfGE 51, 97 .

Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht CLAUS KREß

Einleitung Zurückhaltung und Bescheidenheit, so wie sie der von mir sehr verehrten Jubilarin eigen sind, werden Ruth Rissing-van Saan zögern lassen, sich als Völkerstrafrechtlerin zu bezeichnen. Doch es ist unbestreitbar, dass sie mit dem Völkerstrafrecht während ihrer langen und so erfolgreichen richterlichen Tätigkeit für vergleichsweise kurze Zeit intensiv in Berührung gekommen ist. Denn am 30. April 1999 bzw. am 21. Februar 2001 erließ der 3. Strafsenat, dem die Jubilarin seinerzeit angehörte, insgesamt drei Grundsatzentscheidungen zum Völkerstrafrecht1, und Rissing-van Saan war in sämtlichen Fällen Berichterstatterin. Tatsächlicher Hintergrund dieser Entscheidungen waren die fürchterlichen Kampagnen sogenannter „ethnischer Säuberungen”, die Milosevic, Karadzic et al. in den 1990er Jahren in Bosnien-Herzegowina zu Lasten der bosnischen Muslime orchestrierten. Strafrechtlich ergaben sich vor allem die beiden Fragen, ob die Mitwirkung an diesen Kampagnen als Völkermord einzustufen und ob die Anwendung von § 220a StGB a. F.2 auf die entsprechenden Auslandstaten von Ausländern gestützt auf § 6 Nr. 1 StGB a. F.3 völkerrechtskonform war.4 Um die Herausforderung anzudeuten, die diese Fragen darstellten, sei an die Rahmenbedingungen des Jahres 1999 erinnert. Rechtsprechung zum deutschen 1 BGHSt 45, 64; BGHSt 46, 292; BGH NJW 2001, 1848; auch letztere Entscheidung hätte die Aufnahme in die amtliche Sammlung verdient (s. unten in Fn. 70). 2 § 220a StGB a. F. ist mit Wirkung vom 30.6.2002 durch § 6 VStGB ersetzt worden; Claus Kreß in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch (MünchKomm), Band 6/2: Nebenstrafrecht III. Völkerstrafgesetzbuch, 2009, § 6 VStGB, Rn. 27. 3 6 Nr. 1 a.F. ist mit Wirkung vom 30.6.2002 in § 1 VStGB aufgegangen; MünchKommKreß § 6 VStGB, Rn. 112 f. 4 BGHSt 46, 292, 297 - 306 behandelt im Übrigen die schwierige Abgrenzung zwischen internationalem und nicht-internationalem bewaffneten Konflikt, die Auslegung des Begriffs der geschützten Person i.S.d. Art. 4 des IV. Genfer Übereinkommens zum Humanitären Völkerrecht und den konfliktsvölkerrechtlichen Begriff der Folter.

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Völkermordtatbestand gab es nicht. Tiefer in die Dogmatik eindringendes Schrifttum fehlte ebenso. Schließlich hatte die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (RStGH) zum (gleichlautenden) völkerrechtlichen Völkermordtatbestand zwar soeben eingesetzt.5 Doch stellten sich dem RStGH nicht diejenigen Rechtsfragen, auf die es zur Entscheidung der deutschen Fälle ankam. Über diese hatte der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) zu befinden. Indessen war dieser 1999 noch nicht bis zur Beantwortung dieser Fragen vorgedrungen. In dieser wenig geselligen Lage gelang es dem 3. Senat, einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, die Dogmatik des Völkermordtatbestands zu entfalten, und man wird annehmen dürfen, dass die Berichterstatterin hierbei eine mehr als nur randständige Rolle gespielt hat. Die Judikatur des 3. Senats hat international größte Beachtung gefunden und zu einem faszinierenden Dialog hoher Gerichte beigetragen, an dem neben dem BGH (in dieser Folge) das BVerfG, der JStGH, der (zwischenstaatliche) Internationale Gerichtshof (IGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beteiligt sein sollten. Inzwischen hat sich auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in die Debatte eingeschaltet. Mit dem folgenden Beitrag möchte ich die Jubilarin an ihre so folgenreiche Begegnung mit dem Völkerstrafrecht erinnern und dabei vier Aspekte „ihrer” Rechtsprechung im Licht der nachfolgenden Entwicklung ein wenig näher betrachten. Im Wissen um das intellektuelle Vergnügen der zu Ehrenden am argumentativen Ringen um die beste Lösung greife ich bewusst auch zwei Punkte auf, bei denen sich unsere Positionen bislang nicht decken.

1. Völkermord und Weltrechtspflege Die Völkerrechtskonformität der Weltrechtspflege6 deutscher Strafgerichte bei Völkermord nach § 6 Nr. 1 StGB a. F. war vor allem deshalb zweifelhaft, weil Art. VI der Völkermordkonvention vom 9. Dezember 19487 allein die Aburteilung durch ein Gericht des Tatortstaats oder durch einen internationalen Gerichtshof vorsieht. Der 3. Strafsenat lehnte es indessen zu Recht ab, in diese Bestimmung ein Verbot der Weltrechtspflege hineinzulesen.8 Zugleich wurde, so darf man den Senat wohl verstehen, eine entsprechende

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RStGH v. 2.9.1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR-96-4-T. Zur Dogmatik der Weltrechtspflege (Universalitätsprinzip; Universal Jurisdiction) im Einzelnen Claus Kreß Universal Jurisdiction over International Crimes and the Institut de Droit International, Journal of International Criminal Justice 4 (2006), 561. 7 Zu ihr MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 23. 8 BGHSt 45, 64, 65 - 68. 6

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Befugnis nach Völkergewohnheitsrecht angenommen.9 Hervorzuheben ist die Klarheit, mit der der Senat einen Grundgedanken dieser Befugnis bereits ganz zu Beginn der intensiven internationalen Diskussion über die Weltrechtspflege auf den Punkt gebracht hat: „Da die besonders schweren Fälle des Völkermords häufig durch den Heimatstaat der Opfer oder wenigstens mit dessen Duldung begangen werden, ist in der Regel eine effektive Strafverfolgung im Tatortstaat nicht zu erwarten.”10 Die Position des Senats ist nachfolgend vom BVerfG und vom EGMR gebilligt worden.11 Damit hat der Senat deutsche Staatenpraxis zu der vom IGH12 bislang unentschieden gelassenen, aber von der deutlich herrschenden Völkerrechtslehre13 bejahten Frage beigesteuert, ob die Völkerstraftat des Völkermords der Weltrechtspflege unterliegt. Allerdings hat der Senat die überkommene Einschränkung des Weltrechtspflegegrundsatzes durch das Erfordernis eines hinreichenden Inlandsbezugs auch im Hinblick auf den Völkermordtatbestand zunächst nicht in Frage gestellt.14 Dann aber verlieh der Senat in einem überzeugenden obiter dictum seiner „Neigung“ Ausdruck, „jedenfalls bei § 6 Nr. 9 StGB (.) solche zusätzlichen Anknüpfungspunkte für nicht erforderlich zu halten“.15 Durch den Zusatz „jedenfalls“ hat der Senat auch im Hinblick auf § 6 Nr. 1 StGB die Bereitschaft in Aussicht gestellt, über einen Rechtsprechungswandel nachzudenken und so das seinerzeitige janusköpfige Bild der deutschen Staatspraxis16 zum Weltrechtspflegeprinzip zu korrigieren. Hierzu wäre es aller Voraussicht nach bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auch gekommen. Doch machte 9

BGHSt 45, 64, 68 unter I. a) cc), wo dem Völkermordtatbestand “internationaler Charakter kraft Völkergewohnheitsrechts” bescheinigt wird. Zu der vom Senat nachvollziehbarerweise nicht vertieften Methode der Herleitung dieser Befugnis näher Kreß (Fn. 6) 569 - 579. 10 BGHSt 45, 64, 67. 11 BVerfG NJW 2001, 1848, 1852 f.; EGMR v. 12.10.2007, Jorgic v. Germany, Application no. 74613/01, Ziff. 67 - 70. 12 Hierzu im Einzelnen Claus Kreß Völkerstrafrecht und Weltrechtspflegeprinzip im Blickfeld des Internationalen Gerichtshofs, ZStW 114 (2002), 818. 13 S. hierzu stellvertretend für viele individuelle Stellungnahmen die Entschließung des ehrwürdigen Institut de Droit International von 2005 “Universal Criminal Jurisdiction with regard to the Crime of Genocide, Crimes against Humanity and War Crimes”, http://www.idiiil.org/idiE/resolutionsE/2005_kra_03_en.pdf (zuletzt besucht am 26. 8. 2010), Ziff. 3 a). 14 BGHSt 45, 64, 68 f. 15 BGHSt 46, 292, 306 f. 16 Hiervon hatte ich in “Völkerstrafrecht in Deutschland”, NStZ 2000, 625 (Fn. 97), im Hinblick darauf gesprochen, dass sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen zum IStGHStatut konsequent für den Weltrechtspflegegrundsatz im Völkerstrafrecht ausgesprochen hatte; s. Hans-Peter Kaul/Claus Kreß Jurisdiction and Cooperation in the Rome Statute of the International Criminal Court: Principles and Compromises, Yearbook of International Humanitarian Law 2 (1999), 145 ff.

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der Gesetzgeber eine solche Entscheidung mit Wirkung vom 30.6.2002 entbehrlich, indem er dem Erfordernis eines hinreichenden Inlandsbezugs in § 1 VStGB eine Absage erteilte. Dabei hat der Gesetzgeber nicht übersehen, dass bei der vorherigen Zurückhaltung der Rechtsprechung auch vernünftige pragmatische Erwägungen eine Rolle spielten. Diesen Erwägungen soll seit dem 30.6.2002 in differenzierterer Form durch die prozedurale Flankierung des Weltrechtspflegegrundsatzes in § 153 f StPO Rechnung getragen werden. Mit der anspruchsvollen Aufgabe der Konkretisierung letzterer Norm ist seither der Generalbundsanwalt befasst.17

2. Strukturfragen des Völkermordtatbestands Die Darlegungen des 3. Senats in dem ersten seiner drei Urteile zum Völkermordtatbestand beginnen ungewöhnlich. Denn es finden sich Feststellungen zum „geschichtlichen und politischen Hintergrund der dem Angeklagten zur Last gelegten Straftaten”.18 Damit lässt bereits der Duktus der Gründe ein waches Gespür für die völkerstrafrechtliche Dimension des Geschehens erkennen. In Rede stand, so wie es beim Völkermord typischerweise und bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit notwendigerweise der Fall ist, die individuelle Mitwirkung an einem „Gesamtunrechtsgeschehen“. Bei dieser Erkenntnis blieb der Senat freilich nicht stehen. Vielmehr machte er einen ersten beherzten Schritt zur Klärung der besonderen Struktur des Völkermordtatbestands. Zu Recht stellte der Senat fest: „Damit liegt das Wesentliche des Verbrechens des Völkermordes (…) weniger in den einzelnen Verletzungshandlungen, denn in der die völkerrechtliche Wertordnung missachtenden Absicht des Täters, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. (…) Eine solche Absicht verbindet (…) die zur Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Absicht begangenen Handlungen zu einer Tat im Rechtssinne. Hinzu kommt hier im objektiven Bereich, dass die Zerstörung einer Gruppe typischerweise ein durch wiederholte Einzelakte begangenes Verbrechen darstellt (…), dem ein gewisses Dauer- und Wiederholungselement aufgrund der tatbestandlichen Unrechtsumschreibung zu eigen ist.“19 Ausgehend von diesen Einsichten verwandte der Senat große Mühe darauf, die bei Völkermord besonders verwickelten Konkurrenzfragen einer 17 Hierzu Claus Kreß Nationale Umsetzung des Völkerstrafgesetzbuches. Öffentliche Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages Kurzstellungnahme, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2007, 515. 18 BGHSt 45, 64, 73. 19 BGHSt 45, 64, 86.

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stimmigen Lösung zuzuführen.20 Dass ihm das - insbesondere unter Verwendung der Figur der tatbestandlichen Handlungseinheit - gelungen ist21, wird in Anbetracht der souveränen Meisterschaft der Berichterstatterin gerade auch im Bereich der so diffizilen strafrechtlichen Konkurrenzlehre niemanden verwundern. Hervorzuheben ist jedoch, dass der Senat auch bereits die Möglichkeit „überdimensionierter oder zeitlich uferloser Handlungseinheiten“ klar erkannt hat22, die bei Hintermännern vom Schlage eines Milosevic in voller Schärfe praktisch wird. Die sich dann stellenden Konkurrenzprobleme, vor allem aber auch die hier auftretenden strafprozessualen Fragen bedürfen unverändert gründlicher Reflexion.23 Während der Senat vor allem darum bemüht war, eine Mehrzahl von Mitwirkungsakten derselben Person dogmatisch zu erfassen, ist in der Folgezeit verstärkt über das beim Völkermord typische systemische Zusammenwirken einer Vielzahl von Personen diskutiert worden. Dabei ist im Ausgangspunkt bemerkenswert, dass der Völkermordtatbestand - anders als der in Art. 7 IStGH-Statut kodifizierte Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit - äußerlich nicht ohne weiteres erkennen lässt, dass er auf die Erfassung typischerweise systemischen Unrechts zielt. Ein bedeutsamer Versuch, diese Stoßrichtung klarzustellen, findet sich inzwischen in den Verbrechenselementen24 zum Völkermordtatbestand des IStGH-Statuts. Das dortige jeweils gleichlautende letzte Element ergänzt die fünf Tatmodalitäten wie folgt: „The conduct took place in the context of a manifest pattern of similar conduct directed against that group or was conduct that could itself effect such destruction“. Dieses „Kontextelement“ ist rasch zum Gegenstand des Streits geworden. Die Rechtsmittelkammer des JStGH vertritt - leider recht apodiktisch - die Auffassung, es handele sich nicht um eine Klarstellung des Tatbestands, sondern um dessen Einschränkung.25 Die zur Entscheidung im Fall Bashir berufene Vorverfahrenskammer des IStGH ist mehrheitlich - und erfreulicherweise mit Begründung - anderer Ansicht.26 Dieser Position, die mit der Regelungsvorstellung der Verfasser des Kontextelements im Einklang 20

BGHSt 45, 64, 85-91. MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 108. 22 BGHSt 45, 64, 88. 23 Für lediglich vorsichtige Andeutungen zur Rechtskraftproblematik s. MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 109. 24 ICC-ASP/1/3; s. hierzu im Allgemeinen Art. 9 IStGH-Statut und MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 24. 25 JStGH v. 19.4.2004, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-A, Ziff. 223 f. 26 IStGH v. 4.3.2009, Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Oman Hassan Ahmad Al Bashir, ICC-02/05-01/09, Ziff. 124, 133. 21

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steht27 und die es erlaubt, den Völkermordtatbestand seiner Entwicklungsgeschichte entsprechend als besondere Ausprägung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit28 zu konzipieren, gebührt der Vorzug. Dabei sollte das Kontextelement freilich nicht als ungeschriebenes Merkmal des objektiven Tatbestands verstanden werden, so wie die Verbrechenselemente es nahelegen, und so wie es in der Folge wohl auch der Vorverfahrenskammer des IStGH im Fall Bashir vorschwebt. Stattdessen ist im subjektiven Tatbestand des Völkermords eine realistische Zerstörungsabsicht zu fordern. Eine solche Auslegung des Absichtsmerkmals führt zwanglos zu der Erkenntnis, dass der Täter - von eher theoretischen Ausnahmefällen29 abgesehen - wissen muss, dass sein Handeln, die Einzeltat, in einen kollektiven Aktionszusammenhang, die völkermörderische Gesamttat, eingebettet ist.30

3. Der Begriff der Zerstörung im objektiven und subjektiven Tatbestand des Völkermords Die Frage, ob die vor dem BGH zu verhandelnden Formen der Mitwirkung an der „ethnischen Säuberung“ von Teilen Bosnien-Herzegowinas dem Völkermordtatbestand zu subsumieren waren, hing entscheidend von der Auslegung des Zerstörungsbegriffs ab, der an zwei Stellen des Tatbestands anzutreffen ist. Zunächst war zu entscheiden, ob die Angeklagten den objektiven Tatbestand dadurch verwirklicht hatten, dass sie die Gruppe unter Lebensbedingungen gestellt hatten, die geeignet waren, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. Darüber hinaus war im Rahmen des subjektiven Tatbestands zu prüfen, ob die Angeklagten in der Absicht gehandelt hatten, die Gruppe der bosnischen Muslime31 als solche teilweise zu zerstören. Insbesondere zu letzterem Punkt entwickelte sich ein 27

Valerie Oosterveld The Context of Genocide, in: Roy Lee (Hrsg.) The International Criminal Court: Elements of Crimes and Rules of Procedure and Evidence, 2001, S. 45. 28 Hierzu treffend BGHSt 45, 64, 80. 29 Für diese hat William Schabas die passende Formulierung “little more than a sophomoric hypothese d’ecole and a distraction for judicial institutions” gefunden; in “Darfur and the ‘Odious Scorge’: The Commission of Inquiry’s Findings on Genocide”, Leiden Journal of International Law 18 (2005), 877. 30 MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 13, 78.; vertiefend ders. in “The Crime of Genocide and Contextual Elements”, Journal of International Criminal Justice 7 (2009), 297. 31 Die Einordnung der bosnischen Muslime als vom Völkermordtatbestand geschützte Gruppe ist unumstritten; der BGH hat deshalb verständlicherweise auf vertiefte Darlegungen etwa zu der Frage, ob und ggf. wie zwischen nationalen und ethnischen Gruppen zu unterscheiden ist (dazu MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 36 - 40 m. w. Nachw.), verzichtet; stattdessen wird in BGHSt 45, 64, 80 schlicht von der “durch Religion und Volkstum bestimmten Gruppe der Muslime in Nordbosnien” gesprochen; ganz richtig dürfte sein, die Muslime in ganz Bosnien-Herzegowina als die maßgebliche Gruppe anzusehen.

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inhaltlich nicht spannungsfreier und gerade deshalb ungemein spannender Dialog zwischen BGH und JStGH. Die Position des 3. Senats zum Zerstörungsbegriff im objektiven Tatbestand ist in einem wichtigen Punkt nicht ganz eindeutig. In der ersten Grundsatzentscheidung gewinnt man zunächst den Eindruck, dass die Mitwirkung bei systematischer Vertreibung einer Gruppe die dritte Tatbestandsvariante für sich genommen erfüllen kann.32 Allerdings stellt der Senat kurze Zeit später folgendes fest: „Das Tatbestandsmerkmal der Lebensbedingungen, die geeignet sind, die körperliche Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen, wird allerdings durch die insgesamt vom Angeklagten oder unter seiner Beteiligung begangenen Zerstörungen der Häuser und Dörfer in der Region Doboj, die Vertreibung und Inhaftierung der muslimischen Bewohner und die an ihnen bei diesen Gelegenheiten begangenen Misshandlungen und Körperverletzungen erfüllt. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen ist geeignet, die körperliche Existenz der Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, weil ihr das Lebensnotwendigste durch unmenschliche Lebensbedingungen - etwa in Gefangenenlagern - genommen und ihr die Lebensgrundlage durch Zerstörung der Häuser, durch Einbehalt von Hab und Gut und durch systematische Vertreibung entzogen wurde (…)“.33 In einer der beiden nachfolgenden Entscheidungen wird etwas kurioserweise die erste der beiden Passagen durch Zitat in Bezug genommen, jedoch gleichzeitig allein im Einklang mit der zweiten festgestellt, dass „die bloße Vertreibung der Muslime aus ihren Häusern und ihrem Heimatort für sich genommen noch keine (…) Völkermordhandlung darstell(en)“ und dass die Voraussetzungen der dritten Tatbestandsvariante in concreto „erst durch die Gesamtheit der gegen die muslimische Bevölkerung gerichteten Terror- und Vernichtungsmaßnahmen erreicht“ worden seien.34 Man wird den 3. Senat trotz dieser Unklarheit in der Formulierung dahin verstehen müssen, dass er in der systematischen Vertreibung für sich genommen keinen Fall der dritten Völkermordvariante sieht. Ob er stattdessen verlangt, dass mindestens einem Teil der betroffenen Gruppe solche Lebensbedingungen auferlegt worden sind, die geeignet sind, den Tod oder die schwere körperliche oder seelische Schädigung derjenigen Menschen herbeizuführen, die diesen Gruppenteil ausmachen, bleibt indessen Zweifeln unterworfen. Denn zum einen stellt er den Eintritt eines solchen Zustandes in der oben wörtlich 32

BGHSt 45, 64, 82; wie im Text die Lesart dieser Passage von Kai Ambos/Steffen Wirth Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Horst Fischer/Claus Kreß/Sascha R. Lüder (Hrsg.) International and National Prosecution of Crimes under International Law: Recent Developments, 2001, S. 787. 33 BGHSt 45, 64, 85. 34 BGH NJW 2001, 2732, 2733 (mit Zitat von “BGHSt 45, 64 (81 f.)”).

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zitierten Passage nicht unmissverständlich fest. Zum anderen hätte es bei einer solchen Feststellung nicht der folgenden weiten Auslegung des Zerstörungsbegriffs im subjektiven Tatbestand bedurft: „Entgegen dem vom Begriff des Völkermordes vorgespiegelten Sinngehalt setzt der Tatbestand des § 220 a StGB nicht zwingend voraus, dass der Täter die körperliche Vernichtung, die physische Zerstörung der Gruppe anstrebt. Es reicht aus, dass er handelt, um die Gruppe in ihrer sozialen Existenz (‘als solche’), als soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl zu zerstören.“35 Auf der Grundlage dieser Auslegung hat der 3. Senat den Völkermordtatbestand in vergleichsweise weitem Umfang auf Formen der Mitwirkung an den brutalen „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina zur Anwendung bringen können. Die nachfolgende internationale Rechtsprechung hat sich mit dieser Judikatur intensiv auseinandergesetzt und ist inzwischen wohl im Begriff, insgesamt zu einem engeren Verständnis des Völkermordtatbestands zu finden. Dementsprechend sind die Massenverbrechen zu Lasten der bosnischen Muslime von der internationalen Rechtsprechung nur insoweit als völkermörderisch eingestuft worden, als sie im Juli 1995 nach dem Angriff auf die „Schutzzone“ Srebrenica in besonders abscheulicher Form kulminierten.36 Die internationale Judikatur geht inzwischen - soweit ersichtlich - übereinstimmend davon aus, dass die dritte Variante des objektiven Völkermordtatbestands nicht bereits dann erfüllt ist, wenn die Auflösung der Gruppe droht, sondern dass jedenfalls für einen Teil37 der Mitglieder der Gruppe die Gefahr der physischen Zerstörung38 heraufbeschworen werden muss. Hiernach unterfällt die Mitwirkung an einer Vertreibungskampagne dem objektiven Völkermordtatbestand für sich genommen selbst dann nicht, wenn in der Folge die Auflösung der Gruppe als soziale Einheit zu befürchten ist. Der JStGH steht seit dem Fall Stakic auf diesem Standpunkt39 und der IGH hat sich diese Position in seinem Völkermordurteil im Streitfall zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien/Montenegro zu eigen ge35

BGHSt 45, 64, 81. Im Übrigen ordnet die internationale Rechtsprechung die Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Die Anwendung dieses Tatbestands stand dem 3. Senat seinerzeit noch nicht zu Gebote. 37 Zu der für den Anwendungsbereich des Völkermordtatbestands sehr bedeutsamen Frage, was unter einem Teil einer geschützten Gruppe zu verstehen ist, MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 73 - 77 (m. w. Nachw.). 38 Unter “physischer Zerstörung” kann man entweder allein den Tod der betroffenen Menschen oder auch noch deren schwere körperliche oder seelische Schädigung verstehen; ich habe mich in MünchKomm § 6 VStGB, Rn. 55, für Letzteres ausgesprochen. 39 JStGH v. 31.7.2003, Prosecutor v. Stakic, IT-97-24-T, Ziff. 519; bestätigt in JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 33. 36

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macht40. Diese Rechtsprechung ist im Hinblick auf den Zusatz „körperlich“ aus systematischen Gründen und im Hinblick auf die bewusste Entscheidung, den kulturellen Völkermord auszuklammern, auch aus entstehungsgeschichtlichen Gründen richtig.41 Deshalb ist es ein wenig bedauerlich, dass eine Fußnote zu den Verbrechenselementen wieder für etwas Unsicherheit gesorgt hat, indem sie „systematic expulsion from homes“ als mögliches Anwendungsbeispiel der dritten Völkermordvariante nennt.42 Die Auseinandersetzung der internationalen Rechtsprechung mit dem „sozialen Zerstörungsbegriff“ des BGH im Rahmen des subjektiven Völkermordtatbestands begann im ersten großen Völkermordurteil des JStGH im Fall Krstic. Hierin setzte die Hauptverhandlungskammer der deutschen Judikatur den folgenden „physisch-biologischen Zerstörungsbegriff“ entgegen: „The Trial Chamber is aware that it must interpret the Convention with due regard for the principle of nullum crimen sine lege. It therefore recognises that, despite recent developments, customary international law limits the definition of genocide to those acts seeking the physical or biological destruction of all or part of the group. Hence, an enterprise attacking only the cultural or sociological characteristics of a human group in order to annihilate these elements which give to that group its own identity distinct from the rest of the community would not fall under the definition of genocide. (Hervorh. im Original)“43 Zwar bestätigte die Rechtsmittelkammer diese Auslegung44, doch Richter Shahabuddeen argumentierte in seiner abweichenden Meinung ganz auf der Linie des BGH:

40 IGH v. 26.2.2007, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Hercegovina v. Serbia and Montenegro), http://www.icj-cij.org/docket/files/91/13685.pdf, Ziff. 190. 41 Ich hatte mich deshalb bereits in der 1. Auflage meiner Erläuterung des Völkermordtatbestands im MünchKomm für diese enge Auslegung ausgesprochen; diese Stellungnahme hatte die Hauptverfahrenskammer in der ersten Stakic-Entscheidung (Fn. 39) rezipiert. 42 Fn. 24, dort Fn. 4 zu den Verbrechenselementen zu “Article 6 (c)”. Die Verbrechenselemente zu dieser Tatbestandsvariante sind im Übrigen insoweit unglücklich gefasst, als sie den Eindruck erwecken, es reiche zur Tatbestandserfüllung aus, dass ein einzelner Täter einem einzelnen Opfer zerstörungsgeeignete Lebensbedingungen auferlegt. Das entspricht nicht der besonderen Struktur dieser Tatbestandsvariante, die - anders als die vier übrigen - eine Betroffenheit der (Teil-)Gruppe voraussetzt und damit das systemische Element bereits auf der Ebene des objektiven Tatbestands thematisiert; das wird in BGHSt 45, 64, 85 präzise herausgearbeitet. In diesem Punkt sind die Verbrechenselemente wegen ihres Widerspruchs zum Text des IStGH-Statuts unberücksichtigt zu lassen. 43 JStGH v. 2.8.2001, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-T, Ziff. 580. 44 JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 25.

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„It is the group which is protected. A group is constituted by characteristics - often intangible - binding together a collection of people as a social unit. If those characteristics have been destroyed in pursuance of the intent with which a listed act of a physical or biological nature was done, it is not convincing to say that the destruction, though effectively obliterating the group, is not genocide because the obliteration was not physical or biological.“45 Die Rechtsmittelkammer im Fall Blagojevic und Jokic zeigte sich von diesem Dissent unbeeindruckt und zurrte den im Fall Krstic eingeschlagenen Kurs fest.46 Die Anklage des sudanesischen Staatsoberhaupts Bashir wegen Völkermords zu Lasten dreier ethnischer Gruppen in der Region Darfur gab inzwischen auch einer Vorverfahrenskammer des IStGH die Gelegenheit zu einer Stellungnahme zum Zerstörungsbegriff des subjektiven Völkermordtatbestands. Die Kammer folgte mehrheitlich der internationalen Rechtsprechungslinie seit Krstic, wenn auch die Präzision der Formulierung zu wünschen übrig lässt.47 Demgegenüber plädierte Richterin Usacka unter Berufung auf die Stellungnahme von Richter Shahabuddeen dafür, die Rechtsfrage im Vorverfahren offen zu halten, um der Hauptverhandlungskammer eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Streit um den Zerstörungsbegriff zu ermöglichen.48 Damit hat der IStGH sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Doch ist es wenig wahrscheinlich, dass er sich dem sozialen Zerstörungsbegriff öffnen wird. Zwar hat der IStGH in seiner frühen Rechtsprechung eine begrüßenswerte Bereitschaft gezeigt, Positionen kritisch zu überprüfen, die internationale oder hybride Strafgerichtshöfe bezogen haben, doch kommt in dieser Streitfrage der Umstand hinzu, dass sich zwischenzeitlich auch der IGH auf den - auch die zwischenstaatliche Dimension des Völkermordverbots wesentlich prägenden - physisch-biologischen Zerstörungsbegriff festgelegt hat. Denn im Völkermordurteil des IGH heißt es zusammenfassend, wenn auch ein wenig zwischen der objektiven und subjektiven Tatbestandsebene oszillierend: „The term ‘ethnic cleansing’ has frequently been employed to refer to the events in Bosnia and Hercegovina which are the subject of this case (…). It 45 JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Partial dissenting opinion of Judge Shahabuddeen, Ziff. 48; auf derselben Linie - obiter - JStGH v. 27.9.2006, Prosecutor v. Krajisnik, IT-00-39-T, Ziff. 854 (mit Fn. 1701), allerdings ohne den Widerspruch zu Krstic deutlich zu machen. 46 JStGH v. 9.5.2007, Prosecutor v. Blagojevic/Jokic, IT-02-60-A, Ziff. 123. 47 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Ziff. 140 -146; 162 - 201; da die Formulierungen in abstracto (Ziff. 140 - 146) die gebotene Trennschärfe vermissen lassen, wird der restriktive Maßstab der Mehrheit am verlässlichsten bei der Subsumtion in concreto deutlich, s. insbes. Ziff. 194, 196 f. 48 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Separate and Partly Dissenting Opinion, Ziff. 62.

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(ethnic cleansing) can only be a form of genocide within the meaning of the Convention, if it corresponds to or falls within one of the categories of acts prohibited by Article II of the Convention. Neither the intent, as a matter of policy, to render an area „ethnically homogeneous, nor the operations that may be carried out to implement such policy, can as such be designated as genocide: the intent that characterizes genocide is „to destroy in whole or in part” a particular group, and deportation and displacement of the members of the group, even if effected by force, is not necessarily equivalent to destruction of that group, nor is such destruction an automatic consequence of the displacement. This is not to say that acts described as ‘ethnic cleansing’ may never constitute genocide, if they are such as to be characterized as, for example, deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part’, contrary to Article II (c), of the Convention, provided such action is carried out with the necessary specific intent (dolus specialis), that is to say with a view to the destruction of the group, as distinct from its removal from the region. As the ICTY has observed, while ‘there are obvious similarities between a genocidal policy and the policy commonly known as ‘ethnic cleansing’ (…), yet (a) clear distinction must be drawn between physical destruction and mere dissolution of a group.“49 Dass die Vorverfahrenskammer des IStGH im Fall Bashir mehrheitlich gerade diese Passage in Bezug nimmt50, überrascht nicht. Die internationale Rechtsprechung ist also im Begriff, sich einheitlich auf den physischbiologischen Zerstörungsbegriff einzupendeln.51 Dennoch behalten die Gründe ihr Gewicht, die der 3. Senat des BGH für den - mit dem Wortlaut ohne weiteres zu vereinbarenden - sozialen Zerstörungsbegriff formuliert hat, und die auf der internationalen Ebene zuletzt im kraftvollen Dissent Richter Shahabuddeens nachhallten. Denn - so die zentrale Erwägung - wenn der Völkermordtatbestand dazu beitragen soll, der Weltzivilisation eine Vielfalt von Gruppen zu erhalten52, so ist es eigentlich 49 IGH v. 26.2.2007 (Fn. 40), Ziff. 190; hierzu näher Claus Kreß, The International Court of Justice and the Elements of the Crime of Genocide, European Journal of International Law 18 (20007), 625-627. 50 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Ziff. 144. 51 Das sollte für die deutsche Rechtsprechung bereits für sich genommen ein Grund sein, das bisherige Bekenntnis zum sozialen Zerstörungsbegriff zu überdenken; doch kommt es auf die von Gerhard Werle Die deutsche Rechtsprechung zur Zerstörungsabsicht beim Völkermord und die Europäische Menschenrechtskonvention, FS Küper, 2007, S. 690, in diesem Zusammenhang gestellte Frage, ab wann sich ein Gebot zur “völkerstrafrechtspraxiskongruenten” Auslegung ergibt, aus den nachfolgend im Text genannten Gründen nicht an. 52 S. die klassische Formulierung in der Entschließung 96 (I) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, wonach der Völkermord die Gefahr von “great losses to humanity in the form of cultural and other contributions” heraufbeschwöre; UN Doc. A/96 (I), 11.12.1946.

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konsequent, im subjektiven Tatbestand auf die Absicht der Zerstörung der Gruppe qua Gruppe abzustellen.53 Deshalb haben BVerfG54 und EMRK55 auch zu Recht entschieden, dass die Judikatur des BGH mit dem Gesetzlichkeitsprinzip vereinbar ist56; das anderslautende Begründungselement in Krstic57 geht fehl. Auch im Übrigen ist die Begründung, die der JStGH für den physischbiologischen Zerstörungsbegriff angeführt hat, nicht besonders eindrucksvoll.58 Dennoch halte ich diesen Zerstörungsbegriff - entgegen der in Deutschland wohl h. L.59 - für vorzugswürdig. Dem liegt im Kern60 die Einschätzung zugrunde, dass die Strafbarkeit wegen Völkermords nach Binnensystematik und Entstehungsgeschichte auf die Mitwirkung an einem Gesamtgeschehen beschränkt bleiben sollte, dass zumindest einer der fünf im objektiven Tatbestand abschließend aufgeführten Angriffsmodalitäten zugeordnet werden kann. Es erschiene mir deshalb nicht richtig, die Tötung eines Gruppenmitglieds bereits dann als Völkermord zu bewerten, wenn sie in der (zutreffenden) Vorstellung durchgeführt wird, hiermit einen Beitrag zu einem Gesamtgeschehen zu leisten, das sich im Übrigen in der Form des sogenannten kulturellen Völkermords61 vollzieht. Eine solche Bewertung läge indessen nahe, wenn man den sozialen Zerstörungsbegriff zugrunde legte. Vielleicht lässt sich die Kritik am sozialen Zerstörungsbegriff auch in das folgende Kompliment kleiden: Der 3. Senat und die h. L. in Deutschland legen den Völkermordtatbestand „sinnvoller“ aus, als die Schöpfer der Völkermordkonvention es 1948 mit ihrer - sicher auch wenig hehren politischen Rücksichten geschuldeten - Fixierung auf einen Numerus Clausus von Angriffsmodalitäten zulassen wollten.

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Darauf weist Gerhard Werle (Fn. 51), S. 684, zutreffend hin. BVerfG NJW 2001, 1848, 1850 f. 55 EGMR v. 12.10.2007 (Fn. 11), Ziff. 89 ff., insbes. Ziff. 105 - 108. Die spannendste Frage hat der EGMR in seinem ansonsten sehr sorgfältigen Urteil allerdings nicht gestellt: Folgt aus dem Gebot der völkerrechtskonformen Zuständigkeit des Gerichts nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (hierzu EGMR ebda., Ziff. 66) speziell im Fall der Weltrechtspflege vielleicht das Gebot zur völkerrechtlich richtigen - statt lediglich vertretbaren (so EGMR ebda., Ziff. 66) - Auslegung des jeweiligen Völkerstraftatbestands? Aber auch hiergegen spricht die kompetentielle Überlegung, dass sich der EGMR dann bei einem Auslegungsdissens zwischen “Fach”gerichten zur “letzten Instanz” erheben müsste. 56 Auch insoweit richtig Werle (Fn. 51), S. 687, der die Bundesregierung in diesem Verfahren beraten hat. 57 S. das Zitat oben bei Fn. 43. 58 Nochmals zutreffend Werle (Fn. 51), S. 686 f. 59 S. die Nachw. bei Werle (Fn. 51), S. 684 (Fn. 35) 60 Etwas ausführlicher MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 72. 61 Hierzu näher MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 22. 54

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Nicht verschwiegen sei schließlich, wie schwierig es ist, auf der Grundlage des physisch-biologischen Zerstörungsbegriffs selbst „Srebrenica“ als Völkermord einzustufen. Denn die bosnischen Muslime, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs auf Srebrenica ebendort aufhielten - und diese machen den vom JStGH als Bezugspunkt der Zerstörungsabsicht identifizierten Teil der Gruppe der bosnischen Muslime aus62 - sollten nicht sämtlich physisch zerstört werden. Vielmehr sollten „nur” die Männer im wehrfähigen Alter63 getötet werden; den Rest der Teilgruppe wollte man - unter denkbar schrecklichen Begleitumständen - vertreiben. Die Zerstörungsabsicht wurde von den Kammern in Krstic vor allem mit der Feststellung begründet, die Maßnahmen würden zusammengenommen „inevitably result in the physical disappearance of the Bosnian Muslim population at Srebrenica“.64 Diese Begründung geht indessen trotz des Zusatzes „physical“ genau genommen nicht über die Beschreibung des Vertreibungserfolgs hinaus, der dem physisch-biologischen Zerstörungsbegriff zufolge als Bezugspunkt der völkermörderischen Zerstörungsabsicht nicht genügt.65 Allerdings bemerkt die Rechtsmittelkammer in Krstic auch, dass „die physical destruction of the men (…) had severe procreative implications for the Sebrenica Muslim community, potentially consigning the community to extinction.“66 Dieser Passus weist in die Richtung einer Absicht zur „biologischen“ Zerstörung der maßgeblichen Teilgruppe, bleibt jedoch im Kontext der Gesamtbegründung vor allem deshalb unterbelichtet, weil auf der Ebene des objektiven Tatbestands ein Fall der „biologischen“ vierten Tatmodalität nicht festgestellt worden war. Einen bemerkenswerten weiteren Schritt in die Richtung der Feststellung eines auf „biologische“ Zerstörung gerichteten Gesamtplans machte kurze Zeit später die Hauptverhandlungskammer im Fall Prosecutor v. Blagojevic/Jokic: „The Trial Chamber finds that the physical or biological destruction of the group is the likely outcome of a forcible transfer of the population when this transfer is conducted in such a way that the group can no longer reconstitute itself - particularly when it involves the separation of its members. In such 62

JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 15. Tatsächlich schlossen die Massentötungen auch Jungen und ältere Männer ein; JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 27. 64 JStGH v. 2.8.2001 (Fn. 43), Ziff. 595; bestätigt in JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 28; s. auch die Feststellung, dass “(t)he transfer completed the removal of all Bosnian Muslims from Srebrenica, thereby eliminating even the residual possibility that the Muslim community in the are could reconstitute itself; JStGH v. 2.8.2001 (Fn. 43), Ziff. 595; bestätigt in JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 31. 65 Dies wird in JStGH v. 17.1.2005, Prosecutor v. Blagojevic/Jokic, IT-02-60-T, Ziff. 661, zu Recht (implizit) kritisiert. 66 JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 28. 63

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cases the Trial Chamber finds that the forcible transfer of individuals could lead to the material destruction of the group, since the group ceases to exist as a group, or at least as the group it was. The Chamber emphasises that its reasoning and conclusion are not an argument for the recognition of cultural genocide, but rather an attempt to clarify the meaning of physical or biological destruction.“67 In dem Urteil vom 10. Juni 2010, mit dem das „Srebrenica“- Großverfahren Prosecutor v. Popovic et al. erstinstanzlich zum Abschluss gekommen ist, hat die Hauptverhandlungskammer den nach alldem naheliegenden Schluss gezogen, dass die Angeklagten mit der Absicht zu „biologischer” Zerstörung gehandelt haben.68 Damit ist das Ringen des JStGH um die zutreffende Bewertung der schrecklichen Ereignisse in Bosnien-Herzegowina unter dem Gesichtspunkt des Völkermords wohl zu einem im Wesentlichen vernünftigen69 Schlusspunkt gelangt.

4. Absicht i.S.d. Völkermordtatbestands Der 3. Senat versteht den Begriff der Absicht im Völkermordtatbestand eng: „Diese den Tatbestand des Völkermords erst begründende Absicht setzt voraus, dass es dem Täter im Sinne des zielgerichteten Wollens auf die Zerstörung der (…) geschützten Gruppe ankommt.“70 Hiervon ausgehend sind diejenigen, die mindestens ein Gruppenmitglied töten oder schwer verletzen, ohne dabei die Zerstörung der betreffenden (Teil-)Gruppe zu erstreben, auch dann lediglich Völkermordgehilfen, wenn sie ihre jeweilige(n) Tat(en) im Wissen darum durchführen, damit einen Beitrag zu einer Gesamttat zu leisten, die nach Lage der Dinge zur Zerstö67

JStGH v. 17.1.2005, Prosecutor v. Blagojevic/Jokic, IT-02-60-T, Ziff. 666; die Begründung liest sich im Ganzen deshalb ein wenig verwirrend, weil zugleich (ebenda. Ziff. 659 f., 664 f.) Stellungnahmen zum sozialen Zerstörungsbegriff (darunter die Judikatur des BGH) zustimmend zitiert werden. 68 JStGH v. 10.6.2010, Prosecutor v. Popovic et al., IT-05-88-T, Ziff. 866; ich hatte das in “The Crime of Genocide under International Law”, International Criminal Law Review 6 (2006), 492, vorgeschlagen. 69 Nicht recht einsichtig bleibt allein, warum das Gesamtgeschehen von Srebrenica nicht auch in objektiver Hinsicht der “biologischen” Angriffsmodalität zugeordnet worden ist; die insoweit ablehnende Position in IGH v. 26.2.2007 (Fn. 40), Ziff. 355 deutet auf ein Missverständnis hin; dazu Kreß (Fn. 49), 624 f.; in der Entscheidung des JStGH v. 10.6.2010 liegt der Grund dafür, dass ein solcher Fall nicht angenommen worden ist, möglicherweise nur daran, dass es die Anklage versäumt hat, insoweit auf das Zusammenwirken von Massentötung und Massenvertreibung abzustellen; ibid. Ziff. 854 i.V.m. 849. 70 BGH NJW 2732, 2733; allein dieser Feststellung wegen hätte auch diese Entscheidung den Abdruck in der amtlichen Sammlung verdient.

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rung der (Teil-)Gruppe führen kann.71 Dieser Absichtsbegriff steht im Einklang mit der internationalen Rechtsprechung seit der ersten großen Völkermordentscheidung des RStGH im Fall Akayesu. Die etwas holprig formulierte maßgebliche Passage dieses Urteils lautet: „Genocide is distinct from other crimes inasmuch as it embodies a special intent or dolus specialis. Special intent of a crime is the specific intention, required as a constitutive element of the crime, which demands that the perpetrator clearly seeks to produce the act charged.“72 Die internationale und nationale Rechtsprechung zum Absichtsbegriff des Völkermordtatbestands besticht hiernach durch ihre Übereinstimmung73, bereits bei etwas näherer Betrachtung sticht aber auch ihre Begründungsarmut ins Auge74. Letztere ist deshalb seltsam, weil sich der enge Absichtsbegriff, wie inzwischen mehrfach eingehend und unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Erkenntnisse dargetan worden ist75, nicht einfach aus dem gewöhnlichen Wortsinn von „Absicht” bzw. - und vor allem76 - „intent“ ergibt. Da die Entstehungsgeschichte zu dieser diffizilen strafrechtsdogmatischen Frage - und das überrascht wenig - ebenso unergiebig ist77 wie die Staatenpraxis78 seit 1948, müssen systematische und teleologische Gründe den Ausschlag geben. Diese sprechen für die Erweiterung des Absichtsbegriffs um die folgende, im Wesentlichen kognitive Variante. Eine Zerstörungsabsicht i. S. d. Völkermordtatbestands sollte entgegen der Rechtsprechung bereits dann angenommen werden, wenn der Täter weiß, dass das Kollektiv, in dessen Zusammenhang er tätig wird, das realistische Ziel der (Teil-) Gruppenzerstörung verfolgt.79

71 Eine neben § 27 i.V.m. § 49 StGB (mögliche) weitere Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 StGB mangels fehlender eigener Absicht soll solchen Gehilfen nach BGHSt 46, 292, 295, verwehrt sein, wogegen nichts zu erinnern ist. 72 RStGH v. 2.9.1998 (Fn. 5), Ziff. 498. 73 Einen guten Überblick über die Rechtsprechungsentwicklung gibt Kai Ambos What does ‘intent to destroy’ in genocide mean?, International Review of the Red Cross 91 (2009), 836839. 74 Hierzu bereits Claus Kreß The Darfur Report and Genocidal Intent, Journal of International Criminal Justice 3 (20005), 567-571. 75 S. hierzu zuletzt die minutiöse Darstellung von Ambos (Fn. 73), 842-845. 76 Zur Bestimmung der Wortlautgrenze bei Völkerstraftatbeständen BVerfG NJW 2001, 1848, 1850. 77 Das ist - soweit ersichtlich - erstmals von Alexander Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a Knowledge-Based Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), 2270, dargetan worden. 78 Bislang ist die internationale Rechtsprechung zu unserer Frage von den Staaten nicht derart rezipiert worden, dass sich sagen ließe, die spätere Übung zur Völkermordkonvention ließe einen entsprechenden Auslegungskonsens erkennen; MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 81. 79 MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 82.

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Der so erweiterte Absichtsbegriff ergibt sich zunächst einmal aus der Struktur des Völkermordtatbestands. Letzterer ist im Hinblick auf die Verletzung des geschützten Rechtsguts „Gruppe“ erfolgskupiert und das Absichtsmerkmal nimmt - im Kern unrechtsbezogen - das geschützte Rechtsgut in Bezug.80 Für die dem Rechtsgut drohende Gefahr kommt es im typischen Fall aber entscheidend auf das kollektive und nicht auf das individuelle Zerstörungsziel an. Eine Reihe weiterer Argumente seien an dieser Stelle immerhin kurz81 benannt: Der erweiterte Absichtsbegriff gewährleistet, dass der Völkermord seiner Entwicklungsgeschichte entsprechend als spezielle Ausprägung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erscheint, bei dem einzelne Täter den Angriff auf eine Zivilbevölkerung auch lediglich kennen und nicht erstreben muss. Weiterhin trägt das hier befürwortete Absichtsverständnis dem Umstand Rechnung, dass der Völkermordtatbestand aus der Perspektive des auf der Ausführungsebene Handelnden formuliert worden ist, von dem sich nicht sagen lässt, dass er typischerweise mit Absicht i. e. S. handelt. Hinzu kommt noch, dass über den weiten Absichtsbegriff Friktionen im Teilnahmebereich auch dann verlässlich vermieden werden, wenn der jeweils anwendbare Allgemeine Teil hierzu einem Akzessorietätsmodell folgt. Ein schöner Begleiteffekt des erweiterten Absichtsbegriffs wäre schließlich, dass sich die internationale Rechtsprechung nicht länger der Versuchung ausgesetzt sähe, eine prozessuale Hintertür zum gewünschten Ergebnis zu öffnen und aus der Kenntnis des Handelnden von der völkermörderischen Gesamttat künstliche Schlüsse auf seine Absicht i. e. S. zu ziehen. Es spricht schließlich sicher nicht gegen den erweiterten Absichtsbegriff, dass er im anglo-amerikanischen und im kontinentalen Schrifttum auf wachsenden Zuspruch stößt.82 Es ist sehr zu wünschen, dass sich die internationale Rechtsprechung bald einmal mit den Gründen befasst, die von der h. L.83 zur Begründung des erweiterten Absichtsbegriffs formuliert worden sind. Der Blick richtet sich dabei zuerst auf den IStGH. Dessen erstes einschlägiges obiter dictum hat die Erwartungen allerdings enttäuscht. Denn zwar vermerkt die Vorverfah-

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Das wird in BGHSt 46, 292, 295, präzise herausgearbeitet; insbesondere der zutreffende dortige Hinweis etwa auf § 267 StGB hätte es nahelegen können, auch einen erweiterten Absichtsbegriff in Betracht zu ziehen. 81 Eingehender und m. w. Nachw. MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 83-88; ders. (Fn. 74), 571-576. 82 S. hierzu zuletzt die minutiöse Darstellung von Ambos (Fn. 73), 839-842, der sich im Hinblick auf die Ausführungstäter ebenfalls für diese Lösung ausspricht (ebenda. 845 ff.). 83 Jedenfalls nachdem der erweiterte Absichtsbegriff in die zweite Auflage der international führenden Monografie von William Schabas, Genocide in International Law, 2009, S. 259, 262, 264 ff., Einzug gehalten hat, ist er h. L.

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renskammer im Fall Bashir den erweiterten Absichtsbegriff.84 Doch sieht sie von einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den ihn tragenden Gründen unter Hinweis auf den vermeintlich eindeutigen Wortlaut ab. Man kann nur hoffen, dass dieses kurze erste nicht zugleich das letzte Wort des IStGH zum Absichtsbegriff war. Einstweilen fragt es sich, ob die nationalen Strafgerichte einen Wandel der internationalen Rechtsprechung anregen sollten. Hiergegen könnte der von Gerhard Werle - in anderem Zusammenhang85 in die Debatte eingeführte Gesichtspunkt der „Völkerstrafrechtspraxiskongruenz“ sprechen.86 Doch sollte dieser Gesichtspunkt nur im Fall einer plausibel begründeten internationalen Rechtsprechung Beachtung beanspruchen. Andernfalls würde die Möglichkeit, im transnationalen justitiellen Dialog Erkenntnisfortschritte zu erzielen, unangemessen beschnitten.87 Beim Absichtsbegriff des Völkermordtatbestands ist überdies zu bedenken, dass sich der Streit über seine Auslegung in der Praxis typischerweise auf der Ausführungsebene auswirkt und dass über die hier Handelnden die nationalen Strafgerichte werden zu urteilen haben, während der IStGH sich auf die für das Völkermordgesamtgeschehen mutmaßlich Hauptverantwortlichen konzentrieren wird. Nach alldem wähnt der Verfasser die der rechtswissenschaftlichen Diskussion so aufgeschlossene Jubilarin immerhin insoweit auf seiner Seite, als er ihre Nachfolger im 3. Senat dazu animieren möchte, bei erster sich bietender Gelegenheit vertieft über die bisherige Rechtsprechung zum Begriff der Völkermordabsicht nachzudenken. Dabei wird der Senat sicher berücksichtigen, dass der Völkermord in seiner Ausprägung als Tötungsdelikt nach deutschem Recht in § 6 Abs. 1 VStGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist und dass die in § 6 Abs. 2 VStGB geregelte Strafrahmenverschiebung für minder schwere Fälle insoweit nicht gilt. Im Hinblick auf Personen, die auf der Ausführungsebene eines völkermörderischen Unrechtssystems handeln, mag sich unter Um84 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Ziff. 139 (dort Fn. 154) unter Hinweis auf Kreß (Fn. 74) und Schabas (Fn. 83); die dortige Bezeichnung des erweiterten Absichtsbegriffs als “innovativ” ist nicht wirklich richtig und ein wenig tendenziös. 85 S. den Text oben in Fn. 51. 86 Möglicherweise hat dieser Gesichtspunkt den 3. Senat sogar unausgesprochen dazu bewogen, seiner Rechtsprechung den engen Absichtsbegriff zugrundezulegen. Denn das Akayesu-Urteil war dem Senat bekannt (s. schon BGHSt 45, 64, 81). 87 Auch der Gesetzlichkeitsgrundsatz hindert nationale Strafgerichte recht verstanden nicht daran, die bislang problemunbewusste internationale Rechtsprechung in Frage zu stellen. Denn schon im Hinblick auf die soeben im Text erwähnte h. L. ginge es zu weit zu sagen, die bisherige internationale Rechtsprechung zum engen Absichtsbegriff begründe über das Gesetzlichkeitsprinzip menschenrechtlich verfestigten Vertrauensschutz. Auch die Passage in EGMR v. 12.10.2007 (Fn. 11), Ziff. 112, möchte ich nicht in einem solchen Sinn verstehen. S. im Übrigen die Überlegung oben in Fn. 55 zum Gesichtspunkt des zur Weltrechtspflege zuständigen Gerichts.

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ständen durchaus die Frage stellen, ob diese Rechtsfolgenregelung gerecht ist.88 Deshalb fragt es sich, ob der enge Absichtsbegriff nicht vielleicht speziell bei § 6 Abs. 1 VStGB im Wege strafrahmenkonformer Auslegung zu begründen ist. An dieser Stelle schlägt dem Exegeten der Atem der juristischen Zeitgeschichte entgegen. Denn der enge Absichtsbegriff erlaubt beim Völkermord letztlich dieselbe Abgrenzung zwischen Tätern und Gehilfen wie die (inzwischen überholte) sehr subjektive Beteiligungslehre beim Mordtatbestand. Deren jahrzehntelange Anwendung auf unter dem Nationalsozialismus begangene Völkermordhandlungen kann letztlich auch als der Versuch der deutschen Rechtsprechung verstanden werden, bloße „Mitläufer des Systems” strafrahmenkonform lediglich als Gehilfen abzuurteilen.89 Doch hier wie dort gilt, dass es vornehmlich dem Gesetzgeber obliegt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die innerhalb von Unrechtssystemen möglichen Neutralisierungswirkungen auf der Rechtsfolgenseite zu Gunsten der Täter zu Buche schlagen können.90

Schluss Allein mit dem vorstehenden Versuch, vier zentrale Bausteine der von Rissing-van Saan mitgeprägten deutschen Völkermordjudikatur nachzuzeichnen und kritisch zu beleuchten, ist der Bedeutung dieser Judikatur nicht gerecht zu werden. Nichts anderes würde gelten, nähme man auch noch den bedeutsamen Beitrag des 3. Senats zur Dogmatik der Kriegsverbrechen91 in den Blick, der ohne weiteres einen eigenen Festschriftbeitrag lohnte. Die ganze Bedeutung der ersten drei Grundsatzentscheidungen des 3. Senats zum Völkerstrafrecht erschließt sich erst, wenn man über die strafrechtsdogmatischen Finessen hinausblickt und die Rechtsprechung in ihrem zeithistorischen Zusammenhang betrachtet.92 Dann erscheint diese als der zentrale Beitrag der Judikative zur Öffnung Deutschlands für die Entwicklung des Völkerstrafrechts, mit dessen Ursprüngen unser Land in so trübseliger Weise verknüpft ist. Kurz nachdem die Bundesregierung ihren 88

MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 114. Hierzu zusammenfassend Claus Kreß Versailles - Nürnberg - Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Fakultätsspiegel Sommersemester 2006, S. 30 f. (insow. nicht abgedr. in ders. JZ 2006, 981). 90 Eine Entscheidung des Gesetzgebers, den Strafrahmen zu flexibilisieren, wäre auf das Menschlichkeitsverbrechen der Tötung nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB zu erstrecken. 91 S. den Text oben in Fn. 4. 92 Hierzu Claus Kreß Versailles - Nürnberg - Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, JZ 2006, 981 ff. und insbes. 988. 89

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Beitrag zur Gründung des IStGH geleistet hatte, und kurz bevor der Gesetzgeber auf verschiedenen Ebenen und insbesondere durch das VStGB auf die gewandelte Völkerrechtslandschaft reagieren sollte, fand sich das höchste deutsche Strafgericht bereitwillig in die neuartige Rolle der internationalarbeitsteiligen Konkretisierung völkerstrafrechtlicher Normen. Ruth Rissing-van Saan hat diese Rolle selbst auf den Punkt gebracht. Ihr gebührt in diesem Beitrag auch deshalb das letzte Wort: „(…) German courts assume their driving role, strengthening international humanitarian law and contributing to the effectiveness of international criminal jurisdiction, not in competition, but in cooperation with international courts.“93

93 Ruth Rissing-van Saan The German Federal Supreme Court and the Prosecution of International Crimes Committed in the Former Yugoslavia, Journal of International Criminal Justice 3 (2005), 399.

Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und das Verbot der Tötung auf Verlangen KLAUS KUTZER

Vorbemerkung Als ich das Thema meines Festschriftbeitrags wählte, war mir noch nicht bekannt, dass der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter dem Vorsitz der Jubilarin zu eben diesem Thema ein maßgebendes Grundsatzurteil in der Strafsache gegen den Rechtsanwalt Putz fällen würde (Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09). Die Jubilarin hatte auch die Berichterstattung in diesem schwierigen Fall übernommen. Es freut mich daher, ein Thema gewählt zu haben, mit dem sich die Jubilarin intensiv und verdienstvoll beschäftigt hat. Das Urteil vom 25. Juni 2010 macht den Weg frei für eine nach materiellen Wertungen vorzunehmende Grenzziehung zwischen erlaubt und verboten. Seine Bedeutung für die betreuungsrechtliche und ärztliche Praxis kann nicht hoch genug eingeschätzt werden1, obwohl auch jetzt noch einige Fragen ungeklärt bleiben und weiterer Diskussion bedürfen.

I. Zum Verbot der aktiven Sterbehilfe (Euthanasie) trotz Verlangens des Patienten Menschen fürchten oft nicht so sehr den Tod, sondern das Sterben, weil es sich qualvoll und schmerzhaft hinziehen kann. Deshalb - und manchmal auch aus ökonomischen Gründen - wurde schon in frühester Zeit die Frage diskutiert, ob man Euthanasie, also einen „guten Tod“ durch menschliches Eingreifen ermöglichen soll, wenn ein gutes Sterben sonst infolge Gebrechlichkeit, Siechtum, schwerer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen erschwert oder unmöglich gemacht würde. Bei bestimmten Naturvölkern, z. B. des Eskimos und Papuas, war die Euthanasie insofern in Gebrauch, als 1

So mit Recht Mehle NJW-aktuell 28/2010 S. 12.

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unheilbar Kranke, lebensunfähige Kinder und auch alte Menschen ausgesetzt oder auf andere Weise getötet wurden2. Aber auch im aufgeklärten Griechenland des 4. Jahrhunderts vor Christus sagt Platon in seiner Politeia3:„Wer siech am Körper ist, den sollen sie sterben lassen. Wer an der Seele missraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten.“ Demgegenüber heißt es in dem etwa im 5. bis 4. vorchristlichen Jahrhundert verfassten und später in weiten Teilen der Welt als allgemeines ärztliches Ethos akzeptierten Eid des Hippokrates4: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen.“ Der 1535 enthauptete, später heilig gesprochene englische Staatsmann Thomas Morus postuliert in seiner Utopia5: „Bei schwerer, schmerzhafter Krankheit sollen Priester und Ärzte zum Selbstmord raten und helfen.“ Im 17. Jahrhundert empfiehlt der Philosoph Francis Bacon6 Euthanasie mit dem Ziel, dass der Kranke leichter und schmerzlos aus dem Leben gehen kann. Seit Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstanden vor allem in England und in den USA verschiedene Euthanasiegesellschaften, die sich für Gesetze einsetzten, die das Töten von Schwerkranken auf deren Wunsch hin erlauben. Auch heute gibt es in den meisten europäischen Staaten solche Gesellschaften, denen der Erfolg jedoch weitgehend versagt blieb. Anders verlief die Entwicklung in den Benelux-Staaten. Die Niederlänger haben durch das im April 2001 verabschiedete und ein Jahr später in Kraft getretene Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung ebenso wie die Belgier durch das im Mai 2002 verabschiedete Euthanasiegesetz und die Luxemburger durch das im März 2009 in Kraft getretene Sterbehilfegesetz die aktive Sterbehilfe unter bestimmten engen Voraussetzungen legalisiert. So heißt es etwa in Art. 3 § 1 des belgischen Gesetzes zur Sterbehilfe7:

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Ratschow, Wenn Sterbehilfe töten darf, 1992, S. 6. Zitiert nach Benzenhöfer, Der gute Tod? 1999, S. 30. S. 31: „Die Empfehlung des Sterbenlassens bezieht sich auf die Heilkunde, die Tötungsempfehlung aber gilt der Rechtspflege: Sie soll die Verbrecher töten.“ 4 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl. 2003 Rdnr. 1299. 5 Ratschow (Fn. 2) S. 7. 6 Ratschow (Fn. 2) S. 7; Benzenhöfer (Fn. 3) S. 66 ff. 7 Übersetzung: Katharina Haubold/Hans-Georg Koch/Juliette Lelieur. 3

Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen

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„Ein Arzt, der die Sterbehilfe vornimmt, begeht keine Straftat, wenn er sich vergewissert hat, -

dass der Patient volljährig ist oder für volljährig erklärt wurde, zurechnungsfähig und im Zeitpunkt des Verlangens bei Bewusstsein ist;

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das Verlangen freiwillig, gut durchdacht und wiederholt zum Ausdruck gebracht worden ist und nicht auf Druck von außen beruht;

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der Patient sich in einer medizinisch aussichtslosen Lage und in einem Zustand von dauernden, körperlich oder seelisch unerträglichen Qualen befindet, welcher nicht gelindert werden kann und auf einem schweren und unheilbaren, unfall- oder krankheitsbedingten Leiden beruht,

und er die in diesem Gesetz vorgeschriebenen Voraussetzungen und Verfahrensvorschriften beachtet.“ Diese Entwicklung in den Deutschland benachbarten Benelux-Staaten hat auch die hiesige Diskussion über die Umstände eines würdigen Sterbens und eine Novellierung des – bisher uneingeschränkt geltenden - strafrechtlichen Verbots der aktiven Sterbehilfe in § 216 StGB beeinflusst.8 Unter aktiver Sterbehilfe oder Euthanasie wird die gezielte Tötung eines Schwerkranken, in der Regel mittels einer ärztlich verordneten tödlichen Medikation, verstanden. Aktive Sterbehilfe bedeutet nicht die vorsätzliche Zulassung des krankheitsbedingten Sterbens durch Verzicht auf eine medizinische Substitution der versagenden Lebensfunktionen, sondern den von außen kommenden gezielten tödlichen Eingriff durch die Tat eines Dritten. Da aktive Sterbehilfe eine Straftat ist, kann sie von einem Patienten weder aktuell noch in einer antizipativen Verfügung verlangt werden. Insoweit scheitert das Selbstbestimmungsrecht des Kranken an § 216 StGB, der eine Krankentötung generell, also auch auf Wunsch des Schwerstleidenden verbietet. Eine Änderung dieser Vorschrift, um aktive Sterbehilfe zuzulassen, wird in Deutschland nach wie vor von den gesellschaftlich relevanten Gruppen, insbesondere den Vertretern der Kirchen, der Ärzteschaft, der Sozialverbände und der Juristen abgelehnt9. Dem ist zuzustimmen, weil ein 8 Nach einer Allensbach-Umfrage unter 527 Ärzten im Auftrag der Bundesärztekammer könnten sich 25 % vorstellen, selbst aktive Sterbehilfe zu leisten, wenn der Patient sie darum bittet, Spiegel 29/2010 v. 19.7.2010. 9 Vgl. das einhellige Votum der Repräsentanten dieser Gruppen in der vom Verfasser geleiteten interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums, Bericht v. 10.6.2004 S. 50, abgedruckt in Vormundschaftsgerichtstag e.V., Betreuungsrecht in Bedrängnis 2004 S. 158 ff., www.bmj.bund.de/media/archive/695.pdf;

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Recht des Einzelnen, seine Tötung zu verlangen, den generellen Lebensschutz relativieren, die Achtung vor dem Leben untergraben und Nützlichkeitserwägungen Raum geben kann; auch könnte der Gefahr des Missbrauchs nicht wirksam begegnet werden10. Bei Zulassung der aktiven Sterbehilfe müsste zwischen lebenswertem Leben, das durch § 216 StGB geschützt, und schutzunwürdigem Leben am Lebensende unterschieden werden. Im Übrigen könnte sich jeder Kranke, der ohne Aussicht auf Besserung eine aufopfernde und hohe Kosten verursachende Pflege benötigt, zumindest dem indirekten Druck oder der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartung ausgesetzt sehen, seine Angehörigen oder die Allgemeinheit oder beide durch die Bitte um die todbringende Medikation zu entlasten11.

II. Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten bei Vorausverfügungen für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit Die Ablehnung einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und damit der Möglichkeit, sie aktuell oder durch eine Patientenverfügung zur Beendigung eines körperlichen oder seelischen Martyriums zu verlangen, lässt sich aus humanen Gründen aber nur rechtfertigen, wenn aktive Sterbehilfe nicht erforderlich ist, um extremes Leiden in der finalen oder präfinalen Phase zu vermeiden. Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben sich bemüht, den rechtlichen Rahmen für ein würdiges Sterben ohne Euthanasie durch restriktive Auslegung des § 216 StGB und den Rückgriff auf seinen durch teleologische Reduktion zu ermittelnden Normzweck12 zur Verfügung zu stellen. Schon in seiner Entscheidung vom 4. Juli 1984 hat der 3. Strafsenat hervorgehoben, dass es keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt13. Maßnahmen zur Lebensverlängerung seien nicht schon deswegen unerlässlich, weil sie technisch möglich seien. Derselbe Senat hat in dem Urteil vom 8. Mai 1991 auf die Bedeutung des erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillens bei passiver Sterbehilfe Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestags BT-Drucks. 15/3700 S. 15; Beschluss der Abteilung StrafR des 66. Dt. Juristentags, Band II/1 der Verhandlungen N 80 Nr. 1. 10 Kutzer MedR 2001, 77, 78; ders. ZRP 2003, 209, 212; ders. FPR 2004, 683, 684; ders. DRiZ 2005, 257, 258; ders. FPR 2007, 59, 60/61. 11 Kutzer MedR 2001 (Fn.10), zustimmend zitiert von der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages a.a.O. (Fn.9). 12 Vgl. Kutzer NStZ 1994, 110, 114. 13 BGHSt 32, 367, 379/380.

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hingewiesen und den Leitsatz aufgestellt14: „Auch bei aussichtsloser Prognose darf Sterbehilfe nicht durch gezieltes Töten, sondern nur entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen geleistet werden, um dem Sterben – ggf. unter wirksamer Schmerzmedikation – seinen natürlichen, der Würde des Menschen gemäßen Verlauf zu lassen.“ Damit war strafrechtlich klargestellt, dass der aktuelle oder mutmaßliche, also auch der zuvor erklärte Patientenwille maßgebend dafür ist, wann auf ärztliche, insbesondere intensivmedizinische Maßnahmen verzichtet werden darf, und dass Arzt, Pflegepersonal und Patientenvertreter, die einem solchen Wunsch des todkranken Patienten folgen, nicht wegen Tötung auf Verlangen verfolgt werden dürfen. Für die Umstände des Sterbens bedeutsam ist eine weitere Entscheidung des 3. Strafsenats zur sog. indirekten Sterbehilfe15. In dem Urteil vom 15. November 1996 hält er eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen bei einem Sterbenden auch dann nicht für unzulässig, wenn sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann. Denn die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit sei ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen. Diese Rechtfertigung geht über die sonst in der Medizin geltenden Grenzen des erlaubten Risikos hinaus. Denn wer weiß oder billigend in Kauf nimmt, dass sich in concreto das Risiko einer riskanten Behandlung verwirklichen werde, muss von der riskanten Handlung Abstand nehmen. Handelt er trotzdem, so ist die von ihm verursachte Tötung rechtswidrig. Klarzustellen, dass diese Beurteilung bei der terminalen Schmerzbekämpfung nicht greift, ist das Anliegen der genannten BGH-Rechtsprechung. Künftig sollte allerdings auf die Kriterien des nur bedingten Vorsatzes (billigende Inkaufnahme) und der Unvermeidbarkeit der tödlichen Nebenwirkung verzichtet werden16. Denn die medizinische Indikation der leidmindernden Maßnahme und die Unvermeidbarkeit der Lebensverkürzung dürften sich bei dem heutigen Stand der Palliativmedizin in den meisten Fällen ausschließen. Als ein Sonderfall der erlaubten indirekten Sterbehilfe stellt sich die immer häufiger angewandte Sedierung im Terminalstadium dar. Die sog. terminale Sedierung meint eine das Bewusstsein des Patienten weithin oder vollständig 14

BGHSt 37, 376. BGHSt 42, 301, 305; ebenso BGHSt 46, 279, 284/285. 16 Vgl. dazu im Einzelnen Kutzer Referat zur Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006 Verlag C.H. Beck München 2006 Band II/1 N 9, N 25 ff. 15

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ausschließende medikamentöse Schmerzlinderung, die äußerstenfalls eingesetzt wird, wenn andere palliative Optionen sich als nicht hinreichend erweisen.17 Rechtsprechung dazu gibt es noch nicht.18 Der 1. Strafsenat des BGH hat den mutmaßlichen, auch den in einer Patientenverfügung erklärten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen nicht nur in der präfinalen Phase, sondern auch schon dann zugelassen, wenn der schwerstgeschädigte (Wachkoma-)Patient bei Fortsetzung der künstlichen Ernährung noch unbestimmt lange Zeit leben könnte. Allerdings sind seine Prämissen weitgehend unklar geblieben. Er hat in dem Urteil vom 13. September 1994 (Kemptener Fall) u.a. folgende Leitsätze aufgestellt19: „Bei einem unheilbar erkrankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten kann der Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme ausnahmsweise auch dann zulässig sein, wenn die Voraussetzungen der von der Bundesärztekammer verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe nicht vorliegen, weil der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat20. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Kranken. An die Voraussetzungen für die Annahme eines mutmaßlichen Einverständnisses sind strenge Anforderungen zu stellen. Hierbei kommt es vor allem auf frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen an.“ Der Fall betraf eine 73jährige irreversibel schwerst zerebralgeschädigte Frau, die auf Grund ihrer Schluckunfähigkeit auf eine künstliche Sondenernährung durch eine Magensonde angewiesen war. Sie war nicht mehr ansprechbar und konnte weder gehen noch stehen. Ihr vegetativer Zustand war aber stabil, so dass sie bei Fortsetzung der künstlichen Ernährung wie bisher hätte weiter leben können. Der 1. Strafsenat vertrat die Auffassung, dass „angesichts der besonderen Umstände des hier gegebenen Grenzfalles“ „ausnahmsweise“ ein zulässiges Sterbenlassen durch Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme „nicht von vornherein“ ausgeschlossen

17

Duttge, Preis der Freiheit, 2. Aufl. 2006 S. 86 ff.; ausführlich zur rechtlichen Einordnung: Geißendörfer, Die Selbstbestimmung des Entscheidungsunfähigen an den Grenzen des Rechts, Berlin 2009 S. 94 ff. 18 Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums (Rn. 9 a.a.O. S. 13) hat hierzu folgenden Beschluss gefasst: „Bei Versagen aller sonstigen palliativmedizinischen Möglichkeiten ist – jedenfalls in der terminalen Krankheitsphase – mit Einwilligung des Patienten eine Sedierung (gezielte Dämpfung bis hin zur Ausschaltung des Bewusstseins) zulässig.“ 19 BGHSt 40, 257. 20 also ein Fall der sog. passiven Sterbehilfe nicht vorliegt, den BGHSt 37, 376 betrifft.

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sei, sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden sei21. Dieses Urteil konnte keine Rechtssicherheit schaffen, weil unklar blieb, welche besonderen Umstände hier einen Grenzfall konstituierten und ausnahmsweise den Behandlungsabbruch zuließen. Dies zu klären, ist von enormer praktischer Bedeutung. Nach Expertenschätzungen gibt es in Europa etwa 230.000 Koma-Patienten pro Jahr, knapp 30.000 befinden sich im ständigen Wachkoma22. Grund für ansteigende Fallzahlen sind die verbesserten Möglichkeiten der modernen Unfall- und Intensivmedizin, dank derer immer mehr Menschen mit schweren Hirnverletzungen überleben, allerdings vielfach mit bleibenden Schäden. Oft sind sie wie viele andere Kranke auf künstliche Ernährung angewiesen. In Deutschland werden pro Jahr etwa 140.000 PEG-Sonden (künstliche Sonden-Ernährung durch die Bauchdecke) gelegt, davon etwa 65 % bei älteren Menschen, insbesondere in Pflegeheimen23. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen die lebenserhaltende künstliche Ernährung auf antizipierten Wunsch des entscheidungsunfähig gewordenen Patienten eingestellt werden darf, auch wenn sie weiterhin medizinisch indiziert24 ist, hat der 1. Strafsenat also nicht eindeutig beantwortet. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass der XII. Zivilsenat in seinem Grundsatzbeschluss v. 17. März 200325 den vorgenannten Beschluss des 1. Strafsenats vom 13. September 1994 dahin (miss)verstanden hat, dass ein vorausverfügtes Verbot lebenserhaltender Maßnahmen nur dann nicht gegen das Verbot der Tötung auf Verlangen verstößt, wenn die Grunderkrankung bereits einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat und 21

BGHSt (Fn. 19) S. 262. www.aerztezeitung.de 23.6.2010. Nach einem Bericht des Rheinischen Merkurs, online 12.8.2010, schätzt der Selbsthilfeverband „Schädel-Hirnpatienten in Not“, dass in Deutschland mindestens 13.000 Menschen im Wachkoma leben; Fortschritte in der Medizin sorgten dafür, dass die Zahl der Patienten weiter steigt: Reanimationen glückten häufiger; doch 3.000 bis 4.000 Menschen pro Jahr blieben danach Apalliker; über ihre durchschnittliche Lebenserwartung gebe es keine genauen statistischen Aussagen. Der Bundesvorsitzende des Verbandes spreche von durchschnittlich zweieinhalb Jahren nach Eintritt des Wachkomas. Einzelne Patienten lebten aber bereits 15 bis 20 Jahre im Wachkoma. 23 Synofzik /Marckmann DÄrztebl. v. 7.12.2007 S. A-3390. 24 Vgl. dazu III. der Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, DÄrztebl. v. 7.5.2004 S. B-1076 f.: „Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewusstlosigkeit (apallisches Syndrom; auch so genanntes Wachkoma) haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Lebenserhaltende Therapie einschl. – ggf. künstlicher – Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten…Die Dauer der Bewusstlosigkeit darf kein alleiniges Kriterium für den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen sein.“ Einzelheiten zur Künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung im Leitfaden des Bayerischen Landespflegeausschusses, Mai 2009, www.stmas.bayern.de/pflege. 25 BGHZ 154, 205. 22

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hierüber eine „letzte Sicherheit“ bestehe. Die Entscheidungsmacht des Betreuers eines entscheidungsunfähigen Patienten sei mit der aus dem Selbstbestimmungsrecht folgenden Entscheidungsmacht eines einwilligungsfähigen Patienten nicht deckungsgleich, sondern als gesetzliche Vertretungsmacht an rechtliche Vorgaben gebunden; nur soweit sie sich im Rahmen dieser Bindung halte, könne sie sich gegenüber der Verpflichtung des Arztes, das Leben des Patienten zu erhalten, durchsetzen. Die durch das Strafrecht vorgegebene objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe sei auch für das Zivilrecht verbindlich. Aus ihr folge, dass für das Verlangen des Betreuers, eine medizinische Behandlung einzustellen, kein Raum sei, wenn das Grundleiden des Betroffenen noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe und durch die Maßnahme das Leben des Betroffenen verlängert oder erhalten werde.26 Diese vom Bundesgerichtshof postulierte „Reichweitenbeschränkung“ einer Vorausverfügung ist zum Teil auf heftige Kritik gestoßen, weil sie das Selbstbestimmungsrecht des Kranken unverhältnismäßig einschränke und ungeklärt bleibe, ab welchem Stadium eine „Grunderkrankung“ einen irreversiblen tödlichen Verlauf annehme27. So trug diese Entscheidung des XII. Zivilsenats dazu bei, den Ruf nach einer gesetzlichen Regelung lauter werden zu lassen. Zu deren Vorbereitung hat die damalige Bundesjustizministerin Zypries im September 2003 unter Leitung des Verfassers eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ eingesetzt. Ihr gehörten Vertreter der Ärzteschaft, der Patienten, der Wohlfahrtspflege, der Hospizbewegung, der Kirchen und der Justiz- und Gesundheitsministerien der Länder an. Die Arbeitsgruppe hat ungeachtet teilweise unterschiedlicher Grundauffassungen ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielen können. Knappe Mehrheitsentscheidungen wurden nicht getroffen.28 Ihr Gesetzentwurf zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht des BGB (AGE-BMJ)29 wurde Grundlage des Referentenentwurfs des Bundesjustizministeriums30 und dieser wiederum Grundlage des Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts (sog. Patientenverfügungsgesetz) vom 29. Juli 200931, das mit nicht unerheblichen Änderungen im Detail 26

BGHZ (Fn. 25) S. 215. Nachw. bei Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Gutachten C zum 66. Deutschen Juristentag Stuttgart 2006, C 43 Fn. 175, München 2006. 28 Einleitung zu dem Bericht v. 10.06.2004 (Fn. 9). 29 Bericht (Fn. 9, 28) S. 42 ff. 30 Dazu: v. Dewitz/ Kirchner, Der Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts vom 1. November 2004 und das Grundgesetz, MedR 2005, 134 ff.; Wagenitz. Finale Selbstbestimmung? Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Patientenverfügung im geltenden und künftigen Recht, FamRZ 2005, 669, 673 ff. 31 BGBl. I 2286. 27

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unter Federführung des Abgeordneten Stünker32 unmittelbar in den Bundestag eingebracht worden war33.

III. Zur Verbindlichkeit einer Vorausverfügung nach dem Patientenverfügungsgesetz (PatVfgG)34 1. Reichweitenbeschränkung der Patientenverfügung Im Patientenverfügungsgesetz war zunächst zu entscheiden, ob die vorausverfügte Ablehnung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen nur verbindlich ist, wenn die Erkrankung bereits einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat, wie es u.a. der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs35, die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages36 und Konkurrenzentwürfe37 gefordert hatten. Der AGE-BMJ und das neue PatVfgG stimmen darin überein, dass es eine solche Reichweitenbeschränkung nicht geben dürfe. Denn ebenso wie der in der aktuellen Situation entscheidungsfähige Patient ohne Rücksicht auf die Art und den Verlauf seiner Krankheit selbst darüber befinden könne, ob und ggf. welche ärztliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden dürfen, sei es Ausfluss seines verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts, eine solche Entscheidung auch im Voraus für den Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit treffen und von seinem Vertreter die Durchsetzung seines Willens erwarten zu können. Deshalb heißt es in § 1901a Abs. 3 BGB i.d.F. des PatVfgG (künftig: n.F.): „Die Absätze 1 und 2 (über die Bindung an Patientenwünsche) gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.“ Bei dem Verzicht des AGE-BMJ und des PatVfgG auf eine solche Reichweitenbeschränkung handelt es sich aber nur um eine unvollständige Konkordanz. Denn nach dem PatVfgG bleibt unklar, welche Grenzen die 32

Rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. BT-Drucks. 16/8442. 34 Vgl. dazu auch Kutzer MedR 2010, 531 ff.; Kutzer, Das Patientenverfügungsgesetz – Ein Vergleich mit den Vorschlägen der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2010 (im Druck); Reus JZ 2010, 80; Diehn/Rebhan NJW 2010, 326; Höfling NJW 2009, 2849; Borasio/Heßler/Wiesing DÄrztebl. 2.10.2009 S. A-1952; Vetter/Marckmann ÄBl.BW 09-2009 S. 370. 35 BGHZ 154, 205. 36 Zwischenbericht Patientenverfügungen v. 13.09.2004 Bundestags-Drucks. 15/3700. 37 Z.B. sog. Bosbach-Entwurf, BT-Drucks. 16/11360, für nicht qualifizierte Patientenverfügungen. 33

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Strafvorschrift des § 216 StGB über die Tötung auf Verlangen dem Betreuer bei der Ausführung einer Patientenverfügung setzt. Der AGE-BMJ dagegen wollte Klarheit und Rechtssicherheit dadurch schaffen, dass § 216 StGB um einen dritten Absatz ergänzt wird, der lauten soll38: „Nicht strafbar ist … 2. das Unterlassen oder Beenden einer lebenserhaltenden medizinischen Maßnahme, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht.“39 Nur durch eine solche Ergänzung wäre strafrechtlich gesichert, dass j e d e vom Patienten für den Fall seiner späteren Entscheidungsunfähigkeit gewünschte Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen ohne Rücksicht auf Art und Stadium einer Erkrankung, wie es in § 1901a Abs. 3 BGB n.F. heißt, strafrechtlich erlaubt ist. Das PatVfgG lässt dagegen die Vorschrift des § 216 StGB unverändert mit der Folge, dass auch ihr bisheriger Inhalt unverändert bleibt, da sie keine durch das Zivilrecht ausfüllungsbedürftige Vorschrift ist.40 Die neuen Regelungen des BGB sind daher so auszulegen, dass sie nicht mit dem Strafbarkeitsbereich des § 216 StGB kollidieren. In der Begründung des PatVfgG heißt es dazu: „Die strafrechtliche Rechtsprechung zieht die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und den zulässigen Formen der Sterbehilfe unter Wahrung des Lebensschutzes wie des Selbstbestimmungsrechts des Patienten… Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung verschiebt diese Grenze nicht, sondern klärt die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts bei solchen Verfügungen.“41 Wo die vom PatVfgG angenommene Grenze im Einzelnen verläuft, war bisher in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH nicht abschließend entschie38

Bericht v. 10.06.2004 S. 50 (Rn 9). Ähnlich der Beschluss II 1 der Abteilung Strafrecht des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006, Verhandlungen Bd. II/1 N 73/74: „Es ist im StGB klarzustellen, dass das Unterlassen, Begrenzen oder Beenden lebenserhaltender Maßnahmen straflose Behandlungsbegrenzung ist (bisher sog. passive Sterbehilfe), a) wenn für solche Maßnahmen keine medizinische Indikation (mehr) besteht, b) wenn dies vom Betroffenen ausdrücklich und ernstlich verlangt wird, c) wenn dies vom (einwilligungsunfähigen) Betroffenen in einer Patientenverfügung für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit angeordnet wurde, d) wenn dies von einem Vertreter des Patienten (Betreuer, sonstiger gesetzlicher Vertreter oder Vorsorgebevollmächtigter) – erforderlichenfalls mit der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts - verlangt wird und der erklärte oder mutmaßliche Wille des Betroffenen nicht erkennbar entgegensteht, e) wenn der Patient einwilligungsunfähig ist und aufgrund verlässlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass er diese Behandlung ablehnen würde (mutmaßlicher Wille).“ 40 Vgl. BGHZ 154, 205, 215: „Die objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe ist auch für das Zivilrecht verbindlich; denn die Zivilrechtsordnung kann nicht erlauben, was das Strafrecht verbietet.“ In diesem Sinn jetzt auch BGH – Urteil v. 25.06.2010 – 2 StR 494/09 – S. 13/14: „Wo die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, ist …eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist.“ 41 BT-Drucks. 16/8442 S. 9. 39

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den, wie der XII. Zivilsenat in seinem Beschluss vom 8. Juni 200542 zutreffend festgestellt hat. Weitere Differenzierungen ergeben sich aus dem neuen Beschluss des 2. Strafsenats vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 –, der eine lebensbedrohliche Krankheit als Voraussetzung eines strafrechtlich zulässigen Behandlungsabbruchs durch den Patientenvertreter verlangt. Dies soll näher unter IV behandelt werden. Nach dem jetzigen Stand der strafrechtlichen Rechtsprechung kann daher keine Rede davon sein, dass strafrechtlich j e d e vom Patienten vorab verfügte Einstellung medizinisch indizierter lebenserhaltender Maßnahmen aus dem Strafbarkeitsbereich des § 216 StGB für Betreuer herausfällt. § 216 StGB erklärt die vom Betroffenen ausdrücklich und ernstlich verlangte Tötung für strafbar. Tötung auf Verlangen kann ebenso wie andere Tötungsdelikte auch durch Unterlassen lebensrettender Maßnahmen begangen werden.43 Deshalb liegt es nahe, darin eine Beschränkung der Reichweite des Verbots lebenserhaltender Maßnahmen in Patientenverfügungen zu sehen, wenn anderenfalls gegen den vom Staat zu gewährleistenden Lebensschutz verstoßen würde, den § 216 StGB auch und gerade gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen sichern will.44 Eine solche durch § 216 StGB gebotene Reichweitenbeschränkung könnte etwa dann vorliegen, wenn der Patient in seiner der Umsetzung durch den Betreuer bedürftigen Patientenverfügung auch eine ärztliche Behandlung ausgeschlossen hat - z.B. bestimmte hochwirksame Medikamente, eine Reanimation, eine Operation, eine kurzfristig erforderlich werdende künstliche Ernährung oder Beatmung -, die angesichts seines Krankheitsbildes mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Genesung führen würde45. Weiß dies ein Patient bei Abfassung seiner Patientenverfügung oder nimmt er dies billigend in Kauf, so handelt es sich um ein suizidales Behandlungsverbot und nicht einen Fall rechtlich anzuerkennender Sterbehilfe. Macht sich der Patientenvertreter zum Vollstrecker eines solchen (suizidalen) Behandlungsverbots, tötet er den Patienten auf dessen Verlangen durch Unterlassen der gebotenen Lebensrettung (§ 216 StGB). In einem solchen Fall wäre trotz der in § 1901a Abs. 3 BGB n.F. angeordneten Verbindlichkeit einer Patientenverfügung „unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung“ das in der Patientenverfügung 42

BGHZ 163, 195, 200/201. BGHSt 13, 162; 32, 367; Urt. v. 25.06.2010 – 2 StR 454/09 - S. 16 ; vgl. auch BGH v. 6.3.2007 – 2 StR 497/06, auszugsweise abgedruckt in NStZ– RR 2007 S. 333: Totschlag durch das Unterlassen, ärztliche Hilfe herbeizuholen. 44 Vgl. dazu Kutzer, Das Patientenverfügungsgesetz. Ein Vergleich mit den Vorschlägen der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums unter II, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2010 im Druck. 45 A.A. Verrel in Verrel/Simon, Patientenverfügungen, Rechtliche und Ethische Aspekte, Freiburg i.B. 2010 S. 32 oben. 43

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enthaltene und der Umsetzung durch den Betreuer bedürftige Verbot unwirksam.46 Ist unklar, ob der Patient bei Abfassung der Patientenverfügung das Behandlungsverbot auch für den Fall einer sonst möglichen Genesung aufrechterhalten wollte, wird besonders sorgfältig zu prüfen sein, ob das antizipativ geschriebene Verbot auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation wirklich zutrifft (§ 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB n.F.). Abgesehen davon bleibt der Betreuer auch nach § 1901 Abs. 2 u. 3 BGB dem Wohl des Betreuten verpflichtet. Es ist ihm grundsätzlich nicht zuzumuten, auf eine zur Genesung führende, den Betreuten nicht wesentlich belastende ärztliche Maßnahme zu verzichten, nur weil der Betreute deren Anwendung in seiner Patientenverfügung vorweg ausgeschlossen hat. Die Vollzugspflicht des Betreuers entfällt jedenfalls, wenn er offensichtlich dem auch subjektiv verstandenen Wohl des Betreuten zuwiderhandeln und ihn durch die unterlassene Rettung töten müsste. Der AGE-BMJ hat die Vollzugspflicht des Betreuers in Anlehnung an § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB ausdrücklich an der Zumutbarkeitsgrenze enden lassen wollen47. Die Rechtslage entspricht der Rechtslage, die bei einwilligungsfähigen Patienten unstreitig ist: Der Patient darf straflos sich selbst töten und eine Lebensrettung ablehnen, aber nicht verlangen, dass andere ihn töten; letzteres auch dann nicht, wenn er sich infolge Handlungsunfähigkeit nicht mehr selbst töten kann.

2. Vorrang der ärztlichen Indikation vor der Patientenverfügung Der AGE-BE enthielt keinen der Regelung des § 1901b Abs. 1 BGB n.F. entsprechenden Vorschlag. § 1901b Abs. 1 BGB n.F., der erst unmittelbar vor der 3. Lesung im Bundestag aus dem konkurrierenden „ZöllerEntwurf“48 in den verabschiedeten „Stünker-Entwurf“ übernommen worden ist49, lautet: „Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a zu treffende Entscheidung.“ Diese Vorschrift enthält einerseits die Selbstverständlichkeit, dass der Arzt die ärztliche Indikation seines Behandlungsvorschlags zu 46

BT-Drucks. 16/8442 (Begründung des Gesetz gewordenen Stünker-Entwurfs) S. 3: „Festlegungen in einer Patientenverfügung, die auf eine verbotene Tötung auf Verlangen gerichtet sind, bleiben unwirksam.“ 47 § 1901b Abs. 1 S. 3 BGB i.d.F. des Entwurfs des AGE-BMJ lautete: „Dem Betreuer obliegt es, diese (in der Patientenverfügung getroffene) Entscheidung durchzusetzen, soweit ihm dies zumutbar ist.“ 48 BT-Drucks. 16/11493. 49 Vgl. BT-Drucks. 16/13314 S. 20.

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prüfen hat. Andererseits lässt sie Raum für Fehldeutungen hinsichtlich des bei der Erarbeitung der Indikation zu berücksichtigenden Patientenwillens. Borasio50, Heßler51 und Wiesing52 ziehen daraus, dass § 1901b Abs. 1 BGB n.F. die Ermittlung der ärztlichen Indikation von der Berücksichtigung des Patientenwillens bei der Behandlungsentscheidung abhebt, folgenden Schluss53: „Erst wenn die Indikation bejaht oder zumindest mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, wird der Patient oder sein Vertreter darüber informiert und der Patientenwille ermittelt. Bei fehlender Indikation ist die Überprüfung des Patientenwillens – und damit auch die Einrichtung einer Betreuung – entbehrlich.“ Diese Folgerung aus dem missverständlich gefassten § 1901b Abs. 1 BGB n.F. verkennt, dass die Zweistufigkeit der Entscheidungsfindung – Ermittlung erst der Indikation, dann des Patientenwillens – sich in der Praxis nicht immer durchhalten lässt. Für die medizinische Indikation ist entscheidend, ob die in Frage kommende Maßnahme oder deren Unterlassung aus ärztlicher Sicht einen Netto-Nutzen für den Patienten bringen kann, also die Chancen die Risiken überwiegen. Dies lässt sich bei ein und demselben Krankheitsbild unterschiedlich beurteilen. Deshalb muss in Zweifelsfällen schon bei der ersten Stufe der Entscheidungsfindung, der Indikationsprüfung, das Gespräch mit dem Patientenvertreter und, soweit möglich, mit dem Behandlungsteam sowie den nächsten Angehörigen und Vertrauenspersonen des Patienten gesucht werden.54 Sonst könnte § 1901b Abs. 1 BGB n.F. zum Einfallstor für neuen ärztlichen Paternalismus werden. Das wäre etwa der Fall, wenn der Arzt weitere lebenserhaltende Maßnahmen bei einem Todkranken als nicht mehr indiziert ansieht und sie deshalb einstellt, ohne den Patientenwillen hierzu zu erfragen. Dieser könnte z. B. dahin gehen, mit den lebenserhaltenden Maßnahmen bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses, das er noch erleben möchte, fortzufahren. Jedenfalls bei unklarer oder streitiger ärztlicher Indikation kann eine der Persönlichkeit des Patienten gerecht werdende Antwort nicht ohne Ermittlung und Berücksichtigung seines Willens gefunden werden. Dies zu negieren und dem Arzt über den Weg 50 Lehrstuhl für Palliativmedizin der LMU München, Sachverständiger des Deutschen Bundestags im Gesetzgebungsverfahren zum PatVfgG. 51 Vizepräsident des Oberlandesgerichts München, Sachverständiger des Deutschen Bundestages im Gesetzgebungsverfahren zum PatVfgG. 52 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Uni Tübingen; Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. 53 Deutsches Ärzteblatt v. 2.10. 2009 S. A-1952, 1956. 54 So jetzt auch Nr. 10.1 Satz 3 u. 4 der Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis (Stand: 16.04.2010), DÄrztebl. v. 7. Mai 2010 S. A-877 ff. = S. B-769 ff.

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der von ihm allein zu verantwortenden Indikation insoweit ein Entscheidungsrecht ohne Anhörung der Patientenseite einzuräumen, widerspräche der Patientenautonomie am Lebensende, wie sie der AGE-BMJ und das PatVfgG verstehen.

IV. Der neue Beschluss des 2. Strafsenats v. 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 – zum Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens 1. Sachverhalt Das Landgericht hat den Angeklagten Putz, einen renommierten Medizinrechtsanwalt, wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Nach den Feststellungen des Landgerichts beriet der Angeklagte die beiden Kinder der 1931 geborenen Frau K. Frau K. lag seit Oktober 2002 in einem Wachkoma. Sie wurde in einem Pflegeheim über einen Zugang in der Bauchdecke, eine sog. PEG-Sonde, künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Gesundheitszustandes war nicht mehr zu erwarten. Frau K. hatte im September 2002 gegenüber ihrer Tochter geäußert, sie wolle keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form künstlicher Ernährung und Beatmung und nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden, falls sie bewusstlos werde und sich nicht mehr äußern können. Der Bitte der Tochter, den Wunsch schriftlich zu fixieren, war sie jedoch nicht nachgekommen. Entsprechend dem mündlich geäußerten Wunsch ihrer Mutter bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu deren Betreuern bestellt worden waren, um die Einstellung der künstlichen Ernährung, um ihrer Mutter ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten. Nachdem die Tochter der Patientin am 20.12.2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens am 21.12.2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Frau K. wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte der Angeklagte der Tochter von Frau K. am selben Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen. Diese

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schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen. Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten als einen gemeinschaftlich mit der Tochter begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun – im Gegensatz zum bloßen Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung durch Unterlassen – gewürdigt, der auch nicht durch eine mutmaßliche Einwilligung der Patientin gerechtfertigt werden konnte.

2. Urteilsgründe Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben, ihn freigesprochen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Das Landgericht sei im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die durch den Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig gewesen sei und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme einen rechtswidrigen Angriff gegen die körperliche Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin dargestellt hätte. Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die künstliche Ernährung zu unterlassenen, elle sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gelte jetzt, wie § 1901 a Abs. 3 BGB i.d.F. des Patientenverfügungsgesetzes nunmehr ausdrücklich bestimme, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Dabei sei es hier nicht auf einen – im Einzelfall möglicherweise schwer feststellbaren – mutmaßlichen Willen angekommen, da ihr wirklicher, vor Eintritt ihrer Einwilligungsunfähigkeit geäußerter Wille zweifelsfrei festgestellt worden sei. Allerdings dürfe die Frage, wo die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verlaufe und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginne, nicht nur als zivilrechtsakzessorisches Problem gesehen werden. Es handele sich vielmehr um eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden sei. Danach setze Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder –abbruch voraus, dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt sei und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des

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Lebens geeignet sei. Nur in diesem Zusammenhang habe der Begriff „Sterbehilfe“ einen systematischen und strafrechtlich legitimierenden Sinn. Eine Rechtsfertigung durch Einwilligung komme nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränke, einen Zustand (wieder-)herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lasse, indem zwar – auch im Wege der indirekten Sterbehilfe - Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht mehr behandelt werde, so dass der Patient letztlich dem Sterben überlassen werde. Die Rechtfertigung gelte für den behandelnden Arzt, den Patientenvertreter und deren Hilfspersonen. Dabei sei es unerheblich, ob der Behandlungsabbruch – naturalistisch gesehen - durch Tun oder Unterlassen vorgenommen werde.

3. Stellungnahme Dem Urteil stimme ich, auch in der Begründung, zu. Allerdings sind einige Klarstellungen angebracht. a) Auch wenn das Handeln des Angeklagten im Zusammenwirken mit den Betreuern der Durchsetzung des Patientenwillens und der Beendigung rechtswidriger Zwangsernährung diente, verstieß m. E. die Eigenmächtigkeit des Eingriffs in den organisatorischen Ablauf der Pflege – Durchtrennen des Ernährungsschlauches während der Abwesenheit des Pflegepersonals – gegen die im Pflegevertrag von der Patientin anerkannten Zuständigkeiten von behandelndem Arzt und Pflegepersonal. Der Betreuer und sein Rechtsanwalt sind nicht befugt, sich ohne Not darüber hinwegzusetzen. Mit Recht weist der Bundesgerichtshof darauf hin, dass es an einer Notwehr- bzw. Nothilfelage schon deswegen fehlte, weil die Abwehrhandlung gegen die drohende Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung zugleich die Gefährdung des Lebens der Patientin zur Folge hatte, was einer eigenen Legitimation bedarf. Auch im Übrigen lag ein Eilfall nicht vor, da die Patientin sich bereits seit 5 Jahren in einem stabilen Wachkoma befand und daher bis zur Herbeiführung einer betreuungsgerichtlichen (Eil-)Entscheidung ohne weiteres gewartet werden konnte. Dies wäre sachgemäß gewesen, weil der Heimleitung auch nicht die Möglichkeit genommen werden durfte, das Handeln der Betreuer durch das Vormundschaftsgericht (jetzt: Betreuungsgericht) überprüfen zu lassen. In der amtlichen Begründung des PatVfgG55 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jederzeit die in den Behandlungsdialog (§ 1901b Abs. 1 u. 2 BGB n.F.) einbezogenen Personen, aber auch jeder Dritte, beim Betreuungsgericht eine Überprüfung des Betreuerhandelns anregen können, wenn sie befürchten, das der Vertreter bei seiner Entscheidung nicht alle relevanten Gesichts55

BT-Drucks. 16/8442 S. 11(unten) u. 19.

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punkte berücksichtigt hat. Darauf hätte der Angeklagte die Heimleitung hinweisen sollen, bevor er den Betreuern zur vertragswidrigen Eigenmacht riet. Eine gerichtliche Überprüfung des von den Betreuern angenommenen Sterbewillens wäre hier schon deswegen nicht aussichtslos gewesen, weil die Patientin gerade keine Patientenverfügung errichtet hatte, in der sie lebenserhaltende Maßnahmen untersagt hatte. Dies ist hier von besonderer Bedeutung, weil ihre Tochter sie ausdrücklich gebeten hatte, ihre Äußerung, bei Bewusstlosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit nicht künstlich ernährt oder beatmet oder an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden zu wollen, mit ihrem Ehemann zu besprechen und sodann schriftlich zu fixieren. Es geht nicht an, nur mündlich geäußerten Wünschen auf Behandlungsbegrenzung ohne weiteres denselben Verbindlichkeitsgrad zuzumessen wie den in einer schriftlichen formgerechten Patientenverfügung niedergelegten Verboten. Sonst macht es keinen Sinn, dass § 1901a Abs. 1 BGB n.F. nach kontroverser rechtspolitischer Diskussion für die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung Schriftlichkeit voraussetzt. Deshalb binden lediglich mündlich vor Eintritt der Krise ausgesprochene allgemeine Behandlungswünsche den Betreuer nach § 1901a Abs. 2 BGB n.F. nicht unmittelbar, sondern sind in seine Würdigung der Gesamtsituation mit einzubeziehen. Der Betreuer hat dann „auf der Grundlage“ der Behandlungswünsche eine eigene, der Überprüfung durch das Betreuungsgericht zugängliche Entscheidung zu treffen.56 Das gilt insbesondere dann, wenn sich – wie hier – der nur mündlich geäußerte Wunsch nicht auf ein erwartetes konkretes Krankheitsbild bezog, sondern lediglich auf einen allgemeinen Zustand der Bewusstlosigkeit, der nicht ohne weiteres das Wachkoma in all seinen unterschiedlichen Stadien einschließen muss.57 Der früher geäußerte mündliche Wunsch war also nicht unmittelbar verbindlich, sondern lediglich Indiz für einen entsprechenden individuell-mutmaßlichen Willen zur Tatzeit. Hätte das Pflegeheim um gerichtliche Überprüfung der Betreuerentscheidung nachgesucht, hätte auch berücksichtigt werden können, dass es fraglich erscheint, ob eine medizinische Indikation zur Einstellung der künstlichen Ernährung vorlag. Davon scheint der behandelnde Arzt ausgegangen 56 Vgl. BT-Drucks. 16/8442 S. 11: „Als zusätzliches Erfordernis für eine solche unmittelbare Bindungswirkung des in einer Patientenverfügung geäußerten Behandlungswillens fordert der Entwurf, dass die Willensbekundung schriftlich vorliegt. Liegen nicht sämtliche dieser Voraussetzungen vor, hat die Patientenverfügung keine unmittelbare Bindungswirkung. Dann bedarf es immer einer Entscheidung des Betreuers über die Einwilligung in die anstehende ärztliche Maßnahme, die unter Berücksichtigung des individuell-mutmaßlichen Willens des Betreuten zu treffen ist [Hervorhebung nicht im Original].“ 57 Vgl. dazu Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin, BT-Drucks. 15/3700 S. 14 und Fn. 34.

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zu sein, obwohl die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung von Mai 199458 dagegen sprechen. Sie lauten insoweit: „Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewusstlosigkeit (apallisches Syndrom; auch so genanntes Wachkoma) haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Lebenserhaltende Therapie einschl. – ggf. künstlicher – Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten…Die Dauer der Bewusstlosigkeit darf kein alleiniges Kriterium für den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen sein.“ In Übereinstimmung hiermit hat der Vorsitzende des Marburger Bunds59 nach der Urteilsverkündung – m. E. zutreffend - erklärt: Aus dem Zustand des Wachkomas dürfe nicht abgeleitet werden, dass solche Menschen per se nicht mehr leben wollen. Wachkomapatienten seien keine Sterbenden, und ihr Leben sei nicht sinn- oder wertlos60. Es bedurfte also, da eine einschlägige Patientenverfügung fehlte, überzeugender konkreter Anhaltspunkte für einen jetzt vorhandenen Sterbewillen, wobei hier offen bleiben mag, warum die Tochter erst im März 2006, nachdem die Patientin bereits seit November 2002 im Wachkoma lag, von der Berufsbetreuerin die Einstellung der Ernährung verlangte und dies nicht bereits nach der Diagnose „Wachkoma“ tat61. Dies hätte nahe gelegen, wenn die Patientin von vornherein und unter allen Umständen eine künstliche Ernährung ausgeschlossen hätte. Es ist nicht unproblematisch, wenn derart schwerwiegende Entscheidungen auf mündliche, Jahre zurückliegende und schwer überprüfbare Äußerungen von Patienten gestützt werden. Jedenfalls sind im Interesse des Lebensschutzes Schwerstbehinderter, die keine schriftliche Patientenverfügung erstellt haben und sich nicht im Sterbeprozess befinden, strengste Anforderungen an die Annahme eines mutmaßlichen Sterbewillens zu stellen. Das sieht der Senat im Grundsatz ebenso, wenn er allgemein darauf hinweist, dass für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens beweismäßig strenge Maßstäbe gelten, die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben; dies insbesondere dann, wenn eine schriftliche Patientenverfügung fehle. Den oben im Einzelnen aufgeworfenen Fragen brauchte der Bundesgerichtshof jedoch nicht nachzugehen, da ihn revisionsrechtlich die Feststellung des Tatrichters gebunden hat, dass die Patientin die Fortsetzung der künstlichen PEG-Ernährung nie gewollt hat und dass Patientenvertreter und 58

Vgl. Fn. 24. Verband der angestellten und verbeamteten Ärzte Deutschlands. 60 DÄrztebl. v. 2. 7. 2010 S. B-1137 (unten); vgl. auch Fn. 22. 61 Vgl. die Stellungnahmen der Deutschen Hospizstiftung im Sonder Hospiz Info Brief 1/2010 v. 1.06.2010 und 2/2010 v. 2.07.2010, www.hospize.de. 59

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Arzt übereinstimmend einen solchen mutmaßlichen Patientenwillen auch für die Tatzeit angenommen haben. Es handelte sich daher ungeachtet der oben dargelegten Bedenken – jedenfalls aus der Sicht des Revisionsgerichts - um einen strafrechtlich zulässigen Behandlungsabbruch. Dennoch erscheinen mir die aufgeworfenen Fragen nicht ohne Bedeutung; auch, weil dem Eindruck entgegengewirkt werden sollte, dass in Pflegeheimen tödliche Eigenmacht der Betreuer zulässig sei, anstatt die Entscheidung des zuständigen Betreuungsgerichts herbeizuführen.62 b) Die epochemachende Bedeutung des Urteils liegt jedoch nicht in erster Linie in dem Freispruch des angeklagten Rechtsanwalts, der in gewisser Hinsicht ordnungswidrig gehandelt haben mag, aber schon deshalb keinen Totschlagsversuch begangen hat, weil der Behandlungsabbruch zulässige Sterbehilfe war. Die herausragende Bedeutung des Urteils liegt vielmehr in der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts Schwerkranker in zigtausenden künftigen Fällen. Darauf, ob man dem Wille des lebensbedrohlich erkrankten Patienten durch Tun oder Unterlassen Rechnung trägt, kommt es nicht mehr an. Der 2. Strafsenat des BGH unter Leitung der Jubilarin hat die Transformation der liberalen Vorschriften des zivilrechtlichen Patientenverfügungsgesetzes in das Strafrecht überzeugend geleistet, ohne der Versuchung zu unterliegen, diese Vorschriften einschränkungslos zur Eingrenzung des Anwendungsbereichs des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) heranzuziehen. Zu Recht nimmt der Senat an, dass die Frage der strafrechtlichen Rechtfertigung von Tötungshandlungen nicht nur als zivilrechtsakzessorisches Problem behandelt werden kann, sondern autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu beantworten ist. Als solche sieht der Senat neben den betreuungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen der §§ 1901a ff. BGB n.F. die weitere Voraussetzung an, dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und der von ihr oder ihrem Vertreter verlangte Behandlungsabbruch eine (medizinisch indizierte) Maßnahme betrifft, die zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist. Allerdings kann es im Einzelfall zweifelhaft sein, wann eine lebensbedrohende Erkrankung vorliegt. Das Erfordernis einer lebensbedrohenden Erkrankung bleibt sowohl hinter der vom XII. Zivilsenat postulierten Bedingung zurück, wonach die Grunderkrankung (bereits) einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen haben müsse63, als auch hinter der von der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ postulier62

Nach Berichten der NRZ v. 14. und 16.7.2010, www.derwesten.de/nrz, hat in einem Gelderner Hospiz die Ehefrau den lebenserhaltenden Ernährungsschlauch ihres seit 23 Jahren an der unheilbaren Erbkrankheit Chorea Huntington leidenden Ehemanns unter Berufung auf seine Patientenverfügung und das BGH-Urteil v. 25. Juni 2010 gegen den Willen der Heimleitung eigenmächtig durchgeschnitten. Der Patient konnte gerettet werden. 63 BGHZ 154, 205.

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ten Bedingung, wonach das Grundleiden irreversibel sein müsse und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen werde64. Eine lebensbedrohliche Erkrankung ist nicht eine tödliche Krankheit, wie diese beiden Vorschläge voraussetzen. Eine tödliche Krankheit verkürzt das Leben, eine lebensbedrohliche Erkrankung kann das Leben verkürzen, muss es aber nicht. Die Bedrohung des Lebens des Erkrankten kann durch ärztliche Kunst abgewendet werden, was bei einem irreversiblen tödlichen Verlauf nicht der Fall ist. Der 2. Strafsenat erweitert also den Bereich straflosen Verzichts auf medizinisch indizierte lebenserhaltende Maßnahmen deutlich und sachgerecht. Er hält aber daran fest, dass das Selbstbestimmungsrecht nur rechtfertigt, einer lebensbedrohlichen Krankheit ohne hemmende ärztliche Intervention ihren tödlichen Lauf zu lassen, nicht aber den Tod durch vom Krankheitsverlauf losgelöste neue Eingriffe herbeizuführen. Ich persönlich möchte sogar noch weiter gehen, indem ich, wie oben unter III 1 dargelegt, auch suizidale Behandlungsverbote, also solche, die eine Genesung verhindern sollen, von § 216 StGB erfasst sehe. Der vorliegende Fall bot jedoch keinen Anlass, sich zu einer derartigen Fallkonstellation zu äußern. Künftig wird jedenfalls kein Arzt oder Patientenvertreter strafrechtliche Verfolgung zu befürchten haben, wenn sie die lebenserhaltende Behandlung eines lebensbedrohlich Erkrankten entsprechend dessen vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen einstellen und dabei die Vorschriften der § 1901a ff. BGB beachten.

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BT-Drucks. 15/3700 S. 45.

Zur Zukunft der Widerspruchslösung Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf ANDREAS MOSBACHER

1. Bestandsaufnahme: Widersprüchliches zum Widerspruch Die vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der Entscheidung BGHSt 38, 214 entwickelte „Widerspruchslösung“ bei Beweisverwertungsverboten weckt wenig Begeisterung. Zwar hat die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung die Widerspruchslösung inzwischen auf immer mehr Fälle gesetzlich nicht geregelter relativer Beweisverwertungsverbote im Strafverfahren1 und im Bußgeldverfahren2 erweitert. Mit dieser Erweiterung des Anwendungsbereichs ging allerdings keine Vertiefung des dogmatischen Fundaments einher. Im Gegenteil: Ganz unterschiedliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zum Widerspruchserfordernis aus den letzten Jahren zeigen grundlegende Differenzen im Verständnis des Widerspruchs und seiner dogmatischen Begründung auf.3 Deshalb gilt die Widerspruchslösung vielen in der Literatur als ein Hauptbeispiel für dogmatische „Begründungsdefizite“ höchstrichterlicher Rechtsprechung.4 Die Kritik an der Widerspruchslösung trifft in weiten Teilen zu. Der Rechtsprechung ist es bislang nicht gelungen, eine überzeugende Begründung der Widerspruchslösung zu formulieren.5 Mit der Erstreckung der Widerspruchslösung auf immer mehr Fallgruppen werden die Begründungsmängel zunehmend prekärer.6 Gleichwohl finden viele das Anliegen der Widerspruchslösung, den Streit um Beweisverwertungsverbote schon in der Hauptverhandlung und nicht erst in der Revision zu führen, nachvollziehbar

1 Vgl. zusammenfassend Gössel in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. L Rdn. 28 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 136 Rdn. 25 2 OLG Rostock StRR 2010, 38 m. Anm. Burhoff. 3 Hierzu näher Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 342 ff. m.w.N. 4 Fezer HRRS 2010, 281, 282 ff. m.w.N. 5 Vgl. Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 342 ff. m.w.N. 6 Vgl. Fezer HRRS 2010, 281, 283; ders. JZ 2006, 474.

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und praktisch sinnvoll.7 Auch mir scheint die Widerspruchslösung im Grundsatz ein berechtigtes Anliegen zu verfolgen. Ein Beispiel ist die fehlerhafte oder fehlende Beschuldigtenbelehrung, an der die Widerspruchslösung entwickelt wurde. Schweigt der rechtskundige oder von einem Rechtskundigen verteidigte Angeklagte hierzu in der Hauptverhandlung, hat das Gericht u. U. keinerlei Anlass, von sich aus die Frage der Belehrung zu thematisieren, wenn sich der Belehrungsfehler nicht aus den Akten ergibt.8 Trägt der Angeklagte seine Bedenken gegen die Beweisverwertung und die diesbezüglichen Tatsachen erstmals mit der Revision vor, muss die Frage erlaubt sein, weshalb er sein Recht nicht schon in der Hauptverhandlung gesucht und dort – mit unmittelbarer Abhilfemöglichkeit – die Verwertbarkeit des Beweises bemängelt hat, wenn ihm dies möglich und zumutbar war.9 Das sinnvolle Anliegen der Widerspruchslösung muss indes auch sinnvoll dogmatisch begründet werden können, sonst lässt sich die Widerspruchslösung nicht halten.10 Ich werde im Folgenden versuchen, eine dogmatische Begründung zu formulieren, die eine Neuausrichtung der Widerspruchslösung bedingt. Ergebnis meiner Überlegungen ist, dass sich der Widerspruch konsistent als eine besondere Form des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO verstehen lässt, der sich in erster Linie gegen die Beweiserhebung durch den Vorsitzenden in der Hauptverhandlung richtet.

2. Neues Verständnis: Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf Welchen Sinn hat eigentlich die Widerspruchslösung? Die bisherigen Begründungsversuche der Widerspruchslösung überzeugen – ohne dies hier vertiefen zu können – nicht.11 Einen neuen Ansatz zum Verständnis des Widerspruchs bietet die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zum Verstoß gegen Belehrungspflichten nach dem Wiener Übereinkommen bei Festnahme eines ausländischen Beschuldigten. Danach soll der Widerspruch dem Tatgericht die Möglichkeit und Veranlassung geben, dem gerügten Verfahrensfehler freibeweislich im Einzelnen nachzugehen. Der befristet zu erhebende Widerspruch diene der gebotenen Verfahrens7

Vgl. Basdorf StV 2010, 414, 416 ff. Vgl. hierzu auch Hamm StV 2010, 418, 421. 9 Hierzu näher Basdorf StV 2010, 414, 416. 10 Zutreffend kritisch deshalb Fezer HRRS 2010, 281, 283. 11 Näher hierzu nur aus jüngerer Zeit Fezer HRRS 2010, 281 ff.; Gaede wistra 2010, 210, 212; Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 347, je m.w.N.; intuitiv am überzeugendsten noch der jüngste Begründungsansatz von Basdorf StV 2010, 414, 416 ff, der in einigen Teilen der hiesigen Lösung nahe steht. 8

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förderung, ohne dem verteidigten Angeklagten unzumutbare Anforderungen aufzuerlegen.12 Damit wird der Widerspruch in der Sache als eine Art Zwischenrechtsbehelf verstanden, der eine Überprüfung der Voraussetzungen von Verwertungsverboten in der Tatsacheninstanz ermöglicht und notwendig macht.13 In diese Richtung geht auch der neuere Ansatz von Basdorf, wonach die Widerspruchslösung dem verteidigten Angeklagten im Interesse der Schonung von Justizressourcen – orientiert am Subsidiaritätsgedanken – die frühest mögliche zumutbare Geltendmachung einer Rechtsverletzung abverlangt, um in der Instanz die Frage des Verwertungsverbots eingehend prüfen und Abhilfe schaffen zu können. Ein solches Verständnis scheint mir die einzig sinnvolle Interpretation der Widerspruchslösung: Inhalt des Widerspruchs bei Beweisverwertungsverboten ist im Kern, dass der Verfahrensbeteiligte Einwände gegen eine beabsichtigte Beweiserhebung oder die Verwertung eines solchen Beweises geltend macht. Weil das Beweisverwertungsverbot die Ausnahme von der Regel darstellt, erscheint es erwägenswert, dass sich derjenige ausdrücklich auf das Verbot zu berufen hat, der es geltend machen will.14 Es liegt nahe, dass sich der Betroffene mit seinem Widerspruch zunächst an dasjenige Gericht wendet, das den Beweis erheben und verwerten will; denn damit kann er unmittelbar in der Hauptverhandlung sein Ziel – Unterlassen der Beweiserhebung oder Beweisverwertung – erreichen. Folge des Widerspruchs muss zum einen sein, dass sich das Gericht um die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Beweisverwertungsverbots kümmert (wenn es bis dahin noch keinen Anlass dazu hatte, einer solche Ausnahmemöglichkeit nachzugehen), zum anderen, dass es den Widerspruchsführer bescheidet, über seinen Einwand also eine begründete Entscheidung trifft. Nach bisherigem Verständnis ist das Gericht zu einem Zwischenbescheid über die Begründetheit des Widerspruchs nicht verpflichtet.15 Dies erscheint unbefriedigend und dem Bild des „Dialogs der Verfahrensbeteiligten“, wenn nicht gar den Grundsätzen des fairen, offenen Verfahrens zu widersprechen. Denn dem Verfahrensbeteiligten bleibt beim Schweigen des Gerichts keine Möglichkeit, sich in seinem Verhalten auf die Entscheidung einzustellen. Ein berechtigtes Bedürfnis, über die Verwertbarkeit erst in der abschließenden Urteilsberatung zu entscheiden, ist nur in seltenen Fällen ersichtlich; regelmäßig ist die Frage des Verwertungsverbots vor der beabsichtigten Beweiserhebung zu klären. 12 BGHSt 52, 38; hierzu auch Gaede HRRS 2007, 402; Junker StRR 2008, 22; Mosbacher JuS 2008, 688, 691 f. 13 Vgl. Mosbacher JR 2007, 387 (389); ders. NJW 2007, 3686, 3688; ders. FS Widmaier, S. 339, 344; dem folgend OLG Hamburg NJW 2008, 2597. 14 Vgl. auch Basdorf StV 2010, 414, 416. 15 BGH NStZ 2007, 719; Meyer-Goßner § 136 Rdn. 26 m.w.N.

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Mit dem Erfordernis eines „Widerspruchs“ wird der Streit um die Voraussetzungen von Beweisverwertungsverbote dort verortet, wo er hingehört, nämlich in die Tatsacheninstanz. Insoweit greift der (als Aspekt fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses zu verstehende)16 Subsidiaritätsgedanke.17 Dieser spricht dafür, dass eine Verfahrensrüge dann mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig ist, wenn der Betreffende sein Recht in der Instanz durch einen Rechtsbehelf wie den Widerspruch wirksam hätte erlangen können.18 Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Widerspruch auch als wirksamer Zwischenrechtsbehelf verstanden und dogmatisch begründet werden kann. Dies ist – wie sogleich zu zeigen sein wird – nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll.

3. Neue Grundlage: Die Verankerung der Widerspruchslösung in § 238 Abs. 2 StPO Die Widerspruchslösung lässt sich dogmatisch stringent als Unterfall der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO konstruieren. Mit der Anbindung an ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Präklusionssystem19 und dem Verständnis des Widerspruchs als gesetzlich ausdrücklich vorgesehener Zwischenrechtsbehelf erhält die Widerspruchslösung eine Grundlage, die mit den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers wie auch der Rechtsprechung von Reichsgericht und Bundesgerichtshof übereinstimmt. Im Einzelnen:

a) Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf Der Widerspruch gegen die Beweisverwertung kann als Unterfall des Zwischenrechtsbehelfs aus § 238 Abs. 2 StPO verstanden werden. Die Beweiserhebung ist gemäß § 238 Abs. 1 StPO Sache des Vorsitzenden. Der Vorsitzende ordnet in eigener Kompetenz die Beweiserhebung an und führt sie durch20. Im Rahmen der Beweiserhebung entscheidet der Vorsitzende in eigener Wertung auch darüber, ob ein Beweisverwertungsverbot greift.21 Will sich ein Verfahrensbeteiligter gegen die vom Vorsitzenden beabsichtigte Beweiserhebung wenden, kann er nach § 238 Abs. 2 StPO das Gericht 16

Vgl. kritisch hierzu Lindemann StV 2010, 379, 384 m.w.N. Näher Basdorf StV 2010, 414, 416 f. 18 Vgl. zur Revision als bei hauptverhandlungsinternem Rechtsweg gleichsam „subsidiärem Rechtsmittel“ auch Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 349 m.w.N. 19 BVerfG JR 2007, 390 20 BGH NStZ 1982, 432; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2009, § 238 Rn. 11. 21 BGHSt 51, 1, 4; LR/Becker § 238 Rdn. 11. 17

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anrufen. Das Gericht muss, sofern der Vorsitzende der Beanstandung nicht abhilft, durch Beschluss entscheiden, ob die vom Vorsitzenden beabsichtigte Beweiserhebung zulässig oder nicht, ob also etwa eine Urkunde verlesen werden darf oder nicht.22 In diesem Rahmen muss sich das Gericht bereits nach geltendem Recht mit der Frage des Beweisverwertungsverbots begründet auseinandersetzen. Einen ersten Schritt hin zur Gleichausrichtung des Widerspruchserfordernisses mit der Dogmatik zu § 238 Abs. 2 StPO enthält die Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit eines Zwischenrechtsbehelfs bei der Feststellung eines Verlöbnisses als Voraussetzung der Rüge des Verstoßes gegen § 252 StPO.23 Nach Ansicht des 4. Strafsenats muss ein Verfahrensbeteiligter das Gericht dann nach § 238 Abs. 2 StPO anrufen, wenn der Vorsitzende eine Art „Zwischenfeststellung“ zu den tatsächlichen Grundlagen eines Beweisverwertungsverbots trifft. Dies gilt auch, wenn das Beweisverwertungsverbot (wie bei § 252 StPO) zwingend ist. Begründet wird dies mit Sinn und Zweck des Zwischenrechtsbehelfs: Damit werde die Gesamtverantwortung des Spruchkörpers für die Rechtsförmigkeit der Verhandlung aktiviert, wodurch die Möglichkeit eröffnet sei, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden, durch die ein Fehler des Vorsitzenden nur auf Kosten einer mehr oder weniger langen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ausgeräumt werden könnte.24 Ganz ähnlich hatte schon das Reichsgericht einen Fall entschieden, in dem der Vorsitzende vor der Vernehmung eines Arztes festgestellt hatte, dass dieser von der Schweigepflicht entbunden sei.25 Diese Feststellung war zwar „rechtsirrig“; der hierauf gestützten Revisionsrüge blieb aber der Erfolg versagt, weil der Angeklagte und sein Verteidiger es anlässlich dieser „Feststellung“ unterlassen hatten, „sich gegen die Vernehmung zu verwahren und die Entscheidung des Gerichts anzurufen (§ 238 Abs. 2 StPO).“26 In diesem Sinne erscheint ein „Zwischenfeststellungsverfahren“ über die tatsächlichen Voraussetzungen von Beweisverwertungsverboten in vielen Fällen angebracht und sinnvoll.27 Gegen eine Zwischenfeststellung ist dann der Rechtsschutz des § 238 Abs. 2 StPO eröffnet, denn eine derartige Zwischenfeststellung kann auch als „Anordnung“ des Vorsitzenden im Sinne von § 238 Abs. 2 StPO verstanden werden. Hierzu zählen alle Maßnahmen, mit denen der Vorsitzende auf den 22

LR/Becker § 238 Rdn. 33. BGH NJW 2010, 1824. 24 BGH NJW 2010, 1824 = StRR 2010, 262 f. m. Anm. Arnoldi; vgl. auch LR/Becker § 238 Rdn. 46. 25 RGSt 71, 21. 26 RGSt 71, 21, 23. 27 Vgl. auch Arnoldi StRR 2010, 262, 263. 23

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Ablauf des Verfahrens und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten einwirkt, also auch die Erteilung von Hinweisen.28

b) Rügepräklusion beim Unterlassen des Widerspruchs mangels Rechtsschutzbedürfnis Unterlässt der Verfahrensbeteiligte die Anrufung des Gerichts mittels „Widerspruchs“ gegen die Beweiserhebung, ist er mit einer entsprechenden Verfahrensrüge in der Revision präkludiert. Dies ergibt sich aus der verfassungskonformen29 Rechtsprechung zu § 238 Abs. 2 StPO, die mit Vorstellungen des historischen Gesetzgebers korrespondiert. Schon das Reichsgericht hatte den Grundsatz aufgestellt, dass Voraussetzung einer erfolgreichen Verfahrenrüge die vorherige Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO ist.30 Begründet wurde dies mit dem Gedanken, dass ein Urteil nicht auf dem Verfahrensfehler „beruhe“, wenn der Beschwerdeführer es unterlassen habe, den ihm bekannten Rechtsverstoß in der Hauptverhandlung zu rügen oder aus Anlass desselben Anträge zu stellen.31 Grundlage dieser Argumentation war die Auffassung des historischen Gesetzgebers, einer Präklusionsvorschrift bedürfe es aufgrund der Gesetzesfassung des § 337 StPO (früher § 376 StPO, im Entwurf § 300 StPO) nicht. In den Materialien heißt es hierzu: „Der Entwurf brauchte, vermöge der von ihm in § 300 aufgestellten Regel, nicht besonders vorzuschreiben, daß der Beschwerdeführer die Revision nicht auf die Beschränkung einer prozessualischen Befugnis gründen könne, wenn er durch sein eigenes Verhalten zu erkennen gegeben habe, dass er die Beschränkung für eine ihm nachtheilige nicht erachte“.32 Auf ein derartiges Verhalten des Beschwerdeführers wurde insbesondere geschlossen, wenn er von der ihm bekannten Möglichkeit der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO (bis 1924: § 237 StPO) keinen Gebrauch gemacht hatte.33 Heutigem Revisionsdenken ist zwar die 28

LR/Becker § 238 Rn. 17 m. w.N. BVerfG JR 2007, 390. 30 Vgl. RG GA 46 [1898/99], 337; RGSt 71, 21, 23; RG JW 1930, 760; 1933, 520; HRR 1938, Nr. 793; hierzu näher auch He. Schneider JuS 2003, 176 f. 31 Vgl. RGSt 4, 364; 10, 56; RGRspr. 5 [1883], 583: „Er hat von seinen Rechten keinen Gebrauch gemacht und kann deshalb eine Verletzung seines Vertheidigungsrechts nicht rügen.“; RGRspr. 6 [1884], 644; GA 42 [1894], 243. 32 Vgl. Hahn (Hrsg.), Die gesammelten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz, Bd. I (1880), S. 252; hierzu näher Löwe Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 14. Aufl. 1914, § 376 Ziff. 7 c m.w.N. 33 Vgl. RG GA [1898/99] 46, 337: „Eine Revisionsbeschwerde kann der Angeklagte daraus nicht ableiten, weil er gegen einen seine Vertheidigungsrechte verletzenden Eingriff des Vorsitzenden gemäß § 237 Abs. 2 StPO die Entscheidung des Gerichts anrufen konnte, dies jedoch unterlassen hat.“ 29

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Vorstellung fremd, durch das Unterlassen der Anrufung des Gerichts könne der Beruhenszusammenhang entfallen.34 Dem historischen Gesetzgeber war es aber ein besonderes Anliegen, Verfahrensrügen dann den Erfolg zu versagen, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung den Schluss zuließ, er erachte den Verfahrenslauf nicht als nachteilig. Auf eine besondere Präklusionsvorschrift glaubte der Gesetzgeber nur aufgrund der damaligen Beruhensdogmatik verzichten zu können. Demgemäß hatte auch schon das Reichsgericht die Möglichkeit einer Rügepräklusion bei Beweisverwertungsverboten erwogen, wenn der verteidigte Angeklagte in der tatrichterlichen Verhandlung der Verwertung und der ihr vorangehenden Beweiserhebung nicht widersprochen hatte.35 Der Bundesgerichtshof hat diese Ansätze des Reichsgerichts und des historischen Gesetzgebers von Beginn seiner Rechtsprechung an übernommen und ausgebaut. In der ersten Entscheidung zu § 238 Abs. 2 StPO heißt es ähnlich wie beim Reichsgericht, der Beschwerdeführer bringe mit dem Unterlassen der Beanstandung zum Ausdruck, dass er sich durch die Anordnung des Vorsitzenden nicht beschwert fühle.36 Weitere in der Rechtsprechung genannte Gesichtspunkte waren der stillschwiegende Verzicht auf eine spätere Revisionsrüge oder deren Verwirkung.37 Dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs gebührt der Verdienst, die Diskussion um den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO neu belebt zu haben. In der zweiten Entscheidung in Sachen Motassadeq wird der Grund für die Rügepräklusion beim Unterlassen des Zwischenrechtsbehelfs aus Sinn und Zweck von § 238 Abs. 2 StPO abgeleitet: Zweck des § 238 Abs. 2 StPO sei es, die Gesamtverantwortung des Spruchkörpers für die Rechtsförmigkeit der Verhandlung zu aktivieren, hierdurch die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden, durch die ein Fehler des Vorsitzenden nur auf Kosten einer mehr oder weniger langen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ausgeräumt werden könnte. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn es im unbeschränkten Belieben des um die Möglichkeit des § 238 Abs. 2 StPO wissenden Verfahrensbeteiligten stünde, ob er eine für unzulässig erachtete verhandlungsleitende Maßnahme des Vorsitzenden über den Rechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO zu beseitigen suche oder statt dessen hierauf im Falle 34 Vgl. LR/Becker § 238 Rdn. 45; Lindemann StV 2010, 379, 381; Mosbacher JR 2007, 387; in diese Richtung noch Schlüchter in: SK-StPO § 238 Rn. 29: „normative Zerschlagung des normativen Zusammenhangs“. 35 Vgl. RGSt 50, 364, 365; 58, 100, 101: „aber die Beschwerdeführer hätten etwaige, die Unzulässigkeit der Verlesung begründende Beanstandungen in der Hauptverhandlung zur Sprache bringen müssen.“ 36 BGHSt 1, 322, 325. 37 Umfassend LR/Becker § 238 Rdn. 43 m.w.N.

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eines ihm nachteiligen Urteils in der Revision eine Verfahrensrüge stützen wolle. Der Verfahrensbeteiligte habe daher grundsätzlich auf Entscheidung des Gerichts anzutragen; unterlasse er dies, könne er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setze würde, nicht mehr gehört werden.38 Diese Auslegung des § 238 Abs. 2 StPO kann sich zwar nicht unmittelbar auf die Gesetzesmaterialien zu § 238 StPO stützen.39 Sie entspricht aber der Vorstellung des historischen Gesetzgebers, der glaubte, auf eine Präklusionsvorschrift nur auf der Grundlage einer völlig anderen Beruhensdogmatik verzichten zu können.40 Die Entstehungsgeschichte des § 238 StPO spricht jedenfalls nicht gegen eine Rügepräklusion.41 Zur Rügepräklusion führt das Unterlassen des Widerspruchs (verstanden als Unterfall von § 238 Abs. 2 StPO) demnach, weil dem Verfahrensbeteiligten mit dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem er sein Recht in der Instanz erreichen kann. Ergreift er diese wirksame Rechtsschutzmöglichkeit nicht, kann er mit der entsprechenden Rüge (erst) in der Revision nicht mehr gehört, werden; ihm fehlt insoweit das Rechtsschutzbedürfnis.42

c) Einwände gegen die Rügepräklusion mangels Rechtsschutzbedürfnis Gegen dieses neue Verständnis, die Rügepräklusion beim Unterlassen von Widerspruch und Zwischenrechtsbehelf auf das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses für die Geltendmachung des Fehlers erst in der Revisionsinstanz zu stützen, sind eine Reihe von Einwänden erhoben worden. Die Einwände richten sich gegen die Grundlagen und Folgen der hier vertretenen Auffassung und lauten – verkürzt – im Kern wie folgt: Zu den Grundlagen: Im Strafverfahren spiele das Prinzip „Fehlen eines Rechtschutzbedürfnisses“ keine Rolle oder wenigstens keine solche, wie von den Befürwortern behauptet; der Ansatz lasse sich auf eine „fehlgeleitete Rezeption verfassungsrechtlicher Judikate“ zurückführen.43 Die Behaup38 BGHSt 51, 144, 147 f. = JR 2007, 382 m. Anm. Mosbacher; zustimmend LR-Becker § 238 Rdn. 46; dem folgend BGH NJW 2010, 1824. 39 Vgl. He. Schneider JuS 2003, 176, 179 f.; Gaede wistra 2010, 210, 214, je m.w.N. 40 LR/Becker § 238 Rdn. 43. 41 Bischoff NStZ 2010, 77, 79. 42 Näher zu diesem Ansatz Mosbacher JR 2007, 387; ders., Festschrift Widmaier (2008), S. 339, 342 ff.; Schneider in: KK-StPO, 6. Aufl. (2008), § 238 Rdn. 33 ff.; dagegen mit unterschiedlichen Argumenten Bischoff NStZ 2010, 77, 78 f.; Gaede wistra 2010, 210; Lindemann StV 2010, 379. 43 Lindemann StV 2010, 379, 383; ähnlich Gaede wistra 2010, 210, 214.

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tung, eine gesetzlich vorgesehene gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit schließe eine spätere, anderweitige Geltendmachung aus, sei nicht haltbar.44 Es gebe durchaus berechtigte Gründe, einen Verfahrensfehler nicht sogleich in der Hauptverhandlung, sondern erst später mit der Revision geltend zu machen.45 Zu den Folgen: Mit einer Ausweitung der Rügepräklusion gerate man „in ein Fahrwasser, das sich schnell in einen reißenden Bach der Beliebigkeit von Beschränkungen selbst zwingenden Rechts zu Lasten des Angeklagten“ entwickeln könne.46 Es sei dem Betroffenen nicht zumutbar, in der Hauptverhandlung ständig von einem Zwischenrechtsbehelf Gebrauch zu machen.47 Zudem belaste dies die Hauptverhandlung durch extensiv handzuhabende Widerspruchsnotwendigkeiten. Schließlich verschärfe eine Ausweitung der Rügepräklusion als Konsequenz des Ansatzes das Problem der Schlechtverteidigung.48

d) Verteidigung des Ansatzes der Rügepräklusuion mangels Rechtsschutzbedürfnis aa) Zum dogmatischen Argument des Fehlens eines Rechtsschutzbedürfnisses Die oben genannten Einwände überzeugen letztlich nicht. Das Unbehagen der Rechtsprechung und des historischen Gesetzgebers, eine Verfahrensrüge auch dann zuzulassen, wenn der Verfahrensbeteiligte von einem ihm zustehenden Zwischenrechtsbehelf in der Hauptverhandlung keinen Gebrauch gemacht hat, ist nachvollziehbar. Entscheidend hierfür ist, dass der Betroffene von einem ihm zustehenden Rechtsbehelf keinen Gebrauch macht, obwohl er damit unmittelbar sein Recht einfordern könnte. Dieses berechtigte Unbehagen wird von dem dogmatischen Gesichtspunkt „Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses“ besser erfasst als durch die Gedanken des konkludenten Verzichts, der Verwirkung oder gar fehlenden Beruhens.49 Es ist anerkannt, dass ein Rechtsschutzbedürfnis oder Rechtsschutzinteresse dann fehlen kann, wenn dem Betroffenen eine einfachere und sachnähere Möglichkeit des Rechtsschutzes zur Verfügung steht und er diese nicht ergreift, obgleich sie vergleichbar sicher und wirkungsvoll alle erforderlichen 44

Bischoff NStZ 2010, 77, 79. Lindemann StV 2010, 379, 384. 46 Bischoff NStZ 2010, 77, 79; ähnlich Gaede wistra 2010, 210, 214: „unbegrenzte Weiterungsoptionen“. 47 Gaede wistra 2010, 210, 214 f. 48 Gaede wistra 2010, 210, 215. 49 Vgl. näher Mosbacher JR 2007, 387; ders., Festschrift Widmaier, S. 339, 342 ff.; KKStPO/Schneider § 238 Rdn. 33. 45

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Rechtsschutzziele herbeiführen kann.50 Der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO ist eine solche einfachere Möglichkeit, sein Recht unmittelbar zu erlangen. Diese Rechtsschutzmöglichkeit ist jedenfalls in denjenigen Fällen auch effektiv, in denen nicht nur der Vorsitzende, sondern ein größerer Spruchkörper über die Zulässigkeit des Vorsitzendenhandelns entscheidet. Unabhängig von der Frage, ob der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO auch beim Verfahren vor dem Strafrichter Anwendung findet,51 liegt in derartigen Fällen von Personenidentität jedenfalls keine gleich effektive Rechtsschutzmöglichkeit vor, denn niemand kann gut „Richter in eigener Sache“ sein. Im Verfahren vor dem Strafrichter hat die Rügepräklusion deshalb keinen berechtigten Anwendungsbereich (zumal ohnehin dafür auch kaum ein praktisches Bedürfnis besteht). Anders verhält es sich bei größeren Spruchkörpern: Der Zwischenrechtsbehelf zwingt das Gericht dazu, sich mit den Einwänden des Verfahrensbeteiligten auseinander zu setzen; der Vorsitzende, dessen Maßnahme beanstandet wird, ist jenseits des Strafrichters bei der Entscheidung über die Beanstandung stets in der Minderheit. Die Entscheidung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO ist für den Vorsitzenden bindend.52 Wer eine solche sachnähere Beanstandungsmöglichkeit nicht ergreift, obgleich er auf diesem Wege sein Recht bekommen kann, dem fehlt aus meiner Sicht regelmäßig das Rechtsschutzbedürfnis, den Verfahrensfehler erst mit einem späteren sachferneren Rechtsmittel angreifen zu können. Dass dieser Rechtsgedanke auch im Strafverfahren gilt, ist eigentlich eine – vom Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang bestätigte – Selbstverständlichkeit.53 Natürlich betrifft die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsschutzbedürfnis im Strafverfahren einen völlig anderen Fall als die Rügepräklusion im Rahmen von § 238 Abs. 2 StPO;54 sie erkennt aber an, dass es sich beim Rechtsschutzbedürfnis um einen Grundsatz handelt, dessen Fehlen – wie in allen anderen Rechtsgebieten – eben auch im Strafverfahren zur Unzulässigkeit von Rechtsmitteln führen kann. Dass die neuere Rechtsprechung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Rügepräklusion beim Unterlassen des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StGB, auf der hiesige Überlegungen aufbauen, verfas-

50 Vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 145; BVerfG NStZ 2009, 166; vgl. auch BGH NJW 1994, 1351 m.w.N. 51 Hierzu KK-StPO/Schneider § 238 Rdn. 15; LR/Becker § 238 Rdn. 38, je m.w.N. 52 LR/Becker § 238 Rdn. 37. 53 Vgl. BVerfG NJW 2003, 1514, 1515; NStZ 2009, 166; ebenso KK-StPO/Schneider § 238 Rdn. 38. 54 Insoweit zutreffend Lindemann StV 2010, 379, 383.

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sungsgemäß ist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt.55 Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rügepräklusion in Zusammenhang mit § 238 Abs. 2 StGB (oder auch nur die neue dogmatische Ausrichtung dieses Rechtsinstituts) sind deshalb aus meiner Sicht nicht angebracht.

bb) Kein berechtigtes Interesse am „Aufsparen“ von Verfahrensfehlern Hat ein Prozessbeteiligter möglicherweise ein berechtigtes Interesse daran, sich diese Überprüfungsmöglichkeit gleichsam für die Revisionsinstanz „aufzusparen“? Vorgebracht wird, vor dem Hintergrund vielfältiger Verteidigungsstrategien könne es durchaus „vernünftig“ sein, auf konfrontative Maßnahmen wie die Beanstandung der Verhandlungsleitung einstweilen zu verzichten und eher auf einen kooperativen Verhandlungsstil zu setzen; wenn der „Ertrag“ dieser Bemühungen hinter den Erwartungen zurückbleibe, könne dies Anlass zur Beanstandung in Wege der Revision geben.56 Selbstverständlich soll nicht bestritten werden, dass der Angeklagte und sein Verteidiger ein erhebliches Interesse daran haben können, bestimmte Verfahrensfehler erst später zu thematisieren, wenn ihnen das Ergebnis der Hauptverhandlung nicht gefällt. Aber dieses Interesse ist kein berechtigtes. Denn dem Angeklagten geht es in diesem Fall überhaupt nicht um den Verfahrensfehler als solchen. Nicht dadurch fühlt er sich beschwert, sondern durch den Schuld- und Strafausspruch. Nicht gegen das unfaire Verfahren will er sich wenden, sondern gegen das aus anderen Gründen als ungerecht empfundene Ergebnis. Der Zweck von Präklusionsvorschriften ist aber gerade, den Verfahrensbeteiligten zur Geltendmachung seines Einwandes in der Instanz anzuhalten, um zu unterbinden, dass er die Verfahrenrüge als bloßes Mittel zu einer aus anderen Gründen für wünschenswert gehaltenen Urteilsaufhebung benutzt.57 Ein berechtigtes Interesse, sich Verfahrensfehler gleichsam für die Revision „aufzusparen“, um damit die Aufhebung aus anderen Gründen für falsch gehaltener Urteile zu erreichen, kann die Strafjustiz nicht anerkennen.58 Im Gegenteil gibt es ein berechtigtes Interesse des Rechtsstaates daran, dass sachnaher Rechtsschutz in der Instanz gesucht wird: Angesichts der knappen Ressource Justiz und unter dem Zügigkeitsgebot der Europäischen Menschenrechtskonvention sind im Interesse gleichmäßiger und gerechter 55

BVerfG JR 2007, 390. Lindemann StV 2010, 379, 384. 57 BGHSt 48, 290. 58 Vgl. BGHSt 48, 290. 56

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Strafverfolgung „Luxusrechtsbehelfe und Instanzenseligkeit“ fehl am Platz, sofern jedem Betroffenen eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht.59 Für die Vorrangigkeit des Rechtsschutzes in der Instanz streitet auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,60 wonach die Aufhebung und Zurückverweisung einer Sache aufgrund eines Verfahrensfehlers zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führt.61

cc) Keine Überfrachtung der Hauptverhandlung mit ständigen Zwischenrechtsbehelfen Zu den Folgeeinwänden: Nach Ansicht der Kritiker ist eine Überfrachtung der Hauptverhandlung mit ständigen Zwischenrechtsbehelfen zu besorgen. Der Verteidiger müsse nun sofort „in der Hitze des Gefechts der Hauptverhandlung“ jede Vorsitzendenanordnung auf Revisionschancen überdenken und jede zweifelhafte Anordnung angreifen oder jedenfalls Gelegenheit zur Überprüfung einfordern, weil er prinzipiell keine Rüge ohne Rücksprache mit dem Mandanten verloren geben dürfe.62 Diese Vorstellung des ständig intervenierenden Verteidigers, der sich mit der Rügeobliegenheit dem Verdacht unziemlicher Konfliktverteidigung aussetzt, weist auf ein zwar verbreitetes, aber normativ wenig überzeugendes Bild der Verteidigung in der Hauptverhandlung hin. Ist es wirklich Aufgabe des Verteidigers, gleichsam möglichst viele „Fehlerpunkte“ in der Hauptverhandlung zu sammeln, um für eine mögliche Revision ausreichend Munition in Form zur Urteilsaufhebung führender Verfahrensrügen zu haben, wenn das Ergebnis nicht passt? Normativ überzeugender scheint mir – ohne dies hier im Einzelnen näher ausführen zu können – ein anderes Bild: Der Verteidiger ist in der Hauptverhandlung normativ „auf Posten gestellt“, im Interesse seines Mandanten auf die Einhaltung der Verfahrensregeln achten und diese einfordern,63 nicht zur Fehlersammlung. Verfährt der Vorsitzende vielfach rechtsfehlerhaft, ist es natürlich wünschenswert, wenn ihn Verfahrensbeteiligte – hier ist auch die Staatsanwaltschaft in der Pflicht – durch den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO zu korrigieren suchen. Hierzu besteht indes kein Anlass, wenn das Verfahren den Regeln der Strafprozessordnung folgt. Beide Fälle voneinander – auch in der Situation der Hauptverhandlung – schnell und klar unterscheiden zu können, muss dem Verteidiger wie den anderen Voll59

Basdorf StV 2010, 414, 415. Vgl. BVerfG NJW 2005, 3485; NJW 2006, 672. 61 LR/Becker § 238 Rdn. 46; a.A. Lindemann StV 2010, 379, 382. 62 Gaede wistra 2010, 210, 215. 63 Zutreffend Hamm StV 2010, 418, 419 f. 60

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juristen normativ zugemutet werden. Wer Rechtsfehler am Verfahren nicht begründet benennen kann, der hat auch keinen Grund, vom Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch zu machen.64

dd) Zumutbarkeit des Zwischenrechtsbehelfs Gegen die Zumutbarkeit kann auch nicht eingewandt werden, dass der Verteidiger mit der Geltendmachung von Zwischenrechtsbehelfen strukturell überfordert wäre.65 In der Hauptverhandlung müssen alle Beteiligten situativ unmittelbar agieren und reagieren. Dies macht die Besonderheit und auch den Reiz der strafgerichtlichen Hauptverhandlung ganz wesentlich aus. Berufsrichter, Staatsanwälte und Verteidiger gelten dabei normativ gesehen als gleichermaßen rechtskundig, denn gemeinsame Voraussetzung der Berufsausübung ist regelmäßig die durch zwei Staatsexamen nachgewiesene Befähigung zum Richteramt. Dem normativen Idealbild entspricht der rechtskundige Verteidiger, der sich durch Studium der Verfahrensakten und Besprechung mit dem Mandanten auf die Hauptverhandlung sorgfältig vorbereitet. Weshalb ein solcher Verteidiger nicht in der Lage sein soll, Verfahrensvorgänge sogleich auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, wenn sie nicht ganz außergewöhnlich oder überraschend sind, erschließt sich nicht.66 Im Gegenteil: Strafverteidigung wird heute nach Jahrzehnten der Professionalisierung vielfach auf hohem Niveau betrieben; auch dies lässt das Einfordern einer aktiven Rolle der Verteidigung – etwa im Rahmen der Widerspruchslösung – berechtigt erscheinen.67 Damit ist letztlich auch der normative Erwartungshorizont normaler Kommunikation in sozialen Situationen erreicht: Wem etwas am Verfahren nicht passt, der soll sich melden, damit man prüfen kann, ob das Anliegen berechtigt ist. Eine wirksame Abhilfechance im Verfahren muss ergriffen werden. Wer hierzu schweigt und sich erst nach Abschluss der Hauptverhandlung über die fehlerhafte Verfahrensweise beschwert, muss sich zu Recht fragen lassen, weshalb er sich nicht schon früher beschwert hat, obwohl hierfür ausdrücklich eine gesetzlich vorgesehene wirksame Möglich64 Vgl. auch zutreffend Gaede wistra 2010, 210, 215 m. Fn. 62: eine Beanstandung ohne Grund wirke bestenfalls lächerlich, oft aber als bloße Obstruktion; vgl. zum Begründungserfordernis auch BGHSt 52, 38. 65 Zutreffend Hamm NJW 1996, 2187 und StV 2010, 418, 421: eine professionelle Verteidigung müsse mit der Widerspruchslösung umzugehen lernen; vgl. demgegenüber Gaede wistra 2010, 210, 215. 66 Nicht nachvollziehbar ist deshalb auch der Ansatz Gaedes, wonach die Begründungspflicht zur ständigen Unterbrechung der Hauptverhandlung führen muss; vgl. Gaede, wistra 2010, 210, 215. 67 König StV 2010, 410, 413.

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keit zur Verfügung stand, die unmittelbar zur Überprüfung der Verfahrensweise geführt hätte.

ee) Kein Ausschluss der Rügepräklusion wegen der Gefahr von „Schlechtverteidigung“ Bemängelt wird, dass jedenfalls die Ausweitung der Rügepräklusion zur Verschärfung des Problems der „Schlechtverteidigung“ führt; dies widerspreche der differenzierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Notwendigkeit tatsächlich konkreter und wirksamer Verteidigung.68 Mit diesem Argument wird indes die Axt an das wohl austarierte System der Verantwortungsteilung zwischen Gericht und Verteidigung gelegt. Denn wenn Justiz die Qualität von Strafverteidigung beurteilen sollte und dürfte, stünde zum einen die Unabhängigkeit der Strafverteidigung auf dem Spiel. Zum anderen wäre dies auch eine normative Überforderung der Justiz. Denn die Frage, welche Verteidigung im Strafverfahren sinnvoll ist oder nicht, lässt sich je nach Standort im Verfahren höchst unterschiedlich beantworten.69 Es gibt keinen anderen Weg, als die Qualitätssicherung der autonomen Selbstorganisation der Strafverteidiger und Anwälte in gesetzlichem Rahmen notwendiger Mindeststandards zu überlassen.70 Das deutsche Recht bietet über die Zulassungsschranken für die Anwaltschaft und deren Selbstorganisation hinreichend Mittel, eine ordnungsgemäße Verteidigung sicherzustellen. Zudem wählt in aller Regel nicht das Gericht, sondern der Beschuldigte seinen Verteidiger aus, was das Gericht – von extremen Ausnahmen abgesehen – zu respektieren hat; leider ergeben sich gerade hieraus aus Praxissicht die meisten problematischen Fälle von „Schlechtverteidigung“.71 Das Gericht muss sich bei seiner Auswahl eines Pflichtverteidigers von dem Gedanken leiten lassen, eine vernünftige und sachgerechte Verteidigung im Interesse des Angeklagten und einer geordneten Strafrechtspflege sicherzustellen.72 Liegen hier Versäumnisse vor, ist dies zu Recht zu beanstanden. Aus Einzelfällen von „Schlechtverteidigung“ aber zu schließen, man dürfe dem Verteidiger generell nicht zu viel an Rechtskenntnissen und an hiervon abgeleiteter Initiative

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Gaede wistra 2010, 210, 215 m.w.N. Vgl. hierzu auch Graf StV 2010, 407, 410. 70 Basdorf StV 2010, 414, 417. 71 Vgl. auch Graf StV 2010, 407, 409. 72 Vgl. Föhrig Kleines Strafrichterbrevier, aus dem Nachlass hrsg. von Basdorf/Harms/ Mosbacher, S. 12 f. 69

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in der Hauptverhandlung zumuten, erscheint mir wenig überzeugend.73 Ein mögliches Korrektiv brächte etwa der Ansatz, ab der (ggfs. erstinstanzlichen) Instanz des Landgerichts die Verteidigung Fachanwälten für Strafrecht zu übertragen. Dies müssten allerdings die Strafverteidiger selbst wollen und organisieren.74 Gegen das Problem der angeblichen „Schlechtverteidigung“ ist mithin kein Kraut gewachsen, das die Justiz effektiv anwenden könnte.75

ff) Zwischenrechtsbehelf und Anwendung zwingenden Rechts Ist mit der Begründung der Rügepräklusion durch das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses der Weg zu uferloser Inpflichtnahme des Verteidigers für die Rechtsförmigkeit des Verfahrens76 eröffnet? Dem steht schon entgegen, dass die Präklusionswirkung nur soweit reicht, wie der Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO wirksamen Rechtsschutz in der Hauptverhandlung garantiert. Neben den von der Rechtsprechung zur Rügepräklusion schon formulierten Einschränkungen – der Verfahrensbeteiligte muss rechtskundig oder von einem Rechtskundigen vertreten sein, der Fehler darf sich nicht erst aus der Zusammenschau mit den Urteilsgründen ergeben, das Unterlassen einer Anordnung ist nicht Gegenstand von § 238 Abs. 2 StPO77 – ist eine weitere Einschränkung für das Verfahren vor dem Strafrichter anzuerkennen, denn hier ist mit der Anrufung nach § 238 Abs. 2 StPO wirksamer Rechtsschutz kaum zu erlangen (Stichwort: „Richter in eigener Sache“). Eine andere von der bisherigen Rechtsprechung aufgestellte Einschränkung überzeugt nach dem hier vertretenen Ansatz aber nicht, nämlich die Unterscheidung zwischen Normen, die einen Beurteilungsoder Ermessensspielraum des Vorsitzenden zulassen, und zwingendem Recht. Schon der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der zweiten Entscheidung in Sachen Motassadeq offen gelassen, ob er diese Unterscheidung weiterhin aufrecht erhalten will; konsequent wäre nach seinem dogmatischen Ansatz zur Rügepräklusion die Aufgabe dieser Unterscheidung.78 Weitgehend aufgegeben hat nunmehr in der Sache der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs diese Unterscheidung, indem er nämlich bei der Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen zwingenden Verfahrensrechts 73 Im Gegenteil wird zu Recht auf die steigende Qualität von Verteidigung durch jahrzehntelange Professionalisierung und die Einführung des Fachanwalts für Strafrecht hingewiesen, vgl. König StV 2010, 410, 413. 74 Basdorf StV 2010, 414, 417. 75 Basdorf StV 2010, 414, 417. 76 Vgl. Basdorf StV 2010, 414, 417. 77 Vgl. Bischoff NStZ 2010, 77, 78; Mosbacher FS Widmaier S. 339, 342. 78 Vgl. KK-StPO/Schneider § 238 Rn. 34; Mosbacher FS Widmaier S. 339, 353 f.

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dem hierzu vorrangig berufenen Vorsitzenden einen tatsächlichen Beurteilungsspielraum zugesteht.79 Gibt der Vorsitzende in der Hauptverhandlung in einer Art „Zwischenfeststellung“ bekannt, wie er die tatsächlichen Grundlagen eines (zwingenden) Beweisverwertungsverbots einschätzt, muss der Verteidiger schon gegen diese „Zwischenfeststellung“ das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO anrufen.80 Dies ist auch richtig und konsequent. Jede Beweiswürdigung, die zur Feststellung von Tatsachen führt, enthält notwendig einen höchstpersönlichen Überzeugungsakt des Feststellenden, der sich innerhalb eines gewissen Spielraums von Richtigkeit bewegt.81 Bei gleicher Tatsachengrundlage ist der eine von einem bestimmten Geschehen überzeugt, der andere nicht; beides kann gleichermaßen vertretbar sein.82 Jeder Rechtsanwendung geht die Feststellung von Tatsachen zum Zwecke der Subsumtion voraus. Dem Vorsitzenden kommt bei der Feststellung der zu subsumierenden Tatsachen demnach grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu, weil die Feststellung auf seiner Würdigung der im Streng- oder Freibeweisverfahren erlangten Erkenntnisse beruht und diese Würdigung stets einen höchstpersönlichen Akt des Überzeugtseins im Rahmen eines gewissen Spielraums von Richtigkeit voraussetzt. Erklärt der Vorsitzende etwa nach Einvernahme eines Polizisten als Vernehmungsbeamten über eine im Ermittlungsverfahren getätigte Aussage des Beschuldigten, er halte den vom Angeklagten vorgebrachten Verstoß gegen die Belehrungspflicht nicht für erwiesen, ist es sinnvoll, hiergegen den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO zu ergreifen, damit die Verantwortung des gesamten Spruchkörpers für diese Frage aktiviert werden kann. Es wäre doch mehr als unbefriedigend, wenn sich der Vorsitzende zunächst in diesem Sinne äußert, später das Gericht aber gleichwohl nach Beratung ein Beweisverwertungsverbot annimmt, nachdem das Strafverfahren in der Zwischenzeit aufgrund notwendig veränderter Verteidigungsstrategie unnötig aufgebläht werden musste.

c) Positive Folgen des Verständnisses vom Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf Was ist mit dem Verständnis des Widerspruchs als Unterfall der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO gewonnen? Zum einen erfährt die Widerspruchslösung damit eine gesetzliche Anbindung, deren bisheriges

79

NJW 2010, 1824. Vgl. auch Arnoldi StRR 2010, 262, 263. 81 Näher hierzu Mosbacher FS Seebode S. 241 82 Vgl. BGHSt 35, 39, 41. 80

Zur Zukunft der Widerspruchslösung

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Fehlen von vielen bemängelt wird.83 Mit der Einstufung des Widerspruchs als Unterfall von § 238 Abs. 2 StPO wird die Widerspruchslösung in ein (verfassungsrechtlich unbedenkliches) dogmatisches Konzept der Rügepräklusion eingebunden, das mit dem Willen des historischen Gesetzgebers korrespondiert und von Reichsgericht wie Bundesgerichtshof in über 100 Jahren ständiger Rechtsprechung fortentwickelt wurde. Der Widerspruch als Unterfall des Zwischenrechtsbehelfs ist nicht nur – wie bislang – einseitige (Unmuts-) Äußerung eines Verfahrensbeteiligten zu einem bestimmten Vorgehen des Vorsitzenden, sondern leitet den Dialog in der Hauptverhandlung über das Beweisverwertungsverbot ein. Zu dem Widerspruch kann sich erklärt werden, das gesamte Gericht muss in Beschlussform zu den Einwänden des Widerspruchsführers Stellung nehmen, der sein anschließendes Prozessverhalten an den Gründen ausrichten kann. Wird der Beweis erhoben, bleibt der Widerspruchsführer zudem – anders als derzeit in manchen Fällen – nicht im Unklaren darüber, ob das Gericht zu einer Beweisverwertung in den Urteilsgründen neigt oder nicht. Das Neuverständnis des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf löst auch viele Einzelprobleme der Widerspruchslösung in ihrer derzeitigen Gestalt auf, die zu Recht von vielen in der Literatur bemängelt werden. Die Einzelheiten hierzu ergeben sich aus den Konsequenzen, die aus der hier vertretenen dogmatischen Neuausrichtung der Widerspruchslösung für die praktische Rechtsanwendung zu ziehen sind.

4. Neuausrichtung: Die Ausgestaltung des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf Natürlich kann die dogmatische Neubegründung der Widerspruchslösung nicht ohne Folgen bleiben.84 Konkret hat die dogmatische Neuausrichtung der Widerspruchslösung als Zwischenrechtsbehelf folgende Auswirkungen:

a) Berücksichtigung von Beweisverwertungsverboten von Amts wegen Zunächst ist nach hiesigem Verständnis die Berücksichtigung von relativen Beweisverwertungsverboten nicht vom Widerspruch des Betroffenen abhängig, sondern nur ihre Geltendmachung in der Revision. Das Unterlassen des Widerspruchs führt nur zur Rügepräklusion, nicht zum „Verlust“ des Beweisverwertungsverbots über alle Instanzen hinweg. Dies öffnet den 83 84

Vgl. Jahn NJW-Beilage 2008, 13, 16. Zutreffend Gaede wistra 2010, 210, 212 m. Fn. 20.

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(ohne dies hier vertiefen zu können meines Erachtens richtigen) Weg, Beweisverwertungsverbote in jedem Verfahrensstadium von Amts wegen berücksichtigen zu können. Liegt nach Aktenlage etwa ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 136 StPO vor, hindert dies den hinreichenden Tatverdacht und damit die Anklageerhebung, wenn es sich um das zentrale Beweismittel handelt. Es muss nicht abgewartet werden, ob der Betroffene in der Hauptverhandlung (vorher soll ihm dies nach bisheriger Rechtsprechung nicht wirksam möglich sein)85 der Verwertung widerspricht. Das Verwertungsverbot wird nicht erst durch den Widerspruch ausgelöst oder aktiviert, es „entsteht“ nicht erst mit dem Widerspruch, sondern es ist grundsätzlich stets von den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten von Amts wegen zu beachten.86 Beweisverwertungsverbote hindern nach zutreffender Ansicht nicht, die davon betroffenen Tastsachen ganz unabhängig vom Verhalten des Angeklagten zu seinen Gunsten zu verwerten („Mühlenteichtheorie“).87 Zudem kann auch der Wille des Betroffenen relevant werden. Dem vom Beweisverwertungsverbot Betroffenen bleibt es selbstverständlich auch nach dem hier vertretenen Ansatz unbenommen, die Einführung ihm günstig erscheinender Beweise zu erreichen, auch wenn eigentlich die Voraussetzungen eines Verwertungsverbots vorliegen. Dies ist auch sinnvoll.88 Beweisverwertungsverbote sind ja kein Selbstzweck. Vielmehr wird das ausdrückliche Einverständnis mit einer Beweisverwertung beim Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften, die den Schutz des Betroffenen bezwecken, in aller Regel schon (im Rahmen der üblichen Abwägung) die Annahme eines Beweisverwertungsverbots hindern. Das ausdrückliche Einverständnis mit der Verwertung – im Sinne der auch vom 67. Deutschen Juristentag diskutierten „Zustimmungslösung“89 – ist also nur für die Frage von Relevanz, ob überhaupt ein Beweisverwertungsverbot vorliegt; der Widerspruch im hier verstandenen Sinne betrifft hingegen ausschließlich die Frage, wie ein Beweisverwertungsverbot in der Revision geltend gemacht werden kann. Mir scheint es jedenfalls sinnvoller, beide Fragestellungen systematisch zu unterscheiden, anstatt dem Unterlassen des Widerspruchs – wie bisher – eine Art Doppelfunktion für die Entstehung des Beweisverwertungsverbots und gleichzeitig für die Geltendmachung in der Revision zuzuschreiben.

85

Hierzu zuletzt OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 148 m.w.N. Vgl. auch Singelnstein FS Eisenberg S. 643 ff. 87 Vgl. Roxin/Schäfer/Widmaier Strauda-FS, S. 435 (= StV 2006, 655); vgl. auch Roxin NStZ 2007, 616, 618; Mosbacher FS Widmaier S. 339, 347. 88 Basdorf StV 2010, 414, 416; Hamm StV 2010, 418, 421. 89 NJW-Spezial 2008, 698. 86

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b) Widerspruch gegen die Beweiserhebung Der Verfahrensbeteiligte, der ein Beweisverwertungsverbot geltend machen will, hat regelmäßig schon der Erhebung des Beweises durch den Vorsitzenden zu widersprechen. Den Streit um ein Beweisverwertungsverbot vor die Beweiserhebung zu ziehen, ist auch schon deshalb sinnvoll, weil damit die Beeinflussung von Schöffen, Richtern und anderen Verfahrensbeteiligten durch eine letztlich eventuell unverwertbare Beweiserhebung vermieden wird. In einzelnen Fällen werden sich die Anknüpfungspunkte für ein Beweisverwertungsverbot allerdings erst aus der Beweiserhebung selbst ergeben. Ergibt etwa erst die nähere Befragung des Zeugen neue belastende Erkenntnisse, hat der Verteidiger erst jetzt Anlass, sich mit der Verwertbarkeit dieses Beweises näher zu beschäftigen. Festzuhalten ist daran, dass der Widerspruch – von Ausnahmefällen abgesehen – im zeitlichen Rahmen der Erklärung nach § 257 StPO geltend gemacht werden muss. Das Gesetz sieht mit § 257 StPO ausdrücklich eine besondere Gelegenheit vor, sich nach einer Beweiserhebung hierzu zu erklären. Aus Gründen möglichst früher Klarheit über den weiteren Fortgang der Hauptverhandlung, der vielfach von der Beweisverwertungsfrage abhängen kann und wird, ist die von der Rechtsprechung bereits eingeführte zeitliche Beschränkung der Widerspruchsmöglichkeit beizubehalten. Zwar ist bei Beanstandungen nach § 238 Abs. 2 StPO eine Frist zur Antragstellung grundsätzlich nicht vorgeschrieben;90 dieser Gedanke erfährt indes bei Beanstandungen der Beweiserhebung durch § 257 StPO eine besondere zeitliche Begrenzung. Eine erwartungswidrige Spätbeanstandung weit nach der eigentlichen Beweiserhebung wäre mit dem gesetzlichen Leitbild des § 257 StPO nicht vereinbar; die Beanstandungsmöglichkeit des § 238 Abs. 2 StPO ist deshalb im Lichte von § 257 StPO auszulegen. Nur wenn sich ausnahmsweise die Unverwertbarkeit erst aus der anschließenden Beweisaufnahme ergibt, kann im Rahmen der dann nach § 257 StPO möglichen Erklärungen auch ein Widerspruch gegen früher erhobene Beweise nachgeholt werden.

c) Begründung des Widerspruchs Der Widerspruch muss grundsätzlich erkennen lassen, unter welchem Gesichtspunkt die beabsichtigte Beweiserhebung als unzulässig gerügt werden soll. Häufig wird sich dies aus der aktuellen Prozesssituation heraus von selbst verstehen. Kommen allerdings ganz unterschiedliche Mängel in Betracht, muss sich der Verfahrensbeteiligte dazu verhalten, welche Verfah90

Vgl. LR/Becker § 238 Rdn. 29.

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rensvorgänge er als fehlerhaft erachtet. Präkludiert wäre der Verfahrensbeteiligte etwa, wenn er mit seinem Widerspruch nur einen bestimmten Belehrungsverstoß und ein darauf gegründetes Beweisverwertungsverbot behauptet, mit der anschließenden Revision aber einen gänzlich anderen Belehrungsfehler als Voraussetzung des Verwertungsverbots ins Feld führt.91 Denn mit einem solchen Vorgehen nimmt er dem nach § 238 Abs. 2 StPO angerufenen Gericht die Möglichkeit, ihm in der Hauptverhandlung unter Berücksichtigung seines Vorbringens sein Recht zu verschaffen.

d) Gerichtsbeschluss bei Zurückweisung des Widerspruchs Folge des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf ist, dass das Gericht gemäß § 238 Abs. 2 StPO durch Beschluss über die Zulässigkeit des beanstandenden Verfahrens entscheidet, sofern der Vorsitzende nicht abhilft. Nach bisherigem Verständnis ist das Gericht zu einem Zwischenbescheid über die Begründetheit des Widerspruchs hingegen nicht verpflichtet.92 Wird der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO vor der Beweiserhebung erhoben, entscheidet das Gericht über deren Zulässigkeit und damit zugleich auch über die Verwertbarkeit des Beweises vor Durchführung der Beweisaufnahme, denn unverwertbare Beweise dürfen nicht erhoben werden. Ist der Beweis schon erhoben, betrifft die Entscheidung zwar immer noch die Unzulässigkeit der Erhebung, wirkt sich aber lediglich auf der Ebene der Beweisverwertung aus, weil die möglicherweise zu Unrecht erfolgte Beweiserhebung nicht mehr rückgängig gemacht oder geheilt werden kann. Die Entscheidung des Gerichts bindet dieses. Führen neue Erkenntnisse rechtlicher oder tatsächlicher Art noch in der Hauptverhandlung zur Notwendigkeit einer Korrektur dieser Einschätzung, ist dies auf dem selben Weg durch Gerichtsbeschluss möglich,93 wenn den Verfahrensbeteiligten zuvor Gelegenheit zur Äußerung und anschließend zur Berücksichtigung der neuen Lage in ihrem Prozessverhalten gegeben wurde; eine Korrektur erst in den Urteilsgründen verbietet sich, weil rechtliches Gehör nicht mehr gewährt werden kann. Der Gerichtsbeschluss muss erkennen lassen, auf welche wesentlichen Gründe das Gericht seine Entscheidung stützt, wenn es die angegriffene Vorsitzendenentscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO entgegen einem Antrag bestätigt.94

91

BGHSt 52, 38. BGH NStZ 2007, 719; Meyer-Goßner § 136 Rdn. 26 m.w.N. 93 Vgl. auch LR/Becker § 238 Rdn. 37. 94 Vgl. Mosbacher NStZ-Sonderheft für Miebach 2009, S. 20 ff. 92

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e) Widerspruchsberechtigung für alle Verfahrensbeteiligte Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf verstanden steht jedem Verfahrensbeteiligten zu, nicht nur demjenigen, der vom Beweisverwertungsverbot betroffen ist. Denn auch vom Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO kann jeder Verfahrensbeteiligte Gebrauch machen.95 Rügt ein Verfahrensbeteiligter die Unverwertbarkeit des Beweises und die daraus folgende Unzulässigkeit der Beweiserhebung, muss das Gericht darüber insgesamt für das Verfahren entscheiden, denn die Beweiserhebung kann in der Hauptverhandlung nur einheitlich erfolgen. Wenn der Beweis nicht erhoben wird, kann er auch nicht verwertet werden. Mit dem Beanstandungsrecht für alle Verfahrensbeteiligten ist indes nichts über die Drittwirkung von Beweisverwertungsverboten96 ausgesagt, sondern lediglich bestimmt, dass nur derjenige den Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot mit der Revision rügen kann, der schon in der Hauptverhandlung widersprochen hat. Nur wenn zunächst diese formale Hürde genommen wurde, ist im zweiten Schritt zu entscheiden, ob das Beweisverwertungsverbot auch gerade dem Schutz des Beschwerdeführers diente. Gegen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots durch das Gericht steht hingegen keinem Verfahrensbeteiligten eine förmliche Rechtsschutzmöglichkeit in der Hauptverhandlung zu, sondern allein die Aufklärungsrüge nach § 244 Abs. 2 StPO, wenn der Beweis überhaupt nicht erhoben wurde, oder die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO, wenn der in der Hauptverhandlung erhobene Beweis bei der Beweiswürdigung außen vor bleibt. Dies ergibt sich aus dem Charakter des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO: Die Anrufung des Gerichts ist nach dem Wortlaut des § 238 Abs. 2 StPO nur gegen eine „Anordnung“ des Vorsitzenden möglich, nicht gegen das Unterlassen derselben.97 Zur Verwertbarkeit von Beweisen muss sich das Gericht in einem solchen Fall eigenen Unterlassens nur erklären, wenn ein entsprechender Beweisantrag gestellt wird (vgl. § 244 Abs. 6 StPO).

f) Kein Verlust des Widerspruchsrechts bei Versäumnis in erster Hauptverhandlung Der Widerspruch muss als Zwischenrechtsbehelf in jeder Hauptverhandlung neu erklärt werden dürfen. Entgegen der derzeitigen Rechtsprechung98 kann es mit der hier vorgeschlagenen dogmatischen Konstruktion keine 95

LR/Becker § 238 Rn. 25. Vgl. BGHSt 53, 191; hierzu auch Mosbacher JuS 2009, 696 f. 97 Vgl. hierzu näher auch LR/Becker § 238 Rdn. 17. 98 Vgl. etwa BGHSt 50, 272; hierzu auch Mosbacher JuS 2007, 127, 129. 96

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Präklusion oder Verwirkung des Widerspruchsrechts geben, wenn im Strafverfahren nicht an erstmöglicher Stelle in der Hauptverhandlung der Beweiserhebung und –verwertung widersprochen wurde. Dies wäre mit dem Charakter des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf unvereinbar. Ohnehin erscheint die derzeitige Rechtsprechung nicht sinnvoll, wonach der Verfahrensbeteiligte sein Widerspruchsrecht etwa in der nächsten Tatsacheninstanz oder bei Zurückverweisung der Sache verloren haben soll, wenn er nicht in der ersten Hauptverhandlung widersprochen hat.99 Denn in der Sache geht es darum, ob die Beweisaufnahme fehlerhaft erfolgt oder nicht; wird die Beweisaufnahme wiederholt, ist dies stets neu zu prüfen und zu entscheiden.

5. Ergebnis: Neue Wege Die dogmatische Verankerung des Widerspruchs im Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO bietet die Chance, einen viel beklagten „Flickenteppich“ unterschiedlichster Argumente und Vorstellungen zur Widerspruchslösung durch ein solide gezimmertes Fundament zu ersetzen, das den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers und der mehr als 120 Jahre alten Tradition höchstrichterlicher Rechtsprechung entspricht. Die Einbindung der Widerspruchslösung in ein gesetzlich angelegtes, verfassungsrechtlich unbedenkliches Präklusionssystem vermeidet viele als unbefriedigend empfundene Aspekte der derzeitigen Widerspruchslösung und befördert den Dialog über Beweisverwertungsverbote in der Hauptverhandlung. Aus einem „Hauptbeispiel für Begründungsdefizite“100 könnte die Widerspruchslösung so zu einem nachahmenswerten Beispiel für die dogmatisch richtige Begründung praktisch richtiger Ergebnisse werden.

99

Zutreffende Kritik etwa bei Hamm StV 2010, 418, 421 m.w.N. Fezer HRRS 2010, 281, 282.

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Neurobiologie, forensische Psychiatrie und juristische Urteilsfindung – die Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten im Einzelfall NORBERT NEDOPIL

1. Verständigung zwischen Richtern und psychiatrischen Sachverständigen Im interdisziplinären Dialog zwischen Juristen und Psychiatern wurden in den letzten Jahren viele Anstrengungen unternommen, die Verständigung zu verbessern und gegenseitiges Verständnis zu vertiefen. Ziel dieser Bemühungen war es unter anderem, die Qualität psychiatrischer Gutachten für Strafgerichte zu verbessern und den Gerichten eine Qualitätskontrolle zu ermöglichen, um zu verhindern, dass Gerichte unpräzisen, abwegigen oder gar falschen gutachterlichen Vorgaben mehr oder weniger blind folgen. Höhepunkt dieser Bemühungen war die Veröffentlichung von Mindestanforderungen für die Schuldfähigkeitsbegutachtung (Boetticher et al.,2005) und für die Prognosebegutachtung (Boetticher et al.,2006), durch eine Arbeitsgruppe beim Bundesgerichtshof. In diesen Mindestanforderungen wird die Grenze zwischen empirischen Aussagemöglichkeiten durch die Sachverständigen und wertenden Beurteilungen durch die Gerichte klarer betont, als dies bis dahin in der Rechtsprechung und in der forensischpsychiatrischen Literatur dargelegt worden war. An dieser Arbeitsgruppe nahm Frau Dr. Rissing von Saan mit großem Engagement teil und half durch ihr sachlich-beharrliches Fragen manch hitzige Debatte zwischen den Psychiatern zu entschärfen. Viele Entscheidungen des BGH nach 2005 und gerade auch Entscheidungen ihres Zweiten Senats ließen den Einfluss dieser Arbeitsgruppe auf die Rechtsprechung erkennen (Nedopil,2005) und belegen wie hilfreich und notwendig die gemeinsame Arbeit war. Die in den Mindestanforderungen klarer gezogene Grenze erleichtert es dem Sachverständigen auch, sich auf sein eigenes Wissen zu beschränken und Entscheidungen zu vermeiden, bei denen er an seine Erkenntnisgrenzen stößt.

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2. Fortschritte der Hirnforschung Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten rasante Fortschritte gemacht. Vor allem die neu entwickelten Methoden der funktionellen Bildgebung des Gehirns haben eine intensive Forschungsaktivität bezüglich der hirnorganischen Auffälligkeiten bei psychisch Kranken, bei Straftätern und insbesondere bei Psychopathy bewirkt. Zu diesen Methoden gehören: •

Positronen-Emissions-Tomographie (PET)



Single-Photon-Emission-Computed –Tomography (SPECT)



Funktionelle Magnet-Resonanztomographie (fMRT)



Funktionelle Hirnstromuntersuchungen (Elecktroencephalographie EEG)

Mit diesen Methoden wird in der forensischen Psychiatrie vor allem der Frage nachgegangen, ob bei bestimmten Straftätern, insbesondere bei den sog. Psychopathen, aber auch bei anderen persönlichkeitsgestörten Rechtsbrechern, Signale, die bei den meisten Leuten bestimmte Gefühle oder Emotionen auslösen, im Gehirn anders verarbeitet werden. Aufgrund der Verletzungslokalisation bei den erworbenen „Pseudopsychopathien“, ging man davon aus, dass Störungen des orbitofrontalen Gehirns und der Mandelkerne auch bei sog. Psychopathen für deren emotionale Defizite verantwortlich sind (Anderson et al.,1999; Blair,2003), und dann zu gewalttätigem, kriminellen Verhalten führen, insbesondere wenn die Schädigungen im Kindesalter erfolgen. Die derzeitigen Befunde sind noch widersprüchlich und zeigen sowohl Zunahmen wie Abnahmen der Durchblutung in den interessierenden Hirngebieten (Mandelkern und frontotemporale Hirnregion) unter emotionaler Belastung oder Reizung (Walter,2005), sowie eine Abnahme der präfrontalen grauen Substanz (Yang et al.,2005). In den meisten Untersuchungen führten Angstkonditionierung und verbale und emotionale Belastungen zu Aktivitätssteigerungen in den Hirnarealen. Eine solche Aktivitätssteigerungen blieb jedoch bei sog. Psychopathen aus oder war deutlich verringert (Birbaumer et al.,2005; Blair et al.,2005). Einige Neurobiologen gehen sogar davon aus, dass die Erkenntnisse aus den funktionellen bildgebenden Verfahren aussagekräftiger sind zur Beurteilung von Willenssteuerung und Verhaltenskontrolle als individuelle Wahrnehmung und Verhaltensanalyse, weil die neurobiologischen Verhaltenskorrelate objektivierbar, messbar und weniger manipulierbar sind als Verhalten und/oder Selbstbeschreibung, und weil Hirnerregungen dem Verhalten vorhergehen und somit nicht einer willentlichen Steuerung unterliegen. Aufgrund derartiger Überlegungen halten sie ein Schuldstrafrecht

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für veraltet, weil es auf der Annahme einer freien Willensentscheidung als Grundlage für die Schuld beruht (Markowitsch & Siefer,2007; Roth,2006; Roth & Grün,2006; Singer,2003; Tancredi,2007 und etwas modifizierter Pauen & Roth,2008). Wie viel mehr müssen die Argumente dieser Autoren gelten, wenn tatsächliche organische Hirnschädigungen nachgewiesen werden.

3. Ein reales Fallbeispiel Ein Gericht hat über Einzelfälle zu entscheiden und Einzelfälle folgen nicht immer dem empirischen Wissen, meist sind sie komplizierter als es durch die Datensammlungen empirischer Untersuchungen dargestellt oder durch neurobiologische Versuchsanordnungen untersucht werden kann. Wie schwierig eine Entscheidung im Einzelfall werden kann, mag die nachfolgende Kasuistik zeigen:

a. Die Tat Der Täter (ich gebe ihm das Pseudonym A. oder bezeichne ihn als „Proband“), ein 31 jähriger Türke, rief am Tattag um 10 Uhr 20 bei der Notrufzentrale an und sagte, dass seine Frau gestürzt sei, am Boden liege und nicht mehr aufstehe. Die um 10 Uhr 30 eintreffenden Einsatzkräfte fanden die Ehefrau im Bett liegend vor, die Totenstarre war mittlerweilen eingetreten. A. machte zunächst widersprüchliche Angaben zum Tatablauf, bestritt jedoch von Anfang an nicht, seine Frau geschlagen und als einzig Anwesender der Tod verursacht zu haben. Bei der Begutachtung schilderte er das Geschehen ähnlich wie später in der Hauptverhandlung: Er habe relativ bald nach dem Aufwachen etwa gegen 7 Uhr angefangen, seine Frau wegen einer Nichtigkeit zu beschimpfen und sie zunächst mit den Händen, dann mit Händen und Füßen und schließlich mit einer Krücke, und als diese abgebrochen sei, mit der zweiten Krücke zu schlagen. Er habe sie dabei durch die Wohnung verfolgt. Sie habe sich gegen ihn gewehrt, was ihn noch wütender gemacht habe. Den eigentlichen Grund seiner Wut und auch den Anlass des Streites und der Schläge konnte er nicht angeben, er meinte aber, dass er zum damaligen Zeitpunkt und auch schon eine geraume Zeit früher, nichtige Anlässe gesucht habe, um einen Streit mit seiner Frau anzufangen und dann auf sie einzuprügeln, wobei er seine Frustration und seine Wut unberechtigterweise an seiner Frau ausgelassen habe. Er habe seine Frau geliebt und liebe sie heute noch. Weder am Vortag, noch in der Nacht, noch in den Morgenstunden habe es einen konkreten Anlass für seine Aggression gegeben.

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Nachdem seine Frau bewusstlos zusammengebrochen sei, habe er sie mit Wasser und Essig besprenkelt. Seine Frau habe ihm dann gesagt, dass er mit dem 1-jährigen Sohn verschwinden solle, worauf der Proband den Sohn genommen habe und zur Tankstelle gegangen sei, um dort Zigaretten zu holen. Bei seiner Rückkehr in die Wohnung sei die Frau nicht mehr ansprechbar gewesen, habe nicht mehr geatmet, und er habe einen Schraubenzieher nehmen müssen, um den Mund zu öffnen und Wiederbelebungsversuche machen zu können. Nachdem dies nicht gelungen sei, habe er seinem Kind etwas zu essen gemacht und die Wohnung aufgeräumt. Er habe mit seinen Verwandten in Berlin telefoniert und ihnen den Tod der Frau mitgeteilt.

b. Der Lebenslauf Die Biografie von A. lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Er wurde als ältester Sohn und zweitältestes Kind seiner Eltern an der türkischen Südküste geboren und wuchs dort zusammen mit seinen drei Geschwistern relativ unbekümmert und in wirtschaftlich ausreichend gesicherten Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitete in Deutschland, besuchte die Familie zweimal jährlich, die Mutter lebte mit den Kindern in einem eigenen Haus und war diejenige, die zu Hause „das Sagen hatte“. A. bezeichnete sich als jemand, der im Kameradenkreis eine dominantere Rolle eingenommen hatte, und der in der Schule aufgrund seiner Leistungen Anerkennung fand. 1990, als der Proband 13 Jahre alt war, holte der Vater ihn und seinen etwa zwei Jahre jüngeren Bruder nach Deutschland. Der Umzug bedeutete für ihn eine erhebliche Belastung, weil er in seiner Heimat gut integriert war und in Deutschland zunächst keinen Anschluss fand, die Sprache nicht verstand und mit einer außerehelichen Beziehung des Vaters konfrontiert war, von der er zuvor nichts wusste, und die vorher offenbar zu den behüteten Heimlichkeiten im Leben seines Vaters und dessen Familie gehörte. Es gelang ihm aber nach den Anfangsschwierigkeiten schulischen Anschluss zu finden, Deutsch zu lernen, die Schule abzuschließen und eine Ausbildung zum Hotelfachmann in einem besseren Mittelklassehotel zu beenden. Nachdem er im Hotelfach nicht übernommen und arbeitslos wurde, geriet er vorübergehend in türkische Kreise, in denen Schlägereien mit der PKK inszeniert und mit Drogen gedealt wurde, er distanzierte sich aber wieder davon, ging verschiedenen Aushilfstätigkeiten nach, bis er 22 jährig zu einem Krankentransportdienst kam, bei dem er nahezu drei Jahre lang arbeite. Ihm wurde dann wegen zunehmender Unzuverlässigkeit gekündigt. Zwei Jahre zuvor war sein Vater gestorben, ein Jahr zuvor hatte er auf Vermittlung seiner ältesten Schwester in der Türkei geheiratet, die Ehe wurde nach einem Jahr geschieden. A. hatte diese Frau

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wiederholt und massiv geschlagen, weil sie seiner Meinung nach ihm gegenüber unehrlich war. Nach der Scheidung zog er von seiner Herkunftsfamilie weg in eine deutsche Großstadt, wo er zwei Jahre lang allein lebte und vorübergehende Tätigkeiten annahm, die jeweils zwischen zwei Wochen und 13 Monaten dauerten. Seine letzte Tätigkeit beendete er 14 Monate vor der Tat, weil er glaubte, dass in dem Betrieb gegen ihn gehetzt würde. Knapp drei Jahre vor der Tat heiratete er auf Vermittlung seiner Mutter das spätere Opfer, zwei Monate nach der Eheschließung kam seine Frau nach Deutschland. Sie lebte zunächst fünf Monate bei der Mutter von A., während sein Bruder mit diesem in einer Wohnung lebte. Dann zog die gesamte Familie in diese und eine Nachbarwohnung ein. Hier kam es relativ rasch zu massiven Schwierigkeiten zwischen den Familienmitgliedern, weil A. häufig aus dem Nichts einen Streit anfing. Er gab bei der Begutachtung an, es habe ihn alles aufgeregt, insbesondere Geräusche, er sei explodiert und es sei zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen. Nach der Geburt des Kindes am 17.1.2007, eskalierten die Streitigkeiten. Es kam vermehrt zu körperlichen Auseinandersetzungen mit dem Bruder und zu ersten Schlägen auf seine Frau. Er wurde reizbarer und misstrauischer, die Übergriffe auf seine Frau wurden häufiger und gewalttätiger. Die Frau hat dies offensichtlich ertragen, ohne sich zu beklagen oder Hilfe zu holen. Auch Bruder und Mutter des Probanden fühlten sich gegen die Gewalt machtlos. Aber auch sie hatten keine Hilfe geholt.

c. Die Krankheit Zehn Monate vor der Tat wurde bei A. ein beidseitiger Hirntumor festgestellt, der sich nach der Biopsie auf der rechten Seite als Astrozytom Grad II herausstellte. Der in der rechten Hirnhälfte gelegene größere Tumor wurde drei Monate nach der Diagnosestellung operiert, der in der linken Hirnhälfte gelegene Tumor wurde belassen, weil man beidseitige Hirnoperationen nicht ohne Not durchführt und weil man mit einer Operation in der Nähe des Sprachzentrums wesentlich zurückhaltender ist als bei Tumoren, die weiter entfernt von wichtigen Funktionszentren liegen. A. wurde chemotherapeutisch mit Temodal® behandelt. Er erhielt außerdem wegen postoperativ aufgetretener Krampfanfälle Keppra®, ein Antiepileptikum. Eine NMRKontrollaufnahmen zwei Tage vor der Tat zeigte keine Größenveränderung des linksseitigen Tumors. Abbildungen 1 und 2 zeigen Gehirnaufnahmen von diesem Tag.

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Abbildung 1 NMR: Horizontalschnitt durch das Gehirn des Täters

Abbildung 2: NMR: Coronarschnitt durch das Gehirn des Täters

d. Der psychiatrische Sachverstand Bei dieser medizinischen Vorgeschichte ist der psychiatrische Sachverständige zunächst geneigt, die aggressiven Durchbrüche, die schließlich auch zum Tod der Ehefrau führten, auf die organische Krankheit zurückzuführen. Er erläutert dem Gericht das Wissen über Hirntumore und ihre Auswirkungen: Die Funktionsausfälle von Hirntumoren sind abhängig von dem Ort im Gehirn, an dem der Tumor wächst, von der Größe des Tumors, von seiner Wachstums- und Verbreitungsgeschwindigkeit und von Begleitreaktionen (Ödembildung, Entzündungsreaktionen o.ä.). Je entdifferenzierter die Tumorzellen sind, desto rascher ist das Wachstum und desto dramatischer sind meist auch die Ausfallserscheinungen, weil rasch wachsende Tumoren in aller Regel wesentlich häufiger Begleiterscheinungen wie Ödeme, verursachen, die dann zu Hirnschwellungen mit oft dramatischen Folgeerscheinungen und erheblichen subjektiven Beschwerden führen. Tumore des Hirngewebes, Astrozytome, werden je nach Differenzierung ihrer Zellen in die

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Grade I-IV eingeteilt, wobei Grad I ein hoch differenzierter und Grad IV ein völlig entdifferenzierter Tumor ist. Je differenzierter die Tumore sind, desto länger sind auch die Überlebenszeiten nach Diagnosestellung. Die durchschnittliche Überlebenszeit bei einem Astrozytom Grad II liegt bei sechs Jahren, wobei jedoch eine weite Streubreite bezüglich der Überlebenszeiten besteht, und aus dem Durchschnitt nicht auf den Einzelfall geschlossen werden kann (Kreth et al.,2007; Wen et al.,2008). Derartige Tumoren können relativ lang bestehen ohne zu wachsen, um dann plötzlich wieder weiterzuwachsen, sie können sich auch entdifferenzieren, was in aller Regel zu einem schnelleren Wachstum und zu einem früheren Ableben führt. Neben der Art des Tumors und der damit verbundenen Wachstumsgeschwindigkeit ist die Lokalisation des Tumors für die Funktionsbeeinträchtigungen ausschlaggebend. Grundsätzlich ist die jeweilige Funktion beeinträchtigt, die in der Hirnregion reguliert wird, die durch das Tumorgewebe zerstört wird. Im vorliegenden Fall wurden Teile des Stirnhirns, des Schläfenhirns und insbesondere der sog. Inselregion durch den Tumor zerstört und rechtsseitig dann auch mit der Tumoroperation entfernt. Das Frontalhirn ist in diesem Bereich an der Handlungsplanung und an der Impulskontrolle beteiligt (Goldenberg,2007). Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass bei einem Tumor in diesem Hirnbereich die Impulskontrolle aufgehoben und eine Handlungsplanung unmöglich ist. Vielmehr verfügt das Gehirn über eine hohe Plastizität und es können andere Hirnbereiche, insbesondere die Hirnbereiche der Gegenseite, die gestörten Hirnfunktionen übernehmen. Beeinträchtigungen in Handlungsplanung und Impulskontrolle sind jedoch weitaus wahrscheinlicher, wenn beide Hirnhälften in gleicher Weise gestört sind, wie das bei A. der Fall ist. Bei ihm ist zusätzlich die Inselregion durch das Tumorwachstum und die Operation lädiert. Die Insel ist ein Hirnteil, der partiell zum limbischen System gehört, in welchem Affekte reguliert werden, sie ist beteiligt, wenn emotionale Reize in Handlungsentscheidungen umgesetzt werden (Caria et al.,2007; Nagai et al.,2007). Insofern hat eine Hirnläsion, wie sie durch den Tumor und durch die Tumoroperation verursacht wurde, nur leichte kognitive Einschränkungen zur Folge, die bei A. auch neuropsychologisch nachgewiesen wurden, wohl aber eine weit größere Beeinträchtigung der Affektkontrolle, der rationalen Verhaltensentscheidung aufgrund emotionaler Impulse und eine Beeinträchtigung von längeren Handlungsentwürfen. Diese Defizite kommen üblicherweise umso mehr zum Ausdruck, je weniger Außenstrukturierung und Außenkontrolle, d.h. äußere Zwänge, die das Handeln beeinflussen, und je mehr emotionale Reize oder Belastungen auftreten. Sie sind also weit mehr im familiären Nahfeld als in fremder Umgebung zu erwarten. Sie wurden nach der Tat auch in der Unterbringung nach § 126a StPO beobachtet. A. berichtete in

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diesem Zusammenhang von unbeherrschbaren Impulsen, die jedoch auf medikamentöse Behandlung mit Tavor® relativ gut ansprachen. Die Hirnläsion durch das Astrozytom Grad II und die dadurch bedingten klinischen Auffälligkeiten sind sowohl von ihrer Schicksalhaftigkeit wie von ihrem Ausprägungsgrad ausreichend, um sie dem Merkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinn des § 20 StGB zuzuordnen, wobei nach ICD 10 diagnostisch von einer organisch bedingten Wesensänderung (ICD10 F 07.0) ausgegangen werden muss. Der Sachverständige wird weiter darauf hinweisen, dass A. zwei Medikamente in zeitlicher Nähe zur Tat eingenommen hat, die beide als Nebenwirkungen zu erhöhter Reizbarkeit und Aggression führen können: Bei Keppra® (Levetiracetam ) wird emotionale Labilität, Feindseligkeit und Aggression , Nervosität und Reizbarkeit als häufige Nebenwirkung beschrieben, die bei 1% bis 10 % der mit der Substanz Behandelten vorkommt. Temodal® (Temazolomid) ist ein Zytostatikum, welches die BlutHirn-Schranke passieren kann. Auch bei diesem Medikament gehören emotionale Labilität, Angst, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit zu den häufigen Nebenwirkungen, die in 1% bis 10% der Behandlungsfälle beobachtet werden (Rote Liste 2008).

e. Erste Zwischenbilanz Nach den bisherigen Ausführungen erscheint es nicht abwegig zu überlegen, ob bei dem Probanden die Voraussetzungen für die Anwendung des § 21 StGB oder gar des § 20 StGB in Betracht kommen.

f. Die Aussagen der Angehörigen Einer solchen Überlegung stehen allerdings die Aussagen der Angehörigen des Probanden bei der Polizei und beim Ermittlungsrichter entgegen. Der Bruder meinte, dass er über A. nur schlimme Sachen sagen könne. Dieser habe alles mit Gewalt und Schlägereien gelöst. Seine Mutter sei wegen ihm schon ein paar Mal im Krankenhaus gelandet. Er habe die erste Frau massiv geschlagen und auch die zweite Frau habe blaue Augen davongetragen. Von seiner Mutter wisse der Zeuge, dass der Vater wegen A. gestorben sei. Der Vater habe auf keinen Fall gewollt, dass der Proband in der Nähe seines Grabes in der Türkei beerdigt werde. „Er hat sich aufgeführt wie der Herr, und wir waren seine Sklaven.“ Am Tattag habe A. gegen 10 Uhr angerufen und zu seiner Mutter gesagt, „freu dich, S. ist tot, ich habe sie geschlagen“. Er habe früher schon gesagt, dass er einen „Psychopathenpass“ habe, er sei zu 50% behindert und wenn er jetzt seine Frau umbringe, bekomme er höchstens ein oder zwei Jahre.

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Die Schwester berichtete, dass A. schulische Probleme gehabt habe, er sei dort aggressiv gewesen, habe eine Lehrerin geschlagen, Schusswaffen mit in die Schule genommen, und einen Polizisten mit einem Messer verletzt. Er sei als Kind sehr aggressiv gewesen und sei deswegen von dem Vater einmal in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht worden, wo er nach einem Tag abgehauen sei. Auch sie sei mehrmals von ihm geschlagen worden, selbst als sie erwachsen gewesen sei. Er habe auch die Mutter geschlagen. Gründe für die Aggressivität des Bruders kenne sie nicht. Die Mutter gab an, „er habe sich zum Monster mutiert“, als er nach Deutschland gekommen sei. Er habe die ganze Familie terrorisiert, Sachen kaputt gemacht, den Vater beleidigt, und seine kleinen Geschwister und auch sie selbst geschlagen. Der Schwester habe er die Hände aufgeschnitten. Zu Freunden sei er ganz normal gewesen. Sein Vater sei an ihm verzweifelt und als gebrochener Mann gestorben. Wenn bei A. „die Sicherungen durchgeknallt“ seien, dann sei er nicht mehr aufzuhalten gewesen, er habe unheimliche Kräfte entwickelt und hätte von niemand gestoppt werden können. Nach seiner Kopfoperation habe A. seiner Frau eine Teekanne mit heißem Wasser über Kopf, Arme und Brust geschüttet, weil diese ihn nicht schnell genug bedient habe. Die Frau habe ihre Haare verloren. Die Mutter bestätigte die Angaben, die schon die Geschwister von A. gemacht hatten. Er habe sie selber auch mit Worten, wie „ich fick dich, du Schlampe, ich bring dich um“, beleidigt. Sie habe ihn verflucht, nachdem sie von ihm am Telefon vom Tod der Schwiegertochter erfahren habe.

g. Zweite Zwischenbilanz Es ist nicht Aufgabe des Sachverständigen diese Aussagen zu beurteilen, er erfährt nicht einmal, wie das Gericht sie bewertet. Auch die Protagonisten einer „forensischen Neurowissenschaft“ haben keine eigenen Regeln zur Verwertung solcher Informationen. Der Sachverständige muss zur Kenntnis nehmen, dass die Angehörigen Aggressionsdurchbrüche beschreiben für einen Zeitraum, der nach dem heutigen medizinischen Wissen vor dem Beginn des Tumorwachstums liegt.

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h. Die rechtsmedizinischen Erkenntnisse Die Beweisaufnahme im Gericht erbrachte zwei weitere wesentliche Informationen. 1.

Die Kopfverbrühungen, die A. seiner Frau etwa sechs Monate vor der Tat zugefügt hatte, hatten zu einer weitgehenden Ablösung der Kopfhaut mit offener Wundbildung geführt. Die Verletzung wurde von A. mit Salben und Verbänden versorgt, Ärzte wurden nicht aufgesucht, obwohl es sich nach rechtsmedizinischer Auskunft wegen der massiven Infektionsgefahr um eine bis zum Schluss lebensbedrohliche und zudem sehr schmerzhafte Verletzung handelte.

2.

Die rechtsmedizinische Untersuchung des Opfers ergab neben einer nicht mehr zählbaren Menge von blutunterlaufenen Schlag-, Schürf- und Schnittwunden am ganzen Körper, überwiegend im Schulterbereich, dass in der Basalregion der rechten Lunge Speisereste resorbiert waren, die teilweise entzündlich umgebaut und vermutlich eine Stunde vor dem Tod aspiriert worden waren. Der Tod ist durch Ersticken an Speiseresten eingetreten, die in die oberen Bronchien aspiriert wurden. Es handelte sich somit um ein sich über mehrere Stunden hinziehendes Tatgeschehen, bei dem es schon vor dem Ableben des Opfers zu einer vorübergehenden Bewusstlosigkeit gekommen war – ein Tatablauf, den A. ebenfalls berichtet hatte.

i. Schlussbilanz des Sachverständigen Wie die einzelnen Informationen zu entscheidungsrelevanten Tatsachen werden, welche Entscheidungsregeln zu berücksichtigen sind, und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, bleibt dem Gericht überlassen und kann nicht vom Sachverständigen kommentiert werden. Der Fall zeigt dem Sachverständigen vielmehr, welche Grenzen und Unsicherheiten bei Entscheidungen und sachverständigen Beratungen des Gerichts sich gerade dann auftun, wenn schwerwiegende Krankheiten einerseits und/oder charakterliche Besonderheiten andererseits gegeneinander abgewogen werden müssen. Welche Erkenntnisse der Neurobiologie und welche naturwissenschaftlichen Entscheidungsregeln würden die Protagonisten eines nach den Grundsätzen der Neuropsychologie operierenden Strafrechts anwenden um einen solchen Fall zu entscheiden? Würden diejenigen, die eine freie Willensbestimmung negieren, zu der gleichen Entscheidung kommen, unabhängig davon, ob eine durch einen Hirntumor bzw. durch eine Operations-

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narbe bedingte organische Wesensänderung als Hauptfaktor dem Tathandeln zugrunde gelegt wird (Denkmöglichkeit 1) oder eine seit der Jugend bestehende habituelle Aggressionsbereitschaft (Denkmöglichkeit 2). Wie unsicher und mehrdeutig die Denkmöglichkeiten und die sich daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen sind und wie unterschiedlich sie wahrgenommen wurden, zeigt ein Blick in die Berichterstattung über den Prozess: Ein Boulevardblatt titelte richtig: „Hat Gehirntumor den Angeklagten verändert?“ In der seriösen Presse wurden unterschiedliche Wahrnehmungen offenkundig: Während eine Zeitung den Bericht mit der Überschrift „ Täter wegen Hirntumor aggressiv“ publizierte, lautete sie in der anderen „Tumor macht Mörder nicht aggressiver“.

4. Denkbare Sichtweisen Die Sichtweisen, die zu Lösungen der offenen Fragen führen, können sich nach heutigem forensischem Denken sowohl an der Tat und ihren Entstehungsbedingungen – also der Frage nach der individuellen Schuld - als auch an den Konsequenzen für Täter und Gesellschaft – also der Frage nach der sinnvollsten (Spezial- und General-)Prävention orientieren. Darüber hinaus sind weitere Sichtweisen vorstellbar, die durchaus auch ihre Berechtigung haben und zu sinnvollen Lösungen führen können: −

Aus Sicht eines Psychiaters ist ein Mensch wie A. krank. Er ist in einem Krankenhaus besser aufgehoben als in einer Haftanstalt.



Aus Sicht eines Juristen mag es darum gehen, die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten und den Rechtsfrieden wieder herzustellen. Dieser verlangt einen Ausgleich für das erlittene Unrecht, also eine Sanktion, welche dem Ausmaß des Unrechts nach rechtsstaatlichem Verständnis die Waage hält.



Der Täter selber hat konkret geäußert, dass er in ein Gefängnis wolle, weil er wegen seiner Tat eine Krankenhausbehandlung gar nicht verdient habe. Seine Angehörigen sprachen sich bei der Polizei für eine harte und lange Strafe aus, weil A. ein falscher, böser Mensch sei, der allen etwas vorspielt, um sich auf dem bequemsten Weg herauszuwinden, und weil sie zudem Angst vor ihm hätten, wenn er entlassen werden sollte.

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Der Pragmatiker wird bemerken, dass die Sanktions- oder Interventionsform zweitrangig ist, weil A. in Anbetracht seiner begrenzten Lebenserwartung weder die eine noch die andere Unterbringungsform lebend verlassen und er in beiden Unterbringungsformen mehr oder weniger behandlungs- und pflegebedürftig sein wird.



Im römischen Recht wäre es vielleicht einfacher, wenn der Grundsatz „furiosum fati infelicitas excusat, satis furore ipso punitur“ oder etwas anders ausgedrückt. „Wen die Götter gestraft haben, den brauchen Menschen nicht mehr zu strafen“ zur Anwendung kommt. Bei den Römern hätte allerdings der „pater familiae“ dafür zu sorgen, dass von dem Kranken keine Gefahr mehr ausgeht.



Als abgeklärter Sachverständiger wird man zugeben müssen, dass man an den Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten angelangt ist. Man wird dem Gericht darstellen, welche Überlegungen sich in Abhängigkeit von den verschiedenen Denkmöglichkeiten, die sich aus den medizinischen Befunden und ihren Auswirkungen, den nie ganz widerspruchsfreien Aussagen des Angeklagten und seiner Angehörigen, der rechtsmedizinischen Rekonstruktion des Tatablaufs, die ebenfalls nicht alle Unklarheiten beseitigen konnte, ergeben. Man wird hoffen, dass das Gericht die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten wahrnimmt und berücksichtigt und sich der Verantwortung bewusst ist, auch und gerade an solchen Grenzen Entscheidungen treffen zu müssen, für die es naturwissenschaftliche Regeln und einfache Kausalitäten nicht gibt.

Die Frage nach der Schuldfähigkeit ist psychiatrisch ohne Eingriff in beweiswürdigende und wertende Kompetenzen nicht zu beantworten, weil es eine Frage nach der „Kausalität“, den Motiven und der Frage nach Vorsatz oder unreflektiertem, der rationalen Reflektion und gar dem Willen nicht zugänglichen Handlungsimpulsen ist, welche je nach Wertung der Angaben der Angehörigen unterschiedlich ausfallen muss. Aber auch eine Sanktionsform, die sich an den Konsequenzen im Sinn der Prävention orientiert– so wie sie von den meisten derjenigen favorisiert wird, die aus ihrer neuropsychologischer Perspektive das Schuldprinzip ablehnen – würde im konkreten Fall an ihre Grenzen stoßen. Sie würde möglicherweise dem oben aufgeführten pragmatischen Ansatz entsprechen, der jedoch kein Sanktionsprinzip darstellt, sondern dem resignativen Umgang mit einem Menschen, der an einer lebensbegrenzenden Krankheit leidet.

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5. Schlussbemerkungen Dem Sachverständigen ist es erlaubt, die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten offen zu legen, dem Gericht ist es nicht gestattet, der Entscheidung auszuweichen, wenn es an Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten stößt. Es mag für solche Fälle Regeln geben, es wird aber immer einen individuellen Wertungsspielraum geben, der umso größer sein wird, je näher man den Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten kommt. Dass es eine klare Grenzziehung zwischen Wissen und Wertung gibt und geben soll, scheint mir dieser Fall besonders deutlich zu machen. Die Verdeutlichung dieser Grenzziehung und die Überprüfbarkeit ihrer Einhaltung ist ein Verdienst der Juristen in der Arbeitsgruppe, welche die Mindestanforderungen bei psychiatrischen Gutachten erarbeitet hat, maßgeblich unter ihnen auch Frau Dr. Rissing van Saan. Ob die neurobiologischen Protagonisten, die das Schuldstrafrecht abschaffen und durch ein Präventionsstrafrecht ersetzen wollen, hierfür eine bessere Lösung bereit halten, hat sich dem Autor bislang nicht erschlossen. Das Schwurgericht hat A. wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Schrifttum: Anderson, S. W., Bechara, A., & Damasio, H. (1999). Impairment of social and moral behavior related to early damage in human prefrontal cortex. Nat.Neuroscience, 2, 1032-1037. Birbaumer, N., Veit, R., Lotze, M., Erb, M., Hermann, C., Grodd, W., et al. (2005). Deficient fear conditioning in psychopathy: a functional magnetic resonance imaging study. Archives of General Psychiatry, 62(7), 799-805. Blair, J., Mitchel, D., & Blair, K. (2005). The Psychopath. Malden, Oxford, Carlton: Blackwell. Blair, R. J. R. (2003). Neurobiological basis of psychopathy. British Journal of Psychiatry, 182, 5-7. Boetticher, A., Kröber, H.-L., Müller-Isberner, R., Müller-Metz, R., & Wolf, T. (2006). Mindestanforderungen für Prognosegutachten. Neue Zeitschrift für Strafrecht, 26(10), 537-544. Boetticher, A., Nedopil, N., Bosinski, H. A. G., & Saß, H. (2005). Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. Neue Zeitschrift für Strafrecht, 25, 57-63. Caria, A., Veit, R., Stitaram, R., Lotze, m., Weiskopf, N., Grodd, W., et al. (2007). Regulation of anterior insular cortex activity using real-time fMRI. NeuroImage, 35, 1238-1246. Goldenberg, G. (2007). Neuropsychologie: Grundlagen, Klinik, Rehabilitation (4. Aufl. Aufl.). München, Jena: Elsevier.

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Kreth, F. W., Tonn, J. C., Goldbrunner, R., & Meyer, B. (2007). Hirntumoren und Spinale Tumoren: Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge München: Zuckschwerdt. Markowitsch, H. J., & Siefer, W. (2007). Tatort Gehirn. Frankfurt/Main: Campus Verlag. Nagai, M., Kishi, K., & Kato, S. (2007). Insular cortex and neuropsychiatric disorders: a review of recent literature. European Psychiatry, 22(6), 387-394. Nedopil, N. (2005). Kommentar. Juristische Rundschau (5), 207-219. Pauen, M., & Roth, G. (2008). Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie de Willensfreiheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Roth, G. (2006). Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung. In G. Roth & K.-J. Grün (Hrsg.), Das Gehirn und seine Freiheit (S. 66-85). Göttingen: Vandehoeck & Ruprecht. Roth, G., & Grün, K.-J. (Hrsg). (2006). Das Gehirn und seine Freiheit. Göttingen: Vandehoeck & Ruprecht. Singer, W. (2003). Ein neues Menschenbild. Frankfurt: Suhrkamp. Tancredi, L. R. (2007). The neuroscience of "free will". Behavioral Sciences and the Law, 25, 295-308. Walter, H. (2005). Emotionale Dysfunktion, Psychopathie und kognitive Neurowissenschaft. Was gibt es Neues und was folgt daraus ? Der Nervenarzt, 76 (5), 557568. Wen, P. Y., Schiff, D., & Evans, R. W. (2008). Brain Tumors in Adults: Number 4: An Issue of Neurologic Clinics New York Saunders. Yang, Y., RaineA. , Lencz, T., Bihrle, S., LaCasse, L., & Colletti, P. (2005). Volume reduction in prefrontal gray matter in unsuccessful criminal psychopaths. Biological Psychiatry, 57, 1103-1108.

Das Negativattest im Protokoll (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO) MARTIN NIEMÖLLER

1. Das Negativattest im Gesetz Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. 7.2009 (BGBl. I 2352, im folgenden VerstG) hat neue Paragraphen in die StPO eingefügt und alte ergänzt. Ergänzt worden ist unter anderem § 273 StPO, der bestimmt, was in das Protokoll der Hauptverhandlung gehört. Neu ist hier neben Abs. 1 Satz 2, wonach der wesentliche Ablauf und Inhalt einer Erörterung des Verfahrenstands (§ 257b StPO) protokolliert werden muss, der Abs. 1a. Die Vorschrift begründet Protokollierungspflichten für den Bereich der Verständigung (§ 257c StPO). Zu protokollieren sind der wesentliche Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung (Satz 1), ebenso die Beachtung besonderer, anderwärts normierter Mitteilungs- und Belehrungspflichten (Satz 2). Den Schluss bildet der Satz „Hat eine Verständigung nicht stattgefunden, so ist auch dies im Protokoll zu vermerken“ (Satz 3). Dieser Vermerk erhielt schon früh einen treffenden Namen: er heißt Negativattest. Sinn, Bedeutung und Tragweite des Negativattests sind umstritten. Der Streit hatte bereits im Gesetzgebungsverfahren begonnen; wir schildern deshalb zunächst, wie es im Rahmen der Entstehung des VerstG zur Einführung des Negativattestes gekommen ist.

2. Die Entstehungsgeschichte Bereits der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums (Stand 18.5.2006)1 enthielt den neuen Abs. 1a des § 273 StPO), sah also auch das Negativattest vor, erwähnte es allerdings nicht in der Begründung. Von dort aus gelangte die Vorschrift unverändert in den Gesetzentwurf der Bundes-

1 Abgedruckt in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010 (im folgenden N/Sch/W VerstG) Anhang 4.

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regierung (BT-Drucks. 16/12310, Art. 1 Nr. 10 b, S. 62), aus dem das VerstG hervorgegangen ist; in der Begründung dieses Entwurfs heißt es hierzu (S. 15): „Das in Satz 3 vorgesehene „Negativattest“, dass eine Verständigung nicht stattgefunden hat, dient dazu, mit höchst möglicher Gewissheit und auch in der Revision überprüfbar die Geschehnisse in der Hauptverhandlung zu dokumentieren und auszuschließen, dass „stillschweigend“ ohne Beachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten solche Verhaltensweisen stattgefunden haben.“ Der Bundesrat lehnte – einem Antrag des Landes Berlin folgend (BRDrucks. 65/02/09) – die Einführung des Negativattests ab und begründete dies wie folgt (Stellungnahme, BT-Drucks. 16/12310 Anlage 3 S. 19): „Eine Regelung, welche die Protokollierung einer nicht erfolgten Absprache vorsieht, ist weder zweckmäßig noch steht sie im Einklang mit der Systematik der Regelungen zum Strafverfahren. Die erhebliche Relevanz einer Verständigung ist den Prozessbeteiligten in jeder Lage des Strafverfahrens bewusst. Damit ist die Gefahr, dass „stillschweigend“ ohne Beachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten die in Rede stehenden Erörterungen und Verhaltensweisen stattgefunden haben, verschwindend gering. Vielmehr greift hier die negative Beweiskraft des Protokolls, wenn sich dieses nicht zu einer Verständigung verhält. Ein „Negativattest“ erscheint systemwidrig, da das Protokoll den Gang der Hauptverhandlung abbilden soll. Nicht stattgefundene Gespräche und Verständigungen sind jedoch nicht Teil einer solchen.“ Damit setzte sich der Bundesrat indessen nicht durch. Die Bundesregierung beharrte auf der vorgesehenen Regelung, ging auf die Einwände des Bundesrates nicht ein und wiederholte nur ihre Begründung (Gegenäußerung, BT-Drucks. 16/12310 Anlage 4 S. 22); Abs. 1a des § 273 StPO wurde daher mitsamt der Einführung des Negativattestes Gesetz.

3. Die Aussage des Negativattests Bevor sich die Frage stellt, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn im Protokoll ein Negativattest steht oder fehlt, muss geklärt werden, welche Aussage es enthält. Das scheint einfach zu sein: bescheinigt wird, dass „eine Verständigung nicht stattgefunden“ hat. Was aber in diesem Zusammenhang eine „Verständigung“ ist, wird unterschiedlich beurteilt.

2

Abgedruckt in N/Sch/W VerstG Anhang 7.

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Brand/Petermann3 meinen, zur „Verständigung“ im Sinne der Vorschrift gehörten auch die Verhandlungen, die – womöglich ohne Erfolg - in dem Bestreben geführt worden sind, eine Absprache zustande zu bringen. Sie begründen dies mit dem Hinweis, im Gesetzeswortlaut heiße es nicht „Ist eine Verständigung nicht zustande gekommen“, sondern „Hat eine Verständigung nicht stattgefunden“. Dies Argument überzeugt nicht. Dass es einmal „zustande gekommen“, das andere mal „stattgefunden“ heißt, rechtfertigt es nicht, dem Wort „Verständigung“ jeweils verschiedene. Bedeutungen beizulegen; eine Verständigung, die stattgefunden hat, ist auch zustande gekommen. Eine Einbeziehung der Verhandlungen in den Begriff der Verständigung widerspricht überdies der Terminologie des Gesetzes. Wo das Gesetz von Verständigung spricht, meint es fast ausnahmslos4 das Ergebnis des Einigungsprozesses der Beteiligten, nicht etwa auch diesen Prozess selbst. Deutlich macht das vor allem die Zentralnorm des Gesetzes. Wenn in § 257c StPO die Rede ist vom „Gegenstand dieser“ und „Bestandteil jeder Verständigung“ (Abs. 2 Sätze 1 – 3), von deren „Inhalt“ (Abs. 3 Satz 1), vom Zustandekommen der „Verständigung (Abs. 3 Satz 4) und von der „Bindung des Gerichts an eine Verständigung“ (Abs. 4 Satz 1), so schließt der damit gebrauchte Begriff der Verständigung die vorangegangenen Verhandlungen gerade nicht mit ein, sondern bezeichnet allein deren Resultat, die Absprache über das Verfahrensergebnis. Nicht anders ist der Begriff in § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO zu verstehen. Als nächstes stellt sich die Frage, ob der hier gebrauchte Begriff der Verständigung auch solche Absprachen mitumfasst, die außerhalb der Hauptverhandlung – sei es davor, sei es während ihres Verlaufs – getroffen worden sind. Dies ist zu verneinen5. Das Negativattest gibt darüber keine Auskunft. Zum einen folgt das bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes. Zwar fügt das Gesetz dem Wort „Verständigung“ in § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO nicht den an anderen Stellen (§§ 35a Satz 3, 243 Abs. 4 Satz 1, 267 Abs. 3 Satz 5, 302 Abs. 1 Satz 2 StPO) verwendeten Zusatz „(§ 257c)“ an, mit dem jeweils klargestellt ist, dass es sich um eine in der Hauptverhandlung getroffene Verständigung handelt; jedoch lässt sich daraus nicht 3

NJW 2010, 268, 270. Die einzige Ausnahme bildet § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO, soweit es dort heißt, das Protokoll müsse außer dem wesentlichen Ablauf und Inhalt auch das „Ergebnis einer Verständigung“ wiedergeben; nur hier wird das Wort „Verständigung“ im Sinne der Beschreibung des ’SichVerständigens’ gebraucht, Niemöller in N/Sch/W VerstG § 273 Rn. 13. 5 Becker in LR StPO 26. Aufl. § 243 Rn. 52d; Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 273 Rn. 12c; Peglau in BeckOK StPO § 273 Rn. 21; Niemöller in N/Sch/W VerstG § 273 StPO Rn. 16; a.A. Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2630 und Brand/Petermann NJW 2010, 268, 270, die zu Unrecht annehmen, die Aussage des Negativattests beziehe sich auch auf vor und außerhalb der Hauptverhandlung zustande gekommene Verständigungen. 4

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schließen, dass dem Begriff in § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO eine weiterreichende Bedeutung zukommen soll als zwei Sätze vorher (§ 273 Abs. 1a Satz 1 StPO). Wo immer das Gesetz von Verständigung spricht, meint es auch dort, wo es auf den bezeichneten Zusatz – vermutlich der besseren Lesbarkeit halber – verzichtet (§ 257c Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Sätze 1 und 4, Abs. 4 Satz 1 StPO), nur die in der Hauptverhandlung zustande gekommene. Es kennt gar keine andere. Alles, was vor oder sonst außerhalb der Hauptverhandlung mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht besprochen oder verhandelt wird, erfasst es hingegen mit dem Begriff der Erörterung (§§ 160b, 202a, 243 Abs. 4, 257b, 273 Abs. 1 Satz 2 StPO). Zum zweiten wird dies Verständnis auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs, wie sie bereits zitiert worden ist, soll die Einführung des Negativattests dazu dienen, die „Geschehnisse in der Hauptverhandlung“ zu dokumentieren. Der Satz, in dem dies geschrieben steht, fährt allerdings fort „und auszuschließen, dass „stillschweigend“ ohne Beachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten solche Verhaltensweisen stattgefunden haben“. Dass mit diesen „Verhaltensweisen“ auch ein Geschehen außerhalb der Hauptverhandlung gemeint sein sollte, ergibt sich daraus jedoch nicht. Zum dritten – und dies ist entscheidend – kann das Protokoll, in dem das Negativattest zu erscheinen hat, stets nur die Hauptverhandlung mit den für ihren gesetzmäßigen Ablauf wesentlichen Gegebenheiten und Vorgängen dokumentieren. Das verdeutlicht bereits die Überschrift des § 273 StPO („Beurkundung der Hauptverhandlung“). Was außerhalb der Hauptverhandlung geschehen oder unterblieben ist, liegt außerhalb seiner durch diesen Zweck begrenzten Reichweite und scheidet als möglicher Gegenstand einer Protokollierungspflicht von vornherein aus6. Das muss schon deshalb so sein, weil jedenfalls der Urkundsbeamte, der mit seiner Unterschrift Mitverantwortung für die Richtigkeit des Protokolls übernimmt, also für die Übereinstimmung der Protokollaussagen mit dem Verhandlungsgeschehen einstehen muss, stets nur bezeugen kann, was er in der Hauptverhandlung erlebt hat. Was sich außerhalb der Hauptverhandlung ereignet oder nicht ereignet hat, entzieht sich seiner Wahrnehmung. Er kann solche Vorgänge oder ihr Unterbleiben – um eine diplomatische Floskel zu gebrauchen - weder bestätigen noch dementieren. Daher kann es auch das Protokoll nicht und mithin ebenso wenig ein darin enthaltenes Negativattest. Daran ändert auch nichts, dass der Gesetzgeber dem Attest womöglich eine weiterreichende Aussagekraft beimessen wollte – dann hätte er freilich verkannt, dass dies wegen der begrenzten Reichweite

6

Schlüchter/Frister in SK-StPO § 274 Rn. 4.

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des Protokolls, das nur die Hauptverhandlung dokumentiert, nicht zu erreichen war7. Demzufolge ist in das Protokoll ein Negativattest auch dann aufzunehmen, wenn sich die Verfahrensbeteiligten außerhalb der Hauptverhandlung über das Verfahrensergebnis „verständigt“, also eine unzulässige Absprache getroffen haben. Ob das Gericht oder der Vorsitzende eine solche Absprache – sei es von Amts wegen, sei es auf Nachfrage – in der Verhandlung offen zu legen hat und welche Rechtsfolgen die Verletzung einer derartigen Pflicht gegebenenfalls hätte, ist eine andere Frage, die in diesem Zusammenhang nicht interessiert. Hier geht es allein darum, den Aussagegehalt des Negativattests zu bestimmen, und dieser erschöpft sich – wie hiermit dargetan ist – darin, dass es nur und ausschließlich bezeugt, eine Verständigung in der Hauptverhandlung habe nicht stattgefunden.

4. Zur Frage der Beweiskraft des Negativattests Nachdem damit geklärt ist, was das Negativattest im Protokoll aussagt, stellt sich die Frage, wie sich seine Aussage zum Protokoll und dessen Aussageanspruch verhält. Dabei sei zunächst ein Einwand genannt, der schon gegen die Einführung des Negativattests vorgebracht worden ist und, wiewohl er nichts ausgerichtet hat, jedenfalls deshalb Interesse verdient, weil er die Funktion des Protokolls in den Vordergrund rückt. Der Bundesrat hatte – wie schon erwähnt – das Negativattest als „systemwidrig“ qualifiziert und zur Begründung ausgeführt, das Protokoll solle „den Gang der Hauptverhandlung abbilden“. „Nicht stattgefundene Gespräche und Verständigungen“ seien jedoch nicht „Teil einer solchen“, gehörten also nicht dazu. Meyer-Goßner8 hat diesen Einwand aufgenommen und bündig bemerkt, das Protokoll solle „dokumentieren, was geschehen, nicht aber das, was nicht geschehen ist“9. Wir wollen diese Begründung, gegen die wir an anderer Stelle Bedenken erhoben haben10, hier nicht weiter erörtern, sie aber zum Anlass nehmen, die Aussageund Beweisfunktion des Protokolls näher ins Auge zu fassen. Das Hauptverhandlungsprotokoll entfaltet im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Eintragungen Aussage- und Beweiskraft in doppelter Hinsicht. Danach gilt - unter Ausschluss anderer Beweismittel - als geschehen, 7

Niemöller in N/Sch/W VerstG § 273 StPO Rn. 16. Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 273 Rn. 12c. 9 Ebenso Gemählich in KMR StPO, 56. Erg.Lfg. November 2009, § 273 Rn. 7y; dagegen v. Heintschel-Heinegg KMR § 257c Rn. 44. 10 Niemöller in N/Sch/W VerstG § 273 Rn. 28. 8

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was das Protokoll als geschehen bezeugt (positive Beweiskraft), und als unterblieben, was es verschweigt (negative Beweiskraft)11. Das besagt § 274 StPO, der alle denkbaren Fälle erfasst und nirgends Lücken lässt. Zu diesem Vollständigkeitsanspruch, der dem Protokollinhalt damit beigelegt ist, tritt das Negativattest aber in Konkurrenz, weil auch eine Verständigung protokolliert werden muss (§ 273 Abs. 1a Satz 1 StPO) und daher schon das Schweigen des Protokolls mit negativer Beweiskraft gegen eine Verständigung spricht12. Die Frage, ob eine Verständigung zustande gekommen ist, wird damit innerhalb des Protokolls von zwei Seiten her beantwortet. Die Antworten stimmen zwar bei korrekter Protokollierung stets überein – sie können aber bei fehlerhafter Protokollierung auch differieren. Wir wollen dies sogleich näher erläutern, indem wir die Konkurrenzfälle nennen, um sie sodann zu bewerten. Dabei soll uns nicht sonderlich kümmern, was wirklich geschehen oder unterblieben ist; wir beschränken uns vielmehr auf das, was im Protokoll verlautbart ist und was nicht. Wie das folgende Schema veranschaulicht, sind vier Kombinationen möglich. Negativattest steht

Protokoll bezeugt

1

im Protokoll

keine Verständigung

2

nicht im Protokoll

Verständigung

3

im Protokoll

Verständigung

4

nicht im Protokoll

keine Verständigung

Bei Betrachtung dieser Kombinationen wird sofort klar, dass in den Fällen 1 und 2 die Aussagen übereinstimmen. Wir können diese Fälle als Konsensfälle bezeichnen. Ein Negativattest, das im Protokoll steht, besagt dasselbe, was das Protokoll - mit negativer Beweiskraft - dadurch zum Ausdruck bringt, dass es keine Verständigung ausweist (Fall 1)13. Bezeugt das Protokoll – mit positiver Beweiskraft - eine Verständigung, so stimmt diese Aussage wiederum mit dem Fehlen des Negativattests überein (Fall 2). Bei korrekter Protokollierung treten nur diese beiden Fälle auf – es sind 11

Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 274 Rn. 12 ff. So vor dem VerstG schon BGH NStZ 2007, 355; Brand/Petermann NJW 2010, 268, 270 sehen in der Einführung des Negativattests eine Durchbrechung der negativen Beweiskraft des Protokolls, da nun dessen Schweigen nicht mehr zum Nachweis des Fehlens einer Verständigung ausreiche. Das überzeugt aber nicht. Unerklärt bleibt, welchen Sinn eine Operation haben soll, die darin besteht, die negative Beweiskraft des Protokolls zu beseitigen, um sie sogleich durch eine positive Beweiskraft des Negativattests zu ersetzen. Das gleicht dem Verhalten eines Arztes, der einen Gesunden verletzt, um ihn dann heilen zu können. 13 BGH StV 2010, 346. 12

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dies also die Regelfälle. In beiden Fällen kommt der Erteilung oder Nichterteilung des Negativattests aber keine Bedeutung zu, die über das hinausreicht, was das Protokoll ohnehin mit Beweiskraft bezeugt. Die Aussagen des Protokolls werden durch das Negativattest oder dessen Fehlen bloß verdoppelt – das Negativattest ist insoweit redundant, also überflüssig. Anders verhält es sich in den Fällen 3 und 4. Dies sind die Ausnahmefälle, in denen die Protokollierung fehlerhaft war. Im Fall 3 ist offensichtlich, dass sich die Aussage des Negativattests nicht mit der Protokollierung einer Verständigung verträgt. Es liegt ein offener Dissens vor. Die positive Beweiskraft, die das Protokoll für eine darin beurkundete Verständigung reklamiert, kollidiert mit einem etwaigen Anspruch des Negativattests, Beweis für das Fehlen einer Verständigung zu erbringen. Hier steht „Aussage gegen Aussage“. Der darin liegende Widerspruch nimmt dem Protokoll in puncto Verständigung die Beweiskraft14. Der Fall wird allerdings in der Praxis kaum vorkommen. Wo er aber doch einmal auftritt, beruht er im Zweifel auf einem Versehen, das Anlass zu einer Protokollberichtigung gibt. Vorsitzender und Urkundsbeamter werden sich dabei ohne große Mühe darauf einigen können, welcher der miteinander unvereinbaren Einträge der richtige ist, und dies wird aller Wahrscheinlichkeit nach stets derjenige sein, der eine Verständigung dokumentiert15. Die Berichtigung besteht dann in der Löschung des Negativattests. Im Fall 4 verhält es sich anders. Hier enthält das Protokoll zur Frage des Zustandekommens einer Verständigung gar keinen Eintrag – es schweigt. Einerseits bedeutet dies Schweigen des Protokolls aufgrund seiner negativen Beweiskraft, dass es eine Verständigung nicht gegeben hat. Hätte jedoch andererseits auch das Fehlen des Negativattests Beweiskraft, dann würde sich diese Beweiskraft auf die „Botschaft“ beziehen, dass doch eine Verständigung zustande gekommen sei, wobei deren Inhalt allerdings unbestimmt bliebe. Das wäre ein versteckter Dissens. Eine Beweiskraft, die dem Fehlen des Negativattests zukäme, träte zur negativen Beweiskraft des schweigenden Protokolls in Widerspruch. Auch dieser Widerspruch würde das Protokoll im entscheidenden Punkte entwerten; denn das Protokoll gäbe dann keine beweiskräftige Auskunft darüber, ob eine Verständigung zustande gekommen ist oder nicht. Zwar ließe sich dieser Widerspruch ebenfalls im Wege einer Protokollberichtigung beheben – dazu reicht es stets aus, dass Vorsitzender und Urkundsbeamter das Protokoll für unrichtig halten und darin übereinstimmen, was wirklich geschehen oder unterblieben 14

Statt aller Engelhardt in KK StPO 6. Aufl. § 274 Rn. 11 m. w. N. Die protokollarische Wiedergabe einer Verständigung ist schon ihrem Inhalt nach „aussagestärker“ und hat darum allemal eher die Vermutung der Richtigkeit für sich als ein im selben Protokoll erscheinendes, in Widerspruch dazu stehendes Negativattest. 15

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ist16. Die Chancen dafür stünden jedoch schlecht, zum einen deshalb, weil der Widerspruch hier – anders als im Fall 3 – nicht offen zutage liegt, zum anderen aber auch deshalb, weil die Berichtigung in diesem Fall nur dadurch geschehen könnte, dass im Protokoll neue Einträge gemacht werden. Ließe sich das noch relativ einfach erreichen, wenn das Protokoll nur durch Hinzufügung eines „vergessenen“ Negativattests ergänzt werden müsste, so würde es, wäre eine tatsächlich zustande gekommene Verständigung nicht protokolliert, regelmäßig Schwierigkeiten bereiten, sie mit ihrem gesamten Inhalt nachträglich in das Protokoll einzufügen. Dass sich beide Urkundspersonen sicher an den genauen Inhalt der Verständigung erinnern, ist meist nicht zu erwarten, versteht sich jedenfalls nicht von selbst. Daher dürfte eine entsprechende Protokollberichtigung in diesem Fall nur selten gelingen. Wahrscheinlicher ist, dass sie mangels zuverlässiger und übereinstimmender Erinnerung der Urkundspersonen entweder gar nicht erst versucht wird oder, wo sie versucht wird, scheitert und damit der beschriebene Widerspruch unaufgelöst bleibt. Kommt es aber im Revisionsverfahren darauf an, ob eine Verständigung stattgefunden hat, so müsste das Revisionsgericht angesichts der hierzu widersprüchlichen Aussagen des Protokolls den Versuch unternehmen, diese Frage im Freibeweisverfahren17 zu klären18. Dieses Verfahren ist umständlich, zeitraubend und bietet im übrigen auch keine sichere Garantie für die Erzielung eindeutiger Ergebnisse19. Die Beweisführung besteht hier 16

Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 271 Rn. 23 m. w. N. Der BGH vertritt die Ansicht, nach gescheiterter Protokollberichtigung dürfe „eine offensichtliche Lückenhaftigkeit des Protokolls, die abweichende Feststellungen im Freibeweisverfahren zuließe, ... lediglich in Fällen krasser Widersprüchlichkeit des Protokolls ... angenommen werden“ (BGH StV 2010, 171 f. Tz. 7). Abgesehen davon, dass er hier Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit miteinander vermengt, kann seiner Ansicht, dass nur „krasse“ Widersprüche im Protokoll den Weg ins Freibeweisverfahren eröffnen, nicht gefolgt werden. Für eine solche Beschränkung gibt es keinen Grund. Vielmehr müssen alle Protokollwidersprüche, ob „krass“ oder nicht, behoben werden, wenn sie einen im Revisionsverfahren erheblichen Vorgang betreffen. Ist dies durch Protokollberichtigung nicht zu erreichen, dann führt am Freibeweisverfahren kein Weg vorbei. Für den Fall, dass sich auch dabei keine Klärung ergibt, siehe Fn. 19. 18 Das würde sich nur erübrigen, wenn die Protokollierung der Verständigung als Formbedürfnis zu gelten hätte, also Voraussetzung ihrer Wirksamkeit wäre. Das lässt sich jedoch nicht annehmen, da nach dem Gesetzeswortlaut die Verständigung (schon) dadurch (wirksam) zustande kommt, dass Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichts zustimmen (§ 257c Abs. 3 Satz 4 StPO). 19 Für Freibeweis OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 2010, 213. Bleibt auch nach Durchführung des Freibeweisverfahrens offen, ob eine Verständigung zustande gekommen ist (Non liquet), so kann im Revisionsverfahren die Rüge eines Beschwerdeführers, der sich auf sie beruft, keinen Erfolg haben, da ein Verfahrensverstoß nur dann zur Urteilsaufhebung führt, wenn er bewiesen ist, Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 337 Rn. 10 m. w. N. 17

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regelmäßig darin, dass Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten eingeholt werden, insbesondere dienstliche Erklärungen der Richter, des Staatsanwalts und des Urkundsbeamten. Alle befragten Personen sind zwar nicht formell, aber der Sache nach Zeugen, die über Vorgänge der Hauptverhandlung berichten sollen. Sie sind dabei auf ihre Wahrnehmung und ihr Gedächtnis angewiesen. Ihre Erinnerung kann, soweit sie sich nicht auf Mitschriften oder Aufzeichnungen stützt, oft schon verblasst oder beeinträchtigt sein. Das wird vor allem für die professionellen Akteure (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Nebenklägervertreter, Urkundsbeamter) zutreffen, weil die Teilnahme an einer Hauptverhandlung für sie kein einmaliges Erlebnis ist, sondern zur beruflichen Routine gehört. Hinzu kommt, dass in dem Zeitpunkt, zu dem das Freibeweisverfahren beginnen würde, die Hauptverhandlung in der Regel schon länger zurückliegt und die Erinnerung durch den Zeitablauf womöglich geschwunden ist oder gelitten hat. Sie kann außerdem, ohne dass der Auskunftsperson dies bewusst sein muss, durch deren Interesse am Ergebnis des Beweisverfahrens verfälscht worden sein („Befangenheitsmakel“). Aus all diesen Gründen wird es in den Darstellungen der Befragten nicht selten zu Abweichungen kommen, die sich schon darauf beziehen können, ob eine Verständigung überhaupt zustande gekommen ist, viel eher und mit noch größerer Wahrscheinlichkeit aber darauf, was, wenn eine Verständigung allseits als getroffen bezeugt wird, eigentlich ihr Inhalt und Gegenstand war. Selbst wenn jedoch Ermittlungen im Freibeweis schließlich zu einem Ergebnis führen würden, könnte erst ihr Ausgang darüber entscheiden, ob etwa ein vorher erklärter Rechtsmittelverzicht des Angeklagten wirksam war oder nicht (§ 302 Abs. 1 Satz 2 StPO20. Bis dahin, im Zweifel nach Ablauf der Rechtsmittelfrist, bliebe der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft des Urteils ungewiss – eine missliche, mit den Anforderungen der Rechtsklarheit kaum zu vereinbarende Folge. Die Intention des Gesetzgebers, der mit der Einführung des Negativattests die Absicht verfolgt hat, in der Frage, ob es eine Verständigung gab, „höchst mögliche Gewissheit“ und „Überprüfbarkeit in der Revision“ herzustellen, würde verfehlt, wenn dies erst im Freibeweisverfahren geklärt werden könnte21, da dieses Verfahren eben nicht das „höchst mögliche“ Maß an Gewissheit erbringt, wie es eine unmittelbar dem Protokoll zu entnehmende, mit positiver oder negativer Beweiskraft ausgestattete Auskunft verbürgt. Dem Gesetzgeber ging es aber ersichtlich nicht darum, die Aussage- und Beweiskraft des Protokolls zu schwächen – eher hat er gemeint, sie

20 Nach dieser, durch das VerstG eingefügten Vorschrift ist ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen, wenn dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen ist. 21 Niemöller in N/Sch/W VerstG § 273 StPO Rn. 30.

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mit der Einführung des Negativattests noch verstärken zu können. Das allerdings war – wie hiermit gezeigt sein dürfte – eine Fehleinschätzung.

5. Conclusio: Keine Beweiskraft des Negativattests Wir fassen am Ende dieser Überlegungen nochmals zusammen: Spricht man dem Negativattest und seinem Fehlen Beweiskraft zu, so kommt es in den Fällen 1 und 2 zur Beweisverdoppelung, in den Fällen 3 und 4 zu Widersprüchen im Protokoll. Im Fall 3 lässt sich der offensichtliche Widerspruch regelmäßig durch Protokollberichtigung ausräumen, im Fall 4 führt der versteckte Dissens jedoch meistens zum Freibeweisverfahren. Diese Folgen sind unbefriedigend. Sie lassen sich aber sämtlich vermeiden, wenn man sich dazu entschließt, dem Negativattest und seinem Fehlen jegliche Beweiskraft abzuerkennen22. Wir halten dies für die einzig richtige Lösung23. Damit entfällt in den Fällen 1 und 2 die Beweisverdoppelung, mit der niemand etwas anfangen kann und die insbesondere auch das Revisionsgericht nicht benötigt. Es bewendet stattdessen beim „einfachen“ Beweis durch das redende oder schweigende Protokoll. Im Fall 3 stellt sich die Frage der Beweiskraft des Negativattests ohnehin nicht, weil der offensichtliche Widerspruch durch Protokollberichtigung zu beheben ist. Im Fall 4 bleibt, wenn dem Fehlen des Negativattests keine Beweiskraft zukommt, allein das Schweigen des Protokolls maßgebend, durch das mit negativer Beweiskraft bezeugt wird, dass keine Verständigung zustande gekommen ist24. Damit ist in allen denkbaren Fällen die Frage des Vorliegens einer Verständigung schon durch das Protokoll entschieden und dem Anliegen des Gesetzgebers, in diesem Punkt Gewissheit und Überprüfbarkeit zu garantieren, vollauf Genüge getan. Die Annahme, dem Negativattest und 22 Denkbar wäre es allerdings auch, nur dem erteilten Negativattest, nicht aber seinem Fehlen Beweiskraft beizumessen. Dann fiele zwar nicht im Fall 1, aber im Fall 2 die Beweisverdoppelung fort, im Fall 3 würde sich dagegen nichts ändern, im Fall 4 käme es jedoch nicht zum Freibeweisverfahren. Doch wäre dies bloß eine Teillösung, die zudem innerhalb des Protokolls, das ansonsten positive und negative Beweiskraft entfaltet, einen Sonderbereich „halber Beweiskraft“ entstehen ließe. 23 A. A. BGH StV 2010, 346 (für die Konstellation des Falls 1). Bereits in der Kommentierung des VerstG haben wir – nicht ganz so radikal - die Ansicht vertreten, dem Negativattest komme „jedenfalls dort“ keine Beweiskraft zu, „wo das Protokoll das Gegenteil bezeugt und beweist“, Niemöller aaO (Fn. 21). 24 Diese Auffassung teilt anscheinend auch der BGH, wie sich daraus ergibt, dass er in einem Fall, in dem das Protokoll keine Verständigung, sondern nur eine Unterbrechung der Hauptverhandlung „zum Zwecke eines Rechtsgesprächs“ auswies, das Fehlen eines Negativattests für „unschädlich“ erklärt hat, BGH, Beschl. v. 17. 2. 2010 – 2 StR 16/10.

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seinem Fehlen komme Beweiskraft zu, könnte dem nichts hinzufügen. Die Ablehnung dieser Ansicht führt somit auch nicht zu einer Schwächung der Beweiswirkungen des Protokolls, sondern sorgt im Gegenteil für klare Verhältnisse, indem sie nur gelten lässt, was das Protokoll - ohne Rücksicht auf ein erteiltes oder fehlendes Negativattest - sagt und verschweigt.

6. Schlussbemerkung Bei diesem Resultat unserer Untersuchung stellt sich am Schluss die Frage, welchem Zweck ein Negativattest, das im Protokoll erteilt werden muss, denn noch dienen kann, wenn es an dessen Beweiskraft nicht teilhat. Brand/Petermann25 haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es nicht zulässig ist, eine Rechtsnorm so auszulegen, dass ihr kein Anwendungsbereich mehr verbleibt. Dieser Einwand verfängt hier jedoch nicht. Wir haben an anderer Stelle26 dem Negativattest eine Disziplinierungs- und Offenlegungsfunktion zuerkannt, um ihm damit eine sinnvolle „Restfunktion“ zu erhalten. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass dem Gesetzgeber mehr und anderes vorgeschwebt hat: es ging ihm wohl zuvörderst darum, die Aussage- und Beweiskraft des Protokolls in puncto Verständigung noch zu erweitern und zu verstärken. Dieses Ziel war indessen – wie dargelegt – nicht zu erreichen. Alles in allem ist das Negativattest eine systemfremde Fehlkonstruktion, die sich mit dem Vollständigkeitsanspruch des Protokolls nicht verträgt. Wo es Protokollaussagen verdoppelt, ist es überflüssig, wo es sie dementiert, schädlich, und gleiches gilt für entsprechende Wirkungen seines Fehlens. Der Gesetzgeber hat sich dieser Einsicht verschlossen. Bundesregierung und Bundestag haben die gewichtigen, in die richtige Richtung weisenden Argumente des Bundesrats nicht ernstlich erwogen, insbesondere nicht zum Anlass genommen, die beabsichtigte Regelung noch einmal gründlich zu überdenken. Wäre dies geschehen, dann hätte man auf die Einführung des Negativattests wahrscheinlich - und sicher zu Recht – verzichtet.

25 26

NJW 2010, 268, 269. Niemöller in N/Sch/W VerstG § 273 Rn. 31.

Einige verfassungsrechtliche Gedanken zum Tatbestand der Marktmanipulation1 TIDO PARK

I. Einleitung Bei der Marktmanipulation gem. § 38 Abs. 2 i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 11 i.V.m. § 20a WpHG handelt es sich um einen Straftatbestand, dessen Handhabung aufgrund seiner komplexen mehrstufigen Tatbestandsstruktur nicht einfach ist. Die Strafvorschrift war von Anfang an erheblicher Kritik ausgesetzt – auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Problematisch erscheint das strafrechtliche Verbot der Marktmanipulation wegen einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe und einer umständlichen Regelungssystematik2 insbesondere in Bezug auf die Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot und mit dem Parlamentsvorbehalt sowie wegen einer unklaren verwaltungsrechtlichen Beweisverteilung in § 20a Abs. 2 S. 2 WpHG im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der strafrechtlichen Unschuldsvermutung. Zusätzlich wirft der Straftatbestand die Frage nach der verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeit auf, weil nach der gesetzlichen Konstruktion die Strafbarkeit eines Marktverhaltens von einer (auch nachträglichen) Anerkennung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) abhängig sein kann. Das BVerfG musste sich bisher zu diesen noch ungeklärten Fragen nicht äußern. Mit dem vorliegenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die verfassungsrechtliche Problematik etwas zu erhellen.

1 Für ihre wertvolle Unterstützung danke ich Herrn RA Tobias Eggers und Frau Ref. Dr. Anna Albrecht. 2 Von Tripmaker, wistra 2002, 288 (291) als „umständliche Verweisungstechnik“ und „kaum nachvollziehbare Normenkette“, von Moosmayer, wistra 2002, 161 (168) allgemein als „Tatbestandskaskaden“ bezeichnet.

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II. § 20a WpHG in Ansehung von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot § 20a WpHG regelt das Verbot der Marktmanipulation als abstrakte Verbotsnorm. Die dort genannten Verhaltensweisen sind über die Verweisungstatbestände aus § 39 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 11 WpHG bußgeldbewehrt. Dasselbe Verhalten stellt gem. § 38 Abs. 2 WpHG eine Straftat dar, wenn ein einziges Merkmal hinzutritt, und zwar die tatsächliche Einwirkung auf den Börsen- oder Marktpreis. Da es sich bei diesen Straf- und Bußgeldvorschriften um Blankettnormen handelt, die (zunächst) maßgeblich durch die abstrakte Verbotsnorm des § 20a WpHG ausgefüllt werden, kommt es für die Bestimmung der Reichweite strafbaren bzw. ordnungswidrigen Verhaltens vor allem auf den Inhalt des § 20a WpHG an.

1. Normstruktur und Zielsetzung des § 20a WpHG § 20a Abs. 1 WpHG stellt mehrere Verbotstatbestände unzulässiger Marktpraktiken auf. Abs. 2 schließt dieses Verbot für solche Praktiken aus, die einerseits vernünftigerweise erwartbar und zusätzlich von der BaFin ausdrücklich als zulässig anerkannt sind. Abs. 3 beinhaltet die sog. SafeHarbour-Regelung, wonach einige wenige Verhaltensweisen, die einer bestimmten EG-Verordnung entsprechen, keinesfalls verboten sein können. Die Vorschrift enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe3, denen – wie dies bei unbestimmten Rechtsbegriffen stets mehr oder weniger der Fall ist – eine gewisse Unschärfe anhaftet, wodurch die Auslegung und die Normanwendung erschwert werden. Um diesen Schwierigkeiten entgegen zu wirken, ist in Abs. 5 eine Ermächtigung für das Bundesfinanzministerium vorgesehen, bestimmte, enumerativ aufgezählte Tatbestandsmerkmale durch eine Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundesrates bedarf, zu konkretisieren.4 Noch weiter gehend lässt Satz 2 des § 20a Abs. 5 WpHG sogar eine Delegation dieser Verordnungsermächtigung auf die BaFin zu, die dann ihrerseits im Einvernehmen mit den Börsenaufsichtsbehörden der Länder eine entsprechende Verordnung erlassen kann. Hintergrund für dieses komplizierte Regelungsgefüge aus unbestimmten Rechtsbegriffen, Anerkennungsmöglichkeiten der BaFin, Safe-HarbourRegelungen und der Konkretisierungsbefugnis im Verordnungswege durch 3 Um nur einige zu nennen: „bewertungserhebliche Umstände“, „zur Einwirkung auf den Börsen- oder Marktpreis geeignet“ oder „falsche oder irreführende Signale“. 4 Das WpHG enthält weitere Verordnungsermächtigungen, die ebenso mittelbar zu einer Strafbarkeit führen (vgl. etwa § 34b WpHG), jedoch konkreter und hinsichtlich ihrer Bestimmtheit weniger problematisch gefasst sind. Die Ermächtigungen des § 20a WPHG sollen daher als Beispiel dienen.

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das Bundesfinanzministerium, das diese auch noch an die BaFin übertragen kann, war die besondere Dynamik kapitalmarktbezogener Geschäfte mit sich häufig kurzfristig verändernden und erneuernden Produkten und Geschäftsformen – auch solchen mit manipulativem Einschlag.5 Soweit diese für straf- bzw. bußgeldbedürftig gehalten wurden, aber mit den bestehenden Straf- und Bußgeldvorschriften nicht oder nicht vollständig zu erfassen waren, lief der Gesetzgeber der Entwicklung auf den Märkten regelmäßig hinterher. Mit der gestuften Verordnungsermächtigung des § 20a Abs. 5 WpHG erhoffte er sich eine größere Flexibilität bei der Reaktion auf neue Manipulationstechniken.6 Es sollte kurzfristig reagiert werden können, ohne die mit einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren verbundene Verzögerung hinnehmen zu müssen.7 Damit hat der Gesetzgeber einen Vorschlag der Europäischen Kommission für eine „Richtline über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch)“ vom 30.05.20018 aufgegriffen, die ihrerseits an den amerikanischen bundesrechtlichen Regelungen zur Wertpapierregulierung, dem Securities Act von 1933 und dem Securities Exchange Act von 1934, orientiert ist.9 Ebenso wie im eigentlichen Kapitalmarktrecht haben diese Einflüsse auch auf dem Feld des Kapitalmarktstrafrechts zu intensiven und bisweilen durchaus hektischen gesetzgeberischen Aktivitäten in Deutschland geführt.10 Durchaus zutreffend ist der Befund, dass sich sowohl der europäische Richtlinien- und Verordnungsgeber als auch der bundesdeutsche Gesetz- und Verordnungsgeber in der ständigen Änderung strafrechtlicher Normen und deren verwaltungsrechtlicher Ge- und Verbote geradezu überschlagen.11 Das Credo „Gut` Ding will Weile haben“ scheint dabei etwas aus dem Blickfeld geraten zu sein; vielmehr entsteht mitunter der Eindruck, Schnelligkeit werde gegenüber Präzision der Vorzug gegeben. Dies mag man angesichts der rasanten Entwicklung von Finanzinstrumenten als politisch geboten ansehen. Die Frage aber, ob eine derart unübersichtliche Regelungstechnik verfassungsrechtlich zulässig ist, muss unabhängig von reinen Effizienzgesichtspunkten beantwortet werden. Ebenso wie bereits gegen die Vorgängerregelungen sind auch gegen das Regelwerk der §§ 20a, 38, 39 WpHG (mitsamt den in Bezug genommenen

5

Park, NStZ 2007, 369 (370). BT-Drs. 14/8017, S. 90. 7 Park, NStZ 2007, 369 (370). 8 KOM (2001) 281 endg. (Abl. C 240 E. v. 29.8.2001, 265-271). 9 Moosmayer, wistra 2002, 161 (164); Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (512); Park, BB 2003, 1513 (1516). 10 Park, NStZ 2007, 360 (370). 11 Benner, in: Volk (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch Verteidigung in Wirtschaft- und Steuerstrafsachen (2006) Teil C § 22 Rn. 14. 6

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Verordnungen12) verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden, die maßgeblich auf dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot fußen.13 Grund ist, dass hier Blanketttatbestände auf eine Norm mit in hohem Maße unbestimmten Merkmalen verweisen, die ihrerseits durch Rechtsverordnung der Exekutive konkretisiert werden können.

2. Bestimmtheitsgebot und Parlamentsvorbehalt Der Straftatbestand des § 38 Abs. 2 WpHG verweist auf den Bußgeldtatbestand nach § 39 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 bzw. Abs. 2 Nr. 11 WpHG. Diese Blankettnormen wiederum verweisen auf die eigentlich verwaltungsrechtliche Verbotsnorm des § 20a WpHG, die daher nicht nur dem allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art. 20 Abs. 3 GG, sondern auch dem speziellen Bestimmtheitsmaßstab des Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss. Der Grad rechtsstaatlich gebotener Bestimmtheit ist bei Straftatbeständen höher als etwa bei solchen Verwaltungsgesetzen, die im Blick auf die Eigenart der geregelten Materie Raum für die Berücksichtigung zahlreicher im Voraus nicht normierbarer Gesichtspunkte durch die Behörden lassen müssen und die nur dem allgemeinen Bestimmtheitsgebot unterliegen.14 Für den Gesetzgeber gelten im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG insofern deutlich strengere Anforderungen an die gebotene Bestimmtheit.15

a. Dabei ist das Bestimmtheitsgebot eng mit dem grundgesetzlichen Parlamentsvorbehalt verwoben.16 Der Parlamentsvorbehalt verpflichtet den Gesetzgeber, in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, sie nicht anderen Normgebern zu überlassen.17 Auch die Frage, wie genau und bestimmt diese Gesetze sein müssen, richtet sich dann nach der Wesentlichkeit der zu treffenden Ent12 Insb. die Verordnung zur Konkretisierung des Verbotes des Marktmanipulation (Marktmanipulations-Konkretisierungsverordung – MaKonV) v. 1.3.2005, BGBl. I 2300. 13 Benner, (o. Fn. 11) Teil C § 22 Rn. 390; Joecks, wistra 1986, 142 (148); Moosmayer, wistra 2002, 161, 167ff.; Park, BB 2001, 2069 (2071); ders., NStZ 2007, 369 (376); Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (528); Schröder, Aktienhandel und Strafrecht (1994), 60; Sorgenfrei, wistra 2003, 321 (331); ders, in: Park (Hrsg.) Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. (2008), Kap. 4 Rn. 19f.; Streintz/Ohler, WM 2004, 1309 (1314ff.); jedenfalls in Bezug auf § 20a Nr. 3 auch Vogel, in: Assmann/Schneider, WpHG, 5. Aufl. (2009), § 20a Rn. 162; s. auch die Nachweise bei Lenzen, ZBB 2004, 279 (284 Fn. 35). 14 BVerfGE 49, 168 (181). 15 BVerfGE 78, 374 (381). 16 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 10. Aufl. (2009), Art. 20 Rn. 57. 17 BVerfGE 95, 267 (307); 116, 24 (58).

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scheidungen für den Betroffenen, nach dem Sachbereich und dem Regelungsgegenstand.18 Die Anforderungen an die Bestimmtheit wachsen mit der Intensität der Einwirkung auf den Regelungsadressaten.19 Je schwerer die Auswirkungen einer Regelung wiegen, desto genauer müssen die Vorgaben durch den Gesetzgeber sein.20 Verhaltenspflichten müssen konkret, nicht lediglich abstrakt bestimmt sein.21 Im Falle strafrechtlicher Regelungen muss der Einzelne von vornherein aufgrund der gesetzlichen Vorgaben wissen können, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm im Fall des Verstoßes droht.22 Strafnormen müssen umso präziser sein, je schwerer die angedrohte Strafe wiegt. An strafbarkeitsbegründende Merkmale sind dabei höhere Anforderungen zu stellen als an lediglich tatbestandsregulierende Korrektive.23

b. Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit der Vorschrift des § 20a WpHG kann man einerseits unter dem Gesichtspunkt ihrer Blanketteigenschaft haben, da sie ihrerseits auf ein hohes Maß an unbestimmten Rechtsbegriffen verweist. Andererseits erscheint die Verordnungsermächtigung an das Bundesfinanzministerium – sogar mit Subdelegationsbefugnis an die BaFin – bedenklich. Nach der Rechtsprechung des BVerfG bestehen im Grundsatz keine Bedenken gegen die Verwendung von Blankettmerkmalen, sofern diese ihrerseits durch förmliches Gesetz ergänzt werden und die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe entweder aus der verweisenden Vorschrift oder dem Verweisungsziel erkennbar sind.24 Das Strafrecht kann auch nicht darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die in besonderem Maße richterlicher Auslegung bedürfen; andernfalls wäre der Gesetzgeber nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte Herr zu werden.25 Gegen die Verwendung solcher Rechtsbegriffe bestehen daher jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Aussage über die Einschlägigkeit der Norm gewinnen lässt.26 18

BVerfGE 83, 130 (152); 111, 191 (217). BVerfGE 102, 254 (337). 20 BVerfGE 86, 288 (311); 110, 33 (55). 21 Pieroth, in: Jarass/Pieroth (o. Fn. 16), Art. 103 Rn. 51. 22 BVerfGE 78, 374 (381); 105, 135 /153). 23 BVerfGE 73, 206 (238). 24 BVerfGE 75, 329 (342). 25 BVerfGE 11, 234 (237); 26, 41 (42); 75, 329 (342). 26 BVerfGE 45, 363 (372); aA. Pieroth, in: Jarass/Pieroth (o. Fn. 16), Art. 103 Rn. 52. 19

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Schließlich wird auch eine Ermächtigung, Straftatbestände durch Rechtsverordnung konkretisieren zu lassen, grundsätzlich für zulässig erachtet27 und ist dem deutschen Strafrecht nicht fremd. Derartiges ist etwa in § 34 Abs. 1 S. 1 AWG oder § 1 BtMG vorgesehen. Gesetz i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG sind nicht nur solche im formellen Sinne, sondern auch Rechtsverordnungen aufgrund eines Gesetzes, das den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG genügt.28 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dazu in formeller Hinsicht erforderlich, dass die Rechtsverordnung „nur eine ihr aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung gestattete Möglichkeit zur Gesetzesausführung nutzt und (…) dafür sachliche Gründe bestehen“.29 Dies ist im Falle des § 20a Abs. 5 WpHG gegeben; der sachliche Grund liegt hier in dem Erfordernis erhöhter Flexibilität möglicher Reaktionen auf die neuen Entwicklungen des Wertpapiermarktes. In materieller Hinsicht muss der Gesetzgeber selbst die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe bestimmen und der Bürger schon aufgrund des förmlichen Gesetzes die Voraussetzungen und die Art der Strafe voraussehen können.30 Dem Verordnungsgeber darf lediglich der Freiraum für „gewisse Spezifizierungen des Tatbestandes“ gewährt werden.31 Die Bestimmtheitserfordernisse aus Art. 103 Abs. 2 und Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG sind damit – und nicht nur durch die ausdrückliche Bezugnahme der Verordnungsermächtigung auf einzelne Merkmale des § 20a Abs. 1 WpHG – eng verknüpft. Bleibt dem Verordnungsgeber mehr Freiraum als die Regelung gewisser Spezifizierungen, so genügen sowohl die Verbots- als auch die Ermächtigungsnorm weder dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot noch dem Parlamentsvorbehalt. Das bedeutet: auch bei Fehlen jeglicher Konkretisierung durch Rechtsverordnung muss § 20a WpHG den Anforderungen der Art. 103 Abs. 2, 80 Abs. 1 S. 2 GG genügen.

c. Ob allerdings auf der gesetzlichen Grundlage des § 20a WpHG mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Aussage über die Einschlägigkeit der Norm zu treffen ist, muss indes für fraglich gehalten werden. Von Teilen der Literatur wird dies entsprechend für nahezu jedes Tatbestandsmerkmal bezweifelt, insbesondere für die Erheblichkeit einer Manipulation und das Vorlie27 BVerfG NJW 1998, 669 (670); Park, BB 2003, 1513 (1516); zu § 34 AWG vgl. Diemer, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 176. EL. 2009, § 34 AWG Rn. 2 m.w.N. 28 BVerfGE 14, 174 (185f.). 29 BVerfG NJW 1998, 669 (670) m.w.N. zu § 1 BtMG a.F. 30 BVerfG 75, 329 (342); BVerfG NJW 1972, 860 (862). 31 BVerfG NJW 1998, 669 (670) m.w.N.

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gen einer sonstigen Täuschungshandlung.32 Gegen diese Kritik werden von den Normapologeten maßgeblich drei Einwände vorgebracht: Die Begrifflichkeiten seien nicht neu und damit ein Rückgriff auf die in Rechtsprechung und Literatur vorherrschende Auslegung möglich, der potentielle Täterkreis verfüge über die erforderlichen Kenntnisse und die abstrakte Fassung sei durch die Vielgestaltigkeit der zu erfassenden Lebenssachverhalte gerechtfertigt.33 Auch aus Sicht des BGH ist der Begriff der sonstigen Täuschungshandlung hinreichend bestimmt. Der Bezug auf die Variante der Nr. 1 (und nach § 20a WpHG n.F. auch Nr. 2) biete Hinweise für die Auslegung. Zudem sei der Begriff der Täuschungshandlung, von dem auch § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 WpHG ausgehe, ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal u.a. des § 263 Abs. 1 StGB, zu dem die Rechtsprechung klare Kriterien entwickelt habe.34 Die Konkretisierung durch Verordnung könne hingenommen werden, da sie nicht strafbarkeitsbegründend wirke, sondern den Marktteilnehmern lediglich Verhaltensleitlinien an die Hand gebe.35 Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass der Begriff der Täuschung in § 20a Abs. 1 Nr. 3 WpHG ein anderer ist als der in § 263 Abs. 1 StGB. Nach herrschendem Verständnis ist der Betrug ein Kommunikationsdelikt; erforderlich ist grundsätzlich eine Täuschungshandlung mit Erklärungswert.36 Nach den Motiven zu § 4 Abs. 1 S. 1 MaKonV, durch den der Begriff der sonstigen Täuschungshandlungen i. S. d. § 20a Abs. 1 Nr. 3 WpHG konkretisiert werden soll, muss anders als bei § 263 Abs. 1 StGB ein kommunikativer Erklärungswert gerade nicht bestehen.37 Daher enthält § 4 Abs. 2, 3 MaKonV auch Beispiele sonstiger Täuschungshandlungen, denen ein solcher Erklärungswert gar nicht zukommt, etwa das Erstellen unrichtiger Anlageempfehlungen.38 Nun 32 Altenhain, BB 2002, 1874 (1876); Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (528); Park, BB 2003, 1513 (1516) 33 BGHSt 48, 373 (383); Worms, in: Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Auf. (2007), § 9 Rn. 97; Mock/Stoll/Eufinger, in: Kölner Kommentar zum WpHG (2007), § 20a Rn. 94; Eichelberger, ZBB 2004, 296 (298); Fleischer, in: Fuchs (Hrsg.), WpHG (2009), § 20a Rn. 138. 34 BGHSt 48, 373 (383 f.). 35 BGH NJW 2005, 445, 450. 36 Schönke/Schröder-Cramer/Perron, StGB, 27. Auflage (2006), § 263 Rn. 11; Hefendehl, in: Münchener Kommentar zum StGB, 1. Auflage (2006), § 263 Rn. 76; Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB (2009), § 263 Rn. 27; wohl auch NK-Kindhäuser, StGB, 3. Auflage (2010), § 263 Rn. 106; vgl. auch BGHSt 51, 165 (170); a.A. SKStGB-Hoyer, 60. EL. (2004), § 263 Rn. 25. 37 Begründung des Bundesfinanzministeriums zu § 4 MaKonV, abgedruckt in ZBB 2004, 422 (432); BR-Drs. 18/05 S. 16. 38 Vgl. auch Sorgenfrei, in: Park (o. Fn.13), §§ 20a, 38, 39 WpHG, Rn. 144; Wehowsky, in: Erbs/Kohlhaas (o. Fn. 27), § 20a WpHG Rn. 31.

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können die Legaldefinitionen der MaKonV gerade nicht unmittelbar herangezogen werden, geht es doch um die Bestimmtheit allein des § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 WpHG ohne Einbeziehung der Verordnung. Sie zeigen jedoch, dass der Begriff der Täuschungshandlung in dieser Vorschrift einer anderen Auslegung zugänglich ist und sein soll als der in § 263 Abs. 1 StGB. Nichts anderes ergibt sich aus einer systematischen Auslegung des § 20a Abs. 1 WpHG. Zwar setzt dessen Nr. 1 einen kommunikativen Akt („unrichtige Angaben machen“) voraus. Nr. 2 jedoch lässt die Vornahme bestimmter Geschäfte genügen – ohne notwendigen kommunikativen Erklärungsgehalt. Dass Nr. 3 der Tathandlung in Nr. 2 näher steht als der in Nr. 1, ist bereits am Wortlaut ablesbar: „Geschäfte vornehmen“ (Nr. 2) und „sonstige Täuschungshandlungen vornehmen“ (Nr. 3). Dieses Verständnis herrscht daher auch zu Recht in der Literatur vor.39 Ein Rückgriff auf die umfangreiche Rechtsprechung zu § 263 Abs. 1 StGB ist also nicht möglich. Die Kritik40 an der Unbestimmtheit der „sonstigen Täuschungshandlung“ ist weiter aufrecht zu erhalten. Sie betrifft die Tathandlung als solche und damit den Kern dieser Tatbestandsalternative.41 Gleiches gilt für das Merkmal der Erheblichkeit für die Bewertung eines Finanzinstruments in § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WpHG. Auch sie ist inhaltlich kaum bestimmbar.42 Dies betrifft schon die Frage, was für eine Art von Bewertung maßgeblich sein soll,43 zuvörderst jedoch die der Erheblichkeit. Erheblich sollen nach allgemeiner Auffassung – wie auch in § 2 MaKonV bestimmt – solche Umstände sein, die ein verständiger Anleger bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde.44 Dasselbe Problem stellt sich bei dem – in § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG ähnlich enthaltenen – Merkmal der Eignung, auf den Preis eines Finanzinstrumentes einzuwirken. Auch hier ist Maßstab die ex-ante-Perspektive eines verständigen Anlegers.45 Diesen zu 39

Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 60; Vogel (o. Fn. 13), §20a Rn. 210 f. Altenhain, BB 2002, 1874 (1876); Park, BB 2003, 1513 (1516); Streinz/Ohler, WM 2004, 1309 (1315); Tripmaker, wistra 2002, 288 (291); außerdem Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (528), der das Problem aber durch die Möglichkeit einer marktmissbrauchsrichtlinienkonformen Auslegung als „ansatzweise behoben“ erachtet, s.a. S. 519; a.A. etwa Eichelberger, ZBB 2004, 296 (298); Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 71. 41 Park, BB 2003, 1513 (1516); Tripmaker, wistra 2002, 288 (292). 42 Tripmaker, wistra 2002, 288 (291); Sorgenfrei, wistra 2002, 321 (323); außerdem Holzborn/Israel, WM 2004, 1948 (1951); Park, NStZ 2007, 369 (373) zu dem Begriff der Erheblichkeit in § 13 Abs. 1 WpHG 43 Vgl. dazu Sorgenfrei, wistra 2002, 321 (323). 44 Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 24; Schwark, in: Schwark, KapitalmarktrechtsKommentar, 3. Aufl. (2004), § 20a WpHG Rn. 15; Vogel (o. Fn. 13) §20a Rn. 75. 45 Sorgenfrei, in: Park (o. Fn. 13), §§ 20a, 38, 39 WpHG, Rn. 70; Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 34; restriktiver Vogel (o. Fn. 13), §20a Rn. 120: jedenfalls für die strafrechtlich Beurteilung sei auf die ex-ante-Perspektive eines börsenkundigen Anlegers abzustellen. 40

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bestimmen, ist jedoch schwer möglich. Denn es ist unklar, was ein verständiger Anleger ist und welche Umstände er seinen Entscheidungen zugrunde legt, zumal sich die Parameter von Finanzinstrument zu Finanzinstrument unterscheiden dürften.46 Der Maßstab ermöglicht daher im Rahmen des § 20a WpHG keine verlässliche Beurteilung der Strafbarkeitsgrenzen.47

d. Geringere Anforderungen als bei strafbarkeitsbegründenden Tatbestandsmerkmalen werden üblicherweise an die Bestimmtheit der strafbarkeitseinschränkenden Merkmale gestellt, d.h. an die Formulierung und Konkretisierbarkeit der Tatbestandsausschlüsse. 48 Solche müssten nur dem allgemeinen, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Bestimmtheitsgrundsatz genügen, nicht dem speziellen strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG. Mit den Tatbestandsausschlüssen in § 20a WpHG ist die sog. „Safe-Harbour-Regelung“ angesprochen. Gerade für diese bezweifelt u.a. Altenhain dennoch die Verfassungsmäßigkeit unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG. Sie sei die Umkehrung des Grundsatzes „nulla poena sine lege“, da alles verboten sei, was nicht ausdrücklich erlaubt ist.49 Der Vorwurf fehlender Bestimmtheit kann sich indessen letztendlich nicht auf das umfassende Verbot beziehen. Ist alles verboten, so hat der Betroffene keinerlei Zweifel über die Strafbarkeit seines Verhaltens. Ein solcher Tatbestand sähe sich vielmehr dem Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit ausgesetzt. Die Kritik kann allein die Ausgestaltung des Erlaubnisvorbehalts und damit die Bestimmtheit der Strafbarkeitsbeschränkung betreffen. Begründen lassen sich die geringeren Anforderungen an die Bestimmtheit von Tatbestandsausschlüssen nicht. Denn letztlich ist es eine Frage der Formulierung, ob ein Merkmal strafbarkeitsbegründend, -einschränkend oder -ausschließend wirkt. Naheliegendes Beispiel dafür sind die Rechtfertigungsgründe aus dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches. Nach der heutigen Gesetzeskonzeption schließt ihr Vorliegen eine Strafbarkeit jenseits der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit aus. Ebenso hätte der Gesetzgeber ihr Nichtvorliegen als Tatbestandsmerkmal formulieren 46 Altenhain, BB 2002, 1874 (1878); Grothaus, ZBB 2005, 62 (63); Park, NStZ 2007, 369 (373); ders., JuS 2007, 621 (623); Vogel (o. Fn. 13), §20a Rn. 85, Ziouvas, Das neue Kapitalmarktstrafrecht (2005), S. 232; ausführlich Sorgenfrei, wistra 2002, 321 (323 f.). 47 Park, NStZ 2007, 369 (373).; a.A. etwa Eichelberger, ZBB 2004, 296 (298 f.); Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 30. 48 Schwark, in: ders., Kapitalmarktrechts-Kommentar (o. Fn. 44), § 20a WpHG Rn. 62; Worms (o. Fn. 33), § 9 Rn. 88; Mock/Stoll/Eufinger (o. Fn. 33), § 20a Rn. 95; Eichelberger, ZBB 2004, 296 (300). 49 Altenhain, BB 2002, 1874 (1876).

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können.50 Für den Betroffenen macht das keinen Unterschied. Das Bestimmtheitsgebot muss hier daher im selben Ausmaß gelten.51

e. Um der tatbestandlichen Unbestimmtheit zu begegnen, soll das Bundesfinanzministerium mittels Verordnung die Grenzen des tatbestandsmäßigen Verhaltens selbst bestimmen können, ohne dass der deutsche Gesetzgeber dem Ministerium Kriterien zur Ausgestaltung an die Hand gegeben hätte. In gewisser Weise soll dieser Umstand durch die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie52 kompensiert werden, diese ist als Leitlinie für die Auslegung des § 20a WpHG vorgesehen.53 Auch diese Regelungstechnik sieht sich jedoch Bedenken ausgesetzt. Denn die EU hat grundsätzlich keine Rechtssetzungskompetenz im Bereich des Strafrechts. Eine Ausnahme gilt nur in Bereichen besonders schwerer Kriminalität und bei grenzüberschreitender Dimension; hier können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen vorgeben, Art. 83 AEUV.54 Dass die Marktmanipulation diesem Ausnahmetatbestand nicht unterfällt, bedarf keiner näheren Erörterung. Eine möglichst richtliniengetreue Ausgestaltung des § 20a WpHG und damit der Tatbestände der auf die Vorschrift Bezug nehmenden Sanktionsnormen durch die Exekutive birgt die Gefahr, dass bestimmte Verhaltensweisen der Strafbarkeit unterstellt werden, ohne dass ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber in einer dem Gesetzesvorbehalt genügenden Weise darüber entschieden hätte.55 Verstärkt wird diese Gefahr durch die Möglichkeit der Kommission, im sog. Komitologieverfahren nach Art. 6 Abs. 10 der Marktmissbrauchsrichtlinie quasi-legislative Maßnahmen zur Abänderung der dort aufgezählten Richtlinien-Merkmale zu erlassen.56 Trotz all dieser Bedenken ist nach herrschender Auffassung das strafbare Verhalten durch die §§ 20a i.V.m. 38 Abs. 2, 39 Abs. 1 Nr. 1, 2 , Abs. 2 Nr. 11 WpHG hinreichend vorgezeichnet und das vorgenannte Regelungskon50

Vgl. auch Sorgenfrei, in: Park (o. Fn.13), §§ 20a, 38, 39 WpHG, Rn. 112. Schmitz, in MüKo StGB (o. Fn. 36), § 1 Rn. 13. 52 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) vom 28. Januar 2003 (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 96 vom 12. 4. 2003 S. 16; EU-Dok.-Nr. 32003L0006) 53 Vgl. auch Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (518) zu § 20a WpHG a.F. 54 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon (Konsolidierte Fassung bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 47); vgl. zu den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon auch Heger, ZIS 2009, 406 (411). 55 Schröder, in: Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 2. Auflage (2007), S. 721. 56 Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (517). 51

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strukt i.S.d. Art. 103 Abs. 2, 80 Abs. 1 S. 2 GG hinreichend bestimmt.57 Konsequenterweise wird die vom Bundesfinanzministerium erlassene Verordnung zur Konkretisierung des Verbotes der Marktmanipulation (MaKonV)58 als wünschenswerte, die Rechtssicherheit erhöhende Spezifizierung angesehen.59 Es sei jedoch besonders darauf zu achten, dass die Verordnungsermächtigung nicht zur Ausdehnung des Verbotstatbestandes eingesetzt wird.60 Dieses Verständnis ist jedoch nach dem Vorstehenden nur schwer mit den Vorgaben des Parlamentsvorbehalts in Einklang zu bringen. Die wesentlichen Vorgaben hinsichtlich der Strafbarkeit muss der Gesetzgeber selbst treffen. Er kann sie nicht delegieren. Einigkeit herrscht aber offenbar immerhin darin, dass ein Handeln des Gesetzgebers, etwa eine typisierende Umschreibung der poenalisierten Verhaltensweisen, verfassungsrechtliche Bedenken entkräften könnte und sollte.61 Obwohl es durchaus wünschenswert wäre, ist ein solches Tätigwerden derzeit freilich nicht abzusehen.

III. Der Tatbestandsausschluss nach § 20a Abs. 2 WpHG Eine Sonderstellung im Tatbestand des § 20a WpHG nimmt dessen Abs. 2 S. 1 ein. In ihm wird der BaFin als unterministerieller Exekutivbehörde die Möglichkeit eingeräumt, direkten Einfluss auf die Tatbestandsverwirklichung des § 38 Abs. 1 WpHG zu nehmen, indem sie eine Marktpraxis durch einen formellen Akt als zulässig anerkennt oder eben nicht. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Bestimmtheitsgebot und dem Parlamentsvorbehalt. Zusätzlich rücken mit dieser Norm Probleme der Unschuldsvermutung und der Systemgerechtigkeit in den Fokus.

57 Eichelberger, ZBB 2004, 296 (297ff.); Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 138; Lenzen, ZBB 2002, 279 (286); Worms (o. Fn. 33), § 9 Rn. 97 f.; Mock/Stoll/Eufinger (o. Fn. 33), § 20a Rn. 95; Schröder (o. Fn. 55), Rn. 400; Vogel (o. Fn. 13), Vor §20a Rn. 30; i.E., wenn auch kritisch Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (519). 58 Marktmanipulations-Konkretisierungsverordnung vom 1. März 2005 (BGBl. I S. 515). 59 Schröder (o. Fn. 55), Rn. 401; Vogel (o. Fn. 13) Rn. 29; Worms (o. Fn. 33), § 9 Rn. 97; Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (519); vgl. auch BGH NJW 2995, 445 (450) zur Marktmissbrauchsrichtlinie. 60 Fleischer (o. Fn. 33), § 20a Rn. 138; Vogel (o. Fn. 13), Vor §20a Rn. 31; Worms (o. Fn. 33), § 9 Rn. 97 f.; Dies war durch § 3 KuMaKV als Vorgängerverordnung zu MaKonV geschehen: Dies war durch § 3 KuMaKV als Vorgängerverordnung zu MaKonV geschehen: während Absatz 1 die betrugsspezifische Auslegung aufgriff, enthielten die in Absatz 3 folgenden Regelbeispiele keinerlei Täuschungselement (vgl. auch Streinz/Ohler, WM 2004, 1309 (1315). 61 Altenhain, BB 2002, 1874 (1876); Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (528).

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1. Inhaltliche Ausgestaltung des § 20a Abs. 2 WpHG Die Regelung setzt Art. 1 Nr. 2a der Marktmissbrauchsrichtline um und stellt einen Tatbestandsausschluss62 für Handlungen im Rahmen einer zulässigen Marktpraxis dar. Art. 1 Nr. 5 der Richtlinie definiert diese als Gepflogenheiten, die auf einem oder mehreren Finanzmärkten nach vernünftigem Ermessen erwartet und von den zuständigen Behörden gemäß den Leitlinien, die von der Kommission nach dem Verfahren des Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie erlassen werden, anerkannt werden. Um den nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen zu können, obliegt deren Festlegung dem Verantwortungsbereich der Mitgliedsstaaten und ihren zuständigen Behörden.63 Nach § 20a Abs. 2 S. 2 WpHG kann die BaFin Gepflogenheiten, die auf dem jeweiligen Markt nach vernünftigem Ermessen erwartet werden können, als zulässige Marktpraxis anerkennen. Ihr steht damit ein Anerkennungsmonopol hinsichtlich einer zulässigen Marktpraxis zu.64 Damit wird einer Exekutivbehörde ermöglicht, auf die Tatbestandsmäßigkeit eines Marktverhaltens unmittelbaren Einfluss zu nehmen. Allerdings ist nach dem auf Empfehlung des Finanzausschusses des Bundestages65 eingeführten Satz 3 eine Marktpraxis nicht bereits deshalb unzulässig, weil sie nicht vor der Ausübung des in Rede stehenden Verhaltens ausdrücklich anerkannt wurde. Eine Anerkennung ist damit auch ex post möglich. Dadurch hat die BaFin (die zugleich Verfolgungsbehörde für Ordnungswidrigkeitenverstöße im Bereich des WpHG ist!) die Möglichkeit, auch nachträglich noch über das Vorliegen einer Strafbarkeit oder Ordnungswidrigkeit konstitutiv zu entscheiden.

2. Bestimmtheit und Parlamentsvorbehalt Es handelt sich bei dieser Norm um nichts anderes als die Genehmigungsmöglichkeit einer durchgeführten oder auszuübenden Marktpraxis. Soweit ein Gesetz aber einen Genehmigungsvorbehalt vorsieht – und einen solchen stellt § 20a Abs. 2 WpHG dar –, der sich auf grundrechtlich geschützte Tätigkeiten bezieht, ist in der Regel eine Genehmigung dieser Tätigkeit geboten. Bei besonders empfindlichen Grundrechtseingriffen hat der Gesetzgeber auch die Voraussetzungen einer Genehmigung detailliert selbst zu regeln.66 Dies hat der Gesetzgeber aber nicht getan, sondern die Regelung dem Bundesministerium für Finanzen überlassen. Kriterien für 62

Statt vieler Fleischer (o. Fn. 33), § 20 a Rn. 76 m.w.N.; Vogel (o. Fn. 13), § 20a Rn. 171. Vogel (o. Fn. 13), § 20a Rn. 169. 64 Fleischer (o. Fn. 33), § 20 a Rn. 80. 65 BT-Drs. 15/3493, S. 89. 66 Jarass (o. Fn. 16), Art. 20 Rn. 62 m.w.N. 63

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die Anerkennung einer Marktpraxis finden sich entsprechend erst in § 8 der vom Bundesfinanzministerium nach § 20a Abs. 5 S. 1 WpHG erlassenen MaKonV. Der Gesetzgeber wollte auf diese Weise eine schnelle Reaktion auf Manipulationen ermöglichen. Die Motive bereits zur Vorgängervorschrift § 20a Abs. 2 WpHG (a.F.) stellten heraus, dass eine umfassende Regelung aufgrund der Vielzahl von Manipulationstechniken nicht möglich sei und dergestalt der Exekutive überlassen werden müsse. Auf diese Weise sollten für die Marktteilnehmer Leitlinien zur Bestimmung der Marktkonformität ihrer Handlungen und damit Rechtssicherheit geschaffen werden.67 Warum aber die sehr allgemein gehaltenen Kriterien in § 8 MaKonV nicht auch vom Gesetzgeber hätten erlassen werden können, ist nicht ersichtlich. Die in der MaKonV aufgeführten Merkmale einer zulässigen Marktpraxis sind durchaus abstrakt gehalten. In ihrer Weite steht nicht zu befürchten, dass die dort genannten Kriterien für die Beurteilung einer Gepflogenheit als unzulässig schnell geändert werden müssten. Ein einleuchtender Grund, warum der Gesetzgeber dies nicht selbst hätte regeln können, sondern die Bestimmung eines derart weiten Kriterienkatalogs dem Bundesfinanzministerium überlassen musste, ist nicht ersichtlich. Da es sich bei der Frage der zulässigen Marktpraxis um eine wesentliche und strafbarkeitsbegründende Regelung handelt, begegnet es schwerwiegenden Bedenken, dass der Gesetzgeber diese Beschreibung der Exekutive überantwortet hat.

3. Anerkennungsfähigkeit der Marktpraxis und Systemgerechtigkeit Ein weiteres verfassungsrechtliches Problem stellt sich unter dem aus dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten68 Gesichtspunkt der Systemgerechtigkeit: Dieser verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen. Die tatsächliche Anerkennung einer Marktpraxis soll konstitutive Wirkung für den Strafbarkeitsausschluss haben. Zumindest dem Wortlaut nach kommt es auf die bloße Anerkennungsfähigkeit einer Marktpraxis nicht an. Dies, obwohl die BaFin bei Vorliegen der weiten Voraussetzungen von § 8 MaKonV zur Anerkennung verpflichtet ist (§ 7 MaKonV). Bliebe es bei diesem Befund, würde derselbe Sachverhalt nach demselben Verbotstatbestand (!) in ver67

BT-Drs. 14/8017 S. 90. BVerfGE 108, 52 (Juris Rn. 29); Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung (2007), S. 75 ff.; Peine, Systemgerechtigkeit. Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle (1985), S. 54 ff.; Degenhardt, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat (1976), S. 12 ff. 68

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waltungsrechtlicher Hinsicht und in strafrechtlicher Hinsicht ungleich – einmal als zulässig, einmal als unzulässig und strafbar – behandelt. Deshalb soll auf die Frage der Anerkennungsfähigkeit etwas näher eingegangen werden.

a. Nach dem Willen des Gesetzgebers des AnSVG sollen bis zu einer eventuellen nachträglichen Anerkennung die Marktteilnehmer das Risiko der Tatbestandsverwirklichung tragen.69 Aus § 20a Abs. 2 S. 3 WpHG wird nun teilweise geschlossen, dass allein die Anerkennungsfähigkeit den Verbotstatbestand bereits ausschließe, unabhängig davon, ob im Nachhinein noch eine tatsächliche Anerkennung folgt.70 Diese Auffassung – so wünschenswert sie auch im Ergebnis sein mag – erscheint indessen in ihrer dogmatischen Ableitung zweifelhaft. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Wortlaut und der Struktur der Regelung. Denn Satz 2 bestimmt ausdrücklich, dass „nur“ von der BaFin anerkannte Gepflogenheiten als zulässige Marktpraxis gelten. Gegen das darin zum Ausdruck kommende Ausschließlichkeitsmerkmal wird nun eingewandt, der Gesetzgeber habe das „nur“ versehentlich nicht gestrichen.71 Ein solches Verständnis erscheint aber angesichts der Bestimmung des Satzes 3 keineswegs zwingend, wonach es lediglich unschädlich sein soll, wenn die Praxis zuvor nicht anerkannt worden ist.72 Gestützt wird die Interpretation, dass die Anerkennungsfähigkeit nicht genügt, somit durch die Gesamtschau von Satz 2 und Satz 3: Satz 2 stellt den Grundsatz auf, wonach eine tatsächliche Anerkennung erforderlich ist; Satz 3 bildet nur dessen Erweiterung. Würde allein die Anerkenntnisfähigkeit ausreichen, wäre Satz 2 überflüssig. Der Sinn der Anerkennung könnte allein in einer vertrauensschutzbildenden Maßnahme liegen. Sie wäre dann jedoch von untergeordneter Bedeutung und müsste nach dem Grundsatz in Satz 3 geregelt sein. Es ging dem Gesetzgeber also erkennbar darum, die – ohnehin selbstverständliche – Rückwirkung des milderen Gesetzes anzuordnen und durch Satz 3 neue Gepflogenheiten zu erfassen, welche die BaFin aufgrund der Schnelligkeit des Marktes nicht rechtzeitig anerkennen konnte.73 Die Entscheidung der BaFin soll damit konstitutiv wirken.74 Der Handelsrechtsausschuss des DAV sieht darin 69

BT-Drs. 15/3174 S. 37. Vogel (o. Fn. 13), § 20a Rn. 140. 71 So auch Sorgenfrei, in: Park (o. Fn. 13), §§ 20a, 38, 39 WpHG Rn. 116. 72 Vgl. auch BR-Drs. 18/05, S. 19. 73 Vgl. etwa BT-Drs. 15/3493, S. 52; BR-Drs. 18/05, S. 19; Vogel (o. Fn. 13), § 20a Rn. 174. 74 Schröder (o. Fn. 55), Rn. 537; Vogel (o. Fn. 13), Rn. 173; vgl. auch Park, NStZ 2007, 369 (376). 70

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einen Verstoß gegen das Verbot rückwirkenden Strafens. 75 Dieser Einwand geht jedoch fehl. Denn die Strafbarkeit des Verhaltens ist mit seiner Vornahme bereits begründet, es entfällt lediglich die Möglichkeit eines nachträglichen Tatbestandausschlusses. Die Frage ist vielmehr, ob der betroffene Marktteilnehmer die Strafbarkeit seines Verhaltens voraussehen kann, wenn starke Anhaltspunkte für eine spätere Anerkennung seiner Marktpraxis sprechen.

b. Im Gegenzug zur Anerkennungsmacht der BaFin ist diese verwaltungsrechtlich verpflichtet, bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Gepflogenheit als zulässige Marktpraxis anzuerkennen, § 7 Abs. 1 S. 1 MaKonV. Wurde bereits ein Verfahren wegen des Verdachts der Marktmanipulation eingeleitet, kann die Anerkennung gemäß Absatz 2 der Vorschrift in einem Eilverfahren erfolgen. Gegebenenfalls muss versucht werden, eine solche Anerkennung im Wege der verwaltungsrechtlichen Verpflichtungsklage von der BaFin einzufordern. Unproblematisch zu beurteilen ist dann der Fall, in dem eine anerkennungsfähige Praxis im Nachhinein tatsächlich anerkannt wird, bevor es zur strafrechtlichen Verurteilung kommt. Bereits nach dem Wortlaut des § 20a WpHG ist dann ein Gericht an die konstitutive Anerkennung der Marktpraxis gebunden.76 Auch in Fällen, in denen eine ursprünglich als zulässig anerkannte Marktpraxis aberkannt wird, ist eine rückwirkende Strafbarkeit ausgeschlossen, da die Änderung oder der Widerruf einer Anerkennung nach § 7 Abs. 1 S. 3 MaKonV nur für die Zukunft wirkt.77 Schwieriger ist die Situation, in der das Strafverfahren zuungunsten des Marktteilnehmers bereits abgeschlossen ist, bevor die BaFin eine Marktpraxis als zulässig anerkennt oder sie im Wege der Verpflichtungsklage dazu verurteilt wird. In diesen Fällen muss an die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens gedacht werden. Nach teilweise vertretener Auffassung liegt allerdings zumindest in der nachträglichen Aufhebung eines Verwaltungsakts ebensowenig eine „neue Tatsache“ i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO, die eine Wiederaufnahme rechtfertigen könnte, wie in der nachträglichen Änderung der materiell-gesetzlichen Grundlage.78 Diese Ansicht ist allerdings umstritten79 und jedenfalls für die Fälle nicht zu teilen, in denen 75 Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Regierungsentwurf des AnSVG, NZG 2004, 703 (795). 76 Vogel (o. Fn. 13), WpHG § 20a Rn. 139. 77 Bereits BT-Drs. 18/05, S. 20; Vogel (o. Fn. 13), WpHG § 20a Rn. 148 m. w. N. 78 Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. (2010), § 359 Rn. 24. 79 Vgl. zum Streitstand Eschelbach, in: KMR, § 359 Rn. 117.

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eine Exekutivbehörde wie hier nachträglich über das Eingreifen eines Straftatbestandes entscheiden kann. Denn das wesentliche Argument, ein Strafbedürfnis bestehe wegen eines Verstoßes gegen einen vollziehbaren Verwaltungsakt80, verfängt in dieser umgekehrten Situation gerade nicht. Ist die Bundesanstalt gem. § 7 Abs. 1 MaKonV dazu verpflichtet, eine Marktpraxis als zulässig anzuerkennen, kann in der Verzögerung durch die BaFin keine Rechtfertigung für das Aufrechterhalten einer Verurteilung liegen, wenn später eine nachträgliche Anerkennung erfolgt.81 Ebenfalls problematisch sind die Fälle, in denen im Nachhinein einer zuvor nicht anerkannten Praxis die Anerkenntnis versagt bleibt, der Betroffene aber auf die Anerkennung vertraut hat. Nach Auffassung von Schröder soll es in diesem Fall bei der Anwendbarkeit des § 20a Abs. 1 S. 2 WpHG bleiben; der Betroffene handle auf eigenes Risiko. Zudem stelle die Möglichkeit der rückwirkenden Anerkennung im Vergleich zu anderen Fällen des Verwaltungsstrafrechts ohnehin eine Privilegierung dar.82 Hält man die Anerkennung durch die BaFin für konstitutiv, was auch nach hier vertretener Auffassung zutreffend ist, ist dies folgerichtig.83 Allerdings könnte Satz 3 ein berechtigtes Vertrauen des Handelnden in die Straflosigkeit seines Vorgehens begründen, wenn er von der Anerkenntnisfähigkeit seines Handelns ausgeht. Diesem kann – so ließe sich die Ansicht von Schröder rechtfertigen – durch die strafrechtlichen Irrtumsregeln Rechnung getragen werden. Bei Blanketttatbeständen muss sich der Vorsatz des Täters nämlich nicht nur auf die Merkmale des Blanketttatbestandes beziehen, sondern auch auf die der ausfüllenden Norm.84 Der objektive Tatbestand als Bezugspunkt des Vorsatzes lautete demnach: „Ordnungswidrig handelt, wer ohne die vorherige oder nachträgliche Anerkennung seiner Handlung als zulässige Marktpraxis und legitime Gründe […]“. Nach diesem Verständnis wäre die fehlende Anerkennung gewissermaßen als zusätzliches (negatives) Tatbestandsmerkmal in den Tatbestand hineinzulesen. Irrtümer hinsichtlich der Anerkennung wären unmittelbar von den strafrechtlichen Irrtumsregeln der §§ 16, 17 StGB erfasst. Es würde gem. 80

Meyer-Goßner (o. Fn. 78), § 359 Rn. 17. Ebenso wohl i.Erg. OLG Hamm, NJW 2004, 2461 für den Fall einer nachträglichen erfolgreichen Anfechtung einer Vaterschaft. 82 Schröder (o. Fn. 55), Rn. 542 83 Die weitergehende Frage der Bindungswirkung auch einer rechtswidrigen Anerkennung hängt davon ab, ob man die Anerkennung als eine Verordnung oder (wohl richtiger) einen Verwaltungsakt begreift. Rechtswidrige Verordnungen sind nichtig und haben keine Bindungswirkung, rechtswidrige Verwaltungsakte grundsätzlich schon. Vgl. zu diesem Problem statt vieler: Vogel (o. Fn. 13), § 20a Rn. 175, 181ff.; Sorgenfrei, in: Park (o. Fn. 13), §§ 20a, 38, 39 WpHG Rn. 132. 84 Anerkannt, vgl. SK StGB-Rudolphi (o. Fn. 36), § 16 Rn. 18. 81

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§ 16 Abs. 1 StGB am Vorsatz mangeln, wenn der Täter von einer vergangenen tatsächlichen Anerkennung ausgeht oder sie – im Fall der nachträglichen Anerkennung – als sicher voraussieht. Verkennt er hingegen die rechtlichen Voraussetzungen einer Anerkennung, unterläge er einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB, mit der Möglichkeit des Schuldausschlusses nach Satz 1 oder – bei Vermeidbarkeit des Irrtums – einer Strafmilderung nach Satz 2. Dies drohte allerdings, sofern deren tatsächliche Voraussetzungen betroffen sind, im Ergebnis auf das Wissen um die Anerkenntnisfähigkeit seines Vorgehens hinauszulaufen, was die durch Wortlaut und Struktur des objektiven Tatbestand scheinbar vorgegebene Ausschließlichkeitsbestimmung der tatsächlichen nachträglichen Anerkennung durch die BaFin verwischen könnte. Nimmt der Täter demgegenüber zumindest billigend in Kauf, dass die Anerkennung nicht erfolgt ist und nicht erfolgen wird, so handelt er vorsätzlich. In diesen Fällen verbleibt es bei dem Risiko der Strafbarkeit (welches der Markteilnehmer gerade nicht vollumfänglich überblicken kann).

c. Gelangt man somit zu dem Befund, dass die Anerkennungsfähigkeit einer Marktpraxis nach hier vertretener Auslegung des § 20a WpHG nicht genügt, um den Straftatbestand auszuschließen, umgekehrt aber verwaltungsrechtlich ein Anspruch auf Anerkennung bestehen kann, liegt darin eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem. Dasselbe Verbot kann auf diese Weise einmal durch dasselbe Verhalten als verletzt und ein anders Mal als eingehalten betrachtet werden. Ein sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung ist jedoch nicht erkennbar. Insofern liegt in der gesetzlichen Regelung ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Systemgerechtigkeit.

4. Unschuldsvermutung Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten von Interesse ist daneben die Regelung des § 20a Abs. 2 S. 2 WpHG, nach der das Verbot des Abs. 1 S. 1 Nr. 2 nicht gilt, wenn die Handlung mit der zulässigen Marktpraxis auf dem betreffenden organisierten Markt oder in dem betreffenden Freiverkehr vereinbar ist und der Handelnde hierfür legitime Gründe hat. Dem Wortlaut nach müsste der Beschuldigte selbst hier solche legitimen Gründe darlegen, um in den Genuss der Ausschlussregelung zu kommen. Insofern könnte diese Bestimmung mit der Unschuldsvermutung kollidieren.

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a. Die Unschuldsvermutung ist ein wesentlicher Grundsatz des deutschen Strafverfahrens. Sie verbietet eine Verhängung von Strafe ohne Schuldnachweis, d.h. dem Täter müssen Tat und Schuld nachgewiesen werden.85 Eine Beweislastumkehr ist daher im Strafrecht unzulässig.86 Die alleinige Beweislast liegt beim Staat.87 Einfachgesetzlich in Art. 6 Abs. 2 EMRK88 und in einigen Landesverfassungen89 niedergelegt, kommt der Unschuldsvermutung nach allgemeiner Auffassung Verfassungsrang zu.90 Uneinigkeit herrscht lediglich über ihre Herleitung, ob sie etwa ihre Grundlage in der Menschenwürde findet,91 aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, oder auf beide Verankerungen gestützt wird.92 Bedeutsame Auswirkungen auf den Gehalt der Unschuldsvermutung hat dies nicht. Zudem sind die Gewährleistungen der EMRK trotz ihres niedrigeren Rangs bei der Auslegung der Grundrechte zu berücksichtigen.93

b. Betrachtet man den Straftatbestand der Marktmanipulation in Bezug auf die Unschuldsvermutung, ergibt sich Folgendes: Dem Wortlaut des § 20a Abs. 2 S. 2 WpHG nach muss der Betroffene das Vorliegen solcher legiti-

85

Vgl. Art. 6 Abs. 2 EMKR: „[…] until proved guilty[...]”. So die Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Regierungsentwurf des AnSVG, NZG 2004, 703 (795); außerdem Schmitz, ZStW 115 (2003), 501 (525f.); Kutzner, WM 2005, 1401 (1494); Spindler, NJW 2004, 3449 (3453); SK StPO-Paeffgen, 35. EL. 2004, Art. 6 EMRK Rn. 183. 87 Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2006, Einl. Abschn. J Rn. 74; SK StPOPaeffgen, (o. Fn. 86), Art. 6 EMRK Rn. 183. 88 Die Unschuldsvermutung findet sich ebenfalls in Art. 11 Abs. 1 AEMR. Der Norm mangelt es jedoch an völkerrechtlicher Bindung sowie erst recht an nationale Behörden bindender Wirkung. 89 Vgl. etwa die Verfassungen der Länder Berlin (Art. 9 Abs. 2), Brandenburg (Art. 53 Abs. 2), Bremen (Art. 6 Abs. 3), Hessen (Art. 20 Abs. 2 S. 1), Rheinland-Pfalz (Art. 6 Abs. 3 S. 2) und Saarland (Art. 14 Abs. 2). 90 BVerfGE 19, 352 (147); 22, 254 (265); 74, 358 (370); 82, 106; Kühne, in: LöweRosenberg, StPO, 26. Auflage (2006), Einl. Abschn. J Rn. 74; SK StPO-Paeffgen (o. Fn. 86), Art. 6 EMRK Rn. 176; Pfeiffer/Hannich, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage (2008), Rn 32a. 91 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. III/2 (1966), S. 987. 92 So das BVerfG in BVerfGE 74, 358 (371); eine ausführliche Darstellung der sonstigen maßgeblichen Herleitungswege findet sich bei Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung (1997), S. 48 ff. 93 BVerfGE 74, 358 (370). 86

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mer Gründe darlegen und nachweisen.94 Art. 1 Nr. 2 Marktmissbrauchsrichtlinie hatte sogar noch eine Beweislastumkehr für beide kumulativ verlangten Elemente des Ausschlussgrundes vorgesehen. Der Betroffene hätte danach sowohl nachweisen sollen, dass er für sein Vorgehen legitime Gründe hatte, als auch, dass es nicht gegen die zulässige Marktpraxis verstieß („es sei denn, die Person […] weist nach […]“). Der Gesetzgeber wollte diese Beweislastumkehr aus nachvollziehbaren Gründen nicht in die deutsche Regelung übernehmen. Dies ist ihm jedoch lediglich im Hinblick auf das Merkmal der zulässigen Marktpraxis gelungen. Insoweit ist Fleischer rechtzugeben, wenn er hinsichtlich der Zulässigkeit als Marktpraxis darauf hinweist, dass diese von Amts wegen zu ermitteln sei.95 Auch die nachträgliche Einführung des Satzes 3 bringt Erleichterungen lediglich hinsichtlich dieses Merkmals. Nach dem gesetzgeberischen Willen soll das Vorliegen legitimer Gründe lediglich dann verneint werden, wenn der Betroffene in betrügerischer oder manipulativer Absicht handelte.96 Aus dem Normtext selbst lässt sich dies jedoch nicht ablesen. Eine der Unschuldsvermutung gerecht werdende Auslegung des § 20a Abs. 2 S. 2 WpHG verlangt, dass das Gericht auch ein solches subjektives Element wie das Vorliegen legitimer Gründe im Wege der Amtsaufklärung feststellt97 und von seinem Vorliegen erst bei dessen vollständigem Nachweis ausgeht. Die Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung lässt sich so im Wege der historischen und teleologischen Auslegung herstellen. Wenn der Gesetzgeber davon ausging, dass das Vorliegen legitimer Gründe nur dann nicht angenommen werden soll, wenn der Betroffene in betrügerischer oder manipulativer Absicht handelt98, dann ging der Gesetzgeber inhaltlich von der Nichtgeltung der Beweislastumkehr aus, auch wenn es ihm nicht gelungen ist, diesen Befund im Gesetzeswortlaut wiederzugeben.

94 Knauth/Käsler, WM 2006, 1041 (1048); Kutzner, WM 2005, 1401 (1404); Spindler, NJW 2004, 3449 (3453). 95 Fleischer (o. Fn. 33), § 20 a Rn. 77. 96 BT-Drs. 15/3174, S. 37. 97 So i.E. Schröder (o. Fn. 55), Rn. 529; ähnlich Sorgenfrei, in: Park (o. Fn. 13), §§ 20a, 38, 39 WpHG Rn. 112, 134. 98 BT-Drs. 15/3174, S. 37.

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III. Schluss Der Gesetzgeber hat das verfassungsrechtliche gebotene Ziel verfehlt, dem Marktteilnehmer das sichere Wissen darüber zu verschaffen, ob sein Marktverhalten zulässig oder bußgeld- oder gar strafbewehrt ist.99 Das gilt sowohl für die Auslegung der strafbegründenden Merkmale als auch für den möglichen Strafausschluss durch Anerkennung einer Marktpraxis als zulässig. Der Erlass der MaKonV konnte dies nicht ausgleichen. Die Bestimmtheit der Strafnorm muss bereits auf Ebene der Ermächtigungsnorm gegeben sein.100 Es gilt der Parlamentsvorbehalt, dem das vorhandene Normengefüge des Verbots der Marktmanipulation nicht hinreichend Rechnung trägt. Nach der gesetzlichen Konstruktion de lege lata liegt die Entscheidung über die Strafbarkeit eines Marktverhaltens in bestimmten Konstellationen maßgeblich in der Hand der BaFin – also der Exekutive, nicht der Legislative.101 Dieser Verstoß kann naturgemäß – anders als die angesprochenen Bedenken hinsichtlich der Unschuldsvermutung – nicht im Wege der Auslegung beseitigt werden. Eine abschließende Klärung durch das Bundesverfassungsgericht bleibt abzuwarten.

99

Park, BB 2003, 1513 (1517). Park, BB 2003, 1513 (1517). 101 Vgl. auch Moosmayer, wistra 2002, 161 (169), zum Rechtszustand vor Erlass der MaKonV, die die Unbestimmtheit allerdings nicht zu beseitigen vermag. 100

Zur Auslegung der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll JÜRGEN PAULY

I. Als im Jahr 1874 der Gesetzentwurf für eine Strafprozessordnung vorgelegt wurde, waren darin die Grundzüge der auch heute noch geltenden Regelungen über das Rechtsmittel der Revision bereits enthalten. Für das neue Rechtsmittel war wesentlich, dass „die rein tatsächliche Würdigung des Straffalles also namentlich die Würdigung der erbrachten Beweise von der Tätigkeit des höheren Richters ausgeschlossen bleiben“ müsse.1 Diese Würdigung sei dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen; das von diesem „festgesetzte tatsächliche Ergebnis“ sei für die höhere Instanz maßgebend, sofern „dasselbe nicht etwa im Wege eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen worden sei“. Zur Überprüfung der Frage, ob ein gesetzwidriges Verfahren zu dem „tatsächlichen Ergebnis“ geführt hatte, sah der Gesetzentwurf u.a. das Rechtsmittel der Revision vor. Er gab dem Revisionsgericht zugleich eine klare Grundlage für die Entscheidung der Frage an die Hand, von welchem Verfahrensverlauf auszugehen sei. In § 314 des Entwurfs war eine Regelung vorgesehen, die in der Sache weitgehend dem heutigen § 274 StPO gleichkam.2 Der Text war – wie die Motive ausweisen – aus Regelungen über das Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde in einigen Staaten hervorgegangen.3 Nachdem in den Beratungen die zunächst erwogene Regelung zur Protokollierung von Beweisergebnissen der Hauptverhandlung fallen gelassen wurde,4 bestand die wesentliche Funktion des Protokolls nach der letztlich ver1 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 3, Abtlg.1,, Materialien zur Strafprozessordnung, Reprint 1983, S. 249/250. 2 Der Text sollte lauten: „Mängel der Hauptverhandlung erster Instanz, welche als Revisionsgründe geltend gemacht sind, können nicht anders als durch den Inhalt des Sitzungsprotokolls bewiesen werden. Gegen den die Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.“, vgl. Hahn aaO (Fn 1) S. 40. 3 Vgl. die Übersicht bei Hahn aaO (Fn 1) S. 256; sowie G. Schäfer, FS 50 Jahre BGH, München 2000, S. 708 ff. und Schumann JZ 2007, 929. 4 Vgl. Schumann JZ 2007, 928/929.

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abschiedeten Gesetzesfassung in der eines Beweismittels für die Rechtsmittelinstanz. Zu protokollieren waren insbesondere die wesentlichen Förmlichkeiten, für sie galt die besondere Beweiskraft des § 274.5 Auf diesem Wege gelangte - als ein zentraler Bestandteil des Revisionsrechts - ein Prinzip in die Strafprozessordnung, das die Bereitschaft zu erheblichen Abstraktionsleistungen erfordert, das Prinzip der formellen Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls. Zwar hat das Prinzip die verschiedenen Gesetzesreformen weitgehend unangetastet überstanden, die Kritik hieran ist aber nicht verstummt.6 Das Unbehagen über die Reichweite des § 274 StPO kommt u.a. in Teilen der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls7 und in der Rechtsprechung zu der Frage, ob auf den bloßen Protokollinhalt gestützte Rügen missbräuchlich sein können,8 zum Ausdruck. Unter anderem um einer weiteren Ausweitung der Rechtsprechung zu offensichtlichen Mängeln des Protokolls entgegenzuwirken,9 hat der Große Senat für Strafsachen mit seiner Entscheidung vom 23.4.2007 das von der Rechtsprechung entwickelte Verbot der Rügeverkümmerung aufgegeben.10 Die Diskussion über die Berechtigung dieser Rechtsprechungsänderung soll nach der Entscheidung des BVerfG vom 15.1.200911 hier nicht fortgeführt werden.12 Stattdessen soll das Augenmerk darauf gerichtet werden, ob die neue Rechtsprechung, in der der 5. Strafsenat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 „eine substantielle Änderung des Strafverfahrensrechts“ sieht,13 auch zu einem veränderten Verständnis des Inhalts der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll führen muss. Anlass, hierüber nachzudenken, besteht – unabhängig von der neuen Rechtsprechung - auch deshalb, weil nur kurze Zeit später der Gesetzgeber Änderungen in dem althergebrachten System der §§ 272-274 StPO vorgenommen hat, denen ebenfalls ein sub5 Vgl. zur Entwicklung der Beratungen: Salditt in FS für Meyer-Goßner, München 2001, S. 470 ff. 6 Vgl. hierzu etwa G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH, München 2000, S. 707 ff. 7 Vgl. G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH, München 2000, S. 712 ff. 8 Vgl. hierzu BGH 3 StR 284/05 = BGHSt 51, 88 = NStZ 2007, 47 = StV 2006, 627; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner, München 2001, S. 595 ff.; G .Schäfer in FS 50 Jahre BGH, S. 725 ff. 9 So BGHSt 51, 298, 314. 10 BGH GSSt 1/06 = BGHSt 51, 298 = NJW 2007, 2419. 11 BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07 = BVerfGE 122, 248 = NJW 2009, 1469 = JR 2009, 245 m. Anm. Fahl = JZ 2009, 675; vgl. hierzu auch Bertheau NJW 2010, 973. 12 Vgl. hierzu Meyer-Goßner Rn. 26; Hamm NJW 2007, 3166; Dehne-Niemann ZStW 121 (2009), 321; H. Wagner GA 2008, 442; Knauer in FS für Widmaier, S. 291; Ventzke, HRRS 2008, 180; Schumann JZ 2007, 927 ff. 13 BGH v. 28.01.2010 – 5 StR 169/09 = StV 2010, 171 (Rn. 6); vgl. auch die in derselben Sache ergangene Entscheidung in StV 2010, 226.

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stantieller Stellenwert nicht abgesprochen werden kann. In Umsetzung einer anderen Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen14 wurden durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.200915 die Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll nachhaltig umgestaltet. Die Protokollierungspflicht wurde u.a. auf Erklärungen über Vorgänge erstreckt, die sich nicht innerhalb der Hauptverhandlung ereignen können. Sie besteht nunmehr auch in weiterem Umfang als bisher für mündliche Äußerungen in der Hauptverhandlung zum Verfahrensgegenstand. Beide Entwicklungen, die Einführung nachträglicher Korrekturmöglichkeiten und die Erweiterung des Kreises der protokollierungspflichtigen Tatsachen, können nicht ohne Rückwirkung auf das Verständnis der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll bleiben.

II. Zwar war mit Einführung der in § 274 StPO enthaltenen Regelung das Prinzip der formellen Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls als eine der Grundlagen des Revisionsverfahrens gesetzlich festgeschrieben.16 Weder aus der Reichsstrafprozessordnung des Jahres 1877 noch aus den später geltenden Gesetzesfassungen ließ sich aber die Reichweite dieses Prinzips präzise ablesen. Die Wirkung des § 274 StPO erstreckt sich vielmehr generell auf die „vorgeschriebenen Förmlichkeiten“, ohne dass aus der StPO im Einzelnen abzulesen ist, welche Förmlichkeiten damit gemeint sind. § 272 StPO enthält nur wenige Festlegungen über das Hauptverhandlungsprotokoll, insbesondere über seine äußere Form. § 273 StPO ordnet u.a. eine Protokollierungspflicht für Anträge und Entscheidungen sowie die „wesentlichen Förmlichkeiten“ an.17 Welche Förmlichkeiten aber so „wesentlich“ sind, dass sie (mit der Folge der Beweiswirkung des § 274 StPO) im Protokoll festgehalten werden müssen, regelt das Gesetz nicht näher.18

14

BGH v. 3.3.2005 − GSSt 1/04 = BGHSt 50, 40 = NJW 2005, 1440. BGBl. 2009 I, 2353. 16 Vgl. Hahn aaO (Fn 1) S. 257 wo ausgeführt wird, durch die vorgeschlagene Bestimmung werde „sowohl hinsichtlich der Thatsache dass gewisse Förmlichkeiten beobachtet seien, als auch hinsichtlich der Thatsache, dass gewisse Förmlichkeiten nicht beobachtet oder verletzt seien, jeder andere Beweis für unstatthaft erklärt.“; s. hierzu auch E. Müller, FS für Volk, München 2009, S. 486/487. 17 Nach BGH Beschl.v.6.2.1990 – 2 StR 29/89 = BGHSt 36, 354, 357 sind die ‚wesentlichen Förmlichkeiten’ i.S.v. § 273 Abs. 1 auch ‚vorgeschriebene Förmlichkeiten’ i.S.v. § 274 StPO. S. auch G. Schäfer FS 50 Jahre BGH, München 2000, S. 719. 18 Vgl. hierzu allgemein Kahlo FS für Meyer-Goßner, München 2001, S. 447 ff. 15

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Zwar besteht bei zentralen Verfahrenshandlungen, wie z.B. der Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 StPO), Einigkeit darüber, dass sie als wesentliche Förmlichkeit i.S.d. § 273 Abs. 1 StPO anzusehen sind. Aber schon bei alltäglichen Vorgängen wie der Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen werden unterschiedliche Auffassungen vertreten.19 Die in § 273 Abs. 1 StPO getroffene Regelung bedarf der Konkretisierung durch die Rechtsprechung. Im Hinblick auf die Funktion des Protokolls als Grundlage des Revisionsverfahrens hat dabei die Rechtsprechung insbesondere die Verfahrenshandlungen i.S.v. § 273 Abs. 1 StPO als wesentliche Förmlichkeiten angesehen, bei denen eine rechtsfehlerhafte Anwendung des Verfahrensrechts zur Urteilsaufhebung führen kann.20 Auf dieser Grundlage ist in einer Vielzahl von Einzelentscheidungen die Reichweite des § 273 bestimmt worden.21 Bei der Begründung dieser Entscheidungen hat der Aspekt, dass mit der Anerkennung eines Vorgangs als wesentliche Förmlichkeit zugleich die Beweiswirkung des § 274 StPO verbunden ist, teilweise eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Das wird beispielhaft deutlich an einer Entscheidung des BGH vom 6.2.1990.22 Der 2. Strafsenat hat darin ausgesprochen, dass die Erörterung gerichtskundiger Tatsachen in der Hauptverhandlung nicht zu den wesentlichen Förmlichkeiten i.S.v. § 273 Abs. 1 StPO gehört. Zur Begründung wies der Senat darauf hin, dass die Subsumtion des Vorgangs unter § 273 Abs. 1 StPO dazu führen würde, dass § 274 StPO anwendbar wäre. Hierin sah der Senat eine „bedenkliche Konsequenz“ und führte aus, dies müsse „bedacht werden“, wenn über die Reichweite der §§ 273, 274 StPO zu entscheiden sei.23 Würde generell die Gewährung rechtlichen Gehörs als wesentliche Förmlichkeit angesehen, so bestehe die Gefahr, dass in einer Vielzahl von Fällen entgegen der wahren Sachlage angenommen werden müsse, das rechtliche Gehör sei verletzt worden.24 Dieser Argumentation ist mit der Entscheidung des Großen Senats vom 23.4.2007 die Grundlage entzogen. Durch das nunmehr mögliche Berichtigungsverfahren hat sich die Ausgangslage gegenüber dem Jahr 1990 geän19 Vgl. hierzu BGH v. 16.11.2005 – 2 StR 457/05 = BGHSt 50, 282 = NJW 2006, 388 = NStZ 2006, 234; BGH v. 15.02.2005 - 1 StR 584/04 = StV 2005, 244; BGH v. 30.3.2005 – 1 StR 67/05 = NStZ-RR 2005, 208 sowie BGH v. 20.01.2005 - 3 StR 455/04 = NStZ 2005, 340 = StV 2005, 200 und nunmehr BGH v. 07.07.2009 – 1 StR 268/09 = NStZ 2009, 647 = StV 2009, 565. 20 Vgl. hierzu Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., § 273 Rn 6. 21 Vgl. die Übersichten bei Engelhardt in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 273 Rn 4 und bei Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., § 273 Rn 8 ff. 22 BGH Beschl.v.6.2.1990 – 2 StR 29/89 = BGHSt 36, 354 = NJW 1990, 1740; vgl. auch OLG Frankfurt/M. StV 1999, 138, 139. 23 BGH Beschl.v.6.2.1990 – 2 StR 29/89 = BGHSt 36, 354, 358. 24 BGH Beschl.v.6.2.1990 – 2 StR 29/89 = BGHSt 36, 354, 359.

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dert: Würde die Erörterung einer gerichtskundigen Tatsache als wesentliche Förmlichkeit angesehen, dann wäre sie gemäß § 273 Abs. 1 StPO im Protokoll zu vermerken. Wäre die Eintragung im Protokoll versehentlich unterblieben, könnte sie nach Maßgabe des in der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen entworfenen Verfahrens korrigiert werden. Der Beispielsfall zeigt, dass überall dort, wo die aus § 274 resultierende formelle Beweiskraft ein Grund dafür war, § 273 StPO einschränkend auszulegen, dies überdacht werden muss. Wird nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen die Berichtigung des Protokolls zugelassen, so verliert damit das Argument nachhaltig an Gewicht, das Revisionsgericht sei durch § 274 StPO gezwungen, bei seiner Entscheidung von einem prozessualen Sachverhalt auszugehen, der sich so nicht zugetragen hat. Zusammen mit den schon früher erhobenen Einwänden gegen die Entscheidung vom 6.2.199025 zeigt das, dass diese Rechtsprechung der Überprüfung bedarf. Dass eine Auslegung des § 273 Abs. 1 StPO alleine im Hinblick auf die mögliche Revisibilität der einzelnen Vorgänge daneben auch zu weiteren Unsicherheiten führt, zeigt sich insbesondere in den Fällen, in denen die Revisibilität eines Vorgangs noch ungeklärt ist oder in denen die Rechtsprechung neue Rechtsfiguren entwickelt hat. Ein praktisches Beispiel hierfür aus jüngster Zeit ist insbesondere das Widerspruchserfordernis, das nach der Rechtsprechung Voraussetzung für die Entstehung eines Verwertungsverbots bei der Verletzung verschiedener Verfahrensvorschriften (wie z.B. §§ 136, 168c StPO) ist. Allein aus dem Gesetzeswortlaut ist das Widerspruchserfordernis nicht abzulesen, erst recht ergibt sich hieraus nichts über die Frage der Protokollierungspflicht. Schon weil in einem Widerspruch gegen eine Verwertung stets auch das Petitum an das Gericht liegt, ein bestimmtes Beweismittel nicht zu verwerten, muss es aber hinsichtlich der Protokollierungspflicht so behandelt werden wie ein „Antrag“. Der Widerspruch muss als „wesentliche Förmlichkeit“ in das Protokoll aufgenommen werden, weil er für den Umfang des der Beweiswürdigung zugänglichen Tatsachenmaterials von entscheidender Bedeutung sein kann.26 Auch die Aufnahme solch neuer Rechtsfiguren in den Kreis der wesentlichen Förmlichkeiten sollte leichter fallen, nachdem durch die neue Rechtsprechung die Möglichkeit nachträglicher Korrekturen fehlerhafter Eintragungen eröffnet ist.

25 Vgl. zur Kritik an BGHSt 36, 354 auch Meyer-Goßner FS für Tröndle, Berlin 1989, S. 560 ff. 26 So auch BayObLGSt 1996, 112, 114 = NStZ 1997, 99; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., § 273 Rn 13; offen gelassen in BGH v. 09.04.1997 – 3 StR 2/97, NStZ 1997, 614.

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III. Eine der wesentlichen Grundlagen des Protokollsystems besteht darin, dass für den Inhalt des Protokolls zwei Urkundspersonen verantwortlich sind, der Vorsitzende und der „Urkundsbeamte der Geschäftsstelle“ (vgl. § 226 StPO). Das von ihnen zu verantwortende Protokoll hat sich grundsätzlich auf Vorgänge innerhalb der Hauptverhandlung zu erstrecken.27 Das folgt schon aus der systematischen Stellung und dem Inhalt des § 271 StPO sowie aus der Funktion des Protokolls als schriftliche Dokumentation des Geschehens im Gerichtssaal. Durch die neuen Vorschriften über die Verständigung im Strafverfahren kommt dem Protokoll aber eine darüber hinausgehende Funktion zu. Sie enthalten eine Protokollierungspflicht für inhaltliche Erklärungen über Vorgänge, die außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben. Zudem wurde eine Verpflichtung zur Protokollierung von mündlichen Äußerungen über den Verfahrensgegenstand eingeführt, für die es in den bisherigen Protokollvorschriften kein Vorbild gibt. Durch § 273 Abs. 1 Satz 2 StPO wurde eine Verpflichtung zur Protokollierung von Gesprächen nach § 257 b StPO geschaffen, durch Abs. 1a wurden darüber hinaus Verpflichtungen zur Protokollierung wesentlicher Vorgänge im Zusammenhang mit einer „Verständigung“ i.S.v. § 257 c StPO aufgestellt. Trotz dieser Ausweitung des Protokollinhalts blieb die Regelung über die Beweiskraft (§ 274 StPO) unverändert.

1. Dass die neuen Protokollierungspflichten gesetzestechnisch in gesonderten Regelungen neben der weiterhin bestehenden Verpflichtung zur Protokollierung der „wesentlichen Förmlichkeiten“ enthalten sind, könnte auf den ersten Blick nahe legen, dass es sich bei den Abs. in § 273 1 S. 2 und Abs. 1a StPO genannten Verfahrensvorgängen nicht um „wesentliche Förmlichkeiten“ i. S. v. § 273 Abs. 1 S. 1 StPO handelt. Wären sie von vornherein als solche anzusehen, hätte es einer gesonderten gesetzlichen Protokollierungspflicht nicht bedurft. Unabhängig von der konkreten Einordnung in § 273 StPO dürfte aber fest stehen, dass sich die allgemeinen Regeln über die Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls nach dem Willen des Gesetzgebers auf die jetzt neu in § 273 Abs. 1 und Abs. 1a StPO genannten Verfahrensvorgänge erstrecken sollen.28 27

Vgl. hierzu BGH v. 23.11.2000 - 1 StR 429/00 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 23. Vgl. hierzu BT-DrS 16/12310, S. 15, 19 und S. 22 sowie Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 273 Rn 18 ff. 28

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Die neuen Protokollierungspflichten sind dabei in mehrfacher Hinsicht dem bisherigen System des Hauptverhandlungsprotokolls fremd. So ergibt sich aus § 273 Abs. 1 S. 2 StPO nunmehr die Verpflichtung, den wesentlichen Ablauf und den Inhalt von Gesprächen über „den Stand des Verfahrens“ nach § 257 b StPO zu protokollieren.29 Wird ein solches Gespräch geführt, kann sich das Protokoll nach dem Gesetzeswortlaut nicht auf Floskeln beschränken, wie „Die Sach- und Rechtslage wurde mit den Beteiligten erörtert“. Gerade dann, wenn ein Gespräch auch vorläufige Bewertungen der Beweislage beinhaltet oder von den Beteiligten rechtliche Bewertungen geäußert werden,30 sollen diese nach dem Gesetzeswortlaut im Protokoll festgehalten werden. Das erfordert in erheblichem Umfang eine Wiedergabe mündlicher Äußerungen über den Verfahrensgegenstand, obwohl diese nach der Stellung des § 257 b StPO nur vorläufigen Charakter haben können.

2. Aus Absatz 1a der neuen Fassung des § 273 StPO ergibt sich nicht nur die Verpflichtung, eine etwaige Verständigung im Protokoll festzuhalten.31 Aus der neuen Vorschrift ergibt sich darüber hinaus die Verpflichtung, die zu Beginn der Verhandlung abzugebende Erklärung nach § 243 Abs. 4 StPO n.F. in das Protokoll aufzunehmen. Schon weil etwaige Gespräche mit dem Ziel einer Verständigung nach § 202a StPO oder nach § 212 StPO außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden, bezieht sich die im Protokoll festzuhaltende Erklärung auf einen Vorgang, bei dem nicht gewährleistet ist, dass er in Gegenwart derselben Personen stattgefunden hat, an der die späteren Hauptverhandlung teilnehmen. Der Vorsitzende muss eine Erklärung darüber abgeben, ob Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung stattgefunden haben, wenn ja muss er ihren wesentlichen Inhalt darstellen.32 Die Erklärungspflicht trifft ihn dabei nach dem Gesetzeswortlaut auch dann, wenn er die Gespräche nicht selbst geführt hat.33 Fehlt es an schriftlichen Unterlagen, ist er in diesen Fällen gezwungen, vom Hörensagen zu berichten.

29

Jahn/Müller, NJW 2009, 2629 sehen hierin eine wesentliche Förmlichkeit. Zum möglichen Inhalt des Gesprächs vgl. Schlothauer in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 257b Rn 5. 31 Insoweit erinnert der Gesetzesinhalt an § 127a BGB. 32 Vgl. Schlothauer in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 243 Rn 12. 33 Vgl. Schlothauer in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 243 Rn 9. 30

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Der Inhalt der Erklärung nach § 243 Abs. 4 StPO n.F. ist Gegenstand der Hauptverhandlung, ihn nehmen die Prozessbeteiligten in der Hauptverhandlung wahr. Der Protokollführer kann ihn dementsprechend aus eigener Kenntnis im Protokoll festhalten.34 Wie wenig die Protokollierungspflicht systematisch zum sonstigen Verständnis der §§ 273, 274 StPO passt, zeigt sich aber schon daran, dass unklar ist, was zu geschehen hat, wenn der Inhalt der Erklärung beanstandet wird. Eine Protokollberichtigung, wie sie bei Eintragungen möglich ist, die sich auf Vorgänge in der Hauptverhandlung beziehen, ist hier regelmäßig schon deshalb ausgeschlossen, weil es an eigenen Wahrnehmungen des Protokollführers über die Vorgänge außerhalb der Hauptverhandlung fehlen wird. Eine Beanstandung kann deshalb wohl nur dadurch erhoben werden, dass die anderen Verfahrensbeteiligten ergänzende Erklärungen abgeben. Eine Protokollierungspflicht für solche „Gegen-Erklärungen“ sieht das Gesetz nicht ausdrücklich vor. Sie dürfte aber jedenfalls aus § 273 Abs. 3 StPO abzuleiten sein. Über den Verweis auf § 243 Abs. 4 S. 2 StPO n.F. enthält § 273 Abs. 1 a StPO n. F. darüber hinaus auch die Verpflichtung, etwaige Änderungen zu protokollieren, die sich im Laufe der Hauptverhandlung ergeben.35 Auch insoweit sind Erklärungen über Vorgänge außerhalb der Hauptverhandlung erforderlich, über die der Protokollführer regelmäßig keine eigenen Wahrnehmungen macht. Unklar ist im Übrigen, wie weit die Beweiskraft des Protokollinhalts in diesem Zusammenhang reicht. Zwar ist deutlich, dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch insoweit § 274 StPO gelten soll. Bei Fehlen eines Protokolleintrags ist damit aber nur bewiesen, dass keine Erklärung in der Hauptverhandlung abgegeben wurde.36 Das ist nicht gleichbedeutend damit, dass keine Gespräche vor der Hauptverhandlung stattgefunden haben. Die Beweiskraft kann sich nur auf die Hauptverhandlung selbst erstrecken, nicht aber auf die Vorgänge davor.37 Es kann deshalb in dieser Situation keinem Beteiligten verwehrt sein, sich zur Begründung von Verfahrensrügen auf etwaige Gespräche zu berufen, die außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben; das Hauptverhandlungsprotokoll steht dem Nachweis der entsprechenden Verfahrenstatsachen nicht entgegen. Ist im Protokoll die Erklärung enthalten, es habe Gespräche gegeben, diese hätten aber nicht zu einer Verständigung geführt, ist der Beweiswert 34 Vgl. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 273 Rn 5. 35 Nach Jahn/Müller, NJW 2009, 2629 wird die Protokollierungspflicht hierdurch „dynamisiert“. 36 Nach Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, S. 167 soll hierin bereits ein revisibler Verfahrensfehler liegen. 37 So für das „Negativattest“ nach § 273 Abs. 1a S.3 auch Jahn/Müller NJW 2009, 2630.

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ebenfalls unklar. Es mag damit zwar feststehen, dass es keine Verständigung gegeben hat. Es muss aber für die Revision weiterhin die Möglichkeit bestehen, im Rahmen etwaiger Verfahrensrügen auch auf den Inhalt solcher Gespräche einzugehen.

3. Ähnliche Einwände bestehen gegenüber der in § 273 Abs. 1a S. 3 StPO n. F. enthaltenen Verpflichtung, ein „Negativattest“ in das Protokoll aufzunehmen. Dass damit eine ausdrückliche Erklärung darüber gefordert wird, dass ein Vorgang nicht stattgefunden hat, steht mit dem bisherigen Verständnis der formellen Beweiskraft nicht in Einklang.38 Enthält das Protokoll keine Erklärung zu einem Vorgang, so folgt schon aus der negativen Beweiskraft, dass der Vorgang nicht stattgefunden hat.39 Die Aufnahme einer ausdrücklichen Protokollierungspflicht dient somit an dieser Stelle vorrangig Disziplinierungszwecken und nicht dazu, eine vollständige Dokumentation der Hauptverhandlung zur Sicherung des Revisionsverfahrens zu schaffen.40 Sie kann auch nicht dem formellen Nachweis der Tatsache dienen, dass außerhalb der Hauptverhandlung keine Verständigung stattgefunden hat.41 Der Inhalt und die Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls beziehen sich nur auf Vorgänge innerhalb der Verhandlung.42 Auch hier ist aber unklar, wie weit die Beweiskraft reicht. Eine erste Entscheidung hierzu ist inzwischen durch den 2. Strafsenat ergangen. Die Verteidigung hatte sich in dem Verfahren zur Begründung für die Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO n. F.) darauf berufen, dass es zu einer Verständigung gekommen sei. Der Senat erkannte an, dass das Negativattest zu den Förmlichkeiten i.S.v. § 274 Satz. 1 StPO gehöre. Gegen den diese Förmlichkeit betreffenden Inhalt des Protokolls sei nach § 274 S. 2 StPO nur der Nachweis der Fälschung zulässig. Da sich insoweit keine Zweifel am Protokollinhalt ergaben, blieb der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist ohne Erfolg. 43 Unklar ist aber, welchen Beweiswert es hat, wenn das Negativattest fehlt und das Protokoll auch keine Eintragung über eine Verständigung enthält. 38 Vgl. die Bewertung von Meyer-Goßner, Ergänzungsheft zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, Rn. 5 zu § 273, der die Bestimmung als „systemwidrig“ ansieht. 39 Vgl. hierzu BT-DrS 16/12310, S. 19 und BT-DrS 16/12310, S. 22. 40 Vgl. hierzu auch Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 273, Rn 31. 41 So aber Jahn/Müller NJW 2009, 2630. 42 So mit Recht Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 273 Rn 16. 43 BGH v. 31.3.2010 -2 StR 31/10 = StV 2010, 346.

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Mit dem bisherigen Verständnis der Beweiskraft nach § 274 StPO ist diese Situation kaum lösbar. Der Gesetzestext enthält einerseits die Verpflichtung, eine Verständigung zu protokollieren, andererseits aber auch die Verpflichtung, das Fehlen einer Verständigung zu protokollieren. Aus der negativen Beweiskraft folgt, dass bei Fehlen der Eintragung einer Verständigung davon auszugehen wäre, dass keine Verständigung stattgefunden hat, im zweiten Fall („Fehlen des Negativattests“) spräche der Protokollinhalt jedenfalls dafür, dass eine Verständigung stattgefunden hat.44 Man wird beim Fehlen des Negativattests aber richtigerweise nicht annehmen können, dass damit schon feststeht, dass eine Verständigung stattgefunden hat. Fehlt zugleich die Eintragung der in § 257 c StPO enthaltenen Verfahrensschritte, dann ist nicht nachgewiesen, dass es eine Verständigung gegeben hat. Der Protokollinhalt ist insoweit widersprüchlich. Kommt es für die Begründung einer Verfahrensrüge darauf an, ob eine Verständigung erzielt wurde, dann wird die Durchführung freibeweislicher Ermittlungen kaum zu umgehen sein,45 - womit im Ergebnis eine ähnliche prozessrechtliche Situation besteht wie vor Inkrafttreten des Gesetzes über die Verständigung im Strafverfahren. Auch hinsichtlich des „Negativattests“ kann im Übrigen die Möglichkeit der Protokollberichtigung nach den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats nur in begrenztem Umfang herangezogen werden, um Fehler zu beseitigen. Der Protokollführer kann auf eigene Wahrnehmungen nur zurückgreifen, wenn die Frage zu beantworten ist, ob Erklärungen nach § 257 c StPO in der Hauptverhandlung abgegeben wurden. Er wird regelmäßig aber nicht über eigene Kenntnisse darüber verfügen, ob Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben.

4. Unabhängig davon steht der Umfang der durch die neuen Vorschriften aufgestellten Protokollierungspflichten im Gegensatz zu dem sonstigen Umfang der Protokollierungspflichten. Nach der Rechtsprechung des BGH war bislang allgemein kein förmlicher, im Protokoll festzuhaltender, Hinweis erforderlich, wenn sich im

44 Vgl. hierzu Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 273, Rn 30. 45 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, München 2010, § 273, Rn 30/31 will diese Konsequenz vermeiden, in dem er dem Negativattest keine Beweiskraft gegenüber dem übrigen Protokollinhalt zuspricht.

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Verlauf der Hauptverhandlung eine Veränderung der Tatsachengrundlage des Anklagevorwurfs ergab.46 Wird nunmehr im Rahmen eines Gespräches nach § 257 b StPO der „Stand des Verfahrens“ erörtert und dabei auf eine etwaige Veränderung der Tatsachengrundlage gegenüber dem Inhalt der Anklage hingewiesen, wird dies regelmäßig von der Protokollierungspflicht nach § 273 Abs. 1 S. 2 StPO umfasst sein. Wird ein Gespräch nach § 257 b StPO in der Hauptverhandlung hingegen erst gar nicht geführt, würde es – auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung – dabei bleiben, dass ein förmlicher, im Protokoll festzuhaltender Hinweis nicht erteilt werden muss. Um zu vermeiden, dass die Protokollierungspflicht damit im Ergebnis von der Durchführung des nicht formalisierten Gesprächs nach § 257 b StPO abhängt, sollte deshalb die Einfügung der §§ 257 b, 273 Abs. 1 S. 2 StPO zum Anlass genommen werden, die bisherige Auslegung des § 273 Abs. 1 StPO zu überprüfen und über eine Ausweitung der Protokollierungspflicht im Zusammenhang mit Hinweisen auf eine Veränderung der Tatsachengrundlage neu nachzudenken.47

5. Dass die neuen Vorschriften sich nicht ohne weiteres in die bisherige Struktur des Hauptverhandlungsprotokolls einfügen, zeigt sich darüber hinaus auch in anderem Zusammenhang. Nach bisherigem Verständnis der Protokollvorschriften findet die dem Urteil vorangehende Beratung keine Erwähnung im Hauptverhandlungsprotokoll. Nach der Rechtsprechung ergibt sich das schon daraus, dass sie nicht als Bestandteil der Hauptverhandlung anzusehen ist.48 Dass dieser für den Verfahrensausgang wesentliche Vorgang damit aus dem Hauptverhandlungsprotokoll vollständig fern gehalten wird, passt nur schlecht dazu, dass nunmehr andere Vorgänge, die sich außerhalb der Hauptverhandlung abspielen (wie insbesondere Erörterungen über die Möglichkeit einer Verständigung) im Protokoll ihren Niederschlag finden müssen. Das wirkt insgesamt nicht folgerichtig und zeigt, wie sehr sich die neuen

46 BGH v. 15.11.1978 – 2 StR 456/78 = BGHSt 28, 196, 197; vgl. auch BGH v. 20.2.2003 – 3 StR 222/02 = BGHSt 48, 221, 225/226 = NJW 2003, 2107 = StV 2003, 320; vgl. auch BGH v. 17.11.1998 – 1 StR 450/98 = NJW 1999, 802; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 265 Rn 23 mwN; vgl. ferner Engelhardt in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 265 Rn 24, der die Frage der Protokollierungspflicht des Hinweises als zentralen verbliebenen Streitpunkt ansieht. 47 Für eine Protokollierungspflicht: BGH v. 29.7.1998 – 1 StR 94/98 = BGHSt 44, 153. 48 Vgl. BGH v. 14.10.2009 – 4 StR 260/09 = NStZ 2009, 105; BGH v. 24.7.1990 – 5 StR 221/89 = BGHSt 37, 141, 143; BGH v. 29.1.1954 – 1 StR 329/53 = BGHSt 5, 294.

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Protokollierungspflichten vom ursprünglichen System der Protokollvorschriften entfernt haben.

IV. Sowohl aus der Rechtsprechung des Großen Senats für Strafsachen als auch aus den Neuregelungen in § 273 StPO ergeben sich damit Ansatzpunkte für eine veränderte Auslegung der Protokollvorschriften. Beide Entwicklungen müssen im Ergebnis dazu führen, dass das Hauptverhandlungsprotokoll das Verhandlungsgeschehen in größerem Umfang dokumentiert als bisher. Sie machen Überlegungen zu einer generellen Reform der Protokollvorschriften mit dem Ziel einer weitergehenden Dokumentation der Hauptverhandlung aber nicht überflüssig.49

49 Vgl. hierzu den Gesetzentwurf des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer für ein Gesetz zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik, BRAK- Mitteilungen 2010, 60; siehe auch Nestler in FS für Lüderssen, Baden-Baden 2002, S. 727 ff.

Sicherungsverwahrung im Umbruch JENS PEGLAU

I. Vorbemerkung Die gegenwärtigen Regelungen der Sicherungsverwahrung (§§ 66-66b StGB) bilden ein wenig homogenes System. Formelle und materielle Voraussetzungen sind ganz unterschiedlich, obwohl doch der Zeitpunkt der Anordnung (bei oder nach Aburteilung der Anlasstat) unter dem Gesichtspunkt der mit den Vorschriften verfolgten Zielsetzung des Schutzes der Allgemeinheit keine Rolle spielen dürfte. Das Regelungswerk ist zudem durch ein Tauziehen zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung aus den Fugen geraten.1 Die Reformdiskussion hat bereits begonnen. Die Entscheidung des EGMR vom 17.12.20092 gibt endgültig Anlass, über eine Neugestaltung nachzudenken.3 Das BMJ hat Eckpunkte für eine Neuordnung vorgelegt.4

II. Die bisherige Entwicklung Die gesetzgeberischen Verschärfungen (d.h. Erleichterung von bestehenden bzw. Schaffung neuer Unterbringungsmöglichkeiten) begannen 19985. Es wurde der heutige § 66 Abs. 3 StGB eingeführt sowie die Vollzugshöchstgrenze von 10 Jahren bei erstmalig angeordneter Sicherungsverwahrung abgeschafft (§ 67d Abs. 3 StGB) und zwar auch rückwirkend, was der EGMR jüngst beanstandet hat.6 Das macht nicht nur bei § 67d Abs. 3 StGB eine gesetzliche Anpassung erforderlich.7 Aufgrund der Argumentation des 1

Vgl. dazu auch Zschieschack/Rau JR 2008, 210, 211 f. EGMR Urt. vom 17.12.2009 - 19359/04 (M. ./. Deutschland), in deutscher Übersetzung: EuGRZ 2010, 25. 3 Stand der Überlegungen: Juni 2010. 4 Pressemitteilung des BMJ vom 9.6.2010. 5 Gesetz vom 26.1.1998, BGBl. I S. 160. 6 EGMR Urt. v. 17.12.2009, 19359/04 (M ./ Deutschland). 7 OLG Koblenz Beschl. v. 7.6.2010 – 1 Ws 108/10; vgl. auch OLG Celle Beschl. v. 10. 5. 2010 – 2 Ws 169, 170/10 und OLG Hamm Beschl.v. 12.5.2010 – 4 Ws 114/10. 2

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EGMR muss man auch die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) – jedenfalls in Fällen, in denen die Anlasstaten vor Schaffung der Vorschrift begangen und abgeurteilt wurden – als gefährdet ansehen.8 Im Jahre 2002 wurde § 66a StGB eingeführt.9 Die zuvor erlassenen Länderregelungen zu einer „nachträglichen Sicherungsverwahrung“ wurden vom BVerfG im Jahre 2004 aus kompetenzrechtlichen Gründen für verfassungswidrig erklärt.10 Die Anwendbarkeit des § 66a StGB hat der BGH durch die Einordnung des § 66a Abs. 2 S. 1 StGB als materiellrechtliche Anordnungsvoraussetzung 11 und durch Aufstellung einer ungeschriebenen Anordnungsvoraussetzung eines „Hangs“ für die Anordnung des Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 StGB 12 eingeschränkt.13 § 66b StGB wurde im Jahre 2004 eingeführt.14 Zeitnah begann die höchstrichterliche Rechtsprechung den Anwendungsbereich dieser Vorschrift möglichst zu reduzieren. Zu nennen sind hier (ebenfalls) das Aufstellen eines „Hangs“ als ungeschriebenem Anordnungsmerkmal (sogar bei § 66b Abs. 2 StGB)15 und die hohen Anforderungen an die neuen Tatsachen16. § 66b Abs. 3 StGB hat durch die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 7.10.2008 eine Einschränkung erfahren.17 Probleme, die die Rechtsprechung mit bestimmten „Altfällen“ hatte, bewogen schließlich den Gesetzgeber im Jahre 2007 dazu, für § 66b Abs. 1 StGB partiell auf neue Tatsachen ganz zu verzichten.18 Die Verunsicherung in der Strafverfolgungspraxis (auch hinsichtlich der Auswirkungen des EGMR-Urteils19) und der betriebene Aufwand (vgl. § 275a StPO) sind groß. Die Wirkung ist gering, da nur eine geringe Zahl von Verfahren nach § 66b StGB zur Maßregelanordnung führt (und das 8 Kinzig NStZ 2010, 233, 239 (sogar weitergehend: § 66b StGB generell); Müller StV 2010, 207, 211; Peglau jurisPR StrafR 1/2010 Anm. 2. 9 Gesetz vom 21.8.2002, BGBl. I S. 3344. 10 BVerfGE 109, 190 ff. 11 BGH NJW 2007, 1011 f. 12 BGHSt 50, 188, 193 ff. 13 Vgl. zu beiden Fragen Rissing-van Saan/Peglau LK 12. Aufl. § 66a Rn 51 ff. und Rn 39 ff. 14 Gesetz vom 23.7.2004, BGBl. I S. 1838. 15 BGH NJW 2007, 1074, 1077. 16 BGH NStZ-RR 2010, 108; BGH StV 2007, 29 ff. 17 BGHSt 52, 379 ff. 18 § 66b Abs. 1 S. 2 StGB, eingeführt durch Gesetz vom 13.4.2007, BGBl. I S. 513. 19 Vgl. einerseits (Gesetzgeber gefordert): OLG Koblenz Beschl. v. 7.6.2010 – 1 Ws 108/10; OLG Celle Beschl. v. 25.5.2010 – 2 Ws 169, 170/10; OLG Nürnberg Beschl. v. 24.6.2010 – 1 Ws 315/10; OLG Stuttgart Beschl. v. 1.6.2010 – 1 Ws 57/10; anderseits (unmittelbare Wirkung): BGH Beschl. v. 12.05.2010 – 4 StR 577/09 und OLG Hamm Beschl. v 12.5.2010 – 4 Ws 114/10; vgl. auch Laue JR 2010, 198, 202.

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nicht etwa, weil der jeweilige Täter ungefährlich wäre).20 Der Reformbedarf ist offensichtlich.21

III. Warum überhaupt Sicherungsverwahrung? 1. Schutzpflicht des Staates Das BVerfG formuliert in ständiger Rechtsprechung: „Das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt den Einzelnen nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es beinhaltet auch die staatliche Pflicht, sich schützend und fördernd vor die in ihm genannten Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“.22 Das Sanktionsinstrumentarium des Strafrechts dient der Erfüllung dieser Pflicht. Um sie angemessen zu erfüllen, reicht nicht allein die Strafe als Sanktion. Deren Verhängung und Dauer richtet sich nach der Schuld des Täters und kann (jedenfalls die zeitige Freiheitsstrafe) den Notwendigkeiten der Vorbeugung vor weiteren Taten des Rechtsbrechers nicht immer gerecht werden.23 Deswegen bedarf es der Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB), darunter u.a. der Sicherungsverwahrung. Ein einspuriges System, wie es in anderen Ländern praktiziert wird, und welches offenbar auch vor dem EGMR weniger angreifbar ist, wäre mit dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip24 unvereinbar. Höhere Strafen, die aus Präventionsgründen über das schuldangemessene Maß hinausgehen, sind daher nicht die Lösung.25

2. Verhältnismäßigkeit Zu bedenken wäre auch, dass die Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung gegenüber der (Freiheits-)Strafe im Grundsatz eine verhältnismäßigere Alternative ist. Der (Freiheits-)Strafe ist immanent, dass sie zumindest teilweise vollstreckt wird (vgl. § 57 StGB), auch wenn der Täter nicht (mehr) gefährlich ist. Nach vollständiger Verbüßung seiner 20

Vgl. Alex Nachträgliche Sicherungsverwahrung (2010) S. 27. Zschieschack/Rau JR 2008, 210, 212; zu § 67d Abs. 3 StGB vgl. OLG Koblenz Beschl. v. 7.6.2010 – 1 Ws 108/10. 22 Vgl. jüngst BVerfG NVwZ 2009, 1494, 1495 mwN; auch: BVerfGE 109, 190, 236; ebenso auch BGH NJW 2010, 1539, 1542. 23 Schöch LK 12. Aufl. Vor § 61 Rn 1. 24 Vgl. BVerfGE 91, 1, 27; BVerfGE 54, 100, 108. 25 Vgl. Freund GA 2010, 193, 208. 21

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Strafe wird er dann entlassen, gleich ob er (noch) gefährlich ist oder nicht. Dem einen Straftäter wird also ungeachtet seiner Ungefährlichkeit die Freiheit entzogen (letztlich nur aus Gründen der Generalprävention und der Vergeltung/Sühne, ohne dass dies zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich wäre). Der Bevölkerung wird bei dem anderen Straftäter zugemutet, dass er sich ungeachtet seiner Gefährlichkeit frei bewegen kann. Dem Maßregelrecht, als Gefahrenabwehrrecht, ist es hingegen immanent, dass die Maßregel (nur) so lange vollstreckt wird, wie der Täter gefährlich, was einer dauernden Überprüfung unterliegt (vgl. § 67e StGB).26

IV. Zu beachtende Vorgaben Zunächst ist zu betrachten, welchen Vorgaben der Gesetzgeber unterliegt, von denen er sich nicht bzw. nur um den Preis einer Verfassungsänderung oder einer Kündigung der EMRK lösen kann.

1. Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts a) Nach der Entscheidung des BVerfG zu den Straftäterunterbringungsgesetzen der Länder soll eine Sicherungsverwahrung nicht strafrechtlich verurteilter Personen aus Verhältnismäßigkeitsgründen ausscheiden. Nur das schwerwiegende und dem Betroffenen zuzurechnende Indiz der Anlasstat sei es, welches den Staat (abgesehen von dem Schutz vor psychisch Kranken oder vor der Verbreitung von Seuchen) berechtige, die seine Gefährlichkeit zu überprüfen und auf das Ergebnis dieser Überprüfung eine lange, schuldunabhängige Freiheitsentziehung zu gründen. Unterhalb dieser Schwelle könne nur auf konkrete Gefahren mit dem Polizeirecht (gegebenenfalls auch mit bis zu zweiwöchigem Polizeigewahrsam nach Landesrecht) reagiert werden.27 Die Unterbringung einer gefährlichen Person (soweit sie nicht nach den Landesunterbringungsgesetzen für psychisch Kranke erfolgen kann), ohne dass sie zuvor einen Dritten geschädigt hat, scheidet danach aus. Im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG fällt die Sicherungsverwahrung – auch die nachträglich angeordnete – unter den kompetenzrechtlichen Begriff des „Strafrechts“. b) Der im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelnde Resozialisierungsanspruch gebietet die regelmäßige Überprüfung des weiteren Maßregelvollzugs und entsprechende Aussetzungsmöglichkeiten. Das bisherige System 26 27

Ausnahme: Höchstfrist nach § 67d Abs. 1 StGB. BVerfGE 109, 190, 220.

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der §§ 67c ff. StGB genügt dem.28 Weiter erforderlich sind entsprechende Behandlungs- und Therapieangebote.29 Schließlich steigen bei zunehmender Dauer der Maßregelvollstreckung die für eine weitere Vollstreckung notwendigen Anforderungen an Art, Umfang und Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls.30 c) Für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung verlangt das BVerfG eine „auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit“ (in Abgrenzung zu einer bloß abstrakten, statistischen Wahrscheinlichkeit) für die Begehung neuer erheblicher Straftaten. Auch bedürfe es einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr (auch dies in Abgrenzung zu einer allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit).31

2. Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR a) Der EGMR hat gegen eine Sicherungsverwahrung neben einer (schuldgebundenen) Strafe als solche keine durchgreifenden Einwände erhoben. Diese ist grundsätzlich durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK abgedeckt. 32 b) Nach der Rechtsprechung des EGMR ist im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK erforderlich, dass Strafe oder andere freiheitsentziehende Maßnahmen aus der Verurteilung wegen der Straftat mit dem Schuldspruch folgen. Das ist nicht nur zeitlich gemeint, sondern es muss auch ein enges Band zwischen der Verurteilung und der jeweiligen Freiheitsentziehung bestehen.33 Die Verbindung zwischen Verurteilung und später beginnender Freiheitsentziehung wird mit zunehmendem Zeitablauf loser und wird aufgelöst, wenn die spätere Freiheitsentziehung nicht mehr mit den Zielen der ursprünglichen Verurteilung in Einklang steht.34 Für den Täter muss vorhersehbar sein, welche Folgen eine bestimmte Handlung nach sich zieht.35 Spätere strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen sind keine Verurteilung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit a EMRK.36 Hingegen begegnet es – jeden28

BVerfGE 109, 133, 153 ff.; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 7.12.2006 – 2 BvR 1560/06. BVerfGE 109, 133, 153 ff. 30 BVerfGE 70, 297, 315. 31 BVerfG NStZ 2007, 87, 88. 32 EGMR Urt. vom 17.12.2009 - 19359/04 (M. ./. Deutschland) Abs. 92 ff. mwN; vgl. auch Hofmann EuGRZ 1984, 13, 14; Kinzig NStZ 2010, 233, 235. 33 EGMR EuGRZ 1984, 6, 7; EGMR Urt. vom 17.12.2009 - 19359/04 (M. ./. Deutschland) Abs. 87 ff. 34 EGMR Urt. vom 27.5.1997 – 17391/90 (Eriksen ./. Norwegen), Abs. 78; EGMR Urt. vom 17.12.2009, 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 88. 35 EGMR Urt. vom 17.12.2009- 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 90. 36 EGMR Urt. vom 17.12.2009 - 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 96. 29

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falls im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK - keinen Bedenken, wenn jemand z. B. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird und lediglich nachträglich die zum Zeitpunkt der Verurteilung geltende Regelung, wonach eine solche tatsächlich nur 20 Jahre vollstreckt wird, entfällt. Die weitere Vollstreckung über 20 Jahre hinaus ist dann von der Verurteilung gedeckt.37 c) Eine vorbeugende Freiheitsentziehung kann auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c 2. Alt. EMRK (ohne zwingend vorangegangene Aburteilung einer Straftat) nur dann gestützt werden, wenn eine spezifische und konkrete Gefahr neuer Straftaten („hinreichend konkret und spezifisch, insbesondere hinsichtlich des Orts und der Zeit ihrer Begehung und ihrer Opfer“) besteht. Die Regelung gestattet hingegen nicht die Bekämpfung allgemeiner krimineller Neigungen und einer allgemeinen Rückfallgefahr, wie sie regelmäßig bei wiederholt verurteilten Straftätern besteht.38 d) Eine Rechtfertigung einer vorbeugenden Freiheitsentziehung – auch der Sicherungsverwahrung – kommt nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK in Betracht, wenn eine geistige Störung bzw. Persönlichkeitsstörung Grund für die Inhaftierung ist.39 Das ist nicht gleichbedeutend mit einer Störung im Sinne von § 63 StGB und setzt offenbar keine erheblich verminderte oder ganz aufgehobene Schuldfähigkeit voraus.40 Die Unterbringung muss dann „in einer Klinik, einem Krankenhaus oder einer andern, zu diesem Vorhaben ermächtigten Institution vollzogen“ werden.41 e) Aus Art. 7 Abs. 1 EMRK folgt u.a., dass keine schwerere als die zur Zeit der Begehung der Tat angedrohte Strafe verhängt werden darf. In der autonomen Auslegung des EGMR ist dabei die Maßregel der Sicherungsverwahrung als Strafe anzusehen, denn ihre Zwecke würden in anderen Ländern – das zeige die Rechtsvergleichung – durch Mittel erreicht, die dort als Strafe gelten, auch sei ihre Vollstreckung praktisch der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gleich.42

37 EGMR Urt. v. 12.2.2008 – 21906/04 (Kafkaris ./. Zypern) = BeckRS 2009, 27906; vgl. auch Trechsel FS Burgstaller (2004) S. 201, 213 ff. 38 EGMR NJW 1984, 544, 548; EGMR Urt. vom 17.12.2009, 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 102. Kritisch dazu: Freund GA 2010, 193, 207. Diese Konkretheit wird man wohl allenfalls bei vorheriger Tatankündigung finden. 39 EGMR Urt. vom 17.12.2009 - 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 103. 40 Kinzig NStZ 2010, 233, 236; vgl. auch BGH NJW 2010, 1539, 1544. 41 EGMR NJW 1986, 2173, 2174; Eisenberg NJW 2010, 1507, 1508. 42 EGMR Urt. vom 17.12.2009 - 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 126.

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V. Problemfelder und Lösungsansätze 1. Verortung im Strafgesetzbuch Ein wesentlicher Systemfehler ist die Verortung der gesamten Materie im Strafgesetzbuch. a) Materiell handelt es sich bei den verschiedenen Formen der Sicherungsverwahrung um Gefahrenabwehrrecht.43 Es soll hierdurch nicht vergangenes Unrecht gesühnt, sondern die Begehung neuen Unrechts verhindert werden. Es handelt sich zwar um Strafrecht i.S.d. Art. 74 Abs. Nr. 1 GG. Dies aber nicht, weil Sicherungsverwahrung Strafe wäre, sondern – so das BVerfG – weil dieser Begriff alles umfasst, was zu dem vom Verfassungsgeber vorgefundenen Begriff des Strafrechts gehöre, neben der eigentlichen Strafe eben auch andere Unrechtsfolgen.44 b) Die strafrechtliche Verortung führt immer wieder dazu, dass bei der Gesetzesanwendung in strafrechtlichen Kategorien gedacht wird.45 So zeigt sich in der strafgerichtlichen Rechtsprechung zur Erheblichkeit neuer Tatsachen immer wieder die Tendenz, die Erheblichkeit des als „Novum“ herangezogenen Geschehens zu bewerten (vergangenheitsgerichtet), anstatt – mit dem Gesetzestext und der zukunftsgerichteten gefahrenabwehrrechtlichen Denkweise – das tatsächliche Geschehen (und sei es auch selbst von geringem Gewicht) darauf hin zu untersuchen, ob es auf eine erhebliche Gefährlichkeit (also auf die große Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Begehung erheblicher Straftaten) hindeutet.46 Auch auf der Ebene der EMRK führt dies zu Verwicklungen, da – mangels Akzeptanz eines zweispurigen Sanktionensystems - dann leicht (wie jüngst geschehen) die Maßregel als Strafe behandelt wird. 47 c) Man sollte sich auch bewusst machen, dass mit der Verortung der Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch den Geschädigten de facto zwangsläufig wegen der Notwendigkeit der Begehung einer oder mehrerer Straftaten, (in den Begriffen des Staatshaftungsrechts ausgedrückt) „Sonderopfer“ für die Gemeinschaft auferlegt werden, die es in anderen Bereichen der Gefahrenabwehr nicht gibt. Bisher wurde das Augenmerk allerdings nur darauf gerichtet, dass der von einer Maßregel betroffene Täter ein

43

Freund GA 2010, 193, 198, 206. BVerfGE 109, 190, 212 ff. 45 Vgl. z. B. Eisenberg NJW 2010, 1507, 1509 („zusätzliche Übelszufügung“); Müller StV 2010, 207, 210. 46 Vgl. dazu Rissing-van Saan/Peglau LK 12. Aufl. § 66b Rdnr. 119. 47 EGMR Urt. v. 17.12.2009 - 19359/04 (M ./. Deutschland). 44

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„Sonderopfer“ erbringt.48 Ein Sonderopfer liegt dann vor, wenn jemand staatlicherseits „seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohle des Gemeinwesens aufzuopfern genötigt wird“ 49 und er hierdurch eine anderen nicht zugemutete, die allgemeine Opfergrenze überschreitende besondere Belastung hinnehmen muss.50 Es ist gerade Aufgabe des Gefahrenabwehrrechts, die Gefahr zu bannen, bevor sie in einen Schaden – in vorliegendem Zusammenhang also eine (schwere) Straftat – umschlägt. Es soll hier allerdings nicht einer Sicherungsverwahrung ohne vorherige Begehung von Straftaten das Wort geredet werden. Das dürfte weder vor dem BVerfG noch vor dem EGMR (wenn nicht Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK eingreift) Bestand haben. Die anzustellende Gefahrenprognose ist bei dem für die Sicherungsverwahrung in Frage kommenden Personenkreis sicherlich schwieriger als in anderen Fällen des Gefahrenabwehrrechts, in denen man die Gefahrenursache (relativ) klar diagnostizieren kann (z. B. eine psychische Erkrankung). Insoweit ist es jedenfalls sinnvoll, zur Erhöhung der Prognosesicherheit die vorherige Begehung einer oder mehrerer Straftaten als Unterbringungsvoraussetzung zu verlangen.51 Zum Ausgleich der Interessen der beiden „Sonderopfer-Gruppen“ macht das Erfordernis einer vorherigen Straftatenbegehung zur Eingrenzung des in Frage kommenden Personenkreises auf solche Personen, denen nicht nur eine entsprechende Gefährlichkeit gutachterlich bescheinigt werden kann, sondern bei denen sich diese bereits verwirklicht hat, durchaus Sinn.52 Das wäre dann aber auch die eigentliche Funktion der Straftat. Sie hat hingegen nicht die Funktion eines Sanktionsgrundes.53 Das Erfordernis der Begehung mindestens einer Straftat ließe sich genauso gut in einer polizeirechtlichen Vorschrift regeln wie in einer Maßregelvorschrift des Strafgesetzbuches. d) Eine Verortung der Materie außerhalb des Strafrechts wäre aber nur nach entsprechender Änderung der grundgesetzlichen Kompetenzregelung und (mit Blick auf den EGMR) nur bei einer Regelung, die unter Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK subsumiert werden kann, möglich. Das zeigt schon, dass hier nicht der primäre Ansatz für eine Reform liegen kann. Im Weite-

48 Vgl. z. B. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 28, 29; Eisenberg JGG 13. Aufl. § 106 Rn 4c; Boetticher NStZ 2005, 417, 418; Müller-Dietz NStZ 1983, 145, 148. 49 BGH NJW 1953, 857. 50 Brüning JuS 2003, 2, 7 mwN. 51 Vgl. insoweit die Erkenntnisse von Alex aaO S. 97 f. 52 Peglau ZRP 2000, 147, 150. 53 Ihre Funktion wäre keine andere als z.B. in § 55 AufenthG (das verkennt Müller StV 2010, 210).

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ren wird daher von einem Verbleib der Materie im Strafgesetzbuch ausgegangen.

2. Anordnungszeitpunkt a) Die verschiedenen Anordnungszeitpunkte für die Maßregel der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB bei Aburteilung der Anlasstat mit weiterer Prüfung nach Teilverbüßung gem. § 67c Abs. 1 StGB; § 66a StGB: nach – wenigstens – Teilverbüßung aufgrund Vorbehalt, § 66b StGB: nach – wenigstens – Teilverbüßung ohne Vorbehalt) verkomplizieren nur. Die Prüfung der (endgültigen) Maßregelanordnung kann man getrost nach hinten, d.h. an das Ende des Strafvollzuges, verlegen.54 Eine vorherige Prüfung bringt nichts, da sie (§ 67c Abs. 1 StGB, § 66a Abs. 2 StGB, § 66b StGB) hinterher ohnehin (noch einmal) vorgenommen wird und bis dahin der Verurteilte wegen der Verbüßung von Strafhaft ohnehin keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Am Ende der Strafhaft braucht man hingegen die aktuelle Prognose zur Gefährlichkeit. Man kann den Verurteilten nicht dauerhaft aufgrund einer eventuell gar Jahre zuvor erstellten Gefährlichkeitsprognose unterbringen. Das ist nicht nur geltendes Recht (vgl. §§ 67c, 67d, 67e StGB) sondern in dieser Form auch verfassungsgerichtlich gefordert (s.o.). Dass der Anordnungszeitpunkt der Sicherungsverwahrung (nach § 66 StGB) mit dem der Strafe identisch ist, kann man mit Freund als „konzeptionell fehlerhaft“ ansehen.55 Das ist letztlich nur mit einem Denken in der falschen rechtlichen Kategorie (nämlich Strafrecht statt Polizeirecht) zu erklären (s.o.). Ohne einerseits in die Rechte des Angeklagten bzw. Verurteilten einzugreifen und anderseits den Schutz der Bevölkerung zu vernachlässigen, würde eine Prüfung der Unterbringungsvoraussetzungen gegen Ende der Strafhaft ausreichen. Nebenbei würde das möglicherweise Kosten sparen, die derzeit für die mehrfache Begutachtung und die mehrfachen Verfahren (jeweils mit Verteidiger) anfallen.56 Zwar wird sich nicht jede anfängliche Begutachtung ersparen lassen, weil häufig im gleichen Zuge auch die Schuldfähigkeit bzw. die Notwendigkeit einer anderen freiheitsentziehenden Maßregel geprüft werden muss. Aber ein Teil des Begutachtungsaufwandes dürfte wohl entfallen. Der Begutachtungsaufwand müsste nicht zwingend dem § 275a StPO entsprechen, sondern nur dem § 246a StPO. Der Gesetzgeber meinte 54 Vgl. schon Caspari DRiZ 2006, 72, Freund GA 2010, 193, 204 f. und Kreuzer/Bartsch GA 2008, 656, 663 sowie (lt. Presse) einen Referentenentwurf des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz aus Januar 2009. 55 Freund GA 2010, 193, 204. 56 Freund GA 2010, 193, 205; aA: Caspari DRiZ 2006, 72, 73.

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bei Schaffung des § 275a StPO, dass bei der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung ein „besonders schwierig zu beurteilender Ausnahmefall“ vorliege und anders als bei § 66a StGB noch keine frühere Auseinandersetzung des Gerichts mit der Maßregelanordnung stattgefunden habe. Deswegen seien zwei Sachverständige notwendig.57 Das gilt freilich auch für § 66 StGB, ohne dass hier zwei Sachverständige erforderlich sind.58 b) Einer Verlegung des Anordnungszeitpunktes an das Ende der Strafhaft steht auch keine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung entgegen. Dass die Sicherungsverwahrung als solche verfassungsmäßig ist, hat das BVerfG mehrfach entschieden.59 De facto ändert sich durch die Verlegung des Anordnungszeitpunktes nichts. Selbst die Ungewissheit, ob der Verurteilte die Maßregel tatsächlich verbüßen muss, ist bei der vorgeschlagenen Regelung nicht anders als bei dem Zusammenspiel von §§ 66, 67c bzw. 66a StGB.60 Freilich müsste die Regelung mit Blick auf den EGMR eindeutig so ausgestaltet sein, dass das von diesem geforderte enge Band zwischen der gerichtlichen Entscheidung über den Schuldspruch und der jeweiligen Freiheitsentziehung noch besteht bzw. den Voraussetzungen für Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK Rechnung getragen wird (s.o.). Das kann man auf verschiedene Art erreichen. aa) Am klarsten wäre es, wenn bei der Erfüllung bestimmter formeller Voraussetzungen (Verurteilung zu einer bestimmten Katalogtat oder zu einer bestimmten Mindeststrafe) zunächst kraft Gesetzes Sicherungsverwahrung nach Strafverbüßung eintritt. Gegen Ende der Strafhaft wäre dann (von dem erkennenden Gericht) zu entscheiden, ob diese nicht zu vollstrecken ist oder zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Für den Täter wäre bei Begehung der Tat der etwaige Eintritt der Maßregel vorhersehbar. Da sie kraft Gesetzes mit der Verurteilung wegen der Straftat eintritt, wäre das enge Band zur Anlassverurteilung gegeben. Bei Anwendung der Maßstäbe aus der Entscheidung Kafkaris ./. Zypern wären sogar nachträgliche vollstreckungsrechtliche Verschärfungen der Voraussetzungen für Nichtvollstreckung möglich.61 bb) Die andere Möglichkeit wäre, dass bei Vorliegen der entsprechenden formellen Voraussetzungen kraft Gesetzes ein „Vorbehalt“ besteht, aufgrund dessen vor Ende der Strafhaft das (erkennende) Gericht über den 57

BT-Drs. 15/2887 S. 16. Zweifelnd auch Caspari DRiZ 2006, 72, 73. 59 Vgl. u.a. BVerfG NStZ-RR 1996, 122; BVerfG Beschl. v. 7.12.2006 – 2 BvR 1560/06. 60 Caspari DRiZ 2006, 72, 73. 61 Vgl. EGMR Urt. v. 17.12.2009 - 19359/04 (Kafkaris ./. Zypern) = BeckRS 2009, 27906; dazu: Freund GA 2010, 193, 208. 58

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Eintritt der Sicherungsverwahrung entscheidet.62 Auch das dürfte dem Verständnis des EGMR entgegen kommen, ohne gleichzeitig innerstaatliche Rechtssätze zu verletzen. Es würde sich letztlich um eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) handeln, nur dass der Vorbehalt nicht angeordnet werden muss, sondern kraft Gesetzes eintritt. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist aber vergleichbar der Konstellation, die dem Fall van Droogenbroeck ./. Belgien zu Grunde lag und die vom EGMR nicht beanstandet wurde.63 cc) Schließlich wird vorgeschlagen, das System allein auf eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung umzustellen, wobei der Vorbehalt angeordnet werden soll, wenn im Urteilszeitpunkt die Gefährlichkeit wahrscheinlich ist und die endgültige Maßregelanordnung eine sichere Gefährlichkeitsprognose erfordere.64 Letzteres würde allerdings die Probleme von Versäumnissen des Tatgerichts bei der Gefährlichkeitsermittlung bzw. auch die Nichterkennung ohne Versäumnisse zwar verringern, aber nicht völlig aus der Welt schaffen. Es könnte dann immer noch Fälle geben, in denen die Wahrscheinlichkeitsprognose nicht oder nicht richtig gestellt und eine Vorbehaltsanordnung verabsäumt wurde, so dass später eine Maßregelanordnung ausscheidet (so wie jetzt auch bei § 66a StGB). Auch könnte man bei diesem Modell etwaige Ersparnis- und Beschleunigungsmöglichkeiten durch Vermeidung von Doppelbegutachtung nicht nutzen, da wohl auch zur Wahrscheinlichkeitsfeststellung schon ein Sachverständiger herangezogen werden müsste. dd) (Insbesondere) Fälle, die von einer Lösung, wie sie oben aa) (oder auch bb) angedacht wird, nicht erfasst werden (das könnten insbesondere „Altfälle“ sein, in denen die Verurteilung vor Inkrafttreten einer Reform liegt) ließen sich allenfalls über eine „Sicherungsverwahrung“ regeln, die in ihren Voraussetzungen und in ihrer Vollstreckung auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK zugeschnitten ist.65 Die Praxis in der Vergangenheit hat gezeigt, dass bei einer Vielzahl derjenigen, gegen die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde auch „psychiatrisch relevante Persönlichkeitsauffälligkei-

62

Caspari DRiZ 2006, 72: Entscheidung immer erst am Ende der Strafhaft. EGMR EuGRZ 1984, 6 f.; ebenso auch Böllinger/Pollähne NK 3. Aufl. § 66a Rn 7; Ullenbruch MK § 66a Rn 18; Rissing-van Saan/Peglau LK 12. Aufl. § 66a Rn 16 mwN; Sprung Nachträgliche Sicherungsverwahrung – verfassungsgemäß? (2009) S. 249 ff. mwN; Kinzig NJW 2002, 3204, 3207; aA: Kinzig NStZ 2010, 233, 239. 64 Kreuzer/Bartsch GA 2008, 656, 664; so scheinen auch die Überlegungen des BMJ zu sein, vgl. Pressemitteilung vom 9.10.2010. 65 Vgl. die Argumentation in BGH NJW 2010, 1539, 1544. 63

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ten“66 bestehen.67 Zu prüfen wäre, ob der Begriff der psychischen Krankheit i.S. der Vorschrift diese erfasst. Insoweit könnte das Schweizer StGB (Art. 64) einen Denkanstoß geben.68 Auch die Vollstreckung müsste dann aber auf die Behandlung dieser geistig-seelischen Störungen ausgerichtet sein. c) Die Problematik der neuen Tatsachen würde sich gar nicht stellen.69 Da nun erstmalig zum Ende der Strafhaft der Eintritt der Sicherungsverwahrung zu prüfen ist, kommt es gar nicht darauf an, ob ein früheres Tatgericht die Gefährlichkeit erkannt hat oder hätte erkennen können. Auch wäre die Fragestellung nur, ob der Verurteilte jetzt und für die Zukunft gefährlich ist. Ob er in der Vergangenheit gefährlich war oder gar zu Unrecht die Maßregel nicht angeordnet wurde, wäre irrelevant. Wegen des einheitlichen Prüfungszeitpunkts und dem gesetzlichen Eintritt des Prüfungserfordernisses bei Erfüllung bestimmter formeller Voraussetzungen gäbe es auch keinen Grund mehr, unterschiedliche formelle Anforderungen, welche derzeit noch vor dem Hintergrund des Vertrauensschutzes des Straftäters notwendig sind, aber den Kreis von potentiellen Geschädigten im Rahmen des § 66b StGB erweitern, zu stellen. d) Ein einheitlicher Anordnungszeitpunkt für alle freiheitsentziehenden Maßregeln gegen Ende des Vollzuges dürfte angesichts der Notwendigkeit der Anrechnung des Vollzuges der Maßregeln nach §§ 63 f. StGB auf die Strafe (derzeit § 67 Abs. 4 StGB)70 und wegen der Notwendigkeit einer isolierten Anordnung ausscheiden. Hier muss die anfängliche Möglichkeit der Maßregelanordnung bestehen bleiben. Daneben könnte aber die Möglichkeit einer (erneuten) Anordnung gegen Ende der Verbüßung einer Freiheitsstrafe stehen, wenn sich herausstellt, dass (jedenfalls) dann die Voraussetzungen hierfür vorliegen.

3. Materielle Voraussetzungen a) Hang: Die Jubilarin hat in der Kommentierung zu § 66 StGB ausgeführt, Hang sei die Disposition zur Begehung von Straftaten, mithin eine Tätereigenschaft, ein Befund. Die Beurteilung der Gefährlichkeit sei hingegen eine Prognose bei der auch Faktoren berücksichtigt werden müssten, die das Gewicht des Befundes relativierten und Einfluss auf die weitere

66 Habermeyer Die Maßregel der Sicherungsverwahrung S. 121, S. 108 ff.; vgl. auch Alex aaO S. 94 ff. 67 Bzgl. der Anforderungen im Einzelnen vgl. z. B. Sprung aaO S. 266. 68 Vgl. dazu Kinzig FS Tondorf (2004) S. 157, 171 ff. 69 Kreuzer/Bartsch GA 2008, 655, 665. 70 Vgl. BVerfGE 91, 1 34 ff.; BVerfG Beschl. v. 6.12.1994 – 2 BvR 1872/91.

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Entwicklung des Täters nehmen könnten.71 So richtig das als solches ist, folgt daraus noch nichts für eine eigenständige Bedeutung des Hangs. Es folgt nur, dass bei der Erstellung der Gefährlichkeitsprognose nicht nur die Kriterien, die für die Hangfeststellung relevant waren, berücksichtigt werden, sondern darüber hinaus auch weitere. Unbestritten kann es sein, dass ein Täter zwar einen Hang zu erheblichen Straftaten aufweist, er aber wegen bereits begonnenen Siechtums, etc. nicht mehr gefährlich ist. Die Hangprüfung ist also nichts anderes als die Prüfung einer Teilmenge der Kriterien für die Gefährlichkeit. Die entscheidende Prüfung (und die – da mehr zu prüfen – Prüfung mit der höheren Hürde) geschieht bei der Erstellung der Gefährlichkeitsprognose. Ein „Hang“ als Voraussetzung kann daher ohne Einbußen entfallen.72 Bedenkenswert ist es allerdings, die Feststellung des Hangs durch die Feststellung einer Persönlichkeitsstörung zu ersetzen73, um auch so die Gefahrenprognose noch weiter zu stützen. b) Unterschiedliche Gefahrengrade: Die Abstufungen in den erforderlichen Gefahrengraden bei §§ 66, 66a und 66b StGB sind in den unterschiedlichen Anordnungszeitpunkten begründet. Im Falle der nachträglichen Anordnung nach § 66b StGB hatte der Gesetzgeber die Anforderungen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit unter Beachtung der verfassungsgerichtlichen Anforderungen, welche letztlich in den Besonderheiten einer Maßregelanordnung nach voller Verbüßung der Schuldstrafe (ohne dass der Täter damit rechnen musste) lagen, besonders hoch gesetzt.74 Das würde bei einem einheitlichen Anordnungszeitpunkt am Ende der Strafhaft entfallen, wenn (s.o.) bei Erfüllung bestimmter Mindestanforderungen der Verurteilung wegen der Anlasstat kraft Gesetzes der Vorbehalt einer späteren Maßregelanordnung besteht. Schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten kann dann nicht entstehen. Das Verfahren das aus Anlass der Straftat geführt wird, ist lediglich zeitlich auseinander gezogen. Deswegen bedürfte es auch keiner höheren Anforderungen, wie sie jetzt in § 66b StGB geregelt sind („hohe Wahrscheinlichkeit“, nur schwere seelische oder körperliche Schädigung). Vielmehr könnte man an § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB anknüpfen (freilich ohne „Hang“).

71

Rissing-van Saan/Peglau LK 12. Aufl. § 66 Rn 138. So schon (u.a.) Schüler-Springorum MSchrKrim 1989, 147 ff.; ähnlich auch die Eckpunkte des BMJ, vgl. Pressemitteilung vom 9.6.2010. 73 Vgl. Kreuzer/Bartsch GA 2008, 655, 664. 74 BT-Drs. 15/2887 S. 11, 13. 72

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c) Mit dem einheitlichen Anordnungszeitpunkt würden automatisch auch einheitliche formelle Voraussetzungen Anwendung finden, die ebenfalls (wegen des fehlenden schützenswerten Vertrauens) nicht über das Maß des § 66 StGB erhöht sein bräuchten. Damit die Verurteilung wegen einer Straftat ihre oben genannte Eingrenzungsfunktion erfüllt, muss sie Ausfluss der Gefährlichkeit des Täters sein (Symptomcharakter).75

4. Die weiteren freiheitsentziehenden Maßregeln Etwaiger Anpassungsbedarf bei den weiteren freiheitsentziehenden Maßregeln (§§ 63 und 64 StGB) kann hier nur angerissen werden. Wegen der Notwendigkeit der Anrechnung derselben auf eine gleichzeitig verhängte Freiheitsstrafe muss grundsätzlich die Anordnungsmöglichkeit bei Aburteilung der Anlasstat bestehen bleiben. Zu diskutieren wäre aber, ob unter bestimmten Voraussetzungen kraft Gesetzes ein Vorbehalt eintritt, zum Ende der Strafhaft über eine Maßregelanordnung zu entscheiden, z. B. in dem Fall, dass eine suchtbedingte Tat begangen wurde, bei Aburteilung der Tat aber kein Therapiebedarf mehr besteht. Fällt der Verurteilte während der Strafhaft wieder in die Sucht zurück und tritt dadurch wieder das in der Anlasstat zu Tage getretene, suchtbedingte Gefahrenpotential hervor, so wäre eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt durchaus sinnvoll.

5. Vollstreckung Sowohl nach der Rechtsprechung des BVerfG als auch des EGMR muss die Sicherungsverwahrung – wenn sie nicht als Strafe gelten und sich an den für Strafen geltenden Grundsätzen messen lassen soll – bestimmten inhaltlichen Anforderungen genügen. Geringfügige Vollzugserleichterungen gegenüber der Freiheitsstrafe reichen nicht. Vielmehr hat der EGMR kritisiert, dass es „keine besonderen, auf Sicherungsverwahrte gerichteten Maßnahmen, Instrumente oder Einrichtungen gibt, die zum Ziel haben, die von ihnen ausgehende Gefahr zu verringern und damit ihre Haft auf die Dauer zu beschränken“.76 Das BVerfG fordert hinreichende Resozialisierungsangebote, insbesondere Behandlungs-, Therapie- oder Arbeitsmöglichkeiten.77 75

Rissing-van Saan/Peglau LK 12. Aufl. § 66 Rn 218 ff. mwN. EGMR Urt. v. 17.12.2009 - 19359/04 (M ./. Deutschland) Abs. 128; vgl. zum Ganzen: Bartsch ZIS 2008, 280 ff., Bartsch/Kreuzer StV 2009, 54 ff. und Köhne StV 2009, 273 ff. 77 BVerfGE 109, 133, 1 53 ff. 76

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Sofern allein Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK als Rechtfertigungsgrundlage in Betracht kommt, müsste die Maßregel in besonderen, behandlungsorientierten Einrichtungen (am besten – um „Missverständnissen“ vorzubeugen – außerhalb des Strafvollzuges) vollzogen werden. Ansonsten gilt: Eine Flexibilisierung der Vollstreckung, ähnlich wie dies schon jetzt im übrigen Maßregelvollzug stattfindet, ist angezeigt. Je nach Gefährdungspotential (also Höhe der Rückfallwahrscheinlichkeit und Art der bedrohten Rechtsgüter) könnte man z.B. die Unterbringung in Außenwohngruppen oder auch eine längerfristige Beurlaubung78 etc. zulassen. Flankiert werden könnten Lockerungen durch entsprechende Weisungen und durch geeignete Überwachungsmaßnahmen wie z. B. die unangemeldete persönliche Überprüfung des Aufenthalts durch Vollzugsbedienstete, Auferlegung von Meldepflichten oder Anbringung einer sog. „elektronischen Fußfessel“ zur Aufenthaltsüberwachung und Ermittlung von Bewegungsprofilen. Das sind zwar für sich genommen alles einschneidende Maßnahmen, verglichen jedoch mit der vollständigen Freiheitsentziehung sicherlich milder. Ein solches flexibles System dürfte auch beim EGMR keinen Anstoß erregen, da die „Grundanordnung“ der Maßregel schon kraft Gesetzes mit der Aburteilung der Anlasstat erfolgt.

VI. Ergebnisse Sicherungsverwahrung sollte zukünftig kraft Gesetzes allein bei Erfüllung bestimmter formeller Voraussetzungen (die denen der §§ 66 und 66b StGB entsprechen könnten) mit der Verurteilung wegen der Anlasstat eintreten. Darüber, ob sie auch vollstreckt wird, muss dann vor Ende des Vollzuges der Freiheitsstrafe entschieden werden. Als materieller Voraussetzung bedarf es dann nur einer Gefährlichkeitsprognose (ohne Hang). Über Entscheidungsmöglichkeiten am Ende des Strafvollzuges bezüglich der anderen beiden freiheitsentziehenden Maßregeln ist nachzudenken. Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung ist flexibler auszugestalten. Der effektive Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern ist regelbar – auch im Einklang mit den Vorgaben des EGMR.

78

Köhne JR 2009, 273, 277.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Vollstreckungsmodell (BGHSt 52, 124) JOCHEN POHLIT

I. Vorbemerkung Mit seiner Entscheidung vom 17.01.2008 hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs unter Beteiligung der verehrten Jubilarin einen Systemwechsel hinsichtlich der Frage vorgenommen, auf welche Weise eine durch die (Strafverfolgungs-)Behörden verursachte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auszugleichen ist. Er hat sich bekanntlich von der bis dahin gängigen Strafzumessungslösung verabschiedet und das sog. Vollsteckungsmodell eingeführt. Seit diesem Rechtsprechungswechsel sind nunmehr drei Jahre vergangen, in denen die Entscheidung nicht nur in der Literatur Gegenstand einer Vielzahl von Besprechungen, Erläuterungen und kritischer Anmerkungen geworden ist1. Auch in der Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs ist eine beachtliche Zahl von Entscheidungen auszumachen, in denen sich Ausführungen zur Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen finden. Dies mag einer erhöhten Sensibilität der Tatgerichte geschuldet sein, die, stärker als in der Vergangenheit geschehen, die Gründe für Verzögerungen im Verfahrensablauf in den Blick nehmen und auf ihre Rechtsstaatswidrigkeit überprüfen. Wahrscheinlicher erscheint jedoch, dass der Grund in einer gewissen Unsicherheit der Tatgerichte über die Umsetzung und Konsequenzen der Entscheidung des Großen Senats liegt. Es erscheint nicht ganz fernliegend, dass Tatgerichte, in dem (durchaus nachvollziehbaren) Bestreben, das Urteil „revisionsfest“ zu machen, vorschnell zur Feststellung einer Rechtsstaatswidrigkeit kommen und allzu großzügig Kompensationen gewähren; hierauf deutet zumindest eine nicht geringe Zahl von Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs hin, in denen er mit teils deutlichen 1 Vgl. u.a. die Besprechungen von Ignor/Bertheau NJW 2008, 2209; Keiser GA 2008, 686; Kraatz JR 2008, 189; I. Roxin FS-Volk [2009], 617; Scheffler ZIS 2008, 269; B. Schmitt StraFo 2008, 313, 315 ff; Streng JZ 2008, 979; Volkmer NStZ 2008, 608; Ziegert StraFo 2008, 321; bzw. zum Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats (NJW 2007, 3294): Peglau NJW 2007, 3298; I Roxin StV 2008, 14; Salditt StraFo 2007, 513; K. Weber JR 2008, 36.

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Worten entsprechende Rechtsfehler bemängelt. Vor diesem Hintergrund erscheint es reizvoll, die sich mit dem Vollstreckungsmodell befassende Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs in einem Beitrag zusammenzufassen.

II. BGHSt 52, 124 Auch wenn hier keine weitere Besprechung der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 17.01.2008 erfolgen soll, ist es für die Betrachtung der Folgerungen für die Rechtspraxis notwendig, ihre wesentlichen Grundzüge kurz zu erinnern: 1. Nach der bis dahin gängigen Spruchpraxis der Strafsenate des Bundesgerichtshofs hatten die Tatgerichte in Fällen, in denen ein Strafverfahren durch die Strafverfolgungsbehörden unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze verzögert behandelt worden war, in zwei Schritten vorzugehen. In einem ersten Schritt waren Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen konkret festzustellen. Diese Feststellungen dienten sodann als Grundlage bei der Strafzumessung. Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die Belastungen, denen der Angeklagte wegen einer überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt gewesen war, waren bei der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen. Daran anknüpfend hatte der Tatrichter in einem zweiten Schritt zu entscheiden, ob eine schlichte Feststellung der Verzögerung als Kompensation ausreichend ist oder ob das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene Strafe erreicht oder übersteigt, so dass nur eine Verfahrenseinstellung - entweder aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses - einen angemessenen Ausgleich darstellen kann. Waren beide Alternativen zu verneinen, führte dies zu einer Herabsetzung der Strafe(n). Das Tatgericht war hierbei gehalten, das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen. Dabei war nicht nur eine Reduktion der Gesamtstrafe, sondern auch der darin eingestellten Einzelstrafen erforderlich, soweit das Verfahren hinsichtlich der jeweils zugrunde liegenden Taten rechtsstaatswidrig verzögert worden war.2 Allein für diesen zweiten Schritt, Kompensation im Wege der Rechtsfolgenentscheidung, brachte die Entscheidung BGHSt 52, 124 einen Wechsel mit sich.3 An der Feststellung und Beurteilung der Kompensationsgrundla2 3

Vgl. Nachweise bei BGHSt 52, 124, 134. Vgl. BGHSt 52, 124, 146.

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gen hat sich im Vergleich zur früheren Rechtsprechung dagegen nichts geändert.4 Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt gewesen war, stellen weiterhin bestimmende Strafzumessungsfaktoren dar, ohne dass diese allerdings konkret beziffert werden müssten;5 § 50 StGB ist jedoch auch hier zu beachten.6 Auf der Grundlage des Entschädigungsprinzips der MRK und dem Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB7 ist in Fällen, in denen weder eine schlichte Feststellung der Verzögerung ausreichend noch eine Verfahrenseinstellung geboten ist, nunmehr auf der zweiten Stufe ein bezifferter Teil der Strafe als vollstreckt festzusetzen.8 Wird eine Gesamtstrafe verhängt, so erstreckt sich die Anrechnung allein auf sie, nicht aber auf die darin eingeflossenen Einzelstrafen.9 Erforderlich sind indes auf der ersten Stufe auf die jeweiligen Taten bezogene, differenzierte Feststellungen zu den Verzögerungen und hierdurch bewirkten Belastungen für den Angeklagten.10 2. Der Große Senat hat zudem einige wichtige Hinweise für die zukünftige Rechtsanwendung in besonderen Verfahrenskonstellationen gegeben:11 a) Bezieht sich die Kompensation auf eine von vornherein zur Bewährung ausgesetzte (Gesamt-)Freiheitsstrafe, so wird sie zwar regelmäßig erst im Fall des Widerrufs wirksam. Daneben verbleibt aber auch die Möglichkeit, eine unmittelbar wirksame Entschädigung durch einen ausdrücklichen Verzicht auf Auflagen im Sinne des § 56 b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB zu bestimmen. b) In Fällen der Verhängung einer Geldstrafe ist, entsprechend der Vorgehensweise bei Freiheitsstrafen, ein bezifferter Teil der schuldangemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt festzusetzen. c) Wird eine Jugendstrafe verhängt, bedarf es zusätzlich der Prüfung, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären. Ob die Kompensation aus erzieherischen Gründen tatsächlich geringer bemessen werden kann, als bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht, muss jedoch bezweifelt werden. Eine kompensierende Anwendung des Vollstreckungsmodells ist grundsätzlich jedoch 4

BGH StV 2008, 399. BGH wistra 2008, 341; BGH Beschl. v. 08.05.2008 - 3 StR 123/08. 6 BGH wistra 2008, 465, 466. 7 BGHSt 52, 124, 135; hierzu EGMR StV 2009, 561, 562 m. Anm. Krehl. 8 BGHSt 52, 124, 146. 9 BGH Beschl. v. 19.08.2009 - 5 StR 302/09. 10 BGHSt 52, 124, 147. 11 Vgl. BGHSt 52, 124, 145 ff. 5

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auch bei Jugendstrafe zulässig, jedenfalls wenn die Verhängung auf das Vorliegen besonders schwerer Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) gestützt ist.12 d) Wird eine Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so bedarf es bei der Bildung der neuen Gesamtstrafe der Festsetzung, welcher bezifferte Teil aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist. Entsprechendes gilt, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das mit der Nachtragsentscheidung befasste Gericht hat sich dabei an den Feststellungen des Tatrichters zu Art und Umfang der Verzögerung bei den der jeweils einzubeziehenden (Einzel-)Strafen zu Grunde liegenden Taten zu orientieren; auch deshalb ist es unabdingbar, dass der Tatrichter solche differenzierten Feststellungen trifft. Wie auch sonst gilt auch hier, dass der Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden darf, was bedeutet, dass in der Summe die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben darf.

III. Behandlung von „Altfällen“ Der Systemwechsel brachte es mit sich, dass in einer Vielzahl von „Altfällen“ die Frage zu beantworten war, ob der revidierende Angeklagte durch die Anwendung der nunmehr überholten „Strafabschlagslösung“ beschwert sein konnte und ob die im angefochtenen Urteil verhängten (reduzierten) Strafen für den neuen Tatrichter eine Obergrenze darstellen. Hierbei traten unterschiedliche Ansätze zwischen den Senaten des Bundesgerichtshofs zum Vorschein. Zwar dürften diese Differenzen an Aktualität verloren haben. Im Hinblick auf die derzeit diskutierten Überlegungen, die Vollstreckungslösung auf andere Fallgestaltungen, in denen eine Kompensation erforderlich ist, zu übertragen13, steht allerdings zu erwarten, dass sich vergleichbare Fragen in Zukunft erneut stellen werden. Unstrittig scheint zu sein14, dass eine Beschwer des Angeklagten durch die Anwendung der überholten „Strafabschlagslösung“ im Regelfall jedenfalls dann gegeben ist, wenn sich bei Anwendung des „Vollstreckungsmodells“ der Zeitpunkt, zu dem Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann, nach vorne verlagert und der Angeklagte bei Vorliegen der Voraus12

BGH Urt. v. 19.05.2010 – 2 StR 278/09. Vgl. Nachweise unter VIII.; s.a.: BGH NJW 2010, 1155: Berufsrechtliches Verfahren der Steuerberater; OLG Bamberg NJW 2009, 2468: Bußgeldverfahren. 14 BGH StV 2008, 399, 400; wistra 2008, 341; Beschl. v. 08.05.2008 - 3 StR 123/08; Beschl. v. 27.05.2008 - 3 StR 157/08; Beschl v. 14.05.2008 - 3 StR 75/08; vgl. a. BGHSt 52, 124, 145. 13

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setzungen des § 57 StGB früher aus dem Strafvollzug entlassen werden könnte. Umstritten ist hingegen die Frage, ob der neue Tatrichter, der nach einer deshalb veranlassten Aufhebung des Strafausspruchs zu entscheiden hat, durch § 358 Abs. 2 StPO daran gehindert ist, auf höhere Einzelstrafen und eine höhere Gesamtstrafe zu erkennen, als im aufgehobenen Urteil. Der 3. Strafsenat erachtet die Verhängung höherer Strafen unter bestimmten Umständen für zulässig. Zum einen dürften die neuen Strafen nicht höher sein als diejenigen, die im aufgehobenen Urteil ohne Strafabschlag als schuldangemessen ausgewiesenen waren. Zum anderen müsse ausgeschlossen sein, dass die im Falle vollständiger Vollstreckung zu verbüßende Strafe höher ist, als die im aufgehobenen Urteil nach Vornahme des Strafabschlags ausgesprochene (Gesamt-)Strafe.15 Hierdurch sei sichergestellt, dass der Angeklagte auch dann nicht durch die Kompensation in Form der Vollstreckungslösung im Ergebnis schlechter steht, wenn der neue Tatrichter auf eine höhere Gesamtstrafe erkennt.16 Waren in dem ersten Urteil die ohne Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung verwirkten Strafen allerdings nicht ausgewiesen und nur die sich nach einem (nicht konkret benannten) Strafabschlag ergebenden Strafen beziffert, so sei der neue Tatrichter allerdings daran gehindert, auf eine höhere Strafe als im ersten Urteil zu erkennen.17 Gegen eine Bestimmung der Beschwer allein anhand eines Vergleichs der jeweils möglichen Gesamtverbüßungszeiten haben andere Senate Bedenken erhoben.18 So hat der 1. Strafsenat19 mit guten Gründen darauf hingewiesen, dass schon in dem höheren Strafausspruch ein gesteigerter Makel liege und der Angeklagte jedenfalls durch die Folgewirkungen der höheren Strafe Nachteile erleiden könne, etwa bei der Strafzumessung bei weiteren Verurteilungen wegen nachfolgender Straftaten oder bei evtl. anstehenden Entscheidung nach § 66 StGB. Hieraus zieht er den Schluss, dass bei Übergangsfällen grundsätzlich die mildere Lösung darin liege, es bei der von der Strafkammer vorgenommenen Milderung (schon) bei der Strafzumessung zu belassen. Sollten sich beim Ablauf der Vollstreckung, die sich ohnehin nicht mit der erforderlichen Sicherheit zum Zeitpunkt des Urteilsspruchs 15 BGH NStZ-RR 2008, 168; wistra 2008, 341, 342; Beschl. v. 08.05.2008 - 3 StR 123/08; Beschl. v. 17.11.2009 - 3 StR 437/09. 16 BGH wistra 2008, 341, 342. 17 BGH Beschl. v. 17.11.2009 - 3 StR 437/09. 18 1. Strafsenat: BGH NJW 2008, 2451, 2454; 2. Strafsenat: StV 2008, 400; 4. Strafsenat: Beschl. v. 10.04.2008 - 4 StR 443/07 (in NStZ 08, 523 insoweit nicht abgedr.); 5. Strafsenat: Beschl. v. 02.04.2008 – 5 StR 345/07 (in BGHSt 52, 182 und NJW 2008, 1827 insoweit nicht abgedr.); s.a.: BVerfG StV 2009, 673, 674. 19 BGH NJW 2008, 2451, 2454.

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prognostizieren lasse, nicht hinnehmbare Härten beim Vergleich mit einer hypothetischen Kompensation nach der Vollstreckungslösung herausstellen, müsse dem im Strafvollstreckungsverfahren, notfalls im Gnadenweg, begegnet werden.20 Das Verschlechterungsverbot verbiete es jedenfalls, nach dem Vollstreckungsmodell eine nicht aussetzungsfähige Gesamtstrafe zu verhängen, wenn dadurch dem Angeklagten die im ersten Urteil angeordnete Strafaussetzung zur Bewährung genommen werde.21 Der Streit wirkt sich allerdings in Fallgestaltungen nicht aus, in denen aus anderen Gründen eine Beschwer des revidierenden Angeklagten von vornherein ausgeschlossen werden kann. Dies gilt etwa dann, wenn der vorgenommene Strafabschlag unangemessen hoch ausgefallen war22 oder gar nicht zu gewähren gewesen wäre23. Ferner fehlt es an einer Beschwer, wenn im angefochtenen Urteil keine sofort zu verbüßende Strafe verhängt worden ist und erst durch die – nach dem Vollstreckungsmodell rechtsfehlerhafte Herabsetzung der Strafe eine Bewährungsentscheidung nach § 56 Abs. 1 StGB möglich wurde.24 Der 1. Strafsenat hat eine Beschwer zudem in einer Fallgestaltung verneint, in welcher nach der Strafabschlagslösung sowohl die Einzelstrafen als auch die daraus gebildete Gesamtstrafe reduziert worden waren. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass – im Unterschied zur früheren Rechtsprechung – nunmehr nach der Vollstreckungslösung eine Anrechnung lediglich auf die Gesamtstrafe vorzunehmen gewesen wäre und - wohl angesichts der beträchtlichen Herabsetzung der Einsatzstrafe im damals entschiedenen Fall - davon auszugehen sei, dass bei nicht reduzierten Einzelstrafen eine höhere als die verhängte Gesamtstrafe als schuldangemessen angesehen worden wäre.25

IV. Revisionsverfahren und Rechtskraft 1. Was die Anforderungen an den Vortrag in der Revision (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) anbelangt, gilt die bisherige Rechtslage fort. Im Rahmen der grundsätzlich erforderlichen Verfahrensrüge ist der Verlauf des gegen den Angeklagten geführten Strafverfahrens regelmäßig so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die 20

Die Entscheidung betraf einen Fall, in dem die Restverbüßungszeit bis zum hypothetischen 2/3-Zeitpunkt nach beiden Modellen gleich lang gewesen wäre, weshalb diese Erwägung letztlich nicht tragend gewesen war. 21 BGH Beschl. v. 10.04.2008 - 4 StR 443/07 (insoweit in NStZ 2008, 523 nicht abgedr.). 22 BGH Beschl. v. 23.07.2008 - 2 StR 252/08. 23 BGH Beschl. v. 23.07.2008 - 2 StR 283/08. 24 BGH StV 2008, 400. 25 BGH NStZ-RR 2009, 92.

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Lage versetzt wird, das Vorliegen einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung zu prüfen.26 Die Anforderungen an den Umfang der Darstellung der den Mangel enthaltenden Tatsachen im der Revisionsbegründungsschrift dürfen bei der Beanstandung einer konventionswidrigen Verzögerung während eines jahrelang währenden Verfahrens sicherlich nicht überzogen werden. Die Mitteilung jedes Ermittlungsschrittes ist weder möglich noch erforderlich. Die Begründung darf den tatsächlichen Ablauf aber nicht - etwa durch wesentliche Auslassungen - verzerrt darstellen.27 Es genügt nicht, lediglich den Verfahrensablauf in einem bestimmten Verfahrensabschnitt (etwa lediglich den Zeitraum zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils) zu schildern und über den Verfahrensvorgang davor keinen Überblick zu geben.28 2. Neu ist jedoch, dass nunmehr die Revision wirksam auf die (unterlassene) Kompensationsentscheidung beschränkt werden kann. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Kompensation nach der Vollstreckungslösung getrennt und unabhängig von der Strafzumessung vorzunehmen ist29 und die darüber getroffenen Entscheidungen grundsätzlich je für sich auf Rechtsfehler überprüft werden können. Etwas anderes kann allerdings gelten, wenn die Verfahrensdauer oder die durch diese entstandenen besonderen Belastungen des Angeklagten rechtsfehlerhaft, insbesondere lückenhaft festgestellt wurden. Weil diese Umstände bereits als bestimmende Strafzumessungspunkte auf die Festsetzungen der (Einzel-)Strafen Relevanz entfalten, können dann beide Entscheidungsteile durch den Rechtsfehler gleichermaßen betroffen sein.30 3. Die Selbstständigkeit der Kompensationsentscheidung vom Strafausspruch hat auch Auswirkungen auf die Rechtskraft. Hebt das Revisionsgericht lediglich den Strafausspruch auf, erwächst das Urteil hinsichtlich der Feststellung und Kompensation einer bis zum Zeitpunkt der aufhebenden Entscheidung eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in Rechtskraft. Dies gilt selbst dann, wenn sich der erste Tatrichter mit der Frage einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung überhaupt nicht befasst hat. Dem neuen Tatgericht ist die Prüfung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und ggfs. Nachholung einer entsprechenden Kompensationsentscheidung wegen Verzögerungen, die ausschließlich vor der Entscheidung des Revisionsgerichts liegen, verwehrt. Sofern Anlass besteht, 26

BGH StV 2008, 345. BGH NJW 2008, 2451, 2452 f; s.a. BVerfG StV 2009, 673. 28 BGH NStZ-RR 2009, 92. 29 BGHSt 52, 124, 135. 30 BGH wistra 2008, 304, 305; StV 2010, 228, 231. 27

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hat es jedoch Verzögerungen, die nach diesem Zeitpunkt eingetreten sind, festzustellen und zu kompensieren. In die hierfür gebotene Gesamtbetrachtung sind auch diejenigen Verfahrensteile einzubeziehen, die vor der revisionsrechtlichen Entscheidung liegen.31 Gegebenenfalls hat der neue Tatrichter wegen später eingetretenen Verzögerungen eine bereits im früheren Urteil angeordnete Kompensation angemessen zu erhöhen.32 4. Unterfällt sowohl der Kompensationsausspruch als auch eine - rechtsfehlerhaft gebildete - Gesamtstrafe der Aufhebung, so kann das Revisionsgericht das Verfahren zur Nachholung beider Entscheidungen in das Beschlussverfahren nach §§ 354 Abs. 1a S. 1, 460, 462 StPO verweisen. Weil die dazu notwendigen Feststellungen im Freibeweis getroffen werden können,33 ist die Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung in diesem Fall entbehrlich.34 Es erscheint vor diesem Hintergrund widersinnig, vom neuen Tatgericht demgegenüber die Durchführung einer Hauptverhandlung zu verlangen, wenn „nur“ der Kompensationsausspruch, nicht aber zugleich auch die Gesamtstrafe aufgehoben worden ist. In diesen Fällen wäre es angezeigt, in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO ebenfalls in das Beschlussverfahren entsprechend der §§ 460, 462 StPO zu verweisen. Eine unstatthafte Beschränkung der Verfahrensrechte des Angeklagten wäre damit nicht verbunden. Denn auch andere Formen der Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, etwa Verfahrenseinstellungen oder -beschränkungen, werden in Beschlussform vorgenommen.35 5. Einer Erstreckung der wegen einer rechtsfehlerhaften Kompensationsentscheidung erfolgenden Aufhebung eines Urteils auf einen nicht revidierenden früheren Mitangeklagten hat der Bundesgerichtshof eine Absage erteilt.36 Weil Grundlage der Kompensationsentscheidung die Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren sei, sei für die Anwendung des § 357 StPO von vornherein kein Raum. Etwas anderes ergebe sich auch nicht in den Fallkonstellationen, in denen die Aufhebung des Urteils insoweit ausnahmsweise auf die Sachrüge erfolgt. Auch eine analoge Anwendung des § 357 StPO scheide aus, weil sich die Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, für jeden Angeklagten individuell beantworte. 31

BGH NJW 2009, 3734, 3735. In der Tendenz gegenläufig: BGH NStZ 2010, 149, 150: Aufhebung des Kompensationsausspruchs wegen der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass der weitere Verfahrensverlauf eine Erhöhung der Kompensation gebietet. 33 BGH StV 2008, 633, 635. 34 BGH Urt. v. 16.07.2009 - 3 StR 148/09. 35 vgl. BGH Urt. v. 16.07.2009 - 3 StR 148/09. 36 BGH NJW 2009, 307, 308. 32

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V. Verzögerungen im Revisionsverfahren Tritt eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung erst im Revisionsverfahren ein, etwa durch verzögerte Weiterleitung der Akten vom Tatgericht an die Staatsanwaltschaft37 oder wenn unbemerkt geblieben ist, dass die Verfahrensakten im Rahmen der Versendung abhanden gekommen waren38, hat das Revisionsgericht dies auf die allgemein erhobene Sachrüge von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Erhebung einer entsprechenden Verfahrensrüge bedarf es in diesen Fällen nicht.39 Der Wechsel von der Strafabschlags- zur Vollstreckungslösung hat nichts daran geändert, dass das Revisionsgericht über das Maß der Kompensation in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a S. 2 StPO selbst entscheiden und dieses neu festsetzen kann.40 Das Revisionsgericht hat in diesen Fällen sowohl das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsbehörden als auch die Auswirkungen der Verzögerung auf den Angeklagten selbst festzustellen und ihm rechtliches Gehör zu geben. In extremen Fällen allerdings, etwa wenn das Verfahren über Jahre hinweg rechtsstaatswidrig verzögert worden ist, tritt die Bedeutung als bestimmender Strafzumessungsfaktor wieder stärker hervor. Die Anordnung einer Kompensation durch das Revisionsgericht allein ist dann nicht ausreichend. Zumeist wird dann nicht auszuschließen sein, dass der besonders lange Zeitraum zwischen Tat und Rechtskraft des Urteils und die dadurch bewirkten Belastungen eine Milderung der Strafe erfordern. In einem solchen Fall unterfällt deshalb der Strafausspruch der Aufhebung.41 Sofern das Revisionsgericht die Strafe nicht selbst festsetzen kann (§ 354 Abs. 1a StPO) muss es die Sache an das Tatgericht zurückverweisen.

VI. Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit Obwohl die Entscheidung des Großen Senats auf der ersten Stufe der Kompensationsbemessung keine Änderungen herbeigeführt hat, hatte der Bundesgerichthof wiederholt Anlass, darauf hinzuweisen, dass nicht die gesamte Verfahrensdauer von der Anklageerhebung bis zum Beginn der Hauptverhandlung uneingeschränkt und pauschal der Bemessung zugrunde gelegt werden kann.

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BGH NStZ-RR 2008, 208. BGH Beschl. v. 15.04.2010 - 1 StR 163/10. 39 BGH Beschl. v. 11.03.2008 - 3 StR 36/08. 40 BGH NStZ-RR 2008, 208, 209. 41 BGH StV 2009, 638, 639. 38

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1. Notwendige, den Fortgang des Verfahrens fördernde Tätigkeiten, deren Erledigung jeweils eine angemessene Zeit beanspruchen und dauern durfte, sind rechtsstaatsgemäß. Es ist deshalb konkret festzustellen, welcher Zeitraum bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung für die Erledigung der entsprechenden Maßnahmen beansprucht werden durfte; nur die darüber hinausgehende Zeitdauer ist der Bestimmung der Kompensation zugrunde zu legen.42 Ebenfalls keine Berücksichtigung finden Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst, sei es auch durch zulässiges Prozessverhalten, verursacht hat.43 Nicht ausreichend ist es, wenn das Tatgericht lediglich die Zeiträume zwischen den einzelnen Verfahrensschritten im Urteil benennt, ohne kenntlich zu machen, welcher konkrete Abschnitt davon jeweils unter Anrechnung einer sachgerechten Verfahrensbehandlung einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung darstellt.44 Vielmehr bedarf es präziser Feststellungen zu Art, Ausmaß und Ursachen der in den verschiedenen Verfahrensabschnitten aufgetretenen Verzögerungen.45 Zu beachten ist ferner, dass eine Verzögerung während eines einzelnen Verfahrensabschnitts für sich allein dann keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründet, wenn das Strafverfahren insgesamt in angemessener Zeit abgeschlossen wurde.46 2. Ungeeignet zur Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist die Anwendung eines rein rechnerischen Maßstabes.47 Rechtsfehlerhaft ist es deshalb, wenn sich das Tatgericht ohne nähere Differenzierung darauf beschränkt, der tatsächlichen Hauptverhandlungsdauer eine durch Ansatz eines mathematischen Faktors (etwa zwei Hauptverhandlungstage pro Woche) gebildete fiktive Hauptverhandlungsdauer gegenüberzustellen.48 3. Die Zeiten, in denen das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert betrieben wurde, sind in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzustellen, damit das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird zu prüfen, ob der angenommene Verzögerungszeitraum rechtsfehlerfrei ermittelt ist und sich das Maß

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BGH StV 2008, 399, 633 m. Anm. Scheffler StV 2009, 719; wistra 2008, 341; NStZ-RR 2009, 92; Beschl. v. 27.05.2008 - 3 StR 157/08. 43 BGH StV 2010, 228, 230; vgl. a. BGH StV 2008, 633; BVerfG StV 2009, 673, 674; KG NStZ-RR 2009, 180 [LS]. 44 BGH StV 2008, 399; Beschl. v. 02.04.2008 - 5 StR 354/07 (in BGHSt 52, 182 und NJW 2008, 1827 insoweit nicht abgedr.). 45 BGH NStZ 2008, 478. 46 BGH StV 2008, 633 u. 2010, 228, 230. 47 BGH StV 2010, 228, 230. 48 BGH Urt. v. 16.07.2009 - 3 StR 148/09.

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der zugebilligten Kompensation noch im Rahmen des dem Tatrichter eröffneten Entscheidungsspielraums hält.49 4. Die schlichte Bezugnahme im Urteil auf eine Entscheidung über die weitere Haftfortdauer ist keinesfalls ausreichend. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Untersuchungshaft gilt ein wesentlich strengerer Maßstab, als bei der Bestimmung des Zeitraums für die sachgerechte Erledigung des jeweiligen Verfahrens bei ordnungsgemäßer Bearbeitung.50 5. Maßgeblich sind sämtliche, durch eine staatliche Stelle zu verantwortende Verzögerungen, nicht allein solche, die von einer Justizbehörde verursacht worden sind. Beachtlich sind deshalb auch Verzögerungen, die auf ein Fehlverhalten einer Meldebehörde zurückzuführen sind.51 Ein durch unzureichende Personalausstattung des mit der Erstellung eines DNAGutachtens beauftragten Landeskriminalamts verursachter Verfahrensstillstand liegt ebenfalls im Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbehörden.52 6. Die für Art. 6 Abs. 1 MRK maßgebende Frist beginnt regelmäßig erst mit dem Zeitpunkt, an dem der Beschuldigte entsprechend Art. 6 Abs. 3 lit. a MRK offiziell Kenntnis davon erhält, dass wegen einer Straftat gegen ihn ermittelt wird.53 7. Die Verzögerung, die durch die Aufhebung eines Urteils und anschließender Neuverhandlung des Verfahrens eintritt, stellt jedenfalls dann keine konventionswidrige und damit kompensationsbedürftige Verzögerung dar, wenn die Aufhebung nicht auf einem eklatanten Rechtsfehler beruhte.54 Gleiches gilt für die durch ein Anfrageverfahren verursachten Verzögerungen im Revisionsverfahren.55 Anders kann es jedoch sein, wenn im selben Verfahren mehrmals Urteile wegen allein vom Gericht zu verantwortenden Verfahrensfehlern aufgehoben werden mussten und die Sache deshalb wiederholt neu verhandelt werden musste.56 8. Ist die Verzögerung allein darauf zurückzuführen, dass das Verfahren gegen einen nicht in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten wegen 49

BGH wistra 2008, 304, 305; NStZ-RR 2008, 368, 369. Vgl. BGH StV 2008, 633, 634. 51 BGH NStZ 2010, 230. 52 BGH Beschl. v. 13.01.2010 - 3 StR 494/09. 53 BGH Beschl. v. 23.07.2008 - 2 StR 252/08. 54 BGH NStZ-RR 2010, 40 [Ls]. 55 BGH NJW 2010, 1010, 1012. 56 BGH NStZ 2009, 472. 50

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vordringlich zu erledigender Haftsachen zurückgestellt wurde, kann dies der Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit entgegenstehen.57 Dies gilt jedoch nicht, wenn der Angeklagte lediglich unter Auflagen von der Untersuchungshaft verschont geblieben war.58

VII. Festsetzung der Kompensationshöhe Hat das Tatgericht eine rechtsstaatswidrige und somit kompensationsbedürftige Verzögerung festgestellt, so muss es im Wege einer Abwägung das Maß der Kompensation festlegen. Sofern eine schlichte Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit nicht ausreichend ist, wird die Höhe der Kompensation entsprechend § 39 StGB59 (bei Freiheitsstrafen) bzw. § 40 Abs. 1 StGB (bei Geldstrafen) bemessen. 1. Dabei verbieten sich schematische oder lediglich pauschale Erwägungen. Abzustellen ist stets auf die Umstände des Einzelfalls, wie den Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung und das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane. Weiter sind die konkreten Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten in den Blick zu nehmen.60 Kriterien hierfür können insbesondere die Höhe der zu erwartenden Strafe und deren mögliche Auswirkungen sein. Dies hat zur Folge, dass bei mehreren, zu unterschiedlich langen Freiheitsstrafen verurteilten Straftätern das Maß der Kompensation trotz gleichlanger konventionswidriger Verfahrensverzögerung unterschiedlich hoch ausfallen kann.61 Sind die Auswirkungen einer Verzögerung für mehrere Angeklagte jedoch identisch, bleibt kein Raum für eine unterschiedliche Behandlung.62 2. Die mit der Verfahrensdauer verbundenen Belastungen finden regelmäßig bereits im Rahmen der Strafbemessung mildernd Berücksichtigung. Dies hat der Tatrichter stets im Auge zu behalten. Bei der Kompensationsentscheidung geht es demgegenüber allein noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände.63

57 BGH Beschl. v. 04.11.2008 – 3 StR 336/08 (in NStZ-RR 2009, 148 u. StV 2009, 80 insoweit nicht abgedr.). 58 BGH StraFo 2008, 297. 59 BGH Beschl. v. 23.07.2009 – 2 StR 248/09. 60 BGH StV 2008, 298 u. 399. 61 BGH NStZ 2009, 287. 62 BGH StV 2009, 694. 63 BGH StV 2008, 399; wistra 2008, 341, 342; Beschl. v. 08.05.2008 - 3 StR 123/08; Beschl. v. 27.05.2008 - 3 StR 157/08.

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3. Dabei sind mathematische Berechnungen, etwa indem ein bestimmter Prozentsatz64 oder ein Bruchteil65 der Strafe als vollstreckt erklärt wird, fehlerhaft. Ebenso wenig kann der Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB herangezogen werden.66 Die Grenzen des dem Tatrichter zustehenden Bewertungsspielraums sind jedenfalls dann überschritten, wenn die Kompensation sogar höher bemessen wird, als die Zeitdauer der Verzögerung selbst.67 Die Anrechnung wird sich vielmehr häufig auf einen eher geringen Teil der Strafe zu beschränken haben.68 4. Der Rückgriff auf die Grundsätze des § 39 StGB hilft jedoch nur zum Teil. Denn anders als bei der Strafhöhenbestimmung steht dem Tatrichter bei der Kompensationsbemessung kein vom Gesetzgeber festgesetzter Strafrahmen als Orientierungsgröße zur Verfügung. Einen Anhalt können dabei jedoch die Entscheidungen geben, in denen sich die Strafsenate inhaltlich mit dem Maß der Kompensation befasst haben. Deutlich zu sagen ist, dass diesen Erkenntnissen eine Bedeutung über den jeweiligen Einzelfall hinaus nicht zugemessen werden kann. In ihrer Gesamtheit geben sie jedoch einen Rückschluss auf die „Oktave“, in der sich die Strafsenate bewegen. Diese scheint eher niedriger zu liegen, als bei einigen Tatgerichten.69 Diese Entscheidungen können hier allerdings nur skizzenhaft und nur soweit dargestellt werden, als die Grundlagen aus den Entscheidungsgründen hervorgehen: a) Wiederholt hat der Bundesgerichtshof wegen Verzögerungen im Revisionsverfahren eine eigene Kompensationsbemessung vorgenommen: NStZ-RR 2008, 208, 209: Verzögerung im Revisionsverfahren von ca. 14 Monaten bei nicht inhaftierten und auch ansonsten eher geringfügig belasteten Angeklagten, der zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war: Vollstreckungsanrechnung von einem Monat. Beschl. v. 11.03.2008 – 3 StR 36/08: Verzögerung von ca. sechs Monaten bei nicht inhaftierten und nicht besonders belasteten Angeklagten: Feststellung des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK ohne weitere Entschädigung. 64

BGH Beschl. v. 23.07.2008 - 2 StR 283/08. BGH Beschl. v. 25.06.2009 - 2 StR 113/09. 66 BGH StV 2008, 399; Urt. v. 16.07.2009 - 3 StR 148/09; Beschl. v. 07.01.2009 - 3 StR 511/08; zur Kompensation eines (zusätzlichen) Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 MRK: BGH StV 2009, 692. 67 BGH NStZ 2008, 477; StV 2010, 228, 231. 68 BGH Beschl. v. 27.05.2008 - 3 StR 157/08. 69 Exemplarisch: BGH Beschl. v. 23.07.2008 – 2 StR 252/08 u. 02.02.2010 – 4 StR 514/09. 65

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Beschl. v. 01.04.2008 – 5 StR 80/08: Verzögerung von ca. sieben Monaten und einer Verfahrensgestaltung bis zum erstinstanzlichen Urteil, die „zwar nicht zögerlich, aber auch nicht zügig bearbeitet wurde“: Drei Monate Vollstreckungsanrechnung auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Beschl. v. 23.07.2008 – 5 StR 283/08: Verzögerung von rund fünf Monaten bei einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten: Vollstreckungsanrechnung von zwei Monaten. NStZ 2010, 94: Verzögerung in einer Jugendsache von etwa sechs Monaten bei nicht inhaftierten Angeklagten, bei denen sich die Ungewissheit lediglich auf die Frage bezog, ob die erstinstanzlichen Erkenntnisse rechtskräftig werden würden und die durch die Verzögerung eine Art von „Vorbewährung“ erlangten: Vollstreckungsanrechnung von einem Monat auf Jugendstrafen von drei Jahren und sechs Monaten bzw. zwei Jahren und elf Monaten. Beschl. v. 20.10.2009 – 4 StR 249/09 u. 4 StR 250/09: Verzögerung von ca. acht Monaten bei einem hierdurch nicht besonders belasteten, nicht inhaftierten Angeklagten: Feststellung des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK ohne weitere Entschädigung. Beschl. v. 24.11.2009 – 4 StR 245/09: Verzögerung von ca. neun Monaten, ohne dass besondere Belastungen des nicht inhaftierten, zu einer Bewährungsstrafe von 21 Monaten verurteilten Angeklagten ersichtlich waren: Vollstreckungsanrechnung von zwei Monaten. b) Vereinzelt haben die Strafsenate vom Tatgericht rechtsfehlerhaft unterlassene Kompensationsentscheidungen nachgeholt. Dies betraf zumeist Fälle, in denen die bloße Feststellung des Rechtsverstoßes ausreichend und auszuschließen war, dass der Tatrichter dem Angeklagten eine darüber hinaus reichende Entschädigung zugebilligt hätte. Dabei ging es um Fallgestaltungen, in denen der nicht inhaftierte Angeklagte während einer Verzögerung von ca. einem Jahr keinen besonderen Belastungen ausgesetzt gewesen war70 oder in denen beim inhaftierten Angeklagten das Verfahren durch eine verzögerte Protokollfertigstellung für zwei Monate aufgehalten worden war71. Demgegenüber hat der 4. Strafsenat in einem Fall, in dem das Verfahren nach Aussetzung der Hauptverhandlung aufgrund eines erfolgreichen Befangenheitsantrags über nahezu ein Jahr nicht gefördert wurde, ohne dass dafür sachliche Gründe gegeben waren, das Urteil des Landge70 71

BGH Beschl. v. 13.06.2008 - 2 StR 200/08 und 13.01.2010 - 3 StR 494/09. BGH Urt. v. 31.07.2008 - 4 StR 144/08 (in NStZ 2008, 625 insoweit nicht abgedr.).

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richts aufgehoben, soweit darin eine Entscheidung über die Kompensation unterblieben war. Aus dem Umstand, dass der Senat insoweit die Sache an das Tatgericht zurückverwiesen hat, kann gefolgert werden, dass er in diesem Fall die schlichte Feststellung des Verfahrensverstoßes für nicht ausreichend gehalten hat.72 Der 3. Strafsenat hat in einem anderen Fall, in dem die Verfahrensverzögerung zwei Jahre betragen hatte, keinen Rechtsfehler darin gesehen, dass sich das Landgericht in den Urteilsgründen nicht zu der Frage verhalten hatte, ob zur Kompensation bereits die Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ausgereicht hätte.73 In jüngerer Zeit ist eine Neigung des Bundesgerichtshofs zu erkennen, auch dann abschließend zu entscheiden, wenn das Tatgericht eine der Sache nach erforderliche Vollstreckungsanrechnung rechtsfehlerhaft gar nicht ausgesprochen oder zu gering bemessen hat. Erforderlich ist jedoch, dass die diesbezüglichen Zumessungstatsachen rechtsfehlerfrei und erschöpfend im Urteil festgestellt wurden. Hierbei greifen die Strafsenate auf eine entsprechende Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO74 bzw. § 354 Abs. 1a S. 2 StPO75 zurück, was allerdings voraussetzt, dass die Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Zwar ist das Bemühen, durch die Vermeidung einer Rückverweisung weitere Verfahrensverzögerungen zu vermeiden76, durchaus legitim. Im Hinblick auf den Ausnahmecharakter des § 354 Abs. 1a StPO und seine unmittelbaren Auswirkungen auf die Bestimmung des gesetzlichen Richters, erscheint die dogmatische Grundlage jedoch nicht gänzlich bedenkenfrei.

VIII. Übertragung des Vollstreckungsmodells auf andere Fallgestaltungen Auch zeigen sich - je nach Senat mehr oder weniger starke - Tendenzen, die Kompensation für erlittene Nachteile prozessualer oder materiellrechtlicher Art durch die Anwendung des Vollstreckungsmodells zum Ausgleich zu bringen. 1. Bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007, also noch vor der Entscheidung des Großen Senats, hielt es der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter Bezugnahme auf den Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats 72

BGH StraFo 2009, 245. BGH Urt. V. 29.04.2010 – 3 StR 314/09; der vom Landgericht als vollstreckt bestimmte Teil von fünf Monaten der Strafe hat der Senat als noch nicht unvertretbar hoch bewertet. 74 BGH Beschl. v. 07.05.2008 – 5 StR 118/08; NStZ 2010, 387. 75 BGH NStZ-RR 2010, 75, 76. 76 BGH StV 2009, 694; NStZ-RR 2010, 75, 76; StraFo 2010, 112. 73

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vom 23.08.2007 – 3 StR 50/0777 für angezeigt, die Kompensation für das rechtsfehlerhafte Unterbleiben einer Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand nach Art. 36 Abs. 1 lit. b) S. 3 WÜK in Form des Ausspruchs, dass ein zahlenmäßig bestimmter Teil der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gilt, zum Ausgleich zu bringen.78 Hiergegen äußerten der 2.79 und 3.80 Strafsenat Bedenken. Zutreffend weisen sie darauf hin, dass das „Abhandeln“ eines Vollstreckungsrabatts wegen Verfahrensverstöße auf Dauer zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung des Verfahrensrechts führen muss. Insoweit sind die Regeln des Rechtsmittels-, insbesondere des Revisionsrechts, vorrangig. 2. In Fällen, in denen wegen zwischenzeitlicher Vollstreckung einer früheren Geldstrafe durch Ersatzfreiheitsstrafe eine an sich angezeigte nachträgliche Gesamtstrafe mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht möglich ist und dem Angeklagten bei einer Gesamtstrafenbildung aufgrund der Anrechnung auf die Mindestverbüßungszeit des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe im Ergebnis erspart geblieben wäre, ist der gebotene Härteausgleich nunmehr ebenfalls in Form der Vollstreckungsanrechnung (in doppelt analoger Anwendung von § 51 Abs. 1 S. 1 StGB) vorzunehmen. Die vom 5. Strafsenats geäußerten Bedenken, ob eine Vollanrechnung auch dann angezeigt sein könne, wenn die getrennte Aburteilung Gegebenheiten geschuldet sei, die außerhalb des Verantwortungsbereichs der Justiz liegen81, nahm der 2. Strafsenat in einer wenige Wochen später ergangenen Entscheidung auf82. Er übernahm das Vollstreckungsmodell in Form der Anrechnung auf die Mindestverbüßzeit nach § 57a Abs. 1 StGB bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe für Konstellationen, in denen wegen Erledigung von früheren, an sich gesamtstrafenfähigen Freiheitsstrafen eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung aus Rechtsgründen ausgeschlossen ist. Zugleich betonte er jedoch, dass dabei grundsätzlich keine vollständige Anrechnung der verbüßten Haftzeit geboten sei. Das Maß des Härteausgleichs sei vielmehr durch den Tatrichter im Rahmen der Strafzumessung angemessen zu bestimmen. 3. Noch in einem weiteren Fall des Härteausgleichs im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung ist der 5. Senat zur Vollstreckungslösung umgeschwenkt. Dieser betraf eine Konstellation, in der aufgrund vollständiger Vollstreckung einer früheren Geldstrafe eine den Angeklagten 77

BGH NJW 2007, 3294. BGH NJW 2008, 307, 309; hierzu: Gaede JZ 2008, 422; Weigend StV 2008, 38. 79 BGH NJW 2010, 1470. 80 BGH NJW 2008, 1090, 1093. 81 BGH NJW 2010, 1157, 1158. 82 BGH NJW 2010, 1470. 78

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begünstigende Zäsur weggefallen war und dieser im Rahmen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung deshalb eine frühere Strafaussetzung verloren hatte. Die Anwendung des Vollstreckungsmodells sei auch in einem solchen Fall, der die Gewährung eines besonders nachhaltigen Härteausgleichs erfordere, sachlich geboten. Zum einen knüpfe die Verwirklichung des Härteausgleichs nicht an die Tatschuld an. Zum anderen erleichtere das Vollstreckungsmodell die Straffestsetzung, da bisher zu berücksichtigende, getrennt zu bewertende Umstände hiervon nicht berührt würden.83

IX. Ausblick Während zu den Voraussetzungen und der Anwendung der Vollstreckungslösung im Bereich von rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen nur noch wenige Fragen unbeantwortet scheinen84, ist ihre Bedeutung im Bereich der Auswirkungen anderer Arten von kompensationsbedürftigen Nachteilen85 nach wie vor allenfalls in Ansätzen geklärt. Ob sich die anderen Strafsenate des Bundesgerichtshofs einhellig und auf Dauer der Auffassung des 3. Strafsenats anschließen werden, dass es sich um ein Rechtsinstitut handelt, das „nicht auf Bereiche auszudehnen [ist], in denen seine Anwendung durch entsprechende völkervertrags- oder verfassungsrechtliche Vorgaben nicht geboten ist“86 erscheint angesichts der oben dargestellten Ausweitungen insbesondere in der Rechtsprechung des 5. Strafsenats sowie entsprechender Forderungen aus der Wissenschaft87 durchaus nicht als sicher.

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BGH NStZ 2010, 387. Etwa im Bereich des Jugendstrafrechts, vgl. u.a. die relativierenden Ausführungen in BGH Urt. v. 19.05.2010 – 2 StR 278/09. 85 Vgl. hierzu bereits: Scheffler ZIS 2008, 269, 278. 86 BGH NJW 2008, 1090, 1093. 87 Kraatz (Fn. 1), 194; Streng (Fn. 1), 986. 84

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I. Aktuelle Tendenzen Gewerbliche Insolvenzen ohne Straftat haben nach verbreiteter Auffassung Ausnahmecharakter.1 Schätzungen gehen dahin, dass 50 bis 90 Prozent der Unternehmenszusammenbrüche mit Insolvenzdelikten einher gehen.2 Die Zahlen scheinen in Ansehung der tatbestandlichen Weite der §§ 283 ff. StGB plausibel. So sanktioniert z.B. § 283b Abs. 2 StGB - unter Schuldaspekten intrikat - selbst die fahrlässige Nichterfüllung von Buchhaltungs- und Bilanzierungspflichten.3 Ein Blick in die Statistik nimmt vor diesem Hintergrund Wunder: Im Jahr 2009 haben die deutschen Amtsgerichte 32.687 Unternehmensinsolvenzen gemeldet.4 Die Gesamtzahl aller Insolvenzen - d.h. einschließlich der Verbraucher- und Nachlassinsolvenzen sowie der Insolvenzen von natürlichen Personen, die als Gesellschafter größerer Unternehmen von einer Insolvenz betroffen waren - belief sich sogar auf 162.907.5 Indessen notiert die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2009 lediglich 5.152 erfasste Fälle von Insolvenzstraftaten i.S.d. §§ 283 ff. StGB.6 Daher wird in diesem Bereich ein erhebliches Dunkelfeld angenommen.7 Diese Annahme ist aber aufgrund der Kontrollintensität in diesem Delinquenzbereich nicht plausibel. Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Insolvenzstraftaten kommen nämlich auch ohne Strafanzeige von Amts wegen in Gang.8 Die Insolvenzgerichte sind nach der Anordnung 1 Beck, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, § 6 Rn. 53; Weyand/Diversy, Insolvenzdelikte, 7. Aufl. 2006, Rn. 3 m.w.N. in Fn. 16. 2 NK-Kindhäuser, Vor §§ 283 ff. Rn. 2 m.w.N. 3 Kritisch etwa SSW-Bosch, § 283b Rn. 1. 4 Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr.085 vom 09.03.2010, s. www.destatis.de. 5 Pressemitteilung (o. Fn. 4). 6 S. www.bka.de/pks/pks2009/download/pks2009_imk_kurzbericht.pdf. Hinzu kommen noch 6.308 Fälle der Insolvenzverschleppung. 7 Dannecker/Knierim/Hagemeier, Insolvenzstrafrecht, 2009, Rn. 17; LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 24. 8 Weyand/Diversy (o. Fn. 1), Rn. 137.

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über die Mitteilung in Zivilsachen (MiZi) verpflichtet, die Staatsanwaltschaften zu informieren, wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet oder ein Antrag auf Eröffnung mangels Masse abgewiesen worden ist.9 Auf der Basis dieser Mitteilung fordern die Staatsanwaltschaften regelmäßig die vollständige Insolvenzakte in Rahmen von Vorermittlungen an und werten diese aus.10 Diese Verfolgungspraxis legt eine Kongruenz von Hell- und Dunkelfeld nahe. Ein wesentlicher Grund für das bisherige Schattendasein der Insolvenzdelikte dürfte die von der Rechtsprechung in der Vergangenheit etablierte sog. Interessentheorie11 sein.12 Deren Hintergrund sei kurz geschildert: Die Bankrottdelikte sind strukturell auf natürliche Personen zugeschnitten.13 Die insolvenzanfälligste Rechtsform ist aber die GmbH.14 Juristische Personen sind freilich ebenso wenig wie Personenvereinigungen taugliche Täter, sie können nach deutschem Recht nicht bestraft werden.15 Es kommt folglich nur eine Verantwortlichkeit ihrer Organe oder Vertreter in Betracht.16 Diesen fehlt indes die besondere persönliche Eigenschaft, die die Strafbarkeit begründet: Sie sind keine Schuldner. Dieses Dilemma löst § 14 StGB, der die Sonderpflicht auf das Organ oder den Vertreter überwälzt. Diese Vorschrift setzt für die strafrechtliche Zurechnung voraus, dass der Täter „als“ Organ oder Vertreter (§ 14 Abs. 1 StGB) bzw. „aufgrund dieses Auftrags“ (§ 14 Abs. 2 StGB) handelt.17 Unter welchen Bedingungen das Verhalten des Repräsentanten der Schuldnerin zugerechnet werden kann, gehörte bis in die jüngste Vergangenheit zu den umstrittensten Fragen der Strafrechtsdogmatik.18 Nach der Interessentheorie setzt eine Strafbarkeit des Geschäftsführers einer GmbH respektive eines sonstigen Vertreters einer Handelsgesellschaft voraus, dass diese zumindest auch im Interesse des

9 MiZi Nr. XII a 2 u. 3 des 2. Teils, 3. Abschn.; die MiZi sind bundeseinheitliche, auf Ländervereinbarung beruhende Verwaltungsvorschriften, die ihre Rechtsgrundlage seit dem Justizmitteilungsgesetz in § 12 Abs. 5 EGGVG finden. 10 Sog. Holkriminalität, s. Diversy, ZInsO 2005, 180. 11 Die freilich keine Theorie ist, sondern eine bloße Formel der in der Rspr. gefundenen Ergebnisse ohne nähere dogmatische Ableitung, vgl. Bittmann, wistra 2010, 8, 9. 12 Vgl. BGH wistra 2009, 275, 277, u. Brand, Untreue und Bankrott in der KG und GmbH & Co KG, 2010, S. 217 m.w.N. der Rechtsprechung seit RGSt 42, 278, 282. 13 Vgl. schon PrObertribunal GA 23 (1875), 31, 32; Brand, NStZ 2010, 9, 11 m.w.N. in Fn. 35. 14 BGH wistra 2009, 276, 277; Brand, NStZ 2010, 9 Fn. 1. 15 Brand, NStZ 2010, 9, 12 m.w.N. 16 Labsch, wistra 1985 1, 4; S/S-Cramer/Heine, Vorbem §§ 25 ff. Rn 98. 17 BGH wistra 2009, 275, 276; MK-Radtke, Vor §§ 283 ff.; LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn 78. 18 Brand, NStZ 2010, 9.

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Geschäftsherrn handeln.19 Liegen hingegen ausschließlich eigennützige Motive vor, so kommt lediglich eine Strafbarkeit wegen Untreue in Betracht; eine Verurteilung wegen Bankrotts scheidet aus.20 Agiert der Verantwortliche sowohl im eigenen als auch im Interesse der Gesellschaft, liegt Tateinheit zwischen Untreue und Bankrott vor.21 Die Interessenformel hat zur Folge, dass für die Insolvenzdelikte nur ein kleiner Anwendungsbereich bleibt.22 Insbesondere bei geplanten Unternehmensaushöhlungen mit beabsichtigter Herbeiführung der Insolvenz wären die Bankrottdelikte nicht anwendbar, da ein solches Verhalten niemals im wirtschaftlichen Interesse der Gesellschaft liegt.23 Die Formel führt zu einer ungerechtfertigten Privilegierung von GmbH-Geschäftsführern24 gegenüber Einzelkaufleuten.25 Bei Einzelkaufleuten ist es nämlich unstreitig irrelevant, ob sie mit ihrem Verhalten eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen, so dass es nicht nachvollziehbar ist, dass es für die Haftung der Vertreter hierauf ankommen soll.26 Schließlich führt die Interessenformel zur faktischen Bedeutungslosigkeit der Buchdelikte der §§ 283 Abs. 1 Nr. 5 - 7, 283b StGB, da es nur theoretisch vorstellbar ist, dass die insuffiziente Buchführung im wirtschaftlichen Interesse des Unternehmens liegt.27 Und auch bei Fahrlässigkeitsdelikten wie § 283 Abs. 5 StGB ist ein Abstellen auf die subjektive Zielsetzung neben der Sache liegend. Diese tragenden Argumente haben den 3. Strafsenat des BGH jüngst dazu bewogen, sich von der Interessentheorie zu distanzieren.28 Wenige Wochen später, aber ohne jeden Verweis auf die grundlegende Entscheidung des 3. Senats, stellt der 5. Strafsenat des BGH fest, dass die Interessentheorie jedenfalls auf § 283 Abs. 1 Nr. 8 Alt. 2 StGB keine Anwendung findet.29 In der Folge schließt 19 So schon RGSt 42, 278, 282; s.a. BGHSt 30, 127, 128 f.; 34, 221, 223; BGH NStZ 2000, 206, 207; zust. LK-Schünemann, § 14 Rn. 50 m.w.N.; dagegen LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 80 ff.; SK-Hoyer, § 283 Rn. 103 ff.; differenzierend MK-Radtke, Vor §§ 283 ff. Rn. 55 ff. 20 Vgl. die Darstellung der Entwicklung der Rechtsprechung bei Schwarz, HRRS 2009, 341, 343 f. 21 BGH NJW 1980, 406; NStZ 2000, 206; vgl. a. Dehne-Niemann, wistra 2009, 417, 423 f. 22 BGH wistra 2009, 275, 276; Radtke, JR 2010, 233, 235. 23 Schwarz, HRRS 2009, 341, 342. 24 Die GmbH ist die insolvenzanfälligste Rechtsform (vgl. BGH wistra 2009, 276, 277; Brand, NStZ 2010, 9 Fn. 1), nichts anderes gilt aber für die Organe anderer juristischer Personen. 25 BGH wistra 2009, 275, 277. 26 Vgl. Schwarz, HRRS 2009, 341, 343. 27 BGH wistra 2009, 275, 277; Schwarz, HRRS 2009, 341, 343. Erschwerend kommt hinzu, dass in diesem Fällen der sonst als Auffangtatbestand genutzte § 266 in Ermangelung eines nachweisbaren Schadens regelmäßig ausscheidet. 28 BGH, Beschl. v. 10.2.2009 - 3 StR 372/08 -, wistra 2009, 275 = StV 2010, 22. 29 BGH, Beschl. v. 24.3.2009 - 5 StR 353/08 -, wistra 2009, 273, 274 = StV 2010, 25, 26 m. Anm. Hagemeier.

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sich der 1. Strafsenat des BGH der Grundsatzkritik des 3. Strafsenats an und bekundet seine Absicht, künftig nicht mehr auf die alte Abgrenzungsformel zurückzugreifen.30 Dieser vielstimmige „Abgesang auf die Interessentheorie“31 lässt eine endgültige Kehrtwende erwarten.32 Die Interessenformel ist daher künftig obsolet mit der Folge einer wesentlich häufigeren Zahl von Strafverfahren wegen des Verdachts einer Insolvenzstraftat nach den §§ 283 ff. StGB.33 Im zeitlichen Zusammenhang mit dem „Abschied von der Interessentheorie“34 lassen sich weitere Tendenzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs feststellen, die eine Zunahme von Verurteilungen wegen Bankrotts und Verletzung der Buchführungspflicht vermuten lassen. So ist die im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz bedenkliche - Generalklausel des § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB in der Vergangenheit weitgehend ohne praktische Relevanz geblieben.35 In der Natur der Sache liegt freilich, dass eine Generalklausel, die als Auffangtatbestand die nicht in Nr. 1 bis 7 geregelten Fälle und Umgehungshandlungen erfassen soll,36 erhebliches Potential hat. Aufgrund der tatbestandlichen Unbestimmtheit lässt sich insbesondere unter die 2. Alt. - das Verheimlichen oder Verschleiern der geschäftlichen Verhältnisse - nahezu jedes missliebige Verhalten subsumieren. Tatsächlich wird in der Literatur gefordert, die Generalklausel des § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB stärker als bisher zu nutzen.37 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs greift diese Anregung auf und tritt in einem nicht hinreichend beachteten obiter dictum dafür ein, die bislang ungenutzten Möglichkeiten der Anwendung des Tatbestandes des Verschleierns auszuschöpfen.38 Der Angeklagte, Alleingesellschafter der von ihm als Geschäftsführer geleiteten GmbH, hatte eine „Firmenbestattung“ organisiert. In dem Bestreben, sich und die GmbH dem Gläubigerzugriff zu entziehen, hatte er seine Geschäftsanteile an einen Strohmann verkauft, der anschließend die Umfirmierung und Sitzverlegung der Firma sowie die Auswechslung des Angeklagten als Geschäftsführer durch einen weiteren Strohmann ins Werk setzte; gleichzeitig hatte sich der Angeklagte eine Vollmacht zur umfassenden Vertretung der umbenannten GmbH sowie eine Option zum Rückkauf der Geschäftsan30

BGH, Beschl. v. 1.9.2009 - 1 StR 301/09 -, wistra 2009, 475 = StV 2010, 25. So titelt Dehne-Niemann, wistra 2009, 417. 32 Vgl. a. Bittmann, wistra 2010, 8, 10. 33 Vgl. BGH wistra 2009, 275, 277; Radtke, JR 2010, 233, 234. 34 So titelt Brand, NStZ 2010, 9. 35 HWSt-Wegner, VII 1 Rn. 154; Borchardt, in: Hamburger Kommentar z. InsO, 3. Aufl., § 283 StGB Rn. 31; Hagemeier, StV 2010, 26, 27. 36 Vgl. schon OLG Düsseldorf NJW 1982, 1712, 1713. 37 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 232. 38 BGH wistra 2009, 273 f. = StV 2010, 25, 26 m krit. Anm. Hagemeier. 31

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teile einräumen lassen. Der Senat wertet dieses Abschütteln der Gläubiger als Bankrotthandlung im Sinne des Verschleierns der geschäftlichen Verhältnisse. Die Gläubiger würden durch die Täuschung über die tatsächlichen Beteiligungsverhältnisse und die faktisch ausgeübte Geschäftsführung davon abgehalten, in Vermögensgegenstände der Gesellschaft zu vollstrecken oder den „faktischen“ Geschäftsführer wegen Insolvenzverschleppung in Regress zu nehmen. § 283 Abs. 1 Nr. 8 Alt. 2 StGB erfasse auch diese im Rahmen einer „Firmenbestattung“ vorgenommenen Rechtsgeschäfte, und zwar selbst dann, wenn die Rechtsfolgen bei Einzelbetrachtung der Handlungen von den Beteiligten tatsächlich gewollt sind.39 Durch diese Auslegung dürfte die Vorschrift in der Praxis zunehmend an Bedeutung gewinnen.40 Selbst die Einschränkung der Strafbarkeit sämtlicher Bankrotthandlungen durch die objektive Bedingung der Strafbarkeit ist nicht tabu. Bislang bestand weitgehend Einigkeit, dass die in §§ 283 ff. StGB aufgeführten Tathandlungen und der Eintritt der objektiven Bedingung der Strafbarkeit nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen dürfen.41 Vielmehr muss zumindest ein zeitlicher und tatsächlicher Zusammenhang zwischen den Bankrotthandlungen und der Zahlungseinstellung bzw. der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorliegen.42 Gegen die Annahme eines solchen Gefährdungszusammenhangs wendet sich neuerdings der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs und proklamiert, dass dieses Kriterium zumindest bei § 283b StGB irrelevant sein soll.43 Kurzum, es gibt deutliche Neigungen der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, den Anwendungsbereich der §§ 283 ff. StGB auszuweiten.

II. Offene Fragen Ob diese Tendenzen einen Boom der Insolvenzdelikte zur Folge haben, erscheint zweifelhaft. Fundamentale Fragen sind unbeantwortet und verunsichern die Praxis. Streitig ist bereits, welche Rechtsgüter die §§ 283 ff. StGB schützen. Auch die Auslegung der Krisenbegriffe scheint nicht hinreichend geklärt. Ferner steht für den Praktiker in Frage, ob die Merkmale justitiabel sind, also ihre Feststellung im Strafverfahren leistbar ist. 39

BGH wistra 2009, 273, 274; zust. Fischer, § 283 Rn. 30. S. auch Floeth, EWiR 2010, 265, 266. 41 S. Trüg/Habetha, wistra 2007, 365, 367 m.w.N. 42 BGH NStZ 2008, 401; Fischer, Vor § 283 Rn. 17 m.w.N. 43 BGH wistra 2009, 273, 275 (unter Verweis auf die Argumentation von Bittmann); Bittmann, Insolvenzstrafrecht, 2004, § 13 Rn. 7 u. Schäfer, wistra 1990, 81, 86 ff. 40

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1. Rechtsgut der §§ 283 ff. StGB Strafrecht wird als „ultima ratio“ des Rechtsgüterschutzes eingesetzt.44 Neben der Legitimationsaufgabe besteht die Funktion des Rechtsgutes insbesondere auch darin, als Instrument der Auslegung zum Verständnis der Norm beizutragen.45 Die §§ 283 ff. StGB schützen in erster Linie die Interessen der aktuellen Gläubiger an einer möglichst hohen Befriedigung ihrer vermögensrechtlichen Ansprüche und damit deren Vermögen.46 Dieser Schutzzweck deckt sich mit der Zielsetzung des Insolvenzrechts.47 Auch das Insolvenzverfahren soll eine möglichst gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger des insolventen Schuldners sicherstellen.48 Der Regierungsentwurf des 1. WiKG für §§ 283 ff. StGB hat ausdrücklich offen gelassen, ob die Insolvenzdelikte neben den unstreitigen Vermögensinteressen der Gläubiger weitere Rechtsgüter schützen.49 In der Literatur wird insoweit insbesondere die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft als gleichrangiges überindividuelles Rechtsgut proklamiert.50 Daneben wird - aktuell auch vom Bundesgerichtshof - die Volkswirtschaft insgesamt bemüht.51 Zur Begründung wird angeführt, dass Insolvenzstraftaten eine Sogwirkung zeitigten und Dritte einen Anreiz zur Begehung von Insolvenzstraftaten erhielten.52 Des Weiteren beschränkten sich die Folgen einer Insolvenz nicht auf die Gläubiger; diese habe vielmehr Auswirkungen auf die Gesamt- respektive Kreditwirtschaft.53 Insbesondere bei großen finanziellen Insolvenzschäden werde die gesamte Wirtschaft beeinträchtigt. Zudem riefen Insolvenzen weitere Insolvenzen - etwa abhängiger Unternehmen oder Zulieferer - hervor.54 Schließlich seien die Bankrotthandlungen geeignet, den Kredit als verlässliches Instrument und notwendiges Werkzeug des modernen Wirtschaftsverkehrs in seiner systemtragenden Wirkung zu beeinträchtigen.55 Die Annahme eines überindividuellen Rechtsgutes überzeugt nicht. Die Vorverlagerung der Strafbarkeit in den §§ 283 ff. StGB bis in Bereiche 44

BVerfGE 120, 224, 239. SK-Rudolphi, § 1 Rn. 33, krit. LK-Walter, Vor § 13 Rn. 12. 46 BVerfG, Beschl. vom 28.08.2003 - 2 BvR 704/01; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 272; LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 45; Radtke, JR 2010, 233, 234 m.w.N. 47 MK-Radtke, Vor §§ 283 ff. Rn. 1. 48 Begr. RegE zum Einführungsgesetz zur InsO, BT-Drucks. 12/3802, S. 2. 49 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 54. 50 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 53 ff. m.w.N. 51 Fischer, Vor § 283 Rn. 3; Lackner/Kühl, § 283 Rn. 1; s.a. BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 30: „Schutz des gesamtwirtschaftlichen Systems“. 52 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, Bd. 1, 1976, S. 25 ff. 53 Vgl. z.B. Bittmann-Bittmann (o. Fn. 43), § 12 Rn. 25. 54 Hammerl, Bankrottdelikte, 1970, S. 110; vgl. a. LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 55. 55 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 55 ff. 45

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fahrlässig-abstrakter Gefährdung war dadurch motiviert, Beweisschwierigkeiten zu vermeiden.56 Die hieraus folgende Verdachtsstrafe für nicht beweisbares vorsätzliches Verhalten soll nun durch eine Verlagerung des Schutzzweckes vom Vermögen auf vage Metarechtsgüter legitimiert werden. Denn - ganz im Sinne Palmströms - erst dieses Allgemeininteresse rechtfertigt die Strafwürdigkeit dieser Taten.57 Tatsächlich wird hier das Rechtsgut der Bankrottdelikte mit dem Anlass zur Schaffung der Tatbestände verwechselt.58 Sämtliche Straftatbestände dienen der positiven Generalprävention und wollen durch Einwirken auf die Allgemeinheit eine negative Sogwirkung vermeiden. Hinzu kommt, dass der Schluss von einer Vielzahl tatsächlicher Schäden auf ein abstraktes Schutzgut methodisch zweifelhaft ist.59 Bloße Quantität schlägt nicht in Qualität um.60 Auch bei großen finanziellen Insolvenzschäden handelt es sich wiederum um Gläubigerschäden.61 In Ansehung der aktuellen Finanzkrise und der Entgleisung der Kreditwirtschaft liegen sozioökonomische Rechtsgutaspekte nicht auf der Hand. Von einem Vertrauen der Allgemeinheit in die Kredit- oder Gesamtwirtschaft kann keine Rede sein. Letztlich ist darauf hinzuweisen, dass auch die Apologeten eines überindividuellen Rechtsgutes einer Einwilligung aller Gläubiger in die Bankrotthandlung rechtfertigende Wirkung zugestehen.62 Es liegt freilich fern, dass die Gläubiger über ein Rechtsgut „Kredit- oder Gesamtwirtschaft“ disponieren können.63 Dies führt zu der Erkenntnis, dass den Insolvenzdelikten kein überindividuelles Rechtsgut zugrunde liegt. Die §§ 283 ff. StGB dienen vielmehr ausschließlich dem Vermögensschutz. Hieraus speisen sich grundsätzliche Bedenken gegen die Strafwürdigkeit der Insolvenzstraftaten. Eine - insbesondere verfassungsrechtlich im Hinblick auf das Übermaßverbot - befriedigende Rechtfertigung für die ausufernde Sanktionierung selbst fahrlässig-abstrakter Gefährdung (s. §§ 283 Abs. 4 u. 5, § 283b Abs. 2 StGB) ist nicht ersichtlich.64 Auch im Übrigen bestehen Zweifel an der Strafwürdigkeit, weil der grundlegende Gedanke 56 Vgl. Bericht Sonderausschuss BT-Drs. 7/5291, S. 19 u. Prot. 7/2831; NK-Kindhäuser, § 283 Rn. 102 u. § 283b Rn. 4. 57 Vgl. LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 6 u. 54. 58 SK-Samson, 1. Aufl., Vor § 283 Rn.3 (Februar 1987); Krause, Ordnungsgemäßes Wirtschaften und Erlaubtes Risiko, 1995, S. 177; vgl. a. NK-Kindhäuser, Vor § 283 Rn. 33; insoweit zustimmend LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 55. 59 S. Krause (o. Fn. 58), S. 176. 60 NK-Kindhäuser, Vor § 283 Rn. 33. 61 Krause (o. Fn. 58), S. 176 f.; Hefendehl (o. Fn. 46), S. 273. 62 Vgl. LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 57 a. E. 63 Vgl. a. Erdmann, Die Krisenbegriffe der Insolvenztatbestände, 2007, S. 84. 64 Die Inhabilitätsvorschriften (§§ 6 Ab. 2 S. 2 Nr. 3b GmbHG, 76 Abs. 3 S. 2 Nr. 3b AktG) erfassen fahrlässige Taten nach den §§ 283 Abs. 4, 5 u. § 283b Abs. 2 StGB nicht mehr. Alles spricht dafür, diese Taten auch zu entpönalisieren.

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der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger der wirtschaftlichen Realität nicht (mehr) gerecht wird. Grund hierfür ist die Etablierung „insolvenzfester“ Sicherungsformen wie Globalzession, Sicherungsübereignung und Eigentumsvorbehalt. Nicht dinglich gesicherte Gläubiger gehen daher ohnehin im Regelfall leer aus.65 Dinglich gesicherte Gläubiger hingegen sind durch die §§ 242, 246 und 266 StGB ausreichend geschützt.66 Das grundsätzliche Legitimitätsdefizit der §§ 283 ff. StGB legt zumindest eine restriktive Auslegung der Tatbestandsmerkmale nahe. Die gebotene Einschränkung steht der Annahme eines erweiterten Anwendungsbereichs der Insolvenzdelikte entgegen.

2. Wirtschaftliche Krise Zu den maßgeblichen Tatbestandsmerkmalen der §§ 283 ff. StGB gehören die Begriffe der Überschuldung sowie der drohenden und eingetretenen Zahlungsunfähigkeit. 67 Diese Krisentrias bestimmt im Insolvenzstrafrecht den Zeitpunkt, ab dem das in den §§ 283 ff. StGB umschriebene Verhalten des Schuldners strafrechtlich sanktioniert wird. Im Insolvenzrecht sind die gleichen Begriffe legaldefiniert, und zwar die Zahlungsunfähigkeit in § 17 Abs. 2 InsO, die drohende Zahlungsunfähigkeit in § 18 Abs. 2 InsO und die Überschuldung in § 19 Abs. 2 InsO. Dies wirft die Frage auf, ob die zivilrechtlichen Begriffsbestimmungen für das Strafrecht bindend sind.68 Da Insolvenzrecht und Insolvenzstrafrecht in der Zielsetzung übereinstimmen, die Gläubigerinteressen zu schützen, liegt eine insolvenzrechtsorientierte Auslegung der Krisenmerkmale in §§ 283 ff. StGB nahe.69 Hierfür spricht auch der gleiche Wortlaut der Begriffe in InsO und StGB und die Vorstellung des Gesetzgebers, der hinsichtlich der drohenden Zahlungsunfähigkeit davon ausging, § 18 Abs. 2 InsO sei „geeignet, auch für das Strafrecht größere Klarheit zu bringen“.70 Jedoch intendiert die InsO eine möglichst frühzeitige Insolvenzantragstellung, um die Chancen einer Sanierung des Unternehmens zu optimieren: Das Insolvenzverfahren soll als Chance und nicht als Makel begriffen werden.71 Dieses Ziel spricht dort für eine 65

LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn 6; NK-Kindhäuser, Vor §§ 283 ff. Rn 2. LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn 6; NK-Kindhäuser, Vor §§ 283 ff. Rn 2. 67 Vgl. grundlegend zum Krisenbegriff Erdmann (o. Fn. 63), S. 89 ff. 68 Hierfür sprechen sich etwa Bieneck, StV 1999, 43; Diversy, StRR 2008, 164; Grube/Röhm, wistra 2009, 81, 83 f. u. SK-Hoyer, § 283 Rn. 19 aus. Für eine strikte Eigenständigkeit der strafrechtlichen Auslegung hingegen grundlegend Achenbach, GedS Schlüchter, S. 257 ff.; ihm folgend HWSt-Wegner, VII 1 Rn. 17 f. 69 MK-Radtke, Vor §§ 283 ff. Rn 5 ff; Bittmann/Bittmann (o. Fn. 43); § 12 Rn. 17. 70 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 114; vgl. a. BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 52. 71 HWSt-Wegner, VII 1 Rn. 17. 66

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weite Auslegung der Krisenbegriffe. Hingegen ist eine Krise i.S.d. §§ 283 ff. StGB regelmäßig mit einer Strafbarkeit und einem sozialethischen Unwerturteil verbunden.72 Der ultima-ratio-Charakter des Strafrechts und das Legitimitätsdefizit der Insolvenzdelikte kontraindizieren eine weite Auslegung. Nur eine gegenüber der Insolvenzreife enger definierte Krise erscheint strafwürdig.73 Die Krisenbegriffe im Strafrecht sind daher zwar an die Legaldefinitionen der §§ 17 - 19 InsO angelehnt, aber im Hinblick auf die spezifischen strafrechtlichen Rahmenbedingungen grundsätzlich restriktiver auszulegen als im Insolvenzrecht.

a) Überschuldung Nach § 19 Abs. 2 S. 1 InsO liegt Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Der letzte Halbsatz der Definition ist - zunächst befristet bis zum 31.12.2010 und dann verlängert bis zum 31.12.2013 - durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz als Reaktion auf die Finanzmarktkrise im Herbst 2008 eingeführt worden.74 Die Neuregelung soll verhindern, dass Unternehmen, die durch die Finanzkrise von Wertverlusten insbesondere bei Aktien und Immobilien massiv betroffen sind, wegen einer dadurch eintretenden bilanziellen Überschuldung zur Insolvenzantragstellung auch dann verpflichtet sind, wenn eine positive Fortführungsprognose gestellt werden kann.75 Um dieses ökonomisch völlig unbefriedigende Ergebnis zu vermeiden, kehrt der Gesetzgeber mit dem neuen § 19 Abs. 2 S. 1 InsO zum alten, modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff76 zurück, der vor Inkrafttreten der InsO maßgeblich war.77 Diese Begründung der gesetzgeberischen „Rolle rückwärts“78 lässt vermuten, dass der Überschuldungsbegriff in der aktuellen Fassung über den 31.12.2013 hinaus gelten wird. Schließlich ist es auch jenseits der Finanzkrise wirtschaftlich unvernünftig, ein Unternehmen zum Insolvenzantrag zu verpflichten, dessen Turnaround sich bereits abzeichnet.79

72

Vgl. Erdmann (o. Fn. 63), S. 112. Erdmann (o. Fn. 63), S. 113; HWSt-Wegner, VII 1 Rn. 17. 74 Gesetz v. 17.10.2008, BGBl. I 1982; zuletzt geändert durch Gesetz v. 24.9.2009, BGBl. I 3151; vgl. die Kritik von Bittmann, wistra 2009, 138, 139. 75 BT-Drs. 16/10600, S. 12 f. 76 Vgl. BGHZ 119, 201, 214. 77 BT-Drs. 16/10600, S. 13. 78 Wegner, HRRS 2009, 32, 34. 79 Vgl. die Kritik von Wegner, HRRS 2009, 32, 34. 73

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Umstritten ist, wie Taten zu behandeln sind, die vor Inkrafttreten des § 19 Abs. 2 InsO n.F. am 18.10.2008 begangen wurden. Die Neufassung des § 19 Abs. 2 InsO ist fraglos im Verhältnis zur Altregelung das i.S.d. § 2 Abs. 3 StGB mildere Gesetz. Allerdings wird vertreten, dass § 19 Abs. 2 InsO n.F. ein Zeitgesetz i.S.d. § 2 Abs. 4 StGB und mithin die Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB ausgeschlossen sei.80 § 2 Abs. 4 StGB bestimmt indes lediglich, dass eine befristete Strafnorm auch dann noch für Taten gelten soll, die während ihrer Geltung begangen wurden, wenn sie außer Kraft getreten ist. D.h. die Norm des § 19 Abs. 2 InsO n.F. gilt auch noch dann, wenn sie nicht über den 31.12.2013 verlängert würde. § 19 Abs. 2 InsO a.F. war hingegen nicht als nur vorübergehende Regelung konzipiert und ist daher kein Zeitgesetz i.S.d. § 2 Abs. 4 StGB. Daher gilt § 19 Abs. 2 InsO n.F. gem. § 2 Abs. 3 StGB auch rückwirkend für Altfälle.81 Nach dem überbrachten - d.h. vom Inkrafttreten der InsO bis zum 30.10.2008 geltenden - zweistufigen Überschuldungsbegriff entschied das Ergebnis der auf der ersten Stufe zur prüfenden Fortführungsprognose lediglich darüber, welche Werte in der auf zweiter Stufe aufzustellenden Überschuldungsbilanz anzusetzen waren. Bei positiver Prognose waren die Aktiva des Unternehmens nach den Fortführungswerten zu bestimmen, anderenfalls nach den – regelmäßig wesentlich niedrigeren – Liquidationswerten. Der - nun wieder aktuelle - modifizierte zweistufige Überschuldungsbegriff hat den Vorteil, dass die beiden Prüfungselemente - Fortführungsprognose und Bewertung des Schuldnervermögens - gleichwertig nebeneinander stehen.82 Rechnerische Überschuldung und negative Fortführungsprognose müssen hiernach kumulativ vorliegen, um rechtliche Überschuldung annehmen zu können. Daher schließt bereits eine positive Fortführungsprognose eine Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 S. 1 InsO aus.83 Mithin kann die Prüfung mit der Beurteilung der Überlebenschancen beginnen und bei positivem Ergebnis von der (praktisch schwierigen) Bewertung des Schuldnervermögens abgesehen werden.84 Eine Fortbestehensprognose i.S.d. § 19 Abs. 2 S. 1 Hs 2 InsO kann konstatiert werden, wenn die Finanzkraft des Unternehmens nach überwiegender

80

Dannecker/Knierim/Hagemeier (o. Fn. 7), Rn. 55; Fischer, § 2 Rn. 13. Schmitz, wistra 2009, 369, 372 f.; Beukelmann, BeckOK StGB, § 283 Rn. 6.2; vgl. a. Bittmann, wistra 2009, 138, 139 f.; auch BGH, Urt. v. 11.2.2010, 4 StR 433/09, Rn. 12 f., geht davon aus, dass § 19 Abs. 2 InsO i.d. ab dem 18.10.2008 geltenden Fassung nach § 2 Abs. 3 auch für Altfälle anwendbar ist. 82 BT-Drs. 16/10600, S. 13; Grube/Röhm, wistra 2009, 81, 82 f. 83 BT-Drs. 16/10600, S. 13; NK-Kindhäuser, Vor §§ 283 ff. Rn. 94; Grube/Röhm, wistra 2009, 81, 82 f. 84 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 161a m.w.N. 81

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Wahrscheinlichkeit mittelfristig zur Fortführung ausreicht.85 Auf die Bestimmung eines Prognosezeitraums hat der Gesetzgeber bewusst verzichtet.86 Vertreten werden Zeiträume zwischen drei Monaten und drei Jahren.87 Entscheidend dürfte sein, welcher Planungszeitraum betriebswirtschaftlich kalkulierbar ist. Dies hängt von der Größe des Unternehmens, der Branche und den sonstigen konkreten Gegebenheiten ab. Aus Gründen der Justiziabilität - aber ohne hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage - wird der Zeitraum in der Praxis meist auf zwölf Monate begrenzt.88 Überwiegende Wahrscheinlichkeit heißt in insolvenzrechtlichem Zusammenhang, dass die Fortführung des Unternehmens zu mehr als 50 % wahrscheinlich sein muss.89 Eine Übernahme dieser Definition auf das Tatbestandsmerkmal der Überschuldung i.S.d. §§ 283 ff. StGB wird den spezifischen Rahmenbedingungen des Strafrechts nicht gerecht, denn zu diesen Besonderheiten zählt der Grundsatz in dubio pro reo.90 Deshalb ist im Strafrecht nicht erst von einer positiven Fortführungsprognose auszugehen, wenn diese überwiegend wahrscheinlich ist, sondern bereits dann, wenn das Überleben des Unternehmens nicht sicher ausgeschlossen werden kann.91 Mit anderen Worten setzt die Überschuldung eine negative Fortführungsprognose voraus. Zu Recht ist in diesem Zusammenhang die Praktikabilität und Nachweisbarkeit einer solchen negativen Fortführungsprognose in Frage gestellt worden.92 Den Verantwortlichen bleiben große Schlupflöcher. Eine negative Prognose dürfte auf evidente Fälle beschränkt sein. Die - gegenüber der Fortführungsprognose nachrangige - Bewertung des Schuldnervermögens gehört zu den schwierigsten Problemen der insolvenzund insolvenzstrafrechtlichen Praxis. Weder Handels- noch Steuerbilanz geben zuverlässige Auskunft darüber, wann „das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt“ (§ 19 Abs. 2 S. 1 InsO), denn die bilanziellen und die tatsächlichen Werte divergieren erheblich. Im Strafverfahren spielt das kaufmännische Vorsichtsprinzip, das die Aktiva eher unterschätzt und die Passiva eher überschätzt, keine Rolle; ebenso sind steuerliche Abschreibungswerte irrelevant. Vielmehr müssen 85

BT-Drs. 16/10600, S. 13; BGH NJW 1998, 223, 234. Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl. 2010, § 19 Rn. 47. 87 Vgl. Beukelmann, BeckOK StGB, § 283 Rn. 14, u. Diversy, StRR 2008, 164, 165. 88 Beukelmann, BeckOK StGB, § 283 Rn. 14; Uhlenbruck (o. Fn. 86), § 19 Rn. 48 m.w.N. 89 So für das Insolvenzrecht Uhlenbruck (o. Fn. 86), § 19 Rn. 51 m.w.N; vgl. a. auch für das Strafrecht Beukelmann, BeckOK StGB, § 283 Rn. 15. 90 Erdmann (o. Fn. 63), S. 203 m.w.N. 91 Vgl. OLG Düsseldorf wistra 1997, 113; LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 155; Dannecker/Knierim/Hagemeier (o. Fn. 7), Rn. 58; Wegner, HRRS 2009, 32, 34; a.A. Bittmann, wistra 2009, 138, 140, u. Grube/Röhm, wistra 2009, 81, 84, die den Zweifelssatz auf die der (tatbestandlichen!) Prognose zugrundeliegenden Tatsachen verkürzen wollen. 92 Erdmann (o. Fn. 63), S. 201 ff.; vgl. a. Fischer, Vor § 283 Rn. 7c. 86

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hier die wahren wirtschaftlichen Werte im Einzelnen ermittelt werden. Erforderlich ist deshalb die Aufstellung eines Überschuldungsstatus.93 In diesen Status werden auf der Aktivseite auch stille Reserven94, handelsrechtlich nicht aktivierungsfähige immaterielle Güter wie technisches oder kaufmännisches Know-how sowie der Firmenwert und „good will“95 aufgenommen. Auch sog. harte Patronatserklärungen, in denen sich die Muttergesellschaft zugunsten aller Gläubiger verpflichtet, ohne weitere Bedingungen für die Zahlungsfähigkeit der Tochter einzustehen, sind im Überschuldungsstatus aktivierbar.96 Auf der Passivseite sind nach § 19 Abs. 2 S. 2 InsO Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen nicht in den Überschuldungsstatus einzustellen, wenn für sie nach § 39 Abs. 2 InsO der Nachrang hinter den in § 39 Abs. 1 Ziff. 1 - 5 InsO bezeichneten Forderungen vereinbart worden ist. Im Falle einer solchen Rangrücktrittsvereinbarung i.S.d. § 39 Abs. 2 InsO entfällt die Passivierungspflicht indes nicht nur für kapitalersetzende Darlehen, sondern auch für sonstige Forderungen.97 Ferner ist das Stammkapital einer GmbH nicht auf der Passivseite des Vermögensstatus aufzunehmen.98 Schließlich sind Rückstellungen nicht zu berücksichtigen, die sich auf Verbindlichkeiten beziehen, die im Liquidationsfall nicht mehr anfallen würden.99 Bei feststehender negativer Fortführungsprognose sind die Liquidationswerte für den Überschuldungsstatus maßgeblich.100 Im Hinblick auf die vielfältigen Abwicklungsmöglichkeiten ist es schon der Betriebswirtschaftslehre nicht gelungen, generelle Richtlinien und Bewertungsgrundsätze aufzustellen.101 Dort werden Liquidationswerte verstanden als Summe der Preise, die sich erzielen lassen, wenn die Gegenstände des Unternehmens im Rahmen der Unternehmensauflösung veräußert werden.102 Für die Bewertung bedeutungsvoll ist insbesondere die Frage, ob eine geordnete Liquidation mit der Gesamtveräußerung der Aktiva möglich ist oder eine unter Zeitdruck gebotene gänzliche Zerschlagung mit einhergehender Einzelveräußerung erfolgt. Im Zeitpunkt der Aufstellung des Vermögensstatus sind die Umstände der Liquidation aber regelmäßig noch nicht bekannt. In 93 BGH wistra 2003, 232; Fischer, Vor § 283 Rn. 7d; Bittmann/Bittmann (o. Fn. 43), § 11 Rn. 83. 94 BGH wistra 2003, 301, 302; BT-Drs. 16/10600, S. 13. 95 BT-Drs. 16/10600, S. 13. 96 S. hierzu Uhlenbruck (o. Fn. 86) § 19 Rn. 79 m.w.N. 97 Vgl. Uhlenbruch/Hirte (o. Fn. 86), § 39 Rn. 55; Schröder, in: Hamburger Kommentar z. Insolvenzrecht (o. Fn. 35), § 19 Rn. 43. 98 BGHSt 15, 306, 309. 99 Bittmann/Bittmann (o. Fn. 43), § 11 Rn. 86; Beukelmann, BeckOK StGB, § 283 Rn. 9. 100 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 156. 101 Uhlenbruck (o. Fn. 86), § 19 Rn. 17. 102 Uhlenbruck (o. Fn. 86), § 19 Rn. 16.

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Ansehung des Grundsatzes in dubio pro reo muss daher im Strafverfahren der regelmäßig höhere Preis für die Veräußerung des gesamten Unternehmens zugrunde gelegt werden.103 Erscheint hingegen eine Gesamtveräußerung ausgeschlossen, ist es erforderlich, jeden abgrenzbaren Vermögensgegenstand und jeden Schuldposten getrennt zu bewerten. Auch insoweit ist der Zweifelsgrundsatz zu beachten. In der Praxis des Strafverfahrens bedarf die Ermittlung der Liquidationswerte regelmäßig sachverständiger Unterstützung.104 Aufgrund der zweifelhaften Bestimmtheit des Überschuldungsbegriffes kann eine strafrechtliche Überschuldung nur dann konstatiert werden, wenn alle seriös vertretenen Schätzungsmethoden zum Schluss kommen, dass das Vermögen des Schuldners die Verbindlichkeiten nicht mehr deckt.105 In der Praxis des Strafverfahrens wird ein solches Ergebnis nur in evidenten Fällen zu finden sein.

b) Zahlungsunfähigkeit Auch die gebotene restriktive Auslegung des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit setzt einer signifikanten Ausweitung der Insolvenzdelikte Grenzen. Zu Zeiten der Konkursordnung war die Zahlungsunfähigkeit gesetzlich nicht bestimmt. Nach einer anerkannten Definition war ein Schuldner zahlungsunfähig, wenn er auf Grund eines Mangels an Zahlungsmitteln dauerhaft nicht mehr in der Lage war, seine ernsthaft eingeforderten Geldschulden im Wesentlichen zu erfüllen.106 Seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung ist die Zahlungsunfähigkeit in § 17 Abs. 2 S. 1 InsO legaldefiniert. Danach ist der Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Auf die unter der Konkursordnung etablierten Eingrenzungskriterien der „Dauer“ und der „Wesentlichkeit“ hat der Gesetzgeber der Insolvenzordnung bei der Umschreibung der Zahlungsunfähigkeit verzichtet.107 Auch das Merkmal des „ernsthaftes Einforderns“ ist durch den Tatbestand des Forderns ersetzt worden. Hieraus hat der 1. Strafsenat des BGH gefolgert, dass diese Eingrenzungskriterien nunmehr entfallen seien.108 Der zuständige Zivilsenat des BGH hatte hingegen schon zuvor entschieden, dass auch unter der Geltung der Insolvenzordnung an einer restriktiven Auslegung und den Merkmalen der Dauer und Wesentlichkeit

103

LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 156. Bittmann/Bittmann (o. Fn. 43), § 11 Rn. 96. 105 OLG Düsseldorf wistra 1998, 360; LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 158; Moosmayer, Einfluss der Insolvenzordnung 1999 auf das Insolvenzstrafrecht, 1999, S. 162 m.w.N. 106 S. z.B. Dahl, NJW-Spezial 2008, 53. 107 BGH, Urt. v. 24.5.2005, IX ZR 123/04, Rn 10, BGHZ 163, 144. 108 BGH, Beschl. v. 23.5.2007, 1 StR 88/07, wistra 2007, 312; Fischer, Vor § 283 Rn 9. 104

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festzuhalten bleibt.109 Kurze Zeit später hat der gleiche Senat klargestellt, dass auch künftig die Gläubiger ihre Forderungen ernsthaft einfordern müssen.110 Nachdem sich zwischenzeitlich auch der 5. Strafsenat des BGH die „klassische“ Definition zu eigen gemacht hat,111 könnte gefolgert werden, dass alles beim Alten bleibt: Zahlungsunfähigkeit ist das nach außen in Erscheinung tretende, auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhende, voraussichtlich dauernde Unvermögen des Schuldners, seine ernsthaft eingeforderten fälligen Geldschulden noch im Wesentlichen zu begleichen. Indes haben die strafrechtliche Judikatur und Literatur die Rechtsprechung des Zivilsenates des BGH nicht rezipiert mit der im Hinblick auf den ultima-ratio-Charakter der Strafrechts bemerkenswerten Folge, dass der Begriff der Zahlungsunfähigkeit im Zivilrecht restriktiver ausgelegt wird als im Strafrecht. Im strafrechtlichen Kontext wird unverdrossen daran festgehalten, dass die einschränkenden Merkmale der Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit ebenso entfallen seien wie das Erfordernis des ernsthaften Einforderns.112 Diese krasse Verschärfung der Definition der Zahlungsunfähigkeit trägt der Unternehmenswirklichkeit keine Rechnung und schießt weit über das Ziel hinaus. Hinsichtlich des Kriteriums der Dauerhaftigkeit sollte aufgrund des artikulierten Willens des Gesetzgebers außer Streit stehen, dass eine vorübergehende Zahlungsstockung, die sich voraussichtlich innerhalb kurzer Zeit beheben lässt, keine Zahlungsunfähigkeit begründet.113 Über den Zeitraum, innerhalb dessen die Illiquidität beseitigt werden muss, um dem Verdikt der Zahlungsunfähigkeit zu entgehen, lässt sich freilich trefflich disputieren. Genannt werden Zeiträume zwischen 1 Tag114 und 3 Monaten115. Unter der Geltung der Konkursordnung ist der Zeitraum, innerhalb dessen die Zahlungsstockung beseitigt werden muss, auf etwa einen Monat begrenzt worden.116 Der Gesetzgeber der Insolvenzordnung wollte diesen Zeitraum verkürzen.117 Als Zahlungsstockung soll deshalb nur noch eine Illiquidität gelten, die den Zeitraum nicht überschreitet, den eine kreditwürdige Person braucht, um sich die benötigten Mittel zu leihen.118 Einen normativen An109

BGH, Urt. v. 24.5.2005, IX ZR 123/04, Rn 10 ff.; a.A. Fischer, Vor § 283 Rn 9. BGH v. 19.7.2007, BGHZ 173, 286, 292 = NZI 2007, 579; so auch BGH, Urt. v. 14. 5. 2009, IX ZR 63/08, Rn. 22, BGHZ 181, 132. 111 BGH, Urt. v. 19. 04. 2007, 5 StR 505/06, HRRS 2007 Nr. 560 = wistra 2007, 308. 112 Vgl. z.B. Fischer, Vor § 283 Rn. 8. 113 Begr. zu § 20 und § 21 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 114; BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn 20, BGHZ 181, 132. 114 Moosmayer (o. Fn. 105), S. 155 ff. 115 Harz, ZinsO 2001, 193, 197. 116 S. z.B. BGHZ 149, 100, 108. 117 Begr. Zu § 20 und § 21 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 114. 118 BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn 13, BGHZ 181, 132. 110

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knüpfungspunkt bietet § 15a InsO, der zeigt, dass das Gesetz eine Ungewissheit über die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit des Schuldners längstens drei Wochen hinzunehmen bereit ist.119 Allerdings werden jenseits dieser Frist Ausnahmen zuzugestehen sein, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätsunterdeckung zeitnah beseitigt wird und den Gläubigern ein Zuwarten zuzumuten ist.120 In Bezug auf das Merkmal der Wesentlichkeit ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass „ganz geringfügige Liquiditätslücken“ außer Betracht bleiben müssen; es erscheine jedoch „nicht gerechtfertigt, Zahlungsunfähigkeit erst anzunehmen, wenn der Schuldner einen bestimmten Bruchteil der Gesamtsumme seiner Verbindlichkeiten nicht mehr erfüllen kann“.121 Vor diesem Hintergrund kam für den IX. Zivilsenat des BGH die Einführung eines prozentualen Schwellenwertes nur in der Form einer Beweislastregel in Betracht: Das Überschreiten eines Schwellenwertes von 10 % begründe eine widerlegbare Vermutung für die Zahlungsunfähigkeit.122 Diese „Daumenregel“ gilt indes dann nicht, wenn hinreichend wahrscheinlich ist, dass die Liquidität in absehbarer Zeit wiederhergestellt wird.123 Mit dieser Einschränkung und unter Modifizierung der im Strafverfahren deplazierten Beweislastregel kann der Grenzwert auch im Insolvenzstrafrecht anerkannt werden.124 Freilich muss im strafrechtlichen Kontext ausgeschlossen sein, dass die Liquiditätsunterdeckung zeitnah beseitigt wird. Letztlich ist auch daran festzuhalten, dass der Gläubiger seine Forderung ernsthaft einfordern muss. Von der Nichtzahlung einer im Sinne des § 271 Abs. 1 BGB fälligen Forderung darf nicht schematisch auf die Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden.125 Eine Forderung ist vielmehr in der Regel erst dann im insolvenzrechtlichen Sinne fällig, wenn der Wille des Gläubigers feststeht, die Erfüllung zu verlangen.126 Fällige Forderungen bleiben daher bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit außer Betracht, wenn sie mindestens rein tatsächlich - also auch ohne rechtlichen Bindungswillen oder erkennbare Erklärung - gestundet sind.127 Eine Stundung und ein Stillhalteabkommen, das keine Stundung im Rechtssinne enthalten muss, kön119 BGH, Urt. v. 24.5.2005, IX ZR 123/04, Rn 13; s.a. LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn 134: 4 Wochen; kritisch auch Fischer, Vor § 283 Rn 9a. 120 BGH NZI 2007, 36; Dahl, NJW-Spezial 2008, 53. 121 Begr. Zu § 20 und § 21 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 114; BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn. 20, BGHZ 181, 132. 122 BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn 29, BGHZ 181, 132. 123 Vgl. z.B. Dahl, NJW-Spezial 2008, 53. 124 LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn 129. 125 BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn 22, BGHZ 181, 132. 126 BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn 22, BGHZ 181, 132. 127 BGH, Urt. v. 14.5.2009, IX ZR 63/08, Rn 22, BGHZ 181, 132; BGHZ 173, 286, 291.

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nen schließlich konkludent vereinbart werden.128 Unberücksichtigt bleiben ferner Forderungen dann, wenn der Gläubiger in eine nachrangige Befriedigung einwilligt.129 Die Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel durch eine stichtagsbezogene Gegenüberstellung der fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten sowie der zu ihrer Tilgung vorhandenen oder herbeizuschaffenden Mittel festzustellen.130 Herbeizuschaffende Mittel sind kurzfristig - d.h. innerhalb der nächsten drei Wochen - einziehbare Forderungen sowie entsprechend zeitnah liquidierbare Vermögensgegenstände.131 Ausnahmsweise kann eine Zahlungsunfähigkeit auch ohne eine solche Liquiditätsbilanz festgestellt werden. Insbesondere in Konstellationen, in denen aussagekräftige betriebswirtschaftliche Unterlagen nicht vorhanden sind, können wirtschaftskriminalistische Beweisanzeichen den sicheren Schluss auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit erlauben.132 Als relevante Krisenindikatoren gelten etwa Sozialversicherungsbeiträge, mit deren Ausgleich der Schuldner über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten im Verzug ist.133 Auch Steuerrückstände, Kündigung von Krediten, häufige Scheck- oder Wechselproteste und fruchtlose Pfändungen gelten als taugliche Beweisanzeichen.134 Der in Ausnahmefällen mögliche Schluss aus wirtschaftskriminalistischen Beweisanzeichen auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit verführt die Praxis zu allzu pauschalen Feststellungen solcher Krisenindikatoren, die indes den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nicht hinreichend bestimmt beschreiben und in der Revision als rechtsfehlerhaft beanstandet werden.135

c) Drohende Zahlungsunfähigkeit Nach der Legaldefinition des § 18 Abs. 2 InsO droht der Schuldner zahlungsunfähig zu werden, wenn er voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. § 18 Abs. 1 InsO gibt dem Schuldner in diesem Fall ein (alleiniges) Antragsrecht. Dieses ermöglicht dem Schuldner, sich schon frühzeitig 128

Uhlenbruch (o. Fn. 86), § 17 Rn 17. Dahl, NJW-Spezial 2008, 53, 54. 130 BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 50; BGHR GmbHG § 64 Abs. 1 Zahlungsunfähigkeit 1; BGH wistra 2003, 232. 131 BGH v. 19.7.2007, BGHZ 173, 286, 292 = NZI 2007, 579; BGH, Beschl. v. 10.2.2009, 3 StR 372/08, Rn 14 = NStZ 2009, 437. 132 BGH, Beschl. v. 28.10.2008 - 5 StR 166/08, Rn. 20, BGHSt 53, 24; BGHR GmbHG § 64 Abs. 1 Zahlungsunfähigkeit 1; BGH wistra 2003, 232. 133 BGH NZI 2006, 590; HWSt-Wegner, VII Rn. 82a. 134 BGH wistra 2003, 232. 135 S. z.B. BGH NStZ 2003, 546; MK-Radtke, Vor §§ 283 Rn. 83. 129

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d.h. bereits in Erwartung einer bevorstehenden Krise - unter den Schutz der InsO zu stellen. Zur Antragstellung verpflichtet ist er in dieser Situation aber nicht. Der Eigenantrag entpuppt sich indes strafrechtlich womöglich als Eigentor: Mit dem Eigenantrag schafft der Schuldner nämlich erst die Voraussetzungen seiner Strafverfolgung, indem er selbst den Eintritt der objektiven Bedingung der Strafbarkeit nach § 283 Abs. 6 herbeiführt. Hierdurch wird die insolvenzrechtliche Zielsetzung einer möglichst frühen Eigenantragstellung konterkariert.136 Dies legt eine vom Insolvenzrecht abweichende, besonders restriktive Auslegung des Begriffs der drohenden Zahlungsunfähigkeit nahe.137 Der Begriff der drohenden Zahlungsunfähigkeit bezieht sich auf die Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 Abs. 2 S. 1 InsO, fügt aber das prospektive Element des Drohens hinzu. Die zukünftige Zahlungsunfähigkeit ist unstreitig nicht anders auszulegen als die bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit.138 Die gebotene einschränkende Interpretation ist daher über die im Rahmen der Gefahrprognose zu stellenden Voraussetzungen zu leisten. Einzubeziehen sind nur die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit fällig werdenden Forderungen.139 Bei der Prognose ist die drohende Zahlungsunfähigkeit von einer nur vorübergehenden Zahlungsstockung abzugrenzen.140 Im Lichte des Zweifelssatzes ist das Krisenmerkmal ferner dahingehend auszulegen, dass der Schuldner einen „point of no return“ überschritten haben muss, in dem er nicht mehr normativ berechtigt darauf vertrauen darf, die Zahlungsunfähigkeit zu verhindern.141 Der Prognosezeitraum ist zunächst limitiert durch den spätesten Fälligkeitstermin der im Feststellungszeitpunkt bestehenden Zahlungspflichten des Schuldners.142 Bei wiederkehrenden oder erst langfristig fällig werdenden Verbindlichkeiten ist darüber hinaus im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG eine weitere Begrenzung auf den betriebswirtschaftlich überschaubaren Zeitraum geboten.143 Insoweit soll auf eine Periode von 1 Jahr abzustellen sein.144 136

Vgl. Fischer, Vor § 283 Rn. 11 m.w.N. MK-Radtke, Vor §§ 283 ff. Rn. 86; Achenbach, GedS Schlüchter, S. 256, 273; HWStWegner VII 1 Rn. 86; vgl. a. BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 52: Definition des § 18 Abs. 2 InsO gelte auch für das Strafrecht. 138 Vgl. z. B. Erdmann (o. Fn. 63), S. 135; MK-Radtke, § 283 Rn. 10. 139 BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 52. 140 BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 52. 141 Vgl. MK-Radtke, Vor §§ 283 ff. Rn. 88. 142 Fischer, Vor § 283 Rn. 11; MK-Radtke, Vor §§ 283 ff. Rn. 89; Bieneck, StV 1999, 43, 45. 143 Vgl. Erdmann (o. Fn. 63), S. 141 ff.; LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 139. 144 Bittmann, wistra 1998, 321, 325; HWSt-Wegner, VII 1 Rn. 87; Dannecker/Knierim/Hagemeier (o. Fn. 7), Rn. 80; vgl. a. LK-Tiedemann, Vor § 283 Rn. 139: Ende des folgenden Geschäftsjahres. 137

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Alle Versuche einer Präzisierung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bis heute nicht gelungen ist, das Krisenmerkmal der Zahlungsunfähigkeit klar zu definieren.145 Der alte Befund von Matzen, dass der Begriff „von vornherein unbestimmbar und somit für die strafrechtliche Praxis unbrauchbar ist“146, ist nicht widerlegt. Ungeachtet der definitorischen Schwierigkeiten ist die Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit besonders problematisch, wenn Geschäftsunterlagen fehlen oder mangelhaft geführt sind. Grundsätzlich ist nämlich auch zur Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit ein Liquiditätsstatus zu erstellen.147 Wenngleich auch hier in Ausnahmefällen der Rückgriff auf eine kriminalistische Feststellungsmethode zulässig sein soll,148 dürften im Regelfall keine verwertbaren Beweisanzeichen gegeben sein. Denn die Angaben des Schuldners im Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind gem. § 97 Abs. 1 S. 3 InsO ebenso unverwertbar wie die auf dessen Angaben beruhenden Berichte des Insolvenzverwalters.149

III. Fazit Die Neigung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs zur Ausweitung der §§ 283 ff. StGB mag der schwindenden praktischen Bedeutung dieser Tatbestände entgegenwirken. Die Strafverfolgung von Insolvenzdelikten dürfte die Praxis aber auch in Zukunft vor große und häufig unüberwindbare Hindernisse stellen. Unabhängig vom grundsätzlichen Legitimitätsdefizit der §§ 283 ff. StGB sind die Krisenbegriffe der Überschuldung und drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht hinreichend bestimmt und für die Praxis unbrauchbar. Die Strafverfolgungsbehörden werden diese Krisenmerkmale daher vermutlich auch in Zukunft weitgehend ignorieren und sich auf den justiziableren Begriff der Zahlungsunfähigkeit konzentrieren. Auch insoweit gibt es beträchtliche Schwierigkeiten der prozessordnungsgemäßen

145

Brand, ZStW 121 (2009) 281, 284. Matzen, Der Begriff der drohenden und eingetretenen Zahlungsunfähigkeit im Konkursstrafrecht, 1993, S. 116. 147 BGH, Urt. v. 29.4.2010, 3 StR 314/09, Rn. 49. 148 BGH wistra 1987, 219; 1993, 184; Erdmann (o. Fn. 63), S. 153 m.w.N. 149 Vgl. hierzu Püschel, FS AG Strafrecht, 2009, S. 759 ff. 146

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Feststellung, die dazu führen, dass die Verfahrensbeteiligten häufig in die Verständigung fliehen oder aber das Strafverfahren auf das leichter handhabbare Formaldelikt des § 283b StGB beschränken.150 Ein Boom wird daher ausbleiben.

150 Der neue § 241a HGB entpönalisiert freilich die Buchführungs- und Bilanzierungspflicht für Einzelkaufleute weitgehend.

Die schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters Materialien zur Reform des § 267 StPO PETER RIESS

I. Einleitung Wer sich als Tatrichter in einer auch nur mittelmäßig komplexen Sache bei der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe allein auf die Vorgaben des § 267 StPO beschränkt, kann fast sicher sein, dass sein Urteil einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht standhält, sondern bereits auf die allgemeine Sachrüge hin der Aufhebung unterliegt. Denn die Vorschrift verlangt zwar (Absatz 1 Satz 1) die Mitteilung der erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, also einen unterscheidbaren und subsumtionsfähigen Sachverhalt, sowie in Satz 2 als bloße Sollvorschrift die Angabe von Indiztatsachen, schreibt aber dem Tatrichter nicht vor, dabei auch die Erwägungen und Gründe darzulegen, weshalb es diese Feststellungen für erwiesen erhält. Deshalb kann das Revisionsgericht nicht beurteilen, ob sie auf einer tragfähigen und nachvollziehbaren Grundlage beruhen, wozu es nach dem inzwischen erreichten Stand des strafprozessualen Revisionsrechts schon bei der sachlichrechtlichen Urteilsprüfung berechtigt (und verpflichtet) ist.1 In der Rechtspraxis wirkt sich dieses legislatorische Defizit deshalb nicht aus, weil die Praxis sich nicht auf das beschränkt, was der Gesetzeswortlaut vorschreibt, sondern regelmäßig durch eine Beweiswürdigung ihre Feststellungen rechtfertigt. Sie orientiert sich dabei an einer seit langem bestehenden traditionellen Handhabung, die durch einschlägige Spezialliteratur2 vermittelt und in

1 S. dazu, jeweils mit weit. Nachw. etwa LR-Hanack 25. Aufl., 1998, § 337 Rn. 120 ff.; Frisch FS Fezer, S. 353 ff.; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., 2009, § 55 Rn. 17 ff.; als aktuelles Beispiel für das Erfordernis umfassender Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses in den Urteilsgründen s. BGH NStZ 2010, 102, 103 l. Sp.; s. dazu auch KK-Schoreit 6. Aufl., § 261 Rn. 49 f. 2 Vor allem Meyer-Goßner/Appl Die Urteile in Strafsachen, 28. Aufl., 2008.

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den Kommentaren kasuistisch entfaltet wird.3 Es mag offen bleiben, ob und wieweit sich dies zu einem richterrechtlich begründeten Gewohnheitsrecht verdichtet hat oder sich aus dem sachlichen Recht oder aus § 261 StPO ableiten lässt;4 auf jeden Fall erscheint es bedenklich, wenn sich aus einem scheinbar vollständigen Gesetzeswortlaut ein aus heutiger Sicht zentraler Bestandteil des geforderten Urteilsinhalts nicht ergibt. Auch im Übrigen ist § 267 StPO, was – wie noch darzulegen ist – entwicklungsgeschichtlich bedingt ist, eine wenig übersichtliche und klare Vorschrift. Mit derzeit insgesamt 6 Absätzen, 18 Sätzen und 550 Wörtern gehört sie trotz ihrer inhaltlichen Unvollständigkeit zu den umfangreichsten der StPO.5 Die Anforderungen an die rechtliche Würdigung und die Notwendigkeit einer Strafzumessung werden in Absatz 3 Satz 1 in einem Satz zusammengefasst, während Einzelheiten zu dieser mit wenig sinnvollen Wiederholungen in drei weiteren Sätzen geregelt und nach fast gleichen Kriterien Abgaben zu den Maßregeln in Absatz 6 verlangt werden. Die Bestimmungen über das abgekürzte Urteil (Absatz 4) entsprechen nicht mehr der heutigen Gesamtkonzeption. Vorschriften über das Einstellungsurteil fehlen gänzlich. Eine Reform der gesetzlichen Regelung über den Inhalt der schriftlichen Urteilsgründe erscheint hiernach wünschenswert. Die Absicht des nachfolgenden Beitrags ist es, zu deren Ausgestaltung Material zu liefern. Zu diesem Zweck wird zunächst die bisherige Entwicklungsgeschichte des § 267 StPO dargestellt (dazu unter II). Die gesetzliche Regelung ist seit ihrem Inkrafttreten im Jahre 1879 in allen seitherigen amtlichen Reformvorschlägen Änderungen ausgesetzt gewesen, die auch aus gegenwärtiger Sicht Anregungen vermitteln können (dazu unter III). Abschließend sind einige Eckpunkte und Fragestellungen für den Inhalt einer neuen gesetzlichen Regelung zu skizzieren (dazu unter IV).

3 S. dazu (beispielhaft) LR-Gollwitzer 25. Aufl., 2001, § 267 Rn. 51 ff.; KK-Engelhardt 6. Aufl., 2008, § 267 Rn. 13 ff., 25 ff.; Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 53. Aufl., 2010, § 267 Rn. 12 f. 4 S. dazu etwa Meyer-Goßner/Appl (Fn. 2), S. 120; LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 48; KK-Engelhardt (Fn. 3), § 267 Rn. 12; Wagner ZStW 106 (1994), 259 ff. 5 Sie war lange Zeit und bis zur Einfügung bzw. Umgestaltung der nahezu monströsen §§ 100a, 100c und 101 StPO der Spitzenreiter.

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II. Entwicklungsgeschichte 1. Ursprungsfassung Auf die etwas kontroverse und kompromisshafte Entstehungsgeschichte des § 267 StPO braucht von der Zielsetzung dieses Beitrags her nicht näher eingegangen zu werden.6 Festzuhalten ist, dass die aus gegenwärtigem Verständnis defizitäre und schon damals kritisch beurteilte Regelung über die Beweiswürdigung (und die Strafzumessung) auf heute überholten Vorstellungen über die freie Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und einem besonders weiten Ermessensspielraum bei der Strafzumessung beruhen. In der am 1. 10. 1879 in Kraft getretenen Fassung der StPO vom 1. 2. 1877 hatte die Vorschrift7 folgenden Wortlaut: § 266: (1) 1Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. 2Insoweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. (2) Waren in der Verhandlung solche vom Strafgesetze besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder nicht festgestellt erachtet werden. (3) 1Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und sollen die Umstände anführen, welche für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. 2Macht das Strafgesetz die Anwendung einer geringeren Strafe von dem Vorhandensein mildernder Umstände im Allgemeinen abhängig, so müssen die Urteilsgründe die hierüber getroffene Entscheidung ergeben, sofern das Vorhandensein solcher Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint wird. (4) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt, oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist.

6 S. dazu die Nachw. bei LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 47; ferner etwa Glaser Handbuch des Strafprozesses, Bd. 2, 1885, S. 585 f. 7 Bis zur Neubekanntmachung v. 22. 3. 1924 (RGBl. I S. 322) nach der Emminger-VO als § 266.

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Die Regelung war allerdings im Ergebnis für das bis Anfang 1924 vorhandene „klassische“ Schwurgericht mit seiner Trennung von Geschworenenbank und Richterbank mit einer gegenüber dem gegenwärtigen § 74 Abs. 2 GVG erheblich weiteren Zuständigkeit praktisch bedeutungslos, weil der Wahrspruch der Geschworenen einer weiteren Begründung strukturell nicht zugänglich war. Damit entfielen die in den Absätzen 1 und 2 sowie in Absatz 3 Satz 2 vorgeschriebenen Angaben sowie die in Absatz 4 vorgesehene Begründung. Lediglich der insoweit keine nähere Begründung enthaltende Spruch der Geschworenen, der nach § 316 StPO Bestandteil der Urteilsurkunde wurde, bot eine kaum relevante Grundlage für die sachlichrechtliche revisionsrechtliche Überprüfung.8

2. Entwicklungsgeschichte a) Allgemeines und Übersicht § 267 (bis 1924 als § 266) StPO blieb – wie weitgehend der gesamte Wortlaut der StPO – in den ersten 40 Jahren seiner Geltung unverändert; der erste Eingriff erfolgte 1921. Seither ist die Vorschrift insgesamt 16mal geändert worden; das Schwergewicht liegt hierbei in der Zeit seit 1950. Mit einer grundlegenden Neukonzeption sind diese meist punktuellen Änderungen nicht verbunden gewesen; sie haben auch niemals im Mittelpunkt der die jeweiligen Änderungsgesetze begleitenden rechtspolitischen Aufmerksamkeit gestanden. Ein beträchtlicher Teil der Änderungen findet seinen Grund allein in Veränderungen im materiellen Strafrecht. Die Änderungen aus prozessualen Gründen beschränken sich auf Einzelpunkte und finden ihren Schwerpunkt in Regelungen über die Möglichkeit, das Urteil in abgekürzter Form abzusetzen und auf andere Unterlagen Bezug zu nehmen. Eine substantielle Erweiterung der Begründungspflicht enthält lediglich die Umwandlung der Sollvorschrift für die Strafzumessungsbegründung in eine zwingende Vorschrift.

b) Änderungen aus prozessualen Gründen 1921 wurde (als erste Änderung) der das abgekürzte Urteil ermöglichende Absatz 4 mit folgendem Wortlaut eingefügt:9 (4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel, so genügt die Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen, in welchen die 8 Näher mit Nachw. Rieß FS Widmaier, S. 473 ff., 494 f.; zur (insoweit problematischen) gegenwärtigen Situation und zu möglichen Abhilfen in Österreich s. etwa Moos Juristische Blätter 2010, 73 ff. 9 Gesetz zur Entlastung der Gerichte v. 11. 3. 1921 (RGBl. S. 239), Art. 3 Nr. 4.

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gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden und des zur Anwendung gebrachten Strafgesetzes; hierbei kann auf den Eröffnungsbeschluss Bezug genommen werden. 10 Eine davon abweichende, teilweise weitergehende Regelung außerhalb des § 267 enthielt ab 1942 Art. 7 § 1 Abs. 4 der 2. VereinfVO11 mit folgendem Wortlaut: (4) Ist kein Rechtsmittel eingelegt, so genügt zur Begründung des Urteils die Angabe des festgestellten Sachverhalts, des zur Anwendung gebrachten Strafgesetzes und der Umstände, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Das Vereinheitlichungsgesetz 1950 kehrte zur Fassung des § 267 Abs. 4 unter Streichung der Bezugnahmemöglichkeit zurück.12 Seit 1975 ist die Bestimmung kontinuierlich ausgebaut worden. Durch das 1. StVRG13 erhielt sie im Kern ihre heutige Fassung; ihr Anwendungsbereich wurde auf die durch Fristablauf eintretende Rechtskraft erweitert und eine vergleichbare Regelung für das freisprechende Urteil geschaffen. Das StVÄG 197914 ermöglichte in diesen Fällen bei Geldstrafen die Verweisung auf den Anklagesatz oder den Strafbefehlsantrag; die anfängliche Begrenzung auf Urteile des Amtsgerichts wurde durch das StVÄG 198715 gestrichen und durch das 2. JuMoG16 wurde 2006 die Möglichkeit auf die Verwarnung mit

10 Nach der (vorübergehenden) Abschaffung des Eröffnungsbeschlusses (VO über die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren v. 13. 8. 1942 [RGBl. I S. 512], Art. 2 Abs. 3) wurde Bezugnahme auf die Anklageschrift ermöglicht. 11 Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 13. 8. 1942 (RGBl. I. S. 508). 12 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12. 9. 1950 (BGBl. S. 455), Art. 3 Nr. 120. Den Verzicht auf die Abkürzung bei Fristablauf rechtfertigt die Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drucks. 530 S. 48) mit der dadurch eintretenden Gefährdung der damaligen einwöchigen (Sollvorschrift) Urteilsabsetzungsfrist. Der Verzicht auf die Bezugnahmemöglichkeit entspricht der Stellungnahme des Bundesrates und wurde in den Ausschussberatungen beschlossen (BT-Drucks, 1138, S. 59) 13 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) v. 9. 12. 1974 (BGBl. I S. 3393), Art. 1 Nr. 19; die Begründung (BT-Drucks. 7/551, S.81 f.) stellt vor allem auf den Einsparungseffekt ab. 14 Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StVÄG 1979) v. 5. 10. 1978 (BGBl. I S. 1645) Art. 1 Nr. 22; zur Begründung s. BT-Drucks. 8/976, S. 55 f. 15 Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StVÄG 1987) v. 27. 1. 1987 (BGBl. I S. 475) Art. 1 Nr. 20; zur Begründung s. BT-Drucks. 10/1313, S. 29. 16 Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) v. 22. 11. 2006 (BGBl. I S. 3416), Art. 14 Nr. 4.

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Strafvorbehalt erstreckt.17 Für alle diese Änderungen waren ausschließlich Gründe der Justizentlastung maßgebend. Die Neufassung des Absatz 3 Satz 1 durch das VereinhG18 wandelte als bisher einzige den Umfang der Begründungspflicht auch aus prozessualen Gründen substantiell erweitende Änderung die zur Angabe der Strafzumessungsgründe verpflichtende Bestimmung in eine zwingende Vorschrift um. Das StVÄG 197919 schuf eine Lockerung des Absatzes 1 durch den neuen Satz 3, der für die Mitteilung der subsumtionsfähigen Tatsachen eine begrenzte Verweisung auf Abbildungen gestattet.20 Mir der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren21 wurde schließlich als gegenwärtig letzte Änderung der neue Absatz 3 Satz 5 eingefügt, der die Mitteilung der Tatsache einer Verständigung in den Urteilsgründen stets – auch im abgekürzten Urteil (neuer Absatz 4 Satz 2) – vorschreibt.

c) Änderungen aus materiell-strafrechtlicher Veranlassung Die Erweiterung des Inhalts der Urteilsgründe im Jahre 1933 um Absatz 6 ist eine Folge der Einführung von Maßregeln der (nach damaliger Bezeichnung) Sicherung und Besserung.22 Er hatte ursprünglich folgenden Wortlaut: (6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Sicherung und Besserung angeordnet oder für zulässig erklärt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht für zulässig erklärt worden ist.

17 Die Änderung in Absatz 4 Satz 1 durch Art. 4. Nr. 8 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes v. 28. 10. 1994 (BGBl. I S. 3186) enthält lediglich eine Verweisungsumstellung ohne sachliche Bedeutung. 18 S. oben, Fn. 12; Art. 3 Nr. 120. Die Erweiterung war im Regierungsentwurf noch nicht enthalten und wurde erst in den Ausschussberatungen eingefügt. 19 S. oben, Fn. 14. 20 Nach der Begründung soll dies auch einer Erweiterung der Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts dienen. Eine darüber hinausgehende Verweisungsmöglichkeit auch auf Schriftstücke, die in einem Gesetzentwurf des Bundesrates (BT-Drucks. 8/354, Art. 3 Nr. 14) vorgeschlagen war, wurde mit einer ausführlichen Begründung abgelehnt. 21 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren v. 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2353), Art. 1 Nr. 9. 22 Ausführungsgesetz zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung v. 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 1000), Art. 2 N. 6. § 8 Nr. 6 des Gesetzes über die Reichsverweisung v. 23. 3. 1934 (BGBl. I S. 213) strich aus redaktionellen Gründen die Wort „oder für zulässig erklärt“.

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Das ist von vorwiegend redaktionellen Anpassungen abgesehen,23 bis heute weitgehend unverändert geblieben und lediglich 1964 durch Satz 2 ergänzt worden,24 der der straßenverkehrsrechtlichen Bindung an diese Entscheidung25 geschuldet ist. Die Begründungspflicht bei der Strafaussetzung zur Bewährung in (derzeit) Absatz 3 Satz 4 wurde 1953 bei der Einführung dieser Möglichkeit geregelt und später auf die Verwarnung mit Strafvorbehalt erweitert.26 Im Zusammenhang mit der Großen Strafrechtsreform von 1969 – 1974 wurden neben einigen rein redaktionellen Änderungen die Begründungspflichten für die Annahme minderschwerer Fälle neu geregelt (Absatz 3 Satz 2) sowie für die Behandlung von Regelbeispielen geschaffen (Absatz 3 Satz 3).27

III. Die Reformvorschläge der amtlichen Entwürfe Der ganz überwiegend nur reaktiven und punktuellen legislatorischen Entwicklung stehen unterschiedliche, auch grundsätzlichere Reformvorschläge für § 267 StPO in den amtlichen Entwürfen gegenüber, von denen keiner verwirklicht worden ist. In der Zeit von 1895 bis 1939 sind fünf umfangreichere amtliche Entwürfe erstellt worden. Seither enthält mangels solcher breiter angelegten Gesamtentwürfe lediglich der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen von Ende 1975 einen Vorschlag für eine umfassende Neuregelung der tatrichterlichen Urteilsgründe.28

23 Änderung in „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ durch Art. 21 Nr. 70 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) v. 2. 3. 1974 (BGBl. I S. 469); Anpassung an die Möglichkeit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung durch Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung v. 21. 8. 2006 (BGBl. I S. 3344). 24 Zweites Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs v. 26. 11. 1964 (BGBl. I S. 921). 25 S. § 3 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz; vgl. auch LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 115, 127; KK-Engelhardt (Fn. 3), § 267 Rn. 35, beide mwN. 26 Drittes Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. 8. 1953 (BGBl. I S. 735), Art. 4 Nr. 30; Einbeziehung der Verwarnung mit Strafvorbehalt durch Art. 21 Nr. 70 EGStGB (Fn. 23). 27 Art. 9 Nr. 13 des 1. StVRG (Fn. 13) und Art. 21 Nr. 70 des EGStGB (Fn. 23). 28 In den von privaten Gremien vorgelegten größeren Entwürfen ist diese Thematik bisher nicht behandelt worden.

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1. Entwurf 1895 29

Der Entwurf 1895 beschränkte sich in diesem Punkt darauf, eine auch die Beweiswürdigung vorschreibende Neufassung der Ursprungsfassung des (damaligen) § 266 Abs. 1 vorzuschlagen. Er sollte folgenden Wortlaut enthalten. (1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden, und die Gründe angeben, welche für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Die Begründung des Regierungsentwurfs30 motiviert diesen Vorschlag nicht etwa mit einer verbesserten Möglichkeit der revisionsrechtlichen Überprüfung,31 sondern damit, dass eine solche umfassende Urteilsbegründung die bessere Gewähr dafür biete, dass alle für und wider den Angeklagten sprechenden Gründe sorgfältig gegeneinander abgewogen würden, weil sie den Richter veranlassen werde, auch bei der Beratung des Urteils die Erheblichkeit der einzelnen Beweismittel sorgfältiger zu prüfen. Damit werde zugleich für die Berufungsinstanz und ein etwaiges Wiederaufnahmeverfahren eine geeignete Grundlage geschaffen. In den Beratungen der Reichstagskommission wurde der Vorschlag unverändert angenommen, nachdem klargestellt wurde, dass damit eine ausführliche Wiedergabe der einzelnen Zeugenaussagen nicht beabsichtigt sei.32

29 Entwurf 1895: Gesetz betreffend Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung, (Reichstagsverhandlungen, 12. Legislaturperiode, II Session, Aktenstück Nr. 7, Bericht der XI. Kommission, Aktenstück Nr. 294, Beschlüsse des Reichstages in zweiter Beratung, Aktenstück 587). Eine vollständige Neufassung erhält der Entwurf nicht. Die Hauptvorschläge betrafen (1) die allgemeine Einführung der Berufung auch gegen Urteile der Strafkammern, verbunden mit der Einschränkung einiger Garantien des erstinstanzlichen Verfahrens, (2) Zuständigkeitserweiterungen des Schöffengerichts und (gegenüber dem Schwurgericht) der Strafkammer, (3) Änderungen im Eidesrecht, (4) Lockerungen bei der Anwesenheitspflicht, (5) die Schaffung eines beschleunigten Verfahrens und (6) Einführung einer Entschädigung für zu Unrecht Verurteilte verbunden mit einer Einschränkung des Wiederaufnahmerechts. 30 Entwurfsbegründung (Aktenstück 7), S. 363. 31 Was mit der damals herrschenden Auffassung von der mangelnden Revisibilität der Beweiswürdigung zusammenhängen dürfte. Bei der allgemeinen Einführung der Berufung blieb die Revision gegen die Berufungsurteile, für die § 267 StPO ebenfalls galt, erhalten. 32 S. Kommissionsbericht (Aktenstück Nr. 294, S.1589) unter Hinweis auf die frühere preußische Regelung. Ein am Widerstand der Regierungsvertreter gescheiterter Zusatzantrag betraf die Aufnahme auch der Einzelstrafen bei einer Gesamtstrafe in die Urteilsformel.

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2. Reformkommission 1903-1905 Die zur Vorbereitung einer umfassenden Reform vom Reichsjustizamt eingesetzte, von 1903 – 1905 tagende Kommission für die Reform des Strafprozesses33 folgte diesem Ansatz und erweiterte ihn. Sie beschloss:34 (195) Es soll bestimmt werden, dass die Urteilsgründe im Falle der Verurteilung des Angeklagten die für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden, so angeben müssen, dass ersichtlich ist, auf welche Tatsachen sich die Feststellung jedes einzelnen Merkmals der strafbaren Handlung stützt. Für die Feststellung eines zu den Merkmalen gehörenden vorsätzlichen oder absichtlichen Handelns soll dies auch dann gelten, wenn das angewendete Strafgesetz den Vorsatz oder die Absicht nicht ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal aufgestellt hat. (196) Es soll weiter bestimmt werden, dass die Urteilsgründe nicht nur die für erwiesen erachteten Tatsachen, sondern ferner noch angeben müssen, weshalb diese Tatsachen für erwiesen erachtet worden sind. (197) Auch hinsichtlich der in § 266 Abs. 2 bezeichneten Umstände sollen die Urteilsgründe anzugeben haben, weshalb diese Umstände für festgestellt oder nicht festgestellt erachtet worden sind. Die Beratungen hierüber verliefen, namentlich in der ersten Lesung, kontrovers.35 Während die Befürworter weitgehend an die Begründung des Entwurfs 1895 anknüpften und zusätzlich auf eine entsprechende Regelung der Militärstrafgerichtsordnung36 verwiesen, verneinten die Vertreter der Minderheit ein praktisches Bedürfnis und machten namentlich für Kollegialgerichte geltend, dass eine von allen getragene Begründung der Überzeugung kaum möglich sei.

33 S. näher LR-Kühne 26. Aufl., 2006, Einl. Abschn. F Rn. 19 mwN; Veröffentlichung in: Protokolle der Kommission zur Reform des Strafprozessrechts, hrsg. vom Reichsjustizamt, 1006. 34 Protokolle Bd. I S. 246 ff: (1. Lesung), Bd. II S. 136 ff. (2. Lesung), S. 510 f. (Beschlüsse). 35 Annahme der Vorschläge in erster Lesung mit 13 gegen 8 Stimmen. 36 § 326 Abs. 1 der damaligen Militärstrafgerichtsordnung hatte folgenden Wortlaut: „Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden, und die nähere Darlegung enthalten, weshalb diese Tatsachen für erwiesen erachtet worden sind.“

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3. Entwurf 1909 Der Entwurf 1909 enthielt eine vollständige Neufassung der StPO37. Er ist im Reichstag von der zuständigen Justizkommission von März 1910 bis Anfang 1911 durchberaten und teilweise geändert worden. Die Beratungen im Plenum des Reichstages wurde 1911 abgebrochen und wegen Meinungsverschiedenheiten über die Besetzung der Berufungsinstanz nicht wieder aufgenommen. Der Entwurf verfolgte in seinen insgesamt neu gefassten – den Urteilstenor mit einbeziehenden – §§ 259, 260 eine vom Entwurf 1895 und den Kommissionsvorschlägen abweichende, restriktivere Konzeption. Er schlug folgende, auch sprachlich knappe Fassung vor. § 259: (1) 1Wird der Angeklagte verurteilt, so ist im verfügenden Teil des Urteils (Urteilsformel) anzugeben, welcher strafbaren Handlung er schuldig ist und auf welche Strafe erkannt wird. 2Soweit auf die Strafe Untersuchungshaft angerechnet wird, ist dies anzugeben. (2) 1In der Begründung des Urteils sind die Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz zu bezeichnen; auch ist anzugeben, weshalb die Untersuchungshaft ganz oder zum Teil nicht angerechnet ist. 2Sind von einem Prozessbeteiligten Umstände geltend gemacht worden, die nach besonderen Vorschriften des Gesetzes die Strafbarkeit der Tat ausschließen, vermindern oder erhöhen oder deren Verfolgung ausschließen, so ist auszusprechen, ob sie erwiesen sind. (3) 1Werden mildernde Umstände, von denen das Gesetz eine geringere Strafe abhängig macht, angenommen oder einem Antrag entgegen verneint, so soll sich die Begründung darüber aussprechen. 2Umstände, die für die Bemessung der Strafe von besonderer Bedeutung sind, soll das Gericht anführen. 3Seinem Ermessen bleibt überlassen, anzugeben, weshalb es eine Tatsache für erwiesen oder nicht für erwiesen hält. § 260: Wird der Angeklagte freigesprochen, so muss die Begründung ergeben, ob die Tat nicht erwiesen oder nicht strafbar ist. Diese Fassung setzte sich in den parlamentarischen Beratungen im Ergebnis nach kontroverser Behandlung in den Ausschusserörterungen mit geringfügigen redaktionellen Änderungen in § 259 Abs. 3 durch. Sie rückt nicht nur vom Vorschlag im Entwurf 1895 und den Kommissionsvorschlä-

37 Entwurf 1909: Entwurf einer Strafprozessordnung und einer Novelle zum GVG (Reichstagsverhandlungen, 12. Legislaturperiode, II Session, Aktenstück Nr. 7), Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform, hrsg. v. Bundesministerium der Justiz, 1960, Bd. 12, mit Bericht der 7. Kommission des Reichstages (Reichstagsverhandlungen, 12. Legislaturperiode, II Session, Aktenstück Nr. 638), Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13; zum Gesamtinhalt und zu seinem Schicksal ausführlich LR-Kühne (Fn. 33), Rn. 20 ff.

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gen ab, indem sie auf die zwingende Verpflichtung zur Beweiswürdigung verzichtet und eine solche dem tatrichterlichen Ermessen überlässt, sondern enthält auch eine Reduktion gegenüber der Ursprungsfassung, indem sie die Pflicht zur Angabe der Indiztatsachen beseitigt, die Begründung für das Vorliegen mildernder Umstände in eine Sollvorschrift umwandelt und die Sollvorschrift zur Begründung der Strafzumessung auf „besondere“ Umstände begrenzt. Die Entwurfsbegründung38 begründet dies zunächst damit, dass eine eingehendere Begründung in vielen Fällen einen unvertretbaren Aufwand an Mühe und Zeit erfordere, ohne entsprechende Vorteile für die Rechtspflege zu bieten. Gegen die Pflicht zur Mitteilung der Beweiswürdigung spreche ferner, dass – namentlich wegen der Mitwirkung von Laien – die Feststellung der für die Überzeugung maßgebenden Gründe mit unlösbaren Schwierigkeiten verbunden sein könne und für die unbefangene Beweiswürdigung in der Berufungsinstanz, in der der Entwurf eine völlig neue Sachprüfung vorsehe,39 eher nachteilig sei. Für die Revisionsinstanz komme es im Wesentlichen auf die rechtliche Begründung an. In den Beratungen der zuständigen Reichstagskommission wurde mit einer Reihe von Anträgen erfolglos die Gegenposition vertreten.40 Sie zielten einmal auf die inhaltliche Wiederherstellung der Ursprungsfassung, darüber hinaus aber auch auf eine dieser gegenüber verschärften Begründungspflicht.41

38 Aktenstück 7 (Fn. 37), S. 167 f. Die Begründung weist auf die Abweichung vom Entwurf 1895 hin, geht aber auf die Kommissionsbeschlüsse nicht ein. 39 Allerdings war nach den Entwurfsvorschlägen (§§ 317, 328) eine zwingende Berufungsbegründung mit Berufungsanträgen und einer Begrenzung der Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts an diese Anträge vorgesehen. 40 S. Aktenstück 638 (Fn. 37), S. 3331 ff. 41 Beantragt wurde neben der Umwandlung von Sollvorschriften in zwingende Vorschriften und differenzierenden Regelungen für den Fall, dass „unter den Prozessbeteiligten Streit über den Beweis einer Tatsache oder die Auslegung des Gesetzes“ bestand, Verpflichtungen, die rechtlichen oder tatsächlichen Einwendungen des Angeklagten mitzuteilen, besondere Bestimmungen über Mitteilung der bei der Abstimmung eingehaltenen Zwei-Drittel-Mehrheit und der Offenkundigkeit.

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4. Entwurf 1919 In deutlicher Abkehr von der zurückhaltenden Position des Entwurfs 1909 wollte der Entwurf 1919,42 der bereits im Reichsrat gescheitert und nicht in die parlamentarischen Beratungen gelangt ist, die Anforderungen an die Urteilsbegründung gegenüber der Ursprungsfassung deutlich verschärfen und namentlich eine Beweiswürdigung und eine Strafzumessungsbegründung zwingend vorschreiben. Er schlug folgende Regelung vor: § 261: (1) 1Wird der Angeklagte verurteilt, so ist im verfügenden Teil des Urteils (Urteilsformel) anzugeben, welcher strafbaren Handlung er schuldig ist und auf welche Strafe erkannt wird. 2Soweit die Anrechnung erlittener Untersuchungshaft auf die erkannte zeitige Freiheitsstrafe oder Geldstrafe unterbleibt, ist dies anzugeben; einer Angabe bedarf auch der Maßstab, nach welchem erlittene Untersuchungshaft auf die erkannte Geldstrafe anzurechnen ist. (2) Die Urteilsgründe müssen die für erwiesen erachteten Tatsachen, in welchen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz bezeichnen, auch die nähere Darlegung enthalten, weshalb diese Tatsachen für erwiesen erachtet worden sind. (3) 1Waren Gegenstand der Verhandlung Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes begründet oder nach besonderer Vorschrift des Gesetzes die Strafbarkeit erhöht hätten, so muss dargelegt werden, warum sie nicht erwiesen sind. 2Waren Gegenstand der Verhandlung Umstände, welche die Anwendung eines milderen Strafgesetzes begründet oder nach besonderer Vorschrift des Gesetzes die Strafbarkeit vermindert oder ausgeschlossen oder die Verfolgbarkeit ausgeschlossen hätten, so muss dargelegt werden, warum ihr Gegenteil erwiesen ist. (4) 1Die Urteilsgründe müssen ferner die Umstände anführen, welche für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. 2Macht das Strafgesetz die Anwendung einer geringeren Strafe von dem Vorhandensein mildernder Umstände abhängig, so müssen die Urteilsgründe die hierüber getroffene Entscheidung und die dafür maßgebend gewesenen Erwägungen ergeben, sofern das Vorhandensein mildernder Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint wird. 3 Ist die Anrechnung der Untersuchungshaft ganz oder teilweise unterblieben, so ist auch dies zu begründen. § 262: Wird der Angeklagte freigesprochen, so muss die Begründung ergeben, ob die Tat nicht erwiesen oder nicht strafbar ist. 42 Entwurf 1919: Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen, Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 14 und bei Schubert/Regge Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, 1. Abt., Bd. 4, 1999, S. 51 ff.; zur Bedeutung und zum Inhalt insgesamt näher mit weit. Nachw. LR-Kühne (Fn. 33), Rn. 30 ff.

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Die knappe Entwurfsbegründung verweist hinsichtlich der Pflicht zur Mitteilung der Beweisgründe auf die Regelung in § 326 der damaligen Militärstrafstrafgerichtsordnung43 und begründet sie allein damit, dass der Verurteilte einen Anspruch darauf habe, zu erfahren, aus welchen Gründen er für überführt erachtet worden sei. Eine nicht unerhebliche Beschränkung dieser verhältnismäßig weit gespannten Begründungspflicht ergab sich allerdings aus dem vom Entwurf vorgeschlagenen § 37. Er sollte folgende Fassung erhalten: § 37: (1) Entscheidungen, die durch ein Rechtsmittel angefochten werden können oder durch die ein Antrag abgelehnt wird, sind zu begründen. (2) 1Urteile sind schriftlich zu begründen. 2Urteile der Amtsgerichte bedürfen, falls die Gründe den Beteiligten mündlich mitgeteilt worden sind, einer schriftlichen Begründung nur, wenn das Urteil angefochten oder wenn vor Eintritt der Rechtskraft die schriftliche Begründung von einem Beteiligten beantragt wird. 3Die Landesjustizverwaltungen können allgemeine Anordnungen treffen, ob und in welchem Umfang in Fällen, in denen es einer schriftlichen Begründung nicht bedarf, der wesentliche Inhalt der Urteilsgründe zu den Akten festzustellen ist. Da der Entwurf die erstinstanzliche Zuständigkeit insgesamt – mit Ausnahme der Schwurgerichte44 – auf die Amtsgerichte übertragen wollte, hätte dies zur Folge gehabt, dass die in § 261 geregelte Begründungspflicht vollen Umfangs nur für die Berufungsurteile gegolten hätte.

5. Entwurf 1930 (EGStGB) 45

Der Entwurf 1930 bezweckte in erster Linie die Anpassung an die beabsichtigte umfassende Reform des materiellen Strafrechts, enthielt aber in beträchtlichem Umfang auch darüber hinausgehende strafverfahrensrechtliche Vorschläge, die das damalige Strafverfahrensrecht erheblich verändert hätten.46 Nach seinen Vorschlägen sollten die Anforderungen an die schrift-

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Wortlaut s. oben, Fn. 36. Sie sollten in strukturell unveränderter Form beibehalten werden mit der sich daraus ergebenden Folge (s. oben bei Fn. 8) einer starken Einschränkung der Begründungspflicht. Allerdings sollte (§ 282) die Rechtsbelehrung durch den Vorsitzenden schriftlich niedergelegt werden, was sie der revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglich gemacht hätte. 45 Entwurf 1930: Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz (Reichstagsvorlage), Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14 und bei Schubert/Regge (Fn. 42), 1. Abt. Bd. 5 S. 603 ff. 46 In den Art. 68 und 70. Näher mwN LR-Kühne (Fn. 33), Rn 41. 44

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lichen Urteilsgründe in nahezu allen ihren Teilen erheblich gesteigert werden. Er schlug als § 267e vor:47 § 267e: (1) 1Die Urteilsgründe müssen die für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz bezeichnen; soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, müssen auch diese Tatsachen angegeben werden. 2Die Urteilsgründe sollen ferner erkennen lassen, welche Gründe für die Bildung der Überzeugung des Gerichts maßgebend waren; die nach § 273 Abs. 1 Satz 3 auf Antrag eines Beteiligten im Protokoll festgestellten Behauptungen sind stets zu würdigen. (2) Werden im Gesetze besonders vorgesehene Umstände, welche die Strafbarkeit schärfen, mildern oder ausschließen, für festgestellt oder einer in der Verhandlung gestellten Behauptung entgegen für nicht festgestellt erachtet, so müssen sich die Urteilsgründe hierüber aussprechen. (3) 1Die Urteilsgründe müssen ferner unter besonderer Berücksichtigung des § 69 des Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches die Umstände anführen, die für die Bemessung der Strafe bestimmend gewesen sind. 2 Wenn nach den Vorschriften des Gesetzes unter gewissen Voraussetzungen die Strafe gemildert werden kann oder muss oder von Strafe abgesehen werden kann, haben sich die Urteilsgründe auch darüber auszusprechen, weshalb die Voraussetzungen als gegeben oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen als nicht gegeben angesehen sind. (4) Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb eine der in § 267 Abs. 2 genannten Maßnahmen angeordnet oder für zulässig erklärt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder für zulässig erklärt worden ist. (5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die als erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet wird. Eine umfassende Beweiswürdigung wird zwar nur als Sollvorschrift vorgeschlagen, aber durch eine Erörterungspflicht auf ausdrücklich protokollierte Behauptungen ergänzt.48 Die Strafzumessungsbegründung wird mit

47 Entwurf, Art. 70 Nr. 145 mit einer vollständigen Neufassung der §§ 264 – 267 StPO; Begründung S. 86 f. 48 Der neu vorgeschlagene § 273 Abs. 1 Satz 3 StPO sollte lauten: „Hält ein Beteiligter, ein Vertreter eines Beteiligten oder ein Verteidiger eine in der Verhandlung behauptete Tatsache für wesentlich, so ist sie auf seinen Antrag in das Protokoll aufzunehmen.“ Im Übrigen verweist die Entwurfsbegründung auf den Entwurf 1919 und Wünsche der Praxis und glaubt, dass die hierbei in Kollegialgerichten auftauchenden Schwierigkeiten überwunden werden könnten.

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der neuen materiell-straf-rechtlichen Regelung gerechtfertigt,49 wobei die Revisibilität unzureichender und widersprüchlicher Erwägungen hervorgehoben wird. Der Verzicht auf die erst 1921 geschaffene Möglichkeit des abgekürzten Urteils wird ausführlich gerechtfertigt.50

6. Entwurf 1939 Der von einer Großen Strafprozesskommission auf der Grundlage eines Vorentwurfs 1936 erarbeitete Entwurf 1939,51 der nicht verabschiedet wurde, erstrebte eine auch in seinem systematischen Aufbau und der sprachlichen Fassung vollständige Neuregelung des Strafverfahrensrechts.52 Den Inhalt der schriftlichen Urteilsbegründung wollte er folgendermaßen bestimmen:53 § 91: Urteilsgründe: (1) 1Die Urteilsgründe machen die tatsächliche und rechtliche Grundlage des Urteils ersichtlich. 2Sie geben an, wie das Gericht die Erklärungen des Angeklagten und die erhobenen Beweise würdigt, welche Tatsachen es demnach für erwiesen oder nicht erwiesen erachtet und welche Gesetze es anwendet. (2) 1Wird der Angeklagte schuldig gesprochen oder gegen ihn eine sichernde Maßregel angeordnet, so heben die Urteilsgründe die Tatsachen hervor, in denen das Gericht die Merkmale der strafbaren Handlung erblickt. 2Sie legen die Strafbemessung im Einzelnen dar und beachten dabei insbesondere die im § 48 des Strafgesetzbuches aufgestellten Grundsätze. (3) Kommt eine sichernde Maßregel oder ein Umstand in Frage, der nach dem Gesetz die Strafe schärft, mildert oder ausschließt, so geben die 49 § 69 des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches enthielt eine ausführliche Regelung über die Grundlagen der Strafzumessung, die mit dem heutigen § 42 StGB vergleichbar ist. 50 Dem vom Entwurf gering veranschlagten Einsparungseffekt stünde als Nachteil der Verlust an Information für Nachtragsentscheidungen gegenüber. Der Zwang zur genaueren Urteilsbegründung stärke die Sorgfalt bei der Entscheidungsfindung und es müsse der Eindruck vermieden werden, dass ein Interesse am Rechtsmittelverzicht bestehe. 51 Entwurf 1939: Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung; Abdruck bei Schubert/Regge (Fn. 42), 3. Abt. Bd. 1, 1991, S. 297 ff; dort auch (S. 3 ff) Abdruck des Entwurfs 1936; in weiteren Bänden auch die Protokolle der (damaligen) amtlichen Strafprozesskommission. Der Entwurf ist seinerzeit nicht veröffentlicht worden. 52 Zu diesem und seiner Bedeutung näher mwN LR-Kühne (Fn. 33), Rn 64 ff. Unbeschadet seiner Ausrichtung an der geistig-weltanschaulichen Vorstellung des Nationalsozialismus baut er vielfach – so auch bei den hier zu behandelnden Vorschlägen – auf der traditionellen Verfahrensstruktur der StPO und den zentralen Prozessmaximen auf. 53 In § 92 schlug der Entwurf eine Sondervorschrift für die Verurteilung auf Grund einer nach damaligem Recht gesetzlich geregelten Wahlfeststellung vor.

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Gründe auch an, warum die Maßregel angeordnet oder nicht angeordnet oder der Umstand angenommen oder nicht angenommen wird. (4) Wird der Angeklagte freigesprochen, weil das Gericht ihn für unschuldig erachtet oder davon überzeugt ist, dass kein begründeter Verdacht gegen ihn besteht, so bringen die Urteilsgründe das zum Ausdruck. Der Vorschlag hat diese Fassung erst in den Beratungen der Großen Strafprozesskommission erhalten.54 In sprachlicher Hinsicht zeichnet er sich dadurch aus, dass er den Inhalt der Gründe in Absatz 1 in einer allgemein gehaltenen Form kennzeichnet. In der Sache verlangt er eine über die damalige (und gegenwärtige) Fassung deutlich hinausgehende Begründung. Eine Beweiswürdigung wird in allen Fällen verbindlich vorgeschrieben; die Begründungspflicht bei strafschärfenden und -mildernden Umständen und bei Strafzumessung sowie bei freisprechenden Urteilen55 wird erweitert und die Möglichkeit des abgekürzten Urteils beseitigt. Die Entwurfsbegründung56 rechtfertigt diese Verschärfung zunächst einmal damit, dass damit auch der gerichtlichen Übung Rechnung getragen werde. Die Verpflichtung zur Beweiswürdigung wird vor allem mit der nach dem Entwurf erweiteten Nachprüfbarkeit durch die Revisionsinstanz gerechtfertigt,57 die erweiterte Strafzumessungsbegründung mit gesteigerten Bedeutung der Strafzumessung, und für den Wegfall des abgekürzten Urteils werden die gleichen Gründe wie beim Entwurf 1930 angeführt.58

54 Der vom Vorentwurf 1936 vorgeschlagene § 88 folgte im Aufbau und im Inhalt noch stärker dem (damals) geltenden Recht; eine Beweiswürdigung war nur als Sollvorschrift vorgesehen. Eine Annäherung an die schließlich verabschiedete Fassung findet sich zuerst in den Sachbearbeitervorschlägen für die erste Lesung der Kommission sowie in dem danach erstellten Entwurf 1937 in § 80; Text bei Schubert/Regge (Fn. 42) Bd. 1 S. 116. Die in der zweiten Lesung beschlossene kürzere Fassung beruht weitgehend auf den Vorschlägen von Niethammer. 55 Dem liegt das Motiv mit zugrunde, deutlich zu machen, dass die dort genannte Form des Freispruchs die Ehre des Beschuldigten wiederherstelle. 56 Entwurfsbegründung S. 56 f. Wiedergabe der Beratungen der Großen Strafprozesskommission und der dabei gestellten Anträge bei Schubert/Regge (Fn. 42), Bd. 2. 1 S. 259 ff., 593, 725; Bd. 2.3 S. 60 ff,, 634, 667. 57 Der Entwurf wollte (in § 331) das von ihm als „Urteilsrüge“ bezeichnete, aber der Revision vergleichbare Rechtsmittel dahingehend erweitern, dass auch geprüft werden könne, ob schwere Bedenken gegen die Richtigkeit tatsächlicher Feststellungen bestünden oder die Ausübung richterlichen Ermessens bei der Strafzumessung ungerecht erscheine. S. im Einzelnen, auch zur Entstehungsgeschichte des Vorschlags, Fezer Reform der Rechtsmittel in Strafsachen, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz (Reihe recht), 1974, S. 42 ff. 58 S. oben Fn. 50.

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7. Entwurf 1975 (DE-Rechtsmittelgesetz) Seit der Wiederherstellung der Rechtseinheit im Jahre 195059 sind in der Bundesrepublik umfassendere amtliche Gesetzentwürfe nicht mehr aufgestellt worden.60 Eine weitgehende Neufassung des § 267 StPO enthält jedoch der DE-Rechtsmittelgesetz von 1975,61 der nach einer intensiven rechtspolitischen Diskussion nicht weiterverfolgt worden ist.62 Von seiner Zielsetzung her bestimmt er die Neuregelung in erster Linie von den Bedürfnissen der von ihm vorgeschlagenen Rechtsmittelreform,63 geht hierüber aber insoweit hinaus, als er die Regelung klarer fassen und dabei weitere Mängel beseitigen will, ohne den damaligen Gesetzeszustand insgesamt kritisch zu hinterfragen. Folgende Neufassung wird vorgeschlagen: § 267: (1) 1Wird der Angeklagte verurteilt, so enthält die Urteilsbegründung die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. 2Auf Schriftstücke und Abbildungen kann hierbei hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen werden, sofern sie sich bei den Akten befinden. (2) Die Begründung gibt die Erwägungen an, die für die Auswahl und Zumessung der Rechtsfolgen bestimmend gewesen sind und bezeichnet die hierbei zugrunde gelegten Tatsachen. (3) Die Begründung gibt an, welche Gründe für die Feststellung der in Absatz 1 und 2 bezeichneten Tatsachen maßgebend gewesen sind. (4) Die Begründung bezeichnet die angewendeten Vorschriften; hierbei kann auf die Angaben nach § 260 Abs. 5 Bezug genommen werden. § 267a: (1) Wird der Angeklagte freigesprochen oder wird das Verfahren eingestellt, so gibt die Urteilsbegründung an, welche Gründe hierfür maßgebend waren. 59

Durch das VereinhG, s. Fn. 12. S. dazu näher, auch zu den dahingehenden Absichten, Rieß ZIS Heft 10/2009, 466 ff., 469 ff. 61 Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz), im Auftrage der Konferenz der Justizminister und -senatoren vorgelegt, Dezember 1975. Der Entwurf ist von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Strafprozessreferenten des Bundesministeriums und der Landesjustizverwaltungen von 1972 bis Ende 1974 erarbeitet und als Diskussionsentwurf von der Konferenz gebilligt worden; s. näher Entwurfsbegründung, S. 25 f. 62 Ziel des Entwurfs war die Einführung eines einheitlichen revisionsartigen Rechtsmittels mit erweitertem Prüfungsumfang; s. näher mit weit. Nachw. LR-Hanack (Fn. 1), Vor § 333 Rn. 17 f.; Rieß DRiZ 1976, 3 ff. Der Entwurf ist nach verbreiteter Kritik, namentlich auf dem 52. DJT (1978) gescheitert; s. dazu etwa Rieß ZRP 1979, 193 ff. Eine Erweiterung der Begründungspflicht hat dagegen trotz seines negativen Votums zum Entwurf insgesamt der 52. DJT (Beschluss B 7) gefordert. 63 Dazu kritisch etwa Krauth FS Dreher, S. 697 ff., 712 f. 60

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(2) Ist der Angeklagte nicht überführt, so gibt die Begründung an, welche Feststellungen getroffen sind; § 267 Abs. 3 gilt entsprechend. (3) Hält das Gericht eine Tat für erwiesen, aber nicht für strafbar, so ist § 267 Abs. 1 und 3 sinngemäß anzuwenden. § 267b: (1) 1Wird kein Rechtsmittel eingelegt und ist der Angeklagte verurteilt, so bedarf es der in § 267 Abs. 3 verlangten Angaben nicht; die Mitteilung der für die Auswahl und Zumessung der Rechtsfolgen bestimmenden Erwägungen (§ 267 Abs. 2) kann auf die hauptsächlichen, insbesondere die für die Vollstreckung und spätere Entscheidungen erforderlichen beschränkt werden. 2Wird der Angeklagte freigesprochen, so braucht nur angegeben zu werden, ob die ihm zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. (2) Die Begründung kann innerhalb der in § 273 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung zur Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Der wesentliche Unterschied liegt in dem Erfordernis einer umfassenden Beweiswürdigung, die die Entwurfsbegründung64 als notwendige Konsequenz des mit der Revision vergleichbaren vorgeschlagenen neuen Einheitsrechtsmittels der „Urteilsrüge“ versteht, in einer einheitlichen und zusammenfassenden Regelung der für die Sanktionsbemessung erforderlichen Angaben, sowie einer die Anforderungen erhöhenden Neuregelung für das freisprechende und (erstmals) einstellende Urteil. Das abgekürzte Urteil wird unter Neubestimmung des Inhalts beibehalten.65 Die erstmals vorgeschlagene Bezugnahmemöglichkeit bei den Feststellungen ist teilweise 1979 vom Gesetzgeber übernommen worden.66

64

Entwurf, S. 51 ff. Was (Entwurf S. 53) mit dem Interesse an „einer Rationalisierung der Strafrechtspflege“ gerechtfertigt wird, womit Einspareffekte gemeint sein dürften. Eine Auseinandersetzung mit der abweichenden Auffassung in den Entwürfen 1930 und 1939 findet nicht statt. 66 S. oben bei Fn. 19. Hiervon abgesehen sind in der seitherigen Reformdebatte von der vorgeschlagenen Neufassung nennenswerte Impulse nicht ausgegangen, was mit dem Scheitern des gesamten Entwurfs zusammenhängen dürfte. Dabei bleibt allerdings unberücksichtigt, dass die von ihm vorgesehenen Revisionserweiterungen nach inzwischen gesicherter Auffassung weitgehend bereits der gegenwärtigen Revisionspraxis entsprechen. 65

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IV. Einige Überlegungen zur Reform des § 267 StPO 1. Erforderlichkeit und Grundlagen Die vorstehende Darstellung macht zweierlei deutlich: Einmal ist § 267 in der nunmehr 130jährigen Entwicklungsgeschichte der StPO vorwiegend punktuell und aus Augenblicksbedürfnissen heraus geändert worden; die Regelung ist dadurch unübersichtlich geworden und trägt den veränderten Anforderungen an den Inhalt der schriftlichen Urteilsgründe nur unzureichend Rechnung. Dieser wird durch sie nicht mehr vollständig und zutreffend bestimmt. Andererseits hat die Reformgeschichte diesen Zustand stets – wenn auch weitgehend ohne Erfolg – als unzureichend empfunden und namentlich im Bereich der Beweiswürdigung sowie teilweise beim Aufbau wesentliche Veränderungen angestrebt, die vielfach noch heute die Basis für eine Reform darstellen können. Dass bei einer tiefgreifenden Reform des deutschen Strafverfahrens auch § 267 einer Neufassung bedarf, lässt sich schwerlich bezweifeln. Nun ist eine solche Gesamtreform des deutschen Strafverfahrens, deren Wünschbarkeit hier offen bleiben mag, in absehbarer Zeit realistischer Weise nicht zu erwarten und an der Dringlichkeit einer isolierten Reform der Regelung über die schriftlichen Urteilsgründe mag man zweifeln. Denn in der Rechtswirklichkeit sind die Mängel im Gesetzeswortlaut nicht von erheblicher Bedeutung. Die Gesetzeslücken in den insoweit defizitären Bereichen wirken sich kaum aus, weil tatrichterliche Urteile, vor allem in Erfüllung der revisionsrechtlichen Anforderungen, ausführlicher begründet zu werden pflegen. Es ist eher eine Frage der „Gesetzeshygiene“, dem auch im Gesetzeswortlaut Rechnung zu tragen und dabei auch sonstige Brüche und Unklarheiten kritisch zu hinterfragen und erforderlichenfalls zu korrigieren. Die nachfolgenden Überlegungen sollen hierzu beitragen. Einen ausformulierten Gesetzentwurf enthalten sie nicht. Insoweit stellen Vorschläge die im DE-Rechtsmittelgesetz eine in Konzeption und gesetzestechnischem Aufbau brauchbare Grundlage dar, die allerdings eine Überprüfung anhand der seitherigen Entwicklung erforderlich macht.67 Der Inhalt einer Regelung über die schriftlichen Urteilsgründe muss ihren (verschiedenen) Funktionen entsprechen, über die inhaltlich weitgehend

67 Der Entwurf 1939, der in diesem Punkt kaum nationalsozialistisches Gedankengut enthalten dürfte, hat in seinem § 91 Abs. 1 den Versuch unternommen, den Urteilsinhalt in einer Art umfassender Generalklausel zu umschreiben, die als allgemeine Leitlinie zu interpretieren sein könnte. Das erscheint auch für eine künftige Neuregelung erwägenswert, wenn auch nicht zwingend. Es macht freilich konkretere Einzelregelungen nicht entbehrlich.

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Einigkeit besteht.68 Ihre Aufgabe lässt sich (etwas vergröbernd) folgendermaßen zusammenfassen: −

Als Umgrenzungs- oder Definitionsfunktion haben sie denjenigen Sachverhalt zu beschreiben, der Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens war und von dem das Gericht, wenn es zu einer Verurteilung kommt, ausgeht, und der Grundlage für die materiell-rechtliche Subsumtion darstellt69 sowie den Umfang des Strafklageverbrauchs zu bestimmen in der Lage ist. Dies wird, soweit es um den Schuldspruch geht, seit jeher in ausreichender Form mit der Formel von den „Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“ umschrieben kommt aber den die Sanktionsbemessung tragenden Tatsachen nicht sonderlich klar zum Ausdruck.



Sie haben zweitens eine Rechtfertigungs- oder Begründungsfunktion, indem sie darlegen, warum das Gericht diese tatsächlichen Feststellungen getroffen hat oder (im Falle der Nichtverurteilung) nicht treffen konnte und welche Bewertungen hierfür maßgebend waren, etwas, was die gegenwärtige Gesetzesfassung in unterschiedlichen Zusammenhängen und nur teilweise verlangt.



Diese Aufgabe ist ferner die Grundlage für eine Kontrollfunktion. Die Urteilsgründe sollen einerseits die Prozessbeteiligten, insbesondere den Angeklagten (und den Nebenkläger), davon unterrichten, warum das Gericht von den Feststellungen überzeugt war, eröffnen aber andererseits dem Revisionsgericht die Prüfung, ob der Tatrichter zu Recht überzeugt sein durfte. Mittelbar geht davon auch bereits bei der Beratung und Überzeugungsbildung eine gewisse Eigenkontrolle aus.70



Schließlich haben die Urteilsgründe eine Informationsfunktion dahingehend, dass sie die für Vollstreckung und Vollzug sowie für spätere Verfahren oder an eine Verurteilung anknüpfende Maßnahmen erforderlichen Erkenntnisse zur Verfügung stellen.

68 S. dazu mwN etwa LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 1, 5 ff; SK-StPO-Schlüchter/Frister, 34. Lief., 2003, § 267 Rn. 2 ff. 69 Was erfordert, dass aus den Urteilsgründen auch die angewendeten Strafvorschriften erkennbar sein müssen. 70 S. dazu etwa LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 5; SK-StPO-Schlüchter/Frister (Fn. 68), Rn. 2; ein Gedanke, der bereits im Entwurf 1895 eine Rolle spielte, s. oben bei Fn. 30. Daraus erwächst freilich auch die Gefahr einer „Glättung“ des Beratungsergebnisses bei der späteren schriftlichen Urteilsbegründung.

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2. Einzelfragen Aus diesen Funktionen lassen sich die inhaltlichen Anforderungen an die schriftlichen Urteilsgründe, die der Gesetzeswortlaut zum Ausdruck bringen sollte, im wesentlichen und in groben Zügen ableiten; in manchen Einzelpunkten besteht weiterer Diskussionsbedarf.

a) Tatsachenangaben (Feststellungen) Jedes einen Schuldspruch enthaltende oder eine Maßregel anordnende Strafurteil beruht auf der Feststellung eines Lebenssachverhalts, also auf Tatsachen, die das Gericht für erwiesen hält. Sie sind, was das geltende Recht in § 267 Abs. 1 Satz 1 hinreichend genau bestimmt, die Grundlage für den Schuldspruch. Da nach heutigem Rechtsverständnis auch die Sanktionsbemessung Rechtsanwendung ist, sind auch für diese für erwiesen gehaltene Tatsachen eine unverzichtbare Grundlage. Schließlich sind auch bei einer Nichtverurteilung (Freispruch oder Einstellung) jedenfalls dann Tatsachenfeststellungen erforderlich, wenn sie diese auf Rechtsgründen beruht; beruht sie auf mangelndem Nachweis der erforderlichen Tatsachen, so erfordert es mindestens die Kontrollfunktion, mitzuteilen, welche Tatsachen für erwiesen gehalten worden sind und bei welchem der Nachweis gescheitert ist. Das alles ist in der Rechtspraxis unzweifelhaft und wird von ihr umgesetzt; es sollte aber auch im Gesetzeswortlaut deutlicher zum Ausdruck kommen. In diesem ist daher auch zu bestimmen, dass die Tatsachen anzugeben sind, die der Sanktionsbemessung zu Grunde gelegt worden sind und die bei einer Nichtverurteilung getroffen werden konnten.71

b) Beweiswürdigung und Bewertungen Es ist heute unzweifelhaft, dass jedenfalls das mit der Revision anfechtbare Urteil eine das Beweisergebnis darstellende Begründung der Feststellungen enthalten muss.72 Ein neuer Gesetzeswortlaut sollte dies eindeutig zum Ausdruck bringen. In den Reformentwürfen finden sich hierfür sprachlich unterschiedliche, aber sachlich übereinstimmende Formulierungen.73 Aller71 Insoweit enthält der DE-Rechtsmittelgesetz in § 267 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 zweiter Satzteil und § 267a Abs. 1 einen Vorschlag, der diesen Anforderungen Rechnung trägt. 72 S. die Nachw. oben in Fn. 3. 73 Etwa: „Gründe, welche für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind“ (Entwurf 1895 und Entwurf 1930); „Nähere Darlegung, weshalb die Tatsachen erwiesen sind“ (Entwurf 1919, § 261 Abs. 2); Angabe „wie das Gericht die Erklärungen des Angeklagten und die erhobenen Beweise würdigt“ (Entwurf 1939 § 91 Abs. 1 Satz 2); Angabe, „welche Gründe für die Feststellung … maßgebend gewesen sind“ (DE-Rechtsmittelgesetz, § 267 Abs. 3).

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dings wird man auch über eine solche eher allgemein gehaltene Formulierung nicht hinausgehen können; die sehr fallspezifischen und differenzierten Anforderungen der Revisionsrechtsprechung an die Beweiswürdigung im Einzelnen, etwa was die Auseinandersetzung mit sich aufdrängenden Umständen oder die Notwendigkeit einer Gesamtwürdigung angeht, kann der Gesetzgeber nicht näher regeln. Neben der zu begründenden Tatsachenfeststellung und ihrer Subsumtion unter die materiell-strafrechtlichen Vorschriften hat der Tatrichter, namentlich bei der Sanktionsbemessung, aber auch bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Übrigen, auch Wertungen vorzunehmen. Sie können vor allem für die Kontroll- und die Informationsfunktion der Urteilsgründe von Bedeutung sein und sind demzufolge in ihnen regelmäßig anzusprechen. Die gegenwärtige Fassung bezeichnet dies als die für die Strafzumessung „bestimmenden Umstände“, wobei (in problematischer Weise) mangels einer ausdrücklichen Regelung die Strafzumessungstatsachen mit einbezogen werden. Die Neufassung sollte dies trennen und die Notwendigkeit der Angabe solcher Erwägungen verallgemeinern.74 Bei einer solchen umfassenden Statuierung einer Feststellungs-, Begründungsund Erwägungspflicht wird auch geprüft werden können, ob auf die kasuistisch zersplitterten Regelungen in § 267 Abs. 3 Satz 2 bis 4 und Absatz 6 sowie auf Absatz 2 verzichtet werden kann, was zu einem wesentlich einfacheren und klareren Wortlaut führen würde.75

c) Mitteilung der angewendeten Vorschriften und weitere Rechtsausführungen Über Pflicht zur Mitteilung die Miteilung der angewendeten Vorschriften hinaus, auf die schwerlich verzichtet werden kann,76 enthält eine ausdrückliche Verpflichtung zur Erörterung von Rechtsfragen weder die (seit jeher) geltende Fassung, noch ist sie in den Entwürfen gefordert worden. Sie dürfte auch weiterhin entbehrlich sein. Denn in kritischen Fällen muss der Tatrichter schon auf Grund seiner (neu zu formulierenden) Begründungspflicht erkennen lassen, von welchen rechtlichen Grundlagen und Rechtsmeinungen er ausgeht. Eine zusätzliche und ausdrückliche generelle gesetzliche Verpflichtung, seine rechtlichen Erwägungen mitzuteilen, könnte als Anreiz

74

So auch im Ansatz der DE-Rechtsmittelgesetz in § 267 Abs. 2. So die Begründung des DE-Rechtsmittelgesetz, S. 51 r. Sp., 52 l. Sp.; ähnlich vereinfachend auch § 91 Abs. 3 Entwurf 1939. Das bedarf noch einer vertieften Prüfung in Hinblick auf die damit verbundenen möglichen Implikationen. 76 Eine Bezugnahme auf § 260 Abs. 5 StPO, wie vom Entwurf DE-Rechtsmittelgesetz vorgeschlagen, erscheint nicht empfehlenswert. 75

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missverstanden werden, die Urteilsgründe mit theoretisierenden oder abstrakten Rechtsausführungen zu befrachten.

d) Verfahrensgeschichte, Verständigung Es gehört, was der BGH wiederholt hervorgehoben hat, grundsätzlich nicht zu den Aufgaben der Urteilsgründe, sich zum Verfahren zu äußern.77 Ausnahmen können in Betracht kommen, soweit die Mitteilung besonderer Verfahrensereignisse zur Begründung der Entscheidung unerlässlich ist.78 Damit in Widerspruch steht die vor kurzem anlässlich der gesetzlichen Regelung der Vereinbarung im Strafverfahren geschaffene Bestimmung, nach der in den Urteilsgründen anzugeben ist, ob dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist (§ 267 Abs. 3 Satz 5, Abs. 4 Satz 2 StPO). Eine sachliche Rechtfertigung hierfür nicht recht ersichtlich. Aus den Funktionen der Urteilsgründe ergibt sie sich jedenfalls kaum; die Gesetzesbegründung überzeugt nicht.79 Ob die Revisionsrechtsprechung der Regelung einen sinnvollen Anwendungsbereich zuzuweisen in der Lage ist, bleibt abzuwarten. Bei einer umfassenden Neufassung der Materie sollte ihre Beibehaltung kritisch überprüft werden.

e) Abgekürzte Urteile und Bezugnahmemöglichkeiten Ob und in welchem Umfang bei rechtskräftig werdenden Urteilen die Urteilsgründe in abgekürzter Form abgefasst werden können, ist sowohl in der Entwicklungsgeschichte als auch in den verschiedenen Entwürfen unterschiedlich beantwortet worden. Dafür lassen sich lediglich Gründe der Aufwandsverringerung ins Feld führen. Angesichts der in der jüngeren rechtspraktischen Entwicklung ganz erheblich gesteigerten Anforderungen an den Urteilsinhalt, namentlich was die vorwiegend aus revisionsrechtlichen Gründen beruhenden Beweiswürdigung betrifft, dürfte hierauf allerdings gegenwärtig kaum gänzlich verzichtet werden können. Umso sorgfältiger sollte allerdings der Umfang der Abkürzung bedacht werden. Sachlich rechtfertigen lässt sie sich nur insoweit, als die Kontrollfunktion der Urteilsgründe betroffen ist; zu erwägen bleibt, ob die gegenwärtige „Ermes77 So zuletzt mwN BGH NJW 2009, 2610 Rn. 10; im Schrifttum etwa LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 3; Meyer-Goßner (Fn. 3), § 267 Rn. 1. 78 S. dazu etwa die Beispiele bei Schaper in: NJW-Festheft für Tepperwien, 2010, S. 61 f. 79 Der Gesetzentwurf (BT-Drucks. 16/12310, S. 15) beschränkt sich auf den Hinweis, dass dadurch für die Urteilsgründe „Transparenz“ hergestellt werden solle, ohne sich dazu zu äußern, welchem prozessualen Zweck dies dienen solle, was auch BGH StV 2010, 227 nicht deutlich macht. Nach Kölbel/Selter JR 2009, 447 ff. soll damit eine Warnung für Folgeverfahren erreicht werden, die sich freilich auch aus der Protokollierungspflicht ergeben würde.

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sensklausel“ in § 267 Abs. 4 Satz 3 durch konkrete Hinweise angereichert werden sollte.80 Ebenfalls weiterer Diskussion bedarf die Frage, ob und in welchem Umfang in den schriftlichen Urteilsgründen Verweisungen und Bezugnahmen gestattet werden sollen. Unproblematisch sind sie in keinem Fall, weil sie die Verständlichkeit der Urteilsgründe beeinträchtigen und den Urteilsverfasser zu Nachlässigkeiten bei der exakten Beschreibung des festgestellten Sachtverhalts verlocken können. Ihr Nutzen liegt in den Fällen des abgekürzten Urteils (§ 267 Abs. 4 Satz 1, zweiter Satzteil) ausschließlich in einer Verminderung des Schreibaufwandes; es spricht viel dafür, hierauf gänzlich zu verzichten. Für die auch im normalen Urteil in beschränktem Umfang und nur wegen der Einzelheiten zulässigen Bezugnahme auf Abbildungen (§ 267 Abs. 1 Satz 3) gibt es wegen ihres besonderen Charakters eine sachliche Berechtigung dahingehend, dass sie die Prüfungsgrundlagen des Revisionsgerichts erweitert,81 was für Beibehaltung auch bei einer Neufassung sprechen könnte. Für eine Erweiterung auf Urkunden dürfte dagegen wenig Anlass bestehen.82

V. Schlussbemerkungen Der den Inhalt der schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters bestimmende § 267 StPO steht trotz seiner Mängel nicht im Vordergrund der gegenwärtigen rechtspolitischen Diskussion. Die Revisionsrechtsprechung, die von der tatrichterlichen Praxis umgesetzt wird, hat über den Wortlaut hinaus zusätzliche Anforderungen entwickelt, so dass in der Rechtswirklichkeit die Regelung „funktioniert“.

80 Als Anhaltspunkt hierfür erscheint der Vorschlag in § 267b DE-Rechtsmittelgesetz prüfenswert. 81 S. dazu (auch zur Problematik) LR-Gollwitzer (Fn. 3), § 267 Rn. 21 ff.; LR-Hanack (Fn. 1), § 337, Rn. 106 ff., 137; KK-Engelhardt (Fn. 3), § 267 Rn. 6; KK-Kuckein (Fn. 3), § 337 Rn. 27; Meyer-Goßner (Fn. 3), § 337 Rn. 22; SK-StPO-Frisch, § 337 Rn. 123; zu den damit verbundenen Tendenzen des Gesetzgebers s. BT-Drucks. 8/976 , S. 55. 82 Dahingehend der DE-Rechtsmittelgesetz; kritisch der RegE StVÄG 1979, BT-Drucks. 8/976, S. 55; s. auch oben Fn. 20.

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Dass die Vorschrift, deren dogmatische Grundlagen noch aus der Entstehungszeit der StPO stammen und heute teilweise überholt sind, eine Beweiswürdigung nicht verlangt, den Inhalt des Einstellungsurteils nicht regelt und durch die Gesetzesentwicklung unübersichtlich geworden ist, ist dennoch ein deutliches Defizit. Es legt Überlegungen für eine sachgerechtere Neufassung nahe. Hierfür bietet die Reformgeschichte ein reichhaltiges Material. Eine taugliche Grundlage findet sich namentlich in den Vorschlägen des DE-Rechtsmittelgesetzes von 1975.

Schadensfiktionen in der Rechtsprechung der Strafgerichte THOMAS RÖNNAU

I. Einführung Die sachgerechte Ausmessung des Begriffs „Vermögensschaden“ bzw. -„nachteil“ gehört sicherlich zu den schwierigsten Problemen, die im Bereich der Vermögensdelikte i. e. S.1 zu lösen sind. Auf diesem Tatbestandsmerkmal, das sich zur Beschreibung des Erfolgsunwerts in den Tatbeständen der Untreue (§ 266 StGB), des Missbrauchs von Scheck- und Kreditkarten (§ 266b StGB), des (Computer-)Betrugs (§§ 263, 263a StGB) und der Erpressung (§ 253 StGB) findet, ruht angesichts einer „unübersehbare(n) und in ständiger Wandlung begriffenen Vielfalt ökonomischer Prozesse“2 eine ungeheure Selektionslast. Denn letztlich entscheidet seine Definition über die Reichweite des strafrechtlichen Vermögensschutzes. Es verwundert daher nicht, dass in der Diskussion zu dieser Frage, die wegen bestehender Wechselbeziehungen nur mit Blick auf den - ebenfalls umstrittenen - Vermögensbegriff3 beantwortet werden kann,4 weiterhin große Unklarheit herrscht. Ein nicht nur in der (Justiz-)Praxis verbreitetes Strafbedürfnis5 in Bezug auf viele Fallkonstellationen stößt hier auf die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlich und einfach-dogmatisch überzeugenden Eingrenzung. Unter Schadensgesichtspunkten stand im Fokus der Kritik zuletzt vor allem die Rechtsprechung zum Untreuetatbestand. Die Bewertung der Einrichtung schwarzer Kassen als „Vollschaden“ in der 1 Zur Abgrenzung gegenüber den Vermögensdelikten i. w. S. vgl. Wessels/Hillenkamp, StrafR BT 2, 32. Aufl. 2009, Rn. 1 ff. 2 Schünemann, StraFo 2010, 1, 3, der dort auch den Schadensbegriff als „Schlüsselfrage des Untreuetatbestandes in der entwickelten Industriegesellschaft“ apostrophiert. 3 Den Streitstand skizzieren pars pro toto Schönke/Schröder-Cramer/Perron, 28. Aufl. 2010, § 263 Rn. 78b ff. 4 Zum Korrespondenzverhältnis der Vermögens- und Schadenslehren siehe statt vieler LKTiedemann, 11. Aufl. 2000, § 263 Rn. 126; SK-StGB-Samson/Günther, 37. Lfg., 5. Aufl. (Juni 1996), § 263 Rn. 111; Gallas, in: FS Eb. Schmidt, 1971, S. 401. 5 Man denke in jüngerer Zeit nur an die stark medial begleiteten Fälle „Siemens“ (dazu BGHSt 52, 323) und „Hoyzer“ (dazu BGHSt 51, 165).

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Causa „Siemens“6 wird dabei ebenso beanstandet wie die „Heraufstufung“ abstrakter Vermögensgefahren zu konkreten Gefährdungsschäden (z.B. bei der unordentlichen Buchführung7 oder im [Betrugs-]Fall „Al-Qaida“)8 oder die Nachteilsbegründung in Kick-Back-Situationen.9 Starken Vorwürfen ausgesetzt sind aber auch Schadenskonstruktionen, wie sie der BGH etwa zum Sportwettenbetrug10 („Quotenschaden“), zum Submissionsbetrug11 („hypothetischer Marktpreis“) oder zum Abrechnungsbetrug12 („sozialversicherungsrechtlich-akzessorische Lösung“) präsentiert hat. Hintergrund und Auslöser berechtigter Kritik13 in diesem Zusammenhang ist eine mehr oder weniger deutlich herausgestellte „(Ver-) Normativierung des Schadensbegriffs“14 dergestalt, dass die wirtschaftliche Betrachtung und Bewertung als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt der Schadensfeststellung weitgehend aus dem Blick gerät und durch mitunter diffuse rechtliche Erwägungen korrigiert, nicht selten ersetzt wird.15 Hier bleibt vieles im Dunkeln: Es fehlt bisher an einer griffigen Systematik sowie an belastbaren Kriterien, die die Schadensbegründung im Einzelfall vorhersehbar macht und den Bereich der

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BGHSt 52, 323; krit. Bespr. von Rönnau, StV 2009, 246 ff. m. w. N. BGHSt 47, 8, 11; BGH, Urt. v. 27. 8. 2010 – 2 StR 111/09, Rn. 32; w. Nachw. und Kritik bei Satzger/Schmitt/Widmaier-Saliger, 2009, § 266 Rn. 73. 8 BGHSt 54, 69; ablehnend Joecks, wistra 2010, 179 ff., und Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 475 ff. m. w. N. 9 Vgl. BGHSt 49, 317, 332 ff. - „System Schreiber“; 50, 299, 314 ff. - „Kölner Müll“; BGH NJW 2006, 2864 - „Wuppertaler Korruptionsskandal“; krit. z. B. Beulke, in: FS Eisenberg, 2009, S. 245, 260 f. m. w. N. 10 BGHSt 51, 165 - „Hoyzer“; ausführliche Kritik von Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 365 ff. m. w. N. 11 Leitentscheidung in BGHSt 38, 186 - „Rheinausbau I“; bestätigt in BGH wistra 1994, 346; Kritik und w. Nachw. bei Rönnau, JuS 2002, 545, 547 ff. 12 BGH NStZ 1993, 388; 1995, 85; NJW 2003, 1198; OLG Koblenz MedR 2001, 144; krit. Analyse von Volk, NJW, 2000, 3385 ff. und Stein, MedR 2001, 124 ff. - jew. m. w. N. 13 Explizit zu den Fragen in jüngerer Zeit etwa Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455 ff.; unter dem Titel „Gefühlte Schäden?“ auch Joecks, in: FS Samson, 2010, S. 355 ff. 14 Dass jede Schadensbestimmung durch die Notwendigkeit von Selektion und Bewertung der betroffenen Vermögenspositionen „selbstverständlich normativ“ ist, stellen Arzt (in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, StrafR BT, 2. Aufl. 2009, § 20 Rn. 88) und Fischer (StV 2010, 95, 100 f.) für viele zu Recht fest. Die Rechtsprechung scheint hier aber mittlerweile in bestimmten - nachfolgend exemplarisch behandelten - Konstellationen eine neue Dimension erreicht zu haben. 15 Diese Kritik traf schon die Rechtsprechung zu den Lösegeld-/ Rückverkaufsfällen in Erpressungssituationen (vgl. BGHSt 26, 346; a. A. zuvor OLG Hamburg, MDR 1974, 330). Die Modifizierung des Schadensbegriffs unter den Aspekten des individuellen Schadenseinschlags oder der Zweckverfehlung segelt zum Teil ebenfalls unter der Flagge einer Normativierung (s. nur Fischer, StV 2010, 95, 100 und Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 456), bleibt vorliegend aber ausgeklammert. 7

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vom jeweiligen Straftatbestand erfassten Schäden in angemessenen Grenzen hält. Die Komplexität der Materie mahnt in der Bearbeitung zur Bescheidenheit. Nachfolgend geht es daher allein darum zu untersuchen, ob es sich bei einigen der bereits angesprochenen Schadensbegründungen der Rechtsprechung noch um eine zulässige oder schon um eine unzulässige Normativierung (bzw. Schadensfiktion) handelt. Dazu wird in einem ersten Schritt kurz der dogmatische Ausgangspunkt des Schadens- und Vermögensbegriffs vorgestellt (II.), um daraufhin die Praxis der Normativierung exemplarisch anhand von fünf Fallgruppen zu skizzieren (III.). Es folgt anschließend im Schwerpunkt des Beitrages eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Schadensbestimmung (IV.), die jedenfalls in Gestalt bestimmter Fiktionalisierungen verfassungswidrig ist. Auszuwerten ist dabei auch der Beschluss des BVerfG v. 23. Juni 2010, der für den Rechtsanwender bei der Auslegung des Untreuetatbestandes (insbesondere des Schadensmerkmals) einige verfassungsrechtlich gebotene Korsettstangen eingezogen hat.16 Gewidmet ist der Beitrag Frau Kollegin Rissing-van Saan, die in ihrer 22-jährigen Tätigkeit als (Vorsitzende) Richterin am BGH und als Wissenschaftlerin im Straf- und Strafprozessrecht durch wegweisende Entscheidungen und klare Stellungnahmen ihre Spuren hinterlassen hat.

II. Ausgangspunkt: Wirtschaftlicher (objektiver) Schadensbegriff auf der Basis eines wirtschaftlichen Vermögensbegriffs Im Ausgangspunkt ist sich die Rechtsprechung mit der herrschenden Lehre einig: Der Schaden/Nachteil17 muss nach wirtschaftlichen (objektiven) Gesichtspunkten bestimmt und - wenn möglich - in Geld quantifiziert werden.18 Aus dieser Festlegung folgt, dass der Verlust einer Vermögensposition grundsätzlich nur dann zu einem Vermögensschaden führt, wenn er nicht zugleich durch den Zugang einer wirtschaftlich gleichwertigen Position kompensiert wird. Der Vermögensschaden ergibt sich dann durch einen Vergleich der Vermögensstände vor und nach der jeweiligen Täterhandlung 16

BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 zu den verbundenen Verfahren über Verfassungsbeschwerden mit den Az. 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09 und 2 BvR 491/09, ZIP 2010, 1596. 17 Nach stg. Rspr. und h. L. entspricht der Begriff des Vermögensschadens beim Betrug - jedenfalls im Kern - dem des Vermögensnachteils bei der Untreue oder der Erpressung (statt vieler BVerfG NJW 2009, 2370, 2371 und Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 266 Rn. 17; § 253 Rn. 4 - jew. m. w. N.); zu Abweichungen aufgrund struktureller Besonderheiten des Untreuetatbestandes s. SSW-Saliger, § 266 Rn. 53. 18 Näher LK-Tiedemann, § 263 Rn. 158 m. w. N.

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(bzw. der dem Täter zuzurechnenden Opferverfügung). Maßgeblicher Vergleichszeitpunkt ist dabei die unmittelbar aus der Vermögensverfügung bzw. der Pflichtverletzung resultierende Vermögenslage, nicht deren spätere Entwicklung.19 Die in diesen Aussagen enthaltenen Prinzipien der „Gesamtsaldierung“ und der „Schadenskompensation“ sind heute anerkannt. Sie geben den Vermögensdelikten i. e. S. eine bestimmte Schutzrichtung: Maßgeblich für die Rechtsgutsverletzung ist die Verminderung des wirtschaftlichen Wertes des Gesamtvermögens; auf die durch den Täterangriff veränderte Zusammensetzung des Vermögens und die beeinträchtigte Dispositionsfreiheit im Umgang mit einzelnen Vermögensstücken kommt es - anders als bei den Eigentumsdelikten - daher grundsätzlich nicht an. Basis dieser Leitsätze, die für die dogmatische Behandlung des Vermögensschadens immerhin eine grobe Orientierung bieten,20 ist der wirtschaftliche bzw. wirtschaftlich-juristische Vermögensbegriff. Nachdem sich der BGH anfänglich für einen rein wirtschaftlichen Vermögensbegriff ausgesprochen hatte, wird man ihn heute (wohl) den Anhängern der in unterschiedlichen Spielarten vertretenen wirtschaftlich-juristischen Vermögenslehre zuordnen können.21 Charakteristisch für den rein wirtschaftlichen Vermögensbegriff ist eine dezidiert wirtschaftlich-faktische Betrachtungsweise.22 Danach gehören zum „Vermögen“ alle ökonomisch werthaften (geldwerten) Güter und Positionen unabhängig von ihrer rechtlichen Anerkennung. Das Gegenstück dazu stellt der heute (fast) nicht mehr vertretene juristische Vermögensbegriff dar. Dieser an dem Primat der Lehre vom subjektiven Recht anknüpfende (und damit streng akzessorische) Ansatz zählt bekanntlich nur, aber auch alle - selbst wertlose - subjektiven Vermögensrechte zum Vermögen.23 Insbesondere wegen auftretender unauflösbarer Spannungen einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise mit der Gesamtrechtsordnung dominiert heute eine zwischen den Extremen einer juristischen und wirtschaftlichen Lösung vermittelnde wirtschaftlichjuristische Vermögenslehre,24 die auf der Grundlage eines (weiten) wirt19

S. nur BGHSt 53, 199, 205 m. w. N. Tatsächlich hat sich - wie Küper (StrafR BT, 7. Aufl. 2008, S. 381) zutreffend ausführt der Begriff des „Vermögensschadens“ in Rechtsprechung und Schrifttum zu einer Art „Rechtsmikrokosmos“ entwickelt, der die Berücksichtigung einer kaum zu erschöpfenden Vielfalt von Gesichtspunkten, die meist erheblich umstritten sind, verlangt. 21 Zur Entwicklung der Rechtsprechung knapp Küper, StrafR BT, S. 368 f. 22 Danach gibt es kein „schlechthin schutzunwürdiges Vermögen“, vgl. schon RGSt 44, 230, 232 ff.; weiter BGHSt 2, 364, 366 ff.; 8, 254, 256; aus der Lit. etwa Krey/Hellmann, StrafR BT 2, 15. Aufl. 2008, Rn. 433 ff.; w. Nachw. bei Fischer, § 263 Rn. 89. 23 Darstellung und Kritik bei LK-Tiedemann, § 263 Rn. 128 und MK-StGB-Hefendehl, 2006, § 263 Rn. 294 ff. - jew. m. w. N. 24 Zur Terminologie Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, S. 402 ff., die richtig zwischen juristisch-ökonomischem und ökonomisch-juristischem Ansatz trennt. 20

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schaftlichen Ansatzes den Bereich des geschützten Vermögens unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten einschränkt. Um die Einheit der Rechtsordnung sicherzustellen, wird hier verlangt, dass die geldwerte Position der Person „unter dem Schutz“ oder „mit Billigung der Rechtsordnung“ oder wenigstens „ohne deren Missbilligung“ zusteht.25 Kernanliegen der Vertreter dieser Vermittlungslehre ist es, die für die Vermögenszuordnung auch im Wirtschaftsleben relevanten Regelungen zu berücksichtigen. Demgegenüber schwankt die Rechtsprechung bei der Anwendung der Vermögensbegriffe und ist „nicht ohne Widersprüche“.26 Das zeigt sich auch in der Beantwortung der Frage, ob die zur Begrenzung des Schutzbereichs herangezogenen (und breit diskutierten) Kriterien bei der Saldierung nur auf der Leistungs-/Verfügungsseite (Wertminderung) oder - mit dem Effekt einer Strafbarkeitsausdehnung - auch auf der Gegenleistungsseite (Kompensation durch Wertzuwachs) zu verwenden sind. Im bekannten BundesligaskandalFall hat der 4. BGH-Strafsenat 1975 bemakelte Chancen (auf Verbleib in der Bundesliga) grundsätzlich als möglichen Ausgleich für das gezahlte Bestechungsgeld anerkannt,27 in der Sache also rein wirtschaftlich argumentiert.28 Demgegenüber will der 2. BGH-Strafsenat nun im „Siemens“-Urteil unter Hinweis auf „normative Erwägungen“ Vermögensvorteile bei der Schadensfeststellung dann nicht berücksichtigen, wenn diese „nur durch einen seinerseits gesetz- oder sittenwidrigen und ggf. strafbaren Einsatz der

25

Nachw. zu den Einschränkungen bei Hoyer, in: SK-StGB, 60. Lfg., 7. Aufl. (Feb. 2004), § 263 Rn. 92. Der von Teilen der Lit. vertretene integrierte Vermögensbegriff begreift dagegen Wirtschaft und Recht nicht als zwei gegensätzliche Systeme, sondern betont das Recht als Fundament der Vermögenszuordnung, s. Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, S. 110 ff.; Kargl, JA 2001, 714, 715 ff. m. w. N. 26 Fischer, § 266 Rn. 101 ff. m. w. N. und konkreten Beispielen (Rn. 108 f.). 27 BGH NJW 1975, 1234, 1235 m. w. N.; ebenso BGH NStZ 1986, 455, 456; StV 1999, 25; NStZ-RR 2006, 378, 379 m. w. N.; OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 244 f.; zust. Triffterer, NJW 1975, 612, 613 f.; Nack, NJW 1980, 1599, 1600; LK-Schünemann, 11. Aufl. 1998, § 266 Rn. 98 iVm. 148d; Seier, in: Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, V2 Rn. 172; Weber, in: FS Seebode, 2008, S. 437, 443; Kempf, in: FS Hamm, 2008, S. 255, 257; Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 921; SSW-Saliger, § 266 Rn. 61 (mangelnde Rechtsbeständigkeit des Kompensationsvorteils ist nur wertmindernd zu berücksichtigen). 28 Gegen eine Kompensation durch bemakelte Vermögenspositionen - etwa Exspektanzen aus verbotenen oder sittenwidrigen Rechtsgeschäften wie im Bundesligaskandal-Fall - früher das RG (St 71, 344, 346: „Ein Nachteil [könne] niemals durch den Erfolg einer groben Unredlichkeit gegen einen Dritten, die mit der Untreuehandlung verbunden ist, aufgewogen“ werden) und auf der Basis der ökonomisch-juristischen Vermögenslehren ein Teil der Literatur (vgl. LK-Hübner, 10. Aufl. 1979, § 266 Rn. 86; Bringewat, JZ 1977, 667, 672; Seelmann, JuS 1982, 914, 918; Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 123 ff.; Schönke/Schröder-Perron, § 266 Rn. 41). Die Frage der Kompensationseignung von Vermögensstücken wurde nach dem Bundesligaskandal-Fall - soweit ersichtlich - vom Schrifttum wenig diskutiert.

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Mittel erzielt werden“ könnten.29 Orientierung fällt bei solcher Judikatur schwer. Das ist für den Normadressaten im Strafrecht besonders misslich, da dieses mit dem „schärfsten Schwert des Staates“ seine Verhaltensbefehle durchsetzt.

III. Die Normativierung des Schadensbegriffs in ausgewählten Fallgruppen Um die Problematik einer Schadensnormativierung besser zu verstehen und die Analysebasis zu verbreitern, soll im Weiteren zunächst ein kleines Panorama einschlägiger Fälle vorgestellt werden. Dabei werden nur Fallgruppen angesprochen, in denen das Abrücken von der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zur Annahme des Schadens führt. Situationen dagegen, in denen aus Rechtsgründen der Schaden entfällt30 und damit eine auf den Rechtsgutsverletzungserfolg gründende Strafbarkeit ausscheidet, bleiben - da für den Betroffenen unter dem Aspekt möglicher Freiheitsverluste günstig - ausgeklammert.

1. Rückverkaufs-/„Lösegeld“-Fälle Eine schon ältere Diskussion zur Normativierung des Schadensbegriffs betrifft die sog. Rückverkaufsfälle. Hier entwendet der Täter zunächst eine Sache, um sie anschließend dem Eigentümer gegen Zahlung eines „Lösegeldes“ zurückzugewähren oder aufgrund einer Täuschung über die Identität „zurückzuverkaufen“.31 Bei einer auf den Grundsätzen des wirtschaftlichen Vermögens- und Schadensbegriffs fußenden Bewertung der durch die Täterhandlung ausgelösten Vermögensbewegungen ist in diesen Situationen das Opfervermögen nicht geschädigt worden: Wegen der Entwendung der Sache in einem ersten Akt und der Wertlosigkeit der Herausgabeansprüche 29

BGHSt 52, 323, 337 (Rn. 44); kritisch dazu Rönnau, StV 2009, 246, 251. Der 1. BGHStrafsenat hält eine auf die Begehung von Straftaten (Schneeballsystem) aufgebaute Aussicht auf Vertragserfüllung für „an sich schon wertlos“ (St 53, 199, 205); krit. zu dieser Normativierung auf Kompensationsseite („Heranziehung des überholten juristischen Vermögensbegriffs“) Rübenstahl, NJW 2009, 2392; problematisierend auch Küper, JZ 2009, 800, 804, Fischer, § 263 Rn. 130 und Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 467 ff. 30 Hauptbeispiel ist hier die Tilgung fälliger und einredefreier Verbindlichkeiten, die nach der ökonomisch-juristischen Vermögenslehre bereits zum Schadensausschluss führt (da der Vermögensinhaber den wirtschaftlichen Wert von Rechts wegen „weggeben“ muss); näher Küper, StrafR BT, S. 391 m. w. N. 31 Knapp und prägnant zur Problematik Küper, StrafR BT, S. 383; ausführlicher Trunk, JuS 1985, 944 ff.; Stoffers, Jura 1995, 113, 117 ff.; Graul, JuS 1999, 562, 565 f. - jew. m. w. N.

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(§§ 985, 861 BGB)32 stehen sich im zweiten Akt bei der Prüfung des Erpressungsschadens in der Saldierung nur das Lösegeld33 und der (Besitz-)Wert der Sache gegenüber. Für das Opfer verbleibt ein positiver Saldo, wenn es nicht (ausnahmsweise) einen über dem Wert der Sache liegenden Preis zahlt. Der BGH und ein Großteil der Lehre hat sich dieser vom OLG Hamburg34 vertretenen Meinung nicht angeschlossen und stattdessen bei der Saldierung dem Wert der zurückgewährten Sache gegenüber der Vermögenseinbuße (Lösegeldzahlung) die Kompensationseignung abgesprochen: „Wer nur leistet, was er sowieso ohne Entgelt leisten muß, kann sich nicht darauf berufen, daß er einen anrechenbaren Gegenwert erbracht hat“.35 Der Rechtsanspruch auf die entwendete Sache verhindert danach bei der Schadensberechnung die Berücksichtigung der wiedererlangten Sache als anzurechnenden Wertzuwachs. Das Motiv des BGH für seine Rechtsauffassung liegt auf der Hand: Er will sicherstellen, dass in Lösegeldfällen jedenfalls auch aus einem Vermögensdelikt (und nicht nur wegen Nötigung) bestraft werden kann.36 Diese Möglichkeit steht in Frage, wenn der Diebstahl als Vortat ausfällt, weil der Täter sicher vom Rückkauf durch den Eigentümer ausgeht, es also am Enteignungsvorsatz fehlt. Der „Preis“ für diese Lösung besteht darin, dass hier unter Rückgriff auf rechtliche Erwägungen - anders als beim wirtschaftlich-juristischen Vermögensbegriff - die Strafbarkeit nicht eingeschränkt, sondern durch Nichtanerkennung einer wirtschaftlich wertvollen Position (zurückgewährte Sache) bei der Saldierung erweitert wird.37 32 Bei genauerer Betrachtung liegen die Dinge häufig wie folgt: Wegen der unbedingten Bereitschaft des Entwenders, die Sache gegen ein Lösegeld zurückzugeben (sonst Enteignungsvorsatz und Diebstahl), ist der Wert der Herausgabeansprüche gleich die Differenz zwischen dem Marktpreis der Sache und dem vom Entwender geforderten Lösegeld. Damit ist das Geschäft für den Eigentümer wertmäßig ausgeglichen (also kein Schaden), während er bei Annahme einer vollständigen Wertlosigkeit der Ansprüche sogar ein gutes Geschäft gemacht hat. 33 Bei der Prüfung des § 263 StGB wäre dies dementsprechend der Rückkaufspreis. 34 MDR 1974, 330 mit krit. Anm. Jakobs, JR 1974, 474 f. und Blei, JA 1974, 386. 35 BGHSt 26, 346, 347 f.; zust. in der Lehre etwa LK-Vogel, 12. Aufl. 2010, § 253 Rn. 22; Fischer, § 253 Rn. 14 m. w. N. 36 Ebenso Samson, JuS 2003, 263, 265. Zu den auftretenden Strafbarkeitslücken auch Mitsch (StrafR BT 2/1, 1998, § 6 Rn. 57 f.; ders., JA 1999, 388, 391 f.), der ein gerechtes Ergebnis ohne Verstoß gegen die Grundprinzipien des wirtschaftlichen Schadensbegriffs durch Vorverlagerung unter Rückgriff auf die Grundsätze der actio libera in causa herzuleiten versucht (Vergleich der Vermögenslagen vor der Entwendung des Gutes und nach dessen Rückkauf). 37 Richtig Küper, StrafR BT, S. 383; krit. Analyse auch von Trunk, JuS 1985, 944, 955 ff. Soweit vorgeschlagen wird, den Schaden durch Bilanzierung der Herausgabeansprüche zum Nennwert zu begründen, steht der Vorwurf einer Rückkehr zum strikt juristischen Vermögensbegriff im Raum (vgl. Altenhain, Anschlussdelikte, 2002, S. 250 f. m. w. N.).

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2. Submissionsbetrug Die Schadensbegründung in Fällen der Manipulation von Submissionen38 bereitete in der Praxis schon immer große Probleme. Nachdem die ältere Rechtsprechung Konstellationen vertikaler und horizontaler Einflussnahme als (versuchten) Betrug bewertete,39 wurden nach einer Leitentscheidung des 1. BGH-Strafsenats aus dem Jahre 196140 Submissionsabsprachen gut 30 Jahre lang nicht als Betrug verfolgt. Die Richter argumentierten damals, dass der Submittent trotz der Absprache unter den Bietern für ein angemessenes Angebot den Zuschlag erhalten hatte. Mit einem „Paukenschlag“ machte der 2. BGH-Strafsenat 1992 dann den Weg frei für eine Neuorientierung hinsichtlich der betrugsdogmatischen Behandlung der Kartellabsprachen.41 Statt - im Rahmen des Eingehungsbetruges - bei der Saldierung die vereinbarte Vergütung mit dem angemessenen Preis für die vergebene Bauleistung zu vergleichen, wurde deren Wert nach dem Preis bestimmt, der bei Beachtung der für das Ausschreibungsverfahren geltenden Vorschriften im Wettbewerb erzielbar gewesen wäre (sog. hypothetischer Wettbewerbspreis). Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, die mit der Ermittlung des hypothetischen Wettbewerbspreises verbunden sind, hat der BGH in der gleichen Entscheidung die Anforderungen an die Schadensfeststellung durch den Tatrichter gelockert.42 So müsse nicht mit absoluter Gewissheit feststehen, dass der vereinbarte Preis höher als der Wettbewerbspreis sei. Vielmehr genüge es, wenn die Richter auf der Grundlage von Indizien mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer solchen Differenz ausgehen können. Für einen Vermögensschaden sprechen nach dieser - in der Folgezeit bestätigten und weiter ausgebauten - Rechtsprechung43 neben der Existenz eines Submissionskartells sowie der Aufhebung des Geheimwettbewerbs vor allem die an die Kartellmitglieder und Außenseiter geleisteten Ausgleichszahlungen, die als Nachweis für einen Mindestschaden beim Betrug ausreichten.44

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Unter „Submission“ versteht man herkömmlich die Ausschreibung von Arbeiten und die Vergabe an den günstigsten Anbieter. Differenziert wird danach, ob eine unbeschränkte Anzahl von Unternehmen zur Einreichung von Angeboten aufgefordert wird (öffentliche Ausschreibung) oder nur ein beschränkter Kreis (beschränkte Ausschreibung). 39 RGSt 63, 187, 188; OLG Hamm, NJW 1958, 1151, 1152. 40 BGHSt 16, 367 - Freiburger „Mensa-Fall“. 41 BGHSt 38, 186; bestätigt in BGH wistra 1994, 346; zust. etwa LK-Tiedemann, § 263 Rn. 165; ders., Wirtschaftsstrafrecht BT, 2. Aufl. 2008, Rn. 143 ff.; SSW-Satzger, § 263 Rn. 208; Grützner, Die Sanktionierung von Submissionsabsprachen, 2003, S. 263 ff. m. w. N. 42 BGHSt 38, 186, 193 ff. 43 Vgl. BGH NJW 1997, 3034; wistra 2000, 61; wistra 2001, 103; NJW 2001, 3718. 44 Als Indiz herausgestellt von BGHSt 47, 83, 84, 88 f. (für freihändige Auftragsvergabe).

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Mit diesem Schadens(begründungs)modell versucht der BGH, eine Lücke zu schließen: An die Stelle des infolge der Kartellabsprache ausgefallenen Vergabeverfahrens als Preisbildungsmechanismus45 tritt ein hypothetischer Wettbewerbspreis. In der Sache stützt die Rechtsprechung - ohne dies jedoch deutlich auszusprechen - den Schaden damit auf den Verlust einer hypothetisch günstigeren Kontrahierungsmöglichkeit, also auf die Aussicht, die ausgeschriebene Bauleistung billiger zu bekommen. Eine solche Chance hat bei kartellierten Bietern aber niemals bestanden bzw. sich jedenfalls nicht zu einer vermögenswerten Exspektanz verdichtet.46 Dennoch von einem (Mindest-)Schaden in Höhe der Ausgleichszahlungen (als „Lohn“ für die Ausschaltung des Wettbewerbs) auszugehen, ist auf der Basis einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht zu begründen, sondern ein normatives Konstrukt (eine Fiktion), dessen dogmatische Rechtfertigung hinterfragt werden muss. Der BGH sichert seine materiell ausgerichtete Schadenskonstruktion dann durch eine die prozessuale Ebene betreffende „Indizienlösung“ ab. Wenn er dabei die Schmiergeld- und Ausgleichszahlungen als „gewichtiges“, „nahezu zwingendes“ (d. h. praktisch unwiderlegbares) Beweisanzeichen aufwertet - ersichtlich in dem Bestreben, den Strafverfolgungsbehörden Nachweisschwierigkeiten (und damit den Einsatz von Gutachtern) zu ersparen -, schafft er letztlich eine gesetzliche Beweisregel, die mit dem geltenden deutschen Strafprozessrecht unvereinbar ist.

3. Abrechnungsbetrug Auch bei verschiedenen Facetten des ärztlichen Abrechnungsbetrugs steht die Herleitung des Schadens durch die obergerichtliche Rechtsprechung zu Recht stark in der Kritik. Unter Rückgriff auf eine im Sozialversicherungsrecht geltende „streng formale Betrachtungsweise“47 stufen die Gerichte die für das ausgezahlte Honorar erbrachten - medizinisch indizierten, wirtschaftlich verhältnismäßigen und lege artis ausgeführten - ärztlichen Leistungen letztlich als wirtschaftlich vollständig wertlos ein, wenn bestimmte, vom Sozialversicherungsrecht aufgestellte formale Kriterien im Abrechnungszeitpunkt nicht vorlagen.48 So soll nach dem OLG Koblenz ein Betrug 45 Schon die Submission stellt mit dem Versuch, einen künstlichen Markt zu schaffen, ein Ersatzkriterium dar, weil es bei Unikaten als Bauleistung keinen Marktpreis gibt. 46 Vgl. zur nachfolgenden Kritik Rönnau, JuS 2002, 545, 549 f. m. w. N. Dort finden sich auch im kommentierenden Überblick die in der Literatur vorgetragenen Lösungsansätze (S. 547 f.). 47 S. schon BGH NStZ 1993, 388 f.; deutlich dann 1995, 85, 86; NJW 2003, 1198, 1200; OLG Koblenz MedR 2001, 144, 145. 48 Knapp zum kassenärztlichen Abrechungssystem Idler, JuS 2004, 1037, 1040; ausführlich Luig, Vertragsärztlicher Abrechnungsbetrug und Schadensbestimmung, 2009, S. 7 ff.

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vorliegen, wenn sich der abrechnende Arzt als Partner einer zugelassenen Gemeinschaftspraxis ausgibt, obwohl er tatsächlich nur als Angestellter tätig ist.49 Gleiches nahm der 3. BGH-Strafsenat in einem Fall an, in dem ein Zahnarzt ohne Kassenarztzulassung über einen Strohmann Honorare kassierte, auf die er als Nichtkassenarzt50 nach den einschlägigen Regelungen keinen Anspruch hatte.51 Jeweils waren Art, Inhalt und Qualität der ärztlichen Leistungen nicht zu beanstanden.52 Allein der fehlende „Status“ als freiberuflich tätiger Arzt bzw. Kassenarzt soll nach dieser Argumentation ausreichen, um die Gegenleistung des Arztes bei der Saldierung nicht zu berücksichtigen.53 Denn der Wert der Leistungen richte sich allein nach den Vorschriften des SGB. Lägen deren Voraussetzungen nicht vor, seien die erbrachten Arztleistungen im System der gesetzlichen Krankenkassen insgesamt nicht erstattungsfähig, d. h. im Ergebnis wertlos.54 Dass den Kassen infolge der Behandlung ihrer Patienten durch den Angeklagten Aufwendungen in möglicherweise gleicher Höhe erspart bleiben, die ihnen im Wege der Behandlung durch einen anderen, bei der Kasse zugelassenen Arzt entstanden wären, spiele keine Rolle. Eine solche Kompensation - die zudem auf Basis eines hypothetischen Sachverhalts anzustellen sei - will die Rechtsprechung bei der Schadensberechnung nicht zulassen; sie müsse aber im Rahmen der Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten angemessen berücksichtigt werden.55

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OLG Koblenz MedR 2001, 144 f. Seit 1993 eigentlich: „Vertragsarzt“. 51 BGH NJW 2003, 1198, 1200. 52 Fehlt es dagegen an der Qualifikation des Leistungserbringers (als wertbildender Faktor), ist ein Vermögensschaden schon nach allgemeiner Betrugsdogmatik zu begründen. Der 4. BGH-Strafsenat musste daher nicht die „streng formale Betrachtungsweise im Sozialversicherungsrecht“ bemühen, um den Schaden in einem Fall herzuleiten, in dem der Arzt - ohne sich selbst vom Gesundheitszustand des Patienten zu überzeugen - generell Praxispersonal für Infusionen usw. einsetzte, gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (zu Lasten der Krankenkasse) aber medizinische Leistungen durch Hilfskräfte nach Einzelanordnung abrechnete (die allein honorierungsfähig waren). Richtig daher Volk (NJW 2000, 3385, 3387), der a. a. O. weitere, sicher als Abrechnungsbetrug einzustufende Konstellationen auflistet. 53 Wenn der BGH (NJW 2003, 1198, 1200) die Betrugsstrafbarkeit bei Täuschung allein über „Statusfragen“ (wie im Fall des OLG Koblenz) anzweifelt, die vorgespiegelte Kassenarztzulassung hierunter aber nicht subsumiert, irrt er (zutreffend Idler [JuS 2004, 1037, 1041]: „Der Status ist eine Abrechnungsvoraussetzung, die auch bei erschlichener Zulassung nicht gegeben ist“). 54 Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316. 55 So BGH NStZ 1995, 85, 86 (unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG); OLG Koblenz MedR 2001, 144, 145; BGH NJW 2003, 1198, 1200; zust. Hellmann, NStZ 1995, 232, 233; Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316; LK-Tiedemann, § 263 Rn. 267; ausführlicher zu den Argumenten (auch der Kritiker) Grunst, NStZ 2004, 533, 535 ff. 50

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Diese „streng formale“ Sicht der mittlerweile ständigen Rechtsprechung kann - jedenfalls in Bezug auf die hier angesprochenen Fallgruppen56 - nicht verbergen, dass sie sich von den Regeln des herrschenden, im Grundsatz wirtschaftlichen Vermögens- und Schadensbegriffs vollständig gelöst und an deren Stelle die Besonderheiten des vertragsärztlichen Vergütungssystems gesetzt hat.57 Aus dem Vermögensdelikt „Betrug“ wird ein Straftatbestand zum Schutz des Sozialversicherungsrechts („Sozialversicherungsbetrug“),58 hinter dessen Einzelregelungen andere als Vermögensinteressen („Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung“, berufsständige Interessen etc.) stehen.59

4. Sportwettenbetrug Einen Höhepunkt erreichte die Schadensnormativierung Ende 2006 im viel diskutierten „Hoyzer“-Urteil des 5. BGH-Strafsenats.60 Nach Auffassung des Gerichts entsteht dem Anbieter einer Sportwette, der vom Wettenden konkludent über die (geplante) Manipulation von Schiedsrichtern getäuscht wird, schon mit Abschluss des Wettvertrages ein Vermögensschaden. Diesen begründet es unter Weiterentwicklung („Anpassung“) der Rechtsprechung zum Eingehungsbetrug mit der Rechtsfigur des sog. „Quotenschadens“: Weil der Wettanbieter den Wettschein (eine 56 Die formale Betrachtungsweise ist nach Volk (NJW 2000, 3385, 3387) solange legitim, wie das Schadenselement „in verdünnter Form“ im Gesamtschaden noch nachweisbar ist. 57 Auch dieser Rechtsprechung, die aus Rechtsgründen der Honorarzahlung gleichwertige ärztliche Leistungen nicht anerkennt, wird daher vorgeworfen, sie lasse den heute nicht mehr vertretenen juristischen Vermögensbegriff wieder aufleben (wonach geschädigt ist, wer nicht bekommt, worauf er einen Anspruch hat) und schütze damit nur die Dispositionsfreiheit, vgl. Luig (Fn. 48), S. 193; weiter Hellmann/Herffs, Der ärztliche Abrechnungsbetrug, 2006, Rn. 261; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, § 14 Rn. 33a; Schroth/Jost, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 179, 196. 58 Volk, NJW 2000, 3385, 3386. 59 Aus der großen Zahl der Kritiker, die dieser Rechtsprechung einen Austausch des Schutzobjekts vorwerfen, s. nur Volk, NJW 2000, 3385, 3386; Stein, MedR 2001, 124, 128; Idler, JuS 2004, 1037, 1040 f.; MK-StGB-Hefendehl, § 263 Rn. 527; Ellbogen/Wichmann, MedR 2007, 10, 14; Brandts/Seier, in: FS Herzberg, 2008, S. 811, 813 f.; T. Walter, in: FS Herzberg, 2008, S. 763, 772; Ulsenheimer (Fn. 57), § 14 Rn. 33; Hancok, Abrechnungsbetrug durch Vertragsärzte, 2006, S. 219 ff.; Schroth/Jost (Fn. 57), S. 179, 196 f.; gegen die Annahme eines Schadens auch Gaidzik, wistra 1998, 329, 331 ff.; Duttge, in: Schnapp, Rechtsfragen der gemeinschaftlichen Berufsausübung von Vertragsärzten, 2001, S. 79, 96 ff.; Grunst, NStZ 2004, 533, 536 ff.; Kölbel, NStZ 2009, 312, 315 in Fn. 50. Luig (Fn. 48), S. 193 f. u. passim nimmt unter Rückgriff auf die Lehre vom personalen Schadenseinschlag einen Schaden dann an, wenn die ärztliche Leistung für den Patienten unbrauchbar ist, weil sie potenziell eine Gefahr für seine Gesundheit darstellt. 60 BGHSt 51, 165, 174 ff.

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Inhaberschuldverschreibung nach § 793 BGB) für einen Preis verkauft habe, der auf Basis einer niedrigeren Gewinnchance kalkuliert wurde, der tatsächliche Wert des Wettscheins aufgrund der manipulierten Gewinnchance bei wirtschaftlicher Betrachtung aber höher liege, stelle schon diese „Quotendifferenz“ einen zur Vollendungsstrafbarkeit führenden Schaden dar. Dieser Quotenschaden ähnele zwar der vom LG Berlin (als Vorinstanz) angenommenen schadensgleichen Vermögensgefährdung, sei mit dieser jedoch nicht gleichzusetzen. Ob der Gewinn dann tatsächlich entstehe und ausbezahlt werde, sei allein für die Strafzumessung relevant. Welcher Schaden genau eingetreten sein soll, ließ der BGH allerdings offen. Stattdessen stellte er nur fest, dass die durch die unlautere Einflussnahme gesteigerte Chance (auf den Wettgewinn) „erheblich mehr“ wert sei als der gezahlte Wetteinsatz. Der Schaden müsse nicht beziffert werden. Es genüge, wenn die insoweit relevanten Risikofaktoren gesehen und bewertet würden. Die vom BGH unter großem medialen Druck getroffene „Hoyzer“-Entscheidung ist in der Fachliteratur (auch) wegen ihrer Schadenskonstruktion viel gescholten worden.61 Dabei trifft die zu Recht kritisierte Qualifizierung des (Quoten-)Schadens als Eingehungs- statt als Erfüllungsschaden62 nicht den Kern des Problems. Das Abstellen auf einen Quotenschaden ist vielmehr vor allem deshalb dubios, weil hier eine - als Gedankenoperation noch plausible - Wertdifferenz mit dem Schaden gleichgesetzt wird, ohne für dessen Feststellung gesicherte (Mindest-)Angaben machen zu können.63 Bei kommerziell betriebenen Sportwetten kommt an dieser Stelle der Festlegung der Quote und der vom Anbieter einkalkulierten Gewinnmarge eine besondere Bedeutung zu. Anders als der BGH meint, legt der Buchmacher seine Quote nicht danach fest, für wie wahrscheinlich er bestimmte Spielergebnisse hält, sondern versucht, das Wettverhalten seiner Kunden vorherzusagen, um unabhängig vom Spielausgang Gewinn 61 Ein zweiter Schwerpunkt in den kritischen Besprechungen des Urteils war die vom BGH angenommene konkludente Täuschung; ausführlich zu dieser Diskussion Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361 ff.; Petropoulos/P. und I. Morozinis, wistra 2009, 254, 255 f. - jew. m. w. N. 62 Als Erfüllungsschaden wäre die (Gesamt-)Vermögensminderung - wenn überhaupt - deshalb einzuordnen, weil diese in dem Zeitpunkt eintritt, in dem es zum Ausgleich von Wettschein und Wetteinsatz und somit zur Erfüllung des dem Wettgeschäft zu Grunde liegenden Kausalgeschäfts kommt, vgl. Krack, ZIS 2007, 103, 109 f.; Radtke, Jura 2007, 445, 451; Engländer, JR 2007, 477, 479; Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 365; mit dem BGH für Eingehungsbetrug dagegen Gaede, HRRS 2007, 16, 17 ff.; Bosch, JA 2007, 389, 391; Krey/Hellmann, StrafR BT 2, Rn. 490d. 63 Ausführlich zur Kritik Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 365 ff.; Rönnau/Soyka, NStZ 2009, 12, 13 f.; Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 457 ff. (unter Hinweis auf weitere Friktionen mit der herkömmlichen Schadensdogmatik); teilweise zust. Fischer, § 263 Rn. 132.

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zu machen. Vor diesem Hintergrund kann ein „Quotenschaden“ überhaupt nur dann vorliegen, wenn der Täter aufgrund seiner Manipulation Wetteinsätze tätigt, die im Rahmen des gesamten Wettverhaltens aller Wetter so erheblich sind, dass sie die Festsetzung anderer Gewinnquoten bzw. höherer Einsätze gerechtfertigt hätten. In der Argumentation des BGH bleibt diese Frage ebenso unberücksichtigt wie die, ob sich die Manipulation des Wetters nicht vielleicht nur auf die - (noch) nicht als vermögenswerte Exspektanz in die Betrachtung einzubeziehende - Gewinnmarge des Wettanbieters auswirkt.64 Damit tritt an die Stelle eines Vermögensschadens eine abstrakte Wertdifferenz, ein Schadensverdacht und letztlich eine Fiktion.65 Dass dem BGH nicht einmal die Angabe eines Mindestschadens (wichtig für die Strafzumessung!) gelungen ist, legt nahe, dass ihm dieser Befund nicht verborgen geblieben sein kann.

5. Kick-Back-Konstellationen Aus dem Strom der unter (Ver-)Normativierungsaspekten bedenklichen Rechtsprechung66 zum Vermögensschaden sei hier schließlich noch die dogmatische Behandlung der Kick-Back-Konstellationen herausgegriffen. Prototypisch lässt sich in diesen - als Untreue zu prüfenden - Rückvergütungs-Fällen ein Geschäftsführer vom Geschäftspartner nach Vertragsschluss oder -durchführung ein Schmiergeld zahlen, das wirtschaftlich aus dem Vermögen der GmbH (seines Arbeitgebers) finanziert wird.67 Sofern sich der treupflichtige Geschäftsführer auf einen (um das Schmiergeld) überhöhten Preis für die Ware oder Dienstleistung eingelassen hat, ist nach dem Saldierungsprinzip angesichts einer ungleichwertigen Gegenleistung unproblematisch ein Vermögensnachteil festzustellen.68 Ganz anders liegen die Dinge aber, wenn Leistung und Gegenleistung nicht oder nicht offen64 Zur Begründung näher Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 366 f.; Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 459 f. 65 Näher Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 365 ff.; Rönnau/Soyka, NStZ 2009, 12, 14; Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 459; weiterhin Rössner, in: FS Mehle, 2009, S. 567, 568. Eine Ablösung der Schadensbetrachtung von der Realität konstatieren dem BGH auch Reinhart, SpuRt 2007, 52, 54 und Jahn/Maier, JuS 2007, 215, 219; die Aufwertung einer abstrakten Vermögensgefahr zum Schaden kritisieren Janssen, in: Achenbach/Ransiek, VI Rn. 229 ff.; Petropoulos/P. und I. Morozinis, wistra 2009, 254, 259; Hohmann, NJ 2007, 132, 133; so schon Kutzner, JZ 2006, 712, 717. 66 Weitere Fallkonstellationen behandelt Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 460 ff. 67 LK-Schünemann, § 266 Rn. 125d, 135; ders., Organuntreue - Das MannesmannVerfahren als Exempel?, 2004, S. 40 f. (mit zutreffender Argumentation gegen die Begründung von NK-StGB-Kindhäuser, Bd. 2, 3. Aufl. 2010, § 266 Rn. 114); Seier, in: Achenbach/Ransiek, V 2 Rn. 356 ff.; Fischer, § 266 Rn. 117 ff. m. w. N. 68 Fischer, § 266 Rn. 118; SSW-Saliger, § 266 Rn. 65 - jew. m. w. N.

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sichtlich in einem Missverhältnis stehen. Hier bereitet der Beweis große Probleme, dass der Provisionsgeber seine Gegenleistung auch zu einem um das Bestechungsgeld verminderten Preis - und damit für den Geschäftsherrn günstiger - erbracht hätte, durch den Vertragsschluss also eine vermögenswerte Exspektanz der GmbH zerstört wurde. Schon bei der Motivation des Gebers, das Schmiergeld als „personengebundene Spende“ oder allgemein zur Kundenpflege und nicht als „Rückerstattung auf den Kaufpreis“ einzusetzen, entfällt nach diesem Lösungsansatz die Untreuestrafbarkeit.69 Der BGH hat auf diese forensischen Beweisnöte70 reagiert und behandelt - unter Übertragung eines Rechtsgedankens aus dem Bereich des Submissionsbetruges - Provisions- bzw. Schmiergeldzahlungen als Mindestschaden i. S. v. § 266 StGB. Jedenfalls der Betrag - so das Obergericht -, den der Vertragspartner für Schmiergelder aufwendet, hätte im Regelfall in Form eines Preisnachlasses oder -aufschlags auch dem Geschäftsherrn des Empfängers gewährt werden können;71 ob die günstigere Vermögenslage beim Geschäftsherrn tatsächlich eingetreten wäre, ist danach unerheblich. Dass mit dieser praktisch bequemen, vielleicht sogar kriminalpolitisch erwünschten „Vermutungslösung“72 in der Sache eine Beweislastumkehr stattfindet, die sich mit dem Zweifelsgrundsatz nicht verträgt, lässt sich kaum übersehen.73 An die Stelle eines konkreten Schadensnachweises tritt die Regel69 Vgl. BGHSt 47, 295, 297 ff.; Seier, in: Achenbach/Ransiek, V 2 Rn. 356 f.; ausführlich zum Thema Rönnau, in: FS Kohlmann, 2003, S. 239 ff., Szebrowski, Kick-Back, 2005, S. 90 ff. und jüngst Thalhofer, Kick-Back, Exspektanzen und Vermögensnachteil nach § 266 StGB, 2008, S. 72 ff. 70 Seier, in: Achenbach/Ransiek, V 2 Rn. 358; auch Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 920; Beulke, in: FS Eisenberg, 2009, S. 245, 260. 71 Eingeleitet wurde diese - vom 5. BGH-Strafsenat geprägte - Rechtsprechung im „Fall Schreiber“ (BGHSt 49, 317, 332 ff.; Andeutungen schon in BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 49). Ausnahmen gibt es danach nur, „wenn Umstände erkennbar sind, die es nicht unbedingt nahe legen, daß die Leistungen in die Kalkulation zu Lasten des Geschäftsherrn eingestellt wurden“; Fortführung und Bekräftigung dann in den Urteilen zum „Kölner Müllskandal“ (BGHSt 50, 299, 314 ff.: „Zumeist liegt auf der Hand, daß das Geschäft auch für einen um den aufgeschlagenen Schmiergeldanteil verminderten Preis abgeschlossen worden wäre“) sowie zum „Wuppertaler Korruptionsskandal“ (BGH NJW 2006, 2864 Leitsatz 2: „Kommt es durch Schmiergeldzahlungen an einen Treupflichtigen zur Ausschaltung des Wettbewerbs, liegt es nahe, dass Preise vereinbart werden, die unter Wettbewerbsbedingungen nicht erzielbar wären. In diesem Fall ist die Annahme eines Vermögensnachteils in Höhe sachfremder oder unter Wettbewerbsbedingungen nicht ohne weiteres durchsetzbarer Rechnungsposten gerechtfertigt.“); vgl. auch BGH NStZ 2008, 281 (Mindestschaden bei §§ 263, 264 StGB). 72 So Seier, in: Achenbach/Ransiek, V 2 Rn. 359. 73 Kritik i. d. S. etwa von MK-StGB-Dierlamm, 2006, § 266 Rn. 232; Seier, in: Achenbach/Ransiek, V 2 Rn. 385; Bernsmann, StV 2005, 576, 577; NK-StGB-Kindhäuser, § 266 Rn. 114; Beulke, in: FS Eisenberg, 2009, S. 245, 260 f.; Klengel/Rübenstahl, HRRS 2007, 52, 65 f.; Rönnau, in: FS Kohlmann, 2003, S. 239, 260; zust. aber Pananis, NStZ 2005, 572 („System Schreiber“) und Saliger, NJW 2006, 3377, 3378 („Kölner Müll“).

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vermutung, dass gewährte Provisionen in den Preis einkalkuliert worden sind.74 Auf den Verlust einer vermögenswerten Exspektanz im Einzelfall kommt es danach nicht mehr an;75 der Vermögensschaden wird mehr oder weniger fingiert.

IV. Kritische Analyse Die Motivation der Richter für ein Abrücken von der Schadensbestimmung nach wirtschaftlichen Maßstäben ist bei der Vorstellung der einschlägigen Fallgruppen bereits angeklungen: Es geht ihnen vor allem um die Überwindung dogmatischer Begründungs- bzw. forensischer Nachweisschwierigkeiten, damit häufig um Vereinfachung (etwa Absehen von Sachverständigengutachten) und letztlich um die Durchsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen aufgrund empfundener Strafwürdigkeit des Verhaltens. Ein solches Vorgehen ist solange akzeptabel, wie die für das und vom Strafrecht aufgestellten Grenzen beachtet werden. Dazu gehören die verfassungsrechtlichen Vorgaben - hier insbesondere das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Gesetzlichkeitsprinzip - sowie auf einfach-gesetzlicher Ebene die dogmatische Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit von Argumentation und Ergebnis. Entfernt sich die (straf-)richterliche Auslegung (zu weit) vom Gesetz, gerät sie in die Zone der gesetzgeberischen Aufgaben und damit in Konflikt mit dem für den Rechtsstaat zentralen Grundsatz der Gewaltentrennung/-teilung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Gerade das Strafrecht ist bei richterlichen Rechtsfortbildungen äußerst sensibel, hat doch allein der Gesetzgeber die Kompetenz und Legitimation, für alle Rechtsunterworfenen verbindlich Strafnormen zu schaffen.76 Eine strafbegründende (richterliche) Analogie jenseits des Wortsinnes ist verfassungswidrig und verboten.77 Vor diesem Hintergrund ist nun zu untersuchen, ob die Strafgerichte in den 74

Vgl. Beulke, in: FS Eisenberg, 2009, S. 245, 260: „Umkehrung des Regel-AusnahmeVerhältnisses“. Die österreichische Gerichtspraxis knüpft an die Tatsache der Provisionszahlung sogar die unwiderlegliche Vermutung eines um die Schmiergeldzahlung überhöhten Preises, vgl. die Nachw. bei Rönnau, in: FS Kohlmann, 2003, S. 239, 260. 75 Beanstandet etwa an der Entscheidung „System Schreiber“ von Vogel, JR 2005, 123, 125 f. (Thyssen AG hat „glänzendes“ Geschäft gemacht). Krit. auch Schünemann, NStZ 2006, 196, 200 f. (Schmiergelder stammen wirtschaftlich nicht aus Vermögen der Thyssen AG; ggf. Schaden aber wegen Rückforderungen aus Saudi Arabien), der in den Entscheidungen „System Schreiber“, „Kölner Müll“ und „Siemens AG“ gleichzeitig eine Rückwendung des BGH zu einer zivilrechtlich-formalen Betrachtungsweise (in Abkehr von einer wirtschaftlichen Schadenslehre) feststellt (StraFo 2010, 1, 4, 9). 76 BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 m. w. N.; NJW 2009, 2370, 2372. 77 St. Rspr., jüngst BVerfG ZIP 2010, 1596, 1597 (Rn. 69 ff.) und Kuhlen, in: FS Otto, 2007, S. 89, 96 f. - jew. m. w. N.

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skizzierten Fällen mit ihrer Praxis der Schadensnormativierung Grenzen überschritten haben. Ein solcher Grenzübertritt spiegelt sich im Vorwurf der Schadensfiktion wider, dem sich die Rechtsprechung - wie gezeigt - in jüngerer Zeit immer häufiger ausgesetzt sieht. Zur Bewertung dieser Vorwürfe ist es zunächst notwendig, sich mit dem Begriff der Fiktion näher zu befassen.78 Vom so entwickelten Ausgangspunkt ist es möglich, die einzelnen Fallgruppen daraufhin zu untersuchen, ob hier tatsächlich ein Schaden fingiert wird. Sodann ist zu erörtern, ob etwaige (Begründungs-)Fiktionen aus verfassungs- bzw. einfach-rechtlichen Gründen unzulässig sind bzw. - sofern eine Subsumtion unter den Fiktionsbegriff nicht in Betracht kommt ob die normativierende Auslegung des Schadensmerkmals in den einzelnen Fallgruppen unabhängig davon abzulehnen ist.

1. Zum Vorwurf der Schadensfiktion a) Allgemeines: Begriff und Bewertung der (Begründungs-)Fiktion Inwieweit die Strafgerichte in den beispielhaft vorangestellten Fallkonstellationen ihre Entscheidungsbegründung auf eine Fiktion gestützt haben, hängt zunächst einmal von der zugrunde gelegten Begriffsdefinition ab. Im allgemeinen, nichtjuristischen Sprachgebrauch wird unter einer Fiktion eine Erdichtung, eine bewusst unrichtige Annahme verstanden.79 Die Fiktion im Rechtssinne ist nach einem verbreiteten Begriffsverständnis die „gewollte Gleichsetzung eines als ungleich Gewussten“.80 Wegen der stark voluntaristischen Komponente („Willkürmoment“) des fiktiven Schlusses war sie von jeher nicht nur Juristen suspekt;81 mittlerweile hat sich im Umgang mit 78

Dabei wird sich zeigen, dass es sich bei der Fiktion nur um eine besondere Form der analogen Rechtsanwendung handelt, über deren Zulässigkeit nach anderen Kriterien zu urteilen ist. 79 So etwa Duden, Die deutsche Rechtschreibung, Band 1, 22. Aufl. 2000, und Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 8. Auf. 2010, beide zum Stichwort „Fiktion“. 80 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 262 m. w. N; ausführlich zur Begriffsbestimmung der Fiktion Pfeiler, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, 1980, S. 43 ff. Hinter der Definition steht die Erkenntnis, dass Fiktionen strukturell nichts anderes als Analogien sind. Denn das Wesen der Fiktion besteht darin, „tatsächlich Verschiedenes unter einem bestimmten Gesichtspunkt vergleichend in Zusammenhang zu bringen, (sodass) am Ende dieses Vergleichs sich Verschiedenes in einem Allgemeinen entspricht“. Den Grenzen analoger Denkweise im Hinblick auf das Gerechtigkeitsprinzip und die notwendige Vergleichbarkeit unterliegen daher auch die Fiktionen (zum Vorstehenden s. Meyer, Fiktionen im Recht, 1975, S. 64, 91 ff.; zust. Pfeiler (a. a. O.) S. 60 jew. m. w. N). Zur Abgrenzung der Fiktion von der unwiderlegbaren Vermutung vgl. Meurer, Fiktion und Strafurteil, 1973, S. 26. 81 Nachw. zu Negativurteilen bei Pfeiler (Fn. 80), S. 22 und Meurer (Fn. 80), S. 1 f.; ablehnend zu dieser Rechtsfigur in jüngerer Zeit etwa Vollmer, Auslegung und Auslegungsregeln, 1990, S. 237 ff.

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Rechtsfiktionen allerdings eine nüchternere Betrachtung durchgesetzt. Die (Gesetzes-)Fiktion wird nunmehr als Element des „juristischen Alltags“ betrachtet. Sie diene „nicht der Vergewaltigung von Wirklichkeit, sondern einer normativen Gleichbewertung zum Zwecke der Verweisung […] und [unterscheide] sich nicht durch ihren besonderen Inhalt, sondern durch ihre Form von anderen Rechtssätzen“.82 Differenziert wird zwischen der Fiktion als Mittel der Gesetzestechnik (Gesetzesfiktion), als Mittel der Urteilsbegründung (Begründungsfiktion) und ihrer Verwendung in der Wissenschaft (erkenntnistheoretische Fiktion).83 Im - hier allein interessierenden - Begründungszusammenhang eines Strafurteils bedeutet Fiktion, „daß ein Tatbestandselement, aus dem der Richter eine Rechtsfolge herleitet, als im Sachverhalt vorhanden von ihm unterstellt wird, obgleich er weiß oder sich doch darüber klar sein müßte, daß dem in der Tat nicht so ist“.84 Meurer verzichtet in seiner - soweit ersichtlich - einzigen strafrechtlichen Dissertation zum Thema auf das Bewusstsein der Fiktivität und definiert Fiktion (funktional) als die „Gleichsetzung von Ungleichem und/oder die Ungleichsetzung von Gleichem zur Erreichung eines Zweckes“.85 Die Begründungsfiktion wird vom Richter eingesetzt, um „eine unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit für erforderlich gehaltene Rechtsfolge durch die fiktive Zuordnung zweier Tatbestände herbeizuführen“.86 Bei der Auslegung gesetzlicher Begriffe dient die Verwendung der Fiktion einer Erweiterung (oder Einschränkung) des vom Gesetzgeber vorgegebenen Tatbestandes (Beispiel: Gleichsetzung von Gewalt und Schusswaffendrohung bezüglich § 251 StGB a. F.),87 während bei der Subsumtion - also der Gleichstellung des konkret zu beurteilenden Falles mit den durch den gesetzlichen Tatbestand zweifelsfrei gemeinten Fällen - unter Rückgriff auf die Fiktion dem ermittelten Lebenssachverhalt eine bestimmte Wertung gegeben wird (Beispiel aus dem Zivilrecht: aus der Tatsache der Teilnahme an einer Gefälligkeitsfahrt wird ein fiktiver Verzicht auf Haftungsansprüche abgeleitet).

82

Nach Pfeiler (Fn. 80), S. 22 m. w. N. in Fn. 13; weiterhin nur Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 35 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 57 ff. 83 Larenz (Fn. 80), S. 262 ff.; näher zur Klassifikation Meurer (Fn. 80), S. 24 ff. 84 Larenz (Fn. 80), S. 264. 85 Meurer (Fn. 80), S. 24 f. und passim: „Eine Denkform bleibt, was sie ist, gleichgültig was der darüber denkt, der in ihr denkt“. Dagegen erhebt Pfeiler (Fn. 80), S. 56 mit Fn. 199 den Vorwurf der „Verwechslung von Fiktion und unrichtiger Auslegung oder Subsumtion“. Offenen - rein objektiven - Gleichstellungen, wie Meurer sie ausreichen lasse, fehle in der Regel auch die spezifisch fiktive Sprachform des „Als-Ob“. 86 Pfeiler (Fn. 80), S. 54 f. auch zum Folgenden. 87 Beispiel von Meurer (Fn. 80), S. 30 ff. für eine unzulässige Begründungsfiktion.

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Der Verwendungswert von Rechtsfiktionen lässt sich nicht pauschal beurteilen.88 Zutreffende rechtliche Ergebnisse können auch mit Hilfe von Fiktionen begründet werden. Anders als der Gesetzgeber ist der Rechtsanwender in seiner Tätigkeit allerdings an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Von vielen wird daher die Fiktion wegen ihrer Tendenz zur verschleiernden Rechtsfortbildung und der damit einhergehenden Verhinderung einer offenen Argumentation zu Recht überaus skeptisch betrachtet bzw. als - für rechtsstaatliche Garantien - „gefährlich“ eingestuft.89 In den Worten Pfeilers: „Soweit der Verfasser einer Begründung glaubt, ein Tatbestandsmerkmal im Wege der Fiktion für den Zweck einer gerechten Entscheidung ausdehnen oder einschränken, bzw. den Sachverhalt im Wege der Fiktion ausdeuten zu müssen, läuft er Gefahr, den von der ‚Natur der Sache’ oder vom Wortlaut, von der Entstehungsgeschichte, von der Systematik und dem Zweck des Gesetzes vorgezeichneten Weg der Begründung zu verlassen und das angestrebte Ziel durch eine Scheinbegründung zu erreichen“. Diese Mahnung trifft für das Strafrecht mit seiner strengen Wortlautbindung in besonderem Maße zu.

b) Schadensfiktionen in den skizzierten Fallgruppen? Die Durchmusterung des hier eingeführten Fallmaterials unter dem Gesichtspunkt des Einsatzes von Schadens(begründungs)fiktionen ergibt Folgendes: Wer zur Abgrenzung der Fiktion von der falschen Auslegung oder Subsumtion für Erstere eine bewusste, im Urteil/Beschluss in fiktionstypischer Sprachform („Als-Ob“)90 ausgedrückte Gleichsetzung von Ungleichem verlangt, wird - soweit ersichtlich - in den Judikaten nicht fündig. Aber auch bei einem weiten, mehr oder weniger rein objektive (offene) Gleichstellungen einbeziehenden Verständnis des Fiktionsbegriffs hängt für das Vorliegen einer (Begründungs-)Fiktion letztlich alles davon ab, inwieweit die Richter zwecks Erzielung einer ihrer Meinung nach gerechten Entscheidung objektiv Ungleiches gleichgesetzt haben. Diese Frage lässt sich nicht beantworten, ohne dass das Bezugsobjekt der Gleichheits- bzw. Ungleichheitsbetrachtung angegeben wird.

88

So Meurer, in: Rödig, Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 281, 285, der zuvor in seiner Dissertation (Fn. 80, S. 46 f., 56 ff.) nach einer exemplarischen Rechtsprechungsanalyse zu Begründungsfiktionen sehr differenziert Stellung nimmt. 89 Vgl. nur Pfeiler (Fn. 80), S. 56 f.; Meyer (Fn. 80), S. 122 ff.; Larenz (Fn. 80), S. 264. Auch nach Meurer (Fn. 80), S. 75 ff. bedürfen „Fiktionen auf der Ebene der Rechtsanwendung und Sachverhaltsgewinnung mehr noch der Kontrolle als Gesetzesfiktionen, die auf dem Willen des Gesetzgebers beruhen. “ 90 Zur sprachlichen Form der Fiktion s. Pfeiler (Fn. 80), S. 48 ff.

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Der Begriff Schadensfiktion impliziert eine Gleichsetzung von Schaden und Nichtschaden (als dem objektiv Ungleichen). Ließe sich dieser Vorwurf erhärten, so wäre der Schritt zur Annahme einer verbotenen Analogie naheliegend. Denn Begründungsfiktion und (verbotene) Analogie weisen große Strukturparallelen auf.91 Bei Letzterer werden nicht mehr vom Wortlaut einer Strafnorm erfasste Fälle solchen gleichgestellt, die innerhalb der sprachlichen Reichweite des Tatbestandes liegen. Der Vorwurf einer gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verbotenen Analogie soll allerdings zunächst noch zurückgestellt werden. Denn bei der Darstellung der einschlägigen Fallgruppen ist bereits deutlich geworden, dass nicht der Schaden als solcher insgesamt fingiert wird. Der Vorwurf der Fiktionalisierung bezieht sich vielmehr nur - ohne dass daraus auf die Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise geschlossen werden könnte - auf einzelne Elemente der Vermögenssaldierung, und zwar teils auf der Ebene der Vermögensminderung (so z.B. bei der Annahme einer zugunsten des Treugebers bestehenden Exspektanz in den Kick Back-Fällen), teils bei der Kompensation (etwa wegen Wertlosstellung der ärztlichen Leistung in den Fällen des Abrechnungsbetruges). Er wäre berechtigt, wenn die Rechtsprechung hier tatsächlich Ungleiches gleich behandelte, sei es bewusst (enger Fiktionsbegriff) oder jedenfalls der Sache nach (weiter Fiktionsbegriff). Was die Kritik dabei als Bezugspunkt der Gleichheits- bzw. Ungleichheitsbetrachtung wählt, lässt sich aus dem zumeist im selben Atemzug erhobenen Vorwurf der „Vernormativierung“ ableiten: der jedenfalls in seinem Kern wirtschaftliche Vermögens- bzw. Schadensbegriff.92 Allen hier behandelten Fallgruppen ist die Abkehr von bzw. bisweilen sogar das vollständige Außerachtlassen von wirtschaftlichen Maßstäben gemein. Im Hinblick auf einen wirtschaftlichen Ansatz bei der Bewertung der einzelnen Saldierungsposten behandelt der BGH in sämtlichen hier dargestellten Fallgruppen Ungleiches gleich, indem er entweder einen wirtschaftlichen Wert von an sich wertlosen Vermögenspositionen annimmt oder aber bei wirtschaftlich werthaltigen Vermögensstücken eine Kompensation aus Rechtsgründen ablehnt. Geht man also von einer grundsätzlich an ökonomischen Kriterien orientierten Bewertung der zu saldierenden Vermögenspositionen aus, so trifft der Vorwurf der Ungleichbehandlung - und damit zumindest auch der der Begründungsfiktion i. w. S. - zu. Hiergegen ließe sich nun einwenden, dass bereits die Festlegung eines rein wirtschaftlichen Ausgangspunktes verfehlt sei, weil der Vermögens91

Näher Pfeiler (Fn. 80), S. 60 f. m. w. N. und oben IV.1.a); grundlegend zur Struktur analogischer Rechtsanwendung Arth. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl. 1982, passim, sowie knapp NK-StGB-Hassemer/Kargl, Bd. 1, 3. Aufl. 2010, § 1 Rn. 95 ff. 92 Ausführungen dazu unter II.

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und auch Schadensbegriff eben nicht ausschließlich anhand ökonomischer Maßstäbe bestimmt würden. Vor dem Hintergrund des heute herrschenden ökonomisch-juristischen Verständnisses93 zum Vermögensbegriff könnte eine unterschiedliche Behandlung und damit Fiktion nicht festgestellt werden, da jeweils auch normative Elemente Berücksichtigung fänden. Diese Argumentation ist jedoch bestenfalls vordergründig plausibel. Sie lässt außer Acht, dass der ökonomisch-juristische Vermögensbegriff in seinem Kern ebenfalls eindeutig von einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise ausgeht.94 Die normativen Einschränkungen beziehen sich nach herkömmlichem Verständnis lediglich auf die Frage, ob eine Vermögensposition auch unter dem Schutz der Rechtsordnung steht bzw. wenigstens von dieser nicht missbilligt wird. Sie wirken insofern stets zu Gunsten des Täters, indem bestimmte geldwerte Güter aus dem Bereich strafrechtlich geschützten Vermögens herausgenommen werden. Vor diesem Hintergrund käme die täterbelastende Anerkennung wirtschaftlich nicht begründbarer Vermögenspositionen (etwa von vermeintlichen Exspektanzen in den Submissions- bzw. Kick Back-Fällen) nahezu einem Paradigmenwechsel gleich. Gleiches träfe mit Blick auf die Entscheidung des BGH zum BundesligaBestechungsskandal95 hinsichtlich der Forderung zu, „bemakelte“ Chancen trotz ihrer wirtschaftlichen Werthaltigkeit bei der Kompensation nicht zu akzeptieren. Sollte eine solche Abkehr von bisherigen Grundsätzen tatsächlich gewollt sein, müsste dies nicht nur offen gelegt werden. Es bedürfte vielmehr einer überzeugenden Begründung dafür, warum das bisher maßgeblich wirtschaftlich geprägte Verständnis zum Nachteil des Täters geändert werden soll.96 Für die hier allein zu leistende Beurteilung der Grenzüberschreitung in den einschlägigen Fallgruppen gilt angesichts dieser schwierigen Gemengelage von wirtschaftlichen und normativen Komponenten beim Vermögensbzw. Schadensbegriff, dass das Vorliegen einer Fiktion im dargestellten Sinne nicht als ausschließliches Kriterium dienen kann. Zu fingieren mag 93

Vgl. die Darstellung oben unter II. Dazu BVerfG NJW 2009, 2370, 2371; ZIP 2010, 1596, 1601; SSW-Saliger, § 266 Rn. 51 - jew. m. w. N. 95 BGH NJW 1975, 1234, 1235. Diese Entscheidung ist bis heute maßstabsprägend, vgl. nur BVerfG NJW 2009, 2370, 2371. 96 Für die Kompensationseignung auch bemakelter Vermögensgegenstände spricht (am Beispiel der Untreue), dass § 266 StGB als Vermögensschädigungsdelikt nicht die Aufgabe hat, Recht und Moral in geschäftlichen Beziehungen zu gewährleisten, sondern das Individualvermögen vor Beeinträchtigungen zu schützen (richtig Schünemann [Fn. 67], S. 38). Wer bei der Berücksichtigung der anzurechnenden Vorteile nach Gesetzes-/Sittenwidrigkeit selektiert, streicht in der Sache das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens, da „verbotene Geschäfte schon angesichts ihrer Pflichtwidrigkeit als Untreue bestraft“ würden (vgl. Kempf, in: FS Volk, 2009, S. 231, 244). 94

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- ebenso wie die punktuelle Berücksichtigung normativer Elemente bei der Schadensfeststellung97 - in einzelnen Fällen zulässig sein. Zwingend unzulässig ist es jedoch, wenn nicht mehr unter den Wortlaut des Tatbestandes fallende Sachverhalte im Wege der Fiktion mit tatbestandlich erfassten Fällen gleichgesetzt werden. Eine solche Begründungsfiktion wäre zugleich eine strafrechtlich verbotene Wortlautüberschreitung. Damit rückt das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Analogieverbot als Prüfungsmaßstab in das Zentrum der Betrachtung

2. Vernormativierung und Fiktionalisierung als verbotene Analogie? Das Verbot strafbegründender und strafschärfender Analogie ist eine anerkannte Ausprägung des in Art. 103 Abs. 2 GG niedergelegten Gesetzlichkeitsprinzips.98 Es wird vielfach als „Verlängerung des Bestimmtheitsgebotes in die Praxis der Gesetzesanwendung“ begriffen, da das Primat des Gesetzgebers bzgl. der Bestimmung des strafbaren Verhaltens wertlos wäre, könnte der Rechtsanwender die Strafnormen per Analogie unbegrenzt ausdehnen.99 Es ist den Strafgerichten mithin grundsätzlich verwehrt, Straftatbestände auf Sachverhalte anzuwenden, die vom Normtext nicht mehr erfasst sind.100 Dabei soll nach herrschender Meinung der noch mögliche Wortsinn anhand des alltagssprachlichen Verständnisses der gesetzlichen Begriffe zu ermitteln sein, da die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung aus der Sicht des Bürgers zu beurteilen sei.101 Die hier untersuchte Norma-

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Allein eine solche hält auch der Zweite Senat des BVerfG für zulässig, s. ZIP 2010, 1596, 1603 (Rn. 115) und im folgenden Text unter 3. 98 Stg. Rspr., s. nur BVerfG ZIP 2010, 1596, 1597 m. w. N. Zu den Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips (Rückwirkungsverbot, Verbot strafbegründenden oder strafschärfenden Gewohnheitsrechts, Analogieverbot und Bestimmtheitsgebot) statt vieler Roxin, StrafR AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 7 ff. Eine abweichende Konstruktion findet sich bei Kuhlen, in: FS Otto, 2007, S. 89, 91 ff., der das Gesetzlichkeitsprinzip insgesamt im Sinne eines an den Richter adressierten qualifizierten Gesetzesvorbehalts auffasst. 99 NK-StGB-Hassemer/Kargl, § 1 Rn. 70 f. m. w. N; Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 17; ähnlich Roxin, StrafR AT I, § 5 Rn. 30. 100 St. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 73, 206, 235; aus der Lit. pars pro toto SSW-Satzger, § 1 Rn. 34 ff. 101 Dazu nur BVerfGE 71, 108, 115; zuletzt aber BVerfG NJW 2007, 1666 m. Anm. Simon, wo das Gericht bzgl. der Begriffe „berechtigt“ bzw. „entschuldigt“ in § 142 StGB ergänzend auf den normativen Gehalt der Begriffe abstellt, ohne die Maßgeblichkeit der Umgangssprache jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen. Krit. zur Bezugnahme auf die Umgangssprache Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 111 ff., der anhand der Rspr. zu den Begriffen „Urkunde“ und „Sache“ nachweist, dass die Maßgeblichkeit der Alltagssprache nicht konsequent durchgehalten wird und wohl auch nicht in allen Fällen durchgehalten werden kann. In diesem Sinne auch Kudlich, in: FS Stöckel, 2010, S. 93, 100 ff. (jedenfalls bei Tatbe-

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tivierung des Schadensbegriffes in den einschlägigen Fallgruppen wäre somit dann eine gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verbotene Analogie, wenn die Annahme eines Schadens bzw. Nachteils mit einem umgangssprachlichen Verständnis dieser Begriffe nicht mehr in Einklang zu bringen wäre. Nun zählt es zu den größten Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung des Analogieverbotes, die als Schranke zulässiger Auslegung im Grundsatz anerkannte Wortlautgrenze näher zu bestimmen.102 Meist wird lediglich auf den „möglichen Wortsinn als äußerste Grenze richterlicher Interpretation“103 verwiesen und im Ergebnis letztlich aus dem eigenen Sprachgefühl auf den allgemeinen Sprachgebrauch geschlossen.104 Die damit zusammenhängenden methodischen Fragen können hier nicht weiter vertieft werden. Vielmehr kann nur auf der Basis eines ebensolchen Sprachgefühls geprüft werden, ob dieses die Annahme eines Schadens bzw. eines Nachteils in den einschlägigen Fällen gestattet. Dabei ist für Zweifelsfälle zu bedenken, dass erst eine Überschreitung der Wortlautgrenze den Vorwurf der verbotenen Analogie rechtfertigt.105 Eine gewisse „Großzügigkeit“, die der Porosität der Umgangssprache Rechnung trägt, ist hier bereits deshalb unschädlich, weil das Bundesverfassungsgericht - wie noch gezeigt wird - die verfassungsrechtliche Kontrolldichte gegenüber den Strafgerichten ohnehin über die Prüfung möglicher Wortlautüberschreitungen hinaus ausgedehnt hat. Bei diesem engen Verständnis ist die Annahme einer verbotenen Analogie durch die hier untersuchte „(Ver-)Normativierung“ - um es einmal beispielhaft anhand der Rückverkaufsfälle zu zeigen - nicht überzeugend. Umgangssprachlich ist es nicht fernliegend davon zu sprechen, dass einen Nachteil erleidet, wer für eine ihm bereits gehörende Sache Geld an denjenigen bezahlt, der eigentlich zur unentgeltlichen Herausgabe verpflichtet wäre.106 Die Grenze des möglichen alltagssprachlichen Wortsinnes wird hier jedenfalls nicht überschritten. Tatsächlich deutet sich hier ein Muster an, das sich in allen übrigen einschlägigen Fallgruppen wiederfindet. Die standsmerkmalen mit stärkerem normativem Gehalt muss „die fachsprachliche Verwendung den entscheidenden Maßstab bilden“). 102 Näher NK-StGB-Hassemer/Kargl, § 1 Rn. 78 ff. m. umf. w. Nachw.; vgl. aber Schünemann (Fn. 99), S. 20 ff., der die Umgangssprache in der Mehrzahl der Fälle für prinzipiell tauglich zur Unterscheidung und das Analogieverbot somit für „ohne Schwierigkeiten exekutierbar“ hält; ferner Simon (Fn. 101), S. 121 ff., der sich auch mit der theoretisch bestehenden, in der Praxis jedoch regelmäßig zu aufwändigen Methode empirisch-linguistischer Erhebungen auseinandersetzt. 103 So etwa BVerfG NJW 2009, 2370, 2371 m. w. N; Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 1 Rn. 37; MK-StGB-Schmitz, 2003, § 1 Rn. 58; Fischer, § 1 Rn. 10; SSW-Satzger, § 1 Rn. 38. 104 Simon (Fn. 101), S. 123. 105 Zutr. Schünemann (Fn. 99), S. 21. 106 Vgl. die Nachweise bei BVerfG ZIP 2010, 1596, 1601 (Rn. 99) zur Erläuterung des Begriffs „Nachteil“ in unterschiedlichen Wörterbüchern.

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Korrektur des zunächst wirtschaftlich ermittelten Ergebnisses durch den BGH ist nicht zuletzt - ob nun bewusst oder unbewusst - eine Ausprägung allgemeiner, intuitiver Gerechtigkeitserwägungen, die als solche auch nachvollziehbar sind. Insofern kann es dann aber auch nicht überraschen, wenn sich solche Erwägungen in einem alltagssprachlichen Verständnis der jeweiligen Begriffe wiederfinden. Vielmehr würde man in der Umgangssprache eben Sachverhalte als „nachteilig“ oder „schädigend“ bezeichnen, wenn und weil diese auf der Grundlage eines konsensfähigen Gerechtigkeitsverständnisses als „ungerecht“ für den Betroffenen empfunden werden. Denn in der Alltagssprache bezeichnet man als „Nachteil“ bzw. „Schaden“, was als nachteilig bzw. schädigend empfunden wird - so tautologisch dies auch klingen mag. Ein solches Begriffsverständnis kann aber angesichts der unter Vorhersehbarkeitsgesichtspunkten notwendigen dogmatischen Klarheit nicht die einzige Schranke für die Rechtsanwendung sein. Tatsächlich ergibt sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip denn auch ein strengerer Prüfungsmaßstab, dem das BVerfG vor allem in jüngerer Zeit deutlichere Konturen verliehen hat.107

3. Schadensfiktionen als verfassungsrechtlich unzulässige tatbestandserweiternde Auslegung Bereits früh hat das BVerfG klargestellt, dass der Begriff der (verbotenen) Analogie nicht „im engeren technischen Sinne“ zu verstehen sei, sondern dass jede Auslegung vor dem Hintergrund des Gesetzlichkeitsprinzips ausscheide, „die - tatbestandsausweitend - über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht“.108 Es komme in Betracht - so der Zweite Senat deutlich in der jüngsten Entscheidung zur Untreue -, „dass bei methodengerechter Auslegung ein Verhalten nicht strafbewehrt ist, obwohl es vom Wortlaut des Strafgesetzes erfasst sein könnte“.109 Auch in diesen Fällen sei den Gerichten die Bestrafung verfassungsrechtlich verwehrt. Unzulässig soll ferner eine Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale sein, die zur Folge hat, dass diese „vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen)“.110 Zudem hat das BVerfG in der jüngsten Entscheidung zum Nachteilsbegriff i. S. d. § 266 StGB - insofern aber mit Geltungsanspruch auch für die inhaltlich parallel zu 107

Näher dazu etwa Küper, NStZ 2008, 597 ff.; Beulke, in: FS Maiwald, 2010, S. 21, 25 f. Vgl. zuletzt BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 (Rn. 78) m. w. N. zur stg. Rspr. 109 BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 (Rn. 80). 110 BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 (Rn. 79), 1603 (Rn. 113). 108

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bestimmenden Merkmale in den §§ 263, 253 StGB - explizit geäußert, dass bei der Schadensfeststellung zwar normative Erwägungen „eine Rolle spielen können“, jedoch zwecks Bewahrung des Charakters der Untreue als Vermögens- und Erfolgsdelikt „wirtschaftliche Überlegungen nicht verdrängen“ dürften.111 Dieser Maßstab vergrößert die Zweifel an der Zulässigkeit der normativen täterbelastenden Erwägungen des BGH in den hier behandelten Fallgruppen. So ist etwa in den Fällen des Submissionsbetruges ebenso wie in den Kick-Back-Sachverhalten zu konstatieren, dass die dort angenommenen Mindestschäden reine Behauptungen darstellen, deren Begründung eines wirtschaftlichen Maßstabs letztlich vollständig entbehrt. Der wirtschaftliche Wert eines Vermögensobjekts ergibt sich im Ausgangspunkt daraus, was ein gedachter Dritter für die entsprechenden Leistungen bezahlt hätte. Dies ist in der Regel der Marktpreis, den es in Submissionsfällen typischerweise nicht gibt. Hier lässt sich allenfalls ein angemessener Preis (bzw. ein Preisrahmen) schätzen.112 Will man einen Schaden annehmen, obwohl dieser Preis-/Preisrahmen wie in den einschlägigen Fällen nicht überschritten wurde,113 so lässt sich dies wirtschaftlich nur begründen, wenn eine vermögenswerte Aussicht auf einen niedrigeren Vertragsabschluss bestand. Ein wirtschaftlicher Wert kommt einer Gewinnaussicht aber nur zu, wenn diese gegenüber einem potentiellen Erwerber in Geld umgesetzt werden könnte. Für tatsächlich nicht realisierbare Gewinnaussichten würde jedoch kein wirtschaftlich rational handelnder Marktteilnehmer etwas zahlen. Diese sind folglich wirtschaftlich wertlos. Ihre Berücksichtigung im Rahmen der wirtschaftlichen Vermögenssaldierung ist insofern ein rein normatives Konstrukt. Deshalb spricht vieles dafür, in den einschlägigen Fällen eine vom Zweiten Senat des BVerfG zu Recht für unzulässig erklärte Verdrängung wirtschaftlicher Erwägungen anzunehmen. In zukünftigen Fällen wird sich daher der Begründungsaufwand in Fällen des Submissionsbetruges bzw. in Kick-Back-Konstellationen deutlich erhöhen. Ohne plausible Ausführungen dazu, dass eine realistische Aussicht auf einen günstigeren Vertragsab-

111

BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 (Rn. 115). Was das konkret bedeutet, bleibt allerdings unklar. 112 Nach Schönke/Schröder-Cramer/Perron, § 263 Rn. 137a verbietet sich in Submissionsfällen regelmäßig ein Vergleich zwischen Leistung und Gegenleistung nach den für den Eingehungsbetrug maßgeblichen Grundsätzen, weil im Gegensatz zu sonstigen Wirtschaftsgütern eine Ausschreibung von Bauleistungen immer einen kombinierten Leistungs-, Qualitäts- und Preiswettbewerb darstellt, der eine Verengung auf den Preis als einzigen Parameter der Ausschreibung nicht zulässt. 113 Sofern der Marktpreis überschritten wird, die Sache bzw. Leistung also „ihr Geld nicht wert ist“, bereitet die Feststellung eines Schadens keine besonderen Schwierigkeiten.

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schluss tatsächlich vereitelt wurde, sind solche Schadensbegründungen verfassungsrechtlich kaum noch haltbar. Grundlegende (Zulässigkeits-)Zweifel ergeben sich in Anwendung der jüngst vom BVerfG aufgestellten Kriterien auch hinsichtlich des Abrechnungsbetruges. Zwar ist es richtig, dass die Leistung gegenüber dem Empfänger formalrechtlich nicht hätte erbracht werden müssen und dass es wirtschaftlich grundsätzlich nicht sinnvoll ist, Zahlungen zu leisten, zu denen man nicht verpflichtet ist. Aber ein solches Verständnis ließe gerade außer Acht, dass - in den hier allein behandelten Fällen der medizinisch indizierten, lege artis durchgeführten Behandlung – die gleichen Zahlungen für die gleiche Tätigkeit an anderer Stelle hätten erbracht werden müssen. Ob das Honorar aber nun gegenüber einem zugelassenen oder gegenüber einem nicht zugelassenen Arzt gezahlt wird, ist wirtschaftlich bedeutungslos, solange die Leistung des Arztes ihren Preis wert ist. Somit beruht die Nichtanerkennung der Kompensationswirkung einer marktgerechten Leistung auf einer Fiktion, die einen wirtschaftlichen Maßstab praktisch vollständig verdrängt. Ebenso wenig lässt sich das vom BGH in den Rückverkaufsfällen gefundene Ergebnis auf wirtschaftliche Erwägungen stützen. Der Rückerwerb ist nämlich immer genau dann wirtschaftlich sinnvoll, wenn die Zahlung des Rückkaufspreises und die Chance auf die unentgeltliche Wiedererlangung des Tatobjekts zusammen weniger wert sind als die Verfügungsmacht über das Tatobjekt. Der Wert eines Herausgabeanspruches gegenüber einem unbekannten Dieb geht aber regelmäßig gegen null. Damit scheidet ein Schaden bei wirtschaftlicher Betrachtung aus, weil der verlangte Rückkaufpreis zumeist deutlich unter dem objektiven Sachwert liegt. In diesem Fall ist der Rückerwerb ein wirtschaftlich vernünftiges Geschäft (dem die beteiligten Versicherungen fast immer zustimmen). Dass es als „ungerecht“ empfunden wird, wenn jemand Geld für eine Leistung erhält, die er rechtlich unentgeltlich erbringen müsste, lässt diese zweckrationale Betrachtung unberührt. Solche normativen Erwägungen dürfen - gemäß den Vorgaben des BVerfG - nicht den wirtschaftlichen Grundansatz zu Ungunsten des Angeklagten ersetzen. Schließlich und insbesondere lässt sich das vom 5. BGH-Strafsenat im Fall „Hoyzer“ gefundene Ergebnis vor dem Hintergrund der jüngsten Entscheidung des BVerfG nur schwer aufrecht erhalten. Dort ist es nicht nur so, dass aus einer womöglich unzutreffend kalkulierten Quote in wirtschaftlich nicht nachvollziehbarer Weise auf einen „Quotenschaden“ geschlossen und eine abstrakte Aussicht des Wettanbieters auf eine bestimmte Gewinnmarge in eine konkrete Exspektanz umgedeutet wird. Vielmehr zeigt sich hier auch eine „Verschleifung“ von Täuschung und Vermögensschaden, die vom Zweiten Senat des BVerfG explizit für die Auslegung aller strafrechtlichen

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Tatbestandsmerkmale untersagt wurde.114 Denn die (konkludente) Täuschung wurde letztlich ausschließlich auf die Abgabe eines Wettscheines trotz der beabsichtigten Manipulation des wettgegenständlichen Spieles gestützt. Angesichts der anschließenden Begründung des „Quotenschadens“ ist dieser durch die Täuschung bereits vollständig mitverwirklicht. Eine eigenständige Feststellung des Schadens erfolgt demgegenüber nicht mehr. Gerade eine solche Auslegung hat das BVerfG für unzulässig erklärt. Somit ist für alle hier behandelten Fallgruppen gezeigt worden, dass die stark normativ geprägten Begründungsansätze der Rechtsprechung kaum mehr als „Spurenelemente“ wirtschaftlicher Erwägungen bei der Schadensfeststellung übrig lassen. Da der prinzipiell wirtschaftlich ausgerichtete Charakter des Vermögens- und Schadensbegriffs aber grundsätzlich anerkannt ist und gerade auch durch das BVerfG bestätigt wurde, ist die in der jüngeren Vergangenheit vielfältig geäußerte Kritik somit in ihrem Kern berechtigt. Sie hat durch die jüngste verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zusätzlichen Nachdruck erhalten. Fallgruppenübergreifend ist die „Normativierung“ des Schadensbegriffes zudem deshalb bedenklich, weil die Konturen des Vermögens- bzw. Vermögensschadensbegriffs angesichts des scheinbar kriterienlosen Wechsels zwischen wirtschaftlichen und normativen Erwägungen mehr und mehr verschwimmen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung realistischerweise niemals durch die gesetzgeberische Formulierung allein gewährleistet werden kann,115 trifft die Strafgerichte bei der Rechtsanwendung die Pflicht, an einer Konkretisierung und Präzisierung mitzuwirken.116 Einen solchen Konkretisierungsbedarf machte der Zweite Senat des BVerfG jüngst insbesondere beim Begriff des Vermögensnachteils aus, da dessen Bezugsobjekt - das Vermögen - sich einer sinnlichen Wahrnehmung entziehe.117 Der dahinter stehende plausible Gedanke lautet: Bezieht sich ein Straftatbestand auf einen schwer fassbaren 114

BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 (Rn. 79) m. w. N. Bislang wurde die Verschleifungsproblematik vornehmlich im Hinblick auf Pflichtverletzung und Vermögensnachteil bei der Untreue diskutiert, dazu näher SSW-Saliger, § 266 Rn. 8 m. w. N., der diesen Vorwurf jetzt auch gegenüber der BGH-Lösung im Fall „Hoyzer“ erhebt (so ders., in: FS Samson, 2010, S. 455, 459, 481). 115 Dies ist angesichts der notwendig abstrakten Formulierung von Straftatbeständen bzw. der Vielgestaltigkeit sozialschädlichen Verhaltens im Ausgangspunkt unstreitig, vgl. zuletzt etwa Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 1 Rn. 19 ff.; Kuhlen, in: FS Otto, S. 89, 94 f.; NKStGB-Hassemer/Kargl, § 1 Rn. 16 ff. - jew. m. w. N. Vor diesem Hintergrund die strafgesetzliche Bestimmtheit als „rechtsstaatliche Utopie“ zu bezeichnen (so der Titel des Beitrags von Schmidhäuser, in: GS Martens, 1987, S. 231 ff.), dürfte jedoch etwas überzogen sein. 116 BVerfG ZIP 2010, 1596, 1598 f. (Rn. 81); näher zum „Gebot bestimmter Gesetzesauslegung“ Kuhlen, in: FS Otto, 2007, S. 89, 102 ff. 117 BVerfG 2010, 1596, 1601 (Rn. 103).

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Teil der sozialen Realität, so steigen die Anforderungen an eine präzisierende Auslegung der entsprechenden Tatbestandsmerkmale. Wird aber der zunächst behauptete wirtschaftliche Kern des Schadensbegriffs immer wieder in unterschiedlichen Fallgestaltungen durch einzelfallbezogen angewandte normative Erwägungen bis zur Unkenntlichkeit verwischt, so verfehlt eine solche Auslegung diese der Rechtsprechung obliegende Präzisierungspflicht. Solange die - wohl nicht vollständig vermeidbare Berücksichtigung normativer Elemente bei der Schadensfeststellung also nicht an ein Mindestmaß eingrenzender Kriterien geknüpft wird, die im Rahmen des Möglichen die täterbelastenden Auswirkungen vorhersehbar machen, sind verfassungsrechtliche Bedenken angesichts der dezidierten Vorgaben des Zweiten Senats nicht von der Hand zu weisen.

4. Dogmatische Folgen einer (unzulässigen) Normativierung des Vermögensschadens Die Abkehr von der Bestimmung des Vermögensschadens nach wirtschaftlichen Maßstäben hat jenseits des Verfassungsrechts auch einen (einfach-)dogmatischen Preis. Sobald die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Leitgedanke im Umgang mit dem Rechtsgut „Vermögen“ ganz oder teilweise aufgegeben wird und an ihre Stelle normative Erwägungen unterschiedlichster Art treten, prägen diese den Schutzzweck des Delikts mit bzw. dominieren ihn vollständig. Die mit dieser Entkernung des (Original-)Rechtsguts einhergehenden Rechtsgutsvertauschung lässt sich am Beispiel einiger der besprochenen Fallgruppen gut demonstrieren.118 Wer trotz erbrachter vollwertiger Arztleistungen von einem Schaden (in Höhe des gezahlten Honorars) ausgeht, weil formale, aus dem Sozialversicherungsrecht stammende Kriterien (wie die Kassenarztzulassung) im Abrechnungszeitpunkt nicht erfüllt waren, schützt mit dem Betrugstatbestand ersichtlich etwas anderes als das Vermögen der Krankenkassen. Einen solchen, von der Rechtsprechung durch extensive Normauslegung geschaffenen „Sozialversicherungsbetrug“ kennt das geltende StGB nicht; er müsste bei einem entsprechenden Strafbedürfnis gesondert vom Gesetzgeber eingeführt werden.119 Wenn sich die Rechtsprechung weiter in den Submissions118

Das Argument inakzeptabler Rechtsgutsvertauschungen wurde bisher vornehmlich im Zusammenhang mit der Aufstellung objektiver Einwilligungsschranken diskutiert, vgl. - im Untreue-Kontext - Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 923 ff. m. w. N. 119 Vgl. Volk, NJW 2000, 3385, 3388: „Anderenfalls würde man praeter und contra legem einführen, was es nicht gibt: den Sozialversicherungsbetrug als Straftatbestand, der neben Vermögensinteressen noch andere Interessen schützt, wie beispielsweise die ‚Funktion’ und die ‚Leistungsfähigkeit’ der Sozialversicherung, die Bedarfsplanung im Arztrecht, berufsständische Interessen etc.“.

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betrugsfällen einen Kreis redlicher Bieter als Maßstab denkt (den es angesichts weit greifender Kartelle in der Realität zumeist gar nicht gibt), um auf diese Weise den für den Vermögensvergleich erforderlichen hypothetischen Wettbewerbspreis ermitteln zu können, verdrängen auch in diesem Fall normative Aspekte (konkret: das gesollte Verhalten redlicher Bieter) die wirtschaftliche Betrachtung. So verständlich ein solches Verfahren vor dem Hintergrund möglicher Strafwürdigkeitsüberlegungen auch sein mag: Geschützt wird hier mangels (nachweisbaren) Schadens letztlich der „ungestörte Wettbewerb bzw. das Vergabeverfahren selbst“.120 Der Gesetzgeber hat daher 1997 - unter Rechtsgutsgesichtspunkten zutreffend - in § 298 StGB einen Sondertatbestand geschaffen, um wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen strafrechtlich verfolgen zu können. Im „Hoyzer“-Fall schließlich hat der 5. BGH-Strafsenat eine höchst dubiose Schadenskonstruktion gewählt, an deren Einsatz er letztlich bei der (unmöglichen) Bemessung des Schadens selbst gescheitert ist.121 Wiederum wird - diesmal zum Schutz der „Redlichkeit im Sportwettenverkehr“122 oder der „Lauterkeit des sportlichen Wettbewerbs“ - ein Schaden (und damit ein Vermögensdelikt) angenommen, der sich unter Rückgriff auf die anerkannten Prinzipien der Schadensberechnung nicht begründen lässt - der Schutzzweck der Strafnorm also nach eigenem Gutdünken gestaltet.123 Im Fahrwasser der Rechtsgutsvertauschung findet dann regelmäßig eine Änderung des Deliktscharakters statt, die hinsichtlich verschiedener, von der Rechtsprechung ausgestanzter Fallgruppen zu Recht immer wieder gerügt wurde. Kommt es auf einen Vermögensschaden - festgestellt nach wirtschaftlichen Grundsätzen - nicht mehr an und reicht nach der Rechtsprechung für eine Strafbarkeit aus einem Vermögensdelikt vielmehr die Schaffung bloß abstrakter Gefahren aus, drängt sich die Verwandlung der in den §§ 263 und 266 StGB als Verletzungserfolgsdelikte ausgestalteten Tatbestände in abstrakte Gefährdungsdelikte förmlich auf. Zu einer solchen Tatbestandsumgestaltung ist aber nur der Gesetzgeber berechtigt. Der Vorwurf einer kompetenzübergreifenden (Auslegungs-)Tätigkeit trifft den BGH sicher im „Hoyzer“-Urteil, da hier der Senat eine „Quotendifferenz“ an die 120

Vgl. Best, GA 2003, 157, 169. Vgl. nur Saliger, in: FS: Samson, 2010, S. 455, 459: Beim behaupteten Quotenschaden handelt es sich lediglich um „eine virtuelle, nicht aktuelle Vermögensminderung, die vor dem Abschluss des Wettereignisses in Geld gar nicht bestimmt werden kann“; auch Petropoulos/P. und I. Morozinis, wistra 2009, 254, 257 f. 122 Petropoulos/P. und I. Morozinis, wistra 2009, 254, 259. 123 Insbesondere in Reaktion auf das „Siemens“-Urteil (BGHSt 52, 323) ist dem BGH vorgeworfen worden, er verwandele den Untreuetatbestand - ein Vermögensschädigungsdelikt - in ein „Vermögensfreiheitsdelikt“, womit die Grenze zu den Eigentumsdelikten verschwimme (statt vieler Saliger, in: FS Samson, 2010, S. 455, 464 m. w. N.). 121

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Stelle des Betrugsschadens gesetzt hat. In die gleiche Richtung zielende Angriffe gibt es auch zur dogmatischen Behandlung des „Al-Qaida“-Falles sowie - insbesondere – der schwarzen Kassen in der „Siemens“Entscheidung, bei denen abstrakte Vermögensgefahren zu Vollendungsbzw. Endschäden aufgewertet wurden. Ein letztes Beispiel: Sofern die Täuschung über den „Status“ (zum Beispiel als Kassenarzt) oder das Vorliegen anderer Formalkriterien wie in bestimmten Abrechnungsszenarien als Betrug eingestuft wird, lässt das ebenfalls den Deliktscharakter nicht unberührt. Denn die auch hier stattfindende - und bereits angesprochene - „Verschleifung“ von Tathandlung und Erfolg führt notwendig zu einer massiven Vorverlagerung des Deliktsgeschehens, mag sich der auf diese Weise geschaffene Straftatbestand zum Schutz des „eingetauschten“ Rechtsguts („Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung“ o. ä.) dann als Erfolgs- oder Gefährdungsdelikt darstellen. Dass eine Strafrechtsanwendung mit dieser Art der Normativierung den Charakter des Strafrechts als „Ultima ratio der Sozialpolitik“124 aufs Spiel setzt, weil nicht nur sozialschädliches Verhalten, sondern bereits schlicht unerwünschtes Gebaren kriminalisiert wird, ist offensichtlich. Die Rechtsprechung sollte sich hier etwas zurücknehmen, um die Rechtsstaatlichkeit und damit die Akzeptanz der Veranstaltung „Strafrecht“ nicht zu gefährden.

V. Fazit Als Ergebnis der Untersuchung ist festzuhalten: Die Rechtsprechung hat in den aufgezeigten Bereichen der Schadensfeststellung einen Grad an Normativierung erreicht, der sich weit vom bisher konsentierten Grundansatz einer im Kern wirtschaftlichen Betrachtung des Schadens entfernt; bei einem rein wirtschaftlichen Bezugspunkt lässt sich daher durchaus von einer Fiktionalisierung des Schadens sprechen. Damit ist aber noch nichts über die Zulässigkeit dieser Dogmatik gesagt. Sie entscheidet sich im Wesentlichen anhand von Kriterien, die aus dem Verfassungsrecht stammen und 2010 durch das BVerfG in seinem Juni-Beschluss zur Untreuestrafbarkeit verfeinert worden sind. Zwar wird man bei einem weiten Wortlaut- und engen (technischen) Analogieverständnis nicht sagen können, die Gerichte hätten in den hier diskutierten Fällen durch die Annahme eines Schadens bei der Auslegung dieses Begriffs die mögliche Wortlautgrenze überschritten und daher eine verbote124

Dieser Charakter hat durch die Hyperaktivität des (Straf-)Gesetzgebers in den letzten Jahren ohnehin schon stark gelitten.

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ne Analogie zu Lasten des Beschuldigten betrieben. Nach Ansicht des BVerfG liegt eine (tatbestandserweiternde) unzulässige Interpretation des Schadensmerkmals aber auch dann vor, wenn bei seiner Bestimmung wirtschaftliche Aspekte gegenüber normativen Erwägungen in den Hintergrund treten („verdrängt werden“) oder das Tatbestandsmerkmal „Schaden“ vollständig in der Tathandlung aufgeht („Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen“). Darüber hinaus muss sich der Nachteil - von eindeutig greifbaren Mindestschäden abgesehen - in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise ermitteln und in der Höhe beziffern lassen. An der Einhaltung dieser Kriterien in den besprochenen Fällen gibt es - wie ausgeführt - große Zweifel; als vor diesem Hintergrund verfassungswidrig müssen (wohl) die Lösungen zur Sportwette und zum Abrechnungsbetrug bewertet werden. Aus unzulässigen Normativierungen/Fiktionalisierungen folgen dann regelmäßig Rechtsgutsvertauschungen und die Änderung des Deliktscharakters.

Die Neuausrichtung der passiven Sterbehilfe Der Fall Putz im Urteil des BGH vom 25.6.2010 – 2 StR 454/09 HENNING ROSENAU

I. Aktuelle Leitentscheidungen im Biorecht Nach relativer Ruhe haben zentrale Streitfragen des Biorechts1 in der ersten Hälfte des Jahres 2010 die Justiz erreicht. Der 5. Strafsenat erklärt die Präimplantationsdiagnostik mit § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG für vereinbar.2 Das ist zutreffend, weil diesem Strafgesetz aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 Abs. 2 GG der strafrechtliche Absichtsbegriff zugrundezulegen ist. Dolus directus 1. Grades ist auch dann anzunehmen, wenn eine Absicht unter einer objektiven Bedingung steht. Mithin wird die Schwangerschaft mit einem nicht schwer geschädigten Kind als erwünschter Erfolg bei der In-vitro-Fertilisation auch dann bezweckt, wenn der Erfolgseintritt noch unsicher und erst nach erfolgter PID sicher ist.3 Der EGMR verurteilt Österreich, weil das im österreichischen Recht vorgesehene Verbot des heterologen Embryotransfers nach einer Eispende und das Verbot der Samenspende eine unzulässige Diskriminierung sein soll.4 Ein Urteil, das auch weitreichende Konsequenzen für Deutschland haben wird und das Verbot der Leihmutterschaft in Frage stellt.5 Das OLG Rostock reduziert teleologisch 1 Zum Biorecht als Teilmaterie des Medizin- und Gesundheitsrechts Rosenau Reproduktives und therapeutisches Klonen, in: Amelung u.a. (Hrsg.), FS Schreiber, Heidelberg 2003, S. 761; skeptischer nun Schreiber Biomedizin und Biorecht in: Lilie u.a. (Hrsg.), Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, Baden-Baden 2009, S. 11 ff. 2 BGH, Urteil vom 6.7.2010 – 5 StR 386/09. 3 Schroth Forschung mit embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik im Lichte des Rechts, JZ 2002, 170, 174; Günther in: Günther u.a., Embryonenschutzgesetz, Stuttgart 2008, § 1 Abs. 1 Nr. 2, Rn. 21 m.w.N.; insoweit ist die Kritik von Merkel Lebensrecht und Gentest schließen sich aus, Die Zeit vom 3.8.2010, unberechtigt. 4 EGMR, Urteil vom 1.4.2010 – S.H. and Others v. Austria – 57813/2000, RdM 2010, 85 ff., dazu die Anmerkung von Bernat RdM 2010, 88 ff. 5 Bernat (Fn. 4), 90. Für die Schweiz Rütsche/Wildhaber Anm. zum Urteil des EGMR (Fn. 4), AJP 2010, 803, 806 f.

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das Verbot der post-mortem-Befruchtung in § 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG um Fälle, bei denen die Imprägnierung von Eizellen und damit das Entstehen von Embryonen im Vorkernstadium noch vor dem Tod des Mannes erfolgt ist. So kann es der Frau die Herausgabe der kryokonservierten Zellen gem. § 985 BGB zusprechen.6 In diese Reihe Aufsehen erregender Judikate reiht sich nun auch der 2. Strafsenat des BGH ein, der unter Vorsitz von Rissing-van Saan am 25.6.2010 einen Fall der Sterbehilfe zu beurteilen hatte und die passive Sterbehilfe im überkommenen Sinne neu strukturiert. Mit der Entscheidung wird nicht nur eine schwelende Rechtsunsicherheit unter Medizinern beseitigt. Die Entscheidung räumt zugleich mit dem Mantra zahlreicher Rechtswissenschaftler und Rechtspolitiker auf, dass es keine Formen von aktiver Euthanasie in Deutschland geben dürfte. Vielmehr sei die aktive Sterbehilfe von der passiven bzw. indirekten Sterbehilfe strikt zu trennen.7 Das vorliegende Urteil entlarvt diese Annahme als Lebenslüge, indem es der Erkenntnis den Weg bahnt, dass es Situationen gibt, in denen auch die aktiv vorgenommene Tötung zulässig und geboten ist. Das wusste man bei der indirekten Sterbehilfe schon lange, und es ist auch für Teilbereiche der passiven Sterbehilfe bereits diskutiert worden. Nunmehr liegt eine höchstrichterliche Entscheidung vor, die sich dieser Einsicht stellt. Glasklar formuliert der „amtliche“ Leitsatz 2: „Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.“8 Dem Urteil ist angesichts des herrschenden Tabus bei Fragen der aktiven Sterbehilfe für seinen Mut Anerkennung zu zollen. Offene Fragen, die bleiben, erscheinen demgegenüber zweitrangig.

II. Der Sachverhalt Rechtsanwalt Putz aus München gilt als Verfechter einer strikten Achtung der Selbstbestimmung unheilbar Kranker und Sterbender, auch im Hinblick auf Behandlungseinschränkung und Behandlungsverzicht.9 Er hat in seiner Funktion oftmals versucht, diese Haltung juristisch zur Geltung zu bringen – bis hin zur fragwürdigen Strafanzeige gegen einen Vormundschaftsrich6

OLG Rostock, Urteil vom 7.5.2010 – 7 U 67/09. Holzhauser Patientenautonomie, Patientenverfügung und Sterbehilfe, FamRZ 2006, 518, 524. 8 Hervorhebung durch Verf. 9 Vgl. Putz/Steidinger Patientenrechte am Ende des Lebens, 3. Aufl. München 2007; Putz Strafrechtliche Aspekte der Suizid-Begleitung im Lichte der Entwicklung von Rechtsprechung und Lehre zur Patientenverfügung, in: Schöch u.a. (Hrsg.), FS Widmaier, München 2008, S. 701 ff. 7

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ter, der die passive Sterbehilfe in einem Verfahren nicht zugelassen hat.10 Nun stand er als Angeklagter selbst vor den Schranken des LG Fulda und wurde von diesem auch wegen gemeinschaftlich versuchten Totschlags gem. §§ 212, 22, 23, 25 Abs. 2 StGB verurteilt.11 Es ging um eine 76 Jahre alte Komapatientin. Diese war 2002 nach einer Hirnblutung in ein Wachkoma gefallen und seitdem nicht mehr ansprechbar. Nach fünf Jahren und einer Amputation des linken Armes war sie Ende 2007 bei einer Körpergröße von 1,59 m auf 40 kg abgemagert. Da eine Besserung dieses Zustandes nicht mehr zu erwarten war, hatten sich der Hausarzt und die Tochter als Betreuerin zum Behandlungsabbruch entschieden und die künstliche Ernährung eingestellt. Sie hatten auch damit begonnen, die Flüssigkeitszufuhr zu reduzieren. Der Arzt sah keine Indikation für eine weitere Behandlung. Ein entsprechender mutmaßlicher Wille der Betroffenen konnte festgestellt werden. Diese hatte sich im Jahr 2002 nach einer Hirnblutung beim Ehemann gegenüber ihren Kindern dahin geäußert, dass sie für den Fall der Bewusstlosigkeit keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung und Beatmung wünsche. Sie wolle nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden. Zunächst hatte sich das Altenheim in Bad Hersfeld an eine Verständigung gehalten, wonach sich das Pflegepersonal lediglich um die Pflegetätigkeit im engeren Sinne kümmern sollte, während die Betreuerin die künstliche Ernährung einstellen und palliative Maßnahmen durchführen sollte. Die Gesamtgeschäftsleitung intervenierte indes und forderte die Betreuerin auf, die Ernährung wieder aufzunehmen. Es wurde mit einem Hausverbot gedroht und angekündigt, die Patientin eigenmächtig weiterzubehandeln. Daraufhin durchtrennte die Betreuerin den Schlauch der PEG-Sonde, durch den die Patientin künstlich ernährt wurde. Putz hatte dies der Betreuerin geraten. Die Patientin wurde auf Anordnung der Staatsanwaltschaft zwar noch in ein Krankenhaus verbracht, starb dort aber wenige Tage später eines natürlichen Todes. Die Betreuerin saß neben Putz auf der Anklagebank, ist aber selbst vom versuchten Totschlag freigesprochen worden, weil sie aufgrund des anwaltlichen Rates einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum (§ 17 StGB) unterlegen sei.

10 Indem der in einer Vorsorgevollmacht Genannte nicht als Betreuer eingesetzt wurde, GenStA Nürnberg, NStZ 2008, 343, 344. 11 LG Fulda, Urteil vom 30.4.2009 – 16 Js 1/08, ZfL 2009, 97.

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III. Rechtliche Einordnung 1. Passive Sterbehilfe Prüfen wir zunächst, ob sich der Sachverhalt nicht zwanglos unter die Fälle passiver Sterbehilfe einreihen lässt, die längst anerkannt sind. Der Fall Putz brächte dann wenig Neues.

a) Art und Stadium der Erkrankung Die passive Sterbehilfe ist in Deutschland als rechtlich zulässige Begrenzung der medizinischen Behandlung anerkannt, unter bestimmten Umständen sogar geboten. Sie kommt zum einen in der letzten Lebensphase beim Sterben zum Tragen, wenn das Grundleiden des Patienten nicht mehr kurativ behandelt werden kann und unumkehrbar einen tödlichen Verlauf angenommen hat, so dass in kurzer Zeit der Tod eintreten wird. Der Sterbevorgang hat also bereits eingesetzt, so dass eine unmittelbare Todesnähe gegeben ist. Man spricht dann von der Hilfe beim Sterben. In der Kemptener Entscheidung aus dem Jahr 1994 sieht der BGH hierin noch den eigentlichen Fall der passiven Sterbehilfe.12 Geht es um die Hilfe beim Sterben, ist eine ärztliche Behandlung nicht mehr indiziert, der Sterbende hat damit auch keinen Anspruch mehr auf den Einsatz aller technisch möglichen Maßnahmen zur Lebensverlängerung. Die Komapatientin im Fall Putz war zwar zunehmend verfallen. Ihr Tod stand aber keineswegs unmittelbar bevor. Ihr wurde keine Hilfe beim Sterben geleistet. Passive Sterbehilfe ist darüber hinaus aber auch als Hilfe zum Sterben anerkannt, wenn die Krankheit einen unheilbaren Verlauf genommen hat, und zwar auch schon dann, wenn etwa der komatöse Patient noch längere Zeit mit Hilfe der Apparaturen am Leben gehalten werden könnte. In diesen Fällen können lebensverlängernde, insbesondere intensivmedizinische Maßnahmen unterbleiben. Was bereits eingeleitet wurde, wie die künstliche Beatmung, Dialyse oder Antibiotikagabe, kann wie hier abgebrochen werden. Der BGH hatte sich in der Kemptener Entscheidung noch vorsichtig geäußert und von Sterbehilfe im weiteren Sinne gesprochen.13 Der XII. Zivilsenat hat diese Vorsicht missverstanden und in seiner, später noch aufzugreifenden Leitentscheidung sogar noch enger dahin formuliert, dass für eine Sterbehilfe kein Raum sei, wenn das Grundleiden des Betroffenen noch 12 13

BGHSt 40, 257, 260. BGHSt 40, 257, 260.

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keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hätte.14 Die Vorsitzende dieses Senates hatte Mühe, jenes Missverständnis durch spätere literarische Äußerungen aus der Welt zu räumen. Auch der XII. Zivilsenat habe nicht den Abbruch der künstlichen Ernährung bei Wachkomapatienten schlechthin für unzulässig erklären wollen.15 In der Tat dürfte es in der Rechtsprechung wie in der herrschenden Lehre anerkannt sein, dass die Beachtung des Patientenwillens nicht nur bei unmittelbarer Todesnähe zu erfolgen hat, selbst wenn das den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zur Folge hat. Alles andere wäre mit dem Selbstbestimmungsrecht nicht vereinbar, weil es bei Dementen und Komatösen zu Zwangsbehandlung und Zwangsernährung führte.16 Gleichwohl blieb lange umstritten, ab welchem Fortschreiten einer Erkrankung überhaupt von Sterbehilfe gesprochen werden konnte, ob dazu auch Todesnähe oder jedenfalls eine irreversibel und tödlich verlaufende Krankheit zu verlangen war und wann das jeweils angenommen werden konnte. Der Gesetzgeber hat solchen Reichweitenbeschränkungen17 zulässiger Sterbehilfe mit dem 1.9.2009 durch das sog. Patientenverfügungsgesetz (PatVG) vom 29.7.200918 nach schwierigem Ringen im Bundestag eine Absage erteilt. § 1901a Abs. 3 BGB regelt nun klipp und klar, dass es auf Art und Stadium einer Erkrankung nicht mehr ankommt.

b) Patientenwille Daneben ist der Wille des Patienten entscheidend. Dieser kann ausdrücklich gegenüber Dritten oder im Rahmen einer Patientenverfügung nach § 1901a BGB schriftlich erklärt worden sein. Fehlt es an einem solchen ausdrücklichen Willen, ist der mutmaßliche Patientenwille maßgeblich.19 Ob danach noch auf allgemeine Wertvorstellungen abgestellt werden kann, wie der BGH im Kemptener Fall annahm,20 ist Gegenstand heftiger Kontroversen geworden. Die aktuelle Entscheidung geht auf diese Frage nicht ein, sie war angesichts eines ausdrücklich erklärten Willens nicht entscheidungserheblich. Genannt werden nur dieser erklärte Wille sowie der mutmaßliche Wille: was konsequent erscheint, wenn zutreffend die Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten in den Blick genommen 14

BGHZ 154, 205, 215. Etwa Hahne Die Rechtsprechung des XII. Zivilsenates des Bundesgerichtshofs zur Frage der Patientenautonomie am Ende des Lebens, DRiZ 2005, 244, 246. 16 Kutzer Sterbehilfe, DRiZ 2005, 257, 261; Hahne (Fn.15), 246. 17 Vgl. den abgelehnten Entwurf Bosbach, BTDrs. 16/11360. 18 BGBl. I, 2286 f. 19 Vgl. auch BGHZ 154, 205, 211. 20 BGHSt 40, 257, 263; zustimmend SSW-StGB/Momsen Vor §§ 211 ff. Rn. 28. 15

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wird.21 Dieses hatte allerdings auch der 1. Strafsenat in der Kemptener Entscheidung vor Augen,22 und gleichwohl gegebenenfalls auf Kriterien allgemeiner Wertvorstellungen zurückgreifen wollen. Ob man darauf wirklich wird verzichten können, bleibt fraglich. Denn die Konsequenz, nach dem Prinzip in dubio pro vita zu verfahren und ein Sterben in Würde nicht zuzulassen, kann in gleicher Weise Fremdbestimmung darstellen wie ein Handeln danach, was ein durchschnittlicher vernünftiger Patient in der konkreten Situation fordern wollte. Dem BGH ist auch zuzugeben, dass dessen Lösung der dogmatischen Struktur der mutmaßlichen Einwilligung entspricht. Denn wir ermitteln auch in anderen Zusammenhängen ganz häufig den mutmaßlichen Willen aufgrund solcher allgemeiner Kriterien, weil schlicht Anhaltspunkte für eine Mutmaßung fehlen.23 Das PatVG scheint diese Frage offen zu lassen. Zwar wird bei Ermittlung des mutmaßlichen Willens auf konkrete Anhaltspunkte abgestellt. Doch sind frühere Äußerungen und persönliche Wertvorstellungen etc. nur „insbesondere“ zu berücksichtigen (§ 1901 a Abs. 2 S. 3 BGB), was die genannten Kriterien gerade nicht ausschließt. Da ein Abbruch aufgrund allgemeiner Wertvorstellungen wohl nur in aussichtslosen Situationen ohne Chancen auf eine Rückkehr zu menschenwürdigem Leben und in relativer Todesnähe in Betracht kommen dürfte,24 wird es womöglich deshalb nicht zum Schwur kommen, weil man sich in diesen Fällen einfacher damit wird behelfen können, dass eine medizinische Indikation zur Weiterbehandlung verneint wird. Dann ist ein Behandlungsabbruch auch ohne festgestellten Willen des Betroffenen unproblematisch. Auch im vorliegenden Fall der langjährigen, vom Verfall bereits gezeichneten Wachkomapatientin hatte der Hausarzt eine entsprechende Einschätzung gegeben. Hier lag eine ausdrückliche Äußerung vor. Die 76jährige hatte künstliche Ernährung und Beatmung im Falle ihrer Bewusstlosigkeit ausgeschlossen. Das ist freilich äußerst karg geschehen. Gerade die weiter kolportierte Äußerung, sie wolle nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden, ist wenig geeignet, für einen Behandlungsabbruch im konkreten Fall herzuhalten. Denn damit würde man im Grunde keinerlei intensivmedizinische Behandlung mehr zulassen, sei sie auch noch so kurzfristig und erfolgversprechend. Das wird aber regelmäßig nicht gemeint sein. In Anbetracht des Umstandes, dass vor dem Hintergrund einer Hirnblutung ihres Ehemannes 21

BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 8. BGHSt 40, 257, 262. 23 BGHSt 35, 246, 250; Roxin Strafrecht AT, 4. Aufl. München 2006, S. 824; SSW-StGB/ Rosenau Köln 2009 Vor §§ 32 Rn. 47 u. 44. 24 Verrel/Simon Patientenverfügungen, Freiburg 2010, S. 50; vgl. die in BGHSt 40, 257, 262 genannten Maßstäbe. 22

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eine künstliche Ernährung ausgeschlossen wurde, ist bei verständiger Auslegung dem BGH zu folgen, dass damit ein wirklicher Wille bestand.25 Das lässt sich auch nicht mit der Überlegung beiseite schieben, die existentiellen Entscheidungen in der Situation schwerer Erkrankung ließen sich nicht in gesunden Tagen vorwegnehmen.26 Wie kann ich heute wissen, was ich morgen will? Entsprechend diesem in der Medizinethik geführten Diskurs wird z.T. in einer schweren Erkrankung eine gravierende Diskontinuität in der Persönlichkeit eines Patienten so gesehen, dass eine Verfügung vor der Krankheit nicht für die Zeit danach verbindlich sein könne.27 Das setzte aber voraus, dass aus der Person P1 qua Erkrankung eine andere Person P2 würde. Es leuchtet schon nicht ein, dass man zu einem anderen Ich mutiere. Noch weniger einleuchtend wären die Konsequenzen. Dann würde ein Dritter über die Person P2 bestimmen und regeln, dass eine Behandlung fortzusetzen wäre, obwohl dieser Dritte, und sei es ein staatlich beauftragter Betreuer, weit weniger Nähe zu authentischen Entscheidungen als die Person P1 hätte. Die ganze Vorstellung mündete in einem übertriebenen Paternalismus gegenüber den individuellen Wertentscheidungen der Personen P.28

c) Betreuungsrechtliche Genehmigung Eine betreuungsrechtliche Genehmigung der Ernährungseinstellung war hier nach § 1904 Abs. 4 BGB nicht nötig. Zuvor hatten bedauerlicherweise die Straf- und Zivilsenate eine verwirrende Divergenz fabriziert. Denn der 1. Strafsenat hatte stets beim Behandlungsabbruch analog § 1904 BGB a.F. eine Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes gefordert,29 während der für das Vormundschaftswesen zuständige XII. Zivilsenat später zwar die Analogie zu § 1904 BGB abgelehnt hat, aufgrund einer Gesamtschau des Betreuungsrechts aber gleichwohl rechtsfortbildend eine Zuständigkeit der Vormundschaftsgerichte gesehen hatte, aber beschränkt auf Konfliktfälle, in denen Betreuer und behandelnder Arzt unterschiedlicher Meinung waren.30

25

BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 9; vgl. Palandt/Diederichsen 69. Aufl. München 2010, § 1901a Rn. 6. 26 So wohl noch Schreiber Das Recht auf den eigenen Tod – zur gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe, NStZ 1986, 337, 342. 27 Zwischenbericht Patientenverfügungen der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, BTDrs. 15/3700, S. 39. 28 May Patientenverfügungen zwischen den medizinethischen Prinzipien Patientenautonomie und Fürsorge, in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, Baden-Baden 2008, S. 53, 64. 29 BGHSt 40, 257, 221 ff., 261 f. 30 BGHZ 154, 205, 227; 163, 195, 198 f.

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Auch diese Streitfrage ist durch das PatVG aufgelöst worden. Im neu gefassten § 1904 BGB ist die Konfliktlösung des XII. Zivilsenates Gesetz geworden. Eine generelle Kontrolle durch das Betreuungsgericht, wie sie noch der 1. Strafsenat gefordert hatte, ist damit obsolet. Insgesamt hätte es zu dem hier besprochenen Verfahren gar nicht kommen dürfen. Denn die Voraussetzungen der passiven Sterbehilfe lagen vor. Eine Beendigung der künstlichen Ernährung durch den Arzt bzw. die Pflegekräfte war nicht nur rechtmäßig,31 sie wäre auch geboten gewesen.

2. Tradierte Rechtfertigung passiver Sterbehilfe a) Ausdruck von Würde und Selbstbestimmung Auf Metaebene sollen nur kursorisch die wichtigsten Erkenntnisse genannt sein. Aus dem Postulat des Schutzes der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG lässt sich ein Recht auf ein würdiges Sterben herleiten.32 Ein Würdeverstoß wäre danach anzunehmen, wenn ein Patient gegen seinen Willen in einem Behandlungszustand belassen werden würde, den er selbst nicht seiner Würde gemäß ansieht. Damit ist der zweite, für die Sterbehilfe relevante Gesichtspunkt bereits angesprochen. Das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen umfasst das Verfügungsrecht über den eigenen Körper, schließt aber auch die Selbstbestimmung über den eigenen Tod mit ein. Es leitet sich entweder aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG her33 oder wird dem Autonomiegehalt des Lebensrechts des Art. 2 Abs. 2 GG entnommen.34

b) Unterlassen durch Tun Besteht über die Ergebnisse regelmäßig Einigkeit, so bleiben doch die dogmatischen Begründungswege Gegenstand von Kontroversen.35 Das gilt auch für die Umsetzung der weitgehend anerkannten passiven Sterbehilfe in 31

BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 9. Dreier in: Dreier, GG, 2. Aufl. Tübingen 2004, Art. 1 Rn. 157; Di Fabio in: Maunz/Dürig, GG, 56. Ergänzungslieferung Oktober 2009, Art. 2 Abs. 2 Rn. 39; BK/Zippelius Art. 1 Rn. 96; Hufen Patientenverfügung und passive Sterbehilfe, in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, Baden-Baden 2008, S. 91; a.A. Schumann Patientenverfügung und Patienten ohne Verfügung, in: Albers a.a.O., S. 215, 225; Höfling „Sterbehilfe“ zwischen Selbstbestimmung und Integritätsschutz, JuS 2000, 111, 114. 33 Hofmann in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 11. Aufl. Köln 2008, Art. 2 Rn. 23; SchweizerBG, ZfL 2007, 22, 25 zu Art. 8 Nr. 1 EMRK. 34 Murswiek in: Sachs, GG, 5. Aufl. München 2009, Art. 2 Rn. 212. 35 MüKo-StGB/Schneider Vor §§ 211 Rn. 94. 32

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das dogmatische Gerüst des Strafrechts. Ginge es um die bloße Nichtvornahme einer entweder nicht weiterhin indizierten oder einer aufgrund des Patientenwillens im oder beim Sterben abgelehnten Maßnahme, ließ sich die Strafbarkeit problemlos begründen. Denn die einschlägige Unterlassenstat schied mangels Garantenstellung36 oder Garantenpflicht37 des Arztes (bei weiter bestehender Garantenstellung) aus. Schon der Begriff der Passivität ist problematisch. Er ist es in zweierlei Hinsicht. Zum einen darf dem sterbenden Patienten nicht jegliche Behandlung vorenthalten bleiben. Er darf im Sterben nicht allein gelassen werden. Das ist mit dem Behandlungsabbruch nicht gemeint. Die unverzichtbare Basisversorgung, auch wenn über die Reichweite im Einzelnen keine Einigkeit herrscht, ist zu gewährleisten, ärztliche Hilfe muss immer gewährt werden.38 Die Passivität bezieht sich lediglich auf die Grunderkrankung. Es geht, so formulieren es die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung, um die Änderung des Behandlungszieles. An die Stelle von lebenserhaltenden und -verlängernden Maßnahmen treten dann palliativmedizinische Versorgung einschließlich Maßnahmen der Pflege.39 Zum zweiten ist höchst fraglich, ob die passive Sterbehilfe derart passiv ist, wie sie vorgibt. Vielen in der Medizin Tätigen ist kaum vermittelbar, dass das Abschalten des Beatmungsgerätes keine gezielte Herbeiführung des Todes sein, sondern dass statt strafbarer aktiver Sterbehilfe ein Fall der rechtlich zulässigen passiven Sterbehilfe vorliegen soll. Verbreitet herrscht die Vorstellung, dass passive Sterbehilfe auf bloßes Unterlassen einer Behandlung, nicht aber auf deren aktive Beendigung gerichtet sein kann. Das hat in der Praxis zu einer nicht gebotenen Zurückhaltung bei der Gewährung passiver Sterbehilfe geführt. Das juristische Problem zeigt sich, wenn das laufende Beatmungsgerät per Knopfdruck abgeschaltet wird. Die h.M. wertet diese Situation als Unterlassen durch Tun.40 Doch stellt das einen Griff in die dogmatische Trickkiste dar;41 denn nur so lässt sich 36

Duttge Der Preis der Freiheit, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2006, S. 93 f.; Rieger Die mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch, Frankfurt a.M. 1998, S. 53. 37 BGHSt 32, 367, 377; Trück Mutmaßliche Einwilligung und passive Sterbehilfe durch den Arzt, Tübingen 2000, S. 69. 38 Schreiber Das ungelöste Problem der Sterbehilfe, NStZ 2006, 473, 474; Hahne Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung, FamRZ 2003, 1619, 1621. 39 DÄBl. 2004, A 1298. 40 BGHSt 6, 46, 59; Roxin An der Grenze von Begehung und Unterlassung, in: Bockelmann u.a. (Hrsg.), FS Engisch, Frankfurt a.M. 1969, S. 380, 396; ders. Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. Stuttgart 2010, S. 75, 95; Heinrich Strafrecht AT II, 2. Aufl. Stuttgart 2010, Rn. 871 f.; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 39. Aufl. Heidelberg 2009, Rn. 703 f.; Schneider Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, Berlin 1998, S. 176 f.; Schork Ärztliche Sterbehilfe und die Bedeutung des Patientenwillens, Frankfurt a.M. 2008, S. 71.

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die Tat als Tötung durch Unterlassen begreifen und die eben angestellte Überlegung fruchtbar machen. Das Unterlassen bedarf einer Garantenpflicht, die den Arzt in Sterbehilfesituationen gerade nicht mehr trifft. Der Begriff der passiven Sterbehilfe ist reiner Euphemismus. Das Abschalten einer Herz-Lungen-Maschine verlangt nicht weniger Aktivität als das Injizieren eines Giftes. Versteht man dagegen das Abschalten des Respirators oder der PEG-Sonde phänomenologisch als das, was es ist, nämlich positives Tun, kommt man nicht darum herum, vorliegend eine aktive Sterbehilfe anzunehmen. Die Strafrechtsdogmatik kann nicht aus einer Handlung eine Nicht-Handlung machen.42 Allerdings ist man sich einig, dass diese unter keinen Umständen zu bestrafen ist. Denn es kann in der normativen Bewertung und nach dem sozialen Sinngehalt keinen Unterschied machen, auf welche Art und Weise eine Behandlungseinstellung vorgenommen wird: indem man diese erst gar nicht aufnimmt oder indem man diese später abbricht. Das zeigt auch der neu gefasste § 1904 Abs. 2 BGB, der die anfängliche Nichteinwilligung dem Widerruf in eine Behandlung gleichstellt, was mit der Nichtvornahme der Behandlung und deren Abbruch korrespondiert. Die Motive der h.M. liegen auf der Hand. Man will dieses richtig gesehene Ergebnis erreichen, ohne zugleich das Minenfeld der Sterbehilfe durch aktives Tun betreten zu müssen.

3. Erweiterung der Sterbehilfe um aktives Tun Freilich zeigt der vorliegende Fall, dass die Lösung der h.M. an ihre Grenzen stößt. Die Erörterung erhellt zugleich, warum sich der BGH grundlegend mit der passiven Sterbehilfe zu befassen hatte. Hier hätte der Arzt einen Behandlungsabbruch zwar zulässigerweise vornehmen können: in der Wertung der h.M. in der Form des Unterlassens durch Tun. Tatsächlich ist es aber eine Dritte in der Person der Betreuerin, die diesen Schritt tut bzw. Putz als Mittäter – wobei die Anwendung des § 25 Abs. 2 StGB bei einer bloßen Raterteilung nicht hinterfragt werden soll. Damit greifen beide in einen fremden, rettenden Kausalverlauf ein. Das ist aber nach ganz überwiegender Wertung aktives Tun.43 Dieses Ergebnis lässt sich auch nicht mit dem Argument umgehen, nicht gerechtfertigte Rettungsbe41

Gropp Das Abschalten des Respirators – ein Unterlassen durch Tun?, in: Duttge u.a. (Hrsg.), GS Schlüchter, S. 173, 182; Verrel Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Gutachten C zum 66. DJT, München 2006, S. C 26; Fischer StGB, 57. Aufl. München 2010, Vor § 211 Rn. 20; kritisch auch Hirsch Behandlungsabbruch und Sterbehilfe, in: Küper (Hrsg.), FS Lackner, Berlin 1987, S. 597, 605. 42 Mitsch in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. Bielefeld 2003, § 15 Rn. 33. 43 SSW-StGB/Kudlich § 13 Rn. 7; Sch/Sch/Stree/Bosch Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 159.

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mühungen – hier durch das Heim – seien nicht existenten Rettungsbemühungen gleichzusetzen, und somit werde gar nichts abgebrochen.44 Der BGH geht also konsequenterweise den weiteren Schritt, verwirft die Kategorie des Unterlassens durch Tun und lässt eine – im Ergebnis begrenzte – Zulassung einer Sterbehilfe durch aktives Tun geschehen.45 Dem ist nach allem uneingeschränkt Beifall zu zollen. Auch der BGH erkennt in der problematischen Figur der h.M. nun einen unzulässigen „Kunstgriff“ und räumt ein, dass diese Umdeutung zum Widerspruch mit der Realität führen muss. Mit der Aufgabe bisheriger Positionen nimmt sich der BGH aber die Lösungsmöglichkeit, über eine fehlende Garantenpflicht zu einer Straflosigkeit zu gelangen. Stattdessen will er Fallgruppen, die unter einem normativwertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs zusammengefasst werden können, dann aus der Strafbarkeit ausgrenzen, wenn aufgrund des Patientenwillens die Maßnahme beendet bzw. reduziert wird.46 Die Sterbehilfehandlung muss sich dabei auf ein medizinisches Handeln beziehen. Dann liege Sterbehilfe vor, dann ergebe sich aus dieser Qualifikation ein strafrechtlich legitimierender Sinn.47 Allerdings schießt der Senat über das Ziel hinaus, wenn er versucht, diesen „engen Zusammenhang“ zu definieren. Das zeigt sich bei den beiden Voraussetzungen, dass der Patient „lebensbedrohlich erkrankt“ sein müsse und durch die Beendigung der Maßnahme die „Krankheit ... nicht (mehr) behandelt wird“.48 Solche Sätze könnten wieder in die alten Debatten zurückführen, wonach eine bestimmte Todesnähe zu verlangen ist. Das Wachkoma als solches ist aber keinesfalls lebensbedrohlich. Man kann in diesem Zustand jahrelang leben. Eine Reichweitenbeschränkung bei der Sterbehilfe hatte der Senat unter Hinweis auf § 1901a Abs. 3 BGB auch schon völlig richtig ausgeschlossen. Hier dürfte wohl gemeint sein, dass ohne die medizinische Behandlung der Folgen des Wachkomas (etwa Unfähigkeit der selbständigen Nahrungsaufnahme) der Patient sterben wird und die Erkrankung deshalb lebensbedrohlich erscheint. Auch wird mit der PEG-Sonde, die hier durchtrennt wurde, nicht das Wachkoma als solches therapiert. Insoweit ist auch die zweite Äußerung im Urteil zu relativieren. Die Sterbehilfe trägt den Grund ihrer Straflosigkeit nicht in sich selbst. Diesen erblickt der BGH in der Autonomie des Patienten. Er kann hier auf 44

Hörr Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, Diss. Augsburg 2010, § 5

AI3. 45 BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 16 f. So auch schon die Forderung von Gropp (Fn. 41), S. 188. 46 BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 17. 47 BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 18. 48 BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 18 u. 19.

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die grundlegenden Überlegungen zurückgreifen und spricht zutreffend die Kehrseite der Sterbehilfe an: wird sie nicht geleistet, liegt eine eigenmächtige Heilbehandlung und tatbestandlich eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB vor. Auch die künstliche Ernährung ist mit gravierenden Eingriffen und Belastungen für den Patienten verbunden, so dass ein Körperverletzungsdelikt jedenfalls nach h.M. vorliegt,49 welche den sozialen Sinngehalt der Behandlung bekanntermaßen ausblendet.50 Das umfassende Selbstbestimmungsrecht des Patienten über die Einleitung und Fortsetzung einer ärztlichen Behandlung entscheidet damit einerseits, ob eine strafbare Körperverletzung vorliegt. Das wäre bei fehlender Einwilligung in die Behandlung der Fall. Es entscheidet damit umgekehrt zugleich, dass die Voraussetzungen der Sterbehilfe vorliegen.51 Indem letztlich auf die Einwilligung des Patienten abgestellt wird, gerät der BGH freilich auf dünnes Eis. Da er zugleich die Sterbehilfe völlig zutreffend auch bei aktivem Tun aktiviert, kommt er mit der Einwilligungssperre des § 216 StGB notgedrungen in Konflikt,52 auch wenn er die Sterbehilfe-Fälle auf solche mit einem Behandlungsbezug beschränkt. Der BGH versucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem er auf die Neuregelung im PatVG Bezug nimmt. Das misslingt jedoch. Zunächst erstreckt der BGH die im PatVG gefallenen Entscheidungen des Gesetzgebers zutreffend auf die strafrechtliche Beurteilung passiver Sterbehilfe. Das könnte, nachdem das Strafrecht fragmentarischen Charakter hat und nur als ultima ratio überhaupt zur Anwendung kommen darf, nach dem Gebot der Einheit der Rechtsordnung auch gar nicht anders sein.53 Ein Tun oder Unterlassen kann schlechterdings nicht unter Strafe stehen, wenn es zivilrechtlich erlaubt oder geboten wäre. An dieser Stelle gerät der Senat aber offensichtlich mit sich selbst in Konflikt. Zwar greift er den Gedanken der Einheitlichkeit der Rechtsordnung auf und akzeptiert, dass die Neuregelung des PatVG bei der Grenzziehung zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Sterbehilfe zu 49

Verrel (Fn. 41), S. C 27; Schöch u.a. Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, GA 2005, 533, 561 m.w.N. 50 Seit RGSt 25, 375. Zur Kritik s. nur Rosenau Begrenzung der Strafbarkeit bei medizinischen Behandlungsfehlern, in: Rosenau/Hakeri, Der medizinische Behandlungsfehler, BadenBaden 2008, S. 215, 216 f. 51 Dabei geht das Einerseits – Andererseits nicht glatt auf. Je nachdem, ob mit dem Willen der Behandlungsabbruch gerechtfertigt wird oder aber die Fortführung einer Behandlung legitimiert werden soll, kann es prozessual zu abbruchsfeindlicheren oder abbruchsfreundlicheren Ergebnissen kommen, vgl. MüKo-StGB/Schneider Vor §§ 211 Rn. 121. 52 Sch/Sch/Eser Vor §§ 211 ff., Rn. 21. 53 BGHSt 11, 241, 244; HK-GS-Duttge Baden-Baden 2008, Vor §§ 32 Rn. 4, vgl. BTDrs. 16/8442, 8.

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berücksichtigen ist.54 Die nachfolgende Berufung auf die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, nämlich indem der Grundsatz postuliert wird, dass die Sterbehilfe eine strafrechtsspezifische Frage und autonom nach strafrechtlichen Kriterien zu entwickeln sei, passt hierzu nicht wirklich und dürfte dogmatisch ein Rückschritt in alte Zeiten darstellen, als sich Zivilisten und Strafrechtler um die Vorherrschaft bei der Sterbehilfe stritten. So gerät das Urteil widersprüchlich. Wie anders wären diese beiden hintereinander geschalteten Sätze auch zu verstehen: „Die Neuregelung (im Betreuungsrecht) entfaltet auch für das Strafrecht Wirkung.“ Sogleich weiter: „Allerdings bleiben die Regelungen der §§ 212, 216 StGB von den Vorschriften des Betreuungsrechts unberührt, ...“?55 Da hinter der Grenze erlaubter Sterbehilfe aber schon die §§ 212, 216 StGB zur Anwendung bereit stehen, führt eine Neukonzeption der Sterbehilfe mit Hilfe des Betreuungsrechts notwendig zu einer Berührung von §§ 212, 216 StGB. Das alles mag dem eingangs angesprochenen rechtspolitischen Impuls geschuldet sein, das Stichwort der aktiven Sterbehilfe zu tabuisieren. Maßgeblich ist, dass die Neuregelung der §§ 1901a ff. BGB dem BGH den Weg geebnet hat, die passive Sterbehilfe auszuweiten. Wird in Übereinstimmung mit § 1901a Abs. 2 BGB eine Behandlung aufgrund entsprechender Patientenwünsche ausgesetzt, scheidet eine strafrechtliche Verantwortlichkeit aus.56 Was den Grund für die Straflosigkeit der Sterbehilfe auch in ihrer aktiven Variante anbelangt, sollte diese gerade wegen § 216 StGB nicht in der Einwilligung gesucht werden. Tragfähiger scheint ein Gedanke, den der 3. Strafsenat des BGH zur Frage der indirekten Sterbehilfe entwickelt hat, bei der im Rahmen palliativer Behandlung Opiate und Schmerzmittel zur Leidensminderung gegeben werden, wobei auch Palliativmediziner einräumen, dass u. U. damit eine Lebensverkürzung sehenden Auges in Kauf genommen, mithin aktiv Sterbehilfe geleistet wird. Der 3. Strafsenat: „Die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen ... ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen“.57 Mit der Überlegung, dass vorliegend zwischen zwei Übeln abzuwägen ist – grob: Leidvermeidung versus Lebensverlängerung – ist bereits der dogmatisch zutreffende Weg gewiesen. Dieser weist auf die Notstandsregelung 54

BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 14. BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 13, vgl. auch S. 20. 56 Reus Die neue gesetzliche Regelung der Patientenverfügung und die Strafbarkeit des Arztes, JZ 2010, 80, 83. 57 BGHSt 42, 301, 305. 55

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des § 34 StGB, bei dem es darum geht, zwischen zwei Übeln abzuwägen und das geringere zu wählen. Allerdings ergeben sich auch hier Einwände. So hat § 34 StGB Rechtsgutskonflikte zwischen zwei Personen im Blick.58 Bei der Sterbehilfe geht es aber um ein- und denselben Patienten, es ist also nur ein Interessenträger im Spiel. Bei der Abwägung gegenläufiger interner Interessen eines Rechtsgutsinhabers wäre als Spezialfall das Institut der Einwilligung heranzuziehen, welches hier aufgrund der Einwilligungssperre des § 216 StGB gerade nicht trägt. Gleichwohl lässt sich § 34 StGB für unsere Diskussion fruchtbar machen.59 Eine Analogie liegt nahe. Das erweist auch der Erst Recht-Schluss: wenn aufgrund der Regelung des § 34 StGB in das Leben zugunsten fremder Interessen eingegriffen werden kann, dann muss dies erst recht zugunsten eigener Interessen richtig sein. Weder der Wortlaut der Norm noch deren systematische Stellung widersprechen der Anwendbarkeit bei einer Wertekollision desselben Rechtsgutsträgers. Problematisch ist freilich das Erfordernis, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen muss. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass das Rechtsgut „Leben“ als verfassungsrechtlicher Höchstwert bei einer Abwägung nach § 34 StGB niemals unterliegen könne. Auch der BGH scheint dem zuzuneigen, wenn er in seiner jüngsten Entscheidung auf § 34 StGB zu sprechen kommt, ohne dass er indes auf BGHSt 42, 301 eingeht, auch wenn er die indirekte Sterbehilfe in sein Konzept einbezogen sehen will.60 Allerdings wird das Problem arg verkürzt dargestellt. Denn hier stehen sich nicht die Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts einerseits und das Rechtsgut Leben andererseits gegenüber,61 geht es doch regelmäßig bei der Abwägung um ein Sterben in Würde und damit um die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde, die verfassungssystematisch das Höchstwertprädikat – auch vor dem Lebensrecht – für sich beanspruchen kann.62 Erwägungen der Qualität des verbleibenden Lebens des Patienten und damit der Frage nach dem, was würdevoll ist, spielen unweigerlich in die Abwägungsentscheidung hinein. Richtig dürfte aber sein, dass nun trotz der Einwilligungssperre in § 216 StGB bei diesem Abwägungsprozess der geäußerte oder mutmaßliche Wille des Patienten zu berücksichtigen ist. Die Einwilligung ist ein gewichtiger 58

HK-GS/Duttge § 34 Rn. 9; Kindhäuser StGB, 4. Aufl. 2009, § 34 Rn. 39. Merkel Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), FS Schroeder, Berlin 2006, S. 297, 308 ff.; SSW-StGB/Rosenau § 34 Rn 15. 60 Vgl. BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 19. 61 BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 11. 62 Vgl. auch Hufen (Fn. 32), S. 91. 59

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Faktor bei der Rechtsgüterabwägung zugunsten eines selbstbestimmten Sterbens in Würde. Roxin hat Recht, wenn er das Ergebnis der Abwägung nach dem Willen des Patienten bestimmen will.63 Damit sind für die Rechtfertigung der Sterbehilfe neben der Normstruktur des rechtfertigenden Notstandes – insoweit bewege ich mich auf den BGH zu – auch Einwilligung bzw. mutmaßliche Einwilligung heranzuziehen.

IV. Die Folgen der Entscheidung für die Sterbehilfe in Deutschland Kritik am Urteil des BGH dürfte nicht ausbleiben. Dabei wird aber verkannt, dass in Deutschland nicht zu oft, sondern zu selten passive Sterbehilfe geleistet wird mit der fatalen Konsequenz, dass die Befürchtung vieler berechtigt ist, einer Apparatemedizin ausgeliefert zu werden und vom natürlichen Sterbeprozess abgeschnitten zu sein. Das hat zwei Gründe. Zum einen sind im ärztlichen Selbstverständnis die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung noch nicht voll verwurzelt. Zum zweiten bestanden rechtliche Unsicherheiten,64 und zwar nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung.65 Vielen Medizinern wie Pflegekräften sind die rechtlichen Vorgaben nicht hinreichend deutlich erschienen. Auf das Unverständnis, dass eine aktive Handlung passive Sterbehilfe sein könne, war bereits hingewiesen worden. Man fühlte sich bei der passiven Sterbehilfe auf einem schwankenden Boden und wählte lieber den sicheren Weg einer Weiterbehandlung. Zu dieser Unsicherheit hatte auch der BGH beigetragen. Wenn selbst der XII. Zivilsenat äußert, dass die „strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren Sinn ... bislang nicht hinreichend geklärt“ erscheinen,66 ist den Ärzten deren reserviertes Verhalten nicht vorzuwerfen. Solche Bemerkungen wirken zweifellos in die Ärzteschaft hinein. Und so mag man auch kaum den Fachgerichten vorwerfen, dass selbst sie die anerkannten Vorgaben der passiven Sterbehilfe mit wenig Verständnis 63

Vgl. Roxin (Fn. 40), S. 88. Verrel (Fn. 41), S. C 53; Schöch u.a. (Fn. 49), 555 u. 560. 65 BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 9. 66 BGHZ 163, 195, 200 f. Hier rächt sich der horror pleni; denn der XII. Zivilsenat hätte es mit der Vorlage seiner zur Verwirrung führenden Leitentscheidung (BGHZ 154, 205 ff.) – einem „Paukenschlag der Konfusion“, so Höfling/Rixen Vormundschaftsgerichtliche Sterbeherrschaft? JZ 2003, 884, 894 – an die Vereinigten Großen Senate nach § 132 GVG in der Hand gehabt, für Klarheit in der Zivil- und Strafjustiz zu sorgen. Dass das nicht geschah, wird zwar begründet (BGHZ 154, 205, 228 ff.), verwundert aber umso mehr, als derselbe Senat in dem oben im Text zitierten § 91a ZPO-Beschluss die bestehenden Unsicherheiten bestätigt und mit einer Vorlage seiner Aufgabe, auf eine einheitliche Rechtsfortbildung hinzuwirken, nachgekommen wäre. 64

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für die Problematik umgesetzt und allzu oft eine nicht bestehende Strafbarkeit gesehen haben. Paradigmatisch hierfür steht der unsägliche Magdeburger Fall, der das Zeug zu einem BGH-Klassiker gehabt hätte, wenn er nicht mit einem glatten Freispruch geendet hätte. Es ging dort um einen englischen Patienten mit locked-in-Syndrom, der künstlich beatmet werden musste und nach epileptischen Anfällen nur noch auf Grund der Möglichkeiten der Intensivmedizin am Leben gehalten wurde. Nach einem schweren Fahrradunfall war er vollständig gelähmt; sämtliche Nervenverbindungen zwischen Körper und Gehirn waren durchtrennt worden. Ein gelegentliches Zwinkern mit den Augen konnte der Versuch einer Kommunikation sein, das war aber nicht klar. Der Zustand verschlechterte sich. Das Gehirn schwoll an, der Patient fiel ins Koma. Dieser Patient hatte vier Jahre zuvor einen ähnlichen Fahrradunfall erlitten und aufgrund seiner damaligen Erfahrungen seiner Mutter und heutigen Betreuerin mitgeteilt, dass er im Falle einer irreversiblen Schädigung keine künstliche Verlängerung seines Leidens wolle.67 Wie im Fall Putz lag somit ein klarer Patientenwille vor. Eine Weiterbehandlung war damit versperrt. Dem Patientenwillen haben Chefarzt und Betreuerin mit dem Abstellen der Beatmungsgeräte zur Durchsetzung verholfen. Die durch interne Querelen im Klinikum veranlasste Anzeige, der daraufhin erfolgte Haftbefehl sowie die verfehlte Anklage aber musste einmal mehr alle Ärzte von der Sterbehilfe abhalten, weil damit die Gefahr staatsanwaltschaftlicher Verfolgung aufscheint. Das Verfahren hat zugleich zur Zerstörung der bürgerlichen Existenz des betroffenen Arztes geführt, der seine Stellung und Reputation einbüßte. Ob die Hoffnung eintritt, dass künftig in Deutschland die passive Sterbehilfe weniger passiv angewendet werden wird, wird sich zeigen. Man sollte in diesem Zusammenhang nach dem „Tun durch Unterlassen“ auch das Attribut „passiv“ ad acta legen.

V. Offene Fragen Ein Desiderat bleibt, welches der BGH aufgrund seines beschränkten Entscheidungsprogrammes allerdings auch nicht einlösen konnte. Unklar ist, wie es sich auswirkt, wenn die betreuungsrechtlichen Verfahrenserfordernisse nicht beachtet worden sind.68 Hätte sich Putz strafbar gemacht, wenn der Hausarzt weiterhin die künstliche Ernährung für angezeigt gehalten und angeboten hätte, trotz entgegenstehenden Willens der Patientin? In diesem Falle greift die vom XII. Zivilsenat entwickelte und nun im Wesentlichen in 67 68

Vgl. Die Zeit vom 20.11.2008; Der Spiegel 52/2008, S. 44. Sch/Sch/Eser Vor §§ 211 Rn. 28b.

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§ 1904 Abs. 4 BGB normierte Konfliktlösung.69 Eine Genehmigung der Einstellung der Sondenernährung durch ein Betreuungsgericht ist danach nur dann erforderlich, wenn sich Betreuer und Arzt uneins sind, was dem wirklichen Willen der betreuten Patientin entspricht. Dem Betreuungsgericht wird hier keinesfalls, wie oft fälschlicherweise zu lesen ist, die Stellung eines Richters über Leben und Tod zugewiesen, weil es lediglich zu überprüfen hat, worauf der Wille des Betroffenen gerichtet war, also das Ansinnen des Betreuten lediglich nachvollzieht.70 Es geht einzig und allein um eine einzelfallbezogene Kontrolle durch Verfahren.71 Zweck ist damit zum einen, den vom Behandlungsabbruch Betroffenen in dessen Grundrechten auf Leben einerseits, sowie Menschenwürde und Selbstbestimmung andererseits zu schützen, aber auch den Beteiligten, insbesondere den Betreuer, bei den schwierigen Entscheidungen am Lebensende zu entlasten, indem ihm das Risiko einer abweichenden strafrechtlichen Beurteilung ex post genommen wird.72 Im Hinblick auf die Rechtsgüter des Betroffenen, die die verfahrensrechtlichen Vorkehrungen als Schutzobjekte mit in den Blick genommen haben, ließe sich argumentieren, damit sei genug an Rechtsgutsubstrat vorhanden, um allein an die Verletzung der betreuungsrechtlichen Verfahrensregeln eine Strafbarkeit nach § 216 oder § 212 StGB zu knüpfen. Bedenken ergeben sich indes, wenn im Strafverfahren deutlich werden sollte, dass der Patientenwille tatsächlich auf ein Ende der Behandlung gerichtet war, also materiell ein Fall gebotener und damit straffreier Sterbehilfe vorgelegen hätte. Ein Rechtsgut, welches das Strafrecht schützen könnte, ist dann nicht mehr erkennbar. Das Recht auf Leben ist ja gerade durch die Achtung der Patientenautonomie nicht tangiert worden. Es bliebe eine Strafbarkeit wegen einer Missachtung von betreuungsrechtlichen Verfahrensbestimmungen, die angesichts des ultima ratio-Grundsatzes allenfalls bußgeldwürdig erscheint. Eine Strafbarkeit wegen eines Kapitaldeliktes kann auf bloße Verfahrensverstöße nicht gegründet werden.73 Der betreuungswidrig Handelnde trägt freilich das Risiko einer Fehleinschätzung des Patientenwunsches und wird sich dann nicht auf einen unvermeidbaren Erlaubnisirrtum berufen können. 74 69 BGHZ 154, 205, 227 f.; kritisch insoweit Saliger Sterbehilfe und Betreuungsrecht, MedR 2004, 237, 243 f. 70 Rosenau Sterbehilfe, in: Heun u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, Sp. 2369, 2372. 71 BGHZ 154, 205, 227. 72 BGHZ 154, 205, 227. 73 MüKo-StGB/Schneider Vor §§ 211 Rn. 129; Saliger Sterbehilfe nach Verfahren, KritV 1998, 118, 143. 74 Verrel (Fn. 41), S. C 99; ders. Mehr Fragen als Antworten, NStZ 2003, 449, 452 f.

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Der Beschluss des Senates formuliert für die Zulässigkeit der Sterbehilfe noch eine weitere Voraussetzung, die bislang keine Erwähnung fand. Es heißt dort, dass neben den behandelnden Ärzten und Betreuern auch Dritte Sterbehilfe leisten können, aber nur „soweit sie als von dem Arzt, dem Betreuer oder dem Bevollmächtigten für die Behandlung und Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden.“75 Schon in der Person des Rechtsanwalts Putz stutzt der Leser. Kann dieser als eine „für Behandlung und Betreuung“ hinzugezogene Hilfsperson qualifiziert werden, wo seine Beteiligung doch auf reinen Rechtsrat beschränkt ist? Lässt sich das bei weiter Auslegung noch nachvollziehen – immerhin spricht der BGH Putz frei und hat ihn folglich als Hilfsperson gesehen –, bleibt der BGH eine Begründung für seine Anforderung schuldig. Die Kategorie der Hilfsperson ist seine freie Erfindung, sie wird von den tragenden Erwägungen der neu konzipierten straffreien Sterbehilfe auch nicht getragen. Weder verlangt die Patientenautonomie noch verlangt die Behandlungsbezogenheit eine solche Einschränkung; denn beide Basismerkmale können unabhängig von einer Beauftragung bestehen. Man denke sich nur einen Enkel der hier dahinsiechenden 76jährigen, der aus Übersee zu Besuch kommt, die Umstände des Falles umfassend erfährt, vielleicht auch vom Rat des Rechtsanwalts hört, und dann beherzt selbst zur Tat schreitet und die PEG-Sonde durchtrennt. Dass er nun wegen Totschlags bestraft werden sollte, während die Betreuerin bei gleicher Handlung straflos bleiben muss, leuchtet nicht ein. Auch beim tragisch-ausweglosen Ravensburger Fall, bei dem der aufopfernde und Respekt verdienende76 Ehemann diesen Schritt getan hat,77 bliebe es bei § 216 StGB, nur weil dieser nicht zugleich Betreuer seiner Frau gewesen war. Das alles ist überaus unbefriedigend. Möglicherweise hat der Senat die klassische Personenkonstellation des § 1901a BGB vor Augen gehabt, der von einem Arzt und einem Betreuer ausgeht. Dann gilt für die von ihm genannte Voraussetzung das zur Beachtung der betreuungsrechtlichen Verfahrensförmlichkeiten Gesagte entsprechend. Ob ein Betreuer mit diesem Etikett oder ein Dritter ohne dieses Etikett oder das Ersatzetikett „Hilfsperson“ Sterbehilfe leistet, kann strafrechtlich keine Rolle spielen.

75

BGH, Urteil vom 25.6.2010, UA S. 20. Roxin Die Sterbehilfe im Spannungsfeld von Suizidteilnahme, erlaubtem Behandlungsabbruch und Tötung auf Verlangen, NStZ 1987, 345, 349. 77 S. LG Ravensburg, NStZ 1987, 229. 76

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VI. Schluss Ob das Urteil die „Krönung (s)eines Lebenswerkes“ darstellt, wie der Angeklagte Putz zitiert wird,78 soll dahingestellt bleiben. Es stellt jedenfalls die Sterbehilfe auf völlig neue Füße und wird mit diesem Namen – vergleichbar zum „Fall Hackethal“ als dem Leitfall für die Suizidbeihilfe79 – als „Fall Putz“ in die Annalen des BGH bzw. des 2. Strafsenates unter dem Vorsitz Rissing-van Saans und die Entwicklung der Sterbehilfe in Deutschland eingehen.

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SZ vom 1.6.2010, S. 6. OLG München, NJW 1987, 2940.

Neue Wege für das Betrugsstrafrecht SVENJA RUHS Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand. Johann Wolfgang von Goethe, Faust II (Mephisto)

A. Einleitung Von Menschheitsbeginn an ist der Irrtum Spiegel der Begrenztheit und zugleich der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen. Auf dem Gebiet des Strafrechts führen menschliche Irrtümer sowohl zu Strafbegründungen als auch zu Strafbegrenzungen. Für den Bereich der Werbung bietet § 16 Abs. 1 UWG einen strafbewehrten Schutz gegen irreführende Werbung. Angesichts der Öffnung der Märkte ist der Schutz vor irreführender Werbung längst keine nationale Angelegenheit mehr, sondern bedarf einer länderübergreifenden Steuerung. Das Wettbewerbsstrafrecht hat hierauf reagiert, indem es das deutsche Täuschungsschutzniveau dem europäischen Schutzniveau weitgehend angeglichen hat. Inzwischen hat das Unionsrecht durch den Erlass der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-RL)1 eine weitgehende Rechtsangleichung des Schutzes vor irreführender Werbung herbeigeführt. Im Folgenden sollen diese Harmonisierungsbemühungen zunächst einer näheren Betrachtung unterzogen werden, bevor anhand des Betrugstatbestandes des § 263 StGB der Frage nachgegangen wird, wie sich diese auf die nationale Strafrechtsdogmatik auswirken.

1 RL 2005/29/EG vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der RL 84/450/EWG, der RL 97/7/EG und der RL 98/27/EG, ABl. 2005 L 149 S. 22.

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B. Harmonisierung des Wettbewerbstrafrechts 1. Angleichung durch Übernahme des Verbraucherleitbildes des EuGH Zentrale Strafnorm des wettbewerbstrafrechtlichen Täuschungsschutzes ist § 16 Abs. 1 UWG, der das irreführende Werben durch unwahre Angaben in öffentlichen Bekanntmachungen oder in Mitteilungen, die für einen größeren Kreis von Personen bestimmt sind, in der Absicht, den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurufen, pönalisiert. Der Schutzzweck wird in § 1 UWG im Sinne einer Schutzzwecktrias mit dem Schutz von Mitbewerbern, Verbrauchern und anderen Marktteilnehmern sowie dem Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb definiert. Die Auslegung des Merkmals „irreführend werben“ lehnt sich an § 5 UWG an, der die Voraussetzungen irreführender geschäftlicher Handlungen näher konkretisiert. Im Zuge der Umsetzung der UGP-RL durch das 1. UWGÄndG v. 22.12.20082 hat § 5 UWG eine grundlegende Änderung erfahren. Regelte er zuvor die Voraussetzungen irreführender Werbung und füllte daher das Tatbestandsmerkmal “irreführend werben“ aus, erfasst er nunmehr - weitergehend - irreführende geschäftliche Handlungen. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 UWG ist eine geschäftliche Handlung irreführend, wenn sie - alternativ - unwahre Angaben oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über bestimmte näher aufgeführte Umstände wie etwa Art, Herkunft oder Verwendungsmöglichkeit eines Produktes enthält. Im Rahmen des Straftatbestandes nach § 16 Abs. 1 UWG ist jedoch das kumulative Vorliegen der objektiven Unwahrheit und der Täuschungseignung der Werbeangaben erforderlich, was die Formulierung des § 16 Abs. 1 UWG „durch unwahre Angaben irreführend wirbt“ belegt. Ungeachtet dessen füllt § 5 UWG weiterhin das Merkmal der Irreführung aus. Danach ist eine Werbung irreführend, wenn sie geeignet ist, einen nicht unerheblichen Teil der betroffenen Verkehrskreise über das Angebot irrezuführen und Fehlvorstellungen hervorzurufen, die für die Kaufentscheidung von wesentlicher Bedeutung sind.3 Maßstab für die Entscheidung, ob es sich bei einer Werbeaussage um irreführende Werbung handelt, ist das Verständnis der angesprochenen Ver2 Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) v. 3.7.2004 (BGBl. I 2004, 1414), BGBl. I 2008, 2949. 3 Bornkamm in: Köhler/Piper, UWG, 28. Aufl. (2010), § 16 Rn. 9; Rengier: in Fezer, UWG, 2. Aufl. (2010), § 16 Rn. 77; Sosnitza in: Piper/Ohly/Sosnitza, UWG, 5. Aufl. (2010), § 16 Rn. 8.

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kehrskreise. In seiner früheren Rechtsprechung stellte der BGH auf das tatsächliche Verständnis der Werbeadressaten ab, das er empirisch ermittelte. Hierbei legte er das Leitbild eines flüchtigen, unkritischen und ungezwungenen Durchschnittsverbrauchers zugrunde, der Werbeaussagen gewohnheitsmäßig und oberflächlich zur Kenntnis nimmt.4 Diese Rechtsprechung rief heftige, teils stark polemisierende Kritik in der Literatur hervor. So wurde vorgebracht, der BGH orientiere sich am Leitbild eines „an der Grenze zur Debilität verharrenden, unmündigen, einer umfassenden Betreuung bedürftigen, hilflosen Verbrauchers, der auch noch gegen die kleinste Gefahr einer Irreführung durch die Werbung geschützt werden“ müsse.5 Es wurde daher die Forderung formuliert, der BGH müsse „endlich Abschied nehmen von dem ebenso törichten wie nutzlosen Versuch, praktisch noch den letzten Trottel gegen die Gefahr einer Irreführung durch die Werbung schützen zu wollen“.6

a) Verbraucherleitbild des EuGH Demgegenüber hat der EuGH bereits seit Beginn der 1980er Jahre einen verständigen und kritischen Verbrauchertypus zugrunde legt7. In seiner Entscheidung „Gut Springenheide“ hat er klargestellt, Werbeaussagen seien danach zu messen, „wie ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher [sie] wahrscheinlich auffassen“ werde8. Ferner hat er ausgeführt, dass das nationale Gericht zunächst aufgrund eigener Sachkunde die Irreführungsgefahr einer Werbeangabe beurteilen könne. Habe das nationale Gericht besondere Schwierigkeiten bei dieser Feststellung, verbiete das Unionsrecht nicht, dies durch ein Sachver-

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BGH GRUR 1959, 365 (366) – Englisch-Lavendel; BGH GRUR 1969, 415 (416 f.) – Kaffeerösterei; BGH GRUR 1970, 425 (426) – Melitta-Kaffee; BGH GRUR 1982, 564 (566) – Elsässer Nudeln; BGH GRUR 1995, 57 (60) – Markenverunglimpfung II; BGH GRUR 1998, 1053 (1044) – GS-Zeichen. 5 Emmerich FS Gernhuber (1993), S. 870; zustimmend Martin-Ehlers Irreführungsverbote des UWG (1996), S. 74 f.; Sosnitza Wettbewerbsbeschränkungen (1995), S. 201; ähnlich Dauses RIW 1998, 750 (750); Dreher JZ 1997, 167 (174); Schünemann FS Brandner (1996), S. 293. 6 Emmerich Recht des unlauteren Wettbewerbs, 5. Aufl. (1998), § 12 Nr. 8 b) S. 235. 7 Vgl. etwa EuGH Slg. 1982, 3961 (3973 Rn. 17) – Rau; EuGH Slg. 1990, 4837 (4850 Rn. 23) – Pall/Dahlhausen; EuGH Slg. 1992, I – 131 (150 Rn. 15) – Nissan; EuGH Slg. 1994, I – 317 (337 Rn. 21) – Clinique; EuGH Slg. 1995, I – 1923 (1944 Rn. 24) – Mars. 8 EuGH Slg. 1998, I-4657 (4693 Rn. 37) – Gut Springenheide; so auch EuGH – Slg. 1999, I513 (547 Rn. 36) – Sektkellerei Keßler; EuGH Slg. 2000, I-2297 (2334 Rn. 22) – Darbo; EuGH Slg. 2003, I-3095 (3148 Rn. 55) – Pippig Augenoptik; EuGH GRUR Int. 2004, 328 (330) – TDI.

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ständigengutachten oder eine demoskopische Untersuchung zu klären.9 Trotz dieser Klarstellung des EuGH ist bis heute streitig geblieben, ob dieser Rechtsprechung des EuGH ein rein normatives Verbraucherleitbild zugrunde liegt10. Dies gilt umso mehr, als die deutsche Übersetzung der Formulierung des Verbraucherleitbildes des EuGH inzwischen geändert wurde, um eine sinngetreuere Übertragung des (unverändert gebliebenen) französischen Originaltextes („consommateur moyen, normalement informé et raisonnablement attentif et avisé“) zu ermöglichen. Danach ist auf den „Durchschnittsverbraucher“ abzustellen, „der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist“. Die Rechtstraditionen der meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union pflegen eine normative Feststellung der Verkehrsauffassung, indem die nationalen Gerichte aufgrund eigener Sachkunde und Lebenserfahrung die Irreführungsgefahr einer Werbeangabe beurteilen. An diesen normativen Ansatz knüpft der EuGH an, indem er die Bestimmung der Irreführungsgefahr einer Werbeangabe regelmäßig ohne Sachverständigengutachten und Verbraucherbefragungen vornimmt. Der Umstand, dass er gleichwohl empirische Untersuchungen zulässt, zeigt, dass er jedenfalls in schwierigen Fällen eine Annäherung an das tatsächliche Verbraucherverständnis zulässt, um das Verständnis des Durchschnittsverbrauchers ermitteln zu können.

b) Verbraucherleitbild des BGH Seit Mitte der 1990er Jahre hat der BGH in Anlehnung an diese Rechtsprechung den geforderten Wandel vollzogen und sich sukzessive dem normativ geprägten Leitbild des EuGH angeglichen11. In seiner Entscheidung „Orient-Teppichmuster“ hat der BGH erstmals das Leitbild des „durchschnittlich informierten, verständigen und situationsadäquat aufmerksamen Verbrauchers“12 formuliert, das er seitdem als Maßstab zur Prüfung der Irreführungseignung einer Werbeangabe heranzieht13. Nunmehr 9

EuGH Slg. 1998, I-4657 (4693 Rn. 36) – Gut Springenheide. So etwa Ahrens WRP 1999, 389 (394); Scherer GRUR 2000, 273 (275); Ulbrich WRP 2005, 940 (942). 11 BGH GRUR 1996, 910 (912) – Der meistverkaufte Europas; BGH GRUR 1996, 985 (986) – PVC-frei; BGH GRUR 1997. 304 (306) – Energiekosten-Preisvergleich II; BGH GRUR 1999, 1122 (1123) – EG-Neuwagen I; BGH GRUR 1999, 1125 (1126) – EG-Neuwagen II; BGH GRUR 1999, 507 (508) – Teppichpreiswerbung; BGH GRUR 2000, 337 (338) – Preisknaller. 12 BGH GRUR 2000, 619 (620) – Orient-Teppichmuster. 13 BGH GRUR 2000, 911 ff. – Computerwerbung; weitergehend BGH GRUR 2002, 160 (162) – Warsteiner III; BGH GRUR 2004, 162 (163) – Mindestverzinsung; BGH GRUR 2005, 1061 (1063) – Telefonische Gewinnauskünfte; BGH GRUR 2008, 1114 (1115) – Räumungsfinale; BGH GRUR 2006, 949 (951) – Kunden werben Kunden; BGH GRUR 2009, 418 (420 f.) 10

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nimmt der BGH an, dass der heutige Verbraucher insbesondere bei Produkten bzw. Dienstleistungen von einem gewissen Wert und einer gewissen Nutzungsdauer Werbeangaben mit größerer Aufmerksamkeit wahrnimmt und einer Erwerbsentscheidung erst nähertritt, wenn er sich umfassend informiert, reifliche Überlegungen angestellt und verfügbare Vergleichsangebote eingeholt hat.14 Zudem ist der Verbraucher nach Auffassung des BGH verpflichtet, vom Anbieter zur Verfügung gestellte Informationen auch tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen. So weiß der durchschnittlich informierte und kritische Verbraucher, der Wert auf einen bestimmten Brauort einer Biersorte legt, dass er nähere Informationen auf den RückEtiketten der Bierflaschen findet. Macht er von dieser Informationsmöglichkeit Gebrauch, bleibt ihm der Hinweis auf die Braustätte in Paderborn nicht verborgen, so dass die Bezeichnung „Warsteiner“ in ihm nicht die falsche Vorstellung hervorrufen kann, dieses Bier sei im Ort Warstein gebraut worden.15 Auch das BVerfG legt inzwischen dieses Leitbild zugrunde, wenn es hinsichtlich der werbenden Anpreisung eines Rechtsanwalts im Internet, er habe „es zu seiner wichtigsten Aufgabe gemacht, die wirtschaftlichen Interessen seiner Mandanten optimal zu wahren“, eine Irreführungseignung dieser Aufgabe verneint und ausführt, der Rechtssuchende, der ein durchschnittliches Leseverständnis aufbringe, sehr wohl zwischen optimaler Mühewaltung und optimaler Interessenvertretung zu differenzieren wisse.16 Gleichwohl bestehen nach wie vor in Teilbereichen Unterschiede zwischen dem Verbraucherleitbild des EuGH und des BGH. Der EuGH stellt auch bei kurzlebigen und geringwertigen Waren des täglichen Bedarfs auf das Verständnis eines informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers ab. So hat der EuGH entschieden, der Durchschnittsverbraucher wisse bei einer Werbung für eine Erdbeerkonfitüre mit der Angabe „naturrein“, dass diese gleichwohl Cadmium- und Bleirückstände enthalten könne.17 Er verlangt insoweit, dass die Verbraucher auch bei solchen Produkten Werbeangaben kritisch hinterfragen. Der BGH ist demgegenüber bisher bei kurzlebigen Alltagsgütern weiterhin von einer eher flüchtigen Betrachtungsweise des Verbrauchers ausgegangen und hat ihm hier einen größeren Schutz vor irreführender Werbung zukommen lassen. So ist er davon ausgegangen, dass das erste Durchblättern von Werbebeilagen oder Zeitungsanzeigen regelmäßig auch von einem durchschnittlich – Fußpilz; BGH GRUR 2009, 690 (691) – ahd.de; BGH GRUR 2010, 658 (660) – Paketpreisvergleich. 14 BGH GRUR 2003, 626 (627) – Umgekehrte Versteigerung II; BGH GRUR 2002, 81 (83) – Anwalts- und Steuerkanzlei; BGH GRUR 2004, 162 (163) – Mindestverzinsung. 15 BGH GRUR 2002, 160 (162) – Warsteiner III. 16 BVerfG NJW 2003, 1307 (1307) – optimale Interessenvertretung. 17 EuGH Slg. 2000, I-2297 (2336 Rn. 27 ff.) – Darbo.

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informierten und verständigen Verbraucher flüchtig oder beiläufig erfolgen kann und hat insoweit bislang auch ein flüchtiges Verbraucherverständnis18 geschützt. Bei der Bestimmung der Irreführungsgefahr einer Werbeangabe hat der BGH sich dem EuGH ebenfalls angenähert, ohne dessen Ansatz bisher vollständig zu adaptieren. Seinen eher tatsächlich-empirischen Ansatz hat der BGH zugunsten einer eher normativen Herangehensweise aufgeweicht. So hat er seine mit der „Bärenfang-Doktrin“ entwickelte Differenzierung zwischen der Bejahung der Irreführungsgefahr und ihrer Verneinung aufgegeben und festgestellt, dass bei Verneinung der Irreführungsgefahr keine höheren Anforderungen an die Feststellung der Verkehrsauffassung zu stellen sind. In beiden Fällen könne der Tatrichter seine Sachkunde und Lebenserfahrung gleichermaßen einsetzen.19 In der Entscheidung „Marktführerschaft“ hat der BGH darüber hinausgehend klar gestellt, dass das Gericht auch dann, wenn die zur Entscheidung berufenen Richter nicht dem Adressatenkreis der Werbemaßnahme angehören, nicht zwangsläufig ein demoskopisches Gutachten zur Ermittlung der Verkehrsauffassung in Auftrag geben muss, sondern diese Frage kraft richterlicher Sachkunde entscheiden kann.20

2. Sektorale Harmonisierung durch die UGP-RL a) Verhältnis Unternehmer und Verbraucher Diese - wenngleich punktuellen - Divergenzen im Verbraucherleitbild gehören nach Verabschiedung der UGP-RL jedenfalls auf dem Gebiet des Wettbewerbsstrafrechts im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern (B2C) der Vergangenheit an. Insoweit erreicht die Richtlinie eine Vollharmonisierung, so dass der von der Richtlinie vorgegebene Schutzstandard von den Mitgliedsstaaten weder über- noch unterschritten werden darf - unabhängig davon, ob es sich um eine grenzüberschreitende oder rein innerstaatliche Produktvermarktung handelt. Zentralnorm der Richtlinie ist Art. 5 Abs. 1, der unlautere Geschäftspraktiken verbietet. Unter einer Geschäftspraktik wird nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 e) der UGP-RL „jede unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung an Verbraucher zusammenhängende Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich 18 BGH GRUR 2002, 715 (716) – Scanner-Werbung; BGH GRUR 2002, 81 (83) – Anwaltsund Steuerkanzlei; BGH GRUR 2004, 244 (245) – Marktführerschaft; BGH WRP 2004, 735 (737) – Dauertiefpreise. 19 BGH GRUR 2002, 550 (552) – Elternbriefe. 20 BGH GRUR 2004, 244 (245) – Marktführerschaft.

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Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden“ verstanden. Nach Art. 5 Abs. 2 der UGP-RL ist eine Geschäftspraxis unlauter, wenn sie „den Erfordernissen der beruflichen Sorgfalt widerspricht“ und unter Würdigung aller Umstände im konkreten Fall „das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers … wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist“. Art. 5 Abs. 4 der UGP-RL nennt als Regelbeispiele irreführende und aggressive Geschäftspraktiken. Art. 6 und 7 der UGP-RL definieren irreführende Handlungen und Unterlassungen näher. Eine irreführende Handlung liegt danach vor, wenn sie den Durchschnittsverbraucher durch eine Geschäftspraxis im Hinblick auf bestimmte, näher aufgeführte Umstände wie etwa wesentliche Produktmerkmale täuscht oder zu täuschen geeignet ist und ihn dadurch tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte. Darüber hinaus enthält die UGP-RL in einem Anhang 1 einen Verbotskatalog (sog. „Schwarze Liste“), dessen Tatbestände per se als unlauter gelten. Auf diese Weise wird auch das unionsrechtliche Verbraucherleitbild als verbindlicher Maßstab vorgegeben. Uneinigkeit herrscht demgegenüber noch darüber, welchen Einfluss die UGP-RL auf die Frage der normativen oder empirischen Bestimmbarkeit der Irreführungsqualität einer Werbeangabe hat. Im Erwägungsgrund 18 zur UGP-RL wird ausgeführt, es sei angezeigt, alle Verbraucher vor unlauteren Geschäftspraktiken zu schützen, der Gerichtshof habe es jedoch bei seiner bisherigen Rechtsprechung für erforderlich gehalten, die Auswirkungen auf einen fiktiven typischen Verbraucher zu prüfen. Die Richtlinie nehme den Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch sei, unter Berücksichtigung sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren als Maßstab. Der Begriff des Durchschnittsverbrauchers beruhe dabei nicht auf einer statistischen Grundlage. Die nationalen Gerichte und Verwaltungsbehören müssten sich bei der Beurteilung der Frage, wie der Durchschnittsverbraucher in einem gegebenen Fall typischerweise reagieren würde, auf ihre eigene Urteilsfähigkeit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH verlassen. Teilweise werden diese Erwägungen dahingehend verstanden, dass hier eine Absage an eine normative Bestimmung der Verkehrsauffassung erteilt werden sollte21. Diese Interpretation dürfte allerdings wohl zu weitgehend sein. Letztlich wird in den Erwägungen die bisherige Rechtsprechung des EuGH fortgeschrieben. Der Umstand, dass auf die sozialen, kulturellen und sprachlichen Faktoren Rücksicht zu nehmen sein soll, ändert nichts am eher normativ ausgerichteten Ansatz des EuGH, berücksichtigt aber, dass bei Werbeangaben, die sich an bestimmte Verbrauchergruppen wenden, von dem Ver21

So ausführlich Helm WRP 2005, 931 (939).

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ständnis eines durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe ausgegangen werden soll.22

b) Verhältnis der übrigen Marktteilnehmer zueinander Entgegen den ersten Entwürfen der UGP-RL, die eine Vollharmonisierung auch im Verhältnis der übrigen Marktteilnehmer zueinander vorsahen, hat der Richtliniengeber sich dafür entschieden, diese aus dem Regelungsbereich herauszunehmen. Für das Verhältnis der Gewerbetreibenden untereinander (B2B) ist daher die Richtlinie 2006/114/EG über irreführende Werbung und vergleichende Werbung23 maßgebend.24 Diese hat die Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung in der Fassung der Änderungsrichtlinie 97/55/EG (WerbeRL)25 ohne wesentliche Änderungen abgelöst. Hinsichtlich der vergleichenden Werbung hatte die WerbeRL bereits eine Vollharmonisierung durch Festschreibung eines bestimmten Schutzniveaus geschaffen. Hinsichtlich der irreführenden Werbung gibt sie jedenfalls nach ganz h. M. lediglich einen Mindeststandard vor26, der von den Mitgliedsstaaten überschritten werden darf. In der inhaltlichen Ausgestaltung des Irreführungsmerkmals bleibt sie recht vage, indem sie jede Werbung als irreführend kennzeichnet, „die in irgendeiner Weise - einschließlich ihrer Aufmachung - die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann 22

So auch Emmerich Unlauterer Wettbewerb, 8. Aufl. (2009), § 14 Rn. 21. RL 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung vom 12.12.2006, Abl. 2006 L 376, S. 21. 24 Für das Verhältnis der Gewerbetreibenden untereinander war eine Verordnung über Verkaufsförderung im Binnenmarkt vorgesehen, die jedoch über einen von der Kommission vom 2.10.2001 vorgelegten Vorschlag (KOM (2001) 546 endg.) nicht hinausgelangt ist. 25 RL 84/450/EWG v. 10.9.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über irreführende Werbung (Abl. 1984 L 250, S. 17) idF der RL 97/55/EG v. 6.10.1997 zur Änderung der RL 84/450/EWG zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung, ABl. 1997 L 290, S. 18. 26 Albrecht WRP 1997, 926 (929); Beater Verbraucherleitbild und Schutzzweckdenken (2000), S. 92; Dethloff Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 18; Hecker Strafbare Produktwerbung (2001), S. 301; Kemper/Rosenow WRP 2001, 370 (371 f.); Keßler/Micklitz Harmonisierung des Lauterkeitsrechts (2003), S. 50; Köhler/Lettl WRP 2003, 1019 (1023); Ludwig Irreführende und vergleichende Werbung (1995), S. 165; Niemöller Verbraucherleitbild (1999), S. 158; Sack WRP 2002, 271 (281); Springer Europäisches Unionsrecht (1995), S. 64 f.; aA Drasch Herkunftslandprinzip, S. 83; Everling in: Irreführende Werbung in Europa, hrsg. v. Zentralausschuss der Werbewirtschaft e.V. (1990), S. 52; Fezer WRP 1995, 671 (676); Steindorff WRP 1993, 139 (150), die annehmen, die WerbeRL enthalte einen eigenständigen Irreführungsbegriff, der einen für die Mitgliedsstaaten abschließenden und verbindlichen Maßstab festlege. 23

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oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist“.

c) Angleichung durch unionsfreundliche Auslegung Diese Aufspaltung des Verbraucher- und Wettbewerberschutzes durch die UGP-RL27 hat zur Folge, dass die Irreführungsqualität einer Werbemaßnahme sich im Verhältnis Unternehmer und Verbraucher nach dem unionsrechtlichen Irreführungsmaßstab richtet, der durch die inzwischen erfolgte Umsetzung der UGP-RL auch dem UWG zugrunde liegt. Im Verhältnis der sonstigen Marktteilnehmer zueinander sind die Mitgliedsstaaten in ihrer Rechtssetzung auf dem Gebiet der irreführenden Werbung nur an das Mindestschutzniveau nach der Richtlinie über irreführende Werbung gebunden, ansonsten jedoch in ihrer Rechtssetzung und Normanwendung grundsätzlich autonom. Außerhalb des Bereichs Unternehmer und Verbraucher ist der BGH nicht gehindert, weiterhin bei geringwertigen Produkten am Leitbild des flüchtigen Verbrauchers festzuhalten und ein über das Unionsrecht hinausgehendes Schutzniveau zu gewährleisten. In diesem nicht voll harmonisierten Bereich besteht daher keine Pflicht, sondern nur die Möglichkeit zur richtlinienkonformen Auslegung, d. h. zur Adaption des unionsrechtlichen Verbraucherleitbildes in allen Werbesparten. Eine Begrenzung erfahren hier nationale Regelungen nur durch die Vorgaben des Primärrechts, insbesondere durch die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34, 36 AEUV, sofern es sich um einen Fall grenzüberschreitender Produktwerbung handelt, wobei die Anforderungen an den Werbenden durch die ausweitende Auslegung der Geltung des Art. 34 AEUV durch die „Cassis de Dijon“-Entscheidung des EuGH28 zusätzlich herabgesetzt werden. Im Falle einer Kollision von Primärrecht und nationalem Strafrecht ist von einer Nichtanwendbarkeit der nationalen Strafnorm auszugehen (sog. Neutralisierung).29 Handelt es sich um einen Fall innerstaatlicher Werbung, scheidet eine Kollision mit Primärrecht aus, da dann der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Primärrechts nicht zur Anwendung kommt. Dieser Umstand kann zu einer Inländerdiskriminierung führen, wenn das nationale Recht in einem nicht harmonisierten Bereich einen Schutzstandard vorsieht, 27

Kritisch hierzu Henning-Bodewig GRUR Int. 2003, 926 (929). EuGH Slg. 1979, I-649 ff. – Cassis de Dijon. Danach ist die Warenverkehrsfreiheit auch dann tangiert, wenn ausländische Waren dem ausländischen Recht entsprechen, ihr Import oder Parallelimport in das Inland jedoch erschwert wird, indem etwa alle derartigen Waren im Inland bestimmte Zusammensetzungen aufweisen müssen. 29 Dannecker Jura 1998, 79 (84); Hecker Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. (2010), § 9 Rn. 10 ff.; Huber AöR 116 (1991), 210 (217); Satzger Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 54, 478. 28

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der über das durch Art. 34, 36 AEUV garantierte Niveau hinausgeht. Insoweit ist denkbar, dass ein Werbetreibender wegen einer sich an Gewerbetreibende richtenden innerdeutschen Werbemaßnahme für ein geringwertiges Produkt nach deutschem Recht wegen eines Verstoßes nach § 16 Abs. 1 UWG bestraft wird, während er im Falle einer grenzüberschreitenden Werbekampagne aufgrund des Vorrangs primärrechtlicher Vorgaben nicht mit Strafe bedroht werden darf. Diese Inländerdiskriminierung verstößt zwar nicht gegen Unionsrecht oder nationales Verfassungsrecht, ist aber rechtpolitisch sehr unbefriedigend. Eine Auflösung dieser Wertungswidersprüche könnte durch eine einheitliche, unionsfreundliche Auslegung auch der bisher noch nicht angeglichenen Bereiche des Wettbewerbsstrafrechts erfolgen.30 Auf diese Weise könnte vermieden werden, dass an ein und dieselbe Werbeangabe ein unterschiedlicher Irreführungsmaßstab angelegt wird, der von dem Adressatenkreis (Verbraucher oder sonstige Marktteilnehmer) oder der Art des beworbenen Produkts (gering- oder höherwertiges Produkt) abhängt. Eine generelle Implementation des unionsrechtlichen Irreführungsmaßstabes hätte den Vorteil, dass das strafrechtlich erlaubte Risiko auf dem Gebiet der Werbung einheitlich festgelegt und so ein größeres Maß an Rechtssicherheit geschaffen wird. Zwar haben sich die Divergenzen im Täuschungsschutz durch die partielle Vollharmonisierung des Wettbewerbsstrafrechts und die weitgehende Übernahme des unionsrechtlichen Verbraucherleitbildes deutlich verringert, jedoch bestehen gleichwohl noch in Nuancen Unterschiede zwischen dem deutschen und europäischen Irreführungsbegriff. Hinzu kommt, dass außerhalb der vollharmonisierten Bereiche der vergleichenden Werbung und der Werbung im Verhältnis Unternehmer und Verbraucher die Übernahme des unionsrechtlichen Schutzstandards eine freiwillige Anpassung an das europäische Recht darstellt, zu der die Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet sind.

B. Konsequenzen für die Auslegung von § 263 StGB Die Anerkennung einer unionsfreundlichen Auslegung des Irreführungsmerkmals des § 16 Abs. 1 UWG drängt zur Beantwortung der Frage, ob auch verwandte Tatbestände einer Neuinterpretation im Lichte des unionsrechtlichen Verbraucherleitbildes bedürfen. Dies gilt umso mehr, als eine tateinheitliche Begehung von Betrug und dem Täuschungsschutz dienenden

30

So das Modell von Hecker Strafbare Produktwerbung (2001), S. 329 ff.

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Straftatbeständen in Betracht kommen kann31. Hier soll die Untersuchung auf den Betrugstatbestand gemäß § 263 StGB beschränkt werden, dem neben § 16 Abs. 1 StGB die Bedeutung zukommt, die strafrechtlichen Grenzen der Werbefreiheit abzustecken.

1. Unterschiede zwischen § 16 Abs. 1 UWG und § 263 StGB In der Literatur wird stets der Charakter des § 16 Abs. 1 UWG als Sonderdelikt im Vorfeld des Betrugs32 betont. Tatsächlich legt § 263 StGB fest, wo die Schwelle zur Strafbarkeit eines mittels Täuschung bewirkten Angriffs auf das Vermögen eines Wirtschaftsteilnehmers überschritten wird. Trotz der tatbestandlichen Nähe von § 16 Abs. 1 UWG und § 263 StGB sind deren Schutzrichtungen verschieden. Während § 16 Abs. 1 UWG zuvorderst die Dispositionsfreiheit des Werbeadressaten schützt, dient § 263 StGB jedenfalls nach ganz h. M.33 dem Vermögensschutz und gerade nicht dem Schutz der Dispositionsfreiheit des einzelnen Vermögensinhabers. Lediglich mit der Lehre vom individuellen Schadenseinschlag wird eine wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz anerkannt34. § 16 UWG stellt ein abstraktes Gefährdungsdelikt dar, das - insoweit enger als der Betrugstatbestand - eine täuschende Publikumswerbung verlangt, die einen bestimmten Adressatenkreis irreführen kann, ohne dass es - insoweit weiter - auf eine Schädigung des Werbeadressaten oder auch nur eine konkrete Gefährdung seiner Rechtsgüter ankäme. § 263 StGB ist demgegenüber als Verletzungsdelikt ausgestaltet, das Täuschungen individueller Personen erfasst, die beim Getäuschten zum Eintritt eines Vermögensschadens führen. Zu weitgehend ist jedoch die in der amtlichen Begründung vertretene Auffassung, in vielen Fällen des § 16 Abs. 1 UWG sei zugleich der Betrugstatbestand des § 263 Abs. 1 StGB erfüllt35. Viele unerlaubte Werbemethoden zielen lediglich darauf ab, den Werbeadressaten anzulocken, ohne eine Schädigung i.S.d. § 263 StGB herbeizuführen. Insbesondere in den häufigen Fällen 31

BGHSt 27, 293 ff.; Cramer/Perron in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 263 Rn. 181. 32 Bornkamm in: Köhler/Piper, UWG, 28. Aufl. (2010), § 16 Rn. 2; Sosnitza in: Piper/Ohly/Sosnitza, UWG, 5. Aufl. (2010), § 16 Rn. 4; Dreyer in: Harte-Bavendamm/HenningBodewig, UWG, 2. Aufl. (2009), § 16 Rn. 4. 33 Vgl. beispielhaft Cramer/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 263 Rn. 1/2 mwN. Lediglich die Vertreter eines personalen Vermögensbegriffs (so etwa Otto Jura 1993, 424 [425]; Ranft Jura 1992, 66 [74 f.]; Geerds Jura 1994, 309 [319 f.]) sehen die Dispositionsbefugnis als geschütztes Rechtsgut von § 263 StGB an. 34 Fischer StGB, 57. Aufl. (2010), § 263 Rn. 146 ff.; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. (2007), § 263 Rn. 2, 48 ff.; Rengier BT I, 12. Aufl. (2010), § 13 Rn. 76 ff. 35 BT-Drs. 15/1487 S. 26.

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der ungenügenden Vorratshaltung sowie bei Täuschungen mit angeblichen „Schnäppchen“ und „Sonderangeboten“ zeigt sich, dass es in diesen Fällen zwar an der angepriesenen günstigen Kaufsituation fehlt, jedoch an der für den Schadenseintritt i.S.d. § 263 StGB erforderlichen Divergenz zwischen Leistung und Gegenleistung fehlt36. Ungeachtet dieser Unterschiede in der Schutzrichtung und der tatbestandlichen Ausgestaltung beider Tatbestände beeinflusst die UGP-RL auch die Auslegung des Betrugstatbestandes. Inzwischen ist nämlich anerkannt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht auch im Strafrecht Geltung hat37. Bei Richtlinien, die keine unmittelbare Geltung gegenüber dem Normadressaten haben, sondern nach Art. 288 Abs. 3 AEUV einer Umsetzung in nationales Recht bedürfen, zwingt der Anwendungsvorrang dazu, das gesamte nationale Recht richtlinienkonform auszulegen. Von mehreren möglichen Auslegungsalternativen ist die diejenige vorzuziehen, die geeignet ist, die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorschriften und damit die Ziele des Unionsrechts zu sichern (sog. Gebot des effet utile)38. Der EuGH hat die richtlinienkonforme Auslegung im Strafrecht in der Entscheidung „Kolpinghuis Nijmegen“ explizit bejaht39. Begrenzt wird die Anwendbarkeit der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht durch Art. 103 Abs. 2 GG, insbesondere den Wortlaut als äußerste Grenze der Auslegung.

2. Konsequenzen für § 263 StGB im harmonisierten Bereich Soweit eine Vollharmonisierung durch eine Richtlinie erfolgt ist, schreibt das Unionsrecht den nationalen Mitgliedsstaaten vor, welche Handlungen erlaubt und welche verboten sind. Hieraus ergibt sich der Grundsatz, dass unionsrechtlich erlaubtes Verhalten nach nationalem Recht nicht verboten werden darf. Bezogen auf die UGP-RL bedeutet dies, dass Geschäftspraktiken eines Unternehmers gegenüber einem Verbraucher, die nach Unionsrecht als lauter und damit zulässig gelten, durch das nationale Recht nicht verboten werden dürfen40. Diese dürfen daher ebenso wenig durch den 36

So auch Rengier in: Fezer, UWG, 2. Aufl. (2010), § 16 Rn. 30, 33. Ambos in: Münchener Kommentar, StGB (2003),Vor §§ 3-7 Rn. 11; Dannecker BGH-FS (2000), S. 359; Gleß GA 2000, 224 (226 ff.); Jokisch Unionsrecht und Strafverfahren (2000), S. 45 ff.; Satzger Europäisierung des Strafrechts, S. 43 ff.; Tiedemann Roxin-FS (2001), S. 1408. 38 EuGH Slg. 1970, 825 (838 Rn. 5, 840 Rn. 12 f.) – Grad; EuGH Slg. 1988, I-5013 (5042 Rn. 19) – Saarland u.a.; EuGH Slg. 1998, I-4951 (4990 Rn. 35) – Edis; EuGH Slg. 1999, I7089 (7107 Rn. 24) – Adidas. 39 EuGH Slg. 1987, 3969 (3986 Rn. 12 ff.) – Kolpinghuis Nijmegen. 40 Apostolopoulos WRP 2005, 152 (156); Henning-Bodewig GRURInt 2005, 629 (633). 37

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wettbewerbsrechtlichen Tatbestand des § 16 Abs. 1 UWG als auch den Betrugstatbestand des § 263 StGB pönalisiert werden. Auch wenn die UGP-RL der Angleichung des Wettbewerbsrechts dient, bestimmt sie unmittelbar auch die im Wege der Auslegung zu ermittelnde Reichweite des Betrugstatbestandes.

a) Publikumswerbung Dies stellt die bisherige Betrugsdogmatik vor völlig neue Herausforderungen, wurde bisher doch nach h. M. jedes Hervorrufen einer tatsächlichen Fehlvorstellung durch Verbreiten einer unwahren Tatsachenaussage vom Betrugstatbestand erfasst41. Hintergrund für die tradierte Betrugskonzeption ist die Ausgestaltung des Betrugs als individualschützendes Vermögensdelikt. Diese Schutzrichtung lässt nach strenger Auslegung nicht zu, auf den Verständnishorizont eines Kollektivs abzustellen, um die Täuschungsrelevanz einer Werbeaussage zu messen. Daher stehen der Erfüllung des Betrugstatbestandes nach bisher h. M. Fehlvorstellungen eines besonders naiven, leichtgläubigen Opfers, mit dem der Täter leichtes Spiel hat, nicht entgegen42. Demgegenüber gab es in der Literatur bereits Versuche einer normativen Begrenzung des Betrugstatbestandes43. Die nunmehr erforderliche Implementierung des unionsrechtlichen Täuschungsschutzes im Betrugstatbestand44 kann nur durch eine normative Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 263 StGB erreicht werden, die der bisherigen Betrugsdogmatik fremd ist. Die Relevanz einer Fehlvorstellung wird nunmehr auch im Kontext von § 263 StGB an einer normativ vorgegebenen Verkehrsauffassung zu messen sein. Dies kann nur durch eine an der Verkehrsauffassung orientierten Neuinterpretation der Merkmale „Täuschung“ und „Irrtum“ erreicht werden. Diese Tatbestandsmerkmale müssen an die 41

BGH NStZ-RR 2004, 110 (111); Cramer/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 263 Rn. 6; Fischer StGB, 57. Aufl. (2010), § 263 Rn. 14. 42 BGH NStZ 2003, 313, 314; BGH MDR/D 1972, 387; BGHSt 34, 199 (201 f.); BGH wistra 1990, 305; BGH wistra 1992, 95 (97); Hillenkamp Vorsatztat (1981) S. 87; Otto JZ 1993, 652 (654); Cramer/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 263 Rn. 33; Maurach/Schröder/Maiwald BT/1, 10. Aufl. (2009), § 41 Rn. 61; Rengier BT I, 12. Aufl. (2010), § 13 Rn. 21; SK-Samson/Günther StGB, 20. Lfg. (Stand: Oktober 1999), § 263 Rn. 58, der mit der Überlegung, mitunter suche ein Täter sich sein Opfer gezielt nach seiner Leichtgläubigkeit aus, eine gesteigerte Schutzbedürftigkeit des „leichtsinnigen und vertrauensseligen“ Opfers annimmt. 43 Ellmer Betrug und Opfermitverantwortung (1986), S. 97; Pawlik Das unerlaubte Verhalten beim Betrug (1999), S. 61 ff.; Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug, hrsg. v. Schünemann (2002), S. 51 ff. 44 So auch Hecker in: Handbuch des Europäischen Strafrechts, hrsg. v. Satzger/Sieber (2010), § 27 Rn. 20; ders. Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. (2010), § 9 Rn. 35; Soyka wistra 2007, 133 (129); ihm nachfolgend Scheinfeld wistra 2008, 167 (172).

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Voraussetzung geknüpft werden, dass durch die Tathandlung ein wettbewerbsstrafrechtlich nicht mehr erlaubtes Risiko in Form einer kollektiven Irreführungsgefahr geschaffen wurde. Konkret bedeutet dies: Eine Werbelüge, der die Eignung fehlt, einen nicht unerheblichen Teil des Verkehrs in die Irre zu führen, ist keine betrugsrelevante Täuschung. Der Tatrichter hat insoweit zu prüfen, ob eine Werbaussage für den durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen und verständigen Verbraucher eine Fehlvorstellung hervorruft. Wenn beispielsweise ein Vertreiber von Schönheitsmitteln in Zeitschrifteninseraten behauptet, seine Massagebürsten brächten überflüssiges Fett schon durch einfache Berührung zum Verschwinden45 oder die Einnahme seines Präparates „Haarverdicker-Doppelhaar“ führe zur Verdoppelung des Haarvolumens binnen zehn Minuten bzw. nach der ersten Anwendung des „Hollywood-Lifting-Bads“ aus „taufrischem Frischzellenextrakt“ sähe man mindestens fünf Jahre jünger aus46, ist das Vorliegen eines betrugsrelevanten Täuschungshandlung abzulehnen, da solche Sensationsbehauptungen von einem durchschnittlichen informierten und kritischen Verbraucher nicht ernst genommen werden. Auf die Frage, ob sie bei dem individuellen Betrugsopfer zu einer Fehlvorstellung führen, kommt es demgegenüber nicht an. Der Verkehrsauffassung kommt dadurch die Funktion eines Tatbestandskorrektivs zu. Der Maßstab des durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen und verständigen Verbrauchers ist Einfallstor für die Implementierung des unionsrechtlichen Täuschungsschutzniveaus. Dieses bestimmt damit gleichermaßen die Reichweite des wettbewerbstrafrechtlichen und des betrugsstrafrechtlichen Schutzes vor Täuschung. Auf diese Weise wird der Anwendungsbereich von § 263 StGB bei Geschäftspraktiken eines Unternehmers gegenüber einem Verbraucher deutlich eingeschränkt. Die hiermit verbundene Absenkung des Täuschungsschutzniveaus und Beschränkung des Opferschutzes wird jedenfalls auf dem Gebiet der Publikumswerbung partiell dadurch kompensiert, dass bei der Prüfung der Irreführungseignung von Werbeangaben auf den jeweiligen Verbraucherkreis und dessen Verständnis abgestellt wird und die Informationspflichten der Unternehmen weiter ausgebaut werden47.

45

Vgl. OLG Köln OLGSt § 263, S. 126 – Wunderbürstenfall. BGHSt 34, 199 (200). 47 Hecker Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. (2010), § 9 Rn. 35 wirft die Frage auf, inwieweit das nationale Recht nach Art. 5 II lit. b, III UGP-RL einen strengeren Täuschungsschutzmaßstab anlegen darf, wenn es um den Schutz besonders empfindlicher Verbrauchergruppen wie Kinder, Jugendliche oder Senioren geht. Er empfiehlt, die Auslegung der UGP-RL dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. 46

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b) Individualtäuschungen Die UGP-RL erfasst jedoch nicht nur Publikumswerbung, sondern nach der weiten Definition der Geschäftspraktik jedwede geschäftsbezogene Verhaltensweise eines Unternehmers gegenüber einem Verbraucher, so dass auch Individualtäuschungen in diesem Verhältnis nunmehr am Verständnis des verständigen, kritischen und aufmerksamen Durchschnittsverbrauchers zu messen sind. Ob dieses Ergebnis kriminalpolitisch sinnvoll ist, lässt sich bezweifeln. Die Gefahr, dass gerade unkritische Personen mit irreführenden Werbeangaben getäuscht werden, ist bedeutend größer, wenn der Täter die Schwächen seines Tatopfers in einem persönlichen Gespräch kennen lernen und seine Täuschungsstrategie hierauf ausrichten kann48. Der Tatrichter wird de lege lata jedoch gezwungen sein, den Betrugstatbestand - richtlinienkonform - in diesem Sinne auszulegen. Andernfalls käme es zu dem nicht hinnehmbaren Ergebnis, dass eine Werbung, die nach dem Maßstab der UGP-RL als lauter und damit zulässig einzustufen ist, zwar den wettbewerbsstrafrechtlichen Straftatbestand des § 16 Abs. 1 UWG nicht mehr erfüllt, da sie den Durchschnittsverbraucher nicht in die Irre zu führen geeignet ist, jedoch eine Strafbarkeit nach § 263 StGB auslösen kann, wenn ein Einzelner dennoch durch die Angaben getäuscht und zu einer schädigenden Vermögensverfügung veranlasst wird. Auf diese Weise würde betrugsstrafrechtlich der Schutz des leichtgläubigen, naiven Täuschungsopfers wieder eingeführt, der wettbewerbsstrafrechtlich durch die Einführung des Maßstabes des verständigen, kritischen und aufmerksamen Verbrauchers abgeschafft werden sollte. Dies wäre auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Betrugstatbestand als Verletzungsdelikt gegenüber der strafbaren Werbung gemäß § 16 Abs. 1 UWG weitere Voraussetzungen beinhaltet, ein Verstoß gegen den Regelungsgehalt der Richtlinie. Der Werbende soll sich darauf verlassen können, dass Werbeangaben, die nach der UGP-RL zulässig sind, unter dem Gesichtspunkt ihrer Täuschungseignung zulässig sind. Deshalb kann eine lautere Geschäftspraktik auch dann keine Betrugsstrafbarkeit begründen, wenn sie bei einem einzelnen Werbeadressaten dennoch zu einer irrtumsbedingten schädigenden Vermögensverfügung des Werbeadressaten führt. Hier gibt der durch die Richtlinie vorgegebene Schutzstandard gegen irreführende Werbung vor, dass in diesem Fall das Merkmal Täuschung einschränkend ausgelegt werden und die Täuschungsqualität der Werbeangabe verneint werden muss.

48

So schon Hecker Strafbare Produktwerbung (2001), S. 324, der vor Erlass der UGP-RL auf dem Gebiet der Publikumswerbung für eine betrugsstrafrechtliche Sonderdogmatik durch Implementierung des unionsrechtlichen Irreführungsmaßstabes - jedoch aus Gründen des Opferschutzes unter Beibehaltung der Betrugsdogmatik bei Individualtäuschungen - plädierte.

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Svenja Ruhs

2. Konsequenzen für § 263 StGB im nichtharmonisierten Bereich Die Aufspaltung des Wettbewerber- und Verbraucherschutzes durch die UGP-RL findet ihre Fortsetzung auch im Betrugstatbestand des § 263 StGB. Im Verhältnis der Unternehmer und Verbraucher gilt nunmehr das unionsrechtliche Täuschungsschutzniveau, während im Verhältnis der übrigen Marktteilnehmer untereinander (mit Ausnahme des Bereichs der vergleichenden Werbung) die Aufrechterhaltung der bisherigen individualrechtlich orientierten Betrugsdogmatik jedenfalls zulässig ist. Dies würde allerdings zu paradoxen Ergebnissen führen. Die betrugsstrafrechtliche Strafbarkeit einer Werbeangabe, die gemessen am Durchschnittsverbraucher zwar nicht zur Irreführung geeignet ist, den leichtgläubigen Werbeadressaten tatsächlich jedoch täuscht und schädigt, hinge dann letztlich davon ab, ob sich die Werbeangabe an den Verbraucher oder einen Zwischenhändler richtet. Richtete sie sich an einen Verbraucher, wäre sie wegen des nach der Vollharmonisierung sowohl § 16 Abs. 1 UWG als auch § 263 StGB zugrunde zu legenden Maßstabs des verständigen Durchschnittsverbrauchers nicht strafbar. Richtete sie sich dagegen an einen Zwischenhändler, wäre sie nach § 263 StGB strafbar, da hier mangels Harmonisierung weiterhin die bisherige Betrugsdogmatik Geltung hätte und es auf die tatsächliche Irreführung des Zwischenhändlers ankäme. Dieses Ergebnis überzeugt wenig, wenn man bedenkt, dass Zwischenhändler häufig die an sie adressierten Werbeangaben der Hersteller unverändert in ihre Kundenkataloge übernehmen bzw. ihrer eigenen Werbung zugrunde legen. Gerade in Anbetracht dessen, dass die Zwischenhändler möglicherweise ein gegenüber dem Endverbraucher überlegenes Wissen haben und daher regelmäßig weniger schutzbedürftig sind, ist dieses Ergebnis unbefriedigend. Kriminalpolitisch sinnvoll kann daher nur ein einheitlicher Täuschungsschutz sein. Andernfalls käme es zu nicht sachgerechten Wertungswidersprüchen bereits innerhalb des betrugsstrafrechtlichen Täuschungsschutzes. Ferner wäre eine Zersplitterung des Täuschungsschutzstrafrechts zu erwarten, die im Hinblick auf das Erfordernis der Bestimmtheit der Norm problematisch erscheint. Die Gründe, die für eine „freiwillige“ unionsfreundliche Auslegung des Wettbewerbstrafrechts im nichtharmonisierten Bereich streiten, gelten auch für das Bedürfnis nach einem unionskonform ausgelegten Betrugstatbestand.

Neue Wege für das Betrugsstrafrecht

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C. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die UGP-RL über das Wettbewerbsstrafrecht hinaus zu Anpassungen zwingt. Im Verhältnis von Unternehmern und Verbrauchern ist eine Vollharmonisierung erreicht, die zu einer Anwendung des unionsrechtlichen Irreführungsmaßstabes bei der Auslegung von § 16 Abs. 1 UWG ebenso wie bei § 263 StGB zwingt. Dies bedingt eine Abkehr von der individualrechtlich ausgestalteten Betrugsdogmatik hin zu einer normativen Auslegung der Täuschungseignung von Geschäftspraktiken. Im Verhältnis der Wettbewerber untereinander ist lediglich im Bereich der vergleichenden Werbung eine Vollharmonisierung erreicht. Ansonsten ist es den Mitgliedsstaaten gestattet, ein höheres Schutzniveau als das Unionsrecht zu gewährleisten. Im Interesse der Rechtseinheit und Wertungskongruenz sollte auch im nichtharmonisierten Bereich das unionsrechtliche Schutzniveau bei der Auslegung von § 16 Abs. 1 UWG und § 263 StGB zugrunde gelegt werden. Es bleibt abzuwarten, wie die strafrechtliche Literatur und Praxis mit diesen neuen dogmatischen Herausforderungen umgehen werden. Ferner bleibt zu hoffen, dass das Unionsrecht die wenig glückliche Aufspaltung des Verbraucher- und Wettbewerberschutzes in naher Zukunft beenden wird, um das Wettbewerbsstrafrecht als Ganzes zu harmonisieren und für die Mitgliedsstaaten umfassend die Pflicht zur unionskonformen Auslegung zu schaffen.

„Siemens-Darmstadt“ (BGHSt 52, 323) und das internationale Korruptionsstrafrecht WILHELM SCHMIDT/KERSTIN FUHRMANN

A. Einleitung Das Korruptionsstrafrecht ist seit Ende der neunziger Jahre Gegenstand unterschiedlicher internationaler Harmonisierungs- und Kooperationsbemühungen. Im Revisionsverfahren gegen ein Urteil des Landgerichts Darmstadt war der 2. Senat des Bundesgerichtshofes unter dem Vorsitz von Frau Prof. Dr. Rissing-van Saan aufgefordert, mehrere grundlegende Problemstellungen auf diesem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts zu lösen. Es ging dabei um die Aufarbeitung der Bestechungsaffäre um GasturbinenGroßaufträge von Tochtergesellschaften des italienischen Energiekonzerns Enel S.p.A. in dreistelliger Millionenhöhe, die in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregt hatten. Nach den Feststellungen des Landgerichts Darmstadt bestachen die beiden Angeklagten, der Siemens-Abteilungsleiter K. und der Berater V., im Jahr 2000 zwei leitende Angestellte G. und C. des italienischen Energiekonzerns mit Zahlungen in Höhe von insgesamt 6,121 Millionen Euro, um die Vergabe zweier Aufträge mit einem Volumen von 132,5 Millionen Euro und 205,6 Millionen Euro an die Siemens AG zu erreichen. Zur Tatzeit (1999 bis 2002) hielt der italienische Staat über das Schatzministerium noch mindestens 68 % der Aktien der börsennotierten Muttergesellschaft, während 32 % in der Hand privater Anleger waren. Zur Durchführung und Verschleierung der Zahlungen bedienten sich die Angeklagten dabei in einem Fall eines liechtensteinischen Kontengeflechts auf die Namen verschiedener Briefkastenfirmen, das in dem Geschäftsbereich der Kraftwerksparte als etabliertes System zur Bestreitung von „nützlichen Aufwendungen“ zur Erlangung von Aufträgen eingerichtet war. Im anderen Fall verwendete der Angeklagte K. eine „schwarze Kasse“ der von Siemens übernommenen KWU AG, deren Existenz außer den beiden Angeklagten selbst niemandem im Unternehmen mehr bekannt war. Die Siemens AG erwirtschaftete aus den beiden Aufträgen insgesamt einen Gewinn in Höhe von 103,8 Millionen Euro vor Steuern.

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Zunächst hatte seit Mai 2003 die italienische Justiz gegen die zwei Angestellten G. und C. des Enel-Konzerns wegen der Entgegennahme der von Siemens bezahlten Bestechungsgelder ermittelt. Dem lag die Einschätzung zu Grunde, dass diese nach italienischem Strafrecht als Amtsträger im Sinne von Art. 357 Abs. 2 des italienischen Strafgesetzbuches anzusehen seien, weil die Tochtergesellschaft Enelpower S.p.A. wegen der indirekten Beherrschung durch den italienischen Staat und ihre Tätigkeit auf dem Energiesektor eine öffentliche Verwaltungsfunktion wahrnehme. Sie wurden vom Landgericht Mailand rechtskräftig als Amtsträger verurteilt. Die Ermittlungen der italienischen Strafverfolgungsbehörden wurden in der Folge auch auf die Siemens AG selbst und zwei ihrer Mitarbeiter B. und D. ausgedehnt. Durch Urteil des Landgerichts Mailand vom 25. Juni 2006 wurden B. und D. in einem abgekürzten Verfahren wegen Amtsträgerbestechung jeweils zu Bewährungsstrafen verurteilt. Im selben Verfahren wurde gegen die Siemens AG wegen Unterlassens der Einführung und wirksamen Umsetzung von Organisations- und Managementmodellen, die geeignet waren, Straftaten in der Art der begangenen zu verhindern, eine Geldstrafe von 500.000 Euro und ein Verbot des Vertragsschlusses mit der öffentlichen Verwaltung für die Dauer von einem Jahr verhängt. Zugleich wurde gegen sie die Abschöpfung eines Gewinns („confisca“) in Höhe von 6,121 Millionen Euro angeordnet. Unter dem Druck der laufenden Ermittlungen hatte sich die Siemens AG bereits im Jahr 2003 mit der Enel S.p.A. im Rahmen eines „Settlement-Agreements“ auf umfangreiche Ausgleichsleistungen geeinigt, deren Wert das Landgericht Darmstadt mit 113 Millionen Euro beziffert hat. Das Landgericht Darmstadt hat den Angeklagten K. wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Untreue, und wegen eines weiteren Falles der Untreue zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Der Angeklagte V. war wegen Beihilfe zur Bestechung im geschäftlichen Verkehr zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt worden. Zugleich hatte das Landgericht gegen die Siemens AG den Verfall von Wertersatz in Höhe von 38 Millionen Euro angeordnet. Eine Strafbarkeit der Angeklagten nach § 334 StGB in Verbindung mit den Vorschriften des EU-Bestechungsgesetzes - EuBestG (Gesetz zu dem Protokoll vom 27. September 1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 10. September 1998, BGBl II 2340, zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juli 2004, BGBl I 1763) oder des Internationalen Bestechungsgesetzes - IntBestG (Gesetz zu dem Übereinkommen vom 17. Dezember 1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 10. September 1998, BGBl. II 2327) hat das Landgericht verneint.

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Im folgenden Beitrag geht es nicht um eine zustimmende oder kritische Anmerkung zu der Grundsatzentscheidung des 2. Senats. In den Entscheidungsgründen zur Untreue entsprach das Urteil ohnehin weitgehend dem Antrag und den rechtlichen Erwägungen der Bundesanwaltschaft. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht inzwischen die Verfassungsbeschwerde des K. gegen seine Verurteilung wegen Untreue verworfen hat.1 Dagegen blieb im Bereich des Korruptionsstrafrechts nicht nur die von der Bundesanwaltschaft vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie eine Verurteilung der Angeklagten nach § 334 StGB in Verbindung mit Art. 2 § 1 Nr. 2 lit. a und b des Internationalen Bestechungsgesetzes erstrebt hatte, ohne Erfolg. Vielmehr hob der Senat auf die Revision der Angeklagten auch die Verurteilung wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr nach § 299 StGB auf. Damit fehlte es an einem Anknüpfungspunkt für die Anordnung des Verfalls nach §§ 73 ff. StGB als Nebenfolge der Korruptionsdelikte gegenüber der Siemens AG. Dementsprechend wurde nicht nur die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie eine Erhöhung des Verfallsbetrages auf 94,579 Millionen Euro erstrebt hatte, verworfen. Es wurde auch auf die Revision der Siemens AG das Urteil bezüglich der Verfallsanordnung aufgehoben, mit der Folge, dass der Wertersatzverfall zu Gunsten der Staatskasse entfiel. Der Festschriftbeitrag für die Vorsitzende des 2. Strafsenats soll in erster Linie die rechtlichen Probleme, die sich auf dem Gebiet des internationalen Korruptionsrechts im Verfahren stellten, aufzeigen und die unterschiedlichen Standpunkte der Verfahrensbeteiligten dokumentieren. Demjenigen, der sich mit einer ähnlichen Problematik befassen muss, soll er zudem den Einstieg in das Rechtsgebiet erleichtern.

B. Rechtsgrundlagen I. Die Entwicklung des Strafrechts zur Bekämpfung der internationalen Korruption 1. Mit dem Korruptionsstrafrecht haben sich in den vergangenen Jahren u.a. die Europäische Union, die OECD, der Europarat und die Vereinten Nationen befasst.2 Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 1

BVerfG, Beschluss vom 23.06.2010 - 2 BvR 2559/08. Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201 ff.; Korte wistra 1999, 81, 82; Ligeti Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 164, S. 296. 2

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13. August 1997 3 hat die Bundesrepublik zunächst die Verfolgung von Korruptionstaten im nationalen Bereich auf eine effektivere Grundlage gestellt.4 Insbesondere wurde bei der Begriffsbestimmung des Amtsträgers i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB klargestellt, dass für die Amtsträgereigenschaft nur die Art der Aufgabe maßgeblich ist und nicht die hierfür gewählte Rechtsform.5 Diese Klarstellung erfolgte, um Lücken im Korruptionsstrafrecht zu schließen, die sich aufgetan hatten, weil die öffentliche Verwaltung ihre Aufgaben im Rahmen der Daseinsvorsorge vermehrt durch privatrechtlich organisierte Unternehmen wahrnimmt.6 Darüber hinaus wurde im Bereich der §§ 331ff. StGB (Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung) das Tatbestandsmerkmal der „Unrechtsvereinbarung“ dahingehend gelockert, dass der Nachweis einer hinreichend bestimmten Diensthandlung als Gegenleistung nicht mehr erforderlich ist. Zudem hat der Gesetzgeber sogenannte Drittzuwendungen in die Straftatbestände einbezogen und den Strafrahmen angehoben. Bei den Tatbeständen der Bestechlichkeit und Bestechung (§§ 332, 334 StGB) wurden ebenfalls die „Drittzuwendungen“ einbezogen und mit § 335 StGB eine Strafzumessungsregel für besonders schwere Fälle angefügt. Die Einfügung eines Abschnitts betreffend „Straftaten gegen den Wettbewerb“ führte insbesondere mit den Tatbeständen der §§ 298, 299 StGB zu einer Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes des Wettbewerbs.7 Die Bestechung von ausländischen Amtsträgern und von Amtsträgern internationaler Organisationen hat der bundesdeutsche Gesetzgeber dann im Rahmen der Umsetzung internationaler Vereinbarungen in einem zweiten Schritt pönalisiert.8 Dies erfolgte durch das Europäische Bestechungsgesetz (EuBestG) 9 und das Internationale Bestechungsgesetz (IntBestG) jeweils vom 10. September 1998.10

3

BGBl. 1997, Teil I, S. 2038; vgl. hierzu auch Korte NJW 1997, 2556 ff.; Fischer StGB, 57. Aufl., vor § 298 Rdn. 1. 4 Korte wistra 1999, 81 ff.; Tinkl wistra 2006, 126 ff. 5 Korte NJW 1997, 2556, 2557. 6 Vgl. hierzu auch BGHSt 38, 199. 7 Vgl. zum Ganzen Korte NJW 1997, 2556 ff. 8 Tinkl wistra 2006, 126ff.; Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201 ff.; Randt BB 2000, 1006, 1007; Pelz StraFo 2000, 300; Walter wistra 2001, 321, 322. 9 BGBl. 1998, Teil II, S. 2340; Materialien: BT-Drucksache 13/10424 = BR-Drucksache 270/98 (Gesetzentwurf der Bundesregierung), BT-Drucksache 13/10970 (Beschlussempfehlung und Bericht des BT-RA). 10 BGBl. 1998, Teil II, S. 2327; Materialien: BT-Drucksache 13/10428 = BR-Drucksache 267/98 (Gesetzentwurf der Bundesregierung), BT-Drucksache 13/10973 (Beschlussempfehlung und Bericht des BT-RA).

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2. Mit dem EuBestG wurden einerseits das Protokoll vom 27. September 1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften 11, das die Gleichstellung von europäischen mit inländischen Amtsträgern bei Bestechungshandlungen vorsieht und das Übereinkommen vom 26. Mai 1997 über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der EG und der Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind 12 in nationales Recht umgesetzt.13 Das Gesetz beinhaltet Regelungen hinsichtlich der Einbeziehung von Amtsträgern anderer EU-Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsbeamten in den Anwendungsbereich der deutschen Strafnormen sowie Regeln bezüglich der Erfassung von Auslandstaten.

3. 14

Das IntBestG implementierte das OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 17. Dezember 1997 in nationales Recht.15 Das Gesetz besteht aus drei Artikeln. Art. 1 enthält die Zustimmung zu dem OECD-Übereinkommen, Art. 2 regelt in materiellrechtlichen Normen im Einzelnen die strafrechtliche Umsetzung des OECD-Übereinkommens und Art. 3 bestimmt das Inkrafttreten des Gesetzes.16 Art. 2 § 1 IntBestG stellt hierbei mit der Gleichstellung von ausländischen mit inländischen Amtsträgern bei Bestechungshandlungen im internationalen Geschäftsverkehr die zentrale Bestimmung dar.17 Im Gegensatz zum EU-Bestechungsgesetz wird entsprechend der Mindestvorgabe des Übereinkommens (Art. 1) nur aktive zukunftsgerichtete Bestechung unter Strafe gestellt, Art. 2 § 1 Nr. 2 IntBestG i.V.m. § 334 StGB 18, und auch nur dann, wenn damit im internationalen Geschäftsverkehr ein Auftrag oder ein sonstiger unbilliger Vorteil 11

ABl. EG Nr. C313 vom 23. Oktober 1996, S. 2. ABl. EG Nr. C195 vom 25. Juni 1997, S. 2. 13 Wolf NJW 2006, 2735 ff.; Gänßle NStZ 1999, 543, 546f.; Korte wistra 1999, 81, 83; Randt BB 2000, 1006, 1007. 14 Gesetz vom 10. September 1998, BGBl. 1998, Teil. II, S. 2327; Materialien: BTDrucksache 13/10428 (Gesetzentwurf der Bundesregierung), BT-Drucksache 13/10973 (Beschlussempfehlung und Bericht RA-Bundestag). 15 Krause/Vogel RIW 1999, 488 ff.; Wolf NJW 2006, 2735; Randt BB 2000, 1006, 1007; Brooks Die Bedeutung der OECD-Konvention gegen internationale Korruption für den Aufsichtsrat, Vorstand und Abschlußprüfer einer deutschen Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Martin Peltzer 2001, S. 27, 29ff.; Pottmeyer AW-Prax 2001, 15, 16 16 Krause/Vogel RIW 1999, 488. 17 Münchener Kommentar-Korte StGB § 331 Rdn. 27; Fischer StGB, 57. Aufl., § 334 Rdn. 2. 18 Wolf ZRP 2007, 44; Pelz StraFo 2000, 300, 302; Gänßle NStZ 1999, 543 12

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erlangt werden soll.19 Darüber hinaus beinhaltet Art. 2 § 2 IntBestG einen neuen Straftatbestand gegen die Bestechung von ausländischen Parlamentariern.20

4. Durch § 2 des Gesetzes über das Ruhen der Verfolgungsverjährung und die Gleichstellung der Richter und Bediensteten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGHGG) wurden im Jahr 2002 die §§ 331ff. StGB auf Bestechungshandlungen ausgedehnt, die sich auf künftige Diensthandlungen von Richtern oder sonstigen Amtsträgern des IStGH beziehen.21 Im Jahr 2002 wurde die Gemeinsame Maßnahme der EU betreffend die Bestechung im privaten Sektor im Rahmen eines „Sammelgesetzes“ zur Implementation verschiedener strafrechtsrelevanter EU-Rechtsakte umgesetzt. Die Gemeinsame Maßnahme von 1998 verpflichtete zur Pönalisierung von Bestechungsdelikten, die zumindest Wettbewerbsverzerrungen im Gemeinsamen Markt bewirken oder bewirken könnten. Durch die Einführung eines dritten Absatzes in § 299 StGB wurde das Verbot der Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr auf den gesamten „ausländischen Wettbewerb“ ausgedehnt. Art. 8 der VN-Konvention gegen organisierte Kriminalität aus dem Jahre 2000 22 verpflichtet die Vertragsparteien lediglich zur Pönalisierung der Bestechung und Bestechlichkeit inländischer Amtsträger. Die Bundesrepublik Deutschland erfüllte diese Forderung bereits zuvor durch die §§ 331 ff. StGB und musste daher im Zusammenhang mit der Ratifikation der Konvention keine Änderungen ihres Antikorruptionsstrafrechts vornehmen.23

5. Am 19. September 2006 wurde vom Bundesministerium der Justiz ein Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption vorgelegt, welches der Umsetzung des Strafrechtsübereinkommens über Korruption des Europarats vom 27. Januar 1999, dem Zusatzprotokoll zum Strafrechtsüberkommen aus dem Jahr 2003, dem EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (2003) und der VN-

19

Korte wistra 1999, 81, 85 Münchener Kommentar-Korte StGB, § 331 Rdn. 27; Wolf NJW 2000, 2735 21 Wolf NJW 2006, 2735; Wolf ZRP 2007, 44. 22 BGBl. 2005, Teil II, S. 954. 23 Wolf NJW 2006, 2735, 2736. 20

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Konvention gegen Korruption vom 31. Oktober 2003 dienen soll.24 Es ist beabsichtigt, durch eine Gesetzesänderung nahezu sämtliche Bestimmungen des EuBestG, IntBestG und IStGH-Gleichstellungsgesetz in das Strafgesetzbuch zu überführen.25 Das Gesetzesvorhaben ist in der 16. Wahlperiode nicht abgeschlossen worden. In der laufenden Legislaturperiode wurde die Gesetzesvorlage nicht erneut eingebracht.

6. Regelungen zur Anordnung des Verfalls a) Europarechtliche Regelungen zum Recht der Gewinnabschöpfung gibt es noch nicht. Das deutsche Verfallsrecht ist in den §§ 73 ff. StGB geregelt. Aufgrund dieser Vorschriften ist die Abschöpfung der Tatvorteile beim Täter (§ 73 Abs. 1 Satz 1 StGB) oder bei dem Dritten, für den der Täter gehandelt hat (§ 73 Abs. 3 StGB), möglich, soweit nicht dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch erwachsen ist (§ 73 Abs. 1 Satz 2 StGB). Für Bestechungsdelikte hat der Bundesgerichtshof schon frühzeitig entschieden, dass der Dienstherr eines bestochenen Amtsträgers nicht als „Verletzter“ im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB gilt.26 Etwas anderes kann nach der neueren Rechtsprechung nur in den Fällen gelten, in denen durch die Annahme der Bestechungsleistung beim Dienstherrn zugleich ein Untreueschaden entstanden ist.27 Seit der Neufassung des § 73 Abs. 1 StGB 28, durch die der frühere Begriff „Vermögensvorteil“ durch das Wort „etwas“ ersetzt wurde, gilt für den Verfall das Bruttoprinzip.29 Demnach können bei der Berechnung des Verfallsbetrages Aufwendungen des Täters grundsätzlich nicht in Abzug gebracht werden.30 Eine Ausnahme sieht das Gesetz vor, wenn die Verfallsanordnung in Höhe des ursprünglich erlangten Betrages ohne Berücksichtigung der Aufwendungen für den Betroffenen eine unbillige Härte wäre (§ 73c Abs. 1 StGB).31 b) Im internationalen Strafrecht sind grundsätzlich Verfallsentscheidungen wegen derselben strafprozessualen Tat in verschiedenen Ländern möglich.32 Rechtlich nicht geklärt ist, ob im Bereich der „Schengen-Staaten“ 24

BT-Drucksache 16/6558; Wolf ZRP 2007, 44 ff.; Münchener Kommentar-Korte StGB, § 331 Rdn. 28-30. 25 Wolf ZRP 2007, 44, 45. 26 BGHSt 30, 46, 47. 27 BGHSt 33, 37, 38; 47, 22, 31. 28 Gesetz vom 28.02.1992 (BGBl. I S. 372). 29 Fischer StGB, 57. Aufl., § 73 Rdn. 3. 30 Fischer StGB, 57. Aufl., § 73 Rdn. 7 m.w.N. 31 Schmidt Gewinnabschöpfung im Straf- und Bußgeldverfahren, Rdn. 389. 32 Vgl. Schmidt Gewinnabschöpfung im Straf- und Bußgeldverfahren, Rdn. 1771 ff.

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Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) 33 einer weiteren Verfallsanordnung nach deutschem Recht entgegensteht.

II. Regelungsgehalt der neuen Korruptionsvorschriften 1. EuBestG Mit Art. 2 § 1 Abs. 1 EuBestG hat der Gesetzgeber die Regelungen in § 11 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB im Anwendungsbereich der §§ 332, 334 bis 336 und 338 StGB bei Bestechungshandlungen für eine künftige richterliche Handlung oder Diensthandlung erweitert. Darüber hinaus erfolgte eine Angleichung zwischen den einzelnen Amtsträgern.34 Nach Art. 1 Nr. 1c Satz 1 des EU-Bestechungsprotokolls gilt bei der Begriffsbestimmung des Amtsträgers eines anderen EU-Mitgliedstaates grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaates, dem der Amtsträger angehört. In Deutschland wurde jedoch von der durch Art. 2 Nr. 1c Satz 2 des EUBestechungsprotokolls eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht und gemäß Art. 1 § 1 Abs. 1 Nr. 2a EuBestG der ausländische Amtsträger einem inländischen nur insoweit gleichgestellt, als seine Stellung der eines Amtsträgers im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB entspricht.35 Aus Art. 1 Nr. 1b des Bestechungsprotokolls i.V.m. Art. 2 § 1 Abs. 1 Nr. 2b EuBestG ergibt sich dann, wer zu den Gemeinschaftsbeamten gehört, die den deutschen Amtsträgern gleichgestellt sind.36

2. IntBestG Dem Internationalen Bestechungsgesetz liegt das OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr zugrunde. In Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens wird die Verpflichtung der Vertragsparteien zur Verhinderung der Bestechung von ausländischen Amtsträgern bestimmt. Deutschland hat mit § 333 StGB - Vorteilsgewährung für eine pflichtgemäße Diensthandlung - und § 334 StGB - Gewährung von Zuwendungen 33 § 54 SDÜ bestimmt: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“. 34 Korte wistra 1999, 81, 84; Tinkl wistra 2006, 126, 127; Pelz StraFo 2000, 300, 301; Taschke StV 2001, 78; Walther, JURA 2010, 511 ff. 35 Korte wistra 1999, 81, 84; Randt BB 2000, 1006, 1007; Pelz StraFo 2000, 300, 301; Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201, 202. 36 Korte wistra 1999, 81, 84; Tinkl wistra 2006, 126, 127.

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für eine pflichtwidrige Diensthandlung - das OECD-Übereinkommen umgesetzt. Infolge der Transformation des OECD-Übereinkommens wird durch Art. 2 § 1 IntBestG als zentrale Bestimmung die Gleichstellung von ausländischen mit inländischen Amtsträgern bei aktiven Bestechungshandlungen im Zusammenhang mit einer pflichtwidrigen Diensthandlung normiert.37 Nach dieser Vorschrift wird im Falle der aktiven Bestechung gemäß § 334 StGB einem deutschen Richter der Richter eines ausländischen Staates und eines internationalen Gerichts gleichgestellt. Auch hinsichtlich der sonstigen Amtsträger erfolgte eine Gleichstellung. Art. 2 § 1 IntBestG erweitert damit den Anwendungsbereich der §§ 334 bis 336 und 338 StGB.38 Die materiellrechtlichen Normen des IntBestG sind so aufgebaut, dass die Strafvorschriften des StGB, in denen die Bestechungsdelikte geregelt sind, in Bezug genommen werden. Während die geschützten Rechtsgüter der Bestechungstatbestände des StGB die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes und das Vertrauen der Allgemeinheit hierauf sind, zielen das OECDÜbereinkommen und dementsprechend auch das IntBestG darauf ab, vor allem die wirtschaftliche Entwicklung und internationalen Wettbewerbsbedingungen zu schützen. Dementsprechend sind die Normadressaten der Bestechungstatbestände des StGB allein nach deutschem Recht bestellte Amtsträger und Richter, sowie Soldaten der Bundeswehr. Im Gegensatz dazu stellt das IntBestG gerade die Bestechung von entsprechenden Personen fremder Staaten und internationaler Organisationen unter Strafe. Um insoweit einen effektiven Strafrechtsschutz zu gewährleisten, regelt das IntBestG in Art. 2 § 3 auch sogenannte „Auslandstaten“ von deutschen Staatsbürgern. Somit macht sich nicht nur strafbar, wer von Deutschland aus einen ausländischen Amtsträger besticht, sondern jeder Deutsche, der im Ausland einen ausländischen Amtsträger besticht, ohne dass ein Bezug der Tat zu Deutschland bestehen oder auch nur beabsichtigt sein müsste. Darüber hinaus wird nach Art. 2 § 3 IntBestG nicht die Strafbarkeit der Bestechungshandlung nach dem Recht des Landes, indem die Tat begangen wird, oder des Landes, für das der Amtsträger tätig ist, vorausgesetzt.39 Eine Begriffsbestimmung, wer Amtsträger eines ausländischen Staates ist, enthält Art. 2 § 1 Nr. 2a IntBestG allerdings nicht. Teilweise Umschreibungen einzelner Bestimmungen des IntBestG finden sich lediglich in den Erläuterungen zum OECD-Übereinkommen.40 Daher ist problematisch, wie

37

Korte wistra 1999, 81, 86. Gänßle NStZ 1999, 543, 544; Taschke StV 2001, 78 ff. 39 Krause/Vogel RIW 1999, 488, 489. 40 BT-Drucksache 13/10428, S. 23ff. 38

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dieser Begriff zu definieren ist. Dies gilt auch für die Frage, ob nach Art. 2 § 1 Nr. 2b IntBestG „öffentliche Aufgaben“ wahrgenommen werden.41 Eine Mindermeinung in der Literatur ist der Auffassung, dass es für die Bestimmung der Amtsträgereigenschaft i.S.v. § 1 Nr. 2a IntBestG auf die maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Normen des jeweiligen ausländischen Staates ankommt.42 Bei der Bestimmung eines sonstigen Amtsträgers i.S.v. § 1 Nr. 2b IntBestG kann - anders als in den §§ 334 ff. StGB - eine schlichte Beauftragung genügen.43 Demnach kommt es nach dieser Meinung für die Anwendbarkeit des IntBestG nicht darauf an, ob der ausländische Amtsträger auch nach deutschem Verständnis Amtsträger wäre.44 Auch für die Frage, ob eine öffentliche Aufgabe für einen ausländischen Staat i.S.v. § 1 Nr. 2b IntBestG wahrgenommen wird, soll nach dieser Meinung allein die Rechtsordnung des jeweiligen ausländischen Staates Grundlage sein, weil die Ausgestaltung des staatlichen Verwaltungsapparates und der staatlichen Fürsorge zum Kern nationaler Souveränität gehört. Gerade in Staaten, in denen die Strukturen denen der Bundesrepublik kaum oder gar nicht gleichen, ist es mitunter schwierig, festzustellen, ob ein Entscheidungsträger öffentliche Aufgaben wahrnimmt.45 Damit führt das IntBestG im Vergleich zu dem in § 11 Abs. 2 Nr. 2 StGB normierten Voraussetzungen zu einer erheblichen Ausweitung des Straftatbestandes.46 Eine andere Auffassung in der Literatur stellt deshalb darauf ab, dass die Vorschriften des IntBestG auf der Umsetzung des OECD-Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 17. Dezember 1997 (BGBl 1998 II 2329) beruhen und die OECD selbst mehrmals verdeutlicht hat, dass die Begriffsbestimmungen des OECD-Abkommens als autonome Definitionen zu verstehen und Rückgriff auf das Heimatrecht des jeweiligen Amtsträgers auszufüllen seien. Auszugehen ist deshalb nach dieser Auffassung vom Amtsträgerbegriff des Art. 1 Abs. 4 des OECD-Übereinkommens, wobei wegen der spezielleren Regelungen in Art. 2 § 1 Nr. 1 u. 3, § 2 IntBestG die Bereiche der Legislative, der Justiz und des Militärs auszunehmen sind. Für den verbleibenden Personenkreis ist nach Art. 1 Abs. 4 Buchst. a des OECD-Übereinkommens der Begriff des Amtsträgers zu definieren als „eine

41

Wichterich/Glockemann INF 2000, 1, 3. Krause/Vogel RIW 1999, 488, 492; Pelz StraFo 2000, 300, 303; Pieth in: Pieth/Eigen Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, S. 347. 43 Münchener Kommentar-Korte StGB, § 334 Rdn. 8. 44 Pelz StraFo 2000, 300, 303. 45 Tinkl wistra 2006, 126, 128. 46 Tinkl wistra 2006, 126, 128, 131; Tinkl AW-Prax 2004, 255ff.; Gänßle NStZ 1999, 543, 547; Pieth in: Pieth/Eigen Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, S. 347. 42

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Person, die in einem anderen Staat durch Ernennung oder Wahl ein Amt im Bereich der … Verwaltung … innehat“.47 Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Auslegungsschwierigkeiten geht eine vermittelnde Ansicht davon aus, dass anders als im EuBestG die den deutschen Amtsträgern gleichgestellten ausländischen Amtsträger nicht durch einen Verweis auf das jeweilige ausländische Recht und damit Beschränkung durch den nationalen Amtsträgerbegriff, sondern autonom definiert werden.48 Ein solcher Verweis auf das Recht des Staates, dem der Vorteilsnehmer angehört, sei zur Umsetzung des dem IntBestG zugrundeliegenden OECD-Übereinkommens nicht zulässig und würde die Rechtsanwendung insbesondere bei Staaten wesentlich erschweren, deren Rechtsordnungen vom Rechtsanwender in Deutschland nicht einfach zu ermitteln seien.49 Dies schließt indessen den Rückgriff auf das Recht des jeweiligen ausländischen Staates nicht gänzlich aus.50 Vielmehr wird nach dieser Auffassung in einem zweiten Schritt auch das ausländische Recht - die öffentlich-rechtlichen (beamtenrechtlichen) Vorschriften des ausländischen Staates51 - in Bezug genommen.52 Dies gilt bei der Bestimmung der Beamten und der in einem sonstigen öffentlichen Dienstverhältnis Stehenden, wobei auch eine faktische Amtsträgerstellung ausreicht.53 Nach Art. 2 § 1 Nr. 2b IntBestG werden den nationalen Amtsträgern auch Personen gleichgestellt, die beauftragt sind, bei einer oder für eine Behörde eines ausländischen Staates, für ein öffentliches Unternehmen mit Sitz im Ausland oder sonst öffentliche Aufgaben für einen ausländischen Staat wahrzunehmen. Eine ausdrückliche förmliche Bestellung für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben ist im Gegensatz zu § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB nicht erforderlich; vielmehr ist bereits die einmalige schlichte Auftragserteilung ausreichend.54 Bei Geschäftsführern, Vorstandsmitgliedern und sonstigen leitenden Angestellten staatlicher oder staatlich dominierter Unternehmen kommt daher nur eine Gleichstellung nach § 1 Nr. 2b IntBestG in Betracht. Deren Amtsträgereigenschaft kann sich deshalb regelmäßig nur 47 Möhrenschlager in:Dölling Handbuch der Korruptionsprävention Kap. 8 Rdn. 352; vgl. auch Satzger, NStZ 2009, 297. 48 Korte wistra 1999, 81, 85; Randt BB 2000, 1006, 1007; Tinkl wistra 2006, 126, 128; Ligeti aaO, S. 308; Pelz StraFo 2000, 300, 302. 49 Münchener Kommentar-Korte StGB, § 334 Rdn. 6; Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201, 203 (FN 31). 50 Vgl. auch Gänßle NStZ 1999, 543, 547. 51 Pelz StraFo 2000, 300, 303. 52 Münchener Kommentar-Korte StGB, § 334 Rdn. 7; Krause/Vogel RIW 1999, 488 (492); Taschke StV 2001, 78, 79. 53 Münchener Kommentar-Korte StGB, § 334 Rdn. 7; Randt BB 2000, 1006, 1007; Korte wistra 1999, 81, 85. 54 Krause/Vogel RIW 1999, 488, 492; Taschke StV 2001, 78, 79.

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aus der „Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben“ herleiten. Insoweit kann auf die Auslegung des sprachlich übereinstimmenden Merkmals des § 11 Abs. 2 Nr. 2c StGB zurückgegriffen werden.55 Diese Personen werden auch dann gleichgestellt, wenn sie - sollten sie bei oder für deutsche Behörden arbeiten - als Vorteilsempfänger i.S.d. § 334 Abs. 1 StGB nur bei einer zusätzlichen förmlichen Verpflichtung in Betracht kämen. Allerdings müssen nach Art. 2 § 1 Nr. 2b IntBestG die Personen selbst öffentliche Aufgaben wahrnehmen; ausreichend ist nicht, dass sie für eine Stelle oder bei einer Stelle, die öffentliche Aufgaben wahrnimmt, beschäftigt oder für sie tätig sind.56

3. § 299 StGB Die Strafvorschrift stellt die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr unter Strafe. Sie geht auf eine nahezu wortgleiche Überführung der Regelung des § 12 Abs. 1 UWG in den § 299 Abs. 2 StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 13. August 1997 (BGBl. I 2038) zurück. Der Gesetzgeber des Korruptionsbekämpfungsgesetzes hat mit der Vorschrift des § 299 StGB zunächst keine Änderung gegenüber der früheren Regelung beabsichtigt.57 Er hat die bereits vor Inkrafttreten der Gemeinsamen Maßnahme 98/742/JI des Rates der Europäischen Union betreffend die Bestechung im privaten Sektor vom 22. Dezember 199858 geschaffene Vorschrift des § 299 StGB für deren Umsetzung als ausreichend erachtet.59 Eine sachliche Erweiterung der Vorschrift hat er nicht vorgenommen. Der 2002 eingeführte § 299 Abs. 3 StGB hat nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich klarstellende Funktion60, um einer in der Fachliteratur verbreitet vorgenommenen einschränkenden Auslegung zu begegnen.61 Schon vorher wurde bereits durch gewichtige Stimmen in der Literatur zu § 299 a.F. StGB die Meinung vertreten, dass auch von § 299 Abs. 2 a.F. StGB alle wettbewerbsrelevanten Bestechungshandlungen, unabhängig davon, auf welchem Markt sie vorgenommen wurden und wer die

55

Münchener Kommentar-Korte StGB, § 334 Rdn. 8; Wichterich/Glockemann INF 2000,

1, 3. 56

Münchener Kommentar-Korte, StGB, § 334 Rdn. 8. Vgl. BT-Drucks. 13/5584, S. 15; so auch BGHSt 46, 310, 316f.; 49, 214, 229. 58 ABl. L 358 vom 31. Dezember 1998 S. 2. 59 Vgl. BT-Drucks. 13/5584, S. 15. 60 Siehe auch Rönnau JZ 2007, 1084, 1087. 61 Vgl. BT-Drucks. 14/8998, S. 9. 57

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Mitbewerber sind, tatbestandlich erfasst werden62 oder § 299 Abs. 2 a.F. StGB zumindest räumlich auf den EU-Markt zu erstrecken ist.63 Zwar wurde die Vorgängervorschrift des § 299 StGB, § 12 UWG a.F. in der zivilrechtlichen Rechtsprechung mitunter so ausgelegt, dass durch sie lediglich der innerdeutsche freie Wettbewerb geschützt wird.64 Diese Auffassung entsprach der damals herrschenden Meinung in der Literatur.65 Ausgangspunkt war der wettbewerbsrechtliche Gedanke, es sei Unternehmern, die auf Auslandsmärkten in einem Wettbewerb standen, an welchem sich keine deutschen Wettbewerber beteiligten, nicht zuzumuten, auch in solchen Ländern den strengeren deutschen Wettbewerbsregeln unterworfen zu sein, die vor Ort ansonsten gar keine Anwendung fänden. Gegen diese herrschende Meinung und deren Entwicklung lassen sich durchaus gewichtige Gegenargumente ins Feld zu führen, wenn man die Literatur und Rechtsprechung vor diesen zivilrechtlichen Entscheidungen berücksichtigt.66 Selbst wenn man den angeführten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus den sechziger Jahren den auf den innerdeutschen Markt beschränkten Anwendungsbereich entnimmt, stand im Zeitalter der Globalisierung 30 Jahre später eine Änderung der restriktiven Auslegung des UWG nicht entgegen. Die vom Gesetzgeber deswegen für notwendig gehaltene Änderung der Auslegung der Vorschrift, die auch den europäischen Markt einbezieht, ergibt sich z.B. bereits aus den Materialien zum UWGÄnderungsgesetz aus dem Jahr 1994.67 Schon vor diesem Hintergrund lag eine Auslegung des § 12 UWG, dass zunächst zumindest der europäische Wirtschaftsraum vom Schutzbereich des § 12 UWG bzw. des § 299 StGB umfasst wird, nahe. Eine solche Auslegung hätte auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Denn eine objektiv-teleologische Auslegung, die auf den aktuellen Sinn und Zweck 62

Vgl. Schönke/Schröder/Heine StGB, 26. Aufl., § 299 Rdn. 2; Walter wistra 2001, 321, 323 f.; Münchner Kommentar-Diemer/Krick StGB, § 299 Rdn. 28 m.w.N.; Fischer StGB, 55. Aufl., § 299 Rdn. 2a. 63 Lackner/Kühl 24. Aufl., StGB, § 299 Rdn. 1; LK-Tiedemann StGB, 11. Aufl., § 299 Rdn. 55. 64 Vgl. BGHZ 35, 329 [Kindersaugflasche]; 40, 391 [Stahlexportentscheidung]; BGH NJW 1968, 1572 [Bierexport]; OLG Karlsruhe BB 2000, 635f.; w. Nachw. bei Haft/Schwörer in Festschrift für Weber, 2004, S. 367, 374f.; Vormbaum in Festschrift für Schroeder, 2006, S. 649, 656; Rönnau in Achenbach/Ransiek Handbuch Wirtschaftstrafrecht 2. Aufl. S. 76, 109 FN 271. 65 Vgl. die Nachweise bei Vormbaum a.a.O. S. 656f.; Rönnau a.a.O. FN 270; Saliger/Gaide HRRS 2008, 57, 62 FN 24; vgl. auch Satzger, NStZ 2009, 297. 66 Vgl. Rosenthal Wettbewerbsrecht, 8. Auflage (1930) § 22 Note 29, § 28 Note 1; Godin UWG (1957) § 28 Anmerkung 1; BGH GRUR 1958, S. 189; diese Bedenken waren auch Gegenstand des Plädoyers in der Hauptverhandlung vor dem BGH. 67 BT-Drucks. 12/7345 S. 4; vgl. dazu auch Korte wistra 1999, 81 ff.

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einer Norm abstellt, lässt es in gewissen Grenzen zu, zur Wahrnehmung von Gegenwartsaufgaben des Strafrechts die in historischer Auslegung gefundene Inhaltsbestimmung anzupassen und abzuändern.68 Gegen die beschränkte Anwendbarkeit des § 299 Abs. 2 StGB auf Taten, die sich gegen den inländischen Wettbewerb richteten, bestanden nach dem Inkrafttreten der bereits erwähnten Gemeinsamen Maßnahme aus dem Jahr 1998 betreffend die Bestechung im privaten Sektor Bedenken. Diese ordnete in Art. 3 Abs. 3 an, jeder Mitgliedstaat habe die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Strafbarkeit einer vorsätzlichen Handlung sicherzustellen, „durch die jemand einer Person im Rahmen ihrer geschäftlichen Aufgaben unmittelbar oder über einen Mittelsmann irgendeinen unbilligen Vorteil für sich selbst oder für einen Dritten als Gegenleistung dafür verspricht, anbietet oder gewährt, dass diese Person unter Verletzung ihrer Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt“. Die von den Mitgliedstaaten zu treffenden Maßnahmen sollten auf Verhaltensweisen angewendet werden, die eine Verzerrung des Wettbewerbs zumindest im gemeinsamen Markt mit sich bringen oder mit sich bringen könnten und die aufgrund einer regelwidrigen Vergabe oder Ausführung eines Vertrags eine wirtschaftliche Schädigung Dritter zur Folge haben oder haben könnte (Art. 3 Abs. 2 Satz 2). Die Gemeinsame Maßnahme, die später durch den Rahmenbeschluss 2003/568/JI des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor vom 22. Juli 200369 abgelöst wurde, legte unter Berücksichtigung der aus Art. 10 EGV abgeleiteten Pflicht zu einer gemeinschaftskonformen Auslegung eine Anwendung des § 299 Abs. 2 StGB durch die nationalen Gerichte nahe, die auch den Wettbewerb im Raum der Europäischen Union schützt. Mit einer derartigen Auslegung des § 299 Abs. 2 StGB wird an sich eine zulässige, dem Rückwirkungsverbot nicht unterfallende Änderung der bisherigen Rechtsprechung zu § 12 UWG vorgenommen. Denn sie stellt sich als Verwirklichung des objektiven Gesetzeswillens im Lichte des Gemeinschaftsrechts dar.70 Die Grundsätze des Rückwirkungsverbots und des Vertrauensschutzes hindern - wie oben bereits angesprochen - die Gerichte im Übrigen nicht, bestimmte Sachverhalte aufgrund neuer Erkenntnisse - hier die Dynamik auf dem Gebiet des europäischen Wettbewerbsrechts - als tatbestandsmäßig zu qualifizieren.71 68

BVerfGE 105, 135, 158; von Bedeutung für die hier erörterte Rechtsfrage zu den Grenzen der Auslegung im Strafrecht ist die vom Bundesverfassungsgericht in Bezug genommene lesenswerte Entscheidung BGHSt 10, 157. 69 ABl. L 192 vom 31. Juli 2003, S. 54. 70 Vgl. Ambos Internationales Strafrecht, 2006, § 11. 71 BVerfGE, NJW 1990, 3140.

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§ 299 Abs. 2 StGB konnte demnach für alle ab dem Zeitpunkt der Bekanntmachung der gemeinsamen Maßnahmen im Amtsblatt der Europäischen Union begangenen Taten maßnahmenkonform ausgelegt werden, um eine Gefährdung des mit der Maßnahme verfolgten Zwecks zu verhindern, zumal § 299 Abs. 2 a.F. StGB auch keine ausdrückliche Beschränkung auf den inländischen Wettbewerb enthält. Wäre eine solche Beschränkung vom Gesetzgeber damals gewollt gewesen und hätte erst mit der Neuregelung am 22. August 2002 eine Ausweitung auf den ausländischen Wettbewerb erfolgen sollen, so wäre eine Änderung der bereits bestehenden Abs. 1 und Abs. 2 zu erwarten gewesen und nicht lediglich eine Klarstellung in Abs. 3.

III. Problematik des Art. 54 SDÜ 1. Die Siemens AG war vom Landgericht Mailand im Rahmen eines abgekürzten Verfahrens wegen „Unterlassens der Einführung und wirksamen Umsetzung von Organisations- und Managementmodellen, die geeignet waren, Straftaten in der Art der begangenen Straftaten zu verhindern“, zu einer Geldstrafe von 500.000 Euro sowie einem Verbot des Vertragsabschlusses mit der öffentlichen Verwaltung für die Dauer von einem Jahr verurteilt worden. Außerdem wurde ein Gewinn in Höhe von 6,121 Millionen Euro abgeschöpft.72 Ein vergleichbares Verfahren (z.B. nach § 30 OWiG) wurde gegen die verfallsbeteiligte Siemens AG in Deutschland nicht durchgeführt. Damit stellte sich im Verfahren vor dem deutschen Gericht die Frage, ob Art. 54 SDÜ einer weiteren Anordnung des Verfalls entgegensteht. Sowohl in Deutschland, nämlich am 26. März 1995, als auch in Italien - am 26. Oktober 1997 - ist das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 (SDÜ) in Kraft gesetzt worden. Deutschland und Italien sind Vertragsparteien i.S. von Art. 54 SDÜ.73 Eine Voraussetzung des Art. 54 SDÜ 74 ist eine rechtskräftige Aburteilung durch eine Vertragspartei. Unter einer rechtskräftigen Aburteilung i.S.d. Art. 54 SDÜ ist jede verfahrensabschließende und rechtskraftbewirkende Entscheidung zu verstehen, die nach dem Recht des Erstverfolgerstaates zum Verbrauch der Straf-

72

BGHSt 52, 323, 329 f. Hecker Europäisches Strafrecht, 2. Aufl., Rdn. 13. 74 Art. 54 SDÜ lautet: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“ 73

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klage führt.75 Art. 54 SDÜ bezieht sich sowohl auf freisprechende, als auch verurteilende Erkenntnisse.76 Darüber hinaus hat der EuGH in der Entscheidung „Gözütok und Brügge“ festgestellt, dass jeder verfahrensbeendenden Entscheidung, mit der das Verhalten eines Beschuldigten geahndet wird, strafklageverbrauchende Wirkung zukommt, sofern sie nur von einer zur Mitwirkung bei der Strafverfolgung berufenen Behörde stammt.77 Selbst wenn man davon ausgeht, dass im Bezug auf die Verfallsanordnung aufgrund der Entscheidung des Landgerichts Mailand bereits eine rechtskräftige Verurteilung vorlag, blieb problematisch, ob es sich bei dem in Italien abgeschöpften Gewinn und bei dem vom Landgericht Darmstadt für verfallen erklärten Geldbetrag um Sanktionen im Sinne von Art. 54 SDÜ handelt. Als Sanktionen gelten z.B. eine Gefängnisstrafe, eine Geldstrafe oder eine Bewährungsauflage 78; auch ein Bußgeldbescheid kann repressiv-punitiven Charakter haben.79 Insgesamt muss der Entscheidung, um Art. 54 SDÜ unterfallen zu können, Ahndungswirkung zukommen.80 Sowohl nach dem deutschen als auch nach dem italienischen Recht hat der Verfall aber keinen Sanktionscharakter. Der Verfall ist nach deutschem Recht keine Strafe, sondern eine Maßnahme eigener Art81. Auch bei der „confisca“ nach italienischem Recht handelt es sich weder um eine Haupt- oder Nebenstrafe, noch um eine strafähnliche Maßnahme, sondern - wie im deutschen Recht - um einen kondiktionsartigen Ausgleich, d.h. eine sachbezogene Nebenfolge der Tat mit präventiver Wirkung.82 Diese rechtliche Einordnung der Gewinnabschöpfung in Deutschland und Italien gilt jedoch nicht bei allen Vertragsparteien des Schengener Abkommens.83 Zum Beispiel in Frankreich hat die Konfiskation Strafcharakter.84 Vor diesem Hintergrund ist bisher nicht geklärt, ob diese unterschiedlich 75

Vgl. Hecker a.a.O., Rdn. 41. Appl Ein neues „ne bis in idem“ aus Luxemburg, in: Gedächtnisschrift für Theo Vogler, 2004, S. 116, 122; Hecker a.a.O., Rdn. 26; Hackner/Schomburg/Lagodny/Wolf Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, Rdn. 267. 77 Appl a.a.O., S. 118; EuGHE, NJW 2003, 1173 ff. 78 Hecker a.a.O., Rdn. 45. 79 Hecker a.a.O., Rdn. 65. 80 Vgl. Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rdn. 11; EuGHE, NJW 2003, 1173, 1174; Hecker a.a.O., Rd. 41. 81 Vgl. dazu Fischer StGB, 57. Aufl., § 73 Rdn. 3, 7. 82 Vgl. dazu Hein/Paoli in Kaiser/Kilchling Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität 1997, S. 184. 83 Vgl. dazu Kilchling in Kaiser/Kilchling Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität 1997, S. 559 ff. 84 Vgl. Godefroy/Kletzlen in Kaiser/Kilchling Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität 1997, S. 272 ff. 76

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beurteilte Rechtsnatur des Verfalls der Annahme einer Sanktion nach Art. 54 SDÜ entgegensteht.

IV. Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof Aufgrund der aufgezeigten europarechtlichen Probleme war im vorliegenden Fall zu prüfen, ob wegen der nicht geklärten Auslegung des Art. 54 SDÜ eine Vorlage zu einer Vorabentscheidung durch den EuGH notwendig war. Vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 war den mit der Auslegung des Art. 54 SDÜ befassten nationalen Strafgerichten die Möglichkeit versagt, den EuGH zur Vorabentscheidung anzurufen. Durch die mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages erfolgte Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union wurde - im Zusammenspiel mit Art. 35 EUV - die Voraussetzung dafür geschaffen, dass nunmehr der EuGH eine Zuständigkeit für die Auslegung des Art. 54 SDÜ erhielt.85 Dies gilt allerdings nur für die Staaten, die von der gemäß Art. 35 Abs. 2 EUV eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, die Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungen nach Art. 35 Abs. 1 EUV anzuerkennen. In Deutschland ist das Zusammenwirken der nationalen Gerichte mit der supranationalen Gerichtsbarkeit durch das EuGH-Gesetz ausdrücklich geregelt worden. Nach § 1 Abs. 1 EuGHG kann jedes Gericht eine Vorabentscheidung des EuGH herbeiführen, wenn die Auslegung eines in Art. 35 EUV genannten Übereinkommens im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Letztinstanzliche Gerichte sind hierzu gemäß § 1 Abs. 2 EuGHG sogar verpflichtet.86 Diese Vorlagepflicht entfällt, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, sog. acte éclairé oder wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt, sog. acte clair. An die Annahme eines „acte clair“ stellt der EuGH strenge Anforderungen; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeit seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen. Der EUGH verlangt, dass das nationale Gericht davon überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof selbst dieselbe Gewissheit bestünde. Dies erfordert die Berücksichtigung der verschiedenen Sprachfassungen in den besonderen Begrifflichkeiten der Ge85 86

Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421, 424. Vgl. Hecker a.a.O., Rdn. 21 bis 24; Appl a.a.O., S. 12.

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meinschaftsrechtsnormen sowie die Einbeziehung des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstandes.87 In der zur Frage des „ne bis in idem“ ergangenen Rechtsprechung und Literatur wird das Problem stets im Verhältnis der betroffenen Vertragsparteien diskutiert. So wurde z.B. in der Entscheidung des EuGH „Gözütok und Brügge“ 88 nur auf die deutsche Norm des § 153a StPO und die niederländische „transactie“ und deren strafklageverbrauchende Wirkung abgestellt. Der 5. Strafsenat des BGH 89 hat sich in seinem Urteil nur mit der belgischen „transactie“ befasst und entschieden, dass ein durch die belgische Zollbehörde mit einem verwaltungsrechtlichen Vergleich abgeschlossenes Verfahren keinen Strafklageverbrauch bewirkt. Im Fall „Lacour“ hat der 4. Strafsenat 90 darauf abgestellt, dass kein Verfahrenshindernis vorliegt, weil einem Einstellungsbeschluss des Appellationsgerichtshofs in Frankreich keine materielle Rechtskraftwirkung zukomme.

C. Rechtsauffassungen im Revisionsverfahren I. Bestechung nach § 334 StGB i.V.m. Art. 2 §§ 1 Nr. 2 b, 3 Nr. 1 IntBestG 1. Die Sichtweise des Tatrichters Das Landgericht Darmstadt hat die von der Anklagebehörde angenommene Strafbarkeit nach § 334 StGB i.V.m. Art. 2 § 1 Nr. 2b, § 3 Nr. 1 IntBestG verneint, da es die hierfür erforderliche „Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und die Beauftragung durch ein ausländisches öffentliches Unternehmen“ nicht festgestellt sah. Das IntBestG sei autonom völkerrechtlich auszulegen. Die Beurteilung nach italienischem Recht sei unmaßgeblich, vielmehr sei eine Anlehnung an die offiziellen Erläuterungen zum OECDAbkommen geboten. Zwar handle es sich bei Enelpower wegen der indirekten Mehrheitsbeteiligung des italienischen Schatzministeriums um ein öffentliches Unternehmen im Sinne von § 1 Nr. 2b IntBestG. Enelpower und damit auch der Angeklagte G. hätten aber keine öffentlichen Aufgaben i.S.v. § 1 Nr. 2b IntBestG wahrgenommen.

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Vgl. hierzu auch Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rdn. 9; Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., Art. 54 SDÜ Rdn. 22. 88 NJW 2003, 1173 ff. 89 NJW 1999, 1270. 90 BGHSt 45, 123 ff.

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2. Die Sichtweise der Staatsanwaltschaft im Revisionsverfahren Entgegen der Auffassung des Landgerichts war die Staatsanwaltschaft der Ansicht, bereits der Wortlaut des Art. 2 § 1 Nr. 2b des IntBestG lasse nur den Schluss zu, dass sich die Qualifizierung des Handelns einer Person als Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben nach dem Recht des ausländischen Staates richten müsse, dessen Aufgaben die Person wahrnehme. Die Frage, ob eine Person durch einen fremden Staat beauftragt sei, öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, könne aber allein nach der Rechtsordnung des jeweiligen Staates beurteilt werden, weil die Ausgestaltung des staatlichen Verwaltungsapparates und der staatlichen Fürsorge zum Kern nationaler Souveränität gehöre.

3. Die Auffassung der Bundesanwaltschaft Die Sitzungsvertreter des Generalbundesanwalts traten auf der Grundlage der vermittelnden Literaturmeinungen 91 der Revision der Staatsanwaltschaft im Ergebnis bei. Jedoch sollten nach Auffassung der Bundesanwaltschaft die Angestellten der Enel-Tochterfirmen auch im Blick auf § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB als Amtsträger gelten. Nach den nach der BGH-Rechtsprechung maßgeblichen Kriterien bezüglich der Abgrenzung zwischen öffentlichen Aufgaben und Privatwirtschaft hätten die Angeklagten öffentliche Aufgaben im Sinne des IntBestG wahrgenommen und seien nun Amtsträger i.S.d. Vorschrift gewesen Zu berücksichtigen sei, dass G. und C. als italienische Amtsträger wegen der Bestechung in ihrem Heimatland verurteilt wurden. Manager von 100%igen Enel-Tochter(aktien)gesellschaften seien nach der herrschenden italienischen Rechtsprechung jedenfalls für den Tatzeitraum 1999-2002 unter Berücksichtigung der Eigentumsverhältnisse sowie der öffentlichrechtlichen Regulierung der Unternehmenstätigkeit als Amtsträger („pubblico ufficiale“) i.S.v. Art. 357 des italienischen StGB anzusehen.92 Trotz der Liberalisierung des Strommarktes im Jahre 1999 sei ein vollständiger Rückzug des italienischen Staates aus der Stromerzeugung nicht gewollt gewesen. Das italienische Schatzministerium habe über die Muttergesellschaft Enel die Kapitalmehrheit von Enel Produzione und Enelpower gehalten. Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. b) der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 158 seien diese Unternehmen somit öffentliche Unternehmen und hätten bei der Vergabe größerer Bauaufträge im Bereich der Stromerzeugung bestimmte Ausschreibungsregularien einzuhalten. Zudem dürfe nach der Sat91 92

BGHSt 52, 323, 345; vgl. dazu Quellenangaben in FN 48. Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201, 202.

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zung von Enel außer dem italienischen Staat kein Aktionär 3 % oder mehr des stimmberechtigten Aktienkapitals halten. Außerdem seien dem Schatzministerium zahlreiche Sonderbefugnisse eingeräumt. Aufgrund der staatlichen Führungsmacht liege demnach ein öffentliches Unternehmen vor.93 Da die Tätigkeit der Firmen im Bereich der Stromerzeugung stattgefunden habe und damit der Daseinsvorsorge zuzurechnen sei, diene die Tätigkeit der Wahrung der Interessen der Allgemeinheit und nicht nur fiskalischen Interessen. Somit seien öffentliche Aufgaben erfüllt worden.94 Da durch Art. 2 § 1 Nr. 2a IntBestG der Begriff des Amtsträgers nicht definiert werde, sei zwar zunächst auf Art. 1 Abs. 4a des OECDÜbereinkommens und die dort enthaltene Begriffsbestimmung des „ausländischen Amtsträgers“ zurückzugreifen. Die Konvention stelle einerseits auf einen institutionellen Amtsträgerbegriff ab, ergänze ihn jedoch durch eine funktionale Komponente.95 Dabei bestehe aber die Schwierigkeit, dass der Amtsträgerbegriff des Übereinkommens den gesamten Personenkreis des Art. 2 § 1 Nr. 1–3 und § 2 IntBestG umfasse. Es werde damit ein sehr weiter Begriff des ausländischen Amtsträgers verwendet 96, der nicht mit dem in Art. 2 § 1 Nr. 2a IntBestG gebrauchten Begriff identisch sei. Weil darüber hinaus keine sonstigen Anhaltspunkte für die Auslegung des Begriffs des Amtsträgers bestünden, sei mit Ausnahme des Merkmals „nach deutschem Recht“ auf die Definition in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB zurückzugreifen 97. In dieser Vorschrift ist der Amtsträgerbegriff näher bestimmt. Außer Beamten im staats- bzw. beamtenrechtlichen Sinn, d.h. Personen, die - unabhängig von der Art der ihnen übertragenen Tätigkeit - vom Staat förmlich in ein Beamtenverhältnis berufen worden sind 98 oder Richtern (§ 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB) zählen gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2b StGB alle in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis Stehende dazu. Kein Amtsträger im strafrechtlichen Sinn ist allerdings – trotz seines fortbestehenden Beamtenstatus – ein beurlaubter Beamter, der aufgrund eines privatrechtlichen Dienstvertrages für ein Unternehmen tätig wird.99 Auch ein Geschäftsführer eines in der Rechtsform einer GmbH geführten, auf dem 93

Pelz StraFo 2000, 300, 304. Pelz StraFo 2000, 300, 304. 95 Pieth in: Pieth/Eigen Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, S. 347; Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201, 203. 96 Korte wistra 1999, 81, 85. 97 Randt BB 2000, 1006, 1007. 98 BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 1 99 Münchener Kommentar-Korte StGB, § 331 Rdn. 35; BGHSt 49, 214, 215ff. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 6 94

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Gebiet des sozialen Wohnungsbau tätigen landeseigenen Unternehmens, ist weder Amtsträger im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB (kein Beamter im staatsrechtlichen Sinne) noch Amtsträger i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB 100, da dieser keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, wenn die Verwaltung ihre Ziele mit Hilfe von Vereinigungen des Privatrechts verfolgt. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ist Amtsträger, wer bei einer Behörde oder einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen hat. Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs und ihnen folgend die Obergerichte sind bereits frühzeitig dazu übergegangen, neben der eigentlichen Eingriffs- und Leistungsverwaltung auch die der Daseinsvorsorge dienende erwerbswirtschaftlich-fiskalische Betätigung dem Bereich der „Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben“ zuzuordnen und auf diese Weise in den Anwendungsbereich der Amtsdelinquenz einzubeziehen.101 Dementsprechend sind daher beispielsweise die Vorstandsmitglieder einer Landesbank 102, angestellte Ärzte in Universitätskliniken sowie in Kreis-, Bezirks- oder Städtischen Krankenhäusern 103, die Mitarbeiter einer auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe tätigen GmbH 104 als Amtsträger i.S.d. §§ 331 ff. StGB angesehen worden. Dagegen ist ein Mitarbeiter einer kommunalen Wohnbaugesellschaft kein Amtsträger, wenn die Gesellschaft nur eine von vielen Anbietern von Wohnraum ist, der mit städtischen Belegungsrechten belastet ist.105 Im Rahmen der wirtschaftlichen Betätigung des Staates muss dabei zwischen der Daseinsvorsorge durch wirtschaftliche Unternehmungen und der erwerbswirtschaftlich-fiskalischen Betätigung unterschieden werden. Der Betrieb wirtschaftlicher Unternehmungen, die der Daseinsvorsorge des Staates dienen, die bestimmt sind, unmittelbar für die Daseinsvoraussetzungen der Allgemeinheit oder ihrer Glieder zu sorgen, ist Betätigung der Staatsgewalt.106 Ob darüber hinaus auch der erwerbswirtschaftlichfiskalische Bereich als Verwaltungsaufgabe anzusehen ist, ist umstritten.107 Unter „sonstigen Stellen“ versteht man behördenähnliche Institutionen, die zwar keine Behörden im organisatorischen Sinne darstellen, aber rechtlich befugt sind, bei der Ausführung von Gesetzen und Erfüllung öffentlicher 100

BGHSt 38, 199, 203 Wichterich/Glockemann INF 2000, 1, 3 102 BGHSt 31, 264, 267ff. 103 BGH, NStZ 2000, 90f. 104 Vgl. BGH-Urteil vom 19. Dezember 1997 – 2 StR 521/97 – NJW 1998, 1874 105 BGH, wistra 2007, 302ff. = BGHR § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 13 106 BGHSt 12, 89, 90 m.w.N. 107 BGHSt 31, 264, 269 m.w.N. 101

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Aufgaben mitzuwirken.108 Nach der Rechtsprechung des BGH können sonstige Stellen auch privatrechtlich organisierte Einrichtungen sein, wenn sie bei der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben derart staatlicher Steuerung unterliegen, dass sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale gleichsam als „verlängerter Arm“ des Staates erscheinen.109 Hierzu gehören die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) 110, die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft (TLG) 111 und eine kommunale Fernwärmeversorgungs GmbH 112 nicht dagegen die Deutsche Bahn AG 113, die Flughafen Frankfurt/Main AG 114, das Bayerische Rote Kreuz 115 und die Evangelische Landeskirche in Baden 116. Ist ein Privater in einem Unternehmen in einem Umfang beteiligt, dass er durch eine Sperrminorität wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen kann, kommt nach der Rechtsprechung des BGH eine Qualifizierung als „sonstige Stelle“ nicht in Betracht.117 Für die Bestellung von Privatpersonen zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB genügt nach der Rechtsprechung des BGH eine privatrechtliche Beauftragung nicht. Erforderlich ist zur Abgrenzung von der Stellung eines Beauftragten i.S.d. § 299 Abs. 1 StGB vielmehr ein öffentlich-rechtlicher Bestellungsakt, der allerdings formlos erfolgen kann.118 Dieser muss entweder zu einer über den einzelnen Auftrag hinausgehenden längerfristigen Tätigkeit oder zu einer organisatorischen Eingliederung in die Behördenstruktur führen.119 Der nur durch einen privatrechtlichen Vertrag in die Vorbereitung einer öffentlichen Ausschreibung durch eine Behörde eingeschaltete freiberufliche Prüf- und Planungsingenieur ist daher kein Amtsträger.120 Ein freiberuflicher Bauingenieur, der aufgrund eines Rahmenvertrages sämtliche Bauangelegenheiten eines städtischen Krankenhauses zur betreuen hat, kann dagegen Amtsträger sein.121 Wenn die beauftragte Einrichtung, wie z.B. die GTZ, 108

BGHSt 49, 214, 219 BGHSt 45, 16, 19; BGHSt 46, 310, 312 f.; BGHSt 50, 299, 303/304 110 BGHSt 43, 370, 375 ff. 111 BGH, NJW 2001, 3062, 3063 f. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 6 112 BGH, Urteil vom 14.11.2003 – 2 StR 164/03 = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 7 113 BGHSt 49, 214, 219 ff. 114 BGHSt 45, 16, 19 ff. 115 BGHSt 46, 310, 313 ff. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 5 116 BGHSt 37, 191, 194 ff. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 1 117 BGHSt 50, 299, 305 f. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 9 118 BGHSt 43, 96, 105 f. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 14 119 Münchener Kommentar-Korte StGB § 331 Rdn. 40 120 BGHSt 43, 96, 105 f. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 3 121 BGH, NJW 1998, 2373 f. = BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 4 109

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insgesamt durch einen öffentlich-rechtlichen Akt zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung berufen wurde, ist ein Bestellungsakt hinsichtlich der einzelnen Mitarbeiter nicht erforderlich. Für die Amtsträgereigenschaft reicht es aus, dass den Mitarbeitern innerhalb des Aufgabenbereichs der Einrichtung bestimmte Sachgebiete auf Dauer zur eigenverantwortlichen Bearbeitung übertragen wurden.122 Keine Bestellung zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung kommt in Betracht, wenn ein Dolmetscher und Übersetzer im Auftrag der Prüflinge bei einer Führerscheinprüfung tätig wird, auch wenn die Behörde oder Stelle ihn wiederholt oder auch regelmäßig bei amtlichen Prüfungsverfahren mitwirken lässt.123 In einer Entscheidung des BGH zur Amtsträgereigenschaft124, welche BGHSt 49, 214 fortführt, geht es um einen selbstständigen Ingenieur, der aufgrund eines Dienstvertrages langfristig bei einer 100 - prozentigen Tochter der Deutsche Bahn AG im Konzernbereich „Fahrweg“ beim Um- oder Ausbau des Streckennetzes tätig war. Er wurde von einem Auftragnehmer im Zusammenhang mit der Vergabe von Bauleistungen bestochen. Der 3. Senat hat den Freispruch des Landgerichts aufgehoben, weil nach seiner Auffassung der Ingenieur zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bestellt worden war. Bei Gleisbaumaßnahmen handelte es sich um Aufgaben der öffentlichen Verwaltung. Der Ausbau und die Erhaltung des Schienennetzes gehörten zu den Aufgaben der Leistungsverwaltung einschließlich der Daseinsvorsorge, die nach ständiger Rechtsprechung zu den Aufgaben der öffentlichen Verwaltung i.S.d. von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB gezählt würden.125 Trotz der (teilweisen) Privatisierung der Deutschen Eisenbahnen stellte das Eisenbahnwesen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes126 und der ganz überwiegenden Auffassung in der Literatur eine öffentliche Aufgabe dar. Außerdem läge eine sonstige Stelle i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB vor. In die Gesamtbetrachtung, ob eine behördenähnliche Institution vorliege, seien alle wesentlichen Merkmale der Gesellschaft einzubeziehen, namentlich, ob diese gewerblich tätig sei und mit anderen im Wettbewerb stehe127, ob im Gesellschaftsvertrag eine öffentliche Zwecksetzung festgeschrieben sei128, ob sie im Eigentum der Öffentlichen Hand stehe und ihre Tätigkeit aus öffentlichen Mitteln finanziert werde129 sowie in 122

BGHSt 43, 370, 380 BGHSt 42, 230, 230 f. 124 Urteil des 3. Senats vom 19. Juni 2008 - 3 StR 490/07 125 BGHSt 31, 264, 268; 38, 199, 201 f.; 43, 370, 375; 49, 214, 220 ff. 126 BGHSt 49, 214, 221 ff. 127 BGHSt 38, 199, 204 128 BGHSt 43, 370, 372 f. 129 BGHSt 45, 16, 20 123

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welchem Umfang staatliche Steuerungs- und Einflussnahmemöglichkeiten bestünden.130 Zwar sei die alleinige Inhaberschaft sowie eine Rahmen- und Globalsteuerung der Gesellschaft durch den Staat nicht ausreichend. Jedoch ergebe eine Gesamtschau, dass die vorliegende Beschäftigungsbehörde einer Behörde gleichstehe. Vor diesem rechtlichen Hintergrund waren nach Auffassung der Bundesanwaltschaft die Angestellten der Enel S.p.A. auch nach deutschem Recht als Amtsträger anzusehen.

4. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2008 Der Bundesgerichtshof hat in der Revisionsentscheidung die Auffassung des Landgerichts Darmstadt, die Angeklagten hätten sich nicht wegen Amtsträger-Bestechung gemäß § 334 StGB strafbar gemacht, bestätigt. Zwar sei gemäß § 334 StGB i.V.m. einer Verweisung im internationalen Bestechungsgesetz seit dem Jahr 1998 auch die Bestechung ausländischer Amtsträger strafbar. Durch dieses Gesetz sei das OECD-Übereinkommen über die Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr aus dem Jahr 1997 in deutsches Recht umgesetzt worden. Seine Vorschriften würden aber nicht auf den Amtsträgerbegriff des nationalen Rechts eines der auf Geber- und Nehmerseite beteiligten Staaten verweisen. Sie seien vielmehr autonom - also nicht vom Vorverständnis eines bestimmten Nationalstaates ausgehend 131 - und damit nach den Regelungen des OECD-Übereinkommens sowie den dazu von der OECD verabschiedeten Erläuterungen auszulegen. Nach diesen Erläuterungen handele es sich bei den in Italien bestochenen Angestellten des Enel-Konzerns weder um „Amtsträger eines ausländischen Staates“ im Sinne von Art. 2 § 1 Nr. 2a IntBestG, noch hätten sie sonst öffentliche Aufgaben für einen ausländischen Staat im Sinne des Art. 2 § 1 Nr. 2b IntBestG wahrgenommen.132

II. § 299 StGB 1. Landgericht Darmstadt Die Strafkammer hat den Angeklagten K. wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr gemäß § 299 Abs. 2 StGB a.F. in zwei Fällen und den Angeklagten V. wegen Beihilfe an diesen Taten schuldig gesprochen, weil sie den Mitarbeitern des Enel-Konzerns Gegenleistungen dafür gewährt hätten, dass die Siemens AG bei der Vergabe von Aufträgen vor den anderen Mitbewerbern in unlauterer Weise bevorzugt wurde. 130

BGHSt 43, 370, 378 f.; 45, 16, 20 f.; 49, 214, 224 f. Saliger/Gaede HRRS 2000, 57, 60. 132 BGHSt, 52, 323, 344 ff. 131

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Nach Auffassung der Kammer war bei einer europaweiten Ausschreibung eines Wettbewerbs § 299 StGB a.F. entgegen verschiedenen Literaturmeinungen nicht restriktiv auf Inlandssachverhalte zu beschränken. In dem esrt im Jahr 2002 eingefügten § 299 Abs. 3 StGB sah sie nur eine Klarstellung, dass auch Handlungen im ausländischen Wettbewerb nach § 299 StGB strafbar seien.

2. Revisionen der Angeklagten Mit ihren Revisionen griffen die Angeklagten in erster Linie die Sichtweise der Strafkammer an, der im Jahr 2002 in § 299 StGB eingefügte Abs. 3 StGB habe nur klarstellende Bedeutung. Die Vorgängervorschrift des § 299 StGB, § 12 UWG a.F., sei in der zivilrechtlichen Rechtsprechung so ausgelegt worden, dass durch sie lediglich der innerdeutsche freie Wettbewerb geschützt werde.133 Der Gesetzgeber des Korruptionsbekämpfungsgesetzes habe mit der Vorschrift des § 299 StGB zunächst keine Änderung gegenüber der früheren Regelung beabsichtigt.134 Dieser Gesetzgeberwille werde durch Entschließungsanträge und Anfragen der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen 135 für den Zeitraum der Verabschiedung des Gesetzes bestätigt.

3. Auffassung der Bundesanwaltschaft Zunächst wurde im Hinblick auf die Literatur und Rechtsprechung bis zu den von der Revision hervorgehobenen zivilrechtlichen Entscheidungen aus den sechziger Jahren überhaupt die Frage gestellt, ob durch das UWG tatsächlich nur der inländische Wettbewerb geschützt war.136 Außerdem war nach Meinung der Bundesanwaltschaft aufgrund der eingangs dargelegten europarechtlich orientierten Sichtweise in den neunziger Jahren eine Auslegung des § 299 StGB geboten, die zumindest die Staaten der EU in den Schutzbereich dieser Norm einbezog. Die gesamte Rechtsentwicklung stand daher der Möglichkeit einer modifizierten Auslegung der Vorschrift des § 299 Abs. 2 StGB durch deutsche Gerichte nicht entgegen.

133 Vgl. BGHZ 35, 329 ; 40, 391; BGH NJW 1968, 1572 . 134 Vgl. BT-Drucks. 13/5584, S. 15. 135 BT-Drucksache 13/8082 bzw. 8083. 136 S. FN 66.

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4. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2008 Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes war auch der Tatbestand des § 299 Abs. 2 StGB nicht verwirklicht. Schmiergeldzahlungen im ausländischen Wettbewerb, durch die deutsche Mitbewerber nicht benachteiligt würden, seien im Tatzeitraum von Januar 2000 bis Januar 2002 von § 299 Abs. 2 StGB a.F. nicht erfasst worden. Der Senat schloss sich der Auffassung an, nach der durch § 12 UWG Bestechungshandlungen, die sich ausschließlich gegen den ausländischen Wettbewerb richteten, vom Schutzbereich der Vorschrift nicht erfasst worden seien. Die nahezu wortgleiche Überführung der Regelung des § 12 Abs. 1 UWG in den § 299 Abs. 2 StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 13. August 1997137 habe nach der Begründung zum Gesetzentwurf am sachlichen Gehalt der Norm nichts ändern sollen. An der beschränkten Anwendbarkeit des § 299 Abs. 2 StGB auf Taten, die sich gegen den inländischen Wettbewerb richteten, habe auch das Inkrafttreten der Gemeinsamen Maßnahme 98/742/JI des Rates der Europäischen Union betreffend die Bestechung im privaten Sektor vom 22. Dezember 1998138 nichts geändert. Der Auffassung des Senats stehe nicht entgegen, dass der Gesetzgeber in der Begründung des Entwurfs des Gesetzes vom 22. August 2002, durch das der § 299 Abs. 3 StGB eingefügt worden war, eine Einbeziehung ausländischen Wettbewerbs in den Schutzbereich der Norm auch auf der Grundlage der bis dahin geltenden Fassung zumindest für möglich gehalten hatte.139 In der Begründung des Gesetzentwurfs werde ausgeführt, eine ausdrückliche "Klärung" des Anwendungsbereichs des § 299 StGB sei deshalb geboten, weil die Vorschrift "in der Auslegung durch die überwiegende Lehre den Anforderungen der Gemeinsamen Maßnahme nicht entspricht". Folglich sei die Vorschrift bis zum Zeitpunkt dieser Klärung in einem anderen Sinne ausgelegt worden. Ein den § 299 Abs. 2 StGB einschränkendes Verständnis habe auch einem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen an die Obersten Finanzbehörden der Länder vom 10. Oktober 2002 140 zu Grunde gelegen. Danach war bei § 299 StGB zu beachten, dass damit zunächst nur der Wettbewerb deutscher Unternehmen geschützt gewesen und der Anwendungsbereich dieser Vorschrift erst durch das Anfügen eines Absatzes 3 an § 299 StGB mit Wirkung vom 30. August 2002 auf Handlungen im ausländischen Wettbewerb ausgedehnt worden sei, mit der Folge, dass bis zu diesem Zeitpunkt im ausländischen Wettbewerb gezahlte Schmiergelder grundsätzlich steuerlich abzugsfähig gewesen seien. Dementsprechend hob der Senat die Verur137

BGBl I 1997, Bl. 2038 ABl. L 358 vom 31. Dezember 1998 S. 2. 139 BT-Drucksache 14/8998 S. 9 f. 140 BStBl I 1031, 1033. 138

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teilungen wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr bzw. wegen Beihilfe hierzu auf.

III. Die Anordnung von Wertersatzverfall nach §§ 73 ff. StGB 1. Das Urteil des Landgerichts Darmstadt Das Landgericht Darmstadt hat gegen die Siemens AG den Verfall von Wertersatz in Höhe von 38 Millionen Euro angeordnet. Dabei ist die Kammer zunächst davon ausgegangen, dass die Siemens AG aus den Aufträgen aufgrund der gezahlten Bestechungsgelder für die Projekte einen Gewinn von 100,7 Millionen Euro erlangt hat. Von diesem Betrag wurden gemäß § 73c Abs. 1 Satz 1 StGB (unbillige Härte) die vom Landgericht Mailand abgeschöpften 6,121 Millionen Euro abgezogen. Das italienische Gericht war dabei der Erfahrungstatsache gefolgt, dass der Gewinn aus einem durch Bestechung erlangten Auftrag in der Regel mindestens um die Summe der für seine Erlangung gezahlten Bestechungsgelder überhöht ist. Einen weiteren Abzug nach der Härtevorschrift des § 73c Abs. 1 StGB billigte das Landgericht Darmstadt der Siemens AG aufgrund eines nach Vergleichsverhandlungen mit dem EnelKonzern getroffenen „Settlement-Agreement“ in Höhe von 56,5 Millionen Euro zu. Mit dieser Vereinbarung wollte die Siemens AG Schadensersatzforderungen von Enel aufgrund von überhöhten Rechnungsstellungen und eines erwarteten Reputationsverlustes abwenden. Zudem sollte einer befürchteten Anfechtung der Lieferverträge bezüglich der eingebauten Gasturbinen entgegengewirkt werden. Schließlich wollte die Siemens AG mit der Abrede den Ausschluss der Firma von öffentlichen Ausschreibungen in Italien möglichst vermeiden und die künftige Geschäftsbeziehung mit Enel fortsetzen. Die Summe von 56,5 Millionen Euro war der von der Strafkammer geschätzte Anteil des Settlement-Agreements, mit dem die Firma Siemens die Rückabwicklung der geschlossenen Verträge und die damit verbundenen Folgekosten vermeiden wollte.

2. Revision der Nebenklage Gegen das Urteil legte auch die Firma Siemens AG als Verfallsbeteiligte Revision ein. Sie machte geltend, dass der Verfallsanordnung Art. 54 SDÜ entgegenstehe, weil es sich bei der „confisca“ nach italienischem Recht um eine Sanktion im Sinne dieser europarechtlichen Norm handele.

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Außerdem vertrat die Revision die Auffassung, dass der mit dem „Settlement-Agreement“ ausgehandelte Gesamtbetrag in Höhe von 103 Millionen Euro als unbillige Härte mindernd zu berücksichtigen sei.

3. Die Revision der Staatsanwaltschaft Bezüglich der Nebenbeteiligten beanstandete die Revision der Staatsanwaltschaft die Höhe des angeordneten Wertersatzverfalls. Während die Strafkammer den Wert des durch die Taten Erlangten aufgrund der Feststellungen mit 100,7 Millionen Euro beziffert hat, hatte sie die Voraussetzungen des § 73 c Abs. 1 Satz 1 StGB als gegeben erachtet und erhebliche Abzüge vom an sich verfallsfähigen Betrag vorgenommen. Zwar war der Abzug in Höhe von 6,121 Millionen Euro wegen des bereits durch die italienische Justiz abgeschöpften Gewinns als unzumutbare Doppelbelastung revisionsrechtlich nicht beanstandet. Jedoch erschien der Staatsanwaltschaft der weiterhin vorgenommene Abzug in Höhe von 56,5 Millionen Euro wegen des von der Siemens AG mit dem Enel-Konzern getroffenen „Settlement-Agreement“ als rechtsfehlerhaft.

4. Stellungnahme der Bundesanwaltschaft Obgleich der EuGH bislang nur über die Anwendung des Art. 54 SDÜ auf natürliche Personen zu entscheiden gehabt hatte, ging die Bundesanwaltschaft davon aus, dass die Vorschrift auch für juristische Personen gelte - jedenfalls solange diese sich wirtschaftlich betätigten. Nach Auffassung des EuGH verfolge das Doppelbestrafungsverbot den Zweck einer möglichst umfassenden Freizügigkeit für die Unionsbürger. Dieser Gedanke lasse sich in Gestalt der möglichst schrankenlosen Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit ohne weiteres auf Unternehmen übertragen. Die Bundesanwaltschaft sah auch in der Anordnung der „confisca“ durch das italienische Gericht eine Vorverurteilung im Sinne des Art. 54 SDÜ. Der Europäische Gerichtshof habe mehrfach entschieden, dass das Kriterium derselben Tat in Art. 54 SDÜ gemeinschaftsrechtlich auszulegen sei und es als die Identität der materiellen Tat definiere, verstanden als Komplex konkreter Umstände, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden seien.141 Diese Definition zugrunde gelegt, sei vor dem Hintergrund der italienischen Rechtslage davon auszugehen, dass sich die italienische und die deutsche Verfallsanord141 Vgl. hierzu Harms/Heine in Festschrift für Hirsch, 2008: Es führt kein Weg am EuGH vorbei. Die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 54 SDÜ, die Probleme der Praxis und die Vorlagepflicht der Strafgerichte, S. 85, 88ff.

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nung auf dieselbe Tat im Sinne von Art. 54 SDÜ bezögen. Denn im Ergebnis war der in Italien konfiszierte Betrag ein Gewinn der Siemens AG, auch wenn das italienische Gericht bei der Feststellung der Höhe dieses Betrages sich am gezahlten Bestechungslohn orientiert hat, ohne diesen bei den Empfängern abzuschöpfen. Des Weiteren wurde von der Bundesanwaltschaft problematisiert, ob die „confisca“ bzw. der Verfall eine Strafverfolgungsmaßnahme i.S. des Art. 54 SDÜ ist. Durch die Konfiskation des Profits sei die Siemens AG in Italien Strafverfolgungsmaßnahmen im weiteren Sinne unterworfen worden, die - sollte Art. 54 SDÜ eingreifen - die nochmalige Verfolgung in einem anderen Mitgliedsstaat verbieten würden. Maßgebend sei also, ob die Verfallsentscheidung gegen einen Drittbeteiligten nach deutschem Recht eine nochmalige Verfolgung darstelle. Insoweit komme es auf das unionsrechtliche Verständnis des Begriffes mit seinem materiellen Gehalt an. Entscheidend sei, ob Gewinnabschöpfungsmaßnahmen aus europäischer Sicht eine Sanktion darstellen, der strafähnlicher Charakter zukomme. Nachdem hierzu Judikatur des Europäischen Gerichtshofes noch nicht vorlag, hielt die Bundesanwaltschaft eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften für erforderlich. Ein entsprechender Antrag wurde in der Hauptverhandlung gestellt. Zur Frage der unbilligen Härte nach § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB vertrat der Generalbundesanwalt die Ansicht, dass das Tatgericht den Begriff und die Voraussetzungen der unbilligen Härte unzutreffend ausgelegt habe.142 Soweit die freiwilligen Zahlungen der Firma Siemens der Abwendung der von der Strafkammer als solche bezeichneten „gewinnvernichtenden“ bzw. „gewinnaufzehrenden“ Folgen einer Rückabwicklung der geschlossenen Verträge dienten, hätten diese im Rahmen des § 73 c Abs. 1 S. 1 StGB nicht berücksichtigt werden dürfen. Ihre Berücksichtigung widerspreche der vom Gesetzgeber mit der Einführung des Bruttoprinzips getroffenen Wertung, dass Aufwendungen für ein rechtswidriges Geschäft verfallsfähig blieben, obwohl diese den Gewinn minderten. Nichts anderes könne für nachträglich erbrachte Aufwendungen gelten, die der Sicherung des rechtswidrig erlangten Gewinns dienten. Einen tatsächlich drohenden Folgeschaden habe die Strafkammer weder dem Grunde, noch der Höhe nach, konkret festgestellt. Darüber hinaus habe die Strafkammer die freiwillig geleisteten Ausgleichszahlungen der Siemens AG zur Abwendung nicht näher spezifizierter Folgekosten auch deshalb nicht verfallsmindernd i.S. des § 73 c Abs. 1 S. 1 StGB berücksichtigen dürfen, weil es sich bei der Abwendung des letztlich nur unterstellten „Folgeschaden“ für den Enel-Konzern nicht um eine Doppelbelastung han142

Vgl. Fischer StGB, 57. Aufl., § 73 c Rdnr. 8.

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dele, die eine Verfallsanordnung in Höhe des gesamten festgestellten Gewinns als schlechthin unzumutbar erscheinen lasse. Eine Härte im Sinne des Gesetzes liege nur dann vor, wenn der Verfall den Betroffenen empfindlich treffe und diese Härte Grundsätze der Billigkeit und das Übermaßverbot verletzen würde, also ungerecht wäre.143 Der grundsätzlichen Verfallbarkeit des Wertersatzes stehe jedoch nicht generell entgegen, dass die Bereicherung beim Täter nachträglich weggefallen sei.144 Es müssten vielmehr besondere Umstände hinzukommen, aufgrund derer mit der Vollstreckung des Verfalls eine außergewöhnliche Härte verbunden wäre, die dem Betroffenen auch unter Berücksichtigung des Zwecks des Verfalls nicht zugemutet werden könne.145 Solches sei vorliegend nicht gegeben.

5. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2008 Die Revision der Siemens AG als Nebenbeteiligte führte zur Aufhebung und zum Wegfall der Anordnung des Wertersatzverfalls. Nachdem der Senat weder eine Strafbarkeit nach § 334 Abs. 1 Satz 1 StGB in Verbindung mit Art. 2 § 1 Nr. 2 IntBestG oder mit Art. 2 § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) EuBestG noch eine solche nach § 299 StGB angenommen hat, fehlte es an einer Anknüpfungstat nach § 73 Abs. 1, 3 StGB. Damit erübrigte sich auch eine Vorlegung an den Europäischen Gerichtshof.

D. Schlussbemerkungen Auch wenn die wesentliche Bedeutung der Entscheidung „SiemensDarmstadt“ schon wegen des Umfangs der rechtlichen Ausführungen zur Untreue (§ 266 StGB) bei „Schwarzen Kassen“ gesehen wird 146 zeigt der Festschriftbeitrag auf, dass mit dieser Entscheidung vom 2. Senat unter dem Vorsitz von Frau Prof. Dr. Rissing-van Saan nicht weniger bedeutsame Probleme des Internationalen Korruptionsrechts mit dieser Entscheidung ebenfalls gelöst wurden. Zwar dürfte die aufgezeigte Problematik des § 299 StGB nur noch für eine Übergangszeit von Bedeutung sein. Die Auffassung des Senats zum IntBestG wird der Gesetzgeber bei einer Neuregelung des 143

Vgl. BGH wistra 2001, 388-390; Fischer StGB, 57. Aufl., § 73 c Rdnr. 3. Vgl. Schönke/Schröder StGB, 28. Aufl., § 73 a Rdnr. 5 und § 73 c Rdnr. 4. 145 Vgl. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 73 c Rdnr. 3. 146 Vgl. dazu Fischer Prognosen, Schäden, Schwarze Kassen, in NStZ-Sonderheft für Miebach (2009) S. 8. 144

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Korruptionsrechts nicht außer Acht lassen können. Abzuwarten bleibt, wie Art. 54 SDÜ in Zukunft beim Zusammentreffen von Verfallsentscheidungen in verschiedenen Ländern angewendet wird.

Zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3d) EMRK BERTRAM SCHMITT

I. Bedeutung Art. 6 Abs. 3d) der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) garantiert jeder angeklagten Person „Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen.“ Die im deutschsprachigen Rechtsraum als „Konfrontationsrecht“ bezeichnete Gewährleistung spielt in den letzten Jahren in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - und auch das Bundesverfassungsgerichts - eine immer größere Rolle. Ein Gradmesser für die gewachsene praktische Bedeutung sind auch deutlich häufigere Beanstandungen in der Revision. Vordergründig hängt diese Entwicklung vor allem damit zusammen, dass die EMRK im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht und als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen deutschen Rechts zu berücksichtigen ist.1 In besonderem Maße praktisch verstärkend wirkt insoweit aber die Rezeption der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welche den aktuellen Interpretationsstand des Verfahrensgrundrechts auf europarechtlicher Ebene widerspiegelt. Entscheidungen des Gerichtshofs besitzen zwar mit Rücksicht auf Art. 46 EMRK und mangels einer § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbaren Vorschrift materielle Rechtskraft und damit unmittelbare Verbindlichkeit nur für die Parteien des Individualbeschwerdeverfahrens nach Art. 34 EMRK, regelmäßig also den Beschwerdeführer und den betroffenen Vertragsstaat. Jedoch haben die Vertragsparteien die wirksame Anwendung der Bestimmungen der EMRK in ihrem innerstaatlichen Recht zu gewährleisten (vgl. Art. 52 EMRK). Da dies in einem vom Grundsatz der Gewaltenteilung geprägten demokratischen Rechtsstaat nur möglich ist, wenn alle Träger hoheitlicher Gewalt an die Rechte und Grundfreiheiten der Konvention gebunden werden, unterliegen auch die deutschen Gerichte grundsätzlich 1 BVerfG NJW 2004, 3408; näher zur Rangfrage der EMRK im deutschen Normengefüge und den dabei - insbesondere im Verhältnis zum Verfassungsrecht - entstehenden Problemen Satzger Internationales und europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 11 Rn 10-13.

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der Pflicht, die Rechtsprechung des Gerichtshofs bei ihren Entscheidungen durch eine konventionskonforme Auslegung des geltenden Rechts zu berücksichtigen,2 eine Pflicht, die allerdings aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte dort endet, wo der gegenteilige Wille des Gesetzgebers hinreichend deutlich wird.3 Die damit im Verhältnis zwischen der vertragsstaatlichen Justiz und der Auslegung der Konventionsgarantien durch den Gerichtshof angelegte Rezeption des in Art. 6 Abs. 3d) EMRK normierten Rechtsprinzips kommt - wie im Folgenden noch im Einzelnen darzulegen sein wird - in einer Reihe höchstrichterlicher Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts in den letzten Jahren zum Ausdruck. Der vorliegende Beitrag nimmt die europarechtlichen Vorgaben und ihre Umsetzung durch bundesdeutsche Gerichte in den Blick und unterzieht sie einer kritischen Würdigung.

II. Systematische Grundlagen 1. Funktion und Verhältnis zu deutschem Verfassungs- und Strafprozessrecht Das Konfrontationsrecht des Art. 6 Abs. 3d) EMRK soll den Angeklagten in die Lage versetzen, die Glaubwürdigkeit von Belastungszeugen durch eine eigene unmittelbare Befragung in Zweifel zu ziehen. Zeugen sollen nicht einseitig von den Strafverfolgungsorganen vernommen werden, sondern auch die Verteidigung soll ihre Angaben selbständig überprüfen und in direkter Konfrontation in Zweifel ziehen können.4 Mit dieser Intention weist das Recht zur konfrontativen Befragung Berührungspunkte zu im deutschen Verfassungs- und Strafprozessrecht verankerten Prinzipien auf. Das Bundesverfassungsgericht sieht es als Bestandteil des aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten allgemeinen Rechtes des Beschuldigten auf ein faires Verfahren an.5 Man kann es verfassungsrechtlich darüber hinaus als Ausprägung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs im Strafverfahren verstehen (Art. 103 Abs. 1 GG). In der Strafprozessordnung gibt es mit dem 2

BVerfG NJW 2004, 3409 f. mit der Einschränkung, dass das Gericht nicht zu einem „unreflektierten Vollzug“ der Entscheidungen des Gerichtshofs verpflichtet ist; siehe auch BGHSt 51, 150; 45, 321, 328 f.; BGH, Beschl. v. 21.7.2010 - 5 StR 60/10; Beschl. v. 12.5.2010 - 4 StR 577/09. 3 BGH, Beschl. v. 21.7.2010 - 5 StR 60/10 4 Vgl. EGMR Kostovski v. The Netherlands (Nr. 11454/85 v. 20.11.1989); Safferling NStZ 2006, 78; Schädler Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung mit GVG, EGGVG und EMRK, 6. Aufl. 2008, Art. 6 MRK Rn 51; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, § 24 Rn 113; Cornelius NStZ 2008, 247; Safferling NStZ 2004, 187. 5 BVerfG StV 2010, 337.

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Fragerecht der Verteidigung in der Hauptverhandlung (§ 240 Abs. 2 StPO), den Anwesenheitsrechten bei richterlichen Zeugenvernehmungen (§§ 168c ff. StPO) und vor allem dem Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 Satz 2 StPO) spezifische einfachgesetzliche Vorschriften, die sich bei jeweils unterschiedlicher Zielrichtung in ihrem Regelungsgehalt mit dem Konfrontationsrecht überschneiden. Trotz dieser Schnittmengen kann man die Funktion des Konfrontationsrechts der Konvention nicht auf eine inhaltlich mit deutschen Prozessvorstellungen und Verfahrensnormen letztlich identische und daher stets ohne Nuancierungen kompatible Gewährleistung auf europarechtlicher Ebene reduzieren. Vielmehr besitzt es einen über das deutsche Strafverfahrensrecht hinausgehenden Anwendungsbereich und ergänzt dieses auch auf der Anwendungsebene. Das beruht vor allem darauf, dass die EMRK in ihren strafverfahrensrechtlichen Gewährleistungen den Grundstrukturen deutschen Strafprozessverständnisses - insbesondere der Aufklärungsmaxime (§§ 160 Abs. 1, 244 Abs. 2 StPO) sowie der daraus folgenden Pflicht der Staatsanwaltschaft, be- und entlastende Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO) - widerstreitende angloamerikanische Rechtsvorstellungen eines kontradiktorischen Verfahrens zum Vorbild hat, in denen das Konzept der Waffengleichheit („equality of arms“) der Verteidigung in allen Stadien des Strafverfahrens eine ausschlaggebende Bedeutung besitzt6. Art. 6 Abs. 3d) EMRK stellt den deutlichsten Beleg für diese Herkunft der EMRK aus dem angelsächsischen Rechtskreis dar. In seiner darin speziell auf die Erfordernisse einer „gleich berechtigten“ Verteidigung zugeschnittenen und das gesamte Beweisverfahren umfassenden Dimension ist das Konfrontationsrecht dem deutschen Strafprozessrecht unbekannt. Im Vergleich mit der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Eingliederung in das Recht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG auf ein faires Verfahren sowie der allgemeinen verfassungsrechtlichen Garantie des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG stellt sich die Gewährleistung der Konvention als lex specialis für das Strafprozessrecht dar und ist einseitig auf die Erfordernisse der Verteidigung ausgerichtet. Außerdem sind nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts bei der Bestimmung der Reichweite des aus dem Verfas6

Besonders deutlich EGMR StraFo 2003, wo ausdrücklich davon die Rede ist, dass ein adversatorisches Verfahren sicherzustellen sei; vgl. ferner EGMR Engel v. The Netherlands (Nr. 5100/71 v. 8.6.1976) und Bönisch v. Austria (Nr. 8658/79 v. 6.5.1985); aus dem Schrifttum Reid A pracititioner´s guide to the European Convention on Human Rights, 2008, 67 und 114; Harris/O´Boyle/Warbrick Law of the European Convention on Human Rights, Second Edition 2009, 251; Satzger (Fn 1) § 11 Rn 74; Widmaier Zum Befragungsrecht nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK, Festschrift für Kai Nehm 2006, 357, 366 sowie zur „Verwurzelung in der anschaulichen anglo-amerikanischen Prozesswelt“ Jung GA 2009, 235 f.

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sungsrecht abgeleiteten Konfrontationsrechts die Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege sowie eines effektiven Opfer- und Zeugenschutzes7 zu berücksichtigen. In dieser Allgemeinheit und Gewichtung findet die Berücksichtigung widerstreitender Interessen in der Spruchpraxis des EGMR zu Art. 6 Abs. 3d) EMRK keine Entsprechung.8 Soweit die angesprochenen Überschneidungen des Konfrontationsrechts mit einzelnen strafprozessualen Vorschriften betroffen sind, ist entweder deren Anwendungsbereich im Verhältnis zur Konvention begrenzt oder der vom Gesetz verfolgte Zweck ist ein anderer. So erstreckt sich das Fragerecht in der Hauptverhandlung (§ 240 Abs. 2 StPO) naturgemäß nur auf erschienene Zeugen, sagt aber nichts über die möglichen Konsequenzen aus, wenn ein Belastungszeuge in der Hauptverhandlung nicht erschienen ist und deshalb dort - und ggf. auch sonst nicht im Verfahren - durch die Verteidigung befragt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Anwesenheitsrecht bei richterlichen Zeugenvernehmungen (§ 168c ff. StPO), das zwar eine konfrontative Befragung ermöglicht, jedoch nur in einer bestimmten Prozesssituation im Ermittlungsverfahren unter deren spezifischen Voraussetzungen. Schließlich besteht auch zwischen dem Konfrontationsrecht und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz trotz auf den ersten Blick augenfälliger Berührungspunkte nur ein „relativ lockerer Zusammenhang“.9 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 250 Satz 2 StPO) bezieht seine Legitimation traditionell vor allem daraus, dass das Gericht einen möglichst unvermittelten und direkten eigenen Eindruck von den zu erhebenden Beweisen erhalten soll.10 Es geht also vor allem aus dem Blickwinkel des zur Entscheidung berufenen Gerichts um eine zuverlässige Beweisgewinnung und Optimierung der Wahrheitsfindung.11 Demgegenüber stellt sich das Konfrontationsrecht der EMRK - wie erläutert - als aus dem Gedanken der Waffengleichheit abgeleitetes, das gesamte Strafverfahren umfassendes individuelles Verfahrensrecht des Beschuldigten dar.12 Dass dieses Recht im Verfahrensstadium der Hauptverhandlung am besten durch Vernehmung der Belastungszeugen in seiner Anwesenheit verwirklicht werden kann, ist nur ein Nebeneffekt der Einhaltung des Unmittelbarkeitsprinzips, nicht dessen Fundierung.13 Als 7

BVerfG StV 2010, 337 mN. Dazu näher III.2. 9 So anschaulich Weigend Unmittelbare Beweisaufnahme - ein Konzept für das Strafverfahren des 21. Jahrhunderts?, Festschrift für Ulrich Eisenberg 2009, 665. 10 Weigend (Fn 9) 657. 11 Meyer-Goßner Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, 53. Aufl. 2010, § 250 StPO Rn 1; Mitsch JZ 1992, 174, 176; Cornelius NStZ 2008, 245; Weigend (Fn 9) 661 f. 12 Vgl. EGMR StraFo 2003, 362. 13 Zutreffend Weigend (Fn 9) 664. 8

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individuelles Verfahrensrecht des Beschuldigten mit der Zielrichtung einer im Vergleich mit den Ermittlungs- und Aufklärungsmöglichkeiten staatlicher Stellen „gleich berechtigten“ Verteidigung im gesamten Strafverfahren geht das Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3d) EMRK somit über die als Reflex des Grundsatzes der Unmittelbarkeit dem Angeklagten im deutschen Strafprozess zuwachsenden Rechte zur Befragung von Zeugen hinaus.

2. Einschränkungen Allerdings enthält Art. 6 Abs. 3d) EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR kein absolutes Recht.14 Ein Konventionsverstoß ist nicht stets gewissermaßen automatisch anzunehmen, wenn die Befragung eines wesentlichen Belastungszeugen im Strafverfahren aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden Gründen unterblieben ist. Dies rechtfertigt sich einmal aus der Existenz vielfältiger, regelmäßig einer uneingeschränkten Konfrontation widerstreitender Aufklärungs- und Opferinteressen, mit denen eine absolute Gewährleistung des Rechts aus Art. 6 Abs. 3d) EMRK unvereinbar wäre. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Sachverhaltsgestaltungen, bei denen eine konfrontative Befragung aus tatsächlichen Gründen - z. B. wegen faktischer Unerreichbarkeit des Zeugen - nicht möglich ist. Dogmatisch lassen sich zwei Wege ausmachen, mit denen der EGMR diesen Aspekten Rechnung zu tragen versucht und im Einzelfall zu einer Einschränkung des Konfrontationsrechts gelangt. Zum einen praktiziert der Gerichtshof auch in Art. 6 Abs. 3d) EMRK tangierenden Fällen den allgemeinen Grundsatz, dass den Vertragsstaaten und ihren Hoheitsträgern bei der Anwendung der Gewährleistungen der EGMR ein je nach Kontext und betroffenem Konventionsrecht mehr oder minder großer Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) zusteht.15 Diese Doktrin spiegelt den subsidiären Charakter der Konvention wider, die den Schutz der Menschenrechte primär den Vertragsstaaten zuweist. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass die staatlichen Organe der Vertragsstaaten grundsätzlich in Übereinstimmung mit rechtsstaatlichen Prinzipien handeln und in Individualbeschwerdeverfahren auf ihre Einschätzung und Präsentation der nationalen Rechtslage Verlass ist.16 Namentlich hält sich der Gerichtshof bisher in der Beurteilung des nationalen Beweisrechts und dabei insbesondere hinsichtlich einer Bestimmung der Rechtsfolgen etwaiger 14

So ausdrücklich EGMR StraFo 2003, 362. Dieser Grundsatz wurde erstmals in der Entscheidung des EGMR Handyside v. United Kingdom (Nr. 5493/72 v. 7.12.1976) näher erläutert; näher dazu Harris/O´Boyle/Warbrick (Fn 6) 11 f.; Reid (Fn 6) 45 ff.; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2006, Einl. 37. 16 Harris/O´Boyle/Warbrick (Fn 6) 14. 15

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Verfahrensverstöße zurück. Er betont, dass die Beweisaufnahme in erster Linie im innerstaatlichen Recht geregelt ist, sich dem entsprechend die Zulässigkeit bestimmter Verfahrensweisen nach dem Recht der Vertragsstaaten beurteilt und die Bewertung der Rechtmäßigkeit des Verfahrensablaufs durch die nationalen Gerichte grundsätzlich nicht seine Aufgabe ist.17 Namentlich ist die Ausgestaltung des Fragerechts primär dem nationalen Recht überlassen.18 Für die Bestimmung seiner Reichweite und die praktische Anwendung ebenso folgenreich ist die Bewertung des Konfrontationsrechts durch den Gerichtshof als besondere Ausformung des allgemeinen in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verankerten Grundsatzes des fairen Verfahrens.19 Für die Frage eines Konventionsverstoßes nach Art. 6 Abs. 3d) EMRK kommt es nach der Rechtsprechung des EGMR deshalb darauf an, ob das Verfahren bei einer Würdigung aller Umstände in seiner Gesamtheit fair gewesen ist.20 Der sich aus der Einordnung in das Gebot des fairen Verfahrens ergebende umfassende Prüfungsmaßstab ermöglicht es - wie anschließend noch zu zeigen sein wird21 - auch gegenläufige Interessen und faktische Hindernisse bei der Beurteilung eines denkbaren Verstoßes gegen das Konfrontationsrecht zu berücksichtigen.22 Bei dem erforderlichen Abwägungsvorgang muss das gesamte Beweisverfahren im Lichte des durch die Konvention garantierten Fragerechts gesehen werden. Insoweit werden nicht nur die Art und Weise der Beweiserhebung und Beweiswürdigung in der Hauptverhandlung, sondern vor allem auch das Vorverfahren und damit das Handeln von Polizei und Staatsanwaltschaft in den Blick genommen.

III. Prüfung eines Konventionsverstoßes Versuche, die bei der Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs 3d) EMRK zu beachtenden Kriterien zu strukturieren, gestalten sich mit Rücksicht auf den umfassenden, am Einzelfall orientierten Prüfungsmaßstab 17 Vgl. etwa besonders deutlich EGMR NJW 2003, 2297; ferner EGMR StV 1997, 619 (van Mechelen v. The Netherlands v. 23.4.1997); EGMR Schenk v. Switzerland (Nr. 10862/84 v. 12.7.1988) und zuletzt EGMR G. gegen Deutschland (Nr. 22978/05 vom 1.6.2010); siehe auch Jung GA 2009, 237 mwN. 18 EGMR StV 1990, 48; vgl. dazu auch BGHSt 46, 93. 19 EGMR NStZ 2007, 103; NJW 2003, 2297; näher dazu Jung GA 2009, 236; MeyerLadewig (Fn 15) Art. 6 Rn 88. 20 Siehe EGMR V. v. Finland (Nr. 40412/98 v. 24.4.2007); EGMR EuGRZ 1992, 474; 1987, 147; ferner Schädler (Fn 4) Art. 6 MRK Rn 53 mwN. 21 III.1.-4. 22 Kritisch dazu Walther GA 2003, 218.

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naturgemäß nicht einfach. Immerhin kann man zu Systematisierungszwecken aus der Rechtsprechung des EGMR wie auch des Bundesgerichtshofs ableiten, dass die erforderliche Gesamtabwägung prinzipiell aus drei Stufen besteht23. Eine schematische Handhabung ist allerdings mit Rücksicht auf Übergänge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Stufen sowie die erforderliche Gesamtabwägung, welche zwangsläufig wertende Verknüpfungen der Prüfungsschritte bedingt, nicht angebracht. Mit diesem Vorbehalt orientiert sich auch die nachfolgende Darstellung an dem „Stufenmodell“. Dabei sind zunächst allgemein Inhalt und Reichweite der Gewährleistung aus Art. 6 Abs. 3d) EMRK zu klären (1.), bevor in Stufe 1 die Gründe für eine Beschränkung des Konfrontationsrechts in den Blick zu nehmen sind (2.). Wenn die Defizite durch prozessuale oder faktische Gegebenheiten ausreichend legitimiert sind, wird in Stufe 2 geprüft, ob sie ansonsten im Verfahren kompensiert wurden (3.). Die beiden Prüfungsschritte erfordern eine umfassende Berücksichtigung des Verfahrensablaufs und seine Bewertung unter dem Blickwinkel der Fairness. Unter der Voraussetzung des Vorliegens anerkannter Gründe sowie eines möglichen Ausgleichs auf der Verfahrensebene ist schließlich auch auf der Ebene der Überzeugungsbildung eine angemessene Kompensation geboten. Da ein Beweisverwertungsverbot nach der Rechtsprechung des EGMR und des BGH nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wird der erforderliche Ausgleich regelmäßig durch erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung vorgenommen (4.). In ihrem Verhältnis zueinander sind die einzelnen Stufen jeweils notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für das Verneinen eines Konventionsverstoßes bei fehlender Möglichkeit einer konfrontativen Befragung. Je schwerer die Nachteile für die Verteidigung durch die unterbliebene Konfrontation wiegen, umso gewichtiger müssen die Gründe für die Beschränkung und die Ausgleichmaßnahmen des Gerichts im Verfahren und bei der Beweiswürdigung sein.24

1. Zu Inhalt und Reichweite von Art. 6 Abs. 3d) EMRK Art. 6 Abs. 3d) EMRK gewährleistet grundsätzlich, dass die Beweisgewinnung vor den entscheidenden Richtern in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer konfrontativen Erörterung stattfindet.25 Dem Angeklagten muss deshalb regelmäßig in der Hauptverhandlung ausreichend und angemessen Gelegenheit gegeben wer23

Siehe z.B. EGMR NJW 2006, 2753; BGH wistra 2010, 273; besonders anschaulich die Darstellung bei Schädler (Fn 4) Art. 6 EMRK Rn 54 ff. 24 Dazu sogleich III.2.-4.; vgl. auch Grabenwarter (Fn 4) § 24 Rn 116. 25 EGMR Graviano v. Italy (Nr. 10075/02 v. 10.2.1985); EUGRZ 1992, 476.

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den, die Glaubwürdigkeit eines Belastungszeugen anzuzweifeln und ihm Fragen zu stellen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die belastende Zeugenaussage stets vor Gericht und öffentlich gemacht werden muss, um das Recht auf konfrontative Befragung zu gewährleisten. Eine direkte Gegenüberstellung des Angeklagten mit dem Belastungszeugen ist nicht in jedem Fall zwingend geboten, um die Aussage verwertbar zu machen.26 Für die Abwägungsentscheidung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist es jedoch von Bedeutung, ob der Angeklagte nur in der Hauptverhandlung keine Fragen stellen konnte oder in keiner Phase des Verfahrens.27 Aus der Formulierung „oder stellen zu lassen“ in Art. 6 Abs. 3d) EMRK ergibt sich, dass das Konfrontationsrecht nicht notwendig dem Angeklagten persönlich eingeräumt ist, sondern dass es grundsätzlich ausreicht, wenn sein Verteidiger - etwa im Ermittlungsverfahren oder bei einer kommissarischen Vernehmung - die Möglichkeit zur Befragung hatte. Da das Konfrontationsrecht als ein Verfahrensrecht der Verteidigung konzipiert ist, geht es zu Lasten des Angeklagten, wenn die unterbliebene Befragung ihm zurechenbar ist,28 z. B. weil er oder sein Verteidiger einer Vernehmung fernbleiben, bei der sie das Fragerecht hätten ausüben können.29 Der Konvention ist somit grundsätzlich Genüge getan, wenn der Beschuldigte oder sein Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Gelegenheit hatten, den Zeugen direkt zu befragen.30 Diese Bewertung steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass ausreichende Gründe für die Einschränkungen der Konfrontation vorlagen und eine Kompensation im Verfahren und bei der Beweiswürdigung vorgenommen wurde (dazu sogleich anschließend III.2.-4.). Unter den gleichen Voraussetzungen liegt selbst dann nicht zwangsläufig ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 EMRK vor, wenn der Angeklagte oder sein Verteidiger aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, den Belastungszeugen zu keinem Zeitpunkt konfrontativ befragen konnten.31 Im Übrigen ist der Anwendungsbereich der Vorschrift nicht betroffen, wenn bei Sachverhalten mit internationalem Bezug ein bestimmtes Verhalten eines anderen Vertragsstaates als konventionswidrig beanstandet wird. Dies ergibt sich ohne weiteres daraus, dass die EMRK in persönlicher Hin26 BGHSt 46, 93 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR; vgl. zu den „ausreichenden“ Gründen für ein solches Unterbleiben einer direkten Konfrontation noch anschließend III.2. 27 Grabenwarter (Fn 4) § 24 Rn 116 mN zur Rechtsprechung des EGMR. 28 Etwa weil die Abwesenheit des Zeugen auf Bedrohung und Einschüchterung durch den Angeklagten beruht, vgl. Jung GA 2009, 239. 29 BGH StV 2005, 533, 534. 30 BGHSt 51, 150; 46, 93. 31 Vgl. BVerfG 2010, 338.

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sicht Rechtswirkungen nur zwischen den Parteien des Individualbeschwerdeverfahrens entfaltet, weshalb eine Beschwerde nach Art. 35 Abs. 3 EMRK für unzulässig erklärt wird, wenn die gerügte Handlung oder Unterlassung dem beklagten Staat nicht zurechenbar ist.32 Die Regelungen der EMRK sind nicht dahin zu verstehen, dass sie ein einheitliches Strafverfahren in den Vertragsstaaten mit wechselseitiger unbeschränkter Zurechnung des jeweiligen Verfahrensgangs schaffen.33

2. Ausreichende Gründe Beschränkungen des Konfrontationsrechts bedürfen anerkannter Gründe, deren grundsätzliche Rechtfertigung sich aus zwei Überlegungen ergibt. Zum einen kann es in Konflikt mit rivalisierenden Schutzinteressen, insbesondere mit dem Opferschutz sowie dem Gebot der Wahrheitsermittlung treten, denen im Einzelfall der Vorrang einzuräumen ist. Zum anderen muss die Justiz zwar alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um die Anwesenheit eines Belastungszeugen sicherzustellen und die unmittelbare Befragung zu ermöglichen.34 Dies wird aber trotz aller Bemühungen nicht immer möglich sein. Unmögliches kann aber von der Justiz nicht verlangt werden.35 In der Rechtsprechung des EGMR und des BGH hat sich im Detail eine umfangreiche Kasuistik entwickelt.36 Die am jeweiligen Einzelfall orientierte Betrachtungsweise beruht darauf, dass es eine Vielzahl tatsächlicher und rechtlicher Hindernisse gibt, die eine direkte Befragung von Belastungszeugen unmöglich machen können. Dies erschwert eine fallübergreifende, systematische Erfassung, ermöglicht aber auch eine flexible, den Besonderheiten des jeweiligen Sachverhaltes und der betroffenen Rechtsordnung gerecht werdende Betrachtung. Generell liegen anerkannte Gründe vor, wenn das Leben, die Freiheit oder die Sicherheit von Zeugen sowie sonstige Interessen betroffen sind, die ihrerseits dem Schutzbereich des Art. 8 EMRK unterfallen.37 Konkret sind in der Rechtsprechung des EGMR anerkannte Gründe für Beschränkungen des Konfrontationsrechts die Gefährdung der Sicherheit eines Zeugen sowie die Sicherstellung künftiger Einsät32 EGMR Andreou v. Turkey (Nr. 18360/91 v. 27.1.2009); vgl. auch Grabenwarter (Fn 4) 13 Rn 42 mwN. 33 BGH NJW 2010, 2224, 2225 f. 34 BGH NStZ 2007, 104. 35 So ausdrücklich EGMR NStZ 2007, 103; vgl. auch EGMR JR 2006, 289 mwN; BGHSt 51, 150. 36 Jung GA 2009, 238 spricht unter Hinweis auf EGMR Romanov v. Russia (Nr. 41461/02 v. 24.7.2008) von einem „elaborierten, eher unübersichtlichen Textbaustein.“ 37 EGMR StraFo 2003, 362; EGMR StV 1997, 619.

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ze verdeckter Ermittler,38 der Schutz jugendlicher Zeugen und von Opfern einer Sexualstraftat39, die Gefährdung der nationalen Sicherheit40 sowie Krankheit, Unerreichbarkeit oder Tod des Zeugen.41 Die Justiz muss zwar auch in diesen Fällen grundsätzlich die rechtlich zulässigen Schritte unternehmen, um den Angeklagten in die Lage zu versetzen, Zeugen zu befragen oder zumindest befragen zu lassen.42 Allerdings ist sie - wie gesagt - nicht zu Unmöglichem verpflichtet. Die fehlende Gelegenheit zur Befragung ist im Falle der tatsächlichen oder rechtlichen Unerreichbarkeit des Zeugen - vorbehaltlich der vorzunehmenden Kompensation auf der Beweisebene (4.) - grundsätzlich hinzunehmen, wenn der Justiz keine mangelnde Sorgfalt bei den Bemühungen vorzuwerfen ist, die konfrontative Befragung zu ermöglichen.43 Bei Unauffindbarkeit eines Zeugen im Zeitpunkt der Hauptverhandlung sind die Rechte der Verteidigung ausreichend gewahrt, wenn angemessene Nachforschungen nach seinem Verbleib ergebnislos bleiben.44 Diese Grundsätze gelten auch, wenn es um die Angaben polizeilicher Gewährsleute geht. Zwar darf sich das Gericht mit behördlichen Sperrerklärungen, z. B. für verdeckt ermittelnde Polizeibeamte, nicht ohne weiteres zufrieden geben. Vielmehr muss es konkrete Nachweise für die behauptete Gefährdung verlangen und sich intensiv um die Vernehmung in der Hauptverhandlung bemühen.45 Werden die Personalien von den Justizministerien trotz derartiger Bemühungen aus gewichtigen und hinreichenden Gründen46 des Zeugenschutzes oder der Einhaltung von Vertraulichkeitszusagen nicht freigegeben, dürfen die Angaben der Gewährsleute jedoch grundsätzlich verwertet werden.47 Die Bekundungen solcher nicht konfrontativ vernommener Vertrauenspersonen können dann etwa über die Aussagen von Vernehmungsbeamten oder Ermittlungsführern

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EGMR StV 1997, 619. EGMR NJW 2003, 2297 f.; EGMR Doorson v. The Netherlands (Nr. 20542/92 v. 26.3. 1996); BGH NJW 2007, 2341; siehe dazu auch Reid (Fn 6) 212 mwN. 40 EGMR StraFo 2003, 362. 41 Ausführliche Nachweise zur Rechtsprechung des EGMR bei Harris/O´Boyle/Warbrick (Fn 6) 323. 42 Exemplarisch die vom EGMR für ausreichend erachteten Bemühungen im Fall Haas gegen Deutschland (siehe EGMR NStZ 2007, 105). 43 EGMR JR 2006, 289; vgl. auch EGMR NJW 2003, 2894, wo die Gründe für die unterbliebene Konfrontation als nicht ausreichend bewertet wurden. 44 EUGRZ 1992, 476; näher Reid (Fn 6) 213 mwN. 45 Vgl. EGMR StV 1997, 619; entgegen Safferling NStZ 2006, 80 ist hinsichtlich der Überprüfung der Zeugengefährdung die Prüfungsdichte des Bundesgerichtshofs nicht geringer als die des Gerichtshofs. 46 Siehe EGMR StraFo 2007, 107; NStZ 2007, 105 und StV 1997, 619. 47 EGMR StV 1997, 619; BVerfG StV 2010, 338. 39

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in die Hauptverhandlung eingeführt und bei der Urteilsfindung mit der gebotenen Vorsicht berücksichtigt werden.48 Keine aktiven Schritte muss das Gericht dagegen unternehmen, um dem Angeklagten die Möglichkeit zu verschaffen, einen Mitangeklagten oder zur Verweigerung der Auskunft nach § 55 StPO berechtigten Zeugen durch seinen Verteidiger befragen zu lassen, wenn dieser von seinem - im Falle des zur Verweigerung der Auskunft berechtigten Zeugen partiellen Schweigerecht Gebrauch macht. Denn mit dem verfassungsrechtlich abgesicherten Recht auf Selbstbelastungsfreiheit49 wäre es unvereinbar, dem Staat die Pflicht aufzuerlegen, die Aussagebereitschaft einer verweigerungsberechtigten Aussageperson fortlaufend zu prüfen und schon auf diese Weise auf deren Willensentschließung einzuwirken.50 Bei der Zeugnisverweigerung durch einen Opferzeugen (§ 52 StPO) können die Dinge dann komplizierter liegen, wenn der erst in der Hauptverhandlung verweigernde Zeuge nach Belehrung durch das Gericht die Verwertung der bei einer nicht-richterlichen Vernehmung gemachten Aussage im Ermittlungsverfahren gestattet. Dass ein solcher Verzicht auf das Verwertungsverbot nach § 252 StPO rechtlich möglich und zulässig sei wird in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs damit begründet, dass das Verwertungsverbot nur den persönlichen Belangen des Zeugen diene und deshalb seiner Dispositionsbefugnis unterliege51. Im Schrifttum wird dies vor allem im Hinblick darauf kritisiert, dass dem Zeugen gestattet wird, dem Verfahren Unmittelbarkeit zu entziehen und es dadurch selbst zu gestalten.52 Dieses Argument setzt allerdings im Kern bei der Frage des eingeschränkten Beweiswertes einer lediglich durch Surrogate in das Verfahren eingeführten Zeugenaussage an, einem Bedenken, dem prinzipiell durch die auch von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in solchen Fällen verlangte besonders sorgfältige Beweiswürdigung Rechnung getragen werden kann.53 Dagegen könnte im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3d) EMRK bereits zweifelhaft sein, ob bei derartigen Prozesskonstellationen überhaupt ausreichende, der Justiz nicht zurechenbare Gründe für eine Einschränkung des 48

Vgl. BVerfG StV 2010, 338; zu den dabei zu beachtenden Anforderungen an die Beweiswürdigung III 4. 49 BVerfGE 56, 37, 43 ff. 50 BGH NStZ 2009, 581; dies ändert allerdings nichts daran, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch in einem solchen Fall eine Verurteilung nur erfolgen darf, wenn die früheren Angaben des Zeugen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden; vgl. Widmaier (Fn 6) 365. 51 BGHSt 45, 203; vgl. auch BGH NStZ 2007, 652; NStZ-RR 2006, 181. 52 Siehe die Nachweise bei Sander/Cirener Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2009, § 252 StPO Rn 22; kritisch auch BGHSt 49, 72, 75 (3. Strafsenat); vgl. ferner Meyer-Goßner (Fn 11) § 252 Rn 16a mN. 53 vgl. BGHSt 45, 203, 208 sowie Sander/Cirener (Fn 52) aaO.

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Konfrontationsrechts vorliegen. Denn dem Opferzeugen wird durch die Kombination von Zeugnisverweigerung und Verzicht auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO das Recht eingeräumt, seiner kontradiktorischen Befragung durch die Verteidigung in der Hauptverhandlung aus dem Weg zu gehen und zugleich eine den Angeklagten belastende mittelbare Verwertung seiner früheren Aussagen zu ermöglichen.54 Diese aus der Konvention abgeleiteten Zweifel dürften jedenfalls in den Fällen nicht ohne weiteres auszuräumen sein, bei denen es um die Verwertung früherer Angaben des Zeugen bei „unkonfrontierten“, weil nicht in Anwesenheit des Verteidigers oder des Beschuldigten durchgeführten, Vernehmungen geht. Insoweit ist daran zu erinnern, dass der EGMR den §§ 52, 252 StPO vergleichbare Vorschriften anderer Vertragsstaaten der Konvention nur deshalb unter dem Blickwinkel des Art. 6 Abs. 3d) EMRK für rechtlich unbedenklich hält, weil sie dem moralischen Dilemma Rechnung tragen, in dem sich der Zeuge im Verfahren gegen seinen Angehörigen befindet. Dieser soll nicht von Rechts wegen dazu gezwungen sein, bei wahrheitsgemäßen Angaben zur Beweisführung gegen den Familienangehörigen beizutragen.55 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die dem Opferzeugen gestattet, die Aussage zu verweigern und auf das Verwertungsverbot zu verzichten, knüpft jedoch argumentativ nicht an die Konfliktlage in seiner Beziehung zum Angeklagten an, sondern stellt die angenommene Verfügbarkeit des Zeugen über seine Aussagepflicht in den Vordergrund. Die dem Opferzeugen zugestandene Dispositionsbefugnis wirkt sich aber in den betreffenden Fällen unter Umgehung einer konfrontativen Befragung im Ergebnis bei der Beweisführung regelmäßig zu Lasten des angeklagten Angehörigen aus. Die im Schrifttum vertretene Auffassung, dass mit Rücksicht auf das Konfrontationsrecht trotz Vorliegens eines Grundes für die Verlesung nach § 251 StPO die unmittelbare Vernehmung des Zeugen geboten sein kann, ist abzulehnen.56 Der Bundesgerichtshof hat das Erfordernis der Vernehmung des Zeugen zwar in Ausnahmefällen aus dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 StPO) abgeleitet.57 Darüber hinausgehende Einschränkungen des § 251 StPO können jedoch nicht mit dem Recht des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3d) EMRK begründet werden. Soweit es um Zustimmungstatbestände (§ 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 StPO) geht, ist dem Angeklagten 54

Diese Bedenken gelten erst recht, wenn dem Zeugen gestattet wird, über seinen Rechtsanwalt schriftlich von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen und zugleich sein Einverständnis mit der Verwertung seiner polizeilichen Vernehmungen zu erklären, ohne dass er in der Hauptverhandlung erscheinen muss (siehe Schädler StraFo 2008, 232). 55 Siehe EGMR Unterpertinger v. Austria (9120/80 v. 24.11.1986), Rn 3: „... to protect such a witness by avoiding his being put in a moral dilemma …”. 56 Siehe Cornelius NStZ 2008, 248. 57 BGH NStZ 1988, 37, 38; BGHSt 10, 186, 191 f.

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die unterbliebene Befragung im Sinne der obigen Ausführungen zurechenbar.58 Soweit die Unerreichbarkeit von Zeugen betroffen ist (§ 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO), liegt eine faktische Unmöglichkeit vor, die unter der Voraussetzung, dass das Gericht sich um die Konfrontation bemüht hat, als ausreichender Grund für eine fehlende Vernehmung in der Hauptverhandlung anerkannt ist.59 Schließlich erlaubt § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO die vernehmungsersetzende Verlesung bei großer Entfernung des Zeugen vom Verhandlungsort ausdrücklich nur unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage, so dass eine unterbliebene Befragung die Rechte der Verteidigung lediglich in nicht relevanter Weise beeinträchtigen kann.

3. Kompensation im Verfahren Der EGMR hat hervorgehoben, dass in Fällen einer den Justizbehörden tatsächlich oder rechtlich unmöglichen Konfrontation dennoch ein faires Verfahren vorliegen kann, wenn die dadurch beschränkten Verteidigungsrechte im Strafprozess - sowie bei der Beweiswürdigung (dazu anschließend 4.) - ansonsten ausreichend kompensiert werden.60 Generell gilt, dass die Beeinträchtigung der Beweissituation durch den Verlust der unmittelbaren Befragung so gering wie möglich zu halten ist. Schwierigkeiten, die der Verteidigung durch die Einschränkung ihrer Rechte entstehen, müssen deshalb im gerichtlichen Verfahren im Rahmen der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten hinreichend ausgeglichen werden (der EGMR spricht von „counterbalancing measures“).61 Ein solcher Ausgleich kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs etwa darin bestehen, dass wenigstens der Verteidiger bei der Zeugenvernehmung anwesend ist oder ihm Gelegenheit gegeben wird, dem Zeugen schriftlich Fragen vorzulegen.62 Das Konfrontationsrecht der EMRK kann es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs außerdem gebieten, dem unverteidigten Beschuldigten bereits vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen einen Verteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte selbst 58

III.1. bei Fn 28 und 29. Siehe bei Fn 35 sowie Fn 42-44. 60 EGMR StraFo 2007, 107; 2003, 362; vgl. weiterhin BGHSt 46, 93 mN zur Judikatur des EGMR; ein prominentes Beispiel hierfür ist der Fall der vom OLG Frankfurt verurteilten Terroristin Haas, deren Revision vom BGH verworfen wurde (vgl. EGMR NStZ 2007, 103 ff.). 61 Vgl. EGMR NJW 2003, 2893, 2894 sowie EGMR StraFo 2003, 362. 62 Vgl. BVerfG StV 2010, 338; BGH NStZ 1993, 292; allerdings hat es der Gerichtshof in einer Reihe von Fällen für unzureichend erachtet, einem anonymen Zeugen durch die Verteidigung schriftlich Fragen vorlegen zu lassen; siehe dazu EGMR Kostovski v. The Netherlands (Nr. 11454/85 v. 20.11.1989); Reid (Fn 6) 211 mwN; Safferling NStZ 2006, 78. 59

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- z.B. aus Gründen des Zeugenschutzes - von der Vernehmung ausgeschlossen ist.63 Im Ermittlungsverfahren ist bei einer unter Zeugenschutzaspekten nicht möglichen direkten Befragung durch die Verteidigung auch an eine Vernehmung des Belastungszeugen mittels Videokonferenz (§ 168e StPO) zu denken.64 Diese kann durchgeführt werden, wenn bei einer Vernehmung in Gegenwart des Beschuldigten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen besteht. Das wird man vor allem, aber nicht nur, bei der Vernehmung kindlicher Zeugen annehmen können. Die vernehmungsersetzende Vorführung einer Videoaufzeichnung in der Hauptverhandlung nach § 255a StPO ist nach der Rechtsprechung des BGH nur möglich, wenn das Konfrontationsrecht gewahrt wurde, d. h. wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an der früheren richterlichen Vernehmung teilzunehmen.65 Der Bundesgerichtshof sieht grundsätzlich keine Verletzung des Konfrontationsrechts darin, dass der Angeklagte während der Vernehmung entfernt und der Zeuge unter optischer und akkustischer Abschirmung audiovisuell vernommen wird (§ 247a StPO).66 Dass eine in diesem Kontext so genannte „audiovisuelle Konfrontationsvernehmung“ überhaupt durchgeführt wird, kann sogar in Abwägung der unterbliebenen Konfrontation mit Zeugenschutzbelangen ausnahmsweise notwendig sein, um einen Konventionsverstoß zu vermeiden.67 Die Gerichte müssen unter diesem Aspekt außerdem prüfen, ob ein Zeuge, der aus dem Ausland nicht erscheinen will, audiovisuell vernommen wird.68 Eine Reduzierung des tatrichterlichen Anordnungsermessens bei § 247a StPO auf Null besteht in diesen Fällen jedoch nicht. Der Tatrichter ist bei Einschränkungen des Konfrontationsrechts nicht automatisch verpflichtet, eine audiovisuelle Vernehmung als prozessuale 63 BGHSt 46, 93, 99; im entschiedenen Fall war der Angeklagte wegen Sexualdelikten zum Nachteil seiner Tochter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Von der Vernehmung der Geschädigten im Ermittlungsverfahren hatte der Ermittlungsrichter den in Untersuchungshaft befindlichen und noch nicht verteidigten Angeklagten zulässigerweise gemäß § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen, weil zu befürchten war, dass die Zeugin in seiner Gegenwart nicht die Wahrheit sagen würde. In der Hauptverhandlung machte die Geschädigte von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Die Verurteilung des Angeklagten beruhte im Wesentlichen auf der Vernehmung des Ermittlungsrichters zu den Angaben, die die Zeugin ihm gegenüber gemacht hatte. Der BGH hat entschieden, dass das Fragerecht ausreichend gewährleistet gewesen wäre, wenn ein Verteidiger an der ermittlungsrichterlichen Vernehmung teilgenommen hätte. Dann hätte dem Beschuldigten aber bereits vor dieser Vernehmung ein Verteidiger bestellt werden müssen, der das Fragerecht des Beschuldigten wahrnimmt. 64 BGHSt 46, 93, 99. 65 Vgl. BGHSt 48, 268; Sander/Cirener (Fn 52) § 255a StPO Rn 12. 66 BGH NStZ 2006, 648. 67 BGH NStZ 2007, 477, 478. 68 BGH NStZ 2007, 281, 282.

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„Ausgleichsmaßnahme“ durchzuführen. Sie kann z. B. im Fall gefährdeter Zeugen abgelehnt werden, wenn selbst bei Abschirmung des Zeugen Sprachduktus, Mimik und Gestik zur Aufdeckung seiner Identität führen können.69 Beim Auslandszeugen kann die audiovisuelle Vernehmung an tatsächlichen oder rechtlichen Hindernissen scheitern, die im Einflussbereich des anderen Staates liegen und der deutschen Justiz nicht zuzurechnen sind.70

4. Beweiswürdigung Die unterbliebene Befragung durch die Verteidigung ist schließlich auch bei der Überzeugungsbildung zu kompensieren. Beschränkungen des Fragerechts führen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur ausnahmsweise, wenngleich auch dann nicht zwingend,71 zu einem Beweisverwertungsverbot für die nicht konfrontierte Aussage, wenn die Konfrontation aus Gründen nicht möglich war, die von der Justiz nicht zu verantworten sind.72 Liegt kein justizielles Verschulden vor, erfolgt die Kompensation regelmäßig auf der Ebene der Beweiswürdigung.73 Dies entspricht - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - im Grundsatz trotz unterschiedlicher rechtlicher Ansätze auch der in der Judikatur des Gerichtshofs bisher festzustellenden Linie.74 Die Lösung über abgestufte Beweiswürdigungsanforderungen ermöglicht ein flexibleres und der jeweiligen Sachverhaltskonstellation unter Berücksichtigung der konkurrierenden Rechtsgüter und unterschiedlichen Rechtsysteme angemesseneres Vorgehen, als wenn man unabhängig von justiziellen Verantwortlichkeiten zwingend ein Beweisverwertungsverbot für die nicht konfrontativ zustande gekommene Zeugenaussage postulieren würde. Dabei kommt es zunächst entscheidend darauf an, in welchem Maße sich die anonyme Zeugenaussage auf die Verurteilung ausgewirkt hat. War sie nicht von wesentlicher Bedeutung, ergeben sich daraus eine geringere Beeinträchtigung der Verteidigung und dem entsprechend niedrigere Anforderungen an einen Ausgleich des Verfahrensdefizits bei der Beweiswürdi69

Vgl. BVerfG StV 2010, 339. Siehe oben bei Fn 32 und 33 sowie BGH NJW 2010, 2224, 2225 f. zu Vertragsstaaten der Konvention. 71 Nach BGH NStZ 2007, 166, 167 führt das Vorliegen eines der Justiz zuzurechnenden Verfahrensfehlers zu einer weiteren Reduzierung des Beweiswerts der bemakelten Aussage, ohne dass zwingend ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen ist; vgl. dazu auch Schädler StraFo 2008, 232. 72 Vgl. BGHSt 51, 150, 155; BVerfG 2010, 338; Gless StV 2010, 402. 73 BVerfG StV 2010, 338; vgl. auch BverfGE 57, 250, 287 ff. 74 Dazu bereits oben II 2.; siehe auch Gless StV 2010, 402 mN. 70

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gung.75 Umgekehrt gilt, dass umso mehr zusätzliche und valide Beweismittel vorliegen müssen, je bedeutsamer die Zeugen für die Beweisführung sind. Insoweit kann man feststellen, dass die vom EGMR und vom Bundesgerichtshof zum Konfrontationsrecht entschiedenen Fälle durchweg Zeugen zum Gegenstand hatten, deren Angaben einen wesentlichen Baustein für die Überführung des Angeklagten darstellten. Nur auf solche Konstellationen treffen deshalb die nachfolgenden Ausführungen zu. Die unkonfrontiert zustande gekommen Aussage kann zwar zusammen mit anderen Beweismitteln zu einer Verurteilung führen. Die Beweise sind in einem solchen Fall aber besonders sorgfältig und kritisch zu bewerten. Diese kritische Würdigung hat zwei Bezugspunkte. Sie betrifft zum einen die Aussage des nicht befragten Belastungszeugen selbst. Dessen Angaben sind äußerst sorgfältig und zurückhaltend zu würdigen.76 Der Tatrichter muss im schriftlichen Urteil deutlich machen, dass er sich des eingeschränkten Beweiswertes bewusst war.77 Folgenreicher ist, dass sich die unterbliebene Befragung darüber hinaus auf die gesamte Urteilsgrundlage auswirkt. Sie führt dazu, dass alle zur Verfügung stehenden Beweise in den Blick genommen und zur unkonfrontiert gebliebenen Aussage wertend in Bezug gesetzt werden müssen. Die dabei zu beachtenden rechtlichen Anforderungen an die Beweiswürdigung werden vom EGMR auf der einen sowie vom Bundesverfassungsgericht und vom Bundesgerichtshof auf der anderen Seite deutlich unterschiedlich formuliert. Selbst wenn die Aussage des nicht befragten Belastungszeugen noch so zurückhaltend gewürdigt wird, darf das Urteil nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht alleine oder in einem entscheidenden Ausmaß auf sie gestützt werden („solely or to a decisive extent“), sondern muss maßgeblich auch auf anderen Beweisen beruhen.78 Die vom Gerichtshof verlangten Beschränkungen der Beweiswürdigung, insbesondere seine Forderung, dass das Urteil nicht entscheidend auf der bemakelten Aussage beruhen dürfe, gelten im rechtlichen Ansatz uneingeschränkt und sind vor 75

Vgl. EGMR StraFo 2002, 160. EGMR NStZ 2007, 103 (im englischen Original: „with extreme care“). 77 In der Sache hat der Bundesgerichtshof diesen Gedanken bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1962 zum Beweiswert der Aussage eines Zeugen vom Hörensagen zum Ausdruck gebracht, wenn der originäre Zeuge nicht zur Verfügung steht; siehe BGHSt 17, 382, 385: „Bei einem Zeugen vom Hörensagen besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen ... schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur Vorsicht.“ 78 Siehe EGMR StraFo 2007, 108 f.; EGMR Saidi v. France (Nr. 14647/89, Urteil v. 26.3.1993); siehe dazu auch die Bewertung der Rechtsprechung des EGMR bei Harris/O´Boyle/Warbrick (Fn 6) 324 f.; Meyer-Ladewig (Fn 15) Art. 6 EMRK Rn 93; Safferling NStZ 2004, 187 f. sowie Reid (Fn 6) 210 mit zahlreichen weiteren Bsp. aus der Judikatur des EGMR. 76

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allem nicht von einem Verschulden der Justiz abhängig.79 Diese richterrechtliche Rigorosität ist nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Konvention herzuleiten. Sie ist zudem mit einer am Fairnessgedanken orientierten Abwägung der Verfahrensabläufe, wie sie sich aus der Einordnung des Konfrontationsrechts unter die allgemeine Gewährleistung des Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt, nicht ohne weiteres vereinbar. Dies trifft insbesondere bei der Anwendung auf Rechtssysteme zu, die - wie das deutsche - von der Aufklärungs- und Objektivitätspflicht der Justizorgane geprägt sind. Bei strikter Anwendung der rechtlichen Prämissen des EGMR könnte einer Verurteilung bei zahlreichen Art. 6 Abs. 3d) EMRK betreffenden Fallkonstellationen faktisch die Grundlage entzogen sein, bei denen es ohne Versäumnisse der Justiz aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht zu einer konfrontativen Befragung eines für die Beweisführung wesentlichen Zeugen gekommen ist. Zu denken ist insoweit etwa an die Angaben anonymer Gewährsleute80 oder im Ausland befindlicher bzw. unauffindbarer oder verstorbener Tatzeugen, ohne die die Überführung des Angeklagten nicht möglich ist und auf die es deshalb „entscheidend“ ankommt. Die Beweisanforderungen des Gerichtshofs betreffen im Grundsatz ebenso Fallgestaltungen, bei denen aus konkurrierenden rechtsstaatlichen Grundsätzen - so z. B. dem nemo-tenetur-Grundsatz im Fall des § 55 StPO - eine konfrontative Befragung des Zeugen nicht möglich ist. All dies sind Konstellationen, bei denen nach herkömmlichem deutschem Strafprozessverständnis die Beweiswürdigung mit Rücksicht auf das Fehlen einer justiziellen Verantwortlichkeit zu Recht deutlich geringeren Beschränkungen unterliegt. Dass die Anforderung des Gerichtshofs an die Beweiswürdigung in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts81 und des Bundesgerichtshofs82 schon bei der Formulierung ihrer Voraussetzungen eine merkliche Abmilderung erhalten, kann nach dem Gesagten nicht verwundern. Danach kann die Verurteilung „auf die Aussage eines nicht konfrontierten Zeugen regelmäßig nur dann gestützt werden kann, wenn sie durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt wird“.83 Das Abstellen auf „andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage“ belässt den Tatgerichten schon im rechtlichen Ansatz einen größeren Entscheidungsspielraum als die apodiktische Forderung des EGMR, eine unkonfrontiert gebliebene Aussage dürfe unabhängig von justizieller Verantwortlichkeit nicht in entscheidendem Ausmaß Grundlage des Urteils sein. Insofern prä79

Vgl. Widmaier (Fn 6) 361 ff. In diese Richtung gehen die Ausführungen bei Harris/O´Boyle/Warbrick (Fn 6) 324. 81 BVerfG 2010, 338. 82 BGHSt 46, 93, 106; BGHSt 51, 150. 83 So ausdrücklich BVerfG StV 2010, 338; BGHSt 51, 150; BGHSt 51, 280; vgl. ferner BGH NJW 2010, 2225 sowie Meyer-Goßner (Fn 11) Art. 6 MRK Rn 22a. 80

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zisiert das Bundesverfassungsgericht die Beweisanforderungen dahingehend, dass die Aussage eines nicht konfrontativ befragten Zeugen nicht nur dann verwertet werden dürfe, wenn die Beweise auch ohne sie für eine Überführung des Angeklagten genügen würden. Es gebe keinen Rechtssatz, wonach in einem solchen Fall die Beweiswürdigung nur Bestand habe, wenn die unkonfrontiert gebliebene Aussage hinweggedacht werden könne. Denn dies käme in der Sache einem Verwertungsverbot nahe, das von Verfassungs wegen gerade nicht geboten sei.84 Das Urteil liegt auf der Linie einer Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in jüngerer Zeit, die einen zurückhaltenden Ansatz bezüglich der Annahme von Beweisverwertungsverboten erkennen lassen.85 Es erscheint aber zweifelhaft, ob diese Judikatur mit den Anforderungen des Gerichtshofes in vollem Umfang in Einklang steht. Dies gilt gleichermaßen, soweit der Bundesgerichtshof an das Gewicht der bestätigenden Umstände geringere Anforderungen stellt, wenn kein Verschulden der Justiz vorliegt,86 da Versäumnisse der Justiz nach der Rechtsprechung des EGMR - wie dargelegt - grundsätzlich keine Rolle spielen. Trotz der unterschiedlich formulierten Voraussetzungen halten sich die Divergenzen in der praktischen Handhabung der die Bundesrepublik Deutschland betreffenden Beschwerden bislang in Grenzen. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der EGMR in strittigen Fällen in der Vergangenheit letztlich doch im Einklang mit den auch vom Bundesverfassungsgericht und vom Bundesgerichtshof praktizierten Grundsätzen ausschlaggebend berücksichtigt hat, ob die nationalen Gerichte die ihnen zur Verfügung stehenden Anstrengungen zur Herbeiführung einer konfrontativen Befragung unternommen und sich um eine ausreichende verfahrensrechtliche Kompensation bemüht haben.87 Ist dies zu bejahen, hat er einen Konventionsverstoß verneint, weil die Verurteilung noch auf ausreichend andere wesentliche Beweismittel gestützt wurde.88 Bei einem sorgfältigen Vorgehen der Justiz, d.h. wenn die Vernehmung trotz aller Bemühungen oder aus anerkannten Rechtsgründen unmöglich war, reicht es somit trotz 84

BVerfG StV 2010, 338 unter Hinweis auf BVerfGE 57, 250, 283 ff. Vgl. nur BVerfG NJW 2009, 3225 sowie 2 BvR 2438/08; näher zur aktuellen Rspr. des BVerfG Adam NStZ 2010, 321. 86 Siehe etwa BGHSt 51, 155; BGH NStZ 2009, 581; 2005, 224; NStZ-RR 2005, 321; näher Widmaier (Fn 6) 359 f. 87 Siehe dazu EGMR NStZ 2007, 103, 105 f. (Haas gegen Deutschland) sowie EGMR StraFO 2007, 107, 108 f. 88 Vgl. Reid (Fn 6) 210 mN sowie Gless StV 2010, 401, 403. An dieser Stelle zeigen sich die Anpassungsfähigkeit des umfassenden Prüfungsmaßstabes sowie die Übergänge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Prüfungsschritten innerhalb des „Stufensystems“ besonders deutlich. 85

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der „unbedingt“ formulierten rechtlichen Anforderungen des EGMR an die Beweisführung bisher regelmäßig im Ergebnis aus, dass die unkonfrontiert zustande gekommenen Zeugenaussage selbst mit äußerster Vorsicht gewürdigt und sie durch andere Beweismittel gestützt wird.89 Dabei kann es sogar zulässig sein, mehrere kompensationsbedürftige Beweismittel wertend miteinander zu verknüpfen, z. B., indem anonyme Quellen herangezogen werden, um den Beweiswert einer unkonfrontiert gebliebenen Aussage zu erhärten.90 Dies mag mit Rücksicht auf die formulierten rechtlichen Voraussetzungen inkonsequent erscheinen, trägt aber dem Gedanken Rechnung, dass es bei einer am Grundsatz des fairen Verfahrens orientierten Gesamtabwägung von erheblichem Belang sein muss, ob etwaige Beschränkungen der Verteidigung auf einem Verschulden der Justiz beruhen oder ob sie aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht zu vermeiden waren. Würde der EGMR dies anders sehen, wäre zudem auch seine mehrfach geäußerte Erkenntnis, dass von der Justiz Unmögliches nicht verlangt werden könne,91 als reines Lippenbekenntnis zu bewerten. Beruht die unterbliebene Befragung des Zeugen dagegen auf einem Fehler oder Versäumnissen der Justiz, ist auch unter Fairnessgesichtspunkten die Forderung berechtigt, dass die übrigen Beweismittel ausschlaggebend außerhalb der bemakelten Aussage zu finden sein müssen.92

IV. Schlussbemerkungen Die Umsetzung der Garantie aus Art. 6 Abs. 3d) EMRK verläuft im deutschen Strafprozessrecht bisher im Ergebnis weitgehend spannungsfrei. Insbesondere lassen sich auf der Anwendungsebene in der Rechtsprechung des EGMR, des Bundesgerichtshofs sowie des Bundesverfassungsgerichts trotz nicht immer identisch formulierter rechtlicher Voraussetzungen keine wesentlichen Unterschiede feststellen.93 Das ist keineswegs selbstverständlich. Eher zu erwarten wäre, dass bei der Übernahme des aus dem angelsächsischen adversatorischen Parteienprozess stammenden Konfrontationsrechts mit seiner Ausrichtung auf die Belange der Strafverteidigung in das 89

Vgl. EGMR NJW 2003, 2298; NStZ 2007, 105; StraFO 2007, 107 ff.; EUGRZ 1992, 476. So im Fall Haas gegen Deutschland, EGMR NStZ 2007, 103, 105; dazu auch schon BGH StV 2000, 649 sowie BVerfG NJW 2001, 2245. 91 Siehe die Nachweise bei Fn 35. 92 EGMR NJW 2003, 2893; vgl. auch EGMR StraFo 2007, 107 sowie BGHSt 51, 150; siehe auch Schädler (Fn 4) Art. 6 MRK Rn 54, 60. 93 Exemplarisch auch insoweit der bereits mehrfache erwähnte Fall Haas gegen Deutschland; vgl. die dazu ergangenen Entscheidungen BGH StV 2000, 649; BVerfG NJW 2001, 2245 und EGMR NStZ 2007, 103. 90

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strukturell ganz anders geartete, vom Ermittlungsgrundsatz der Justizorgane geprägte deutsche Strafverfahren, deutlicher erkennbare Bruchlinien auftreten. Dies gilt umso mehr, wenn man die strikte, vor allem hinsichtlich der Beweisanforderungen nicht ohne weiteres aus dem Regelungsgehalt ableitbare Auslegung der Garantie aus Art. 6 Abs. 3d) EMRK94 durch den Gerichtshof berücksichtigt. Dass augenscheinliche Divergenzen im rechtlichen Ausgangspunkt selten wahrgenommen werden und sich praktisch kaum auswirken, hängt vor allem mit der vom EGMR bislang95 geübten Zurückhaltung zusammen, unterbliebene Konfrontationen in seiner Spruchpraxis einer wertenden Gesamtbetrachtung unter dem Blickwinkel des fairen Verfahrens zu unterziehen und im Übrigen Gesetzgeber und Justiz der Vertragsstaaten einen relativ weiten Beurteilungsspielraum bei der Implementierung der europarechtlichen Rechtsgrundsätze zu belassen. Dies erlaubt nicht nur eine „Heilung durch Querschnittsbetrachtung“96 im Einzelfall, sondern ermöglicht auch eine an das deutsche Strafverfahren und die ihm eigenen Strukturen angepasste und mit diesem so weit wie möglich kompatible Umsetzung des Konfrontationsgrundsatzes. Insoweit ist vor allem daran zu erinnern, dass es gerade in einem auf die Aufklärungspflicht und Objektivität von Staatsanwaltschaft und Gericht ausgerichteten Strafverfahren für die Bewertung der Fairness von erheblicher Bedeutung ist, ob diese Justizorgane für etwaige Beschränkungen der Verteidigung verantwortlich sind oder nicht. Mit Rücksicht auf die Unterschiedlichkeit der Verfahrenssysteme fördert eine zurückhaltende Handhabung durch den EGMR die Akzeptanz seiner Judikatur bei den nationalen Gerichten und damit im Ergebnis auch die Rezeption der konventionsrechtlichen Garantien im deutschen Strafprozess.97

94

Dazu im Text III 3. bei Fn 79. Ob etwa die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Al-Khawaja and Tahery v. The United Kingdom (Nr. 26766/05 und 22228/06 v. 20.1.2009) als Einzelfallentscheidung oder Änderung der Rechtsprechungslinie zu bewerten sein wird, bleibt abzuwarten. Im entschiedenen - nicht rechtskräftigen - Fall der Anklage gegen einen Arzt wegen eines sexuellen Übergriffs gegen eine Patientin hat die Kammer mit einem Stimmenverhältnis von 7:0 eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3d) EMRK u. a. angenommen, weil das Gericht die Verlesung der früheren Aussage der einzigen Tatzeugin zugelassen hat, die zwischenzeitlich Suizid begangen hatte. 96 So anschaulich Gless StV 2010, 403. 97 Siehe dazu auch Gless StV 2010, 410, 403. 95

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Aus diesen Gründen ist zu hoffen, dass der Gerichtshof bei seiner Auslegung der Konvention auch in Zukunft die gebotene Rücksicht auf gewachsene und bewährte strafprozessuale Strukturen der Vertragsstaaten nimmt und der Versuchung widersteht, sich unter Berufung auf kontradiktorische Rechtsvorstellungen der EMRK als oberstes Strafgericht Europas zu profilieren.

Die „unterbelichtete“ Schadenswiedergutmachung gemäß § 46a StGB HEINZ SCHÖCH

I. Schadenswiedergutmachung im Strafrecht Die für viele überraschende Verabschiedung des § 46a StGB im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 28.10.19941 hatte zur Folge, dass die Rechtsprechung nur wenig Zeit hatte, sich auf die neue Vorschrift einzustellen. Bereits in der zweiten einschlägigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs hatte der 5. Senat am 2.5.1995 über einen Fall zu befinden, in dem eine Strafkammer des LG Lüneburg die am Tag der Urteilsverkündung (1.12.1994) in Kraft getretene Vorschrift nicht anwenden konnte, weil ihr der Gesetzestext noch nicht vorgelegen hatte. Der Angeklagte hatte „sein Opfer äußerst brutal behandelt“, so dass es „dicht vor der Schwelle des Todes“ stand. Er vereinbarte mit dem Anwalt des Opfers ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 DM und zahlte davon durch Aufnahme eines Kredits 5.000 DM; einen höheren Kredit konnte er nicht bekommen. Die Strafkammer hatte nachträglich die Anwendung des § 46a Nr. 2 StGB erwogen und in der schriftlichen Urteilsbegründung dazu folgendes ausgeführt: „Sie hätte sonst (sc. bei Kenntnis des Gesetzestextes) den Strafrahmen gemildert und wäre damit zu einer milderen als der von ihr erkannten Freiheitsstrafe gelangt. Sie hat daher die Einlegung der Revision durch den Angeklagten angeregt.“2 Der 5. Strafsenat vermochte einen Rechtsfehler wegen unzureichender Feststellungen zu den Voraussetzungen des § 46a StGB nicht auszuschließen und hob das Urteil auf, obwohl die Anwendung des § 46a StGB nach seiner Auffassung nicht nahelag. Er begründet dies damit, dass im vorliegenden Fall allenfalls § 46a Nr. 1 StGB in Betracht komme, dagegen nicht, wie die Strafkammer meine, § 46a Nr. 2 StGB. Denn § 46a Nr. 1 StGB beziehe sich vor allem „auf den Ausgleich der immateriellen Folgen 1 König JR 2002, 252: legislatorisches „Hauruckverfahren“; Loos Hirsch-FS 1999, 875: „eher gesetzgeberische Kaprice als gründliche, das Für und Wider einer durchaus vorhandenen längeren Diskussion abwägenden Entscheidung.“ 2 Zitiert nach BGH NStZ 1992, 492.

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einer Straftat“, während § 46a Nr. 2 StGB den materiellen Schadensersatz betreffe. Nach dieser durchaus noch richtigen Abgrenzung folgt der verhängnisvolle Satz: „Schadenswiedergutmachung im Sinne dieser Vorschrift bezieht sich also auf den materiellen Schaden.“3 Damit wird materieller Schadensersatz mit materiellem Schaden gleichgesetzt, was rechtlich nicht haltbar ist, da es materiellen Schadensersatz in Form von Schmerzensgeld nach den §§ 253, 847 BGB und Geldleistungen für Rehabilitationskosten auch bei Verletzung immaterieller Rechtsgüter wie der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität gibt. Obwohl der 5. Strafsenat im Ergebnis zutreffend - wegen unzureichender Einbeziehung des Opfers in die Ausgleichsregelung – zur Verneinung des § 46a StGB tendierte, hat er mit der unzutreffenden Gleichsetzung von materiellem Schadensersatz und materiellem Schaden leider die Weichen für die Anwendung des § 46a Nr. 2 StGB falsch gestellt. Es ist aber zu betonen, dass er seither diese fehlerhafte Einschränkung der Schadenswiedergutmachung nicht mehr wiederholt hat. Unglücklicherweise ist ihm aber der 4. Strafsenat darin in mehreren Entscheidungen – ohne jede Begründung4 – mit der formelhaften Wendung gefolgt, dass § 46a Nr. 2 StGB „für materiellen Schadensersatz bei Vermögensdelikten“ vorgesehen sei.5 Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als der 4. Senat in seiner ersten Entscheidung zu der neuen Vorschrift am 17.1.1995, in einem Fall, in dem es um gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr ging, von vornherein nur die Schadenswiedergutmachung nach § 46a Nr. 2 in Erwägung gezogen und § 46a Nr. 1 nicht einmal erwähnt hatte.6 Vermutlich ist diese unglückliche Blickverengung, die teilweise auch die Rechtsprechung der Tatgerichte geprägt hat, damit zu erklären, dass auch der 5. Senat und ihm folgend der 4. Senat keine Zeit gefunden hatten, sich mit der Entstehungsgeschichte und mit den Zielen der neuen Vorschrift auseinanderzusetzen. Denn aus diesen ergibt sich – ebenso wie aus dem Wortlaut und der Systematik des § 46a StGB7 – keine Beschränkung der 3 BGH NStZ 1992, 492 – 5 StR 156/95; auf die unzutreffende Zitierung meiner Ausführungen (Schöch Empfehlen sich Änderungen oder Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten zum 59. DJT 1992, C 58) habe ich bereits an anderer Stelle hingewiesen (Schöch BGH-FG 2000, 323). 4 Möglicherweise beeinflusst durch den fehlerhaften Orientierungssatz in der JurisDatenbank, in der - über die Entscheidung des 5. Senats hinausgehend – materieller Schaden mit Vermögensdelikten gleichgesetzt wurde. 5 BGH NStZ-RR 2000, 364; StV 2001, 346; 2007, 72. 6 BGH NStZ 1992, 284 – 4 StR 755/94. 7 Dazu unten II.

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Schadenswiedergutmachung auf Vermögensdelikte. Möglicherweise hat auch die kriminalpolitische Diskussion seit Mitte der 80er Jahre, die sich primär mit dem Täter-Opfer-Ausgleich und dessen Bedeutung für Diversionsentscheidungen im Jugendstrafverfahren und im Strafprozessrecht befasst hatte, dazu beigetragen, dass der 5. Senat sich ernsthaft nur mit dem Täter-Opfer-Ausgleich befasste und die Schadenswiedergutmachung eher beiläufig und mit falscher Begründung ausschied. Dies war aber nie die strafrechtliche Konzeption der Wiedergutmachung. Bei der Strafaussetzung zur Bewährung gibt es schon seit 1953 die Auflage für den Verurteilten, „nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen“ (§ 56 II Nr. 1 StGB), und es wurde nie bezweifelt, dass darunter neben dem Ersatz materieller Schäden auch der materielle Schadensersatz für immaterielle Schäden durch Schmerzensgeld oder Kosten der Heilbehandlung fallen. Als der Gesetzgeber im Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 in § 46 II StGB beim Strafzumessungsgrund des Nachtatverhaltens die Ergänzung einfügte, dass das Bemühen des Täters, „den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen“ zu berücksichtigen seien, bestanden zu keiner Zeit Zweifel, dass die neue Form des Täter-Opfer-Ausgleichs nichts am bisherigen Anwendungsbereich der Schadenswiedergutmachung ändern sollte, die auch Schmerzensgeld und Heilbehandlungskosten umfasste. Diese Konzeption war auch für die weitere strafrechtswissenschaftliche Diskussion zum Thema Wiedergutmachung handlungsleitend. Roxin stützte sich in seinem grundlegenden Vortrag über „Die Wiedergutmachung im System der Strafzwecke“ im Jahr 1987 ausschließlich auf die bis dahin existierenden Regelungen zur Schadenswiedergutmachung im Bereich der Strafzumessung (§ 46 II StGB) und bei den Auflagen im Bereich der Strafaussetzung zur Bewährung, der Strafrestaussetzung, der Verwarnung mit Strafvorbehalt und der Diversion (§§ 56b, 57 III, 59a StGB, 153 StPO, 15, 45, 47 JGG).8 Erstmals wurden beide Elemente der Wiedergutmachung im AlternativEntwurf Wiedergutmachung (AE-WGM), als „Ausgleich der Folgen der Tat durch eine freiwillige Leistung des Täters“, die „der Wiederherstellung des Rechtsfriedens dient“ (§ 1 I AE-WGM), zusammengefasst.9 Als Wiedergutmachungsleistungen sollten gemäß § 2 I 1 AE-WGM u.a. Schadensersatz gegenüber dem Verletzten sowie immaterielle Leistungen wie Entschuldigung oder Versöhnungsgespräch in Betracht kommen. Eine 8

Roxin in: Schöch (Hrsg.): Wiedergutmachung und Strafrecht, 1987, 37 ff. Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer, AlternativEntwurf Wiedergutmachung (AE-WGM), 1992. 9

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Bevorzugung des Täter-Opfer-Ausgleichs bei Delikten gegen die Person oder die sexuelle Selbstbestimmung spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Beschränkung des Schadensersatzes auf den Ersatz materieller Schäden bei Vermögensdelikten. In dieser Form wurde der AE-WGM beim 59. Deutschen Juristentag in Hannover – vermittelt durch mein Gutachten10 – zur Diskussion gestellt. In den entscheidenden Beschlüssen des Deutschen Juristentages wurde eine verstärkte Berücksichtigung der Schadenswiedergutmachung und eines Ausgleichs zwischen Täter und Opfer im Strafrecht gefordert. Beide sollten über § 46 II StGB hinaus zum selbständigen fakultativen Strafmilderungsgrund erhoben werden.11 In der Entwurfsbegründung für das Verbrechensbekämpfungsgesetz berief sich der Gesetzgeber später ausdrücklich auf die Empfehlungen des Deutschen Juristentages12 und bezeichnete ebenfalls den Täter-OpferAusgleich und die Schadenswiedergutmachung als gleichwertige Alternativen für die Strafmilderung und für das Absehen von Strafe, ohne jede Differenzierung nach Delikten. Speziell zu § 46a Nr. 2 StGB heißt es in der Entwurfsbegründung: „Danach ist erforderlich, dass der Täter das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt und dies erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat. Gedacht ist insoweit etwa an umfangreiche Arbeiten in der Freizeit oder erhebliche Einschränkungen im finanziellen Bereich, die erst eine materielle Entschädigung ermöglicht haben.“13 Auch hieraus ergibt sich also, dass § 46a Nr. 2 StGB alle materiellen Entschädigungsleistungen erfassen will, und nicht nur diejenigen für einen materiellen Schaden oder gar nur für Vermögensdelikte. Durch beide Alternativen könne „der Täter … besser als mit bloßer Bestrafung zur Einsicht in die Verwerflichkeit seines Tuns und zur Übernahme von Verantwortung für die Folgen seiner Straftat veranlasst werden. Derartige Ausgleichsmaßnahmen ergänzen daher die friedensstiftende Wirkung eines herkömmlichen Strafverfahrens. Sie können ferner – im Hinblick auf die Allgemeinheit – deutlich machen, dass eine Straftat nicht ohne Folgen bleibt und der Täter zur Verantwortung gezogen wird.“14 Daraus wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber neben der Genugtuung für das Opfer vor allem die Strafzwecke der positiven Spezial- und Generalprävention im Blick hatte,15 mit der Übernahme von Verantwortung für die Folgen der Straftat aber auch die Sühnefunktion der Strafe ansprach. 10

Schöch (Fn. 3), C 66 ff. Deutscher Juristentag (Hrsg.), Sitzungsbericht O zum 59. DJT 1992, O 184 ff (V. 1, 5c). 12 BT-Drs. 12/6853, 21. 13 BT-Drs. 12/6853, 21. 14 BT-Drs. 12/6853, 21. 15 So zuvor auch Schöch (Fn. 3), C 63 ff. 11

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Kritiker der Vorschrift stellen die Vereinbarkeit einer derart begründeten Strafmilderung mit dem Schuldprinzip infrage.16 Insoweit ist einzuräumen, dass Wiedergutmachung allein die spezifisch strafrechtliche Schuld nicht vollständig beseitigen kann. Wiedergutmachung ist aber eine konstruktive Sozialleistung des Täters, mit der er seine Verantwortung für die Tat vor dem Opfer und vor der Gemeinschaft auf sich nimmt und damit die verletzte Rechtsordnung wenigstens teilweise wiederherstellt. Die auszugleichende Tatschuld wird hierdurch nicht geringer als bei einem vergleichbaren Täter,17 der sich um die Tatfolgen überhaupt nicht kümmert, jedoch kann die Wiedergutmachung die Strafzumessungsschuld reduzieren, weil der Täter freiwillig zur Bewältigung der Tatfolgen beiträgt.18 Auf diesem Gedanken beruhte die Strafzumessungsrelevanz der Schadenswiedergutmachung und des Täter-Opfer-Ausgleichs schon zuvor in § 46 II StGB. Von einem „Fremdkörper… im System der Strafzumessungsvorschriften“19 kann also keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich nur um eine konsequente Anerkennung der Sühneleistung des Täters und seines Beitrags zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Die teilweise geäußerte Kritik an der „Einstellung eines sozialpädagogischen Konzepts in das StGB“20 orientiert sich zu einseitig an dem im Jugendstrafrecht praktizierten klassischen Täter-Opfer-Ausgleich mit Sozialpädagogen als Mediatoren, der aber im Erwachsenenstrafrecht fast nur bei der Diversion nach § 153a I 2 Nr. 5 StPO vorkommt. Im Rahmen des § 46a StGB hat der Bundesgerichtshof von Anfang an die Einschaltung eines neutralen Schlichters für entbehrlich gehalten21 und Vereinbarungen durch Vermittlung der Anwälte der Beteiligten akzeptiert. Für diese Form des Ausgleichs passt natürlich die Schadenswiedergutmachung noch besser als der Täter-Opfer-Ausgleich, bei dem die personalen Elemente und der „kommunikative Prozess“ eine größere Rolle spielen (s.u.VI.).

16 Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 46a, Rn. 3; MK-Franke StGB, 2003, § 46a, Rn. 3; dagegen NK-Streng StGB, 2. Aufl. 2005, § 46a, Rn. 2 mwN. 17 Weitergehend NK-Streng (Fn. 16) § 46a, Rn. 2, der auch „ein gewisses Maß an Ausgleich der Tatschuld“ annimmt. 18 Kaspar Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht, 2004, 44 ordnet diesen Aspekt der Spezialprävention zu. 19 MK-Franke StGB (Fn. 16), § 46a, Rn. 3. 20 Vgl. Fischer StGB (Fn. 16), § 46a, Rn. 3 mwN. 21 BGH NStZ 1995, 492 f. (Beschluss vom 25.7.1995 – 1 StR 205/95).

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II. Anwendbarkeit der Schadenswiedergutmachung auf Gewaltund Sexualdelikte Die Beschränkung der Schadenswiedergutmachung auf Vermögensdelikte, die auf der unzutreffenden Gleichsetzung von materieller Entschädigung und materiellem Schaden. bzw. Vermögensdelikten beruht (s.o. I.), findet weder im Gesetzestext noch in der Entwurfsbegründung eine Stütze. Sie hat auch in der Literatur keine Zustimmung gefunden. Fast durchweg wird zutreffend darauf hingewiesen, dass § 46a Nr. 1 StGB vor allem den Ausgleich immaterieller Folgen der Straftat betreffe, während § 46a Nr. 2 StGB vorwiegend den materiellen Schadensausgleich betreffe.22 Die verfehlte Beschränkung der Nr. 2 auf Vermögensdelikte findet sich nur selten und dann mit beiläufigen Sätzen ohne nähere Begründung,23 überwiegend wird sie ausdrücklich abgelehnt.24 Die beiden Alternativen des § 46a StGB unterscheiden sich also nicht hinsichtlich der Schadensarten, sondern hinsichtlich der Ersatz- bzw. Leistungskategorien,25 weshalb es beim deliktischen Anwendungsbereich keine grundsätzlichen Unterschiede, sondern allenfalls Schwerpunkte gibt. Bei § 46a Nr. 1 StGB stehen immaterielle Leistungen im Vordergrund, bei § 46a Nr. 2 StGB materielle Leistungen. Beide Alternativen verlangen aber zusätzlich eine Kombination von materiellen und immateriellen Leistungen. Der Täter-Opfer-Ausgleich setzt neben vollständiger, überwiegender oder ernsthaft erstrebter Wiedergutmachung das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, voraus, bei der Schadenswiedergutmachung sind neben vollem oder überwiegendem Schadensersatz erhebliche persönliche Leistungen oder persönlicher Verzicht erforderlich. In der Entwurfsbegründung werden als Beispiele hierfür „umfangreiche Arbeiten in der Freizeit oder erhebliche Einschränkungen im finanziellen Bereich, die erst eine materielle Entschädigung ermöglicht haben“, ge22 Fischer StGB (Fn. 16), § 46a, Rn. 10, 11 ; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 46a, Rn. 4a; NK-Streng StGB (Fn. 16) § 46a, Rn.9 und Fn. 21; S/S-Stree StGB, § 46a, Rn. 5. 23 Schäfer/Sander/van Gemmeren Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. 2008, Rn. 547: „Wie die Wortwahl des Gesetzes zeigt, zielt Nr. 1 auf den immateriellen Ausgleich, Nr. 2 auf den materiellen. Nr. 1 ist deshalb in erster Linie bei Verletzung höchstpersönliche Rechtsgüter, Nr. 2 bei Vermögensdelikten anwendbar.“ 24 LK-Theune 12. Aufl. 2006, § 46a Rn. 31 f.; Lackner/Kühl StGB (Fn.22), § 46a, Rn. 2; MK-Franke StGB (Fn.16), § 46a, Rn. 7; Kilchling NStZ 1996,314; Schöch BGH-FG 2000, 323 f.; König JR 2002, 252 f.; Franke NStZ 2003, 413; Dölling NStZ 2004, 382; Rose JR 2010, 189 ff.; Kaspar (Fn.18), S. 98 f; Götting Schadenswiedergutmachung im Strafverfahren, 2004, 78 f. 25 Kilchling NStZ 1996,314; Schöch (Fn.24), S. 324; König JR 2002, 252 f.; Kaspar (Fn. 18), S. 99 f;

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nannt.26 Hinzu kommt praktisch immer die vom Verletzten angenommene Entschuldigung des Täters. Denkbar sind auch Versöhnungsgesten wie kleine Geschenke oder – falls vom Verletzten akzeptiert – Geldzahlungen an gemeinnützige Einrichtungen.27 Deshalb hatte der 1. Senat schon früh – am 25.7.1995 – in einem Fall, in dem der Täter wegen Vollrausches in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Waffe verurteilt worden war, dem Tatgericht zutreffend die Anwendung des § 46a Nr. 2 StGB nahegelegt, da der Täter eine Eigentumswohnung verkauft und eine gemietete Wohnung aufgegeben hatte, um an den Verletzten Schmerzensgeld sowie Lohnfortzahlungs-, Krankenhaus- und Nebenklagekosten zu bezahlen.28 Ausdrückliche Zweifel an der oben dargestellten Entscheidung des 5. Senats vom 2.5.1995 und den Folgeentscheidungen des 4. Senats, bei denen es sich durchweg um unverbindliche obiter dicta handelt, äußerte erstmals der 2. Senat in einem Urteil vom 2.5.2001, in dem es um das Zusammentreffen von Täter-Opfer-Ausgleich (gegenüber den vom Bankraub betroffenen Personen) und Schadenswiedergutmachung (gegenüber der Bank) ging: „Ob diese strenge Unterscheidung (sc. zwischen § 46a Nr. 1 und 2 StGB) und die damit verbundene Einengung der Vorschrift, die aus dem Wortlaut und der gesetzgeberischen Intention abgeleitet wird, in dieser Schärfe aufrechterhalten werden sollte (vgl. dazu kritisch Schöch, in 50 Jahre BGH –Festgabe aus der Wissenschaft, S 309 [323,335]) erscheint dem Senat zweifelhaft. Das zeigt der vorliegende Fall (…). Eine eindeutige Einordnung in eine der beiden Fallgestaltungen des § 46a StGB ergibt sich bei vielschichtigen Tatgeschehen danach nicht von selbst. Ob eine überwiegende Wiedergutmachung der Tat grundsätzlich nur innerhalb einer der beiden Alternativen zu prüfen ist und unter welcher, braucht der Senat hier aber nicht abschließend zu entscheiden. Ausreichend für eine Anwendung des § 46a StGB ist es auf jeden Fall, wenn hinsichtlich jedes Geschädigten eine der Alternativen des § 46a StGB erfüllt ist.“29 Obwohl der 2. Senat zu der Streitfrage über den Anwendungsbereich des § 46a Nr.2 StGB also nicht abschließend Stellung nahm, wurde seither - soweit ersichtlich – in der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Begrenzung auf materielle Schäden und Vermögensdelikte nicht mehr wiederholt, was in der Justizpraxis überwiegend noch nicht registriert worden ist. Der gelegentlich als Bestätigung der alten Rechtsprechung zitierte Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30.10.2002 26

BT-Drs. 12/6853, 22. Vgl. die Übersicht bei Schöch (Fn.24), S. 338. 28 BGH NStZ 1995, 492 f. - 1 StR 205/95. 29 BGH NStZ 2002, 364, 365 – 2 StR 78/01. 27

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bestätigt nur die richtige Interpretation, dass § 46a Nr. 1 StGB vor allem auf den Ausgleich immaterieller Folgen einer Straftat anzuwenden sei, während sich Nr. 2 der Vorschrift auf dem materiellen Schadensausgleich beziehe, nicht dagegen dessen Beschränkung auf Vermögensschäden30 Selbst der 4. Senat, der früher für die Fortschreibung des Irrweges verantwortlich war, hat in einem Fall, in dem das Landgericht bei einer gefährlichen Körperverletzung § 46a Nr. 2 StGB angewendet hatte, in einem Urteil vom 9.9.2004 diese Alternative nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen, sondern nur noch darauf hingewiesen, dass für den Ausgleich immaterieller Schäden jedenfalls vorrangig § 46a Nr. 1 StGB anzuwenden sei.31 In der grundlegenden Entscheidung des 1. Senats vom 19.12.2002, in der bei Gewaltdelikten und Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung für einen erfolgreichen Täter-Opfer-Ausgleich regelmäßig ein Geständnis verlangt wird, wird zutreffend festgestellt, dass der Unterschied zwischen § 46a Nr. 1 und Nr. 2 StGB darin bestehe, „dass Nr. 2 für die materiellen Wiedergutmachungsmaßnahmen den Eintritt des Erfolgs (d. h. die geleistete Zahlung) verlangt, während sich Nr. 1 u. U. mit den mit dem erstrebten Erfolg verbundenen Ausgleichsbemühungen begnügt (Schöch aaO S. 309 ff. 319, 323, 335).“32 Das spricht dafür, dass auch der 1. Senat die Auffassung vertritt, dass für die Abgrenzung nicht mehr auf die Art des durch die Tat verursachten Schadens, sondern auf die Art der vom Täter erbrachten Leistungen abzustellen ist.33 Leider ist diese Korrektur der neueren Rechtsprechung in großen Teilen der Praxis noch nicht angekommen. Häufig wird § 46a Nr. 2 StGB noch mit der formelhaften Begründung abgelehnt, die Schadenswiedergutmachung sei für Gewalt- und Sexualdelikte nicht anwendbar, da sie nur für Vermögensschäden bestimmt sei. Nicht selten wird dabei auf die früheren Entscheidungen des 4. und des 5. Senats verwiesen. Es wäre daher zu begrüßen, wenn einer der Strafsenate demnächst in einem geeigneten Fall darauf hinweisen würde, dass diese Rechtsprechung überholt ist und dass § 46a Nr. 2 StGB auch für Gewalt- und Sexualdelikte anwendbar ist. Wo es gelungen ist, die Praxis davon zu überzeugen, dass § 46a Nr. 2 StGB mindestens34 den gleichen deliktischen Anwendungsbereich hat wie Nr. 1, spielt die Schadenswiedergutmachung auch bei Gewalt- und Sexualdelikten eine bedeutende Rolle. In dem Münchener Modellprojekt „Scha30

BVerfG NJW 2003, 740. BGH Urt. v. 9.9.2004 – 4 StR 199/04 – der hier einschlägige Teil ist in NStZ 2005, 97 nicht abgedruckt. 32 BGHSt 48, 134, 138 f. (Urt. v. 19.12.2002 – 1 StR 405/02). 33 So auch Dölling NStZ 2004, 382. 34 Bei der Steuerhinterziehung reicht er sogar darüber hinaus, s.u. 7. 31

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denswiedergutmachung über anwaltliche Schlichtungsstellen“ wird seit 1999 die Schadenswiedergutmachung im Strafverfahren praktiziert, hauptsächlich mit dem Ziel der Einbringung bei der Strafzumessung gemäß §§ 46, 46a StGB, jedoch reagiert die Praxis in etwas mehr als der Hälfte der Fälle mit Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO.35 Von den bis Ende 2004 auswertbaren 412 einschlägigen Strafverfahren wurden 72,5 % erfolgreich geschlichtet; diese Quote ist zwar geringer als diejenige bei der bundesweiten TOA-Statistik (81,4 %), jedoch handelte es sich in München durchweg um Erwachsene und überwiegend um gravierendere Fälle, darunter auch solche, die von der Staatsanwaltschaft trotz zweifelhafter Eignung zugewiesen worden waren.36 Bis Ende 2004 sind insgesamt 673 Fälle bearbeitet worden. Darunter fanden sich neben 291 (43,2 %) Eigentums- und Vermögensdelikten auch 157 (22,3 %) Körperverletzungen, 93 (13,8 %) Unterhaltspflichtverletzungen, 35 (5,2 %) Straftaten gegen die persönliche Freiheit, 28 (4,2 %) Ehrverletzungsdelikte, 13 (1,9 %) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 13 (1,9 %) Raub- und Erpressungsdelikte, und 7 (1,0 %) Fälle des versuchten Totschlags.37 Da die meisten Verfahren mit der Verfahrenseinstellung oder mit dem Urteil rechtskräftig abgeschlossen wurden, finden sich in den abgekürzten Urteilen nur relativ selten ausdrückliche Hinweise auf § 46a StGB. Jedoch lässt sich klar nachweisen, dass die erfolgreichen Schlichtungen zu milderen Strafen und zu mehr Einstellungen geführt haben.38 § 46a StGB wurde immerhin in 45 Fällen (10,7 %) ausdrücklich erwähnt.39 In 42 Einzelfallschilderungen konnten die differenzierten Auswirkungen der Schadenswiedergutmachung auf das weitere Strafverfahren eindrucksvoll dokumentiert werden.40 Inzwischen sind über 1500 Fälle geschlichtet worden; 2008 waren es 222, 2009 sogar 272 Fälle.41 Die Deliktverteilung ist ähnlich geblieben. Stärker als bei beim Täter-Opfer-Ausgleich kommen hier auch eigene Initiativen der Anwälte des Beschuldigten oder des Verletzten in Betracht, außerdem indirekte Vermittlungen ohne persönliche Begegnung, die von den Verletzten – trotz prinzipieller Ausgleichsbereitschaft – überwiegend abgelehnt wird. Obwohl sich der weitgehende Verzicht auf die persönliche Begegnung auch bereits bei den TOA-Projekten im Erwachsenen-Bereich abgezeichnet 35

Köberlein Schadenswiedergutmachung und Legalbewährung 2006, 111. Köberlein (Fn. 353), S. 96. 37 Köberlein (Fn. 33), S. 73. 38 Köberlein (Fn. 33), S. 113. 39 Köberlein (Fn. 33), S. 121. 40 Köberlein (Fn. 33), S. 124-151. 41 Mitteilung des Vorsitzenden des Vereins Ausgleich e.V. München, RA Dr. Robert Jofer sowie Bericht in der SZ vom 16.7.2010, S. 44. 36

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hatte, ist im Münchner Projekt noch deutlicher geworden, dass – jedenfalls bei Erwachsenen – ein erheblicher Bedarf an informellen und indirekten Schlichtungen besteht, bei denen die Beteiligten ihre Rechtsanwälte einschalten können und sich nicht persönlich begegnen müssen. Von der in allen Fällen angebotenen persönlichen Begegnung wurde nur in 10,9 % der Fälle Gebrauch gemacht. Die anwaltlich vermittelte Schadenswiedergutmachung ist also eine echte Alternative zum Täter-Opfer-Ausgleich. Dabei hat sich keine Deliktsart als prinzipiell ungeeignet erwiesen, sofern es zu einem materiell ausgleichsfähigen Schaden kam, wozu natürlich auch die Zahlung von Schmerzensgeld und Heilbehandlungskosten bei immateriellen Schäden gehören. Auch die Opfer von Sexualdelikten und schweren Gewaltdelikten sind dankbar dafür, dass ihnen auf der Grundlage einer Wiedergutmachungsvereinbarung konfrontative Strafprozesse (oft in mehreren Instanzen) und langwierige zivile Rechtsstreitigkeiten erspart bleiben, wenn der oder die Täter ihre Schuld einsehen und freiwillig zu Sühneleistungen bereit sind. Die Einschaltung anwaltlicher Schlichter ist bei Schadenswiedergutmachungsvereinbarungen zwischen den Parteien und ihren Anwälten hilfreich, aber sie ist nicht unbedingt erforderlich. Deshalb können solche Vereinbarungen an allen Gerichtsorten in Deutschland getroffen werden, in denen die Rechtsanwälte hierfür aufgeschlossen sind, auch wenn es keine Schlichtungsstelle gibt. Dies ist ein weiterer erheblicher Vorteil gegenüber dem Täter-Opfer-Ausgleich, der nur an den Orten angeboten werden kann, an denen entsprechende Projekte eingerichtet sind. Das ist – insbesondere bei Erwachsenen – in vielen Gerichtsbezirken noch nicht der Fall.

III. Vollständige Entschädigung oder überwiegende Teilentschädigung Hinsichtlich der materiellen Entschädigung besteht der entscheidende Unterschied zwischen § 46a Nr. 1 und Nr. 2 StGB darin, dass Nr. 2 einen Wiedergutmachungserfolg verlangt, während sich Nr. 1 mit dem erstrebten Erfolg in Verbindung mit Ausgleichbemühungen begnügt. Beim Umfang der Entschädigung sind die zivilrechtlichen Standards für den Schadensersatz und das Schmerzensgeld zugrunde zu legen.42 Allerdings ermöglicht § 46a Nr. 2 StGB flexible Lösungen, da die Parteien im Rahmen ihrer Vereinbarung über den Umfang der Schadenswiedergutmachung disponieren können.43 Freilich darf sich die Vereinbarung nicht vollständig von zivil42 43

NK-Streng StGB (Fn. 16), § 46a, Rn. 18 mwN. Kaspar (Fn. 18), S. 118; Kasparek Zur Auslegung des § 46a StGB, 2002, 50 f.

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rechtlichen Maßstäben lösen. Das wäre etwa der Fall, wenn sich das Opfer mit einer symbolischen Entschädigung begnügt (z.B. 2.000 € statt 20.000 € Schmerzensgeld), weil andernfalls eine Zahlung überhaupt nicht zu erwarten wäre. In solchen Fällen kann das Gericht der Dispositionsbefugnis des Opfers Grenzen setzen, indem es die personalen Voraussetzungen der Schadenswiedergutmachung auf Seiten des Täters verneint oder von seinem Rechtsfolgeermessen Gebrauch macht und die Strafrahmenmilderung gemäß §§ 46a, 49 StGB versagt.44 Ebenso genügt eine bloße Zusage nicht45; es muss mindestens eine tatsächlich geleistete überwiegende Teilentschädigung vorliegen. Für die überwiegende Teilentschädigung gilt nach wie vor die Hälfte des Gesamtschadens als Orientierungsgröße,46 jedoch trägt die Rechtsprechung auch hier der Dispositionsbefugnis der Beteiligten Rechnung, wenn sich der Geschädigte mit der Teilleistung zufrieden gibt und den Täter von der weitergehenden Haftung freistellt. 47Auch insoweit sind allerdings die Grenzen der Dispositionsbefugnis bezüglich bloß symbolischer Leistungen zu beachten, wobei das Gericht bei hohen Schäden und geringem Verschulden großzügiger sein kann.

IV. Erhebliche persönliche Leistungen oder persönlicher Verzicht Mit dem Erfordernis der erheblichen persönlichen Leistungen oder des persönlichen Verzichts hat der Gesetzgeber eine adäquate Lösung gefunden, um ein „Freikaufverfahren“ für wohlhabende Täter zu verhindern. Für diese ist die Strafmilderung gemäß § 46a StGB sogar schwerer zu erreichen als für Personen mit geringem Einkommen oder Vermögen, sofern sei nicht ausnahmsweise einen Täter-Opfer-Ausgleich mit dem Verletzten nach § 46a Nr. 1 StGB herbeiführen können. In der Begründung des Gesetzentwurfs werden beispielhaft „umfangreiche Arbeiten in der Freizeit oder erhebliche Einschränkungen im finanziellen Bereich, die erst eine materielle Entschädigung ermöglicht haben“, genannt.48 In Betracht kommen ferner eine förmliche Entschuldigung oder ein Versöhnungsgespräch, ein Geschenk oder Arbeitsleistungen für den 44

Ähnlich Kaspar (Fn. 18), S. 118. BGH NStZ 2000, 83 f. (Beschl. v. 19.10.1999 – 1 StR 515/99); Fischer (Fn.16), § 46a, Rn. 10, 11. 46 Lackner/Kühl (o. Fn.22), § 46a Rn. 2; NK-Streng StGB (o. Fn.16), § 46a, Rn. 18 mwN; angedeutet in BGH NStZ-RR 2009, 133; offengelassen in BGH NJW 2001, 2557 f. 47 BGH StV 2009, 405 f.; NStZ-RR 2009, 133. 48 BT-Drs. 12/6853, 22. 45

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Verletzten und – nach Auffassung eines beteiligten Parlamentariers – sogar symbolische Wiedergutmachungsleistungen wie Geldzahlungen an gemeinnützige Einrichtungen.49 All diese „persönlichen Leistungen“ sind aber nur relevant, wenn der Verletzte sie als Wiedergutmachung akzeptiert. Beim persönlichen Verzicht kommt der Verkauf eigener Immobilien oder des einzigen Kraftfahrzeugs, Verzicht auf eine Urlaubsreise oder eine geplante Anschaffung sowie eine Kreditaufnahme in Betracht, wenn sie erfolgen, um die Schadenswiedergutmachung zu ermöglichen. Aus den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs sind folgende Beispiele zu erwähnen: Der Verkauf einer Eigentumswohnung, die Kündigung einer gemieteten Ferienwohnung, um Schmerzensgeld in Höhe von 72.000 DM und über 5.000 DM Nebenklage- und Krankenhauskosten zu bezahlen, können einen erheblichen Verzicht darstellen,50 Zahlung von ca. 100.000 DM Schadensersatz aus dem Vermögen der Eltern aufgrund eines Erbverzichtsvertrages des Täters mit den Eltern,51 ebenso der Einsatz von Privatvermögen des Täters für deliktische Aktivitäten seiner Maklerfirma bei erheblichen Einschränkungen für die Familie vor der Geburt des zweiten Kindes.52 In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es im Anschluss an die Beispiele für erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht: „Auch in diesen Fällen hat der Täter zu erkennen gegeben, dass er gewillt ist, zum Ausgleich der von ihm verursachten Tatfolgen einen über die rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Beitrag zu erbringen, der Ausdruck einer individuellen Übernahme von Verantwortung ist und somit friedensstiftende Wirkung hat.“53 Damit wollte der Gesetzgeber deutlichen machen, dass es gerade diese personalen Elemente sind, die unter den Aspekten des Schuldausgleichs und der positiven Generalprävention die Strafmilderung gemäß § 46a StGB rechtfertigen. Deshalb ist es nicht unproblematisch, wenn das Motiv des Gesetzgebers in zahlreichen Entscheidungen formelhaft wiederholt wird und dadurch der Eindruck entsteht, es handele sich bei der „individuellen Übernahme von Verantwortung“ um ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal, das stets gesondert neben den personalen Elementen festzustellen sei.54 Aus dem Gesetzestext und der Gesetzesbegründung ergibt sich eindeutig, dass bei Bejahung 49 Geis (CSU), in: WEISSER RING (Hrsg.), Täterrechte-Opferrechte – neue Gewichtung im Strafprozeß 1996, S. 41; ebenso NK-Streng StGB (Fn.16), § 46a, Rn. 19 mwN. 50 BGH NStZ 1995, 492 f. (Beschl. v. 25.7.1995 – 1 StR 205/95). 51 BGH NSTZ 2000, 592 f. (Beschl. v. 13.7.2000 – 4 StR 271/00). 52 BGH NStZ-RR 2009, 133 (Beschl. v.17.12.2008 – 1 StR 664/08). 53 BT-Drs. 12/6853, 22. 54 BGH NStZ 1995, 492 f.; BGHR StGB § 46a Wiedergutmachung 1,5; NStZ 2000, 206 „zudem“; 2000, 592; NJW 2001, 2557; kritisch auch Kaspar (Fn.18), S. 124.

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der erheblichen persönlichen Leistungen oder des persönlichen Verzichts die Tatbestandsvoraussetzungen für § 46a Nr. 2 StGB erfüllt sind.55 Das schließt – wie im folgenden Abschnitt zu zeigen ist – nicht aus, die Besinnung auf die ratio legis als Ermessenskriterium bei der Ausübung des Rechtsfolgeermessens gemäß § 46a StGB zu berücksichtigen.56

V. „Übernahme von Verantwortung“ und „friedensstiftende Wirkung“ als Ermessenskriterien für das Tatgericht Es ist einzuräumen, dass es Sonderfälle gibt, in denen trotz vollständiger oder überwiegender Entschädigung des Opfers und trotz erblicher persönlicher Leistungen oder Verzichts des Täters das Gericht im Rahmen seines Rechtsfolgeermessens ergänzende Überlegungen anstellen muss, ob vor dem Hintergrund der Strafzweckorientierung des § 46a StGB die typisierte Strafmilderung oder gar das Absehen von Strafe gerechtfertigt sind. Mit der „Übernahme von Verantwortung“ ist der Schuldausgleich oder die Sühneleistung des Täters angesprochen, mit der friedensstiftenden Wiedergutmachung ein wesentlicher Aspekt der positiven Generalprävention.57 Über dieses Ermessenskorrektiv sind Grenzfälle zu entscheiden, bei denen die Zielerreichung zweifelhaft sein kann. Der wichtigste Fall ist das fehlende Geständnis des Täters, das zwar nach dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte58 des § 46a StGB nicht verlangt werden kann, vom BGH aber– jedenfalls bei Gewaltdelikten und Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – mit Recht regelmäßig verlangt wird.59 Gleichwohl gibt es auch hiervon Ausnahmen, in denen die „Übernahme von Verantwortung“ anders als durch ein Geständnis erfolgen kann. Für § 46a Nr. 1 StGB hat der 2. Senat entschieden, dass ein umfassendes Geständnis nicht ausnahmslos erforderlich sei; Ausnahmen seien vielmehr möglich, „namentlich nach gelungenem Ausgleich mit dem Tatopfer“60, weil in solchen Fällen das

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Ebenso Kaspar (Fn.18), S. 124. So im Ansatz auch Rössner/Klaus in: Dölling u.a. Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland, 2000, 53. 57 Vgl. Roxin Strafrecht AT, Band I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 27, 73. 58 In der Gesetzesbegründung findet sich dazu nichts. In meinem Gutachten zum 59. DJT hatte ich – unter Hinweis auf die §§ 1 II, 11 I, 19 I AE-WGM darauf hingewiesen, dass – um die Einlassungsfreiheit des Beschuldigten zu schützen - an Stelle des Geständnisses die Zustimmung des Täters zur Wiedergutmachungsvereinbarung ausreicht (Schöch (Fn. 3), C 79 f. 59 BGHSt 48, 134, 138 f. (Urt. v. 19.12.2002 – 1 StR 405/02). 60 BGH StV 2008, 464 (Beschl. v. 25.6.2008 – 2 StR 08); NStZ-RR 2009, 133 f. (Beschl. v. 17.12.2008 - StR 664/08; OLG Hamm NStZ-RR 2008, 71. 56

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Opfer u.U. kein besonderes Interesse mehr an einem formellen Geständnis haben kann.61 Für § 46a Nr. 2 StGB kann insoweit nichts anderes gelten. Ein weiteres Beispiel findet sich in einer Entscheidung des 1. Senats, der im Falle eines Notwehrexzesses durch Messerstiche die vom Täter geleistete Zahlung von 12.500 € für alle materiellen und immateriellen Schäden als Täter-Opfer-Ausgleich akzeptierte, obwohl der Täter sich angesichts des gegen ihn gerichteten rechtswidrigen Angriffes im Grunde für unschuldig hielt.62 Ähnliche Fälle sind denkbar in Verfahren wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung, in denen z.B. ein Arzt durch Zahlung von Schmerzensgeld und Entschuldigung die Verantwortung für eine misslungene Behandlung übernimmt, ohne die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung einzugestehen. Umgekehrt sind Fälle denkbar, in denen trotz Schadenswiedergutmachung und erheblicher persönlichen Leistungen die Übernahme von Verantwortung fehlt, z.B. wenn der Täter nach der Schadenswiedergutmachungsvereinbarung weitere Untreue-Handlungen zum Nachteil desselben Opfers begeht,63 wenn nach einer Vergewaltigung der Angeklagte in der Hauptverhandlung das Opfer zunächst herabwürdigt, nach dessen Vernehmung ein Glaubhaftigkeitsgutachten beantragt und anschließend den Vorfall als Missverständnis darstellt, Schmerzensgeld zahlt und sich entschuldigt, ohne ein Geständnis abzulegen.64 Denkbar sind auch Fälle der Herabwürdigung oder gar Einschüchterung des Opfers durch Drohungen sowie eine behauptete Rechtfertigung durch Notwehr, mit der schon die Opferrolle des Geschädigten bestritten wird.65 Da der Bundesgerichtshof beim Täter-Opfer-Ausgleich und bei der der Schadenswiedergutmachung vom Tatgericht im Urteil eine genaue Darstellung der Bemühungen und Leistungen des Täters sowie der Einbeziehung des Opfers und dessen Gründe für die Annahme der angebotenen Zahlung verlangt,66 empfiehlt es sich für die Verteidigung, die entsprechenden Vorgänge vor der Hauptverhandlung schriftlich zu dokumentieren67 und dabei auch zum Ausdruck zu bringen, dass der Täter mit seinen Leistungen zeigen 61

BGH NStZ 2002, 199 f. (Beschl. v. 20.0.2002 – 2 StR 336/02). BGH NStZ 2010, 82 (Beschl. v. 4.8.2009 – 1 StR 297/99). 63 BGH NStZ 2000, 205 f. (Urt. v. 18.11.1999– 4 StR 435/99). 64 BGHSt 48, 134, 135, 146 (Urt. v. 19.12.2002 – 1StR 405/02). 65 BGH BGHR StGB § 46a Nr. 1, Ausgleich 7; BGH Urt. v. 10.2.2010 – 2 StR 391/09. 66 BGH StV 2008, 463 f. (Urt. v. 6.2.2008 – 2 StR 561/07). 67 Senge jurisPr-StrafR 16/2008 Nr. 1, der zutreffend darauf hinweist, dass eine solche Vereinbarung im Wege des Urkundenbeweises nach § 249 I StPO in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann, so dass dem Opfer u. U. eine Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart bleiben kann. 62

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will, dass er persönlich die Verantwortung für die Tat übernimmt und dass das Opfer dies als friedensstiftenden Ausgleich akzeptiert.68

VI. Kommunikativer Prozess durch Einbeziehung des Verletzten In zahlreichen Entscheidungen zu § 46a Nr. 1 StGB verlangt der Bundesgerichtshof einen „kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, der auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Tat verursachten Folgen gerichtet sein muss.69 Mit dieser aus der Entwurfsbegründung entnommenen Formulierung soll letztlich nichts anderes zum Ausdruck gebracht werden, als dass das Opfer in die Verhandlungen zwischen Täter und Opfer einbezogen sein muss und dass bei ausdrücklicher Ablehnung des Opfers ein Täter-Opfer-Ausgleich – wie sich auch aus § 155a S. 3 StPO ergibt – nicht möglich ist.70 Hinsichtlich der Beteiligung des Opfers hat der 1. Senat von Anfang an zutreffend darauf hingewiesen, dass der Wortlaut des Gesetzes – entgegen der Entwurfsbegründung – offen lasse, „ob die Lösung des der Tat zugrunde liegenden Gesamtkonflikts stets unter Anleitung eines Dritten anzustreben“ sei oder ob dies nur „tunlichst“ geschehen solle.71 Später hat er diesen „offeneren Kommunikationsbegriff“ ausdrücklich bekräftigt, „um auch anderen Kommunikationsformen zur Schadenswiedergutmachungen Raum zu lassen.“72 Deshalb ist an Stelle der persönlichen Anwesenheit von Täter und Opfer auch die Vermittlung durch Anwälte möglich. Da für § 46a Nr. 2 StGB „ein ‚kommunikativer Prozess‘ wie in Nr. 1…nicht gleichermaßen vorausgesetzt“73 wird, genügt hier erst recht die Vereinbarung der Schadenswiedergutmachung über Rechtsanwälte, deren Mitwirkung wegen der hierfür erforderlichen juristischen Kenntnisse ohnehin meist unverzichtbar ist. Dies kommt auch den Opfern entgegen, die nach den Münchner Erfahrungen weit überwiegend keine persönliche Begegnung mit dem Täter wünschen (s.o. II).

68 Meine Skepsis bezüglich dieser plakativen Begriffe (Schöch [Fn.24], S. 325 f., 336) gebe ich angesichts der bisherigen Entwicklung der Rechtsprechung auf. 69 BGHSt 48, 134, 139; BGH StV 2008, 463 f. mwN.; Detter NStZ 2010, 139 mwN. 70 BGHSt 48, 134, 142. 71 BGH NStZ 1995, 492 f. 72 BGHSt 48, 134, 139. 73 Fischer (Fn. 16), § 46a Rn. 11.

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VII. Anwendbarkeit bei Steuerhinterziehung In einem Urteil vom 18.11.1999 stellte der 4. Senat bei Untreue zu Lasten eines Diakonievereins klar, dass § 46a StGB in beiden Alternativen auch für juristische Personen als Opfer anwendbar sei, weil die Wiedergutmachung auch den hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen und den von seiner Tätigkeit begünstigten Menschen zugutekomme und weil der Täter auch hier zeigen könne, dass er zur Übernahme von Verantwortung bereit sei.74 Das gilt auch für den Staat als juristische Person des öffentlichen Rechts und die für ihn handelnden Personen, wobei in der Regel aber nur § 46a Nr. 2 StGB in Betracht kommt.75 Diese Vorentscheidung ist wichtig für die von Anfang an streitige Frage nach der Anwendbarkeit des § 46a StGB bei Steuerhinterziehung.76 Da bei diesem Delikt nicht nur das Gemeinschaftsinteresse am gesicherten Steueraufkommen betroffen ist, sondern auch der Staat als Fiskus in Höhe der hinterzogenen Steuer konkret geschädigt wird, gehört die Steuerhinterziehung zu denjenigen Straftaten gegen die Allgemeinheit, bei denen es zugleich um individualisierbare Verletzungen oder Gefährdungen geht. Bei solchen Delikten steht – wie z. B. auch bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB), Straftaten gegen die Umwelt (§§ 324 bis 326 StGB) oder konkrete Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) - hinter dem Gemeinschaftsrechtsgut eine betroffene natürliche oder juristische Person als Rechtsgutsträger, die man als „Opfer“ oder „Verletzten“ bezeichnen kann, jedenfalls wenn man die wörtliche Auslegung durch eine teleologische ergänzt.77 Bei derartigen Delikten hält die wohl überwiegende Meinung in der Literatur – anders als bei solchen mit Verletzung abstrakter Allgemeinbelange (wie z. B. § 316 StGB oder BtM-Delikte) - § 46a StGB für anwendbar.78 Allerdings kommt bei Steuerhinterziehung § 46a Nr. 1 StGB mangels individualisierbaren Opfers nicht in Betracht, wohl aber § 46 a Nr. 2 StGB. Letzteres hatte der 5. Senat in einem Beschluss vom 25.10.2000 noch offengelassen79, jedoch hat der 1. Senat vor kurzem zutreffend bemerkt, dass eine Strafrahmenverschiebung auf der Grundlage von§ 46a Nr. 2 StGB auch bei Steuerstraftaten in Betracht kommen könne, allerdings nur in ganz besonde-

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BGH NStZ 2000, 205 f.; zust. auch die h. M., vgl. Fischer (Fn.16), § 46a Rn. 8 mwN. LK-Theune (Fn.24) Rn. 25; König JR 2002, 254. 76 Vgl. zum Streitstand Lackner/Kühl (Fn.22) Rn. 1b; NK-Streng (Fn.16) Rn. 10. 77 Schöch (Fn.24), S.333 f. 78 Fischer (Fn.16) Rn. 8; Lackner/Kühl (Fn. 22) Rn. 1b; NK-Streng (Fn.16) Rn. 10 jeweils mwN. 79 BGH NStZ 2001, 200f. 75

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ren Ausnahmefällen.80 Der Ausnahmecharakter ist vor allem dadurch bedingt, dass die Steuernachzahlung allein zur Wiedergutmachung nicht ausreicht, vielmehr muss der Täter darüber hinaus besondere persönliche Leistungen erbringen. Dabei bleibt – falls der Täter nicht in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen lebt - für herkömmliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht wenig Spielraum, so dass - ohne Einbeziehung symbolischer Wiedergutmachungsleistungen (gemeinnützige Arbeit, Geldzahlung an gemeinnützige Einrichtungen)81 - nur wenig Anwendungsfälle vorstellbar sind.

VIII. Schluss Ruth Rissing-van Saan hat über viele Jahre aktiv Kontakte zur Wissenschaft gepflegt. Sie hat neben der Herausgabe des Leipziger Kommentars u.a. ihre Erfahrung und ihren Scharfsinn in die Beratungen der Strafrechtslehrertagungen und des Deutschen Juristentags eingebracht. Sie hat in den letzten Jahren mit ihrem 2. Strafsenat wegweisende Entscheidungen mit großer gesellschaftlicher Tragweite gefällt. Möge dieser zu ihren Ehren verfasste Aufsatz einen Beitrag dazu leisten, dass ihr Interesse an einer Fortsetzung des Dialogs zwischen Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis auch über die Pensionierung hinaus anhält.

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BGH NStZ-RR 2010, 147 (Beschl. v. 20.1.2010 – 1 StR 634/09). Dafür AE-WGM (Fn. 32), S. 39 ff. (§§ 1 Abs. 1 S. 3; 2 Abs. 2); Schöch (Fn. 29) C 74.

Zwei Rechtsfragen aus dem Bereich der Nebenklage LOTHAR SENGE

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit zwei Rechtsfragen aus dem Bereich der Nebenklage. Zunächst geht es um die Frage, ob das Revisionsgericht bei unbegründetem Rechtsmittel der Nebenklage den Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils von Amts wegen darauf zu überprüfen hat, ob er den Angeklagten belastende Rechtsfehler enthält und ob bei Feststellung eines solchen Rechtsfehlers der Rechtsfolgenausspruch entsprechend § 3011 zu Gunsten des Angeklagten abzuändern oder aufzuheben ist, wenn die Rechtsfolgenentscheidung auf ihm beruht (I.). Sodann wird der Frage nachgegangen, ob das in § 397 Abs. 1 festgeschriebene Beweisantragsrecht des Nebenklägers auch dazu berechtigt, Beweisanträge zu stellen, die ausschließlich das Ziel verfolgen, die Rechtsfolgenentscheidung zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen (II.).

I. Nach § 301 hat jedes von der Staatsanwaltschaft (zu ungunsten) des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel die Wirkung, dass die angefochtene Entscheidung auch zugunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann; Voraussetzung für die Anwendung von § 301 ist aber stets, dass das Rechtsmittel überhaupt zulässig ist2, so dass die Wirkungen des § 301 bei einem unzulässigen Rechtsmittel nicht eintreten können. Nach § 390 Abs. 1 S. 3 gilt diese Regelung auch für Rechtsmittel des Privatklägers. Obwohl in den das Recht der Nebenklage regelnden Vorschriften der §§ 395 bis 402 die Regelung des § 301 StPO für Rechtsmittel des Neben-

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§§ ohne Gesetzesangaben sind solche der StPO. RGSt 63, 184, 186; SKStPO-Frisch Rn 3; AnwK-Rotsch/Gasa Rn 2; HKStPO-Rautenberg Rn 1; Meyer-Goßner Rn 1, alle zu § 301. 2

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klägers nicht für entsprechend anwendbar erklärt wird3, bejahen Schrifttum4 und obergerichtliche Entscheidungen5 die entsprechende Anwendbarkeit bei Rechtsmitteln der Nebenklage. Diese Rechtsauffassung geht zurück auf die Entscheidung RGSt 41, 349. Ihr lag die Fallkonstellation zugrunde, dass der Angeklagte wegen eines Verstoßes gegen das Urheberrechtsgesetz verurteilt worden war, die Revision der Nebenklage aber einen Schuldspruch wegen eines anderen Nebenklagedelikts und eine Bestrafung des Angeklagten deswegen erstrebte. Auf Revision der Nebenklage, die mit ihrem Ziel der Änderung des Schuldspruchs erfolglos blieb, also unbegründet war, hob das Reichsgericht die Verurteilung durch das Landgericht auf und sprach den Angeklagten frei. Dazu finden sich in der reichsgerichtlichen Entscheidung u.a. folgende Darlegungen: „Die von dem Nebenkläger eingelegte Revision hat aber die Wirkung, dass weiter zu prüfen ist, ob das angefochtene Urteil einen Rechtsirrtum zu ungunsten des Angeklagten erkennen lässt. Aus der prozessrechtlichen Stellung des Nebenklägers wie aus der Vorschrift des § 441 Abs. 16 folgt, dass der Nebenkläger sich der Rechtsmittel nicht mit weitergehenden Befugnissen bedienen kann, als die Staatsanwaltschaft (vgl. Entsch. des R.G.’s in Strafs. Bd. 28, S. 220), dass also die Wirkungen seiner Rechtsmittel keine von den Wirkungen der staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittel verschiedenen sein können und dass jedenfalls die dem Angeklagten zugute kommende Wirkung, die § 3437 verordnet, auch dem Rechtsmittel des Nebenklägers eigen sein muss. Findet sich dies dem Rechtsmittel des Privatklägers gegenüber vorgeschrieben (§ 430 Abs. 1 letzter Satz8), so kann ein Zweifel darüber, dass das Gleiche für das Rechtsmittel des Nebenklägers gilt, nicht obwalten, mag man auch § 437 Abs. 19 nicht in dem Sinne

3 § 301findet in § 401 Abs. 3 S. 1 nur im Zusammenhang mit der aufgrund einer Berufung des Nebenklägers stattfindenden Berufungshauptverhandlung Erwähnung. 4 Vgl. nur LR-Hanack Rn 10; KKStPO-Paul Rn 2; SKStPO-Frisch Rn 11; HKStPORautenberg Rn 6; AnwK-920/52 Rn 7; KMR-Plöd Rn 4; Meyer-Goßner Rn 2, alle zu § 301; LR-Hilger § 400 Rn 4. 5 Auf sie wird im Folgenden noch näher eingegangen. 6 § 441 Abs. 1 in der zur Zeit der RG-Entscheidung vom 5. 6. 1908 geltenden Fassung lautete: „Der Rechtsmittel kann sich der Nebenkläger unabhängig der Staatsanwaltschaft bedienen“. 7 § 343 in der zur Zeit der RG-Entscheidung geltenden Fassung lautete: „Jedes von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel hat die Wirkung, dass die angefochtene Entscheidung auch zu Gunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann“ und entsprach damit wortgleich der aktuellen Fassung des § 301. 8 § 430 Abs. 1 letzter Satz in der zur Zeit der RG-Entscheidung geltenden Fassung lautete: „§ 343 findet auf das Rechtsmittel des Privatklägers Anwendung“. 9 § 437 Abs. 1 in der zur Zeit der RG-Entscheidung gültigen Fassung lautete: „Der Nebenkläger hat nach erfolgtem Anschlusse die Rechte des Privatklägers“.

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verstehen, dass dem Nebenkläger nach erfolgtem Anschlusse in jeder Hinsicht die rechtliche Stellung des Privatklägers zugeschrieben werden solle“. In seinem Urteil vom 22. 12. 191110 bekräftige das RG seine Rechtsprechung, dass auf Revision der Nebenklage, die nur zuungunsten des Angeklagten eingelegt werden kann11, die angefochtene Entscheidung auch daraufhin zu überprüfen ist, ob sie den Angeklagten belastende Rechtsfehler enthält. Anders als im Falle der Entscheidung RGSt 41, 349, bei der zugunsten des Angeklagten der Schuldspruch aufgehoben wurde und damit zwangsläufig auch die Rechtsfolgenentscheidung entfiel, wirkte § 343 aF (jetzt § 301) allerdings nur bezüglich der Rechtsfolgenentscheidung zugunsten des Angeklagten (Aufhebung des Strafausspruchs). Der Bundesgerichtshof hat an dieser Rechtsprechung des Reichsgerichts, wonach eine zu ungunsten des Angeklagten eingelegte Nebenklägerrevision gemäß § 301 auch hinsichtlich der Rechtsfolgenentscheidung des angefochtenen Urteils zugunsten des Angeklagten Wirkungen entfalten kann, festgehalten. In dem Urteil vom 16. 4. 1953 – 3 StR 920/5212 –, mit dem eine Einziehungsentscheidung zugunsten des Angeklagten aufgehoben wurde, finden sich dazu nur folgende Sätze: „ Nach der Vorschrift des § 301 StPO wirkt jedes von der StA eingelegte Rechtsmittel auch zugunsten des Angeklagten. Dasselbe gilt für das Rechtsmittel des Nebenklägers (RGSt 45, 328; 41, 349).“ Mit Urteil vom 18. 3 1981 – 2 StR 686/813 -beanstandete der BGH auf Revision der Nebenklage, dass die Strafzumessung Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten enthalte ( UA S. 8). Auf die Revision der Nebenklage hob der BGH mit Urteil vom 19. 3. 1986 – 2 StR 38/86 - entsprechend § 301 den Strafausspruch zugunsten des Angeklagten auf, während die Nebenklage, die eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags anstelle eines Waffendelikts erstrebte, als unbegründet verworfen wurde. In dem Verfahren 3 StR 377/8614 war die Revision der Nebenklage mit ihren Angriff gegen den Schuldspruch erfolgreich; der BGH stellte den Schuldspruch zum Nachteil des Angeklagten um15 und hob den Strafausspruch entsprechend § 301 aber auch wegen eines den Angeklagten belastenden Rechtsfehlers auf. Als letztes sei in diesem Zusammenhang der Beschluss 10

RGSt 45, 321, 326. KKStPO-Verf. § 400 Rn 1 mwNw; aA Heidemeier, Sinn und Zweck der Nebenklage, Diss. Passau 1985 S. 314. 12 NJW 1953, 1521. 13 StV 1981, 271 (nur LS). 14 Urteil vom 22. Oktober 1986 = BGHR StPO § 401 Abs. 3 Satz 1 Nebenklägerrevision 1. 15 Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung anstelle von einfacher Körperverletzung. 11

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vom 16. 2. 200116 erwähnt; hier ergab die revisionsrechtliche Überprüfung des von der Nebenklage angefochtenen Urteils, dass entgegen der Rechtsauffassung der Nebenklage den Angeklagten eine Beteiligung an einem Tötungsdelikt (anstelle von Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung) rechtsfehlerfrei nicht nachgewiesen werden konnte, dass aber der Strafausspruch belastende Rechtsfehler enthielt. Der 2. Strafsenat reduzierte deshalb in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 die vom Tatrichter verhängte Freiheitsstrafe. Die Auffassung, das Revisionsgericht sei von Amts wegen gehalten, bei zulässiger Revision der Nebenklage den Rechtsfolgenausspruch der angefochtenen Entscheidung darauf zu überprüfen, ob er den Angeklagten belastende Rechtsfehler enthält, soll im Folgenden einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Zunächst ist darauf hin zuweisen, dass im umgekehrten Fall, wenn also bei unbegründeter Revision der Nebenklage die Rechtsfolgenentscheidung des Urteils den Angeklagten begünstigende Rechtsfehler enthält, ein Einschreiten des Revisionsgerichts zugunsten des Nebenklägers nicht in Betracht kommt.17 Diese unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte findet formal betrachtet ihre Erklärung darin, dass die zuletzt beschriebene Fallkonstellation sich nicht unter § 301 subsumieren lässt, weil ein Einschreiten des Revisionsgerichts nicht zugunsten des Angeklagten wirken würde. Fraglich ist, ob nach der weitreichenden Neuregelung des Rechtes der Nebenklage mit der Einfügung des § 400 durch das Erste Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren18 es noch gerechtfertigt ist, § 301 auch bezüglich der Rechtsfolgenentscheidung bei ausschließlicher Revision der Nebenklage entsprechend anzuwenden, oder ob nach Einfügung von § 400 Abs. 1 die frühere Rechtsprechung insoweit gegenstandslos geworden ist. Seit Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes am 1. 4. 1987 sind die Rechte des Nebenklägers nach wirksamen Anschluss an die erhobene öffentliche Klage oder den Antrag im Sicherungsverfahren in den §§ 395 ff. abschließend geregelt; eine generelle Verweisung auf die Rechtsstellung des Privatklägers, wie sie seit den Entscheidungen RGSt 41, 349 und RGSt 45, 321

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2 StR 501/00. Vgl. BGH NStZ-RR 2003, 102 Nr. 23 (obiter dicta); BGH NStZ-RR 2009, 24; HKStPOKurth Rn 17; Meyer-Goßner Rn 7; KKStPO-Verf. Rn 1a, alle zu § 400; aA KKStPO-Kuckein § 352 Rn 10, der im Gegensatz zum Verf. annimmt, der BGH sei bei der von ihm kritisierten Mathematisierung der Strafzumessung von einem Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ausgegangen. Dieser Annahme steht der Schlusssatz der Entscheidung entgegen. Er lautet; „Der Senat kann jedoch ausschließen, dass sich die Vorgehensweise des Landgerichts zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat“. 18 Opferschutzgesetz vom 18. 12. 1986 (BGBl. I 2496). 17

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erfolgte,19 kennt das Gesetz nicht mehr, sondern nennt in mehreren Bestimmungen die Rechte der Nebenklage. Das sind im Wesentlichen die in § 397 Abs. 1 genannten Rechte und Befugnisse des Nebenklägers,20 das in § 400 Abs. 1 geregelte, im Verhältnis zum früheren Rechtszustand eingeschränkte Anfechtungsrecht des Nebenklägers gegen Urteile21 und das in § 401 Abs. 1 Satz 1 festgeschriebene Recht, dass sich der Nebenkläger der Rechtsmittel unabhängig von der Staatsanwaltschaft bedienen kann, allerdings nur in den Grenzen der Anfechtungsbefugnis des § 400 Abs. 1. Anders als der Privatkläger ist der Nebenkläger nicht mehr berechtigt, uneingeschränkt die Rechtsmittel einzulegen, die in dem Verfahren auf erhobene öffentliche Klage der Staatsanwaltschaft zustehen. Vielmehr wurde seine Rechtsmittelbefugnis in § 400 Abs. 1 unter anderem dahin eingeschränkt, dass er ein Urteil nicht (mehr) mit dem Ziel anfechten kann, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird; diese dem Privatkläger nach wie vor offene stehende Möglichkeit, den Rechtsfolgenausspruch eines Urteils auch mit dem Ziel einer höheren Bestrafung revisionsrechtlich anzufechten, wurde dem Nebenkläger durch die Neuregelung genommen. Ziel der Einfügung des § 400 Abs. 1 war es, die als unnötig weit empfundene Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers einzuschränken.22 Der Gesetzgeber ließ sich dabei von der Erwägung leiten, dass die Gleichstellung der Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers mit jener der Staatsanwaltschaft, die sich aus der Verweisung auf die Rechte des Privatklägers in § 397 Abs. 1 (alt) und aus der für diesen geltenden Regelung des § 390 Abs. 1 Satz 1 ergab – damit auch das Recht gewährte, Rechtsfolgenentscheidungen von Urteilen revisionsrechtlich anzugreifen, - im Hinblick auf die Stellung des Nebenklägers als eines bloßen Zusatzbeteiligten im Offizialverfahren nicht erforderlich sei.23 Die Materialien belegen, dass es sich bei § 400 Abs. 1 im Verhältnis zu der die Rechtsmittelbefugnis des Privatklägers regelnden Vorschrift des 19 Vgl. die in Fn 9 zitierte alte Gesetzesfassung, bis zum 31. 3. 1987 fand sich die Verweisung in § 397 Abs. 1. 20 Es sind: Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung, Recht auf Erscheinen in der Hauptverhandlung mit einem anwaltlichen Beistand sowie Recht, sich durch diesen vertreten zu lassen (entsprechend § 378 Abs. 1), Anspruch auf rechtliches Gehör entsprechend § 385 Abs. 1; Anspruch auf Beachtung der in § 385 Abs. 2 genannten Ladungsfristen, Recht auf Akteneinsicht über einen Anwalt entsprechend § 385 Abs. 3, das Recht zur Ablehnung von Richtern, Schöffen, Urkundsbeamten und Sachverständigen ( §§ 24, 31, 74), das Fragerecht (§ 240 Abs. 2), das Beanstandungsrecht nach § 238 Abs. 2, das Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3 bis 6) sowie das Erklärungsrecht nach §§ 257, 258. 21 Die Vorschrift lautet: „Der Nebenkläger kann das Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigt.“ 22 BGHSt 43, 15, 16. 23 RegE, BT-Drucks. 10/5305 S. 14,15.

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§ 390 um eine Spezialnorm handelt, so dass – zunächst rein formal betrachtet – die in § 390 Abs. 1 S. 3 für das Rechtsmittel des Privatklägers für entsprechend anwendbar erklärte Vorschrift des § 301 für Rechtsmittel des Nebenklägers nicht gilt. Eine alle Rechtsmittel der Nebenklage erfassende Verweisung auf § 301 findet sich in den §§ 395 ff. nicht. Zwar besagt § 401 Abs. 3 S. 1, dass bei alleiniger Berufung des Nebenklägers bei dessen Ausbleiben oder dem Ausbleiben des ihn vertretenden Rechtsanwalts die Berufung „unbeschadet der Vorschrift des § 301“ sofort zu verwerfen ist. Daraus die Schlussfolgerung herzuleiten, die Regelung des § 301 gelte auch im Verfahren über eine Revision des Nebenklägers24, erscheint schon deshalb verfehlt, weil der Gesetzgeber bei der weitreichenden Neugestaltung des Nebenklagerechtes durch das 1. Opferschutzgesetz keine Veranlassung sah, eine § 390 Abs. 1 S. 3 entsprechende Regelung – Verweisung auf § 301 als anzuwendende Vorschrift - auch für Rechtsmittel der Nebenklage in das Gesetz aufzunehmen. In den den beiden RG-Entscheidungen25 zugrundeliegenden Fällen erstrebten die Revisionen in Übereinstimmung mit dem damals geltenden Recht, wonach die Nebenklage auch die Rechtsfolgenentscheidung eines Urteils zum Nachteil des Angeklagten mit dem Rechtsmittel der Revision angreifen konnte, eine den Angeklagten nachteilige Entscheidung. Nach der damaligen Rechtslage26 war es daher zutreffend, dass das Reichsgericht auf zu ungunsten der Angeklagten eingelegte Revisionen zu Gunsten der Angeklagten entschied. Eine weitere Überlegung spricht dagegen, das Revisionsgericht gemäß § 301 zu verpflichten, nach Bewertung einer zulässigen Nebenklagerevision als unbegründet den Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils von Amts wegen daraufhin zu überprüfen, ob er den Angeklagten belastende Rechtsfehler aufweist. Ein zuungunsten des Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft – wie auch jenes des Privatklägers und, hält man § 301 grundsätzlich auch bei Rechtsmitteln der Nebenklage für zulässig, auch das der Nebenklage – kann nur in den Grenzen der nach § 327 (für den Bereich der Berufung) und nach § 352 (für den Bereich der Revision) zulässigen Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht zugunsten des Angeklagten wirken; ist die Anfechtung wirksam beschränkt und die angefochtene Entscheidung dadurch bereits in Teilen rechtskräftig, erstreckt sich die Wirkung des § 301 auch nur auf die angefochtenen und nicht auf die bereits rechtskräftigen Teile des Urteils27. Die Vorschrift des § 352 legt 24

So ohne nähere Begründung BGHR StPO § 401 Abs. 3 Satz 1 Nebenklägerrevision 1. RGSt 41, 349 und RGSt 45, 321. 26 Geltung des § 301 (§ 343 alt) über § 430 Abs. 1 alt und § 437 Abs. 1 alt auch für die Nebenklage (Gesetzestexte siehe Fn 7-9) 27 BGH Urt. vom 4. 12. 2001 – 1 StR 428/01; SKStPO-Frisch, Rn 4; AnwK-Rotsch/Gasa Rn 3; Meyer-Goßner Rn 1, alle zu § 301; LR-Hanack § 352 Rn 1. 25

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den Umfang der Urteilsprüfung durch das Revisionsgericht fest. Danach unterliegen seiner Prüfung nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind. Ist die Revision wirksam auf bestimmte Urteilsteile beschränkt, die rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können,28 unterliegen die in Teilrechtskraft erwachsenen anderen Urteilsteile nicht der Überprüfung durch das Revisionsgericht29. Wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision beispielsweise nur gegen die Entscheidung des Tatgerichts, die Vollstreckung einer erkannten Freiheitsstrafe von 2 Jahren gemäß § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen,30 erwachsen Schuld- und Strafausspruch des angefochtenen Urteils in Rechtskraft und unterliegen grundsätzlich nicht mehr der rechtlichen Überprüfung durch das Revisionsgericht; die Vorschrift des § 301 greift deshalb bezüglich der rechtskräftigen Teile der angefochtenen Entscheidung nicht ein. Ausgehend von dieser Rechtslage drängen sich unübersehbare Parallelen zu der hier besprochenen Fallgestaltung einer unbegründeten Revision der Nebenklage bei festgestellten Rechtsfehlern in der Rechtsfolgenentscheidung zum Nachteil des Angeklagten auf, die eine übereinstimmende rechtliche Bewertung nicht nur rechtfertigen, sondern erfordern. Hat nur der Nebenkläger das Urteil mit der Revision angefochten, ist die erkannte Rechtsfolge nach Ablauf der Frist zur Einlegung der Revision durch andere zur Anfechtung Berechtigte unanfechtbar geworden, weil § 400 Abs. 1 es dem Nebenkläger untersagt, das Urteil mit dem Ziel einer anderen Rechtsfolge anzufechten; zielt sein Rechtsmittel unter Missachtung dieser Beschränkung gleichwohl darauf, ist es unzulässig. Damit ist bezüglich der Rechtsfolgenentscheidung faktisch Teilrechtskraft eingetreten. Sie bewirkt wie im Beispielsfalle der auf die Bewährungsentscheidung beschränkten Revision der Staatsanwaltschaft, dass die Überprüfung des angefochtenen Urteils durch das Revisionsgericht mit der Feststellung der Unbegründetheit des Rechtsmittels der Nebenklage endet und § 301 keine Wirkungen mehr zugunsten des Angeklagten entfalten kann.

28 Zur Teilanfechtung eines Urteils im Revisionsverfahren vgl. näher KKStPO-Kuckein § 344 Rn 3 ff. und § 352 Rn 5 ff.; AnwK-Lohse § 344 Rn 4 ff., jeweils mit zahlr. RechtsprNw. 29 LR-Hanack Rn 1; KKStPO-Kuckein Rn 5 ff.; SKStPO-Wohlers Rn 3, alle zu § 352. 30 Diese Teilanfechtung ist grundsätzlich möglich, vgl. BGHSt 11, 395; 24, 164; 47, 32, 35; KKStPO-Kuckein § 344 Rn 12.

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II. Die Frage nach der Reichweite des in § 397 Abs. 1 normierten Beweisantragsrechtes der Nebenklage soll vor dem Hintergrund folgender fiktiver Fallgestaltung, die in der Praxis aber durchaus vorkommen kann, erörtert werden. In der Hauptverhandlung – dem Angeklagten wird ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung unter Einsatz eines Messers zur Last gelegt finden Verständigungsgespräche gemäß § 257c Abs. 1 statt. Nach deren Abschluss gibt der Vorsitzende gemäß § 257c Abs. 3 bekannt, dass die Strafkammer eine Freiheitsstrafe zwischen 14 und 18 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden könne, für den Fall, dass der - die Tat bisher bestreitende - Angeklagte ein umfassendes Geständnis ablege und dem Nebenkläger, dem Geschädigten, ein Schmerzensgeld in Höhe von eintausend Euro zahle, für angemessen halte. Während die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte den Vorschlag akzeptieren, tritt der anwaltliche Vertreter des Nebenklägers einer Verständigung auf dieser Basis entgegen und vertritt die Ansicht, die Tat erfordere eine Freiheitsstrafe, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Sodann gesteht der Angeklagte seine Täterschaft, entschuldigt sich beim Nebenkläger, erklärt, das Ganze tue ihm leid und erklärt seine Bereitschaft zur Zahlung des Schmerzensgeldes. Vor Schluss der Beweisaufnahme am folgenden Tag stellt der Nebenklägervertreter einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, der bekunden werde, dass der Angeklagte am Abend des gestrigen Tages in seiner Stammtischrunde erklärt habe, er denke nicht daran, dem Nebenkläger ein Schmerzensgeld zu zahlen. Ihm tue nur leid, dass der Nebenkläger durch den Messerstich, den er ihm versetzt habe, nicht „abgekratzt“ sei. Die Strafkammer unterlässt es, diesen Antrag durch Beschluss nach § 244 Abs. 6 zu bescheiden; der Vorsitzende erklärt dazu lediglich, „Stammtischgeschwätz“ interessiere die Kammer nicht, maßgeblich sei das, was der Angeklagte in der Hauptverhandlung gesagt habe. Und das glaube ihm die Kammer. Nach Beachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten wird das Urteil verkündet; es lautet auf 18 Monate Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Nebenkläger greift das Urteil mit dem Rechtsmittel der Revision an und erhebt eine Verfahrensrüge, mit der er Rechtsfehler bei der Behandlung seines Beweisantrages geltend macht. Soweit der fiktive Fall. Es liegt auf der Hand, dass die Revision der Nebenklage unzulässig ist. Der Beweisantrag zielte darauf, Tatsachen zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen, die ausschließlich die Rechtsfolgenentscheidung – nämlich die Strafhöhe und die in Aussicht gestellte Bewährungsentscheidung – zum Nachteil des Angeklagten beeinflussen sollten. Dieses Ziel verfolgt die Revision der Nebenklage nunmehr auch mit

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ihrer Verfahrensrüge, mit der sie im Ergebnis die Höhe der erkannten Strafe und die Bewährungsentscheidung nach § 56 Abs. 2 StGB angreift, was ihr nach § 400 Abs. 1 1. Variante untersagt ist. Die Nebenklage kann das Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass für die Tat eine andere Rechtsfolge verhängt wird; danach ist jede Anfechtung eines Urteils durch die Nebenklage, die im Erfolgsfalle den Schuldspruch unberührt ließe, sich also ausschließlich auf den Rechtsfolgenausspruch auswirken könnte, unzulässig.31 Ohne die Regelung des § 400 Abs. 1 1. Variante hätte der Verfahrensrüge möglicherweise ein Erfolg nicht versagt werden können, weil der Beweisantrag mit einer in § 244 Abs. 3 nicht vorgesehenen Begründung und ohne Beschlussentscheidung nach § 244 Abs. 6 abgelehnt wurde. Hätte der Tatrichter dem Antrag stattgegeben und hätte sich die Beweisbehauptung bestätigt, wäre möglicherweise eine wesentliche Voraussetzung für die einvernehmliche Verfahrensbeendigung entfallen, nämlich die Bereitschaft des Angeklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes; außerdem wäre seine bekundete Reue als taktisches Lippenbekenntnis entlarvt worden. Es ist nicht auszuschließen, dass in diesem Falle die verfahrensbeendende Absprache nicht zustande gekommen und eine Freiheitsstrafe verhängt worden wäre, deren Vollstreckung nicht mehr zur Bewährung hätte ausgesetzt werden können. Die sich aus § 400 Abs. 1 ergebende Rechtsfolge der Unzulässigkeit der Verfahrensrüge könnte die Frage aufwerfen, warum der Nebenklage nach dem Wortlaut des § 397 Abs. 1 in der Tatinstanz ein uneingeschränktes Beweisantragsrecht eingeräumt wird, also auch die Befugnis, Beweisanträge zu stellen, die – wie im Ausgangsfall – ausschließlich das Ziel verfolgen, die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, ihr von Gesetzes wegen aber andererseits untersagt ist, eine rechtsfehlerhafte, unter Umständen sogar rechtsmissbräuchliche Verletzung dieses Beweisantragsrechtes mit dem Rechtsmittel der Revision zu rügen. Bei näherer Betrachtung stellt sich diese Frage so aber nicht. Die Nebenklage ist kein selbständiges Verfahren; sie stattet den Nebenkläger nur mit Rechten aus, die er im Rahmen seiner Beteiligungsbefugnis unabhängig von der Staatsanwaltschaft wahrnehmen kann.32 Daraus folgt, dass die Nebenklage die Rechte, die ihr § 397 Abs. 1 gewährt, nur in Bezug auf die zum Anschluss an das Offizialverfahren berechtigenden Nebenklagedelikte, die in § 395 erschöpfend aufgezählt sind, ausüben kann;33 auf die Problematik, wie weit das Beweisantragsrecht reicht, wenn das zum An31

Riegner NStZ 1990, 11, 13; HKStPO-Kurth § 400 Rn 2. KKStPO-Verf. vor § 395 Rn 1. 33 LR-Hilger, Rn 8; SKStPO-Velten Rn 8; KMR-Stöckel Rn 6; HKStPO-Kurth Rn 11, 12, alle zu § 397. 32

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schluss an das Offizialverfahren legitimierende Nebenklagedelikt mit anderen Tatbeständen ideal-, oder realkonkurriert sowie in Gesetzeseinheit steht, soll hier nicht eingegangen werden.34 Die Erkenntnis, dass das dem Nebenkläger in § 397 Abs. 1 zugestandene Beweisantragsrecht auf den Bereich des zum Anschluss an das Offizialverfahren berechtigende Nebenklagedelikt35 begrenzt ist, ist für die Frage, ob der in der Hauptverhandlung gestellte Beweisantrag des Nebenklägers zulässig war, nicht hilfreich. Denn der Antrag bezog sich eindeutig nur auf das Nebenklagedelikt und auf die dafür zu verhängende Rechtsfolge. Zu der Frage, ob der Nebenkläger in Bezug auf das Nebenklagedelikt gemäß § 397 Abs. 1 befugt ist, Beweisanträge zu stellen, die ausschließlich das Ziel verfolgen, die Rechtsfolgenentscheidung zum Nachteil des Angeklagten zu beeinflussen, finden sich im Schrifttum nur 2 Stimmen, während die obergerichtliche Rechtsprechung mit der Problematik offenbar noch nicht befasst war. Nach Hilger36, der darin dem Verfasser37 folgt, sind Beweisanträge, die nur für gemäß § 400 Abs. 1 nicht anfechtbare Rechtsfolgen von Bedeutung sein können, unzulässig im Sinne von § 244 Abs. 3 1. Alternative. Im Spannungsverhältnis zwischen § 397 und § 400 Abs. 1 sprechen die Gesetzesmaterialien zum Opferschutzgesetz vom 18. 12. 198638 für die Auffassung, dass das in § 397 Abs. 1 verankerte förmliche Beweisantragsrecht des Nebenklägers sich nicht auf Tatsachen erstreckt, die nur für die Rechtsfolgenentscheidung Bedeutung erlangen können. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hebt in seiner Begründung zu der neu einzufügenden Vorschrift des § 400 hervor, dass der Nebenkläger in erster Linie ein legitimes Interesse daran habe, dass der Angeschuldigte wegen der Tat, aus der sich die Befugnis zum Anschluss ergibt, überhaupt verurteilt werde. Deshalb räume ihm der neue § 400 die Rechtsmittelbefugnis ein, wenn das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehne, den Angeklagten freispreche oder das Verfahren gegen ihn wegen eines Verfahrenshindernisses oder wegen nachträglicher Gesetzesänderung einstelle. Dagegen sei ein legitimes Interesse des Verletzten an der Höhe der den Angeklagten treffenden Strafe regelmäßig zu verneinen. Wenn in solchen Fällen sich sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft mit dem Urteil zufrieden gäben, bestehe kein dringendes Bedürfnis, dem Nebenkläger die Möglichkeit zu eröffnen, allein ein Rechtsmittel einzulegen.39 Diese gesetzgeberi34 Vgl. dazu SKStPO-Velten Rn 3; HKStPO-Kurth Rn 12; KMR-Stöckel Rn 6,7, alle zu § 397. 35 LR-Hilger § 397 Rn 8: „und der dahinter stehenden prozessualen Tat“. 36 LR 26. Aufl. § 397 Rn 8. 37 KKStPO § 397 Rn 6. 38 BGBl. I 2496. 39 BT-Drucks. 10/5305 S. 15.

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schen Erwägungen, denen die Erkenntnis zugrunde liegt, dass die Nebenklage, entgegen früherer Auffassung ihrem Wesen nach nicht mehr auf die Bestrafung des Täters abzielt,40 sondern auf die Schuldfeststellung41, beanspruchen auch für die Auslegung von § 397 Geltung. Ist ein legitimes Interesse des Nebenklägers an der Höhe der den Angeklagten treffenden Strafe bei der Frage nach der Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers regelmäßig zu verneinen42, ist das gleichermaßen der Fall bei der Frage, ob der Nebenkläger in der Tatinstanz Beweisanträge mit dem alleinigen Ziel der Verschärfung der Rechtsfolge für den Angeklagten stellen kann. Denn die dem Nebenkläger in § 397 Abs. 1 Satz 2 eingeräumte Befugnisse sollen ihn in die Lage versetzen, seine Interpretation des Tatgeschehens zu artikulieren und Verantwortungszuweisungen durch den Angeklagten entgegenzutreten;43 zur Sicherung dieser Ziele ist es nicht erforderlich, ihm die Befugnis einzuräumen, Beweisanträge zur Rechtsfolgenentscheidung stellen zu dürfen. Aus allem folgt, dass Anträge des Nebenklägers, die ausschließlich darauf zielen, die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung zu beeinflussen, unzulässige Beweisanträge iSv. § 244 Abs. 3 sind. Das besagt aber nicht, dass es dem Nebenkläger in der tatrichterlichen Hauptverhandlung verwehrt wäre, auch zu Fragen, die die zu erwartende Rechtsfolge betreffen, Stellung zu nehmen, insoweit dem Gericht Anregungen zu geben, die unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 zu würdigen sein werden, oder in seinem Schlussantrag sich zu den von der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung beantragten Rechtsfolgen zu äußern. Insoweit hat er uneingeschränkten Anspruch auf rechtliches Gehör. Die praktische – und prozessökonomische - Bedeutung der hier aufgeworfenen Frage nach der Reichweite des in § 397 Abs. 1 festgeschriebenen Beweisantragsrechtes der Nebenklage darf nicht unterschätzt werden. Man denke nur an den Fall, dass eine Strafsache Unglücksfälle mit zahlreichen Verletzten, gar Toten zum Gegenstand hat,44 und viele Angehörige der tödlich Verletzten oder viele Verletzte selbst als Nebenkläger auftreten. Die Vorstellung, dass jeder von ihnen berechtigt wäre, Beweisanträge auch zur Rechtsfolgenentscheidung zu stellen und damit das eine Beweiserhebung ablehnende Tatgericht zwänge, das in § 244 Abs. 3 bis 6 vorgeschriebene, unter Umständen zeitaufwändige Verfahren einzuhalten, lässt besorgen, dass die Strafjustiz damit im Einzelfall nicht nur an ihre Grenzen käme, sondern ihre Aufgabe der Rechtsgewährung nicht mehr erfüllen könnte. 40

BGHSt 47, 202, 204. Im Falle des Sicherungsverfahrens nach §§ 413 ff. auf Feststellung des objektiven Tatbestandes eines nebenklagefähigen Delikts. 42 So auch mit überzeugender Begründung LR-Hilger § 400 Rn 3. 43 BT-Drucks. 10/5305 S. 13. 44 Flugzeugabstürze, Bahn- oder Busunfälle, Einstürze von Sporthallen usw. 41

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Ob die einschränkende Auslegung des § 397 Abs. 1, wie sie hier bezüglich des Beweisantragsrechtes des Nebenklägers für sachgerecht gehalten wird, durch eine höchstrichterliche Entscheidung erfolgen könnte, erscheint angesichts des Wortlautes der Norm, wonach dem Nebenkläger das Beweisantragsrecht bezüglich des Nebenklagedelikts uneingeschränkt zugestanden wird, zweifelhaft. Deshalb wäre eine entsprechende Klarstellung im Gesetzestext wünschenswert, aus der hervorginge, dass sich das dem Nebenkläger zustehende Beweisantragsrecht aus § 397 Abs. 1 nur auf Tatsachen erstreckt, die für den Schuldspruch oder –im Sicherungsverfahren nach § 413 ff. – für die Feststellung des objektiven Tatbestandes des Nebenklagedelikts von Bedeutung sein können.

Strafbare Teilnahme an einer Untreue nach § 266 StGB bei gegenläufigen Interessen? SVEN THOMAS

I. Interessenwahrnehmung im Alltag Der 2. Strafsenat des BGH hat - unter dem Vorsitz von Ruth Rissing-van Saan - die Rechtsprechung zu § 266 StGB in einer Reihe von Entscheidungen nachhaltig beeinflusst und Anlass zu engagierten Diskussionen im Schrifttum geliefert.1 Ein in der Praxis virulentes Problem - insbesondere in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren - fristet hingegen sowohl in der Judikatur als auch im Schrifttum ein Schattendasein. Kommt eine Teilnahme an einem Delikt nach § 266 StGB in Betracht, obgleich der Extraneus lediglich seine eigenen Interessen oder die seines Treugebers vertritt? Vier Sachverhaltskonstellationen - der Praxis entlehnt - zur näheren Umgrenzung der Materie: 1. Ein Vorstandsmitglied einer AG fordert und verhandelt mit Ablauf seines Vertrages eine gravierende Erhöhung seiner Bezüge, obwohl die Gesellschaft im abgelaufenen Geschäftsjahr einen hohen Verlust erlitten hat, Rücklagen in Anspruch genommen wurden und eine Zahlung von Dividenden an die Aktionäre in den nächsten Jahren nicht in Betracht kommt. Das Präsidium des Aufsichtsrats gewährt die Steigerung der Vergütung, da es fürchtet, dass das Vorstandsmitglied anderenfalls zu einem Wettbewerber wechselt. Das Vorstandsmitglied ist sich keineswegs sicher, dass es die angestrebte Vergütung bei einem neuen Unternehmen erhalten würde. Das Präsidium wiederum geht davon aus, dass alternative qualifizierte Kandidaten - zu niedrigeren Konditionen - verfügbar wären, scheut aber die aufwändige Suche. Auch dies bezieht das Vorstandsmitglied in sein Kalkül ein. 2. Einem Rechtsanwalt gelingt es für seinen Mandanten, mit dem Finanzamt im Rahmen einer „Tatsächlichen Verständigung“ einen steuerlichen Vergleich zu erzielen, der im Rahmen einer streitigen Auseinandersetzung 1

BGHSt 51, 100 (Kanther); BGHSt 52, 323 (Siemens); zur Rechtsprechung des Senats zu § 266 StGB vgl. Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8; zur durchaus variantenreichen Kritik an der letzteren Entscheidung vgl. die Nachweise bei Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 266 Rn 45 b und c.

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vor dem Finanzgericht nicht erreichbar gewesen wäre. Die Finanzverwaltung - weil mit einer Vielzahl von Selbstanzeigen im Zusammenhang mit dem Erwerb der Datei einer Schweizer Bank überlastet - geht auf diese Vereinbarung ein. Der Rechtsanwalt weiß um diese Situation und nutzt sie aus. 3. Ein Architekt verhandelt im Auftrag des Käufers und Bauherrn mit der Verkäuferin eines Grundstücks - einer Kommune - über eine nachträgliche Kaufpreisreduzierung, da sich erhebliche Mängel des Grundstücks im Zuge der Planung herausgestellt haben. Diese führen zu einer gravierenden Erhöhung der Baukosten. Ob die vertraglichen Bestimmungen eine Grundlage für eine Kaufpreisminderung darstellen, ist überaus fraglich. Ihm gelingt es, eine vergleichsweise Regelung zugunsten des Bauherrn zu erreichen. 4. Der Berater eines umworbenen Bundesliga-Fußballspielers verlangt bei einem Transfer seines Klienten zu einem neuen Verein für diesen ein jährliches Millionengehalt. Er hat den Medien entnommen, dass es um die finanzielle Lage des Vereins schlecht bestellt ist. Er erzielt die seinen Vorstellungen entsprechende außergewöhnlich hohe Honorierung für den Spieler und erhält selbst - den Usancen der Branche entsprechend - eine hohe Provision von dem neuen Verein.

II. Dogmatik Ein Blick in die Kommentarliteratur führt hinsichtlich der Frage einer Teilnahme an Untreuehandlungen zunächst zu dem Ergebnis, dass nicht vermögensbetreuungspflichtige Personen nur Teilnehmer sein können und für sie die allgemeinen Regeln gelten sollen.2 Die Problematik der - wie die obigen Fälle aufzeigen - offenkundigen Interessenkollision bei der Wahrnehmung eigener - Fall 1 - oder fremder - Fälle 2, 3 und 4 - Interessen findet keine besondere Behandlung. Einzig Schünemann - weniger stark von den knappen Ressourcen eines Handkommentars betroffen - schlägt im Leipziger Kommentar eine mehrfach limitierte Handhabung vor: Der externe Nutznießer der Untreue sei nicht immer (strafloser) notwendiger Teilnehmer, sondern nach den allgemeinen Regeln strafbar. So liege Anstiftung zur Untreue vor, wenn „jemand einen GmbH-Geschäftsführer oder -Prokuristen dadurch zum Abschluss eines für sich selbst vorteilhaften, für die GmbH nachteiligen Vertrages 2

Saliger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), StGB, 2009, § 266 Rn 107; Schünemann; in: Leipziger Kommentar, 11. Aufl. 2005, § 266 Rn 163, der auf BGH NJW 1984, 2539, 2540 verweist: Den von ihm später erläuterten Fall des Zusammenwirkens zwischen Kreditnehmer und Bankvertreter bei Scheckmanipulationen.

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bewegt, dass er ihm einen ‚Kick-back‘ (also eine nachträglich aus dem Erlös zu bezahlende Bestechungssumme) verspricht, oder Beihilfe zur Untreue, wenn ein Kreditnehmer die pflichtwidrige Vergabe ungesicherter Kredite dadurch unterstützt, dass er mit den Bankenvertretern bei Scheckmanipulationen zur Verschleierung der Kredithöhe zusammenarbeitet“.3 Auch die bloße Ausnutzung der Bereitschaft eines anderen zur Untreue genüge nicht zur Annahme einer strafbaren Beihilfe. Schließlich scheide „eine Teilnahme nach den Grundsätzen der Beihilfe durch neutrales Handeln aus, wenn jemand nur bei Vertragsverhandlungen mit dem Vertreter eines anderen seinen Vorteil sucht, solange es nicht zu einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Kollusion mit den Treupflichtigen kommt“.4 Die gleiche Argumentation findet sich bei Kindhäuser, der im NomosKommentar ebenfalls eine Verbindung zum berufstypischen Verhalten herstellt: „Sofern der Vertragspartner nicht kollusiv mit dem Täter zusammenwirkt, sondern nur dessen Untreuebereitschaft ausnutzt (Gropp [1992], 325), insbesondere ein von seiner Seite aus übliches Geschäft vornimmt, tritt das Problem einer Teilnahme durch sozialadäquates (berufstypisches) Handeln auf“.5 Sowohl Schünemann als auch Kindhäuser nehmen hinsichtlich des straffreien „Ausnutzens“ Bezug auf die Monographie von Gropp, der auf der Grundlage seiner Lehre von den zur Straflosigkeit führenden unterschiedlichen Deliktstypen die „Delikte mit peripherer Sonderbeteiligung“ anführt und hieraus das mangelnde Strafbedürfnis ableitet. Bei diesen Delikten hat die Nichtvertypung der prinzipiell vorfindbaren Mitwirkung die Straffreiheit des Teilnehmers zur Folge, „wenn das tatbestandstypische Unrecht der Haupttat auf einer (zumindest potentiellen) Multiplikatorwirkung beruht, an welcher der Sonderbeteiligte nicht teilnimmt“.6 Hieraus lässt sich zwanglos die Eliminierung des „Ausnutzens“ der (Untreue-) Bereitschaft des Vermögensbetreuungspflichtigen herleiten.7 3

Schünemann (Fn 2), Rn 163. Schünemann (Fn 2), Rn 163, der auf risikoreiche Spekulationsgeschäfte - die Gewinner und Verlierer aufweisen - im Fall Klöckner (LG Duisburg v. 06.05.1991 - XVII KLs 28 Js 108/88) Bezug nimmt. 5 Kindhäuser, in: Nomos Kommentar, 3. Aufl. 2010, § 266 Rn 127. 6 Gropp, Deliktstypen mit Sonderbeteiligung. Untersuchung zur Lehre von der „notwendigen Teilnahme“, 1992, S. 206; eingehende Behandlung und Kritik bei Sowada, GA 1995, 65 ff. 7 Gropp (Fn 6), S. 325, der die Entscheidung des RG vom 10.10.1922, V 490/22, Leipziger Zeitschrift 1923, Sp. 138 analysiert und für die unzulässig verbilligte Abgabe von Waren durch eine Verkäuferin (G.) an eine Dritte (B.) in Anwendung seiner Theorie von der peripheren Sonderbeteiligung ausführt: „Danach bliebe im Beispielsfall die B. nur dann straffrei, wenn sie die u. U. konkludent erklärte Bereitschaft der G. ausgenutzt hätte. Jede weitere Beeinflussung der G., auch das Schaffen günstiger Umstände in deren Handlungsbereich, wäre strafbare Teilnahme“. 4

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In der Kommentierung von Fischer ist bei der Beihilfe zur Untreue bis zur 52. Auflage folgende Position vermerkt: „Die Teilnahme externer Nutznießer der Untreuehandlung beurteilt sich nach allgemeinen Regeln (...); daher liegt eine strafbare Beihilfe nicht vor, wenn ein außenstehender Dritter in geschäftlichen Verhandlungen seinen Vorteil sucht und die Pflichtverletzung des Täters erkennt, ohne mit diesem kollusiv zusammenzuwirken“.8 Ab der 53. Auflage fehlt diese Einschränkung.9 Es bleibt offen, ob es sich hier um eine Meinungsänderung oder eine schlichte Kürzung aus Platzgründen handelt.

III. Profitgier und Gesellschaft Dass das Streben nach Profit zu den Grundzügen wirtschaftlichen Handelns gehört, ist jedermann bekannt. Nach der immer noch gültigen Doktrin des Altmeisters Adam Smith soll das Gewinnstreben des Einzelnen das ökonomische Wohl der Gesamtheit befördern, wozu es des unbeeinträchtigten Wettbewerbs und - wie man heute weiß - der Regulierung nicht funktionstüchtiger Märkte bedarf.10 Innerhalb dieser Grenzen darf die Gewinnspanne hoch sein, es gilt das Prinzip von Angebot und Nachfrage als preisbildende Faktoren; die spezifischen Präferenzen eines Produkts oder einer Dienstleistung können Mittel zur Erwirtschaftung enormer Erträge sein. Kurz: Das ungebremste Interesse am eigenen Erfolg wird in der Ökonomie nicht nur geduldet, sondern als agens der wirtschaftlichen Entwicklung honoriert. Das Wohl des Vertragspartners hat der Verkäufer eines Produkts oder der Erbringer einer Dienstleistung nur insoweit im Auge, als er sich dauerhaft in einem Markt bewegen und sich seiner Vergütung sicher sein will. Das Gewinnstreben ohne Rücksicht auf die Interessen der anderen Seite ist alt: Höffe zitiert Aristoteles mit der Geschichte des Philosophen Thales von Milet, der „dank astronomischer Kenntnisse eine reiche Olivenernte voraussah, im Winter zuvor alle Ölpressen von Milet und der Insel Chios gemietet, bei der Ernte die Ölpressen teuer vermietet und damit einen satten Gewinn erzielt (habe)“.11 Der Sprung aus der Antike in die Reforma-

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Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 52. Aufl., 2004, Rn 80. Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 53. Aufl., 2006, Rn 80. 10 Soweit Otto, in: FS Krey, 2010, S. 385 ff. auf die vier kontrollierenden Schranken des Gewinnstrebens im Werk von Adam Smith verweist und die Etablierung ethischer Grundsätze in der Ökonomie fordert, ändert dies nichts am Prinzip der Gewinnmaximierung als zentralem Motor der Wirtschaft. 11 Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, 2009, S. 32. Den Effekt für die Olivenbauern kann man sich ausmalen: Sie dürften 9

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tionszeit ist seit der unübertroffenen Studie von Max Weber über den Zusammenhang von Seelenheil und Profitstreben mit einer weiteren Bestätigung dieser Erkenntnis verbunden: Bei seiner Analyse des englischen Puritanismus verweist Weber auf das „Christian Directory“ von Richard Baxter und bezeichnet als praktisch wichtigsten Punkt der religiösen Vorstellungen mit Blick auf die puritanische Berufsidee die „privatwirtschaftliche Profitlichkeit“: „Denn wenn jener Gott, den der Puritaner in allen Fügungen des Lebens wirksam sieht, einem der Seinigen eine Gewinnchance zeigt, so hat er seine Absichten dabei: Und mithin hat der gläubige Christ diesem Ruf zu folgen, indem er sie sich zunutze macht“.12 Auch wenn die Gewinnmaximierung heute keiner religiösen Fundierung mehr bedarf, ist sie integraler Bestandteil des Wirtschaftslebens. Dies steht allerdings in einem scharfen Kontrast zu den ansonsten gültigen Regularien einer jeden Gemeinschaft. Während der Kampf „aller gegen alle“ dem Vertragskonstrukteur Hobbes als Grundlage für die Notwendigkeit der Übertragung von Herrschaftskompetenz diente und der letzte Protagonist der Theorie des Gesellschaftsvertrags, Rawls, diesen Zustand durch den „Schleier des Nichtwissens“ eliminieren will,13 ist der Egoismus im Wirtschaftsleben geradezu die Prämisse für das ökonomische Gesamtwohl. Der Zwang zur Unterwerfung unter Regeln der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen - und damit die Hintansetzung eigener Interessen ist selbstverständliche Voraussetzung eines geordneten Gemeinwesens. Für die Ökonomie ist dieses Prinzip in seinem Kernbereich bewusst außer Kraft gesetzt. Dies geht so weit, dass bei kollektiven Delirien wie dem „run“ auf Aktien des Neuen Marktes um die Jahrtausendwende weniger die Frage nach dem Geisteszustand der Aktienkäufer gestellt wurde14, sondern die trotz reicher Ernte nur einen geringen Ertrag erwirtschaftet haben, so dass das Gemeinwohl auf der Strecke blieb. 12 Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 2. Aufl. 2006, S. 187. Der Widerspruch zwischen hehren Postulaten der Menschenrechte und dem Primat der Profitlichkeit offenbart sich in einem der bekanntesten Sätze der englischen Sprache: In der „United States Declaration of Independence“ vom 04.07.1776 heißt es: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, ...“. Dies hinderte die Verfasser, u. a. die puritanischen Nachkommen in Massachusetts und die Quäker in Pennsylvania, nicht am hoch ertragreichen Sklavenhandel, was den englischen Abolitionisten Thomas Day in 1776 nach der Publikation der Unabhängigkeitserklärung zu folgender Feststellung brachte: „If there be an object truly ridiculous in nature, it is an American patriot, signing resolutions of independency with the one hand, and with the other brandishing a whip over his affrighted slaves“ (Maier, American Scipture, S. 146; zitiert nach Wikipedia). 13 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 5. Aufl., 1990, passim. 14 Sloterdijk, Sphären III, 2004, S. 800, der auf die holländische Tulpenspekulation der Jahre 1636 und 1637 hinweist: „Die Liebe zu jener so königlichen wie populären Blume verband sich mit einer geldsüchtigen Raserei – die Börsenspekulation erreichte in dieser Manie ihren ersten Höhepunkt und zerplatzte (wie die New-Economy-Blase) nach zwei fiebrigen Jahren“.

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Richtigkeit der Informationen der Gesellschafter an den Kapitalmarkt einer strafrechtlichen Sanktionierung auch durch den BGH unterlag.15 Die diese irreale Kursexplosion über lange Zeit treibende Kraft war die Profitgier der Anleger - eine Wirkmacht, die bei der Vielzahl von Kapitalanlage-Verfahren weiterhin uneingeschränkten Schutz erfährt, obwohl jedem einigermaßen vernunftbegabten Investor klar sein muss, dass absurde Renditeversprechungen keine tragfähige Basis aufweisen und die Hochglanz-Prospekte in den Papierkorb gehören.16 Es herrscht also Konsens: Die Rechts- und Wirtschaftsordnung akzeptiert und sichert das Gewinnstreben. Der Vertragspartner wird durch § 263 StGB nur dann geschützt, wenn er durch unwahre und für das Geschäft kausale Behauptungen unbewusst zu einem nachteiligen Abschluss geleitet wird. Die Vorschrift des Wuchers (§ 291 StGB) beschränkt sich nicht nur auf die Extremsituation des „auffälligen Missverhältnisses“ zwischen der Leistung des Täters und der Gegenleistung des Opfers, sondern verlangt überdies die „Ausbeutung“ einer spezifischen Schwächesituation des Gegenübers, dessen Defizite einen hohen Grad aufweisen müssen (Zwangslage, Unerfahrenheit, Mangel an Urteilsvermögen, erhebliche Willensschwäche). Von einer Regulierung des Gewinnstrebens durch strafrechtliche Mittel kann also nicht ernsthaft die Rede sein, allenfalls soll ein evident anstößiges Verhalten gegenüber einem offenkundig nicht wettbewerbsfähigen Kontrahenten pönalisiert werden.17 Welche Probleme die Billigung des Gewinnstrebens als Motor der Wirtschaft aufweist, zeigen die Probleme der Rechtsprechung bei ihrer Konfrontation mit dem Mordmerkmal „Habgier“: In der Judikatur des BGH finden sich Distinktionen, die mühsam den Unterschied zwischen „Vorteilsstreben“, „Erwerbssinn“ und „Gewinnsucht“ einerseits und dem die „Habgier“ auszeichnenden „abstoßenden Gewinnstreben um jeden Preis“,18 das sich als „ungesund“,19 „übertrieben“,20 „gesteigert“21 15 BGHSt 49, 381 (EM-TV). Vor dem Hintergrund der in dieser Zeit durch wirtschaftliche Daten niemals gerechtfertigten Börsenkapitalisierung nahezu aller Gesellschaften im NEMAX wirkt der mehrfache Hinweis des Senats auf das Schutzbedürfnis des potenziellen Anlegers mit Blick auf publizierte Zahlen der Geschäftstätigkeit spiegelbildlich lebensfremd. 16 Dabei geht es nicht um das Schutzbedürfnis des Leichtgläubigen (BGHSt 34, 199, 201), sondern um den Schutz des Gierigen. 17 Bernsmann, in: Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2007, V 3 Rn 6 verweist - immer noch zu Recht - auf den bekannten Vergleich zwischen der Verurteilungswahrscheinlichkeit nach § 291 StGB und der Gefahr des Blitzeinschlags auf der Promenade. Man kann auch das Fazit ziehen, dass das „auffällige Mißverhältnis“ als solches vom Strafrecht nicht beanstandet wird und allein durch die Marktmechanismen vermieden werden soll. 18 BGHSt 10, 399; BGHSt 29, 317, 318. 19 BGHSt 19, 317 (318). 20 BGHSt 10, 399; BGHSt 29, 317, 318.

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oder „sittlich verwerflich“22 darstellt, sprachlich fassen wollen: Einer solchen „moralischen Aufladung“23 - wie sie sich in der Standardformel der Habgier als ein „noch über die Gewinnsucht hinaus gesteigertes abstoßendes Gewinnstreben um jeden Preis“ offenbart24 - bedurfte es nur deshalb, weil die nicht den Tod eines Menschen funktionalisierende Gewinnsucht gesellschaftliche Anerkennung findet.25 Dieser Erkenntnis kann sich das Strafrecht - was die Frage einer Strafbarkeit wegen Anstiftung oder Beihilfe zu einer Untreue nach § 266 StGB in der Person eines Vertrags- oder Verhandlungspartners betrifft - nicht entziehen. Die dogmatischen Wege sind dabei weder entscheidend noch müssen sie aus einem vorfindbaren Kanon abgeleitet werden. Tragende Grundsätze der Wirtschaftsverfassung sind - auch wenn man sie nur zögerlich in einem unverhüllten Zustand präsentieren und wahrnehmen mag - auch für das Strafrecht bestimmend.

IV. Kollisionen Im Fall 1 handelt unser Vorstandsmitglied nach den Regeln des Wettbewerbs, er befindet sich - hinsichtlich seiner Arbeitskraft - auf der Angebotsseite und kann in Ausschöpfung seiner Optionen den Versuch unternehmen, im Markt einen Nachfrager ausfindig machen, der seinen Honorarvorstellungen entspricht. Dass er zunächst - bei auslaufendem Vertrag - seinem Arbeitgeber seine Dienste zu erhöhten Bezügen anbietet, entspricht der Vertragsfreiheit. Die Mitglieder des Präsidiums kennen - wie ihr Verhandlungspartner - die Lage des Unternehmens und haben ihre Entscheidung - die nicht zur Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats gehört26 - an der Business Judgement Rule der §§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 AktG auszurichten. Diese bestimmt, dass bei einer solchen unternehmerischen Entscheidung eine Pflichtverletzung nicht vorliegt, wenn die Mitglieder des Gremiums (Vorstand oder Aufsichtsrat) vernünftigerweise annehmen dürfen, auf der 21

BGH NJW 1995, 2365, 2366; BGH NJW 2001, 763. BGHSt 19, 317, 318. 23 Arzt/Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, 2001, § 2 Rn 59. 24 Fischer, Strafgesetzbuch, 57. Aufl. 2010, § 211, Rn 10. 25 Küper, in: GS-Meurer, 2002, S. 190, sieht den Unrechtsgehalt der Tötung aus Habgier zutreffend in dem Missverhältnis von Zweck und Mittel. 26 Die Personalkompetenz des Aufsichtsrats bei der Bestellung von Vorstandsmitgliedern und der Vergütungsregelung (§§ 84, 87 AktG) ist dem Bereich der unternehmerischen Entscheidung des Aufsichtsrats zuzurechnen, vgl. hierzu Spindler, in: Münchener Kommentar, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2008, § 84 Rn 14; Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2010, § 84 Rn 8 ff. 22

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Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Das Handeln hat dabei frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen zu sein.27 Der Verzicht auf die Suche nach qualifizierten sonstigen Kandidaten - bei niedriger Vergütung - stellt sich entweder als ein Unterlassen (Handeln beim Kontrakt mit dem alten Vorstand) aus sachfremden Gründen - Bequemlichkeit ist kein sachgerechtes Motiv - oder aber als eine Entscheidung ohne angemessene Informationseinholung dar - jedenfalls liegt eine objektive Pflichtwidrigkeit mit einem entsprechenden Vermögensschaden (höhere Vergütung) in der Person der Mitglieder des Präsidiums nahe. Als Täter kommt das Vorstandsmitglied nicht in Betracht, weil es ungeachtet seiner allgemeinen Vermögensbetreuungspflicht am „funktionalen Zusammenhang“ mangelt: Auch prinzipiell vermögensbetreuungspflichtige Personen - wie der Vorstand der Aktiengesellschaft - sind dann von ihren Pflichten entbunden, wenn es um die Wahrnehmung eigener Interessen geht.28 Allerdings soll die Beihilfe hier nach allgemeinen Regeln möglich sein, d. h. es käme - folgt man der Rechtsprechung - eine Anstiftung oder Beihilfe dann in Betracht, wenn das Vorstandsmitglied alle Umstände kannte, die die objektive Pflichtwidrigkeit bei den Präsidiumsmitgliedern begründen. In der Mannesmann-Entscheidung hat der BGH eine fehlende Tatbestandsmäßigkeit mit Blick auf das Vorstandsmitglied wegen einer Beihilfe (für eine Anstiftung lieferten die Feststellungen keinen Anhaltspunkt) unter dem Aspekt einer notwendigen Teilnahme (Schünemann) oder einer schlichten Ausnutzung (Kindhäuser) nicht expressis verbis geprüft. Die Hinweise des Senats auf die dem Vorstand angelastete „Vorbereitung der Präsidiumsbeschlüsse und deren Umsetzung“ als Hilfeleistung stünden nach dem Verständnis der Rechtsprechung zur notwendigen Teilnahme bei dem ähnlichen Fall der Gläubigerbegünstigung des § 283 c StGB auch einem Tatbestandsausschluss entgegen, da dort jede über die passive Entgegennahme der (inkongruenten) Sicherung oder Befriedigung hinausgehende Aktivität als Beihilfe oder Anstiftung gewertet wird.29 27

Spindler (Fn 26), § 93 Rn 54 mwN. Ständige Rechtsprechung BGH NJW 1988, 2483; BGH NJW 1991, 1069; BGH NStZ 1986, 361; BGH NStZ 1994, 35; BGHR § 266 I, Vermögensbetreuungspflicht 9, vgl. ferner die ausführliche Darstellung bei Perron (Fn 1) Rn 23. In der Mannesmann-Entscheidung (BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, Tz 80) wird darauf hingewiesen, dass die Kompetenz des Aufsichtsrats für die Vergütung des Vorstands der Tatsache Rechnung trägt, „dass bei der Regelung der Vorstandsbezüge die Vermögensinteressen von Gesellschaft und Vorstandsmitglied nicht gleichgerichtet sind, sondern - auch soweit nicht die eigenen, sondern die Bezüge anderer Vorstandsmitglieder betroffen sind - typischerweise in die entgegengesetzte Richtung gehen“. 29 Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts vgl. RGSt 61, 314, 315 f.: Es könne nicht die „Absicht des Gesetzgebers gewesen sein ..., den Gläubiger zu bestrafen, der sich auf die not28

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Bei einer solchen Restriktion der notwendigen Teilnahme ist bereits die Mitteilung der Kontonummer für die Überweisung des Gehalts einer Bewertung als Mitwirkungshandlung zugänglich, so dass unser Thema - das aktive Verlangen nach einer höheren Vergütung aus eigenem Interesse über diese dogmatische Figur keiner Förderung zugeführt werden kann. Das sowohl von Schünemann als auch von Kindhäuser angeführte straflose „Ausnutzen“ der Bereitschaft des Untreuetäters hätte im MannesmannFall durchaus als limitierende Auslegung Raum greifen können, erfuhr aber keine Erörterung durch den BGH. Beide Autoren tragen mit der Installation dieses Kriteriums auch der hier in den einleitenden Fällen skizzierten Interessenkollision Rechnung. Allerdings ist die bei Kindhäuser gezogene Verbindung zum sozialadäquaten (berufstypischen) Handeln nicht geeignet, die Notwendigkeit einer Restriktion zu legitimieren, wie die Abwehr dieses Arguments durch den BGH belegt: Die vom Senat in der MannesmannEntscheidung ausführlich erörterte „straflose Hilfeleistung durch berufstypische neutrale Handlungen“ konnte deshalb der Ablehnung durch den BGH verfallen, weil diese Rechtsfigur darauf abstellt, „dass äußerlich neutrale berufsübliche Verhaltensweisen von Dritten zur Begehung einer Straftat ausgenutzt werden können.“30 So zitiert der Senat in diesem Kontext die bekannte Formel der Solidarisierung mit dem Täter und den damit einhergehenden Verlust des „Alltagscharakters“ der Handlung.31 Bei der Geltendmachung eigener geldwerter Ansprüche (besser: Vorstellungen) kann indes von einem Ausnutzen des potenziellen Gehilfen durch den Täter (wie im Fall des Bankangestellten, der sich zum anonymisierten Geldtransfer bereiterklärt) nicht die Rede sein. Jene Fälle, in denen die „berufsübliche Verhaltensweise“ ins Feld geführt wurde, hatten allemal ein Zusammenwirken mit einem Haupttäter und einem (potenziellen) Gehilfen, der dem Ersteren im Rahmen seiner Berufsausübung beistand, zum Inhalt, nicht aber die Konstellation gegenläufiger Interessen.32 wendige Teilnahme an seiner Begünstigung, nämlich auf die bloße Annahme der ihm vom Schuldner freiwillig angebotenen Sicherung oder Befriedigung beschränke (...)“. Sowie: „Demgegenüber hat jedoch das Reichsgericht- abgesehen von den lediglich den Schutz des notwendigen Teilnehmers bezweckenden Delikten (...) - stets den Standpunkt vertreten, daß dessen Straflosigkeit nicht weiter reiche als die Notwendigkeit seiner Teilnahme.“ Der BGH hat in BGH NJW 1993, 1278, 1279 diese Linie fortgesetzt: „Denn der Vorwurf strafbaren Verhaltens des Gläubigers liegt bei zutreffender Rechtsanwendung in einem über der bloßen Entgegennahme der Sicherung liegenden Mehr an Mitwirkung“. Zum Standpunkt der Literatur vgl. die Nachweise bei Perron (Fn 1), § 283 c, Rn 21. 30 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann) Tz 49. 31 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann) Tz 49. 32 Schünemann, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl., § 27, Rn 21 behandelt die drei bekannten Entscheidungen des 5. Strafsenats des BGH, nämlich BGH NStZ-RR 1999, 184 (Notar), BGH NStZ 2000, 34 (Rechtsanwalt) und BGHSt 46, 107 (Bankangestellter). In allen drei

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Es verbleiben also - da Kriterien objektiver Zurechnung angesichts der klaren Forderung nach einer zumindest problematischen Erhöhung der Bezüge ausscheiden - zunächst nur Begrenzungen über den Gehilfenvorsatz. Insoweit gilt: Auch wenn die Entscheidungsfindung der Mitglieder des Präsidiums dem alten und neuen Vorstand nicht im Detail bekannt gewesen sein dürften, so nimmt er doch zumindest billigend in Kauf, dass auch sachfremde Erwägungen für die erhöhte Vergütung bestimmend waren. Dass er „gezielt“ eben diese Erhöhung verfolgt und verhandelt hat, versteht sich von selbst.33 Das Ergebnis einer strafbaren Beihilfe würde im Weltbild des Vorstands Erschütterungen verursachen. Er durfte seine Interessen nachhaltig vertreten, weil für die Wahrung des Unternehmenswohls in diesem Fall allein das Präsidium zuständig war. Weder wurde mit Täuschungen oder unlauteren Mitteln operiert noch fand ein kollusives Zusammenwirken mit den Mitgliedern des Präsidiums statt. Hinsichtlich der Entscheidungsfindung des Präsidiums erfolgte - mit Ausnahme der Präsentation der Gehaltswünsche keine Einflussnahme. Für die Vermögenssphäre des Unternehmens war den Vorschriften des Aktiengesetzes gemäß allein das Präsidium zuständig, das allerdings eine möglicherweise nicht vertretbare Entscheidung - zu Gunsten des Vorstands - traf. In den Fällen 2 - 4 treten die Wertungswidersprüche bei einer Anwendung allgemeiner Regeln für die Beteiligten offen zutage. Wie das BVerfG in seiner jüngsten Entscheidung unter Hinweis auf Schünemann und Perron bemerkt, dient der Untreuetatbestand dem Schutz des Vermögens gegen Angriffe von innen.34 Der Vermögensinhaber - so weiter das BVerfG - sei in besonderer Weise verletzlich, weil er seine wirtschaftlichen Interessen in fremde Hände lege und deshalb auf die „Redlichkeit des Beauftragten“ angewiesen sei. Dieses gesetzgeberische Anliegen sei deshalb von „hoher und zunehmend aktueller Bedeutung“, weil die moderne Wirtschaft von einem Auseinanderfallen von Vermögensinhaberschaft und beauftragter Verfügungsmacht (Management) geprägt werde.35 Dies gilt nun für beide Seiten: Wenn Vermögensbetreuungspflichtige aufeinandertreffen und opponierend für die finanziellen Interessen ihrer jeweiligen Treugeber streiten, ist die Zurechnung einer Verpflichtung auch für das Wohl der anderen Seite Entscheidungen ging es um Hilfeleistungen „an der Seite“ des Haupttäters, nicht um die Wahrnehmung eigener Interessen. 33 Das BVerfG (Beschluss v. 23.06.2010 – 2 BvR 2559/08, Tz 105) verweist darauf, dass der Untreuetatbestand „auch im subjektiven Bereich keine hohen Anforderungen (stellt): Hinsichtlich sämtlicher subjektiver Tatbestandsmerkmale muss lediglich bedingter Vorsatz vorliegen“. 34 BVerfG (Fn 33), Tz 87. 35 BVerfG (Fn 33), Tz 87, 88.

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- qua Konstruktion einer Beihilfestrafbarkeit - lebensfremd und im Ergebnis verfehlt. Im Fall 2 sind die Vertreter der Steuerfahndung insoweit gebunden, als der staatliche Steueranspruch der Durchsetzung bedarf. Eine tatsächliche Verständigung ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH dann zulässig, wenn ein Fall der erschwerten Sachverhaltsaufklärung zu verzeichnen ist.36 Die Belastung durch die Abarbeitung von Selbstanzeigen vermittelt keine Exkulpation hinsichtlich der Bereitschaft zum Verzicht - auch dann nicht, wenn die gerichtliche Auseinandersetzung langwierig und arbeitsintensiv gewesen wäre.37 Hinsichtlich der Finanzbeamten ist das Votum einer Tatbestandserfüllung des § 266 StGB also keiner Diskussion ausgesetzt. Der - für den Steuerpflichtigen - verhandelnde Rechtsanwalt steht in der Pflicht, für seinen Mandanten ein optimales Ergebnis zu erzielen. Ihm kann schwerlich angesonnen werden, gegenüber der Finanzverwaltung Zugeständnisse zu machen und seinem Mandanten damit zu schaden. Im Fall 3 macht die Kommune Zugeständnisse. Maßgebend hierfür können befürchtete Risiken bei der Geltendmachung vertraglicher Ansprüche, die Sorge über eine Verärgerung des Investors und die damit verbundene Aufgabe des Standorts mit dem Wegfall zukünftiger Einnahmen aus der Gewerbesteuer oder allgemein investorenfreundliche Überlegungen mit Blick auf das Image der Stadt sein. Der Fall BGH NStZ 1997, 543 (Bürgermeister der Stadt B.) zeigt die Verurteilungsrisiken bei einer solchen Verfahrensweise38 ebenso auf wie - der BGH verfuhr in der Revisionsinstanz nach § 153 II StPO - die gegen einen Vermögensschaden sprechenden Umstände (Einstufung der Erwartung von Gewerbesteuereinnahmen, Rettung und Schaffung von Arbeitsplätzen als kompensierender Vermögensvorteil).39 Je nach Sachverhaltskonstellation (und dem Ergebnis von Ermittlungen) sind die Vertreter der Kommune dem Risiko einer Bestrafung wegen Untreue ausgesetzt.

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Ständige Rechtsprechung seit BFH v. 11.12.1984, BStBl. II 1985, 354, 357 f. Vgl. Seer, Verständigungen in Steuerstrafverfahren, 1996, S. 123 unter Hinweis auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip im Besteuerungsverfahren: „Der Verwaltung ist es deshalb verwehrt, dem einseitigen Interesse des Steuerpflichtigen, das naturgemäß auf eine möglichst niedrige Steuerlast gerichtet ist, aus falsch verstandener Verwaltungsökonomie, Bequemlichkeit oder Opportunismus contra legem nachzugeben“. 38 In erster Instanz - vor dem LG - war der Bürgermeister zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt worden. 39 BGH NStZ 1997, 543: „Im vorliegenden Fall ist die mit dem Vertragsabschluß mit der Firma S verknüpfte Erwartung auf Gewerbesteuereinnahmen, Rettung und Schaffung von Arbeitsplätzen usw. genauso schon als ein Vermögensvorteil anzusehen, wie die durch den Vertrag übernommene Verpflichtung zur altlastenfreien Übergabe bereits einen Vermögensnachteil darstellt. 37

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Was den Berater und Verhandler des Investors angeht, so bestand seine Aufgabe in der Beteiligung der Kommune an den Mehrkosten. Ob und inwieweit der Vertrag hierfür eine Grundlage bot, war seinem Verhandlungsgeschick überlassen. An seiner Vermögensbetreuungspflicht gegenüber seinem Auftraggeber kann kein Zweifel bestehen. Verurteilung wegen Beihilfe je nach Bewertung der Verfahrensweise der Verantwortlichen der Stadt? Fall 4 ist dem Alltagsgeschehen des professionellen Sports entnommen. Auch hier greift die Arbeitsteilung zwischen dem Leistungssportler und seinem Berater. Dieser verhandelt sowohl im Interesse seines Treugebers als auch zum eigenen finanziellen Wohl, da die Vergütung für seine Verhandlungs- und Beratertätigkeit von dem (neuen) Verein übernommen wird (teils als sofortige prozentuale Vergütung, teils als regelmäßige Zahlung während der Laufzeit des Vertrages). Diese Usancen sind allen Beteiligten bekannt. Eine etwaige Tatbestandsmäßigkeit nach § 299 StGB wird nicht nur wegen der Transparenz der Vorgänge, sondern auch wegen der Koppelung der Beraterhonorare an die Spielervergütung nicht diskutiert.40 Die wirtschaftliche Lage des neuen Vereins ist für den Berater nur insoweit von Belang, als er die Vergütung seines Klienten und sein eigenes Honorar während der Laufzeit des Lizenzspielervertrages gesichert wissen will. Ob der Verein überschuldet ist, sich nur durch Bürgschaften Dritter über Wasser halten kann und ob die Qualität seines Schützlings auch nur annähernd die Honorierung rechtfertigt - ob also die Verantwortlichen des Vereins wegen einer unvertretbaren Verpflichtung eines Spielers § 266 StGB erfüllen -, ist weder Gegenstand seiner Überlegungen noch Kriterium seiner Entscheidungsfindung. Reflexionen dieser Art sind ihm bereits deshalb fremd, weil er sich allein in der Vermögensbetreuungspflicht gegenüber seinem Mandanten sieht und zugleich seine Interessen wahrnimmt. Die Lösung dieser Konflikte kann nicht im Institut der notwendigen Teilnahme liegen. Unabhängig von allen durchaus feinsinnigen Abstufungen und Distinktionen mit Blick auf die fehlende Strafwürdigkeit bei den unterschiedlichen Formen dieser Figur41 ist der aktiv seine oder die Interessen des von ihm Betreuten wahrnehmende Dritte nicht mit dem notwendigen Teilnehmer etwa des § 283 c StGB, der passiv eine Sicherheit entgegennimmt, oder gar den im Irrtum Verfügenden des § 263 StGB zu vergleichen. Schünemann ist zuzustimmen, wenn er - in seiner Kommentierung der Teil40 Ob und inwieweit §§ 266 und 299 StGB dann relevant werden, wenn die Höhe des Beraterhonorars dem Vermögensinhaber (dem Spieler) nicht bekannt ist, und ob solche Sachverhalte vorfindbar sind, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. 41 Ausführliche Darstellung der Theorien und ihrer Konsequenzen bei Schünemann (Fn 32) Vor § 26, Rn 24 ff.

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nahmevorschriften im Leipziger Kommentar - darauf hinweist, dass sich für „das Ausmaß einer über die Mindestwirkung und das Schutzsubjekt hinaus noch straflos zu lassende(n) Beteiligung ..... allgemeine Grundsätze für eine Straflosigkeit des notwendig Beteiligten nicht angeben (lassen).“ 42 Die Lösung muss tatbestandsspezifisch erfolgen. Die Einschränkung über den Vorsatz fällt dann aus, wenn das kognitive Element - Kenntnis der die Pflichtwidrigkeit und den Nachteil begründenden Umstände beim Haupttäter - bejaht werden kann und das voluntative Element ohnehin zu bejahen ist: Der Extraneus will die eigene Bereicherung (oder die seines Vermögensinhabers) als Ziel seiner Aktivitäten, diese wiederum ist die Kehrseite des Nachteils. Selbst wenn keine volle Deckungsgleichheit zwischen der Kenntnis des Haupttäters und des Dritten in Bezug auf die Vorsatz konstituierenden Sachverhalte gegeben ist, wäre die Lösung des Problems über den Vorsatz je nach festgestelltem Sachverhalt eine von einzelnen Wissenselementen abhängige Entscheidung, die den grundlegenden Interessenkonflikt ausblendet. Nun könnte man die Ansicht vertreten, dass zumindest im Fall 1 die Strafbarkeit wegen Anstiftung zur Untreue ein sachgerechtes Ergebnis darstellt, da die Wahrnehmung eigener Interessen ihre Grenze dort findet, wo ein Vermögensbetreuungspflichtiger gegen seine Pflichten verstößt, er dem Vermögensinhaber Schaden zufügt und der Verhandlungspartner dies erkennt. Allerdings wäre mit einer solchen Betrachtungsweise nicht nur ein Element der strafrechtlich sanktionierten Rücksichtnahme auf Vertragspartner, sondern auch eine dem Wirtschaftsleben fremde Pflichtenüberbordung verbunden: Der seine Interessen verfolgende, nicht vermögensbetreuungspflichtige Kontrahent hätte sorgsam zu erforschen, wann der für die Vermögenssorge zuständige Gegenüber die Grenze zur strafbaren Untreue überschreitet: Die Fälle 2 bis 4 wären damit ohnehin keiner befriedigenden Konfliktlösung zugeführt. Der seinerseits vermögensbetreuungspflichtige Extraneus ist nicht nur dazu aufgerufen, das Vermögen des Treugebers zu sichern und zu bewahren, sondern - wenn dies seiner Aufgabenzuweisung im Innenverhältnis entspricht - es auch zu mehren. Der in der Entscheidung des BVerfG vom 23.06.2010 gegebene Überblick43 über die Judikatur und das Schrifttum zum Nachteil bei der Nichtrealisierung von Chancen auf eine Vermögensmehrung - Anwartschaften oder Exspektanzen - beinhaltet eine Ausweitung der Untreuestrafbarkeit, die vom BVerfG offensichtlich nicht in Zweifel gezogen wird. Wenn dort im 42 43

Schünemann (Fn 32), Vor § 26, Rn 33 (Hervorhebungen im Originaltext). BVerfG (Fn 33) Tz 120.

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Zusammenhang mit der Frage der Definition des Nachteils i.S.d. § 266 StGB die Gewinnchance als Vermögenswert (der im Falle der Nichtwahrnehmung beeinträchtigt wird) begriffen und diese Konstruktion als gangbarer Weg bezeichnet wird, so offenbart sich eine mähliche Loslösung von der noch restriktiven „Pfarrpfründe“-Entscheidung des BGH.44 Das BVerfG zitiert nicht nur die kick-back-Rechtsprechung des BGH - „der Täter (vereitelt) die Möglichkeit eines besonders vorteilhaften Vertragsabschlusses des Vermögensinhabers mit einem Dritten dadurch, ...., dass er sich von dem Dritten für den Fall des Vertragsabschlusses eine Zuwendung versprechen lässt, die der Dritte aus dem von Vermögensinhaber zu leistenden - entsprechend erhöhten - Entgelt bestreitet“ -,45 sondern weist darauf hin, „dass auch Chancen und Gewinnaussichten Vermögensrelevanz und Wert haben“, wie es „sich etwa bei den Auswirkungen positiver Gewinnprognosen auf Aktienkurse“ zeige.46 Wenn also die Vereitelung der konkreten, gesicherten Aussicht auf Mehrung des Vermögens des Treugebers dadurch erfolgt, dass die Möglichkeit eines günstigen Vergleichs (Fälle 2 und 3) ausgeschlagen oder das Ausreizen der Honorierung (Fall 4) unterlassen wird, bewegt sich der Treuepflichtige zwischen der Charybdis der eigenen täterschaftlichen Untreue und der Skylla der Anstiftung/Beihilfe zur fremden Untreue. Der Pflicht, nicht an einer fremden Vermögensstraftat teilzunehmen, steht die originäre Vermögensbetreuungspflicht (auch in dem Sinne einer Mehrung des Vermögens) gegenüber. Um diese Gratwanderung ohne Absturz zu bewältigen, bedarf es des Rollentauschs, d.h. der treupflichtige Extraneus muss die Funktion eines Mediators einnehmen, der zwar einerseits - strafbewehrt - fremde Interessen zu vertreten hat, andererseits aber für seinen Verhandlungspartner die Grenze der Strafbarkeit bei dessen Bereitschaft zur Entreicherung des Vermögens seines Treugebers ausloten soll. Dass eine solche Gestaltung praxisfremd ist, ein Unrechtsbewusstsein auf Seiten des potenziellen Anstifters oder Teilnehmers nicht vorhanden ist und sie mit dem anerkannten Prinzip des Gewinnstrebens - wie es auch das BVerfG expressis verbis anerkennt - nicht vereinbart werden kann, lässt sich nicht in Abrede stellen.

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BGHSt 31, 232, 234: „Auszugehen ist davon, daß der Verlust einer nur mehr oder minder gesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses noch nicht als Vermögensschaden i. S .d. § 266 StGB angesehen werden kann“ sowie (aaO, S. 235) „... den der Treugeber mit Sicherheit erspart oder zusätzlich bekommen hätte“; weitergehend teilweise die Literatur (vgl. Perron (Fn 1), Rn 46). 45 BVerfG (Fn 33) Tz 120 unter Hinweis auf BGHSt 31, 232; BGHSt 50, 299, 314; BGH wistra 1984, 109; BGH NStZ 2003, 540, 541; BGH NJW 2009, 3248. 46 BVerfG (Fn 33) Tz 123.

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V. Lösungen Wer eigene oder fremde Interessen vertritt, kommt als Anstifter oder Gehilfe der Untreue eines Kontrahenten (mit gegenläufigen Interessen) nur dann in Betracht, wenn ein kollusives Zusammenwirken mit dem auf der anderen Seite stehenden Vermögensbetreuungspflichtigen zu verzeichnen ist. Für die Feststellung einer solchen einverständlichen Schädigung fremden Vermögens genügt nicht die Annahme einer Kenntnis der die Untreue konstituierenden tatsächlichen Umstände und die Ableitung einer osmotischen Willensübereinstimmung. Erforderlich ist vielmehr der Einsatz unlauterer Mittel, die sich als kick-back-Vereinbarungen, Zuwendung materieller Vorteile oder Installierung verheimlichender oder verschleiernder Verfahrensweisen darstellen können. Die in der Praxis durchaus vorfindbare Situation des Bankangestellten, der nicht vertretbare Kredite auslegt, dieses Fehlverhalten nicht offenbaren will und daher dem Zwang zur - erst recht unvertretbaren - ständigen Kreditausweitung unterliegt, ist regelmäßig mit Kaschierungsmaßnahmen verbunden, die auch dem Kreditnehmer nicht verborgen bleiben. Die von Transparenz begleitete Wahrnehmung eigener - oder fremder - Interessen ist legitimer Bestandteil der Wirtschaftsordnung, als Teilnahme an einer Untreue - des Verhandlungspartners im weitesten Sinne - kann sie auch dann nicht verfolgt werden, wenn der Letztere sich wegen einer Untreue strafbar macht und der Extraneus die diese Wertung begründenden tatsächlichen Umstände kennt.

Generalklauseln im Wirtschaftsstrafrecht - am Beispiel der Unlauterkeit im Wettbewerbsstrafrecht KLAUS TIEDEMANN

I. Generalklauseln verwendet der Strafgesetzgeber aus guten, nämlich verfassungsrechtlichen Gründen nur sehr zurückhaltend: Sie widerstreiten tendenziell dem Gebot der Tatbestandsbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG). Im "klassischen" Strafrecht sind die Sittenwidrigkeits- und die Verwerflichkeitsklauseln der §§ 228, 240 Abs. 2 StGB praktisch die einzigen, zudem eher im Bereich der Rechtswidrigkeit als der Tatbestandsumschreibung angesiedelten Beispiele. Gewichtiger sind neuere Bereiche des Vermögensund Wirtschaftsstrafrechts, nämlich die bei Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches noch unbekannten Formeln vom auffälligen "Missverhältnis" zwischen Leistung und Gegenleistung beim Wucher (jetzt § 291 Abs. 1 StGB) und von "Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft" bei Bankrott und Schuldnerbegünstigung (jetzt §§ 283 Abs. 1, 283 d Abs. 1 StGB). In letzterer Hinsicht benutzt der Gesetzgeber die nahezu durchgehende Generalklausel weitgehend ebenfalls nur als Korrektiv der Tatbestandsmäßigkeit und allein in § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB als constituens des Straftatbestandes. Es ist kein Zufall, dass die Praxis bisher vor der Anwendung desselben zurückschreckt,1 obwohl benachbarte Strafrechtsordnungen insoweit weniger Probleme sehen und auch das deutsche Schrifttum handgreifliche Fallkonstellationen grob ordnungsgemäßen Wirtschaftens namhaft macht.2 Die gesetzliche Beschränkung auf "grobe" Verstöße (gegen elementare Anforderungen) enthält zudem – ähnlich wie das Erfordernis eines "auffälligen" Missverhältnisses bei § 291 StGB – eine Restriktion, welche die Bedenken aus Art. 103 Abs. 2 GG zumindest abmildert.

1 Vgl. aber BGH (5. Strafsenat) NJW 1981, 354 (355) zur parallelen Konkretisierung der Fahrlässigkeit nach § 283 Abs. 4 Nr. 1; zustimmend Tiedemann in: LK, 12. Aufl. 2009, § 283 Rn 168 mwN. Allgemein Tiedemann, Generalklauseln im Konkursstrafrecht, KTS 1984, 539 ff. 2 Nachweise bei Tiedemann, in: LK (Fn. 1), Rn 184, 190, 230 Vor § 283 sowie § 283 Rn 155 ff.

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Generalklauseln gewinnen im Wirtschaftsstrafrecht deshalb größere praktische und theoretische Bedeutung, weil die StGB-Straftatbestände nicht selten, und das Nebenstrafrecht sogar häufig, ausdrücklich oder stillschweigend auf außerstrafrechtliche Generalklauseln wie die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (§ 243 Abs. 1 HGB) und Maßfiguren wie den ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter (§ 93 AktG), den ordentlichen Geschäftsmann (§ 43 Abs. 1 GmbHG), den ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalter (§ 60 Abs. 1 InsO) usw. verweisen. Musterbeispiel einer solchen Verweisung ist im StGB der Pflicht-Begriff der Untreue (§ 266 Abs. 1), die den 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs und damit auch die verehrte Jubilarin in neuerer Zeit wiederholt beschäftigt hat. Den dabei vom Senat praktizierten Einschränkungsversuchen kommt umso größere grundsätzliche Bedeutung zu, als die Pflichtwidrigkeit sich auch aus außerrechtlichen Normen und bloßen Empfehlungen wie dem Deutschen Corporate Governance-Kodex (vgl. § 161 AktG) ergeben kann.3 Ein schon vom Grundansatz her noch breiteres strafrechtliches Anwendungsfeld finden außerstrafrechtliche und außerrechtliche Generalklauseln im Allgemeinen Teil des Strafrechts, der nach verbreiteter Auffassung nicht, oder doch nicht voll, an das Gesetzlichkeitsprinzip und jedenfalls nicht an den Bestimmtheitsgrundsatz gebunden ist.4 Ein aktuelles Beispiel bildet die Übernahme von zivilrechtlichen Verkehrs(sicherungs)pflichten und betrieblichen compliance-Programmen in das Strafrecht zur Begründung von Garantenstellungen im Betrieb, auch gegenüber Außenstehenden.5 Inmitten dieser insgesamt großflächigen Gemengelage beschränken wir uns im Folgenden auf den Besonderen Teil des StGB-internen Strafrechts: Am Beispiel der Wirtschaftskorruption, also des § 299 StGB, der den 2. Strafsenat im Siemens-Urteil BGHSt 52, 323 (339 ff.) vor europarechtliche Interpretationsprobleme gestellt und schon im Bundesbahn-Fall BGHSt 49, 214 (227 ff.) zu weit gehenden Aussagen über den Wettbewerbsbegriff veranlasst hat, soll das Merkmal der Unlauterkeit näher erläutert werden, dessen tatbestandliche Verwendung im Strafrecht (bis 1997 im Nebenstrafrecht, § 12 UWG a. F.) dem (und der) strafrechtlichen Grenzgänger(in) den besonderen Reiz bietet, dass entsprechend der Entstehungsgeschichte § 299 StGB inhaltlich gewiss auf Wertungen des UWG, möglicherweise aber auch auf solche des GWB und des AEUV Bezug nimmt. Zur weiteren Konkretisierung ziehen wir ein Phänomen heran, dessen wettbewerbs- und strafrechtliche Behandlung sich nahezu zu einem Mode3 BGHSt (2. Strafsenat) 52, 323 (335) (Siemens). Zusammenfassend Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht – Einführung und Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2010, Rn 8 a mwN. 4 Dannecker, in LK, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn 82 ff.; Kühl, Seebode-FS, 2008, S. 61, 65 ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 36 ff., je mwN. 5 BGHSt (5. Strafsenat) 54, 44 (48 ff.) mN.

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thema zu entwickeln beginnt: die Abgrenzung von zulässiger Verkaufsförderung und strafbarer Wirtschaftskorruption.6 Jeder Verbraucher weiß, dass Friseurbetriebe, Tankstellenpächter, Fluglinien, Reisebüros usw. ihre privaten Kunden durch Geschenke, Bonuspunkte, Treuerabatte u. a. m. an sich zu binden versuchen. Größeren wirtschaftlichen Erfolg verspricht es, wenn Hersteller von Waren und Anbieter von Dienstleistungen nicht den Endabnehmer, sondern die zwischengeschaltete Handelsstufe ansprechen. Hier berührt aber der wirtschaftliche Einfluss der "Wertwerbung" auf die Handelsbetriebe bzw. ihre Angestellten und Beauftragten die Grenze des § 299 StGB, wenn besondere (Zusatz-) Vorteile vor allem wegen der Menge oder der Zeitdauer des Bezuges gewährt werden. Zur weiteren Veranschaulichung der folgenden Überlegungen wählen wir einen Fallbereich, der letztlich wohl jeden Leser dieser Zeilen betrifft: die Fernsehwerbung. Der Fernsehwerbemarkt ist äußerst lukrativ. Das Bundeskartellamt hat in einem Bußgeldbescheid vom 27.11.2007 (B 6–92200–LB – 93/07-2) den Umsatz auf diesem bundesweiten Markt in Übereinstimmung mit den Angaben des Zentralverbandes der deutschen Werbewirtschaft für 2005 auf 3,6 Milliarden Euro (netto) veranschlagt. Nach den Sachverhaltsfeststellungen des Amtes ist "Nachfrager auf dem Fernsehwerbemarkt … die werbungtreibende Industrie, die sich ganz überwiegend von Media-Agenturen betreuen lässt, die für sie die Werbebuchungen bei den Fernsehsendern bzw. deren Vermarktungsgesellschaften vornehmen“. Die Verträge über die Ausstrahlung von Fernsehwerbespots "enthalten im Wesentlichen Vereinbarungen über Rabatte, die von den Vermarktern für das jeweils gebuchte Werbevolumen gewährt werden". Die Rabattgewährung erfolgt seitens der TV-Vermarkter sowohl direkt gegenüber den Werbungtreibenden als auch gegenüber den Media-Agenturen, und zwar nicht nur in der Form von Bar-Rabatten, sondern gegenüber den letzteren auch als "Naturalrabatte", nämlich kostenlose Freispots. Die Media-Agenturen geben die Rabatte nach eigenem Ermessen teilweise an ihre Kunden weiter.7 – Das Bundeskartellamt hat in den Verträgen "hinsichtlich der Rabatte kartellrechtlich verbotene Vereinbarungen" gesehen und für den Zeitraum von Mitte 2005 bis Mai 2007 wegen eines schwerwiegenden, allerdings nur fahrlässigen Verstoßes gegen §§ 1,81 Abs. 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nr. 1 GWB gegen die Vermarktungsgesellschaften der beiden größten deutschen Fernsehsenderketten RTL und ProSieben Geldbußen in Höhe von ca. 210 Millionen Euro festgesetzt, die vor allem darauf gestützt sind, dass die 6 Vgl. nur Bach, wistra 2008, 47 ff.; Pfuhl, Von erlaubter Verkaufsförderung und strafbarer Korruption, 2010; Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, 2009; Zöller, GA 2009, 663 ff. 7 Ausführlicher dazu Martinek, Mediaagenturen und Medienrabatte, 2008.

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gewährten Treuerabatte "eine wirtschaftliche Bezugsbindung herbeizuführen" bestimmt seien. Dadurch werde für die Media-Agenturen und die werbungtreibende Industrie die "Kaufentscheidung wettbewerbsinkonform verfälscht". Die Staatsanwaltschaften Köln (114 Js 152/07) und München I (572 Js 50974/07) haben dieses Bußgeldverfahren zum Anlass genommen, Strafverfahren gegen Geschäftsführer von Media-Agenturen einzuleiten, weil diese als von ihren Werbekunden Beauftragte im Sinne des § 299 StGB durch Entgegennahme der Rabatte unlautere Vorteile angenommen und die Werbekunden durch teilweise Nichtweiterleitung der Rabatte im Sinne des § 266 StGB geschädigt hätten. Der Sachverhalt lässt sich zum besseren Verständnis vereinfacht so darstellen: Die Fernsehwerbung treibenden (Werbe-) Kunden platzieren ihre Werbeaufträge entweder direkt bei den Fernsehanstalten bzw. deren Vermarktungsgesellschaften und erhalten Rabatte nach vielfachen Kriterien; hierbei handelt es sich in der Regel um Großunternehmen mit eigener Werbeerfahrung, eigenen Rechtsabteilungen usw. ("Direktkunden"). Oder die Werbekunden beauftragen mit der Fernsehwerbung selbständige MediaAgenturen, welche die Aufträge bündeln, die Konditionen mit den TVSendern bzw. deren Verwertungsgesellschaften aushandeln und für eigene Rechnung Werbezeiten kaufen. Die dabei erzielten Rabatte werden von den Media-Agenturen an die Werbekunden weitergegeben, soweit die Rabatte "kundenbezogen" sind, nämlich auftragsabhängig für einzelne werbungtreibende Kunden gewährt werden. Dagegen vereinnahmen die MediaAgenturen "agenturbezogene" Vergünstigungen – vor allem Kontingentund Treuerabatte – für sich, da diese ohne Bezug auf konkrete Kunden und ohne Sachzusammenhang mit konkreten Aufträgen geleistet werden. Als Kontingentrabatte werden dabei solche Rabatte bezeichnet, die die Fernsehanstalten einer Media-Agentur für das Gesamtvolumen aller Einkäufe in einem Kalenderjahr gewähren. Sie werden im Folgenden vereinfachend "Mengenrabatte" genannt.

II. Wir vernachlässigen aus Raumgründen die untreuerelevante Problematik, ob die maklerähnliche Stellung der Media-Agenturen für ihre Geschäftsführer (§ 14 StGB) eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber den Werbe-

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kunden begründet (was wohl zu bejahen ist8). Immerhin sei aber daran erinnert, dass die neuere BGH-Rechtsprechung die Abführungspflicht aus § 667 BGH als einfache schuldrechtliche Pflicht einstuft, die für § 266 StGB gerade nicht ausreicht.9 Eine Ausnahme hiervon erkennt der 1. Strafsenat des BGH anhand eines Falles des Ankaufs medizintechnischer Produkte "allenfalls dann" an, wenn "ein Anspruch, auch ein Provisionsanspruch, dem Treugeber selbst zusteht, die Forderung aber treuwidrig vom Treunehmer vereinnahmt wird".10 Und ein Teil des strafrechtlichen Schrifttums sieht eine Treupflichtverletzung darin, dass ein Berater oder Makler seine Empfehlung deshalb formuliert, "weil er hierfür Provisionen erhält", wobei der Schaden des Treugebers dann darin liege, dass der Kaufpreis um die Provision erhöht ist.11 Die letztere Literaturansicht würde für unseren Fall erfordern, dass die Media-Agenturen gerade wegen der Rabatte, also aus sachfremden Gründen, Werbezeiten bei einem bestimmten Sender eingekauft haben und der Kaufpreis um die Provision oder allgemein im Verhältnis zum potentiellen Werbeeffekt eindeutig überhöht war.12 Die erstgenannte Auffassung (des 1. Strafsenats) knüpft dagegen an das Zivilrecht an, das jedoch den Rabatt als Preisnachlass definiert, also an den Kaufpreis koppelt; Mengen- und Treuerabatte bei Einkauf von Sendezeiten durch die Media-Agenturen sind begrifflich und rechtlich an den Käufer gebunden, da und soweit (nur) dieser infolge Bündelung der Nachfrage(macht) höhere und längerfristige Umsatzvolumina erzielen kann. Auch das Leistungskriterium (vgl. § 3 GWB a. F.) weist die Rabatte den Media-Agenturen zu, da nur sie Koordinations-, Abwicklungs- und Beratungsleistungen erbringen, soweit es um große Mengen und Zeiträume geht. Aus Geschäftsbesorgungs- und Auftragsrecht schließlich wird im Zivilrecht ein Herausgabeanspruch des Auftraggebers – hier also des Werbekunden – auf Provisionen, Schmiergelder oder Vergütungen nur dann bejaht, wenn solche Sondervorteile ohne vorherige Billigung desselben gewährt werden und "eine Willensbeeinflussung zum Nach8 Vgl. Fischer, 57. Aufl. 2010, § 266 Rn 48; Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 266 Rn 13; Perron, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. 2010, § 266 Rn 25; Seier, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Kap. V 2 Rn 155, je mN. 9 BGH wistra 1991, 137 (138); NJW 1991, 1069; NStZ 1995, 233 (234) und NJW 2001, 2102 (2105) (insoweit in BGHSt 46, 311 ff. nicht abgedruckt); BGHSt 47, 295 (298) mwN. 10 BGHSt (1. Strafsenat) 47, 295 (298) mN. 11 Perron (Fn. 8), Rn 35 a und 46 unter Hinweis auf BGHZ 78, 263, 268 und Franzheim, Art. Architektenuntreue, in: Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.), Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 1985. – Zur Schadensberechnung BGHSt (5. Strafsenat) 50, 299 (314 ff.); Tiedemann GmbH-Strafrecht, 5. Aufl. 2010, Rn 16 Vor §§ 82 ff. mwN. 12 Vgl. zu der letzteren Konstellation Perron (Fn. 8), Rn 40 mit Rechtsprechungsnachweisen, zuletzt BGHSt (3. Strafsenat) 47, 22 (24) vor 2: "deutlich überhöhte Preise".

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teil des Auftraggebers befürchten lassen".13 Auf dieses Merkmal wird unten III. 5. zurückzukommen sein. Als Zwischenergebnis ist (zu § 266 StGB) festzuhalten, dass Gesetz und Rechtsprechung mit der Evidenz (Auffälligkeit) und eindeutigen Unvertretbarkeit (Grobheit) des Verstoßes sowie der Sachwidrigkeit und Eigennützigkeit der Entscheidung des Täters Kriterien zur Verfügung stellen, um Generalklauseln und hochgradig unbestimmte Rechtsbegriffe14 für die strafrechtliche Handhabung einzuschränken, nämlich "wertend zu konkretisieren".15

III. Für die Beurteilung der Gewährung von Mengen- und Treuerabatten durch TV-Medien bzw. ihre Vermarktungsagenturen an die MediaAgenturen als Einkäufer von Werbezeiten ist die Unlauterkeit entscheidendes Tatbestandsmerkmal des § 299 StGB. Angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Strafnorm – Übernahme aus dem UWG im Jahre 1997 – entspricht es der zutreffenden herrschenden Meinung, dass die Auslegung der "Unlauterkeit" am UWG auszurichten ist.16 Wenn teilweise davon gesprochen wird, die Unlauterkeit im Sinne des § 299 StGB (und bereits des § 12 UWG a. F.) sei mit demselben Begriff in §§ 1, 3 UWG nicht völlig deckungsgleich,17 so ist auch das ganz zutreffend: Die Generalklausel der Unlauterkeit verweist auf die Wirtschaftsmoral (Wirtschaftsethik) und ist aus allgemeinen Gründen des Art. 103 Abs. 2 GG auf allgemein anerkannte Wertungen zu beschränken, also strafrechtlich im Verhältnis zu §§ 1, 3 UWG eng (restriktiv) zu handhaben.18

13 BGH NJW 2001, 2476 (2477) und NJW-RR 1991, 483; Jauernig/Mansel, 13. Aufl. 2009, § 667 Rn 4; Palandt/Sprau, 69. Aufl. 2010, § 667 Rn 3; Staudinger/Martinek, 13. Neubearb. 2006, § 667 Rn 12. 14 Zur engen Verwandtschaft beider Erscheinungen und ihrem Verhältnis zur Gesetzestechnik des Blanketts Tiedemann, in: Schroeder-FS, 2006, S. 641, 643 ff. und bereits Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 95 f. mit zahlreichen Nachweisen. 15 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen S. 96. 16 Rengier, in: Tiedemann-FS, 2008, S. 837, 846; Rudolphi, in: SK, § 299 Rn 8; Tiedemann, in: LK, 12. Aufl. 2008, Rn 4 Vor § 298, je mwN; Wollschläger (Fn. 6), S. 28 f.; Zöller (Fn. 6), S. 664. 17 So etwa Heine, in: Schönke/Schröder § 299 Rn 19 mit Nachw. 18 Tiedemann (Fn. 16) mN sowie Wirtschaftsstrafrecht AT Rn 114 ff.; aus der Rechtsprechung insbes. BGHSt 4, 24 (32); 17, 328 (331); 49, 116 (169) (zu §§ 228, 240 Abs. 2 StGB), aus dem Schrifttum Dannecker, in: LK, § 1 Rn 207 ff. mit umfassenden Nachweisen sowie Kühl (Fn. 4), S. 78 f.

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Mit kritischer Vorsicht ist dagegen die weitere Frage zu behandeln, ob der (eingeschränkte) konkludente Verweis des § 299 StGB auf die Maßstäbe und Fallgruppen des UWG zugleich eine Weiterverweisung auf das GWB enthält. Hierzu ist vorab zu bemerken, dass erstens der Markt- und Wettbewerberbegriff des GWB weiter ist als der des UWG und des § 299 StGB, die auf einen konkreten Markt und Schädigung aktueller Wettbewerber abstellen, während das GWB sich mit potentiellem Wettbewerb und der Gewährleistung von Marktzutrittschancen für künftige Konkurrenten (Newcomer) begnügt.19 Zweitens ist hervorzuheben, dass die gesamtwirtschaftlich motivierten GWB-Verbote inhaltlich nicht mit den von UWG und § 299 StGB ausgesprochenen Verboten der Schädigung von Mitbewerbern identisch sind, insbesondere soweit es um das horizontale und vertikale Kartellverbot des Art. 101 AEUV (früher Art. 81 EGV) und § 1 GWB geht.20 Dies bedeutet, dass insbesondere die Wertungen in dem zu I. genannten Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts vom 27.11.2007 keinesfalls unbesehen für die Bestimmung der Unlauterkeit nach § 299 StGB übernommen werden können.

1. Wertungsparallelen zum StGB bestehen nach Aufhebung des Rabattgesetzes (2001) im UWG 2004 und im GWB 2005 durchaus: "Klassische" Parallelen der Bewertung nach dem GWB einerseits und dem StGB andererseits sind die Androhung von (und Aufforderung zu) Liefersperren nach §§ 20 Abs. 1, 21 Abs. 1 GWB, deren zentrales Merkmal der "Unbilligkeit" in Verhältnis zur "Verwerflichkeit" nach § 240 Abs. 2 StGB zu setzen ist. Die herrschende Meinung löst die Frage, wann ein Boykottaufruf oder die Androhung einer Liefersperre eine rechtswidrige Nötigung darstellt, nicht generell, sondern im Sinne einer Einzelfall-Würdigung nach Kriterien sozialer Unerträglichkeit als gesteigertem, strafwürdigem VergehensUnrecht.21 Das Verhältnis von GWB und UWG stellt sich vor allem im Verhältnis von § 20 Abs. 1 GWB und § 4 UWG bei der Frage des "Behinderungswettbewerbs". Dieser Ausdruck meint seit Nipperdeys Privatgutachten im sog. Benrather Tankstellen-Fall (RGZ 134, 342 ff.) die Anwendung von wettbe-

19 Dazu Tiedemann, in: LK, § 299 Rn 37 f. mN und Hinweis auf die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG ("konkretes Wettbewerbsverhältnis"). 20 Vgl. Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Wettbewerbsrecht, 25. Aufl. 2007, § 4 UWG Rn 1.103 ff.; Tiedemann, in: LK Rn 119 Vor § 283, je mN. 21 Eser, in: Schönke/Schröder, § 240 Rn 6 in Verbindung mit Rn 18 und 19; Lackner/Kühl § 240 Rn 18; Träger/Altvater, in: LK, 11. Aufl. 2005, § 240 Rn 87 mN zur Rechtsprechung; Tiedemann, Wettbewerb und Strafrecht, 1976, S. 23 ff.

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werbsfremden Maßnahmen, die an Stelle der eigenen Leistung auf Schädigung der Konkurrenten zielen.22 "Behinderungsmissbrauch" im engeren Sinne wird durch die speziellen Verbotstatbestände der Art. 102 AEUV (früher Art. 82 EGV), §§ 20, 21 GWB umschrieben. Sie bezwecken vor allem Individualschutz der Mitbewerber. Da auch das UWG (§ 4, insbesondere Nr. 10!) mit der Lauterkeit des Wettbewerbs vor allem die Mitbewerber schützt (vgl. § 1 Satz 1 UWG),23 ist es folgerichtig, die Bewertungsmaßstäbe ("unbillige Behinderung" einerseits, "Unlauterkeit" andererseits) insoweit als "weitgehend inhaltsgleich" oder doch "parallel" zu bezeichnen.24 Im weiteren Sinne meint Behinderungswettbewerb aber auch "allgemeine Marktbehinderung". Sie wird im Kartellrecht untersagt durch die Kartellverbote der Art. 101 AEUV, § 1 GWB. Die Rechtsprechung hat dies als ernstliche Gefahr der nicht unerheblichen Einschränkung des Wettbewerbs früher auch als ungeschriebenen Unlauterkeitstatbestand des UWG (§ 3) anerkannt, bezieht Eingriffe in das Wettbewerbsgeschehen – da eine Marktstrukturkontrolle dem UWG an sich fremd ist – jetzt aber nur noch in § 3 UWG ein, wenn es sich um "ganz schwerwiegende Eingriffe" und nicht nur um "leistungsfremde" Verhaltensweisen handelt.25 Unter diesem Leitgesichtspunkt ist es von Bedeutung, dass das Bundeskartellamt in seinem Bußgeldbescheid vom 7.8.2007 keinen Verstoß gegen Art. 82 EGV (jetzt: Art. 102 AEUV), § 20 GWB, sondern "nur" einen solchen nach Art. 81 EGV (jetzt: Art. 101 AEUV), § 1 GWB festgestellt, also ein vertikales Rabattkartell angenommen hat, das "den Marktzutritt, aber auch den Ausbau von Marktanteilen der Mitbewerber erschwert". Als derart behinderte Mitbewerber werden "kleinere Sender" genannt. Nach Aufhebung des Rabattgesetzes im Jahr 2001 sieht die UWGLiteratur dagegen keine grundsätzlichen Bedenken (mehr) gegenüber Kundenbindungssystemen: "Wettbewerbswidrig kann allenfalls die konkrete Ausgestaltung des Kundenbindungssystems sein."26 Diese durch die UWGNovelle von 2004 bestärkte Neuorientierung der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung von Rabatten stellt eine grundlegende Bewertungsänderung

22 Vgl. Nipperdey, DRZ 1950, 193, 196 f.; Richter, Die Diskriminierung als Kartellordnungswidrigkeit, 1982, S. 95 ff.; Rixen, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2004) § 20 Rn 168 mwN. 23 Rittner/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 7. Aufl. 2008, Einl. Rn 13 und § 1 Rn 25 ff.; Tiedemann, in: LK Rn 2 Vor § 298. 24 So Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), § 4 UWG Rn 12.2, aber mit der zutreffenden Ergänzung Rn 10.18: "Die Unlauterkeit einer Behinderung begründet daher auch ihre Unbilligkeit. Allerdings gilt dies nicht umgekehrt." 25 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 12.2 mit Nachw. 26 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 1.103.

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dar,27 die strafrechtlich als lex mitior gemäß § 2 Abs. 3 StGB zurück wirkt.28 Für das GWB ist davon auszugehen, dass es vertikale Kartellabsprachen überhaupt erst ab Juli 2005 erfasst und verboten hat. Ob vor diesem Zeitpunkt schon ein Verstoß gegen Art. 81 EGV angenommen werden konnte, ist aus einem doppelten Grund zweifelhaft: Die Vertikal-GVO der EG (Art. 4) verbietet mit Wirkung vom 1.1.2000 vor allem "Kernbeschränkungen", zu denen Rabattsysteme nicht zählen. Diese konnten zwar nach Kommissions-Entscheidungen aus den 70er Jahren als Preisabsprachen unter Art. 81 EGV fallen. Jedoch ist nach dem Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts im vorliegenden Fall das Tatbestandserfordernis der Beeinträchtigung des Handels zwischen den EG-Mitgliedstaaten zumindest zweifelhaft. Jedenfalls nach nationalem (GWB-)Recht scheidet eine GWBVerbotswidrigkeit vertikaler Rabattabsprachen vor Juli 2005 (7. GWBNovelle) aus.

2. Soweit ein vertikales Rabattkartell seit Juli 2005 angenommen wird, also kartellrechtlich ein Verstoß gegen Art. 81 EGV (jetzt: Art. 101 AEUV), § 1 GWB vorliegt, kann auch eine allgemeine Marktbehinderung nach § 3 UWG vorliegen, sofern die Wettbewerbshandlungen unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf den Markt gerade auch als Wettbewerbsmaßnahmen unlauter sind.29 Die Konkretisierung dieser Generalklausel erfolgt, wie bereits zu 1. dargelegt, durch die Beschränkung auf "ganz schwerwiegende Eingriffe in das Wettbewerbsgeschehen".30 Wie schwerwiegend im vorliegenden Fall die Wettbewerbsbeschränkung ist, umschreibt das Bundeskartellamt mit den Worten, es liege kein sehr schwerwiegender, "gleichwohl noch … ein schwerwiegender Verstoß" vor, wobei als sehr schwerwiegend die per se-Verstöße (Preis-, Quoten-, Gebietskartelle) genannt werden. Dies entspricht sowohl nationaler als auch EU-rechtlicher Einschätzung, da Rabattkartelle nach § 3 GWB a. F. bis 1999 freistellungsfähig waren und nach der Vertikal-GVO bis zu der Marktanteilsschwelle von 30 % des relevanten Marktes weiterhin freigestellt sind. Das Bundeskartellamt schließt die Feststellung an, dass die Rabattsysteme der TV-Sender eine Marktabschottung erreichen, die qualitativ einer solchen durch Ausschließlichkeitsvereinbarungen entspricht. Diese 27 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 1.94; Piper/Ohly, UWG, 4. Aufl. 2006, § 4 Rn 1/83; Rengier (Fn. 16), S. 842 f. mwN. 28 Vgl. nur Dannecker, in: LK, § 2 Rn 87 mN. 29 BGH GRUR 2002, 825 (826 f.); Hefermehl/Köhler/ Bornkamm (Fn. 20), Rn 12.1. 30 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 12.2.

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sind nach herrschender Meinung ein Fall der Marktbehinderung durch Anbieter.31 Das Bundeskartellamt sieht hierin offensichtlich einen für die "bebußten" Vermarktungsunternehmen auf der Seite der TV-Sender (Anbieter oder "Lieferanten") erschwerend wirkenden Umstand. Hervorzuheben ist aber für die Strafverfahren gegen die Käufer-Seite, dass nach §§ 14 ff. GWB gebundene Käufer notwendige Teilnehmer sind und als geschützte Unternehmen grundsätzlich kein Unrecht verwirklichen.32 Ausnahmen hiervon gelten nur, wenn der gebundene Teil im eigenen Interesse einen aktiven Beitrag zum Zustandekommen der Vereinbarung leistet.33 Bereits eine Einstufung als Verwaltungsunrecht (§ 81 GWB) setzt also die Aufklärung des Zustandekommens der Kaufverträge voraus. Ob als "eigenes Interesse" der Media-Agenturen ihr Interesse am Erhalt hoher Rabatte ausreicht, ist wegen der Gefahr eines Zirkelschlusses zumindest zweifelhaft, da erst die Rabattgewährung die (Nähe zur) Ausschließlichkeitsbindung begründet. Eine durch agenturbezogenen Treuerabatt bewirkte Bindung schließt es bei wirtschaftlicher Betrachtung auch aus, die rechtlich jeweils erneuten Kaufvertragsabschlüsse als stets neuen "aktiven Beitrag" zu bewerten. Als weiteres Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass die kartellrechtliche Bewertung aus grundsätzlichen und einer Reihe von einzelnen Gründen nichts für die Bestimmung der Unlauterkeit nach UWG und StGB hergibt.

3. Unmittelbar zur Beurteilung der Unlauterkeit nach UWG und StGB als strafbegründendem Merkmal im Sinne des § 299 führt dagegen die jüngste BGH-Rechtsprechung zu dem angrenzenden § 298 StGB innerhalb des 26. StGB-Abschnitts "Straftaten gegen den Wettbewerb" hin: Zu der Frage, ob Vertikalabsprachen (zwischen einem Bieter und dem Oberbauleiter des Veranstalters der Submission) "rechtswidrige Absprachen" im Sinne des § 298 StGB sind, entschied der 4. Strafsenat in BGHSt 49, 201, 205 ff., im Anschluss an Tiedemann, dass vertikale Absprachen wettbewerbspolitisch weniger schädlich sind als horizontale Absprachen zwischen Bietern und

31 Vgl. nur Markert, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 4. Aufl. 2007, § 20 Rn 188 ff., 196 mN. 32 Vgl. im einzelnen Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 31), § 81 Rn 58 mit Nachw. 33 KG WuW/E OLG 5121 (5129 f.); Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 31) § 14 Rn 69 mwN.

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daher nicht unter § 298 StGB fallen.34 Vertikale Vereinbarungen werden nach BGH aaO S. 205 nur durch § 299 StGB erfasst – was zutrifft, aber nur die grundsätzliche Anwendbarkeit dieses Straftatbestandes eröffnet und nichts über die Unlauterkeit von Zahlungen besagt. Die Einbeziehung vertikaler Absprachen in § 1 GWB seit Juli 2005 unter Aufhebung der §§ 14 ff. GWB ändert nichts an dem fortbestehenden Urteil einer für den Wettbewerb erheblich geringeren Schädlichkeit im Vergleich zu den horizontalen hard-core-Kartellen ("per se"-Verstößen) über Preise, insbesondere bei Submissionen sowie über Produktionsquoten und Absatzgebiete.35 Auch bei den kriminalpolitischen Reformdiskussionen und -empfehlungen der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in den 70er Jahren zu einer teilweisen Kriminalisierung des GWB wurden Marktbehinderung und Vertikalabsprachen stets ausgenommen und im Schrifttum allenfalls für die Fälle gezielter (Kampf-)Preisunterbietung bejaht.36 Bisher liegt keine neuere Strafrechtsprechung zur Unlauterkeit nach § 299 StGB im Zusammenhang mit Rabatten vor. Die aufgezeigten Wertungsparallelen von GWB, UWG und StGB sowie die Strafwürdigkeitsdiskussion der späten 1970er Jahre legen aber den Schluss nahe, dass vertikale Rabattsysteme auch seit Juli 2005 (7. GWB-Novelle) als Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne des § 1 GWB nur als relativ wenig sozialschädlich anzusehen sind und sogar den Grad von Verwaltungsunrecht erst erreichen, wenn Unternehmen mit überragender Marktstellung (§ 19 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB) Mitbewerber "unbillig behindern" (§ 20 Abs. 1 GWB). In Übereinstimmung mit der zivilrechtlichen Wertung des § 4 UWG ist strafwürdiges Unrecht erst bei besonders schwerwiegenden Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht anzunehmen. Hieran fehlt es bei Mengen- und Umsatzrabatten sowie Funktionsrabatten, wie sie für das Verhältnis von Industrie und Handel seit langem üblich und spätestens seit der Aufhebung des Rabattgesetzes 2001 wettbewerbsrechtlich unbedenklich sind.37 34 Ebenso BGH wistra 2005, 29 und NStZ 2006, 687; Achenbach, NStZ 2005, 621, 624; Dannecker, JZ 2005, 49 ff.; Heine, in: Schönke/Schröder, § 298 Rn 11; Kindhäuser, LPK, 4. Aufl. 2010, § 298 Rn 8; Lackner/Kühl, § 298 Rn 3; zweifelnd für die Rechtslage nach dem GWB 2005 Tiedemann, in: LK § 298 Rn 14 mwN. Vgl. aus dem kartellrechtlichen Schrifttum Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, § 18 Rn 3 mN. 35 Zusammenfassend Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 31), § 1 Rn 349 ff. mN sowie § 2 Rn 19; auch Rittner/Kulka (Fn. 23), § 9 Rn 2; dazu aus strafrechtlicher Sicht bereits Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, 1976, S. 106 ff. 36 Vgl. Tiedemann, (Fn. 35), S. 132 ff., 139, 205, 211 mN; Rittner/Dreher (Fn. 34), § 23 Rn 132. 37 Übereinstimmend Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), § 4 UWG Rn 1-94, 1.102 ff., auch 12.2; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, § 17 Rn 53 ff.; Rittner/Dreher (Fn. 34), § 19 Rn 39; Rittner/Kulka (Fn. 23), § 10 Rn 39, je mwN.

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Soweit Rabatte als Mengenrabatte anzusehen sind, sind sie folglich wettbewerbsrechtlich zulässig, und zwar nach GWB wie nach UWG. Ihre Vereinbarung, Gewährung und Annahme ist daher nicht unlauter im Sinne des § 299 StGB.38 Die weiteren Überlegungen betreffen daher nur noch Rabatte, die wie Treuerabatte wirken oder wettbewerbsrechtlich als solche anzusehen sind.

4. Zu der Frage einer Markt- und Wettbewerberbehinderung durch Treuerabatte sieht die herrschende Ansicht im Kartellrecht seit der EuGHEntscheidung im Fall Hoffmann-La Roche39 die Gewährung solcher Rabatte durch marktbeherrschende oder marktstarke Unternehmen "grundsätzlich" als Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV, § 19 GWB an.40 Im deutschen Recht wird allerdings aus Gründen der Tatbestandsbestimmtheit in diesen Fällen meist nur auf das speziellere Verbot unbilliger Behinderung (§ 20 Abs. 1 GWB) zurückgegriffen.41 Das Bundeskartellamt hat in seinem Bußgeldbescheid eine marktbeherrschende Stellung der TV-Sender verneint und die von ihm angenommene Marktbehinderung auf Art. 81 EGV a. F., § 1 GWB gestützt (vgl. oben 1.), wobei es die (EuGH-) Rechtsprechung zu Art. 82 a. F. auf Art. 81 EGV a. F. überträgt. Es stellt maßgebend darauf ab, dass Treuerabatte "nicht auf einer wirtschaftlichen Leistung" beruhen, sondern dazu dienen, "eine wirtschaftliche Bezugsbindung herbeizuführen". Das UWG-Recht übernimmt diese Beurteilung - erneut - nur mit erheblichen Einschränkungen: Die vom Bundeskartellamt betonte "Sogwirkung" von Treuerabattsystemen sei "für sich allein kein Gesichtspunkt, der die Unlauterkeit begründen könnte".42 Maßgebend ist nach § 4 Nr. 1 UWG vielmehr die Ausübung "unangemessenen unsachlichen Einflusses", insbesondere durch übertriebenes Anlocken, wenn die Art der Rabattgewährung – etwa wegen Verfallsregelungen – die Rationalität der Nachfrageentscheidung ausschaltet, nämlich Preis und Qualität des Gesamtangebots nicht 38 So auch Blessing, in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 53 Rn 79; Diemer/Krick, in: MünchKomm-StGB, 1. Aufl. 2006, § 299 Rn 20; vgl. auch bereits Heiseke, WRP 1969, 362 ff. Zu Umsatzprämien Wollschläger (Fn. 6), S. 73 ff. (mit Differenzierung zwischen Angestellten und Beauftragten). 39 Slg. 1979, 461 ff. Rn 89 ff. 40 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 1.101; Rittner/Kulka (Fn. 23), § 10 Rn 39; vgl. auch Tiedemann (Hrsg.), Multinationale Unternehmen und Strafrecht, 1980, S. 24. 41 Vgl. nur Rittner/Kulka (Fn. 23), § 10 Rn 12 und § 11 Rn 51 mN. 42 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 1.104; ebenso Rengier (Fn. 16), S. 842 f. mwN.

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mehr kritisch überprüft, vor allem keine Vergleiche mit Konkurrenzangeboten vorgenommen werden.43 "Dies wird man selbst bei Rabatten in erheblicher Größenordnung nicht allein wegen der Höhe des Nachlasses annehmen können."44 Eine gezielte Behinderung (§ 4 Nr. 10 UWG), die im GWB-Recht auch bei bloßer Wirkung einer Behinderung angenommen wird,45 betrifft nach der Gesetzesbegründung zum UWG 2004 nur die sog. individuelle Behinderung von Konkurrenten, also nicht die allgemeine Marktbehinderung, und erfasst nur Fälle, in denen es den Unternehmen in erster Linie um die Störung oder Vernichtung der fremden Tätigkeit auf demselben Markt geht, insbesondere also bei Nachweis einer Verdrängungsabsicht.46

5. Für die Frage einer Übertragung auf § 299 StGB ist davon auszugehen, dass die Bejahung einer Ordnungswidrigkeit nach Art. 81 EGV bzw. jetzt Art. 101 AEUV und § 1 GWB in Verbindung mit § 81 GWB schon deshalb keine Bedeutung für § 299 StGB hat, weil dieser Straftatbestand nur aktuelle Mitbewerber schützt, die im Zeitpunkt der Auftragserteilung auf demselben Markt tätig sind ("konkretes Wettbewerbsverhältnis").47 Demgegenüber verfolgen Art. 101 AEUV und § 1 GWB eine marktbezogene Sicht, die potentielle Wettbewerber einbezieht, nämlich die Abschottung des Marktes gegenüber Newcomern verhindern, also die Marktzutrittschancen erhalten will (vgl. bereits oben 2.). Andererseits lässt die Einstufung als vertikales Rabattkartell nach heute ganz herrschender Meinung kein Korrektiv – etwa im Sinne der früher viel diskutierten rule of reason – zu, wie es § 20 GWB durch das Erfordernis der Unbilligkeit ausdrücklich vorsieht.48 Der Verstoß gegen Art. 81 EGV bzw. jetzt Art. 101 AEUV und § 1 GWB hat daher - erneut - jedenfalls außerhalb der "per-se"-Verstöße (oben 2.) nicht einmal indizielle Bedeutung für das Unlauterkeitsurteil des § 299 StGB.

43 BGH GRUR 2002, 1000 (1002); OLG Stuttgart GRUR 2002, 906 (907); OLG Karlsruhe GRUR 2002, 909 (910); Götting/Nordemann (Hrsg.), UWG, 1. Aufl. 2010, § 4 Rn 1.56; Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 1.35, 1.104 und 10.14 ("früher Kundenfang genannt"); Piper/Ohly (Fn. 27), Rn 1/86. 44 Rittner/Kulka (Fn. 23), § 3 Rn 57; übereinstimmend Piper/Ohly (Fn. 27), Rn 1/87 und Ullmann, UWG, 2006 § 4 Nr. 1 Rn 67 f. 45 Richter (Fn. 22), S. 95 ff.; Rixen (Fn. 22), Rn 162; Tiedemann (Fn. 35), S. 132. 46 Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), Rn 10.2 und 10.7 ff.; Rittner/Kulka (Fn. 23), § 3 Rn 157, je mN. 47 Vgl. für die h. M. Tiedemann, in: LK § 299 Rn 36 ff. mN. 48 Zusammenfassend Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 31), § 1 GWB Rn 354 mN.

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Eine größere Nähe dieses Tatbestandserfordernisses besteht dagegen zu der Unlauterkeit der §§ 1 ff. UWG, das ebenfalls Individualschutz der Mitbewerber bezweckt (oben 1.). Die Ausübung unangemessenen unsachlichen Einflusses (§ 4 Nr. 1 UWG) als Beispiel und Fallgruppe unlauteren Wettbewerbs ("Kundenfang", oben 4.) ist daher als indiziell für das Vorliegen von Unlauterkeit im Sinne des § 299 StGB anzusehen. Ähnlich wie im Verhältnis von § 16 UWG zu § 263 StGB für die Irreführung durch Werbung deren Eignung ausreicht, ein Irrtum des Adressaten also nicht einzutreten braucht,49 ist bei § 299 StGB als Inhalt der Unrechtsvereinbarung die tatsächliche Benachteiligung eines Konkurrenten (in Folge der Bevorzugung) nicht erforderlich.50 Wenn im Schrifttum zu § 299 davon gesprochen wird, unlauter seien Einflussnahmen, die "geeignet" sind, sachwidrige Marktentscheidungen zu begünstigen,51 kann die Eignung zwar als Erfahrungsurteil definiert werden, dass ein Verhalten die Schädigung des geschützten Rechtsguts befürchten lässt.52 Der damit verbundene Ausschluss variabler Faktoren ist jedoch für unternehmerische Entscheidungen nicht sachgerecht. Immerhin lässt die Schädigungsprognose des Eignungs-Urteils im Einzelnen einen Wahrscheinlichkeitsgrad erkennen, der die "Befürchtung" einer Rechtsgutsverletzung konkretisiert und bloße Vermutungen ausschließt: Die Rechtsgutsverletzung muss hinreichend oder überwiegend wahrscheinlich sein.53 Dieses Kriterium wird nun im Ergebnis einhellig vom strafrechtlichen Schrifttum zu dem speziellen Problem der Kundenbindung durch Treuerabatte ("Kundenbindungsprogramme") zugrunde gelegt.54 Die damit als herrschend zu bezeichnende Ansicht geht zutreffend davon aus, dass die marktbezogene Betrachtung des GWB für § 299 StGB irrelevant ist und dass auch hohe Rabatte nicht von vornherein die Rationalität der Nachfragerentscheidung ausschließen. Sie sind aber auch unter dem Leistungsgedanken keineswegs ohne weiteres unlauter: "Es ist durchaus mit den 49 Vgl. dazu Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 20), § 16 UWG Rn 9 unter Hinweis auf § 5 Abs. 1 UWG und § 5 Rn 2.63 mwN. 50 BGHSt (2. Strafsenat) 49, 214 (228) und NJW 2006, 3290 (3298); Tiedemann, in: LK § 299 Rn 33 mwN. 51 So Dannecker, in: NK, 2. Aufl. 2005, § 299 Rn 53; Fischer, § 299 Rn 16; Heine, in: Schönke/Schröder § 299 Rn 2 mwN; Rönnau, in: Achenbach/Ransieck Kap. III 2 Rn 35. 52 So Heine, in: Schönke/Schröder Rn 9 vor §§ 324 ff.; Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 163 ff.; vgl. auch Tiedemann, Die Neuordnung des Umweltstrafrechts, 1980, S. 31. f. ("generelle Schädlichkeit"). 53 Alt, in: MünchKomm § 325 Rn 48; Steindorf, in: LK, 11. Aufl. 2005, § 325 Rn 6, je mN; Rengier, (Fn. 16), S. 846 mwN. 54 Bach, wistra 2008, 47 (49); Blessing, (Fn. 38), Rn 79; Heiseke, (Fn. 38); Lehmann, Die Werbung mit Geschenken, 1974, S. 78 ff.; Tiedemann, in: LK § 299 Rn 41 und Wirtschaftsstrafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2008, Rn 206.

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Grundsätzen des Leistungswettbewerbs zu vereinbaren, dass die Treue von Stammkunden mit Preisvorteilen belohnt wird, deren Umfang im Einzelfall 50 % betragen kann."55 Somit kommt es darauf an, ob es die Treuerabatte nach ihrer Art und Höhe überwiegend wahrscheinlich machten, dass die Media-Agenturen künftige Auftragsplatzierungen nicht nach sachlichen Gründen (eines möglichst breiten Werbeeffektes zugunsten der Kunden), sondern – zumindest auch – wegen der im Vergleich zu Konkurrenten höheren Rabatte vornahmen. Bei gleicher Rabattpraxis der Konkurrenten ist die Wahrscheinlichkeit gleich null. Zudem kommen als Konkurrenten nur solche in Betracht, die nach Verbreitung und Adressatenkreis zumindest ähnliche Werbeeffekte versprachen; je nach beworbenem Produkt können daher kleinere Sender ausscheiden (oben 1.). Diese Wahrscheinlichkeit unsachlicher (eigennütziger) Entscheidungen ist in den Einzelfällen nachzuweisen. Vor allem kann die Wahrscheinlichkeitsfeststellung nicht durch generelle Vermutungen über den Einfluss von Rabatten auf die Auftragserteilung ersetzt werden.56 Es gilt auch insoweit der Grundsatz "in dubio pro reo". Im Ergebnis kann also nicht schon eine generell vermutete Anreizwirkung von hohen Rabatten die abstrakte Gefahr sachwidriger Entscheidungen über den Werbe(zeit)einkauf begründen. Vielmehr ist unlauter eine Kaufentscheidung nach herrschender Meinung in Anlehnung an die neue Bewertung durch das UWG erst, wenn im Einzelfall die Entscheidung rational nicht nachvollziehbar (unvertretbar) ist. Damit wird zugleich der Nachweis geführt, dass die Rabattgewährung geeignet war, eine sachwidrige Entscheidung herbeizuführen. Dasselbe Ergebnis liegt erst recht vor, wenn mit einer im strafrechtlichen Schrifttum vorherrschenden Auffassung verlangt wird, dass der (Rabatt-)Vorteil im Einzelfall nachweisbar die (Kauf-)Entscheidung motiviert oder doch beeinflusst hat.57

6. Zusammengefasst hat für die Unlauterkeit bei § 299 StGB die Wertung nach GWB (§ 1) und Art. 101 AEUV, also die kartellrechtliche Einschätzung als (vertikales) Rabattkartell, keine indizielle Bedeutung, da erstens der kartellrechtliche Wettbewerberbegriff von dem des Straftatbestandes (und des UWG, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 3) abweicht und zweitens der primäre Schutz von 55

So Berlit, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2005, Rn 119. Zutreffend Rittner/Kulka (Fn. 23), § 3 Rn 164: "genaue Prüfung der Entscheidungssituation im Einzelfall". 57 So Heine, in: Schönke/Schröder § 299 Rn 19; Kindhäuser, LPK § 299 Rn 8; Lackner/Kühl, § 299 Rn 5; Otto, Grundkurs Strafrecht – Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 61 Rn 159; Zimmer/Stetter, BB 2006, 1445 (1447); dagegen aber Tiedemann, in: LK § 299 Rn 42 mwN. 56

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Marktstrukturen in § 299 StGB (und §§ 1 ff. UWG) keine Entsprechung findet. Auch in Bezug auf die Sozialschädlichkeit erreichen allenfalls hardcore-Kartelle ("per se"-Verstöße gegen § 1 GWB und Art. 101 AEUV) und die individualschützenden Behinderungstatbestände der §§ 20, 21 GWB die Wertungsebene kriminalstrafrechtlichen Unrechts (vgl. § 240 StGB). Die hier untersuchte Praktizierung von vertikalen Rabattkartellen liegt außerhalb dieses Bereichs und stellt – zudem erst seit der 7. GWB-Novelle von Juli 2005 – bloßes Verwaltungsunrecht dar (§ 81 GWB). Sie ist auch nach kartellrechtlicher Einschätzung, die vom Bundesgerichtshof in Strafsachen geteilt wird, weniger sozialschädlich. Die Konkretisierung der Unlauterkeitsklausel des § 299 StGB erfolgt vielmehr durch das UWG (§§ 1, 3, 4), dessen zivilrechtlich-moralische Wertung aber nur bei hinreichender Anerkennung in das Strafrecht übernommen werden kann (Art. 103 Abs. 2 GG). Die grundlegende Neubewertung von Verkaufsförderungs- und Kundenbindungssystemen seit Aufhebung des Rabattgesetzes im Jahre 2001 und Neufassung des UWG im Jahre 2004 führt dazu, nur noch besonders schwerwiegende Eingriffe in den Wettbewerb als unlautere Behinderung anzusehen. Hierzu zählen Mengenrabatte anerkanntermaßen von vornherein nicht, da sie auftrags- und leistungsbezogen sind. Aber auch die kartellrechtlich bedenklichen Treuerabatte, die zur Verfestigung von Marktanteilen und Abschottung des Marktes gegenüber Newcomern führen können, werden vom UWG als grundsätzlich nicht leistungsfremd eingestuft und nur ausnahmsweise als unlauter gewertet, wenn die Art oder Höhe der Rabattgewährung geeignet ist, eine rationale Entscheidung auszuschließen, insbesondere keine Konkurrenzangebote mehr zu berücksichtigen. Dies kann nicht allein aus der Höhe der Rabatte geschlossen werden. Auch strafrechtlich entspricht – in Bestätigung unseres Zwischenergebnisses oben II. - das Kriterium der evidenten Unsachlichkeit (Unvertretbarkeit) der Entscheidung des Beauftragten der herrschenden Ansicht im neueren Schrifttum zu Kundenbindungsprogrammen. Auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen, die in § 299 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt sieht, ergibt sich als Schlussfolgerung, dass vor allem mit Blick auf die grundlegende Neuorientierung des UWG als unlauter nur noch eine Rabattgewährung und – inanspruchnahme bezeichnet werden kann, die im Einzelfall eine sachwidrige Entscheidung überwiegend wahrscheinlich macht. Dieses prognostische Gefahrurteil wird im Strafverfahren am ehesten aus der nachträglichen Feststellung der eindeutigen Unvertretbarkeit der einzelnen Entscheidungen zu schließen sein. Dabei gilt, wie stets, der Grundsatz in dubio pro reo.

Zur Strafbarkeit des Arztes beim „off-label-use“ von Medikamenten KLAUS ULSENHEIMER

I. Begriffliche Klarstellungen Unmissverständlich und plakativ formuliert das Arzneimittelgesetz (AMG) in § 1 seinen Schutzzweck, „im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung ... für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln“, insbesondere für deren „Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit“ Sorge zu tragen. Dieser Zielsetzung dient vor allem die – als Folge der Contergan-Katastrophe - 1976 ins Gesetz eingeführte Zulassungspflicht für Arzneimittel, die ihren Niederschlag in einem aufwändigen Prüfverfahren (§ 21 ff AMG) gefunden hat. In diesem wird – inhaltlich begrenzt auf den Zulassungsantrag des pharmazeutischen Unternehmers – über die Verkehrsfähigkeit des Medikaments entschieden, die „eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der konkreten Therapie“ zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen bedeutet,1 d.h. diese haben insoweit die Behandlungskosten des gesetzlich versicherten Patienten zu zahlen. Weicht nun der Arzt bei seiner Verordnung/Verschreibung oder der Anwendung des Arzneimittels vom Inhalt der Zulassung ab, spricht man von einem „off-label-use“, d.h. der Nutzung eines Arzneimittels außerhalb des von der zuständigen Behörde (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) genehmigten Gebrauchs.2 Der Begriff „off-label-use“ ist also auf die Fälle beschränkt, in denen jedenfalls irgendeine Zulassung, sei es nach deutschem, europäischem oder sonstigem Recht, vorliegt. Dabei kann dieser „zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels“3 sich auf die Indikation, die Dosierung, das Alter, Kontraindikationen oder die konkrete Darreichungsform beziehen. Teilweise ist die Begriffsbestimmung aber auch enger, indem man darunter nur die Anwendung eines Präparates versteht, „das in Deutschland aufgrund einer Zulassung verkehrsfähig ist“, d.h. 1

BGH GesR 2007, 311, 312 = NJW 2007, 2767, 2768. Schweim/Behles, Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 46 (2003), 499; von Harder, Arzt & Recht 2007, 99 ff. 3 BSGE 89, 184, 186. 2

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eine nationale Zulassung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte oder eine EU-Zulassung hat, und nun „in einer anderen Indikation als der zugelassenen zum Einsatz kommen soll“.4 Besteht dagegen für das verordnete oder verabreichte Arzneimittel keinerlei Zulassung, spricht man meist von einem „unlicensed use“, wobei im einzelnen die Begriffsbestimmungen allerdings mangels einer gesetzlichen Definition variieren.5 Die rechtliche Problematik des off-label-use ist in den vergangenen Jahren – ausgelöst wohl durch die zunehmenden Finanznöte der gesetzlichen Krankenkassen und ihre daraufhin verschärften Kontrollen der Arzneimittelausgaben – verstärkt in den Blickpunkt von Rechtsprechung und Literatur getreten. Im Mittelpunkt standen dabei Fragen der Erstattungspflicht, mit denen das Bundessozialgericht sich in seiner Grundsatzentscheidung vom 17.3.20026 eingehend und danach wiederholt befasst hat.7 Aber auch das Bundesverfassungsgericht8 und der BGH in Zivil- und Strafsachen9 haben sich mit dem Problem des zulassungsüberschreitenden Einsatzes von in Deutschland (noch) nicht zugelassenen Arzneimitteln schon beschäftigt. Die unterschiedlichen Gerichte und Gerichtszweige machen deutlich, dass es bei dieser Problematik rechtlich um ganz verschiedene Fragestellungen geht, die teils das Haftungs- und Arzneimittelrecht, teils das Verfassungs- und Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung betreffen. Mit meinen Ausführungen zu Ehren der Jubilarin und zur Erinnerung an die gemeinsamen Assistentenjahre bei Prof. Geilen in Bochum möchte ich aus dem weiten Feld aktueller und praktisch wichtiger Fragen zum off-label-use ein Teilgebiet herausgreifen, das bislang nur relativ wenig behandelt wurde: die Strafbarkeit des off-label therapierenden Arztes.

II. Zu prüfen ist zunächst die arzneimittelrechtliche Sanktionsnorm des § 96 Nr. 5 AMG. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, „wer entgegen § 21 Abs. 1 Fertigarzneimittel ... ohne Zulassung ... in 4

Walter, AZR 2007, 113, 115. Siehe dazu die Nachweise bei Weber, „off-label-use“, 2009, 21 ff, 50 f. 6 BSGE 89, 184 ff. 7 BSG GesR 2007, 24 ff; GesR 2004, 322; LSG Bayern, GesR 2007, 206 ff.; Zur Rechtsprechungsentwicklung im Bereich des Sozialrechts siehe Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2004, 655 ff. 8 BVerfG GesR 2006, 72; 09, 104. 9 BGH NJW 2007, 2767 ff; BGH NStZ 1996, 34 f. mit Anm. Ulsenheimer S. 132 f. 5

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Verkehr bringt“, wobei subjektiv Vorsatz vorausgesetzt wird, während § 97 Abs. 1 AMG die fahrlässige Begehungsweise als Ordnungswidrigkeit qualifiziert. Der Anwendungsbereich dieser Strafvorschrift, die durch ihren Verweis auf § 21 Abs. 1 AMG eine Blankettnorm darstellt, ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. 1. Der überwiegende Teil der Autoren lehnt ihre Anwendbarkeit auf den Arzt ab. Soweit eine Begründung hierfür erfolgt, wird überwiegend auf die ärztliche Therapiefreiheit verwiesen, die durch arzneimittelrechtliche Regelungen nicht eingeschränkt werden dürfe, und zum anderen geltend gemacht, dass die Zulassungsregelungen der §§ 21 ff AMG sich ausschließlich an den Arzneimittelhersteller wenden. Die Vorschrift des § 96 Nr. 5 AMG sei daher ein strafrechtliches Sonderdelikt, das an die Herstellereigenschaft anknüpfe und deshalb den Arzt als tauglichen Täter ausschließe.10 Die Begründung der herrschenden Lehre überzeugt nicht. Dies folgt m. E. zwingend aus dem Wortlaut und Schutzzweck des § 96 Nr. 5 AMG. Adressat dieser Bestimmung ist der namenlose „Wer“, also nicht nur der pharmazeutische Unternehmer, der Hersteller oder Distributeur, sondern jeder, der die in § 21 Abs. 1 AMG festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, nämlich Fertigarzneimittel ohne Zulassung in Verkehr bringt. Vergegenwärtigt man sich außerdem den Schutzzweck des § 96 Nr. 5 AMG, die Arzneimittelsicherheit durch objektive Prüfung der Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit des Arzneimittels vor seinem Gebrauch zu Heilzwecken zu gewährleisten und damit die Bevölkerung vor unbekannten Risiken so weit wie möglich zu schützen, ist der Adressatenkreis dieser Norm mit Recht weit gefasst und nicht auf bestimmte Personen(gruppen) beschränkt. Verhindert werden soll die Bedrohung der Arzneimittelsicherheit durch den Einsatz ungeprüfter, bedenklicher Arzneimittel,11 ohne dass es darauf ankommt, von wem diese Gefährdung ausgeht. Auch Privatpersonen – nicht nur Ärzte und Apotheker - können deshalb gegen das Verbot des § 96 Nr. 5 AMG verstoßen, wenn sie ihre Verfügungsgewalt an einem bedenklichen Arzneimittel weiterübertragen und dadurch die Arzneimittelsicherheit un-

10 Fegert/Hessler/Rothärmel, Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 9 (1999), 60, 70; Giesen, JR 1991, 464; Rosenau, RPG 2002, 94, 95; Bruns/Herz, Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 46 (2003), 477, 479; Broglie/Dorn, Der Internist 2004, M24 f; Rigizahn, JR 1976, 72, 73; Wartensleben, Der Arzt und sein Recht 1997, 3. 11 So mit Recht Weber, a.a.O., S. 97.

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tergraben.12 Auf spezielle Fachkenntnisse oder Erfahrungen mit Arzneimitteln kommt es dafür nicht an. 2. Die Tatsache, dass § 96 Nr. 5 AMG auch Ärzte erfaßt, bedeutet aber nicht, dass jeder ärztliche off-label-Einsatz eines Medikaments strafbar ist.

a. Wie vom Bundessozialgericht zutreffend hervorgehoben wird, besteht zwischen dem „gänzlichen Fehlen der Zulassung“ und der Verwendung eines „bereits im Handel befindlichen Medikaments außerhalb des Zulassungsrahmens ein rechtlich bedeutsamer Unterschied“, der auch für die Auslegung des § 21 Abs. 1 AMG Konsequenzen haben muss.13 Der Einsatz „eines gar nicht zugelassenen Arzneimittels“ ist strafbar,14 weil in diesem Fall jedwede Qualitätskontrolle fehlt, die Behandlung daher „mit einem unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden behaftet“ ist und der Gesetzgeber gerade zu deren Verhinderung das Inverkehrbringen eines Arzneimittels „ohne Zulassung“ unter Strafe gestellt hat. Anders ist dagegen die Sachlage beim off-label-use im Sinne der eingangs festgelegten Begriffsbestimmung. Danach wird „ein bereits im Handel befindliches Medikament außerhalb des Zulassungsrahmens verwendet“, seine „pharmakologisch-toxikologischen Eigenschaften“ wurden zunächst im Tierversuch und sodann im Rahmen einer klinischen Prüfung am Menschen geprüft und dokumentiert,15 so dass „zumindest die Basis für eine ausreichende Arzneimittelsicherheit geschaffen und damit einem Grundanliegen des Arzneimittelgesetzes Rechnung getragen“16 ist. Im Gegensatz zu abweichenden Stellungnahmen im Schrifttum17 ist daher die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Präparats nicht gleichzusetzen mit dessen Inverkehrbrin-

12 Vgl. Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel – eine Kommentierung zu § 5 AMG, Diss. jur. Berlin, 1991, S. 38; Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, Kommentar, Loseblattausgabe, 3. Aufl., Stand: Oktober 2007, Stuttgart 2008, § 5 Anm. 6; Weber, a.a.O., S. 96 ff klammert Privatpersonen allerdings aus, da ihnen die nötigen „besonderen Kenntnisse im Umgang mit Arzneimitteln“ fehlten; Hennies im Ergebnis ebenso, ohne allerdings ausdrücklich auf § 96 Nr. 5 AMG Bezug zu nehmen, Arztrecht 1996, 95, 96. 13 BSG NJW 2003, 460, 462. 14 Es sei denn, es greift ein Rechtfertigungsgrund, z.B. § 34 StGB ein. 15 BSG NJW 2003, 460, 462. 16 BSG a.a.O., 462. 17 Siehe Weber, a.a.O., S. 98 ff.

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gen „ohne Zulassung“ und erfüllt insoweit nicht den Tatbestand des § 96 Nr. 5 i.V.m. § 21 Abs. 1 AMG. Aus § 22 Abs. 1 AMG ergibt sich kein Gegenargument, da diese arzneimittelrechtliche Bestimmung die Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels näher bestimmt, der Wortlaut des § 96 Nr. 5 AMG aber, wie auch die historische Auslegung ergibt, nur auf die Zulassung durch den behördlichen Akt abstellt.18 § 22 Abs. 1 AMG konkretisiert den Zulassungsbegriff im Hinblick auf die Verkehrsfähigkeit, die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht aber im Hinblick auf den Strafrechtsschutz das ausschlaggebende Kriterium darstellt.

b. Auch das Tatbestandsmerkmal des Inverkehrbringens ist bei der ärztlichen Behandlung eines Patienten off-label nicht erfüllt. Nach der Legaldefinition in § 4 Abs. 17 AMG ist darunter „das Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe, das Feilhalten, das Feilbieten und die Abgabe an andere“ zu verstehen. Nach der arzneimittelrechtlichen Rechtsprechung und Literatur besteht jedoch Einigkeit darüber, dass „die Anwendung (Verabreichung, Injektion) eines Arzneimittels am Patienten vom Abgabebegriff ausgenommen“ und deshalb kein „Inverkehrbringen“ ist.19 Denn bei der Behandlung des Patienten geht „die tatsächliche Verfügungsgewalt am jeweiligen Arzneimittel“ nicht „auf eine andere Person“ über, wie es der Begriff des Inverkehrbringens voraussetzt.20 Die fehlende Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels, die sich aus dem „Einsatz außerhalb der durch die Zulassung festgelegten Anwendungsgebiete“ ergibt, beinhaltet demnach „nicht zugleich ein Anwendungsverbot“.21 Der Arzt ist also nicht nach § 96 Nr. 5 AMG strafbar, wenn er „bei seinen Patienten auf eigene Verantwortung ein auf dem Markt verfügbares Arzneimittel für eine Therapie einsetzt, für die es nicht zugelassen ist“.22 Auch die Aushändigung von Arzneimittelmustern an den Patienten, bei der das Präparat aus dem unmittelbaren Einwirkungs18

A. A. Weber, a.a.O., S. 100. BVerfG NJW 2000, 857, 858; ebenso NJW 2003, 460, 461; BT-Dr 3/654, S. 20 l.Sp.; OLG Stuttgart, DAZ 1967, 443; OVG Münster, NJW 1998, 847 (anders noch OVG Münster, NJW 1989, 792 f); Wols, Der Begriff der „bedenklichen“ Arzneimittel und das Verbot des Inverkehrbringens in den § 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Nr. 5 AMG, Diss. Kiel, Frankfurt a.M. 1988, S. 42; Rehmann, Arzneimittelgesetz, 3. Aufl., München 2008, § 4 Rdnr. 19; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel – eine Kommentierung zu § 5 AMG, Diss. jur. Berlin, 1991, S. 36 ff; Münchner Kommentar-Freund, § 4 AMG Rdnr. 33; Kloesel/Cyran, § 4 Anm. 57 m.w.N. 20 Siehe Fn 15. 21 BSG NJW 2003, 460, 461. 22 BSG NJW 2003, 460, 461. 19

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und Kontrollbereich des verantwortlichen Arztes auf den Patienten übertragen wird, ist kein „Inverkehrbringen“. Denn § 96 Nr. 5 i. V. m. § 21 Abs. 1 AMG stellt nicht die individuelle Weitergabe des Arzneimittels an einen Patienten, sondern die unkontrollierte Überlassung eines Arzneimittels an einen unbestimmten Personenkreis aus Gründen der Arzneimittelsicherheit unter Strafrechtsschutz.23

c. Zusammenfassend ist somit festzustellen: Der Arzt darf bei der Krankenbehandlung „keine dem Patienten schädlichen Heilmittel verwenden und wissentlich keine völlig wirkungslosen Heilmittel verabreichen“,24 wohl aber eigenverantwortlich ein zugelassenes Arzneimittel außerhalb des im Zulassungsantrag festgelegten bestimmungsgemäßen Gebrauchs „off-label“ einsetzen, ohne dadurch den objektiven Tatbestand des § 96 Nr. 5 AMG i. V. m. § 21 Abs. 1 AMG zu verwirklichen. Auch der BGH hat dies in einem vor drei Jahren entschiedenen Fall, bei dem es um ein zwar nicht in Deutschland, wohl aber in einigen anderen europäischen Staaten zugelassenes Arzneimittel ging, eindeutig bestätigt: „Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber noch nicht zugelassenen Medikament wird durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten. Seine Zulässigkeit ist deshalb arzthaftungsrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen“.25 Das OLG Köln hat sogar vor fast 20 Jahren eine entsprechende Rechtspflicht zum off-label-use bejaht, wenn keine andere Therapie zur Verfügung steht, der Einsatz des nicht zugelassenen Arzneimittels (Aciclovir gegen Herpesenzephalitis) „gängige Praxis“, seine Wirksamkeit nachgewiesen und bislang keine wesentlichen Nebenwirkungen eingetreten waren.26 Dass in einigen medizinischen Fachbereichen bei einzelnen Krankheitsbildern der off-label-use unverzichtbar und deshalb zulässig ist, das Arzneimittelgesetz also die therapeutische Freiheit des Arztes nicht

23 Lohse, Strafrechtliche Grenzen ärztlicher Behandlung und Forschung, Diss. jur., Berlin 2003, S. 102; Schmidt-Elsaeßer, Medizinische Forschung an Kindern und Geisteskranken, Zur Strafbarkeit von Forschungseingriffen an Einwilligungsunfähigen, Diss. jur. Kiel, Frankfurt a.M. 1987, S. 147, Fn 102; Fritz, Die Therapie mit einem innovativen Medikament vor seiner Zulassung, Diss. jur. Köln, Aachen 1999, S. 71; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, S. 37 Fn 102; a.A. Weber, off-label-use 2009, S. 104 f. 24 OLG München, VersR 1991, 471, 473. 25 BGH GesR 2007, 311, 312. 26 VersR 1991, 186, 188 mit kritischer Anmerkung von Deutsch. Unter diesen Voraussetzungen wäre das Handeln des Arztes auch nach § 34 StGB gerechtfertigt.

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einschränkt, zeigt im Übrigen auch die medizinische Wirklichkeit in der Onkologie und Pädiatrie.27

III. Die mangelnde Strafbarkeit des Arztes nach dem Arzneimittelgesetz wegen eines off-label-use bedeutet aber nicht zugleich auch aus haftungsrechtlicher Sicht einen „Freibrief“. Festzuhalten ist lediglich, dass „allein die Verabreichung“ eines in der BRD nicht zugelassenen Medikaments „noch keinen Behandlungsfehler“ darstellt.28 Ansonsten aber gelten, wie der BGH mit Recht betont, die „allgemeinen Grundsätze“, zu denen die Einhaltung des medizinischen Standards, die ärztliche Therapiefreiheit und die Einwilligung des Patienten in die Behandlung nach vorheriger ordnungsgemäßer Aufklärung gehören. Eine Verletzung der diesbezüglichen Pflichten des Arztes führt für den Fall von Fahrlässigkeit zur Strafbarkeit wegen §§ 223, 229 StGB bzw. § 222 StGB (und zur zivilrechtlichen Haftung).

1. Der Sorgfaltsmaßstab, an dem das ärztliche Verhalten als sachlich richtig bzw. vertretbar oder als objektiv pflichtwidrig und damit unvertretbar gemessen und dessen Nichteinhaltung daher als Behandlungsfehler qualifiziert wird, ist der fachärztliche Standard. Dieser Begriff stimmt mit dem ebenfalls oft gebrauchten Terminus „Stand der medizinischen Wissenschaft“ überein und wird inhaltlich als das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlich befähigten Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können umschrieben. Zwei Elemente bilden also den Standard: zum einen die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse und Erfahrungen und zum anderen die Anerkennung dieses Wissensstandes in der Praxis durch die maßgeblichen Fachkreise.29 Die Behauptung, der off-label-use entspreche „definitionsgemäß nicht dem Standard“,30 ist vor diesem allgemein in Rechtsprechung und Literatur anerkannten Hintergrund unrichtig, vielmehr ist zu differenzieren: Der „Standard“ ist ein das Haftungsrecht bestimmender Begriff, der Terminus „off-label-use“ dagegen bezieht sich zunächst allein auf das Arzneimittelge27

DÄBl. 2009 (Jg. 106), 210; Ufer, Klinische Onkologie 2009/2010, 23 ff. BGH GesR 2007, 311, 312. 29 Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rdnr. 18 m.w.N. 30 Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 60 Rdnr. 20, S. 740. 28

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setz und hier auf die Zulassung. Wenn ein Präparat zugelassen ist, indiziert dies seine Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit und stellt daher eine Art „Gütesiegel“31 dar, das einen Vertrauenstatbestand schafft, wonach die Nutzen-Risiko-Bilanz aufgrund der vom Hersteller geführten Nachweise und der Prüfung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) positiv zu bewerten ist. Fehlt dieses behördliche „Attest“, muss der Arzt, um den Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit auszuräumen, selbst den off-label-use rechtfertigen, d.h. dartun, dass „die verantwortungsvolle medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile“ der offlable-Medikation „und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten“32 zu einem günstigen Ergebnis führt. Die Hürden dafür liegen hoch. Denn diese Beurteilung und Entscheidung „darf kein einmaliger Vorgang bei Beginn der Behandlung“, sondern muss ein kontinuierlicher Überprüfungsprozess sein, in dem neue Erkenntnisse über mögliche Risiken und Nebenwirkungen berücksichtigt werden müssen.33 Dabei muss der Arzt „unverzüglich Kontrolluntersuchungen vornehmen“, wenn sich Anhaltspunkte für „nach Art, Ursache und Umfang“ noch unbekannte Risiken ergeben, die „zu schweren Gesundheitsschäden führen können“.34 Unabhängig davon müssen zur Vermeidung eines Behandlungsfehlers die im Behandlungszeitpunkt vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen mit dem off-label eingesetzten Präparat durch Studien, Fallberichte, Fallsammlungen u.a. seine positive Wirkung belegen, nur unbedeutende Nebenwirkungen anzeigen und namhafte Fachleute seine Anwendung empfehlen, so dass die Annahme eines voraussichtlich überwiegenden Nutzens des off-label-Einsatzes berechtigt und ein Pflichtverstoß auszuschließen ist. Gibt es daneben eine bereits zum medizinischen Standard gehörende Therapie, muss dieser Nachweis „besonders sorgfältig“35 geführt werden, doch dürfte dieser erhöhte Sorgfaltsmaßstab auch dann gelten, wenn keine Behandlungsalternative besteht, der off-label-use also eine ultima ratio darstellt. Ist diese wissenschaftlich akzeptiert und liegen dafür hohe praktische Erfahrungswerte oder gar Evidenz vor, kann ein off-lable-use dem fachärztlichen Standard entsprechen und damit verbindlich sein,36 wofür es in der Pädiatrie und bestimmten Bereichen der Onkologie zahlreiche Beispiele gibt. Denn der medizinisch-pharmazeutische Fortschritt ist oftmals schneller 31

BGH NStZ 1996, 34. BGH GesR 2007, 311, 312; siehe auch NJW 2007, 2774, 2775. 33 BGH GesR 2007, 311, 313. 34 BGH GesR 2007, 311, 313. 35 BGH GesR 2007, 311, 312. 36 Siehe OLG Köln, VersR 1991, 186 ff. 32

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als der arzneimittelrechtliche Zulassungsstand, und außerdem hängt der Umfang der von den Unternehmen beantragten Zulassung auch von deren wirtschaftlichen und strategischen Erwägungen ab. Daraus folgt zugleich, dass der Patient im konkreten Behandlungsfall sogar einen Anspruch auf den off-label-use haben und dessen Versagung einen Behandlungsfehler darstellen kann. Denn die Therapie des Arztes hat sich nach dem „Stand der Wissenschaft“ zu richten und nicht nach den Zielsetzungen des jeweiligen pharmazeutischen Unternehmers. Liegt der off-label-use dagegen außerhalb des Standards, entfällt ein Anspruch des Patienten und damit die Rechtspflicht des Arztes zu entsprechender Behandlung.37

2. Fehlt die wissenschaftliche Fundierung und Anerkennung in der Praxis, bedeutet der Einsatz des zugelassenen Präparats außerhalb seines Zulassungsbereichs in einem einzelnen Behandlungsfall einen sog. „Heilversuch“. Dieser ist im Gegensatz zum klinischen Experiment durch die therapeutische Absicht geprägt, dem Patienten trotz einer Ungewissheit über die Auswirkungen und Folgen des zulassungsüberschreitenden Medikamenteneinsatzes eine Heilungsmöglichkeit zu bieten. Die „fehlende Zulassung verbietet nicht den therapeutischen Einsatz eines Arzneistoffes im Heilversuch“.38 Denn die Therapiefreiheit erlaubt dem Arzt, „unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften, nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen im Einzelfall mit seinen Eigenheiten diejenigen medizinischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den aufgeklärt einwilligenden Patienten erwarten lassen“.39 Die Wahl der Behandlungsmethode ist also primär Sache des Arztes,40 sie ist seine höchstpersönliche Entscheidung innerhalb eines rechtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraums.41 Sie belässt dem Arzt einen von ihm zu verantwortenden Risikobereich im Rahmen der Regeln der ärztlichen Kunst.42 Das Recht beschränkt sich durch die Forderung, „alle bekannten und medizinisch gebotenen Sicherungsmaßnahmen anzuwenden“,43

37

LG Nürnberg-Fürth, Arztrecht 2007, 22; OLG Nürnberg, ZGMR 2006, 147. Hart, MedR 1991, 300, 305. 39 Laufs, in: FS Deutsch, 1999, S. 626. 40 BGH NJW 1982, 2121, 2122. 41 Weissauer, Anästhesiologie & Intensivmedizin 1994, S. 205. 42 BGHSt 37, 385, 387. 43 BGH NJW 2007, 2774 38

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lediglich auf eine „Grenzkontrolle“.44 um „eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung zu gewährleisten“.45 Nur die Überschreitung des erlaubten Risikos ist ein Sorgfaltspflichtverstoß, da ohne medizinische Forschung und klinische Prüfungen, ohne Heilversuche und damit das Eingehen gewisser Risiken medizinischer Fortschritt nicht möglich ist. Damit es nicht zu einem Stillstand der Medizin kommt, hat die Rechtsprechung daher von jeher dem behandelnden Arzt die Therapiefreiheit zuerkannt und ihm in medizinischen Fragen einen gewissen Freiraum eingeräumt.46 Dieser wird vom Arzt genutzt, wenn er „eine neue und nicht allgemein eingeführte Behandlung mit einem neuen, in der BRD noch nicht zugelassenen Medikament mit ungeklärten Risiken“ anwendet,47 doch müssen die dargelegten Kautelen eingehalten und der Einsatz medizinisch vertretbar sein. Ist dies nicht der Fall, trifft den Arzt die zivil- und strafrechtliche Verantwortung für eventuelle Komplikationen mit gesundheitlichen Schäden beim Patienten oder gar dessen Tod (§§ 223, 229, 222 StGB).

3. Zum Zusammenspiel von Sorgfaltspflicht, Standard, Methodenfreiheit und zulassungsüberschreitendem Gebrauch eines Arzneimittels ein praktisches Beispiel aus jüngster Zeit: 14 bis 25% der 65- bis 74-jährigen und 35% der über 74-jährigen, insgesamt fast 500.000 Personen leiden in der BRD an der sog. altersassoziierten Makuladegeneration (AMD), die durch verzerrtes Sehen und den Verlust der Sehschärfe und des Farbsinns gekennzeichnet ist. Seit dem 22.1.2007 ist das Medikament Lucentis zur Behandlung der feuchten AMD durch die Europäische Kommission zugelassen. Wegen des deutlichen Preisunterschiedes setzen viele Augenärzte, gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium und die Krankenkassen, das Medikament Avastin, das die Zulassung zur intravenösen Therapie von Darm- und Brustkrebs sowie kleinzelligem Lungenkarzinom hat, außerhalb dieser Indikationen, also offlabel bei der AMD ein. Denn nach einigen retrospektiven und zwei prospektiven Studien hat auch Avastin Verbesserungen der Sehschärfe bewirkt. 48 Kontrollierte klinische Studien für die Anwendung von Avastin zur Behandlung der feuchten AMD fehlen jedoch ebenso wie Langzeitdaten über seine Wirksamkeit und Toxizität in der Netzhauttherapie. Bei dem üblichen, 44

Schreiber, Langenbeck’s Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 364 (1984), 296. BGH NJW 2007, 2774. 46 RGSt 67, 12, 22; BGH NJW 1991, 1536. 47 BGH GesR 2007, 311, 314. 48 PKV Publik 2007, 92. 45

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mehrmaligen Gebrauch des Arzneimittels off-label besteht ferner die Gefahr der Kontamination durch Gefährdung der Sterilität und außerdem ein erhöhtes Risiko für thromboembolische Vorfälle. Weltweit liegt, soweit ersichtlich, keine Zulassung für die Anwendung von Avastin in der Augenheilkunde vor, und auch der gemeinsame Bundesausschuss hat keine entsprechende Empfehlung verlautbart. Die Herstellerfirma von Avastin hat darüber hinaus nicht nur keine Absicht, eine Zulassung für die Behandlung der feuchten AMD zu beantragen, sondern hat in einer Presseinformation Anfang 2009 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in Kanada 25 Fälle „unerwünschter Ereignisse“ nach der nicht zugelassenen intravitrealen Anwendung von Avastin49 aufgetreten seien (Augenirritation, Fotophobie, verschwommenes Sehen u.a.), ohne dass allerdings die Kausalitätsfrage abschließend geklärt sei. Angesichts dieser Unsicherheiten geht der Arzt, der ohne wissenschaftliche Absicherung Avastin zur Behandlung der AMD einsetzt, ein nicht unerhebliches Strafbarkeitsrisiko ein. Denn bislang unbekannte Risiken und Nebenwirkungen des off-label-Einsatzes von Avastin erscheinen möglich, so dass diese Behandlungsmethode außerhalb des medizinischen Standards „ein vorsichtiger Arzt“ – der rechtlich entscheidende Sorgfaltsmaßstab – nicht verantworten kann, zumal ein zugelassenes Präparat mit weniger Risiken und höheren Erfolgschancen vorhanden ist. Die „verantwortliche medizinische Abwägung“ muss unter diesen Umständen zugunsten von Lucentis ausgehen, auch wenn dieses erheblich teurer ist. Wenn und soweit die Gefahr unbekannter Nebenwirkungen besteht, mahnt die Rechtsprechung zu besonderer Vorsicht und gestattet den off-label-use „nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung“.50 Der Arzt ist daher nicht berechtigt, auf die Anwendung des zugelassenen teureren Arzneimittels (Lucentis) mit geringerem Nebenwirkungsrisiko zu verzichten, wenn für dasselbe Krankheitsbild ein zwar kostengünstigeres, aber eben mit höherer Unsicherheit belastetes Mittel (Avastin) im Rahmen einer zulassungsüberschreitenden Anwendung zur Verfügung steht. Ökonomische Aspekte schlagen in dieser medizinischen Risiko-Nutzen-Abwägung nicht durch,51 so dass der offlabel-Einsatz von Avastin als strafbar zu qualifizieren ist, wenn dadurch ein Gesundheitsschaden verursacht wird und auch die übrigen Deliktsvoraus-

49

Roche Pharma AG, Rote Hand-Brief vom 9.2.2009. Behle, PharmR 2008, 42. 51 Koenig/Müller, MedR 2008, 190, 196; Kullmann/Pfister, Produzentenhaftung 3800, 53. Erglfg. IV/03, S. 32; Besch, Produkthaftung für fehlerhafte Arzneimittel, 2000, S. 58; anders: SG Düsseldorf, Urteil vom 2.7.2008, Az. S 2 KA 181/07 – siehe dazu Ulsenheimer, in: Gesellschaftspolitische Kommentare – gpk 2009, Nr. 4, S. 19 ff – Der Fall „Lucentis/Avastin“ – Kein Beispiel für „Rechtsfortbildung“. 50

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setzungen gem. § 223, 229 StGB, möglicherweise sogar §§ 223, 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegeben sind.

4. Außer der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für einen Behandlungsfehler kommt beim off-label-Einsatz eines Medikaments auch der Aufklärungsmangel als strafbarkeitsauslösender Tatbestand nach §§ 223, 229 StGB in Betracht. Denn da der Patient selbstverständlich mit der „off-labelTherapie“ einverstanden sein muss, setzt seine wirksame Einwilligung eine umfassende Aufklärung voraus.

a. Für diese gelten zum einen die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich Umfang, Risiken, mögliche Komplikationen, Tragweite und Bedeutung des Eingriffs (Medikamenteinsatzes), Erfolgsaussichten, Behandlungsalternativen, ihren Vor- und Nachteilen, Folgen bei Ablehnung, Notwendigkeit und Dringlichkeit der Behandlung. Im Aufklärungsgespräch sind somit u.a. Informationen über eingriffsspezifische Risiken52 zu geben, etwa eine erhöhte Infektionsgefahr (im Falle Avastin besteht typischerweise ein erheblich gesteigertes Kontaminierungs- und Infektionsrisiko aufgrund der üblichen Mehrfachentnahme, da Avastin kein Konservierungsmittel enthält), ferner der Hinweis auf das Fehlen von Langzeitergebnissen und statistischer Absicherung, die Möglichkeit „unbekannter Risiken“ und die vorhandene Alternative eines indikationsspezifisch zugelassenen Arzneimittels.

b. Darüber hinaus bestehen besondere Aufklärungspflichten aufgrund des zulassungsüberschreitenden Einsatzes des Arzneimittels. Dazu gehört der Hinweis, dass die Prüfung der Verträglichkeit und Wirksamkeit des Präparats durch den Hersteller für die hier in Rede stehende Indikation (Dosierung, Darreichungsform, Patientengruppe) nicht erfolgt ist, also das „Gütesiegel“ der staatlichen Prüfinstanz und damit der Vertrauen schaffende Tatbestand der Zulassung fehlt.53 Denn die mangelnde Zulassung für die konkrete Therapie ist – unabhängig von ihrer tatsächlichen „Qualität und Sicherheit“54 - ein aufklärungspflichtiger Umstand, da der behördliche Akt 52

BGH NJW 2005, 1715, 1717 mwN; NJW 2006, 2108 ff; NJW 2007, 217, 218. BGH NStZ 1996, 34; BGH GesR 2007, 311, 314. 54 BGH NStZ 1996, 34. 53

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der Zulassung „für die Entscheidung des einzelnen Patienten im Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes wesentlich sein kann“.55

c. Gesetzlich versicherten Patienten muss der Arzt ferner deutlich machen, dass nach der Rechtsprechung des BSG der off-label-use „grundsätzlich“, d.h. von engen Ausnahmen abgesehen (schwere, lebensgefährliche Erkrankung des Patienten, ultima ratio der off-label-Therapie, Zulassung aufgrund positiver Studien zu erwarten), nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden darf56. Auch gegenüber Privatpatienten wird die Frage der Kostenübernahme der off-label-Behandlung im Rahmen der wirtschaftlichen Aufklärung anzusprechen sein.57

d. Ein weiterer aufklärungspflichtiger Umstand ergibt sich daraus, dass nach Ansicht des BSG die Haftung des Herstellers für das Arzneimittel nach § 84 AMG auf dessen Anwendung im zugelassenen Indikationsgebiet beschränkt ist. § 84 AMG stellt allerdings auf den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ ab, zu dem auch die Ausweitung des Indikationsbereichs gehören kann, wenn der Hersteller dies duldet, billigt oder sogar fördert.58 Fehlt aber das Einvernehmen des Arzneimittelherstellers (wie z.B. im Fall Avastin, in dem der Hersteller eindringlich vor der nicht zugelassenen Anwendung von Avastin warnt),59 entfällt die Gefährdungshaftung des Herstellers des verordneten Medikaments und damit ein wichtiger Haftungsschuldner, so dass der Patient hierüber zu informieren ist.60

55

BGH NStZ 1996, 34. BSG 89, 184, 186; 93, 1 ff; 236, 248. 57 Broglie, Gebfra 2006, 443; Auf die diffizilen Probleme, die sich daraus ergeben können, dass der Patient finanziell nicht in der Lage ist, die Kosten des medizinisch gebotenen offlabel-use zu tragen, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen – siehe dazu Ulsenheimer, FS Kohlmann, 2003, S. 319, 320 ff. 58 Kozianka/Hußmann, PharmaR 2006, 487, 488; Kloesel/Cyran, AMG, § 84 Anm. 23; aA Broglie, Gebfra 2006, 443; Ludwig, DÄBl 2006, A901 59 Siehe auch Schweim, Gesellschaftspolitische Kommentare 2009, Nr. 2, S. 1, 3. 60 So auch Dierks, Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 2003, 458, 460; Kozianka/Hußmann, a.a.O., 488; Sander, AMG, § 84 Anm. 13; Kloesel/Cyran, AMG, § 84 Anm. 23. 56

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IV. Dass die Verletzung der Aufklärungspflicht zur Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger, möglicherweise sogar wegen vorsätzlicher Körperverletzung, qualifiziert durch die Tatbestände der §§ 226 und 227 StGB führt, ist keineswegs eine „Rarität“.61 Dies gilt trotz der auch im Strafrecht notwendigen Prüfung einer „hypothetischen Einwilligung“ des Patienten, hier speziell in die Verabreichung des Medikaments off-label. Dieser Einwand ist nicht nur hinsichtlich seiner dogmatischen Einordnung, sondern auch als strafrechtlich relevante Fragestellung umstritten. Puppe hält sie geradezu für „unsinnig“,62 da die Frage, ob der Patient „auch bei vollständiger Aufklärung mit der vom Arzt gewählten Behandlungsmethode einverstanden gewesen wäre“, sich nicht beantworten lasse.63 Deshalb dürfe der Grundsatz in dubio pro reo auch zugunsten des Täters (des Arztes) keine Anwendung finden; denn sonst sei jede Erfolgszurechnung in dem betreffenden Bereich unmöglich.64 Diese Argumentation überzeugt nicht, wie die Praxis der Zivil- und Strafgerichte zeigt. Da es bei der Frage der hypothetischen Einwilligung auf die individuelle Entscheidungssituation des jeweiligen Patienten ankommt, muss er vor Gericht, wenn möglich, persönlich zu der Frage angehört werden, ob er bei ordnungsgemäßer Aufklärung, insbesondere in Kenntnis der zulassungsüberschreitenden Anwendung des Medikaments und im Wissen um die Gefahr noch nicht bekannter Nebenwirkungen dieses Mittel dennoch bzw. nicht eingenommen hätte.65 Wie auch sonst bei der Vernehmung von Zeugen und Parteien sind deren „Äußerung und Begründung einer Würdigung zu unterziehen“, die erkennen lassen muss, dass die Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt aus ihrer Sicht „bei Aufdeckung des wahren Sachverhalts eine nachvollziehbare und mögliche Schlussfolgerung war (BGH NStZ 1996, 34)“.66 Dabei ist ein strenger, im Fall eines Heilversuchs „besonders strenger“67 Maßstab anzulegen, damit nicht das „Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die erhöhten Anforderungen an eine wirksame tatsächliche Einwilligung über die (vorschnelle) Annahme einer hypothetischen Einwilligung“ in den off-label-use umgangen werden.68 Zeigt die Antwort des Patienten unter Zugrundelegung seiner persönlichen 61

Siehe BGH NJW 2007, 2767, 2770. GA 2003, 764, 769. 63 Puppe, a.a.O., 769. 64 Puppe, a.a.O., 769. 65 BGH GesR 2007, 311, 315. 66 BGH JZ 2004, 800. 67 BGH NJW 2007, 2767, 2770. 68 BGH NJW2007, 2767, 2771; siehe auch BGH VersR 1998, 766, 767; VersR 1994, 1302. 62

Zur Strafbarkeit des Arztes beim „off-label-use“ von Medikamenten

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Lebens- und Behandlungssituation keinen ernsten Entscheidungskonflikt auf oder ist die Ablehnung des off-label-use plausibel, nachvollziehbar und einsichtig, sind die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung nicht gegeben, das ärztliche Handeln ist also rechtswidrig. Steht diese Antwort dagegen im Widerspruch zu dem sonstigen Verhalten des Patienten und erscheint sie deshalb unglaubwürdig, wird der Richter, wie auch sonst im Rahmen der Beweiswürdigung, eine hypothetische Einwilligung bejahen. Es bleibt ein schmaler Bereich, in dem konkrete, auf Tatsachen beruhende Zweifel bezüglich der Entscheidung des Patienten bestehen, die weder durch die Ansicht des Richters noch die eines „vernünftigen Patienten“ beseitigt werden dürfen. In diesen Fällen gilt, wie auch sonst im Strafprozess, der Grundsatz in dubio pro reo,69 d.h. zu Gunsten des Arztes ist davon auszugehen, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung – auch über den off-label-use und die Möglichkeit unbekannter Risiken – seine Einwilligung erteilt hätte, so dass die Rechtswidrigkeit der Behandlung und damit die Strafbarkeit wegen Körperverletzung entfällt. Die Behauptung, bei Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo im Rahmen der Prüfung der hypothetischen Einwilligung brauche der Arzt nichts zu befürchten, da „der Erfolg dann niemals auf dem Aufklärungsmangel beruhen“ könne,70 ist empirisch durch zahlreiche Urteile widerlegt. Es wäre ja auch merkwürdig, wenn unsere höchsten Richter dezidiert „unsinnigen“ Fragen nachgingen und deren Beantwortung sogar im Rahmen von Revisionsverfahren durchsetzten. Eine eingehendere Auseinandersetzung bezüglich der dogmatischen Einordnung dieser Rechtsfigur, ihrer inhaltlichen Voraussetzungen, ihrer Reichweite und Rechtsfolgen muss an dieser Stelle unterbleiben.71

69 BGH NStZ 1996, 34, 35; -BGH JZ 2004, 800; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rdnr. 132 b ff. 70 Puppe, a.a.O., S. 770. 71 Siehe hierzu Kuhlen, JR 2004, 227; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 439 ff; ders., JZ 2005, 713, 715; Rönnau, JZ 2004, 801, 802; Otto, Jura 2004, 679, 682; Mitsch, JZ 2005, 279, 283 f; ders., JZ 2005, 718; Paeffgen, FS Rudolphi, 2004, 208 f; Geilen, Handbuch FA Medizinrecht, Kap. 4 B Rdnr. 452 f; kritisch Gropp, Hypothetische Einwilligung im Strafrecht ?, FS F.C. Schroeder, 2006, 197 ff; für die Nichtanwendung der Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung im Strafrecht, Böcker, JZ 2005, 932; Puppe, GA 2003, 764, 767 ff; dies., JR 2004, 470 ff.

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V. „Wer heute das Verhältnis zwischen Arzt und Recht im ganzen überblickt, den beeindruckt der Zuwachs an normativen Fragen“,72 stellte Laufs am Ende seiner Tübinger Antrittsvorlesung „Arzt und Recht im Wandel der Zeit“ 1986 fest. Der off-label-use, hier ausschließlich im Hinblick auf die Strafbarkeit des Arztes betrachtet, ist ein weiterer anschaulicher Beleg für diese Tatsache: Medizin und Strafrecht – ein altes Thema in immer wieder neuer Gestalt und „zunehmender Spezialisierung“,73 geformt durch die Spruchpraxis der Gerichte, deren würdiger Vertreterin diese Festschrift gewidmet ist.

72 73

Zitiert nach Eser, Recht und Medizin 1990, 387, 412. Eser, ZStW 1985 (Bd. 97), 1 ff.

Zur Strafbarkeit des Dopings de lege lata und de lege ferenda BRIAN VALERIUS

I. Einleitung Nachrichten über Doping gehören zum Alltag der sportjournalistischen Berichterstattung. Dies gilt insbesondere im Vorfeld sowie während sportlicher Großereignisse wie der Olympischen Spiele oder Weltmeisterschaften.1 Bei vielen Sportarten, namentlich beim Radfahren, beim Gewichtheben oder in der Leichtathletik, wirft jeder Sieg oder Rekord den Verdacht auf, dass dies nicht nur auf die eigene Leistung des Sportlers zurückzuführen sei, sondern er mit medizinischen, pharmazeutischen oder in naher Zukunft auch gentechnologischen Mitteln nachgeholfen habe. Andauernde Dopingberichte und -gerüchte wirken sich nicht positiv auf das Ansehen des Sports und das Interesse der Zuschauer aus. Die Sportverbände versuchen daher – im Einzelnen mehr oder minder konsequent und mit zumeist nur mäßigem Erfolg –, unlauteres Verhalten aufzudecken und zu ahnden. Doch wird jenseits verbandsrechtlicher Konsequenzen2 für den unredlichen Sportler zunehmend erwogen, auch auf das Strafrecht zurückzugreifen. Stellvertretend darf auf den Referentenentwurf des Bayerischen Justizministeriums eines Gesetzes zur Bekämpfung des Dopings und der Korruption im Sport vom 30. November 2009 verwiesen werden.3 Er will in § 4 Abs. 1 und 2 eines vorgeschlagenen Sportschutzgesetzes (SportSG) Handlungen im Zusammenhang mit Dopingmitteln und -methoden sowie in 1 Zu erinnern bleibt beispielsweise an die deutsche Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die 2009 aufgrund verdächtiger Blutwerte für zwei Jahre gesperrt wurde und sich daher – erfolglos – gerichtlich ein Startrecht für die Olympischen Winterspiele in Vancouver im Februar 2010 erstreiten wollte. Die Auseinandersetzung fand ihren Höhepunkt Anfang März 2010, als Ermittler des Bundeskriminalamtes das Haus Pechsteins durchsuchten. 2 Eine Übersicht findet sich etwa bei Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (219 ff.). 3 Siehe: http://www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/ministerium/ministerium/gesetzgebung/entwurf_sportschutzgesetz_30112009.pdf (zuletzt abgerufen am 23.6.2010). Siehe ferner schon den Gesetzesantrag Bayerns im Bundesrat vom 13. September 2006 (BRDrucks. 658/06), der den Erlass eines Anti-Doping-Gesetzes (ADG) vorsah.

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§ 5 den „Sportbetrug“, also die Teilnahme an einem sportlichen Wettkampf in gedoptem Zustand, jeweils mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe ahnden.4

II. Strafbarkeit des Dopings de lege lata 1. Betrug Jedoch kann der Umgang mit Dopingmitteln bereits nach aktuellem Recht die Verwirklichung von Straftatbeständen bedeuten. Zu denken ist zunächst an die Vorteile, die sich der Sportler hiervon verspricht. Hiermit sind mitnichten schnellere Zeiten, größere Weiten oder stärkere Schläge gemeint. Denn beim Leistungssport stehen schon lange nicht mehr allein sportliche Leistungen im Vordergrund, sondern zunehmend wirtschaftliche Aspekte. In der kommerzialisierten Welt des Sports winken dem Athleten Antrittsgagen, Erfolgsprämien, Jackpots für Siegesserien und Sonderzahlungen für erzielte Rekorde. Als einschlägige Strafvorschrift kommt insoweit vornehmlich § 263 StGB in Betracht, so dass der gedopte Sportler ggf. auch im strafrechtlichen Sinne als „Betrüger“ zu qualifizieren wäre. Mögliche Betroffene sind die Veranstalter und Preisgeber eines Wettkampfs, die Sponsoren des Sportlers, ferner die Mitkonkurrenten sowie die Zuschauer.

a. Betrug zum Nachteil des Veranstalters Nach allgemeinen Grundsätzen zum Betrug liegt in dem Abschluss eines Vertrags die stillschweigende Erklärung, zu dessen Erfüllung fähig und willens zu sein5 – bei dem Vertrag eines Sportlers mit dem Veranstalter also, an der jeweiligen Veranstaltung teilnehmen zu können und zu wollen. Für die Startberechtigung bei offiziellen Wettkämpfen ist aber in aller Regel erforderlich, keine leistungssteigernden Mittel eingenommen zu haben. Demnach behauptet der Sportler bei Vertragsschluss zumindest konkludent, zum Zeitpunkt des Wettkampfes die bestehenden Dopingbestimmungen einzuhalten.6 Eine betrugsrelevante Täuschung gegenüber dem Veranstalter lässt sich daher ohne Weiteres bejahen. 4

Kritisch schon Kauerhof HRRS 2007, 71 (73). NK/Kindhäuser StGB, 3. Aufl. 2010, § 263 Rn. 125; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 263 Rn. 9. 6 Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 263 Rn. 35; Bruggmann/Grau PharmaR 2008, 101 (102); Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1748); Grotz SpuRt 2005, 93 (95); Heger JA 2003, 76 (80); Kargl NStZ 2007, 489 (491); vgl. auch Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (141). 5

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Bedenken kommen bei dem täuschungsbedingten Irrtum auf. Schließlich muss jeder aufmerksame Veranstalter etwa eines Radrennens davon ausgehen, dass sich die Teilnehmer ihre Leistungsstärke nicht ausschließlich auf erlaubte Weise antrainiert haben.7 Jedoch vermögen weder Leichtgläubigkeit noch Zweifel an der Ehrlichkeit des Täuschenden den Irrtum beim Betrug auszuschließen.8 Es genügt vielmehr, dass der Veranstalter die Redlichkeit des Sportlers für möglich hält und gerade aus diesem Grund über sein Vermögen verfügt.9 Die auf dem Irrtum beruhende Vermögensverfügung des Veranstalters wird zum Teil bereits im Abschluss des Vertrags gesehen, sofern der Sportler schon jetzt um seine fehlende Startberechtigung infolge Dopings weiß. Selbst ohne Vorauszahlung des Veranstalters sei in diesem Fall eine schadensgleiche Vermögensgefährdung gegeben.10 Wer dieser Ansicht etwa infolge ihrer weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit nicht zu folgen vermag,11 wird jedenfalls in der tatsächlichen Auszahlung des Antrittsgeldes die erforderliche Vermögensverfügung erblicken.12 Hierdurch entsteht ein Vermögensschaden, da es sich bei der Teilnahme des Sportlers an dem jeweiligen Wettkampf um eine höchstpersönliche Leistung handelt, deren Unmöglichkeit seinen Anspruch auf das Antrittsgeld als Gegenleistung entfallen lässt. Diese Überlegungen folgen entsprechend der Ausrichtung des Vermögensbegriffs in erster Linie wirtschaftlichen Aspekten. Sportethische Erwägungen bleiben hier außer Betracht.13 Da sich der gedopte Sportler aus dem Vermögensschaden stoffgleich und rechtswidrig bereichern will, ist schließlich auch der subjektive Tatbestand des Betrugs zum Nachteil des Veranstalters gegeben.

7 Linck NJW 1987, 2545 (2551) und MedR 1993, 55 (61) verneint daher generell eine Betrugsstrafbarkeit bei Doping; vgl. auch Schild Sportstrafrecht, 2002, S. 164 f.; Turner MDR 1991, 569 (574). 8 Lackner/Kühl (Fn. 5), § 263 Rn. 18; Rengier Strafrecht BT I, 12. Aufl. 2010, § 13 Rn. 21; Wessels/Hillenkamp Strafrecht BT 2, 32. Aufl. 2009, Rn. 510. 9 Kargl NStZ 2007, 489 (492); Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (141). 10 Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1748). 11 Nicht zu Unrecht kritisch z.B. Kargl NStZ 2007, 489 (492). 12 Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1748); Heger JA 2003, 76 (81); Kargl NStZ 2007, 489 (492). 13 So schon Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1749 f.).

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b. Betrug zum Nachteil von Sponsoren und Preisgebern Mit ähnlichen Erwägungen lässt sich ein Betrug des Sportlers gegenüber seinen Sponsoren sowie gegenüber Preisgebern bejahen, die für besondere Erfolge eine Prämie entrichten.14 Zivilrechtlich liegt das einseitige Rechtsgeschäft der Auslobung i.S. der §§ 657 ff. BGB vor, hier in der besonderen Form des Preisausschreibens gemäß § 661 BGB.15 Ein Vermögensschaden scheidet nicht etwa aus, wenn die Prämie im Fall der Aufdeckung des Dopings ohnehin an den Nächstplatzierten entrichtet werden müsste;16 solche hypothetischen Vorgänge sind schon deshalb nicht zu berücksichtigen, da sie keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der konkret vorgenommenen Vermögensverfügung aufweisen. Zudem soll die ausgezahlte Prämie in der Regel nicht dem Zweck dienen, den unredlichen (und somit überhaupt nicht teilnahmeberechtigten) Sportler zu unterstützen.17 Ob die unerlaubte Leistungssteigerung für den Sieg, den Rekord oder die sonstigen Bedingungen der Prämie kausal ist, bleibt ohne Belang. Denn Doping als solches führt zur Disqualifikation des Sportlers, unabhängig davon, ob er dasselbe Ergebnis ebenso ohne leistungsfördernde Mittel erzielt hätte.

c. Betrug zum Nachteil der Zuschauer Hingegen scheidet ein Betrug zum Nachteil der Zuschauer aus, da es hierfür zumindest an dem erforderlichen Vermögensschaden mangelt. Dessen Anspruch – aus dem Vertrag mit dem Veranstalter – richtet sich lediglich auf das Werk der „Veranstaltung“, dessen Erbringung einzelne Regelwidrigkeiten während des Wettkampfs nicht entgegenstehen. Dem Zuschauer erwachsen daher sogar bei nachgewiesenem Doping keine Ansprüche auf Rückzahlung des Eintrittsgeldes oder Schadensersatz.18 Seine Vorstellung, die antretenden Sportler seien nicht gedopt, stellt nur ein reines Affektionsinteresse dar, das keinen vermögensstrafrechtlichen Schutz genießt.

14 Eingehend zum Betrug zum Nachteil verschiedener Sponsoren Grotz SpuRt 2005, 93 (94 ff.). 15 Palandt/Sprau 69. Aufl. 2010, § 661 BGB Rn. 1; Grotz SpuRt 2005, 93 (95); Heger JA 2003, 76 (80 f.); Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (141). 16 So aber Grotz SpuRt 2005, 93 (95); siehe auch Heger JA 2003, 76 (81). 17 Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1748); Diener/Hoffmann-Holland Jura 2009, 946 (952); Kargl NStZ 2007, 489 (493); a. A. Grotz SpuRt 2005, 93 (95); Heger JA 2003, 76 (81). 18 Heger JA 2003, 76 (82); Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (145).

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d. Betrug zum Nachteil der Mitkonkurrenten Ebenso ist die Betrugsstrafbarkeit zum Nachteil der Mitkonkurrenten zu verneinen. Als problematisch erweist sich hier schon die Vermögensverfügung. An die (durch die Teilnahme des gedopten Athleten geminderte) Gewinnchance der einzelnen Konkurrenten anzuknüpfen, dürfte bereits an deren fehlender Bestimmtheit scheitern. Schließlich hängen die Erfolgsaussichten von zu vielen und häufig nicht beeinflussbaren Faktoren wie der eigenen Tagesform, dem Wetter oder der Schiedsrichterleistung ab, so dass nicht mehr von einer hinreichend konkreten Exspektanz gesprochen werden kann.19 Abzustellen bleibt daher allenfalls auf das Unterlassen der unterlegenen Konkurrenten, ihre – ihnen an sich gebührenden – Preisgelder für sich zu reklamieren. Dem wird entgegengehalten, dass der Anspruch auf das Preisgeld zuerst die Disqualifikation des gedopten Sportlers voraussetze.20 Zumindest bei einem durchgeführten (negativen) Dopingtest kann eine Vermögensverfügung, die unmittelbar zu einer Vermögensminderung führt, in der Tat kaum angenommen werden. Ein Betrug zum Nachteil der Mitkonkurrenten scheitert aber jedenfalls an der fehlenden Stoffgleichheit. Der gedopte Sportler erhält seine Prämie nämlich aus den Händen des Veranstalters bzw. Preisgebers. Dass der unterlegene Mitkonkurrent seinen etwaigen Anspruch nicht geltend macht, ist daher lediglich Voraussetzung, nicht aber die Kehrseite der erstrebten Bereicherung.21

2. Körperverletzung Außer dem Betrug kommen bei Doping insbesondere Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit in Betracht, welche durch die Einnahme oder Verabreichung leistungssteigernder Mittel aufgrund ihrer (Neben-)Wirkungen verletzt werden kann. § 223 Abs. 1 StGB erfasst allerdings nicht die Selbstverletzung, weswegen der dopende Sportler insoweit straflos bleibt. Strafbar macht sich allenfalls, wer die umstrittenen Mittel verabreicht bzw. aus sonstigen Gründen das Tatgeschehen beherrscht.22 19

Kudlich JA 2007, 90 (93); a. A. Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (143). Heger JA 2003, 76 (81); a. A. Diener/Hoffmann-Holland Jura 2009, 946 (951); Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (144). 21 Schild (Fn. 7), S. 167; Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1749); Diener/HoffmannHolland Jura 2009, 946 (951); Glauben DRiZ 2006, 308 (309); Otto SpuRt 1994, 10 (15); a. A. Kerner/Trüg JuS 2004, 140 (144). 22 Zur Abgrenzung von eigenverantwortlicher Selbstschädigung und (einverständlicher) Fremdschädigung Linck NJW 1987, 2545 (2548 f.); ders. MedR 1993, 55 (57); Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (207 ff.); siehe auch Kargl JZ 2002, 389 (392 ff.); Otto SpuRt 1994, 10 (11 ff.). 20

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a. Leistungssteigerung durch Doping Für eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung lässt sich zunächst die mit dem Doping beabsichtigte Leistungssteigerung heranziehen. Allerdings stellt die Verbesserung körperlicher Funktionen keine Gesundheitsschädigung nach § 223 Abs. 1 Var. 2 StGB dar. Von dem hierzu erforderlichen Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand der körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden Zustandes23 kann bei einem erhöhten Leistungsvermögen, einem schnelleren Muskelaufbau oder ähnlichen primären Dopingfolgen nicht ausgegangen werden. Ebenso ist hierin kaum eine körperliche Misshandlung nach Var. 1 zu erkennen. Eine Einwirkung auf das körperliche Wohlbefinden liegt nicht vor; denkbar wäre allenfalls die notwendige üble und unangemessene Behandlung, welche die physische Unversehrtheit nicht unerheblich beeinträchtigt.24 Dies setzte aber voraus, die Unversehrtheit als völlige Bewahrung des Ist-Zustandes zu verstehen und den Betroffenen vor jeglichen, selbst positiven Einflussnahmen auf den Körper schützen zu wollen. Solche unerwünschten Eingriffe zugunsten des Rechtsgutsinhabers dürften vielmehr – wegen der im Vordergrund stehenden Missachtung des Selbstbestimmungsrechts – über die Freiheitsdelikte zu ahnden sein.

b. Nebenwirkungen des Dopings Somit verbleiben als Anknüpfungspunkt für eine Körperverletzung die Nebenwirkungen, die mit Dopingmitteln häufig einhergehen. Bei der Einnahme anaboler Wirkstoffe, die dem Aufbau körpereigenen Gewebes dienen, reicht das Spektrum etwa von Bluthochdruck und Unfruchtbarkeit über psychische Veränderungen bis hin zu irreversiblen Organ- einschließlich sogar Herzschäden.25 Zudem sind in der Geschichte des Sports schon viele dopingbedingte Todesfälle bekannt geworden. Sofern negative körperliche Folgen wirklich eintreten und sich auf die Verabreichung einer leistungsfördernden Substanz zurückführen lassen – dieser Nachweis gestaltet sich freilich nicht immer unproblematisch26 –, ist

23 BGHSt 36, 1 (6); 43, 346 (354); BeckOK-StGB/Eschelbach 1. Aufl. 2010, § 223 Rn. 24; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 223 Rn. 5. 24 BGHSt 25, 277 (278); OLG München NStZ 2008, 632; BeckOK-StGB/Eschelbach (Fn. 23), § 223 Rn. 17; Fischer (Fn. 6), § 223 Rn. 3a. 25 Raschka/Zedler/Parzeller StoffR 2008, 102 (107). Siehe zu den Nebenwirkungen des Dopings auch Kargl JZ 2002, 389 (391); Kohler/Thevis/Schänzer/Püschel Rechtsmedizin 2008, 177 ff. 26 Kohler/Thevis/Schänzer/Püschel Rechtsmedizin 2008, 177 (182); Parzeller/Caldarelli/ Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (210).

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Doping als tatbestandliche Gesundheitsschädigung zu bewerten.27 Die bei ärztlichen Heilbehandlungen geführte Diskussion um einen Tatbestandsausschluss bei medizinischen Eingriffen28 stellt sich in der Regel nicht, da die Anwendung von Dopingmitteln nur selten medizinisch indiziert ist.29 Von den Qualifikationsmerkmalen der Gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 StGB kommen zudem vor allem die Tatmittel Gift oder andere gesundheitsschädliche Stoffe i.S. des Abs. 1 Nr. 1 sowie eine das Leben gefährdende Behandlung gemäß Abs. 1 Nr. 5 in Betracht.30 Darüber hinaus können schwere Folgen nach § 226 StGB eintreten, insbesondere der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit gemäß Abs. 1 Nr. 1 als Nebenwirkung anaboler Steroide.31 Nicht selten dürfte es jedoch der Fall sein, dass die Einnahme leistungsfördernder Präparate Nebenwirkungen lediglich verursachen kann, nicht aber muss. Es besteht nur die Gefahr unerwünschter Folgen, die sich ggf. bei wiederholter Einnahme des Dopingmittels exponentiell erhöht. Da es sich bei § 223 StGB um ein Verletzungsdelikt handelt, reicht die bloße Gefahr von Einwirkungen auf die körperliche Unversehrtheit zwar an sich nicht für dessen Begehung aus. Gleichwohl hat der BGH in der vergleichbaren Konstellation des medizinisch nicht indizierten Röntgens eine Strafbarkeit nach § 223 StGB bejaht. Eine Gesundheitsschädigung sei demnach auch bei Einwirkungen auf die Körperbeschaffenheit gegeben, die sich klinisch nicht oder nicht sogleich erkennen ließen; es genügten nachteilige Veränderungen im Zellbereich.32 Dies gelte ggf. nicht bei nur einmaliger, kurzzeitiger oder nur gelegentlich wiederholter Anwendung von Röntgenstrahlen, jedenfalls aber bei wiederholten Röntgenuntersuchungen, welche die Gefahr des Eintritts von Langzeitschäden nicht nur unwesentlich erhöhen.33 Auf das Doping übertragen bedeutete dies, die Verabreichung leistungsfördernder Mittel infolge der damit verbundenen Gefahren selbst dann als Körperverletzung bewerten zu müssen, wenn sich die Risiken nicht realisierten.34 27 BGH NJW 2000, 1506 (1507); Lackner/Kühl (Fn. 5), § 223 Rn. 5; Heger JA 2003, 76 (78); Kargl NStZ 2007, 489 (490). 28 Zusammenfassend Fischer (Fn. 6), § 223 Rn. 9 ff.; MK/Joecks StGB, 2003, § 223 Rn. 49 ff.; NK/Paeffgen (Fn. 5), § 228 Rn. 56 ff.; Wessels/Hettinger Strafrecht BT 1, 33. Aufl. 2009, Rn. 323 ff. 29 Linck NJW 1987, 2545 (2549); ders. MedR 1993, 55 (59); Parzeller/ Caldarelli/ Heise/ Centamore StoffR 2008, 206 (211). 30 Heger JA 2003, 76 (78); Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (212). 31 Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (212). 32 BGHSt 43, 346 (354); siehe ebenso BGHSt 43, 306 (308 f.). 33 BGHSt 43, 346 (355). 34 So Heger JA 2003, 76 (78); vgl. ferner den Verweis in BGH NJW 2000, 1506 (1507) auf die in Fn. 32 genannten Entscheidungen.

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Dem BGH bleibt zwar zuzugeben, für eine Verwirklichung des § 223 StGB nicht unbedingt sichtbarer Nebenwirkungen zu bedürfen. Nachteilige Veränderungen im Zellbereich sind vielmehr ebenso ausreichend, falls sie die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, beispielsweise zu einer Schwächung des Körpers dergestalt führen, dass er kommende Einwirkungen nicht mehr abwehren kann und dadurch anfälliger ist.35 Der BGH stellt in seiner Begründung aber gerade nicht auf eine solche tatsächliche Veränderung ab, sondern verweist auf allgemein mögliche Gefahren durch die Behandlung. So seien Langzeitschäden wie Veränderung des Erbgutes oder Entstehung von Tumoren auch bei geringen Dosen ionisierender Strahlen statistisch vorhersagbar, allerdings für den Einzelfall nicht prognostizierbar.36 Diese Folgen müssten indes jeweils konkret nachgewiesen werden, allein das Risiko negativer Auswirkungen genügt gerade nicht.37 Gleiches muss für die Verabreichung leistungssteigernder Mittel gelten: Trotz der hiermit verbundenen erheblichen Gefahren für die Gesundheit des Sportlers scheidet eine Strafbarkeit nach § 223 StGB demzufolge aus, falls die Risiken sich nicht verwirklichen. Doping lässt sich demnach tatbestandlich im Wesentlichen nur dann als Körperverletzung erfassen, wenn die Nebenwirkungen tatsächlich eintreten und sich hierauf kausal zurückführen lassen. Ansonsten bleibt als „strafrechtlicher Notnagel“ allenfalls, auf den Akt der Verabreichung abzustellen, etwa auf die Injektion des Dopingmittels als Verletzung der körperlichen Integrität.

c. Einwilligung des Sportlers Bei dem eingeweihten Sportler kommt zudem eine Rechtfertigung der im Einzelfall verwirklichten Körperverletzung aufgrund Einwilligung in Betracht. Deren Wirksamkeit kann unter anderem an der fehlenden Einsichtsfähigkeit des Einwilligenden – insbesondere bei Minderjährigen38 – scheitern, ferner an Willensmängeln infolge fehlender oder nicht vollständiger Aufklärung über das Doping(mittel). Schließlich kann die Sittenwidrigkeit der einvernehmlich vorgenommenen Körperverletzung der rechtfertigenden Wirkung der Einwilligung entgegenstehen (§ 228 StGB). Ein Willensmangel liegt insbesondere vor, wenn der Sportler über das verabreichte Mittel selbst getäuscht wird oder ihm die mit seiner Anwendung verbundenen Risiken verschwiegen werden. An die Aufklärungs35 Vgl. auch Bottke FS Kohlmann (2003), 85 (99), der die Entscheidung des BGH in diesem Sinne interpretiert. 36 BGHSt 43, 346 (353). 37 MK/Joecks (Fn. 28), § 223 Rn. 33; Wolfslast NStZ 1999, 133 (134). 38 Siehe etwa BGH NJW 2000, 1506 ff.

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pflicht sind bei einem nicht medizinisch indizierten Eingriff wie dem Doping hohe Anforderungen zu stellen, um dem Betroffenen eine hinreichende Tatsachenkenntnis für eine selbstbestimmte, d.h. inhaltlich irrtumsfreie und entsprechend informierte Entscheidung zu verschaffen.39 Genügt die Risikoaufklärung diesen strengen Vorgaben, so kann die Wirksamkeit der Einwilligung gleichwohl an der Sittenwidrigkeit der Tat scheitern. Als sittenwidrig wird gewöhnlich erachtet, was dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht.40 Das Merkmal scheint moralischen Erwägungen wie dem sportlichen Ethos oder der Missachtung von Fairness und Chancengleichheit daher offenzustehen. Da Doping überwiegend als anstößig empfunden wird, ist demnach in der Literatur die Ansicht verbreitet, dass die Einwilligung in die Verabreichung leistungsfördernder Mittel unwirksam sei.41 Allerdings hat sich der BGH zuletzt42 wiederholt darum bemüht, dem Begriff der Sittenwidrigkeit stärkere Konturen zu verleihen. Dazu nimmt er eine Auslegung vor, die sich weniger an moralischen als vielmehr an rechtlichen Kriterien orientiert. In erster Linie geben danach das Gewicht des Körperverletzungserfolgs sowie der Grad der damit verbundenen Leibesoder Lebensgefahr den Ausschlag über die Sittenwidrigkeit der Tat.43 Der mit der Körperverletzung verfolgte, vornehmlich nach moralischen Maßstäben zu bewertende Zweck vermag demnach den Vorwurf der Sittenwidrigkeit allenfalls noch auszuschließen, nicht aber ihn zu begründen.44 Mit dieser Interpretation dürfte sich die bislang wohl herrschende Auffassung im Schrifttum zur Sittenwidrigkeit des Dopings nicht mehr vereinbaren lassen. Dabei bleibt zu beachten, dass bei dieser Wertung ausschließlich die Auswirkungen auf das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit zu berücksichtigen sind.45 Um die Sittenwidrigkeit nach § 228 StGB zu be39 Linck NJW 1987, 2545 (2550); ders. MedR 1993, 55 (59); Parzeller/Caldarelli/Heise/ Centamore StoffR 2008, 206 (214); Turner MDR 1991, 569 (573). 40 BGHSt 4, 24 (32); 49, 34 (41); BayObLG NJW 1999, 372 (373); Lackner/Kühl (Fn. 5), § 228 Rn. 10. 41 Heger JA 2003, 76 (79); Kargl JZ 2002, 389 (390), der aber zugleich für die Streichung des § 228 StGB plädiert (399); ders. NStZ 2007, 489 (491); Linck NJW 1987, 2545 (2550 f.); ders. MedR 1993, 55 (60); Turner MDR 1991, 569 (574); a. A. Hirsch LK, 11. Aufl. 2001, § 228 Rn. 49; NK/Paeffgen (Fn. 5), § 228 Rn. 110; Schild (Fn. 7), S. 153 ff.; Bottke FS Kohlmann (2003), 85 (102 f.); Bruggmann/Grau PharmaR 2008, 101 (104); Glauben DRiZ 2006, 308 (308); kritisch auch Fischer (Fn. 6), § 228 Rn. 23a; Rengier Strafrecht BT II, 11. Aufl. 2010, § 20 Rn. 2c. 42 BGHSt 49, 34 (40 ff.); 49, 166 (169 ff.); vgl. auch BGHSt 53, 55 (62 f.). 43 BGHSt 49, 34 (42); 49, 166 (172). 44 BGHSt 49, 166 (171); begrüßend Wessels/Hettinger (Fn. 28), Rn. 318a; noch offen gelassen von BGHSt 49, 34 (42); a. A. Lackner/Kühl (Fn. 5), § 228 Rn. 10. 45 Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (214).

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gründen, darf also nicht etwa das Dopingverbot des § 6a des Arzneimittelgesetzes (AMG) herangezogen werden.46 Die darin zum Ausdruck kommende Missbilligung der unlauteren Leistungssteigerung bildet vielmehr nur den Anlass für die Vorschrift und ist von den damit verbundenen (möglichen) Auswirkungen auf die körperliche Unversehrtheit zu unterscheiden, die allein für das Urteil der Sittenwidrigkeit von Bedeutung sind.47 Nebenwirkungen infolge einvernehmlichen Dopings führen somit in der Regel nicht zu einer Strafbarkeit nach den §§ 223 ff. StGB.

3. Straftaten nach Arzneimittelgesetz Um der Gefährlichkeit leistungsfördernder Mittel für die Konsumenten trotzdem Rechnung zu tragen, verfolgt der Gesetzgeber – ähnlich wie bei Betäubungsmitteln – den Ansatz, bestimmte Handlungen im Zusammenhang mit Doping im Nebenstrafrecht zu sanktionieren. So untersagt § 6a Abs. 1 AMG, Arzneimittel zu Dopingzwecken im Sport in den Verkehr zu bringen, zu verschreiben oder bei anderen anzuwenden.48 „Zu Dopingzwecken im Sport“49 geschehen die inkriminierten Tathandlungen, wenn sie auf eine Steigerung der Leistung bei sportlichen Aktivitäten abzielen, z.B. körperliche Kräfte, Ausdauer oder Muskelwachstum (vornehmlich beim Bodybuilding50) erhöhen sollen. Unerheblich ist, ob die Tätigkeiten im Wettkampf, im Training oder nur in der Freizeit erbracht werden.51 Das Dopingverbot des § 6a AMG wurde eingeführt durch das Achte Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 7. September 199852. Die Vorschrift dient der Bekämpfung des Dopings sowohl im Leistungs- als auch im Breitensport. Dabei stand für den Gesetzgeber der Schutz der Gesundheit im Vordergrund, während für die Gewährleistung sportlicher Fairness auf Maßnahmen der Gremien des Sports verwiesen wurde.53 Knapp zehn Jahre später erweiterte das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport vom 24. Oktober 200754 den § 6a AMG um den 46

So aber Heger SpuRt 2001, 92 (94); ders. JA 2003, 76 (79). Vgl. Schild (Fn. 7), S. 153 f.; Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (214); ebenso im Ergebnis NK/Paeffgen (Fn. 5), § 228 Rn. 111. 48 Eingehend zur Strafbarkeit des Dopings nach dem AMG Parzeller/Caldarelli/ Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (215 ff.). 49 Kritisch gegenüber dem Absichtsmerkmal wegen der damit verbundenen Nachweisprobleme Hauptmann/Rübenstahl MedR 25 (2007), 271 (273). 50 Siehe BTDrucks. 13/9996, S. 13; Lippert NJW 1999, 837 (837); vgl. auch BGH NStZ 2010, 170 (171). 51 BTDrucks. 13/9996, S. 13; Heger SpuRt 2001, 92 (93); Lippert NJW 1999, 837 (837). 52 BGBl. I 2649. 53 BTDrucks. 13/9996, S. 12 f. 54 BGBl. I, 2510. Siehe hierzu Parzeller/Centamore Rechtsmedizin 2008, 189. 47

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Abs. 2a. Danach kann sich nun der Sportler selbst strafbar machen, wenn er die im Anhang des AMG aufgeführten Arzneimittel und Wirkstoffe – wiederum nur „zu Dopingzwecken im Sport“ – in nicht geringer Menge55 besitzt. Dadurch soll die Gefahr einer Verbreitung gefährlicher Dopingmittel eingedämmt werden, die der Besitz „in nicht geringer Menge“ indiziere.56 Verstöße gegen die Verbote des § 6a AMG werden nach § 95 Abs. 1 Nr. 2a und 2b AMG mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet. Die Zustimmung des dopenden Sportlers bleibt hier unbeachtlich, da das Arzneimittelgesetz nicht (nur) das Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit schützt, sondern das Allgemeinrechtsgut der Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln und somit die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt.57 In besonders schweren Fällen, vor allem bei der Abgabe oder Anwendung von Dopingmitteln bei Minderjährigen oder bei gewerbs- bzw. bandenmäßiger Begehung, droht gemäß § 95 Abs. 3 AMG eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Fahrlässiges Handeln stellt Absatz 4, den Versuch Absatz 2 unter Strafe.

III. Strafbarkeit des Dopings de lege ferenda Der vorangegangene Abschnitt zeigt, dass der Umgang mit Doping einige Straftatbestände verwirklichen kann. Völlig straflos ist in Deutschland jedoch die Einnahme leistungssteigernder Präparate als solche. Andere Staaten sanktionieren hingegen schon den Konsum von Dopingmitteln58 oder greifen bei der Bekämpfung von Doping zumindest in größerem Umfang auf das Strafrecht zurück.59

55 Die „nicht geringe Menge“ wurde zunächst näher durch die Verordnung zur Festlegung der nicht geringen Menge von Dopingmitteln (Dopingmittel-Mengen-Verordnung – DmMV) vom 22.11.2007 (BGBl. I 2607) bestimmt. Sie wurde durch Verordnung vom 28.9.2009 (BGBl. I 3172) außer Kraft gesetzt und durch eine gleichnamige Verordnung ersetzt. 56 BTDrucks. 16/5526, S. 8 f. Kritisch zur Beschränkung „in nicht geringer Menge“ Hauptmann/Rübenstahl MedR 25 (2007), 271 (277); zustimmend hingegen Jahn GA 2007, 579 (582). 57 Schild (Fn. 7), S. 154 und 171; Bruggmann/Grau PharmaR 2008, 101 (105); Parzeller/Caldarelli/Heise/Centamore StoffR 2008, 206 (219); Reuther SpuRt 2008, 145 (146); ebenso im Ergebnis Heger SpuRt 2001, 92 (94); ders. JA 2003, 76 (80). 58 So z.B. Belgien seit 1965 und Italien seit 2000 (siehe hierzu Jarvers ZStW 113 [2001], 947 ff.). 59 Übersichten bei Hauptmann/Rübenstahl MedR 25 (2007), 271 (274 f.); Krogmann SpuRt 1999, 19 f., 61, 148 f., SpuRt 2000, 13 f., 106.

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Über den Nutzen bzw. sogar die Notwendigkeit solcher oder vergleichbarer Regelungen in Deutschland wird ausgiebig debattiert.60 Wenngleich hier auf die einzelnen Punkte nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, bleibt jedenfalls festzuhalten, dass der Erfolg dieser Vorschriften häufig als zweifelhaft bewertet wird.61 Das materielle Strafrecht droht sich daher darauf zu beschränken, Ermittlungsmaßnahmen (wie Durchsuchungen) zu ermöglichen, die den Verbänden ansonsten verwehrt wären. Dies würde aber nicht dem Stellenwert des Strafrechts als einschneidendstes Mittel des Staates gerecht, das nur mit Bedacht angewandt werden sollte.62 Allerdings erscheint ohnehin bereits die Legitimation eigener Strafvorschriften zum Doping fraglich. Die Einnahme leistungsfördernder Mittel als solche unter Strafe zu stellen, ließe sich kaum mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen vereinbaren, mit seinem Körper und seiner Gesundheit nach freiem Belieben, d.h. auch unvernünftig umzugehen.63 Möglich bleibt – wie im AMG geschehen – nur, bestimmte Handlungen im Zusammenhang mit Doping angesichts der damit einhergehenden Gefahren unter Strafe zu stellen. Ggf. könnte hier, etwa in Anlehnung an das Betäubungsmittelgesetz, eine Ergänzung des Dopingverbots um weitere Tatvarianten erwogen werden.64 Allerdings steht einer kompletten Gleichsetzung zumindest derzeit entgegen, dass bei Doping- anders als bei Betäubungsmitteln noch keine Abhängigkeit nachgewiesen ist.65 60 Zur Diskussion Schild (Fn. 7), S. 133 ff.; Bannenberg SpuRt 2007, 155 f.; Bottke FS Kohlmann (2003), 85 (103 ff.); Dury SpuRt 2005, 137 ff.; Grunsky SpuRt 2007, 188 ff.; Heger SpuRt 2007, 153 ff.; Jahn SpuRt 2005, 141 ff.; Kargl NStZ 2007, 489 (494 ff.); Kauerhof HRRS 2007, 71 ff.; Kudlich JA 2007, 90 ff. mit Erwiderung König JA 2007, 573 ff.; Prokop SpuRt 2006, 192 f. mit Erwiderung Krähe SpuRt 2006, 194; Reuther SpuRt 2008, 145 (148); Steiner SpuRt 2009, 222 (223); Turner ZRP 1992, 121 ff. 61 Dury SpuRt 2005, 137 (141) m.w.N.; Fischer NJW 2005, 1028 (1028 f.); Krähe SpuRt 2006, 194; Parzeller/Centamore Rechtsmedizin 2008, 189 (192); siehe auch die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion, BT-Drucks. 16/4097, S. 1. 62 Zu Recht daher kritisch Kudlich JA 2007, 90 (95); befürwortend hingegen wohl Hauptmann/Rübenstahl MedR 25 (2007), 271 (278 f.). 63 Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rdn. 32; Grunsky SpuRt 2007, 188 (189); Heger SpuRt 2007, 153 (153 f.); Kudlich JA 2007, 90 (93); kritisch König JA 2007, 573 (575). 64 So schlug der Bundesrat im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport das „Einführen“ als weitere Tathandlung vor, BTDrucks. 16/5526, S. 11; kritisch Jahn GA 2007, 579 (586 f.). 65 Die Rechtskommission des Sports gegen Doping (ReSpoDo) sprach sich 2005 (Zusammenfassung des Abschlussberichts in SpuRt 2005, 198 ff. und 239 ff.) mehrheitlich für eine Strafbarkeit des Besitzes anaboler Steroide aus, sofern sich gesicherte pharmakologische Erkenntnisse in Bezug auf deren Abhängigkeitspotential gewinnen ließen, SpuRt 2005, 239 (242); siehe hierzu auch Hauptmann/Rübenstahl MedR 25 (2007), 271 (277); Jahn GA 2007, 579 (583 f.); zustimmend Bruggmann/Grau PharmaR 2008, 101 (103); vgl. ferner BVerfGE 90, 145 (174 f. und 187 ff.). Der Gesetzgeber hat in § 6a Abs. 2a AMG trotzdem den Besitz

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Will man Doping ansonsten strafrechtlich erfassen, bliebe nur, an dadurch verletzte Güter wie den „Sportethos“66 oder die „Fairness und Chancengleichheit im Sport“67 anzuknüpfen. Solche Interessen verkörpern indes moralische Werte, deren Schutz dem Strafrecht gerade nicht obliegt.68 Da etwa Chancengleichheit stets eine Konkurrenzsituation mehrerer Personen voraussetzt, wird unter anderem vorgeschlagen, einen neuen Straftatbestand zum Doping in den Abschnitt „Straftaten gegen den Wettbewerb“ einzufügen.69 Dies dürfte aber schon daran scheitern, dass diese Vorschriften marktwirtschaftlich orientiert sind.70 Leistungssteigernde Mittel setzt ein Athlet indes in erster Linie ein, um seine Aussichten auf sportlichen Erfolg zu Lasten seiner Mitkonkurrenten zu erhöhen; sportlicher Wettkampf ist also etwas anderes als geschäftlicher Wettbewerb. Wirtschaftliche Aspekte wie eine etwaige Steigerung des Marktwerts eines Sportlers, die ihn höhere Antrittsprämien fordern ließe, wären lediglich mittelbare Folgen. Zwar ist durchaus denkbar, allein hieran anzuknüpfen und den Leistungssport rein wirtschaftlich zu betrachten. Dann bildete er aber wiederum nur einen geringen Ausschnitt aus der Wirtschaftsordnung, der eine Sonderregelung nicht zu rechtfertigen vermag.71 Ohnehin erscheint es widersprüchlich, dem Sport einerseits wegen seiner gesellschaftlichen Bedeutung und seiner Vorbildfunktion eine herausragende und durch das Strafrecht schützenswerte Position zu attestieren, andererseits aber die wirtschaftlichen Aspekte zu betonen, die nicht zu den ursprünglichen, unzweifelhaft positiven Merkmalen des Sports wie etwa Disziplin, Respekt, Verlässlichkeit, Leistungsbereitschaft, Fair Play, Vermittlung sozialer Kompetenz, Integration und Abbau von Vorurteilen72 zählen. Zudem dürfte eine strafrechtliche Absicherung des Sports als Sinn-

nicht geringer Mengen unter Strafe gestellt, wenngleich unter dem einschränkenden Absichtsmerkmal „zu Dopingzwecken im Sport“. 66 Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1747 f. und 1751). 67 So der Referentenentwurf des Justizministeriums Bayern (Fn. 3), S. 21 und 22; siehe auch König JA 2007, 573 (575 f.). 68 Roxin (Fn. 63), § 2 Rdn. 17; Jahn GA 2007, 579 (582); Kudlich JA 2007, 90 (93). 69 So etwa der Entwurf eines § 298a (Wettbewerbsverfälschungen im Sport) sowie eines § 299a StGB (Bestechlichkeit und Bestechung im sportlichen Wettkampf) durch die ReSpoDo SpuRt 2005, 239 (242 ff.), nahezu ebenso Bannenberg SpuRt 2007, 155 (156); vgl. ferner den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport (BT-Drucks. 16/5938). Siehe außerdem Fritzweiler SpuRt 1998, 234 f. mit dem Entwurf eines § 299a StGB zur Verfälschung des (sportlichen) Wettbewerbs durch die Einnahme von Dopingmitteln sowie Cherkeh/Momsen NJW 2001, 1745 (1751 f.). 70 Kudlich JA 2007, 90 (93); vgl. auch Heger SpuRt 2007, 153 (154). 71 Jahn GA 2007, 579 (588); kritisch auch Bottke FS Kohlmann (2003), 85 (108 f.). 72 Vgl. BTDrucks. 16/11217, S. 1.

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bild fairen Wettkampfs bereits deswegen kontraproduktiv sein, da solche Ideale an Stellenwert durch rechtliche Vorgaben einbüßen. Ginge es nur um die Chancengleichheit, bliebe zudem zu erörtern, warum die Einnahme leistungsfördernder Mittel ausschließlich beim Sport bestraft werden soll. Wäre dann nicht etwa auch eine Strafbarkeit von Prüfungskandidaten zu erörtern, die im Examen leistungsfördernde Mittel einnehmen, um ein besseres Ergebnis zu erzielen und ihre späteren Einstellungschancen zu Lasten der anderen Teilnehmer zu erhöhen?73

IV. Fazit Doping stellt bereits nach geltendem Recht keine bloße Unsportlichkeit, sondern häufig ein strafbares Verhalten dar. Auch wenn die Einnahme von Dopingmitteln selbst straflos ist, lassen sich bestimmte Handlungen mit leistungssteigernden Präparaten über die Strafvorschriften im AMG erfassen. Bei Doping ohne oder gegen den Willen des Sportlers kommt zudem eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung in Betracht, sofern Nebenwirkungen eintreten. Schließlich droht der gedopte Sportler jedenfalls bei der Teilnahme an Wettkämpfen den Betrugstatbestand zu verwirklichen. Dass der Nachweis solcher Taten oftmals mit Schwierigkeiten verbunden ist, bedeutet nicht, nahezu reflexartig auf eine Ausweitung der Strafbarkeit zurückgreifen zu müssen, zumal sich Beweisschwierigkeiten weitgehend ebenso bei neuen Dopingstraftatbeständen stellten. Problematisch erscheint vor allem, hierfür ein strafrechtlich schützenswertes Rechtsgut zu finden. Es spricht daher viel dafür, sich bei der Bekämpfung von Doping mit den bestehenden Strafvorschriften zu begnügen und ansonsten unsportliches Verhalten mit verbandsrechtlichen Mitteln – insoweit ggf. finanziell unterstützt durch den Staat – zu ahnden.

73 Vgl. Glauben DRiZ 2006, 308 (309); Turner ZRP 1992, 121 (122). Allerdings sah der Gesetzgeber im AMG – wenngleich bezogen auf den Schutz der Gesundheit – ausdrücklich davon ab, die Verwendung von Arzneimitteln außerhalb sportlicher Betätigung, z.B. durch Schüler vor Prüfungen, unter Strafe zu stellen; BTDrucks. 13/9996, S. 13.

Das Verbot der Verständigung über Maßregeln der Besserung und Sicherung § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO HANS-JOACHIM WEIDER

1. Einleitung Das gewählte Thema erscheint wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts des § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO auf den ersten Blick wenig Anlass zu vertiefender Erörterung zu geben.1 Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch eine Reihe von rechtlichen und tatsächlichen Problemen dann, wenn in Verfahren, in denen die Anordnung einer Maßregel in Betracht kommt, eine dem Gesetz entsprechende Verständigung angestrebt wird. Denn das Verbot einer Absprache über die Anordnung einer Maßregel schließt es nicht aus, dass eine Verständigung (allein) über den Strafausspruch erfolgen soll. Die Anzahl der davon betroffenen Verfahren dürfte erheblich sein. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Vielzahl der Fälle, in denen die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB oder die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB in Betracht kommen. Nach der Rechtsprechung zur alten Rechtslage war eine Verständigung nur über die Anordnung der Sicherungsverwahrung untersagt.2 Der Gesetzgeber hat das Verbot einer Verständigung in § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO nunmehr erweitert auf alle Maßregeln der Besserung und Sicherung i.S.d. § 61 StGB. Insoweit kommt dem Gesetz konstitutive Bedeutung zu.3 Trotz des Verbots einer Absprache über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach alter Rechtslage kam es zu Verständigungen darüber. Dies zeigt der vom 1. Strafsenat des BGH entschiedene Fall, in dem dem Ange-

1 In Kommentierungen wird daher auch nur lapidar auf das Verbot der Verständigung über Maßregeln ohne weitergehende Auseinandersetzung mit den sich daraus ergebenden Problemen hingewiesen: vgl. nur Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG, Teil B, § 257c Rn. 42, 62, 83; Meyer-Goßner, 53. Aufl., § 257c Rn. 9. 2 Meyer-Goßner, 53. Aufl., § 257c Rn. 9; Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG, Teil B, § 257c Rn. 83. 3 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG, Teil B, § 257c Rn. 83.

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klagten - im Hauptverhandlungsprotokoll dokumentiert (!) - seitens der Strafkammer bei einem Geständnis nach Anklage eine Strafobergrenze von fünf Jahren und sechs Monaten ohne Anordnung einer Sicherungsverwahrung in Aussicht gestellt wurde. Die Staatsanwaltschaft erklärte sich mit diesem Ergebnis nur einverstanden, wenn der Angeklagte substantielle Aufklärungshilfe in anderen Verfahren leisten würde.4 Berücksichtigt man, dass die Absprachefälle, die dem BGH zur Entscheidung vorgelegt wurden und werden, wegen des regelmäßig vereinbarten Rechtsmittelverzichts nur die Spitze des Eisbergs waren und wohl auch sein werden5, muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer der verbotenen Verständigungen über die Anordnung von Maßregeln auch in Zukunft hoch sein wird.6 Gerade Verfahren, in denen es um die Anordnung einer Maßregel geht, sind auch besonders „verständigungsanfällig“. Es vergeht kaum eine Woche, in der der BGH nicht ein tatrichterliches Urteil beanstandet, weil § 64 StGB nicht oder rechtsfehlerhaft angewendet wurde oder der Vorwegvollzug rechtsfehlerhaft bestimmt war.7 Diese große Zahl der davon betroffenen Verfahren zeigt, dass die Tatgerichte seit Jahren erhebliche Probleme bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Folgeentscheidungen haben. Man könnte auch vermuten, dass bei manchen Gerichten auch gewisse Vorbehalte gegenüber der Unterbringung nach § 64 StGB bestehen, so dass entgegen der Rechtsprechung des BGH trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 64 StGB von der Anordnung der Unterbringung ganz abgesehen oder z.B. der „Vollstreckungslösung“ des § 35 BtMG der Vorrang eingeräumt wird.8 Rechtsunsicherheit und Vorbehalte gegen die Anwendung einer Vorschrift sind aber nicht selten Anlass, sich durch eine verfahrensbeendende Ansprache „aus der Affäre zu ziehen“. Große praktische Relevanz hat erst recht das Verbot einer Verständigung über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB und die zugleich auszusprechende Dauer der Sperrfrist nach § 69a StGB. Denn in zahllosen Fällen wurde und wird nicht nur darüber „verhandelt“, ob nicht ein Fahr4

BGH StV 2008, 561. Vgl. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 46 Rn. 119, der der Auffassung ist, auch weiterhin würden 99% der Absprachen die Rechtsmittelgerichte nicht erreichen; dies gilt um so mehr, als es nach der Entscheidung des 1. Senats des BGH vom 14. April 2010 = StV 2010, 346 m. abl. Anm. Niemöller StV 2010, 474 zulässig sein soll, gegen ein Abspracheurteil sofort Rechtsmittel einzulegen, um es sogleich wieder zurückzunehmen, um so die Rechtskraft herbeizuführen. 6 Vgl. auch Fischer, StGB, 57. Aufl., § 46 Rn. 120. 7 Allein unter den in der 29. Kalenderwoche 2010 bekannt gemachten 20 Entscheidungen des BGH befanden sich 4, in denen die rechtsfehlerhafte Nichtprüfung oder Nichtanwendung von § 64 StGB beanstandet wurde: 4 StR 126/10 v. 17.06.2010; 4 StR 299/10 v. 15.06.2010; 4 StR 241/10 v. 29.06.2010 und 4 StR 260/10 v. 24.06.2010. 8 Vgl. dazu nur BGH StV 2008, 405, 406; BGH, Beschl. vom 10.03.2010 2 StR 34/10. 5

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verbot nach § 44 StGB ausreichend ist, wenn als Ausgleich eine höhere Strafe verhängt wird, sondern auch darüber, wie lange die Sperrfrist dauern soll und unter welchen Voraussetzungen sie kürzer bemessen werden könnte. Daher gewinnt die Frage an Bedeutung, ob in diesen Verfahren überhaupt eine Verständigung zulässig ist und wenn ja, in welchem Umfang und wie dabei zu verfahren ist. Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, die Möglichkeiten einer verfahrensbeendenden Verständigung bei im Raum stehender Anordnung einer Maßregel auszuloten.

2. Reichweite des gesetzlichen Verbots der Verständigung über Maßregeln a) Betroffene Vorschriften Der Gesamtkonzeption des § 257c Abs. 2 StPO kann der Grundsatz entnommen werden, dass gesetzlich zwingend vorgeschriebene Rechtsfolgen einer Verständigung grundsätzlich entzogen sind, bei Entscheidungen, bei denen dem Gericht ein Ermessen oder Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, eine Verständigung jedoch möglich sein soll.9 Das Gesetz schreibt die Anordnung von Maßregeln nicht in allen Fällen zwingend vor. § 64 StGB ist als „Soll“-Vorschrift, §§ 66 Abs. 2 und 3, 66a, 66b, 68 und 70 StGB sind als „Kann“-Vorschriften ausgestaltet. Alle diese Normen lassen dem Gericht nach ihrem eindeutigen Wortlaut einen gewissen Spielraum bei der Entscheidung über die Anordnung der Maßregel. Die „Soll“-Vorschrift des § 64 StGB wird vom BGH zwar eng ausgelegt und das Absehen von der Unterbringung soll auf Ausnahmefälle beschränkt sein. § 64 StGB soll keine Ermessensentscheidung im engeren Sinne sein.10 Gleichwohl ist die Anordnung nicht zwingend vorgeschrieben und eröffnet dem Tatrichter einen wenn auch geringen Ermessensspielraum.

9 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG, Teil B, § 257c Rn. 82 und 52. Zur Strafaussetzung zur Bewährung Niemöller aaO., Teil B, § 257c Rn. 57; Meyer-Goßner, 53. Aufl., § 257c Rn. 12; zu Einziehung und Verfall Niemöller aaO., Teil B, § 257c Rn. 53; zum Fahrverbot Niemöller aaO., Teil B, § 257c Rn. 60. 10 Fischer, 57. Aufl., § 64 Rn. 22 f.

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Bei den Entscheidungen über die Anordnung einer Maßregel nach den Vorschriften der §§ 66 Abs. 2 und 3, 66a, 66b, 68 und 70 StGB handelt es sich dagegen um „echte“ Ermessenentscheidungen im engeren Sinn.11 So können z.B. bei Entscheidungen nach §§ 66 Abs. 2 und 3 StGB u.a. die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzuges und die mit fortschreitendem Lebensalter eintretenden Haltungsänderungen berücksichtigt werden.12 Bei § 70 StGB kann etwa berücksichtigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten gering ist oder die Anlasstat lange zurückliegt.13 In der Begründung des Regierungsentwurfs14 zum Verbot der Verständigung über alle Maßregeln der Besserung und Sicherung wird ausgeführt: „Diese eröffnen - bei Vorliegen ihrer gesetzlichen Voraussetzungen grundsätzlich keinen Entscheidungsspielraum des Gerichts wie bei der Strafzumessung.“ Dies ist, wie dargetan, in dieser allgemeinen Form so nicht zutreffend. Trotz der teilweise fehlerhaften Begründung im RegE ist der Gesetzeswortlaut jedoch eindeutig. Er entzieht alle Maßregeln einer Verständigung, gleich ob sie zwingend anzuordnen sind oder dem Gericht von Gesetzes wegen ein Ermessensspielraum bei der Anordnung eingeräumt ist. Hintergrund dieses umfassenden Verbots ist die Tatsache, dass alle Maßregeln in erster Linie dem Schutz der Allgemeinheit vor zu erwartenden weiteren erheblichen Straftaten gefährlicher und rückfallgeneigter Straftäter dienen.15 Dies versteht sich bei den verschiedenen Arten der Sicherungsverwahrung nach §§ 66 ff. StGB von selbst. Die Unterbringung nach § 63 StGB dient zwar (auch) der Besserung bzw. Heilung des Täters, aber dies ist nur das Mittel, die Gesellschaft vor künftigen Straftaten zu schützen.16 Solange die Heilung nicht eingetreten ist, bleibt der Täter im Interesse der öffentlichen Sicherheit untergebracht.17 § 64 StGB verfolgt zwar in erster Linie den Zweck der Heilung des Täters. Gleichwohl dient auch die Unterbringung nach § 64 StGB dem Schutz

11 Zu § 66 Abs. 2 und 3 Rissing-van Saan/Peglau in LK, 12. Aufl., § 66 Rn. 232 f.; Fischer, 57. Aufl.; § 66 Rn. 40; zu § 66b Fischer, 57. Aufl., § 66b Rn. 45; zu § 68 Fischer, 57. Aufl., § 68 Rn. 6; zu § 70 Fischer, 57. Aufl., § 70 Rn. 9. 12 Rissing-van Saan/Peglau in LK, 12. Aufl., § 66 Rn. 233; Fischer, 57. Aufl., § 66 Rn. 40; dabei drängt sich der „Deal“: höhere Freiheitsstrafe gegen Absehen von der Sicherungsverwahrung geradezu auf, weil das Gericht Lebensalter und Wirkungen des Strafvollzuges bei seiner Entscheidung über das Absehen von der Anordnung der Maßregel berücksichtigen kann. 13 Fischer, 57. Aufl., § 70 Rn. 9. 14 RegE BT-Drucks. 16/12310 S. 14. 15 Schöch in LK, 12. Aufl., Vor § 61 Rn. 29 ff.; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., Vorbem. §§ 61 Rn. 2; Schöch in Satzger/Schmitt/Widmaier, Vor §§ 61 ff, Rn. 8. 16 BGHSt 33, 285. 17 Schöch in LK, 12. Aufl., § 63 Rn. 2,3; Fischer, 57. Aufl., § 63 Rn. 2.

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der Allgemeinheit. Denn die Suchtbehandlung muss darauf ausgerichtet sein, durch die Heilung den Schutzzweck zu erreichen.18 Ziel der Führungsaufsicht nach § 68 StGB ist es, gefährliche Täter bei der Lebensgestaltung zu unterstützen und zu überwachen, um künftigen Straftaten vorzubeugen. Sie dient daher neben der Hilfe bei der Resozialisierung auch dem Schutz der Allgemeinheit.19 Die Entziehung der Fahrerlaubnis dient allein der Sicherheit des Straßenverkehrs, also dem Schutz der Verkehrsteilnehmer vor „ungeeigneten“ Kraftfahrzeugführern.20 Auch das Berufsverbot nach § 70 StGB ist eine reine Sicherungsmaßregel und soll die Allgemeinheit vor den spezifischen Gefahren im Zusammenhang mit der Berufsausübung des Täters schützen.21 Das überwiegende Allgemeininteresse an dem Schutz der Gesellschaft vor den von dem Täter ausgehenden Gefahren durch die Anordnung von Maßregeln hat der Gesetzgeber zum Anlass genommen, die Maßregeln nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten zu stellen. Ein „Feilschen“ (etwa Geständnis, Aufklärungshilfe, Schadenswiedergutmachung, Wiederbeschaffung der Beute etc. gegen Nichtanordnung der Maßregel) soll unterbunden werden. Das Verbot der Verständigung über Maßregeln rechtfertigt sich auch aus dem System der Zweispurigkeit strafrechtlicher Rechtsfolgen.22 Die Strafe hat sich an der Schuld des Täters zu orientieren, während die Anordnung der Maßregel allein unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit des Täters und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu prüfen ist. Zwischen beiden Rechtsfolgen soll grundsätzlich keine "Wechselwirkung" bestehen, Strafe und Maßregel sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. verhängt werden.23 Danach hat das Verbot der Verständigung über Maßregeln keine Friktionen in dem System zulässiger Absprachegegenstände zur Folge. Jedenfalls theoretisch kann eine Verständigung über den Strafausspruch und sonstige zum Urteil gehörende Beschlüsse erfolgen unabhängig von der einer Verständigung entzogenen Entscheidung über die Anordnung einer Maßregel.

18 BVerfGE 91, 1, 28; BGH NStZ 2003, 86; Schöch in LK, 12. Aufl., § 64 Rn. 2 ff.; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 64 Rn. 1; Fischer, 57. Aufl., § 64 Rn. 2. 19 Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 68 Rn. 3. 20 Fischer, 57. Aufl., § 69, Rn. 2; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 69 Rn. 2; Geppert in LK, 12. Aufl., § 69 Rn. 2. 21 Hanack in LK, 12. Aufl., § 70 Rn. 1; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 70 Rn. 1. 22 Zum System der Zweispurigkeit vgl. ausführlich Schöch in LK, 12. Aufl., vor § 61 Rn. 1 ff. 23 Vgl. nur BGHSt 20, 264; 24, 132 ; 38, 323; auch BVerfGE 109, 133.

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b) Folgeentscheidungen Ordnet das Gericht eine Maßregel an, hat es in einigen Fällen Folgeentscheidungen zu treffen. So ist z.B. im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis über die Dauer der Sperrfrist nach § 69a StGB zu entscheiden, in Fällen der §§ 63 und 64 StGB muss unter den Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 StGB die Vollstreckungsreihenfolge oder ein Vorwegvollzug bestimmt werden, nach § 67b StGB ist eine Entscheidung über eine Bewährungsaussetzung zugleich mit der Anordnung der Maßegel zu treffen. Bei der Führungsaufsicht können nach § 68b StGB Weisungen erteilt und gemäß § 68c StGB die Dauer der Führungsaufsicht bestimmt werden. Insoweit handelt es sich z.T. um zum Urteil gehörende Beschlüsse i.S.d. § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO, die jedenfalls grundsätzlich Gegenstand einer Verständigung sein können. Da die Folgeentscheidungen für den Verurteilten ungeachtet der Anordnung der Maßregel von erheblicher Bedeutung sind, fragt sich, ob auch diese Entscheidungen der Verständigung entzogen sind. Die Neigung, hierüber eine Verständigung herbeizuführen, liegt auf der Hand. So drängen sich etwa, soweit § 67b StGB in Betracht kommt, im Falle einer - rechtlich zulässigen - Verständigung über eine Bewährungsstrafe Gespräche über die Aussetzung der der Verständigung entzogenen, zugleich mit dem Urteil anzuordnenden Maßregel nach §§ 63 oder 64 StGB gerade zu auf. Bei der Dauer der zu bestimmenden Sperrfrist nach § 69a StGB verschwimmen die Grenzen zwischen - zulässiger - Verständigung über das Strafmaß und die Dauer der Sperrfrist, wenn eine höhere Strafe zur Verkürzung der Sperrfrist „angeboten“ wird. Weder der Gesetzestext noch die Begründung des RegE geben zur Problemlösung etwas her. § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO bestimmt nur ganz allgemein, dass Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Gegenstand einer Verständigung sein dürfen. Ob davon auch die Folgeentscheidungen umfasst sind, bleibt offen. Auch die Begründung schweigt gänzlich zur dieser Frage. Da die Folgeentscheidungen überwiegend (mit Abweichungen bei § 67 StGB) im Ermessen des Gerichts stehen bzw. diesem ein weiter Entscheidungsspielraum eingeräumt ist24, kann eine Verständigung darüber jedenfalls nicht deswegen unzulässig sein, weil eine Absprache über eine zwingend anzuordnende Rechtsfolge getroffen werden muss. Insoweit besteht ein Unterschied zu den „Nebenstrafen“ des Verfalls, bei denen z.B. die Anordnung des Verfalls nach § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB, des Wertersatzes nach § 73a Satz 1 StGB und des erweiterten Verfalls nach § 73d Abs. 1 Satz 24

Vgl. etwa zur Dauer der Sperre Geppert in LK, 12. Aufl., § 69a Rn. 15.

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1 StGB zwingend vorgeschrieben ist, sofern das Gesetz nicht wie z.B. in § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB eine Ausnahme macht.25 Wenn das Verbot der Verständigung über Maßregeln dem Zweck dient, den durch die Verhängung der Maßregel bezweckten Schutz der Allgemeinheit allein und ausschließlich in die Hände des Gerichts zu legen und einer Einflussnahme durch die anderen Verfahrensbeteiligten im Rahmen einer Verständigung zu entziehen, kann die Frage der Zulässigkeit einer Absprache über Folgeentscheidungen nur anhand des Zwecks der jeweiligen Folge beantwortet werden. § 67 Abs. 2 StGB lässt für die Unterbringung nach §§ 63 oder 64 StGB von dem Grundsatz des Vorwegvollzuges der Maßregel nach § 67 Abs. 1 StGB unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen zu. Nach § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB muss das Gericht den Vorwegvollzug der Strafe oder eines Teils davon anordnen, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht werden kann. Insoweit steht dem Gericht nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut kein Beurteilungsspielraum zu, die Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge ist in diesem Fall gesetzlich zwingend vorgeschrieben.26 Damit ist die Entscheidung über die Frage eines Vorwegvollzuges der Strafe der Verständigung in den Fällen entzogen, in denen der Zweck der Maßregel durch den Vorwegvollzug leichter erreicht werden kann. Davon umfasst sind selbstverständlich auch Absprachen darüber, ob der Maßregelzweck durch den Vorwegvollzug besser erreicht werden kann, also die Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB vorliegen. § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB macht allerdings für die Unterbringung nach § 64 StGB bei Freiheitsstrafen von über 3 Jahren insoweit eine Ausnahme, als in diesen Fällen das Gericht bestimmen „soll“, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Dieser Teil der Strafe „ist“ nach § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und der anschließenden Unterbringung eine Halbstrafenaussetzung möglich ist. Die Berechnung der Dauer des Vorwegvollzuges eines Strafteils ist somit gesetzlich vorgeschrieben und steht nicht im Ermessen des Gerichts.27 Damit ist auch die Dauer des Vorwegvollzuges der Verständigung entzogen. Allein die Frage des „ob“ des Vorwegvollzuges i.S.v. § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB käme daher als Ermessenentscheidung für eine Verständigung in Betracht. § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB verfolgt das Ziel, bei der Verhängung zeitlicher Freiheitsstrafen, bei denen eine Reststrafenaussetzung nach Vollzug der 25 Vgl. dazu Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG, Teil B § 257c Rn. 53 auch zur Frage der Zulässigkeit einer Verständigung bei Ermessensentscheidungen im Zusammenhang mit Einziehung und Verfall. 26 BGH StV 2008, 306; BGH StV 2008, 638 m. Anm. Ahmed; Fischer, 57. Aufl., § 67 Rn. 4; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 67 Rn. 8. 27 BGH StV 2008, 306; NStZ 2009, 87; Fischer, 57. Aufl., § 67 Rn. 11.

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Unterbringung in einer Entziehungsanstalt noch nicht möglich ist, nach der Unterbringung eine Rückverlegung in den Strafvollzug zu vermeiden, weil dadurch der Behandlungserfolg in der Unterbringung gefährdet werden könnte.28 Der Zweck der Maßregel, die Allgemeinheit durch die Heilung des Täters vor künftigen erheblichen Straftaten zu schützen, wäre dadurch gefährdet. Damit dient der Vorwegvollzug eines Teils der Strafe in Fällen der Unterbringung nach § 64 StGB dem Allgemeininteresse am Schutz vor Straftaten. Eine Bewährungsaussetzung einer Unterbringung nach §§ 63 oder 64 StGB zugleich mit ihrer Anordnung gemäß § 67b StGB kommt nur dann in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, dass auch ohne die Vollstreckung der Unterbringung die von dem Täter ausgehende Gefahr weiterer Straftaten so abgeschwächt ist, dass auf den Vollzug der Maßregel verzichtet werden kann.29 Entscheidungskriterium ist also auch hier der Allgemeinschutz. Bei der Führungsaufsicht besteht der Sinn und Zweck von Weisungen nach § 68b Abs. 1 StGB darin, den Zweck der Maßregel selbst, nämlich die Beseitigung oder Verringerung der Gefahr weiterer Straftaten, besser zu erreichen und dadurch den Schutz der Allgemeinheit zu gewährleisten.30 Bei der Bestimmung der Dauer der Sperrfrist nach § 69a Abs. 1 Satz 1 StGB ist entscheidendes Kriterium, wie lange die Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeugs voraussichtlich bestehen wird31, d.h., wie lange die Allgemeinheit vor einem potenziell gefährlichen Kraftfahrzeugführer geschützt werden muss. Allen Annexentscheidungen bei der Anordnung von Maßregeln ist somit gemein, dass sie, wie die Maßregel selbst, in erster Linie am Schutz der Allgemeinheit zu orientieren sind. Wenn es aber die gesetzgeberische Intention ist, dass Entscheidungen, die das Allgemeinwohl betreffen, einer Verständigung und damit einer Einflussnahme durch Staatsanwaltschaft und Verteidigung jenseits förmlicher und gesetzlich geregelter Interventionsrechte wie etwa Beweisantragsrecht, Fragerecht, Schlussvorträge etc. zu entziehen, werden auch die Folgeentscheidungen bei der Anordnung von Maßregeln davon umfasst. Denn es wäre geradezu widersinnig, z.B. zwar die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Verhängung einer Sperrfrist im Interesse des Allgemeinschutzes von einer Verständigung auszunehmen, 28

Fischer, 57. Aufl., § 67 Rn. 10. BGH NStZ 2007, 465; Fischer 57. Aufl., § 67b Rn. 3; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 67b Rn. 2 und 6; Geppert in KL, 12. Aufl., § 67b Rn. 25. 30 Fischer, 57. Aufl., § 68b Rn. 2; H. Schneider in LK, 12. Aufl., § 68b Rn. 1; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 68b Rn. 1. 31 Fischer, 57. Aufl., § 69a Rn. 15 m. zahlr. Rspr.-Nachw.; Geppert in LK, 12. Aufl., § 69a Rn. 16. 29

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dieses Ziel aber dadurch zu unterlaufen, dass bei der Bestimmung der Dauer der Sperrfrist im Rahmen einer Verständigung auch andere Gesichtspunkte als die Sicherheit des Straßenverkehrs (etwa Geständnis, Verfahrensabkürzung, Schadenswiedergutmachung etc.) berücksichtigt werden könnten.

3. Zwischenergebnis Damit bleibt festzuhalten, dass sowohl die Frage der Anordnung von Maßregeln als auch die zu treffenden Folgeentscheidungen umfassend einer Verständigung entzogen sind. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Wenn das Gericht seine Entscheidungen über Maßregeln ohne Einflussnahme der übrigen Verfahrensbeteiligten im Rahmen einer Verständigung treffen soll und muss, darf nicht nur die Anordnung der Maßregel und einer Folgeentscheidung selbst Gegenstand einer Verständigung sein, sondern es dürfen auch keine Gespräche darüber geführt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen die Anordnung einer Maßregel in Betracht kommen oder davon abgesehen werden könnte. Dies gilt auch dann, wenn eine verbindliche Zusage des Gerichts im Sinne von § 257c Abs. 3 StPO nicht angestrebt, sondern nur die Tendenz des Gerichts hinsichtlich der Anordnung einer Maßregel „ausgelotet“ werden soll. In Verständigungsgesprächen ist die Anordnung von Maßregeln und Annexentscheidungen ein „Tabu“, weil anderenfalls die Gefahr besteht, dass die Gespräche die Entscheidung des Gerichts beeinflussen könnten, die sich allein am Schutz der Allgemeinheit zu orientieren hat und losgelöst von dem sonstigen Rechtsfolgenausspruch zu treffen ist.

4. Wechselwirkung zwischen Maßregelanordnung und Strafausspruch Nach dem System der Zweispurigkeit soll zwischen der Maßregelanordnung und dem sonstigen Rechtsfolgenausspruch im Übrigen keine "Wechselwirkung" bestehen. Strafe und Maßregel sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. verhängt werden.32 Dann aber schließt das gesetzlich verankerte Verbot der Verständigung über Maßregeln der Besserung und Sicherung eine Verständigung über den sonstigen Rechtsfolgenausspruch, insbesondere also über den Strafausspruch nicht aus. Dies hätte zur Folge, dass eine Verständigung über den 32

212.

Vgl. nur BGHSt 20, 264; 24, 132 ; 38, 362, 364; BGH NStZ 1994, 280, 281 und 2007,

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Strafausspruch herbeigeführt werden könnte und das Gericht völlig unabhängig davon über die Anordnung einer Maßregel einschließlich Annexentscheidungen zu befinden hätte. Diese Zweigleisigkeit würde jedoch voraussetzen, dass es tatsächlich keine Überschneidungen von Strafzumessung und Maßregelanordnung gibt. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass die These der fehlenden Wechselbeziehung zwischen Maßregel und Strafe durchbrochen wird. Insbesondere die Einstellung des BGH zur Wechselwirkung ist ambivalent33 und die Rechtsprechung uneinheitlich. Dies zeigt ein Blick auf die Entscheidungen des BGH insbesondere zu §§ 63, 64 StGB und § 66 StGB. In den Fällen etwa, in denen der Angeklagte Revision eingelegt hat, prüft das Revisionsgericht bei entsprechenden Feststellungen regelmäßig auch, ob der Tatrichter rechtsfehlerhaft die Prüfung einer Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB unterlassen oder rechtsfehlerhaft von ihrer Anordnung abgesehen hat, soweit der Angeklagte die Nichtanwendung nicht von dem Rechtsmittelangriff ausgenommen hat.34 Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht nach § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO der Anordnung der Unterbringung im Falle der Urteilsaufhebung und Zurückverweisung nicht entgegen.35 Für den Fall der Urteilsaufhebung wegen fehlerhafter Nichtprüfung bzw. Nichtanwendung von § 64 StGB prüft das Revisionsgericht aber regelmäßig weiter, ob die unterlassene Maßregelanordnung und die Strafzumessung in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, so dass bei Anordnung der Unterbringung die Strafhöhe betroffen sein könnte.36 Ist dies der Fall, so kann auch der gesamte Rechtsfolgenausspruch aufgehoben werden, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Strafe bei Anordnung der Maßregel niedriger ausgefallen wäre. Dies gilt auch dann, wenn der Strafausspruch an sich nicht zu beanstanden ist.37 Eine solche Prüfung des Einflusses der Maßregelanordnung auf den Strafausspruch nimmt der BGH regelmäßig vor. Somit bleibt festzuhalten, dass die Strafhöhe von der (Nicht-) Anordnung einer Maßregel nach §§ 63, 64 StGB beeinflusst werden kann. Entsprechendes gilt bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB.

33

Rissing-van Saan/Peglau in LK, 12. Aufl., § 66 Rn. 236. Zur Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung vgl. nur BGHSt 38, 362. 35 Vgl. auch BGHSt 37, 5 36 BGHSt 38, 362, 365; BGH NStZ 2009, 411; Fischer, StGB, 57. Aufl., § 64 Rn. 29. 37 Aus der Fülle der entsprechenden Entscheidungen vgl. nur BGHSt 37, 5, 10; BGH, Beschl. vom 11.06.1993 - 2 StR 229/93; Beschl. vom 14.07.1992 - 1 StR 415/92; Beschl. vom 17.12.1996 - 1 StR 704/96; , Beschl. v. 3. 09.1991 - 4 StR 346/91; Beschl. vom 27.09. 1991 3 StR 30/9; Beschl. vom 25.10.1991 - 2 StR 460/91 34

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Auch bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung soll zwischen ihr und der Strafe grundsätzlich keine Wechselwirkung bestehen.38 Auch bei der Sicherungsverwahrung folgt aus der strukturellen Trennung von Maßregel und Strafe, dass es grundsätzlich unzulässig ist, anstelle der Sicherungsverwahrung eine höhere Strafe zu verhängen oder die an sich schuldangemessene Strafe im Hinblick auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu unterschreiten.39 Diese strikte Trennung von Sicherungsverwahrung und Strafzumessung wird jedoch in der Rechtsprechung ebenfalls häufig durchbrochen. Aus der Pluralität der Strafzwecke nach § 46 StGB folgt, dass präventive Gesichtspunkte bei der Festsetzung des Strafmaßes mitberücksichtigt werden können. Die Strafe kann im Einzelfall aus spezialpräventiven Gründen bis an die Grenze des noch Schuldangemessenen ausgeschöpft werden. Wird nunmehr zugleich mit der Strafe eine präventive Maßregel angeordnet, dann entlastet dies die tatbezogene Strafe von ihrer spezialpräventiven Funktion und reduziert ihren Zweck weitgehend auf den Schuldausgleich.40 Deswegen nimmt die Rechtsprechung an, dass die gleichzeitige Verhängung der Sicherungsverwahrung bei der Findung der konkreten Strafe innerhalb des dem Tatrichter zur Verfügung stehenden Spielraums für eine schuldangemessene Strafe Berücksichtigung finden kann.41 Die Grenze ist allein die Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe.42 Ist daher die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung rechtsfehlerhaft unterblieben, wird der gesamte Rechtsfolgenausspruch aufzuheben sein, da in der Regel nicht auszuschließen sein wird, dass die Strafe bei Anordnung der Maßregel niedriger ausgefallen wäre.43 Eindeutig ist der Zusammenhang zwischen Strafausspruch und Maßregelanordnung bei der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB.

38 BGH NStZ 2007, 212 f.; BGH NStZ 1994, 280, 281; BGH NJW 1996, 3018, 3019; BGH, Urt. vom 24.03.2010 – 2 StR 10/10; allerdings hat der EGMR in seiner (rechtskräftigen) Entscheidung vom 17.12.2009 in der Rechtssache M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19359/04 = StV 2010, 181 festgestellt, dass Sicherungsverwahrung als „Strafe“ i.S.d. Art. 7 Abs. 1 EMRK einzustufen ist. Ob sich daraus weitergehende Konsequenzen für das System der Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel ergeben, bedarf hier keiner Erörterung. Denn die Sicherungsverwahrung bleibt nach dem Willen des Gesetzgebers in jedem Fall der Verständigung entzogen. 39 Rissing-van Saan/Peglau in LK, 12. Aufl., § 66 Rn. 236. 40 BVerfGE 109, 133. 41 BVerfGE 109, 133; BGH StV 2000, 615 und 2002, 535; BGHR StGB § 66 Strafausspruch 1 und § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 1 und Hang 3; BGH NJW 1999, 3723, BGH NStZ-RR 1998, 206. 42 BGHSt 24, 132. 43 Fischer, StGB, 57. Aufl., § 66 Rn. 42; Jehle in Satzger/Schmitt/Widmaier, § 66 Rn. 55.

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Die Entziehung der Fahrerlaubnis knüpft an die vom Täter begangene rechtswidrige Tat an, aus der sich die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen ergeben soll. Zwischen Tat und Ungeeignetheit muss ein indizieller Zusammenhang bestehen. Die konkrete Tat ist jedoch gleichzeitig Anknüpfungspunkt für die Strafzumessung nach § 46 StGB. Insbesondere bei der Widerlegung der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB spielen Besonderheiten der Tatbegehung eine Rolle, die gleichzeitig wesentliche Strafzumessungsgründe sind.44 Bei der Widerlegung der Regelvermutung kommt es auf eine Gesamtwürdigung an, bei der die Persönlichkeit des Täters, Besonderheiten der Tatausführung und Umstände, die der Tat vorausgegangen oder nachgefolgt sind, eine Rolle spielen.45 Dies aber betrifft wiederum die Strafzumessung. Bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis spielen daher nicht nur dieselben Kriterien wie bei der Strafzumessung eine Rolle, sondern die Entziehung der Fahrerlaubnis beeinflusst auch die Strafe. Da die schuldangemessene Strafe auch auf die individuelle Strafempfindlichkeit des Täters Rücksicht zu nehmen hat, muss das in der Entziehung der Fahrerlaubnis liegende „Übel“ mitberücksichtigt werden. Strafe und Maßregel sind wechselseitig aufeinander abzustimmen46 und stehen in der Regel in einem Abhängigkeitsverhältnis.47 Ebenfalls eindeutig ist der Zusammenhang zwischen den die Strafzumessung bestimmenden und den die Anordnung des Berufsverbots nach § 70 StGB begründenden Umständen. Bei der Prüfung der Anordnung eines Berufsverbots ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter vorzunehmen48, die gleichzeitig bei der Strafzumessung zu erfolgen hat. Da berufsrechtliche Folgen einer Verurteilung bei der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen sind49, muss auch die Tatsache bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden, dass dem Angeklagten durch die Verhängung des Berufsverbots jedenfalls zeitweise die Ausübung seines Berufes untersagt und ihm damit (befristet) seine Einnahmequelle genommen wird. Allein bei der Anordnung der Führungsaufsicht wird eine Auswirkung auf den Strafausspruch wohl zu verneinen sein.

44

Vgl. dazu im Einzelnen Fischer, StGB, 57. Aufl., § 69 Rn. 21 ff. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 69 Rn. 33 ff. 46 Geppert in LK, 12. Aufl., § 69a, Rn. 54, 56, 57. 47 BGHSt 10, 379, 382; Schönke/Schröder/Stree, 27. Aufl., § 69, Rn 68; Hanack in LK, 12. Aufl., § 69, Rn. 237. 48 Fischer, StGB, 57. Aufl., § 69 Rn. 7; Geppert in LK, 12. Aufl., § 70 Rn. 40. 49 Vgl. nur BGHSt 35, 148; BGH StV 1991, 157, BGH StV 2004, 71; BGH NStZ 1987, 550; BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 8, 10, 22, 23. 45

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Danach steht fest, dass (mit Ausnahme der Führungsaufsicht) alle Maßregeln und Annexentscheidungen in einer gewissen Wechselbeziehung zur Strafzumessung stehen und die Anordnung einer Maßregel und die Folgeentscheidungen den Strafausspruch beeinflussen können. Dies hat weitreichende Auswirkungen für eine Verständigung in den Fällen, in denen die Anordnung einer Maßregel mit Folgeentscheidungen im Raum steht.

5. Konsequenzen für eine Verständigung nach § 257c StPO Wenn es dem Gericht auf der einen Seite untersagt ist, auch nur Gespräche über die Anordnung einer Maßregel und Folgeentscheidungen zu führen, auf der anderen Seite jedoch eine Strafober- und untergrenze für eine Verständigung angegeben werden soll, so ergeben sich im Hinblick auf die Abhängigkeit der Strafhöhe von der Maßregelanordnung besondere Schwierigkeiten, wenn das Gericht nicht gleichzeitig mitteilt, ob es eine Maßregel anzuordnen beabsichtigt oder nicht. Der Angeklagte steht vor dem Problem, ob er sich auf Gespräche über eine Verständigung einlassen soll, wenn die Frage der Maßregelanordnung und der Folgeentscheidungen ausgeklammert bleibt. Denn das „ob“ einer Maßregel ist für ihn mindestens von ebensolcher Bedeutung wie der eigentliche Strafausspruch. Er will, bevor er sich auf eine Verständigung einlässt, wissen, ob eine Maßregel angeordnet wird oder nicht. Selbst wenn es zu Gesprächen über eine Verständigung über den Strafausspruch unter Ausschluss der Maßregelanordnung kommt, wird nur schwer über den vom Gericht mitzuteilenden Strafrahmen diskutiert werden können, ohne die Maßregelanordnung wegen der Auswirkungen auf die Strafzumessung mit in den Blick zu nehmen. Für das Gericht könnte sich als Ausweg aus diesem Dilemma folgende Vorgehensweise anbieten. In Betracht kämen alternative Verständigungsvorschläge des Gerichts nach § 257c Abs. 3 StPO. In dem einen wird - bei bestimmten Gegenleistungen den Angeklagten - ein Strafrahmen für den Fall mitgeteilt, dass eine Maßregelanordnung unterbleibt, in dem anderen der Strafrahmen für den Fall, dass eine Maßregel angeordnet wird. Denkbar ist auch, dass das Gericht nur einen Strafrahmen mitteilt, der ungeachtet der Anordnung einer Maßregel zur Anwendung kommen soll. Alternative Verständigungsvorschläge dürften allerdings nur selten in Betracht kommen, da das Gericht bei der Bestimmung des Verständigungsstrafrahmens in Bedacht nehmen kann, dass die Anordnung oder Nichtanordnung einer Maßregel die Strafhöhe beeinflussen kann. Fälle, in denen die Strafen im Falle der An- oder Nichtanordnung von Maßregeln so weit voneinander abweichen, dass auch die Angabe unterschiedlicher Verständi-

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gungsstrafrahmen erforderlich ist, sind kaum denkbar. Aus diesem Grund wird das Gericht bei dem Vorschlag des Verständigungsstrafrahmens diesen so zu bestimmen haben, dass ihm die konkret auszusprechende Strafe sowohl im Falle der Anordnung als auch der Nichtanordnung einer Maßregel entnommen werden kann. In dem Verständigungsvorschlag des Gerichts muss dann ausdrücklich klargestellt werden, dass dieser Strafrahmen ungeachtet der An- oder Nichtanordnung einer Maßregel gilt. Für das Gericht ergeben sich daraus keine besonderen Schwierigkeiten, weil es bei einem derartigen Verständigungsvorschlag hinsichtlich der Maßregelanordnung und der Bestimmung der konkreten Strafe in den Grenzen des vorgeschlagenen Strafrahmens frei ist. Für den Angeklagten wird deutlich, dass sich die Strafe im Falle der Anordnung einer Maßregel im Bereich der Untergrenze des Strafrahmens, im Falle der Nichtanordnung im oberen Bereich bewegen könnte. Allein die Frage der Anordnung einer Maßregel und von Folgeentscheidungen bliebe ungewiss. Die Schwierigkeiten liegen gleichwohl bei dem Angeklagten und der Verteidigung. Für diese sind bei einer solchen Vorgehensweise die Gespräche über eine Verständigung über den Strafausspruch wesentlich erschwert, wenn die Auswirkungen einer Maßregelanordnung bei der Erörterung über den Verständigungsstrafrahmen ausgeklammert bleiben müssen. Insoweit käme allenfalls in Betracht, dass alternative Vorstellungen jeweils für den Fall der Anordnung bzw. der Nichtanordnung einer Maßregel vorgetragen werden. Und für den Angeklagten schließlich erbringt dieses Vorgehen nicht die Sicherheit über das Verfahrensergebnis, das er sich von einer Verständigung verspricht. Denn die Maßregelanordnung bleibt ungewiss. Wenn das Gesetz aber die Anordnung von Maßregeln und der Folgeentscheidungen der Verständigung entzieht, bleibt m. E. bei gesetzeskonformer Vorgehensweise keine andere als die hier vorgeschlagene Lösung. Ob die Verfahrensbeteiligten und insbesondere der Angeklagte sich bei dieser „Gemengelage“ auf Gespräche über eine Verständigung über den Rechtsfolgenausspruch unter Ausklammerung einer Maßregelanordnung einlassen, ist eine andere Frage. Für das Gericht könnte es naheliegend sein, wegen der aufgezeigten Schwierigkeiten die Fälle, in denen die Anordnung einer Maßregel in Betracht kommt, als „ungeeignet“ i.S.d. § 257c Abs. 1 StPO anzusehen und daher Gespräche mit dem Ziel einer Verständigung von vornherein ablehnen. Staatsanwaltschaft und Verteidigung steht es ohnehin frei, sich auf solche Gespräche einzulassen oder nicht.

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6. Ausblick Wie die Praxis mit diesen Problemen umgehen wird, bleibt abzuwarten. Bei gesetzeskonformen Verhalten der Verfahrensbeteiligten dürften die Verständigungen wegen der aufgezeigten Schwierigkeiten in „Maßregelfällen“ erheblich zurückgehen. Zweifel an der Gesetzestreue sind allerdings angebracht. Die bisherigen Erfahrungen stimmen wenig optimistisch.50 Die ersten Berichte aus der Praxis über Absprachen in „Normalverfahren“ gehen dahin, dass die neuen Vorschriften des VerstG nicht immer angewandt werden und nach wie vor heimlich „gedealt“ wird („Verständigen wir uns nach neuem Recht oder wie bisher?“, „Wir protokollieren nichts, dann kann die Sache gleich rechtskräftig werden“). Dass die Verfahrensbeteiligten gerade in den problembeladenen „Maßregelfällen“ auf das seit Jahrzehnten „bewährte“ Mittel der Absprache zur unkomplizierten Verfahrenserledigung verzichten werden, ist wenig wahrscheinlich. Es steht zu befürchten, dass in diesen Fällen nach wie vor contra legem heimlich „gedealt“ wird. Denkbar ist auch, dass zwar offiziell und regelgerecht eine Verständigung unter Ausschluss der Maßregel herbeigeführt, heimlich jedoch der Deal über die Maßregelanordnung geschlossen wird, der selbstverständlich unausgesprochener Bestandteil der offiziellen Verständigung ist. Es ist kein Geheimnis, dass die zu Ehrende Verständigungen im Strafverfahren äußerst kritisch gegenüber steht. Gleichwohl sieht sie in der gesetzlichen Regelung über die Verständigung Vorteile, weil nunmehr verbindliche Vorgaben vorhanden sind, anhand derer der BGH das Verfahren bei einer Verständigung und deren Grenzen in der künftigen Rechtsprechung klar und für die Tatgerichte bindend vorgeben und durchsetzen kann. Ob dies im Sinne der Jubilarin gelingen wird, bleibt abzuwarten. Die ersten Hinweise in der Rechtsprechung des BGH lassen allerdings nichts Gutes vermuten. Bereits jetzt deuten sich Divergenzen zwischen den Strafsenaten des BGH in der Interpretation der neuen Vorschriften an. Während der 3. Strafsenat des BGH (nicht tragend) darauf hingewiesen hat, dass die Befugnis zur Erhebung von Verfahrensrügen dem Angeklagten auch dann uneingeschränkt erhalten bleibt, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist51, hält der 5. Strafsenat des BGH an der vorgesetzlichen Rechtspre-

50

Vgl. auch Fischer, 57. Aufl., § 46 Rn. 120. BGH StV 2009, 628 (Rüge fehlerhafter Abwesenheit des Angeklagten nach Beurlaubung nach § 231c StPO); auch BGH (3. Strafsenat) StV 2009, 680 (Rüge örtlicher Unzuständigkeit); für die unbeschränkte Zulässigkeit von Verfahrensrügen auch Weider in Niemöller, Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, Teil C, Rn. 4; Pfister StV 2009, 550, 553, Beulke StV 2009, 554, 556. 51

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chung52 zur Unzulässigkeit bestimmter Verfahrensrügen bei einem Verständigungsurteil fest.53 Der 1. Senat sieht es als zulässig an, gegen ein Verständigungsurteil sofort Revision einzulegen, um es kurze Zeit später wieder zurückzunehmen, um so die Rechtskraft alsbald herbeizuführen.54 Damit ist der Weg eröffnet, auch ein offizielles Verständigungsurteil sofort in Rechtskraft erwachsen zu lassen und es so der revisionsrechtlichen Kontrolle zu entziehen. Es sollte Aufgabe der Rechtsprechung der Revisionsgerichte sein, die Tatgerichte zu einer gesetzeskonformen Vorgehensweise bei einer Verständigung anzuhalten. Dies wird nur dann geschehen können, wenn die revisionsrechtlichen Kontrollmöglichkeiten weitestgehend erhalten bleiben und Urteile bei fehlerhafter Rechtsanwendung oder gar Umgehung der Vorschriften für das Verständigungsverfahren aufgehoben werden. Vielleicht bedarf es aber auch erst der Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen die an einer illegalen Absprache Beteiligten wegen Rechtsbeugung, Beihilfe oder Anstiftung dazu, um Richter, Staatsanwälte und Verteidiger zur Räson zu bringen.55 Der 1. Strafsenat hat in seiner Entscheidung56, in der es um eine Verständigung mit Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung ging, folgendes ausgeführt: „Die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung ist einer Verständigung im Strafverfahren nicht zugänglich.... Gleichwohl haben die Verfahrensbeteiligten, denen dies bewusst war, eine solche Verständigung angestrebt. Sie taten dies im Laufe der Hauptverhandlung sogar auch noch aus sachfremden Gesichtspunkten (Aufklärungshilfe für andere Straftaten). Dieses Vorgehen lief auf eine erhebliche Rechtsverletzung hinaus. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Anordnung der Maßregel hier nur nach § 66 Abs. 2 StGB in Betracht kam und deshalb im Ermessen 52 BGH (1. Strafsenat) StV 2009, 169 (Befangenheitsrüge) m. Anm. Beulke StV 2009, 394; BGH (5. Strafsenat) StV 2006, 284 (unterbliebene Ladung des Wahlverteidigers). 53 BGH StV 2010, 470 m. Anm. Wattenberg: Unzulässigkeit der Rüge der Nichtbescheidung eines Entpflichtungsantrags, wenn unter ausschließlicher Mitwirkung eben dieses Verteidigers eine Verständigung getroffen wurde mit Hinweis auf die Unzulässigkeit der Rügen der Verletzung von § 218 Abs. 1 StPO und § 24 Abs. 1 StPO nach einem Verständigungsurteil. 54 StV 2010, 346. 55 Zur Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung bei einer Absprache vgl. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 339, Rn. 10; Schlothauer in Niemöller/Schlothauer/Weider, VerstG, Teil D, Rn. 3 ff.; vgl. aber auch Fischer, StGB, 57. Aufl., § 46 Rn. 119, der den Tatbestand der Rechtsbeugung für eine „zahnlose Drohung“ hält, weil die Verfahrensbeteiligten der Auffassung seien, im Wege der Verständigung ein „im Ergebnis richtiges Urteil“ auf bequemen Wege erzielt zu haben; andererseits aber § 339 Rn. 17: Die Vorstellung, „das Richtige zu tun“, steht bei bewusster Entfernung vom Gesetz dem direkten Vorsatz der Rechtsbeugung nicht entgegen. 56 BGH StV 2008, 561.

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der Strafkammer stand. Ein nach einem gerichtlichen Höchststrafangebot abgegebenes Geständnis ist - gleichgültig, zu welchem Zeitpunkt es abgegeben wird - grundsätzlich nicht geeignet, die Ermessensausübung entscheidend zu beeinflussen ...“. Ein Anfangsverdacht für eine Rechtsbeugung liegt danach nicht fern.

Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren THOMAS WEIGEND

Die Internationalisierung des Rechts lässt auch das Strafverfahren nicht unberührt. Anzeichen dafür finden sich allenthalben. Höchst bedeutsam sind zunächst die Einflüsse internationaler Menschenrechtsinstrumente, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention.1 In Zukunft werden sicher auch die (wenigen, aber wichtigen) prozessrechtlichen Regelungen in Art. 47 bis 50 der Europäischen Grundrechtecharta (u.a. Recht auf rechtliches Gehör und faires Verfahren, Recht auf Rechtsmittel, Unschuldsvermutung, Recht auf Verteidigung, Grundsatz ne bis in idem)2 an praktischer Bedeutung gewinnen, da diese nunmehr als mit den Europäischen Verträgen gleichrangiges Recht die Mitgliedstaaten der EU binden (Art. 6 Abs. 1 EUV in der Fassung von Lissabon). Art. 82 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU) eröffnet den Organen der EU (Rat und Europäisches Parlament) die Möglichkeit, alle Mitgliedstaaten verpflichtende „Mindestvorschriften“ über die Rechte des Einzelnen (gemeint wohl: des Beschuldigten) und des Opfers im Strafverfahren sowie 1 Die vielfältige Bedeutung der EMRK für das deutsche Strafverfahrensrecht dokumentiert insbesondere das Lehrbuch von Kühne, Strafverfahren, 8. Aufl. 2010 (insb. S. 8 ff.). Eingehend zur Relevanz der EGMR-Rechtsprechung für Deutschland Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002; Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 90 ff.; Kieschke, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, 2003. Die anfängliche Erwartung, dass die EMRK für Deutschland keine große Bedeutung entfalten werde, da hier bereits alle rechtsstaatlichen Erfordernisse durch Grundgesetz und Strafprozessordnung erfüllt seien, hat sich angesichts des Aktivismus der Straßburger Richter als Trugschluss erwiesen; siehe zuletzt die für Deutschland negativen Entscheidungen des EGMR in den Rechtssachen M. v. Deutschland, Nr. 19359/04, Urt. v. 17.12.2009 (Sicherungsverwahrung) und Gäfgen v. Deutschland, Nr. 22978/05, Urt. v. 1.6.2010 (Folterverbot). Siehe hierzu ferner Korn, Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren, 2005; aufschlussreich die Gegenüberstellung deutschen und europäischen Rechts zum „fair trial“ bei Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14. 2 Siehe hierzu neben den einschlägigen Kommentaren zur Grundrechtecharta Eser, Ritsumeikan Law Review 26 (2009), 163.

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über die „Zulässigkeit“ von Beweismitteln zu erlassen; nicht zu Unrecht wird daher bereits über eine „Europäisierung“ auch des Strafverfahrens diskutiert.3 Über Europa hinaus verbindlich sind die prozessrechtlichen Garantien des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, die inhaltlich weitgehend mit denjenigen der EMRK übereinstimmen.4 Gestützt auf menschenrechtliche Grundlagen entwickelt sich im Übrigen ein „gemeines Recht“ des Strafverfahrens aus der Praxis der internationalen Straftribunale, etwa für Jugoslawien und Ruanda5, sowie des permanenten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH).6 Deren Verfahrensregelungen wirken selbstverständlich nicht unmittelbar auf die Anwendung der deutschen Strafprozessordnung ein, aber sie können aufgrund ihrer internationalen Herkunft sowie der rechts-multikulturellen Zusammensetzung der Gerichtshöfe jedenfalls auf grundsätzliche Akzeptanz jenseits einer einzelnen Rechtsordnung hoffen.7 Durch die Schaffung und das Funktionieren der internationalen Verfahrensordnungen ist auch neue Bewegung in den alten Wettstreit der Verfahrenssysteme gekommen: Insbesondere die Verfahrensordnung des IStGH weist Elemente sowohl des adversary system auf, das in der englischsprachigen Welt dominiert, als auch des immer noch als „inquisitorisch“ apostrophierten kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, das 3

Schünemann StV 2006, 361; Vogel/Matt StV 2007, 206. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 ist für die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1976 in Kraft getreten (BGBl. 1973 II S. 1534). Wesentliche Verfahrensrechte sind dort in Art. 7 (Folterverbot), 9-10 (Schutz vor Festnahme und bei Haft) und 14 (Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren) geregelt. Anders als die EMRK enthält der Pakt in Art. 14 (3) (g) die ausdrückliche Garantie, dass der Angeklagte nicht gezwungen werden darf, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen. 5 Deren - von den Tribunalen selbst geschaffene und laufend angepasste - Verfahrensordnungen findet man am besten im Internet unter: http://www.icty.org/sections/LegalLibrary/RulesofProcedureandEvidendence und http://liveunictr.altmansolutions.com/Portals/0/English/Legal/ROP/100209.pdf. 6 Die „Rules of Procedure and Evidence“ des IStGH finden sich unter: http://www.icccpi.int/NR/rdonlyres/F1E0AC1C-A3F3-4A3C-B9A7-B3E8B115E886/140164/Rules_of_proce dure_and_Evidence_English.pdf 7 Ansätze zu einem “internationalen Strafverfahren” werden dargestellt bei Chester Brown, A Common Law of International Adjudication, Oxford 2009; Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst, An Introduction to International Criminal Law and Procedure, 2. Aufl. Cambridge 2010, S. 425 ff.; Knoops, Theory and Practice of International and Internationalized Criminal Proceedings, den Haag 2005; Safferling, Towards an International Criminal Procedure, Oxford 2001; Sluiter, in: Stahn/van den Herik (Hrsg.), Future Perspectives on International Criminal Justice, den Haag 2010, S. 585 ff. Zum Verfahren vor den internationalen Strafgerichtshöfen siehe Findlay International and Comparative Law Quarterly 50 (2001), 26; Kamardi, Die Ausformung einer Prozessordnung sui generis durch das ICTY unter Berücksichtigung des Fair-Trial-Prinzips, 2009, S. 169 ff.; Orie, in: Cassese/Gaeta/Jones, The Rome Statute of the International Criminal Court, Bd. II, Oxford 2002, S. 1439 ff.; Politi/Gioia The Law & Practice of International Courts and Tribunals 5 (2006), 103. 4

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durch die beherrschende Stellung des Gerichts im Hauptverfahren gekennzeichnet ist.8 Durch die Vermischung und gegenseitige Beeinflussung der Verfahrenssysteme eröffnen sich neue Perspektiven für einige strafprozessuale Grundsatzfragen. Ich möchte die Wahrheitsfindung als Schlüsselproblem des Strafverfahrens herausgreifen und ein paar Gedanken zu der Frage anzubieten, welche Rolle die Wahrheitsfindung im Strafprozess heute (noch) hat und auf welche Weise man sich im Kontext des Verfahrens um die Wahrheit bemühen kann. Diese Gedanken widme ich der Jubilarin in herzlicher Verehrung und in Erinnerung an manches bereichernde Gespräch, zu dem ihre – leider nur kurzfristige – Lehrtätigkeit in Köln Gelegenheit geboten hat.

1. Wahrheitsfindung als bestimmendes Element des Strafverfahrens Die denkbaren Zweckbestimmungen des Strafverfahrens sind zahlreich,9 aber es gibt nur wenige, die ohne das Streben nach Wahrheit als ein wesentliches Element auskommen. Das gilt selbstverständlich überall dort, wo „Wahrheit und Gerechtigkeit“, die Erreichung von „Rechtsfrieden“10, das Treffen einer „richtigen“ Entscheidung oder die „Durchsetzung des materiellen Strafrechts“ als Ziele des Verfahrens angestrebt werden – all dies kann nicht gelingen, ohne dass man sich redlich um Aufklärung des Sachverhalts bemüht hat; bloße Vermutungen über das Geschehene reichen für ein gerechtes, Rechtsfrieden stiftendes Urteil nicht aus. Aber selbst dort, wo man das Ziel des Strafverfahrens vor allem in der Beilegung (oder, weniger anspruchsvoll: Erledigung) eines „Konflikts“ sieht, wie dies vor allem von Autoren aus dem common-law-Bereich angenommen wird,11 kommt man 8 Siehe dazu Ambos International Criminal Law Review 3 (2003), 1; Fairlie International Criminal Law Review 4 (2004), 243. 9 Überblick über den Diskussionsstand bei Murmann GA 2004, 65; Rieß JR 2006, 269; siehe auch Wagner, in: Hoyer/Hattenhauer/Meyer-Pritz/Schubert (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jörn Eckert, 2007, S. 939. 10 Dieser Begriff ist allerdings mehrdeutig; siehe dazu Rieß JR 2006, 269, 270 f. Er kann (u.a.) im Sinne der Wiederherstellung des durch die Tat gestörten sozialen Friedens, aber auch bloß als endgültiger Abschluss des Strafverfahrens durch rechtskräftige Entscheidung verstanden werden (so wohl Beulke, Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rn. 6). Im letzteren Fall kommt es streng genommen auf den Inhalt der Entscheidung und damit auch auf ihre zutreffende Tatsachengrundlage nicht an. Allerdings führt diese „Zielbestimmung“ ins Leere: jeder Prozess, der endgültig abgeschlossen wird, erreicht damit auch sein Ziel. 11 Siehe etwa Fairlie (Fn. 8) 248 (im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Prozesssystem gehe es im anglo-amerikanischen System mehr um “dispute settlement”, weshalb man dort bereit sei “to subordinate the truth to other competing interests”). Siehe hierzu auch Jackson, in

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nicht zum Ziel, wenn man die Lösung auf eine Fiktion gründet. Das klassische Beispiel für das Misslingen eines solchen Versuchs ist das sog. Alford plea: In einem US-amerikanischen Strafverfahren legte der Angeklagte Alford ein formelles Schuldbekenntnis zu dem Verbrechen des Mordes ab; gleichzeitig erklärte er, dass er diese Tat gar nicht begangen habe. Das Gericht nahm das guilty plea Alfords dennoch entgegen, und der US Supreme Court bestätigte diese Entscheidung, nachdem sich Alford nachträglich mit Rechtsmitteln gegen seine Verurteilung aufgrund des guilty plea zur Wehr gesetzt hatte 12 Alford pleas werden dennoch auch in den USA als Anomalie angesehen: Man kann eine gerichtliche Entscheidung nicht allein auf eine Angabe gründen, von der der Betroffene erklärt, dass sie sachlich unzutreffend sei.13 Das Beispiel zeigt, weshalb auf Wahrheitssuche in einem offiziellen Gerichtsverfahren nicht verzichtet werden kann: Ein Urteil, das erklärtermaßen auf einer fiktiven Grundlage beruht, wird als Mittel der sozialen Gestaltung, überhaupt als offizielle Äußerung nicht ernst genommen; denn ohne den Anspruch, Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist das Urteil des Gerichts allenfalls ein formal durchsetzbarer Machtspruch, aber nichts, das soziale Anerkennung erwarten kann.14 Verschiedene Auffassungen gibt es allerdings zu der Frage, wie „Wahrheit“ im (Straf-)Verfahren zustande kommen kann.15 Auf der einen Seite steht die Theorie vom „verborgenen Goldstück“ – die Wahrheit existiert

Duff/ Farmer/Marshall/Tadros (Hrsg.), The Trial on Trial, Bd. 1 (2004), S. 121, 124 f.; Jung JZ 2009, 1129, 1130, 1134. 12 North Carolina v. Alford, 400 U.S. 25 (1970). Alford war wegen Mordes angeklagt. Im Fall einer Hauptverhandlung vor der jury drohte ihm die Todesstrafe, durch ein guilty plea war diese Möglichkeit ausgeschlossen. Alford erklärte gleichzeitig mit der Abgabe des formellen Schuldbekenntnisses: „I pleaded guilty on second degree murder because they said there is too much evidence, but I ain’t shot no man, but I take the fault for the other man. (…) I just pleaded guilty because they said if I didn’t they would gas me for it, and that is all” (a.a.O. S. 28). Siehe die Analyse des Alford-Falles aus deutscher Sicht bei Ransiek, ZIS 2008, 116, 118 ff.; siehe dazu auch schon Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990, S. 70. 13 Siehe etwa McEwan, in: Duff/Farmer/Marshall/Tadros (Hrsg.), The Trial on Trial, Bd. 1 (2004), S. 51, 58 (“truth is here subservient to defendant autonomy, or the appearance of it”); vgl. auch Trüg/Kerner, in: Schöch/Helgerth/Dölling/König (Hrsg.), Recht gestalten – dem Recht dienen (FS für Reinhard Böttcher), 2007, S. 191, 201; Trüg ZStW 120 (2008), 331, 359. 14 Grundlegend Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969; siehe auch Weigend Harvard Journal of Law & Public Policy 26 (2003), 157, 167 ff.; Jung JZ 2009, 1129, 1130 („Das Ergebnis und damit das Verfahren selbst wird deswegen akzeptiert, weil das Bemühen auf historische Treffsicherheit ausgerichtet ist und nicht darauf, sich hier und jetzt auf eine bestimmte Geschichte zu verständigen…“) 15 Überblick bei Hörnle Rechtstheorie 35 (2004) S. 175; siehe auch Trüg/Kerner (Fn. 13) S. 192 ff.

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irgendwo, man muss sie nur finden.16 Den Gegensatz dazu bildet die prozessuale Wahrheitstheorie: Wahrheit entsteht erst durch prozessuale Interaktion, und was sich aufgrund eines fairen Verfahrens ergibt, ist „automatisch“ die Wahrheit.17 Oft wird das inquisitorische Verfahren des kontinentaleuropäischen Strafprozesses mit der erstgenannten Theorie gleichgesetzt, das adversatorische Verfahren der common lawRechtsordnungen mit der prozessualen Wahrheitstheorie.18 Dies überzeichnet jedoch den Gegensatz zwischen den beiden Systemen. Auch im Verfahren nach common law geht es um die Feststellung dessen, was „wirklich“ geschehen ist. Allerdings gibt es einen tendenziellen Unterschied gegenüber der „inquisitorischen“ Denkweise: Man betont im anglo-amerikanischen Bereich stärker den Umstand, dass die Regeln des fairen Verfahrens die Wahrheitssuche begrenzen19 – Wahrheit soll sich in einem fairen Verfahren herausstellen, und die Einhaltung der Regeln ist mindestens so wichtig wie die „objektive Richtigkeit“ des Ergebnisses. 20 Die Trennlinie zwischen den unterschiedlichen Wahrheitsverständnissen ist im Übrigen diffus und verläuft auch nicht strikt entlang der Grenze zwischen common law und civil law. Sowohl die Schwerpunktsetzung bei der prozessualen Wahrheitssuche („objektive Wahrheit“ vs. Einhaltung von Verfahrensregeln) als auch die Verteilung der Aufgaben zwischen den Parteien und dem Gericht in der Hauptverhandlung sind weniger von Verfahrensmodellen – die in der Wirklichkeit der nationalen Rechtsordnungen ohnehin nicht „rein“ abgebildet sind – als vielmehr von Gerechtigkeitsvorstellungen21 und (rechts-)politischen Präferenzen22 abhängig und deshalb 16

Siehe Volk Festschrift für Hans Dahs, 2005, S. 495, 496. Grande, in: Jackson/Langer/Tillers (Hrsg.), Crime, Procedure and Evidence in a Comparative and International Context, 2008, S. 145, 146 f., spricht von “interpretative truth”; siehe auch Hodgson, in: Duff/Farmer/Marshall/Tadros (Hrsg.), The Trial on Trial, vol. 2, 2006, S. 223, 225 (im common law “legal truth is something which is seen as contingent, existing not so much as an objective absolute but as the most plausible or likely account, established after the elimination of doubt”).. 18 Siehe z.B. Trüg/Kerner (Fn. 13), 197 ff. Zur englischen Kritik an der Korrespondenztheorie von Wahrheit im Kontext des Strafverfahrens siehe Dennis, The Law of Evidence, 2007, S. 116 ff. 19 Siehe z.B. King International Legal Perspectives 12 (2001-02), 185, 188 (“pragmatic truth”). 20 Damaska University of Pennsylvania Law Review 121 (1973), 506, 581 (“Almost imperceptibly, the emphasis shifts here from problems of cognition to the concern that parties abide by the rules regulating their ‘battle’”.). Differenzierte und tiefschürfende Analyse dieser Frage bei Duff/Farmer/Marshall/Tadros, The Trial on Trial, vol. 3, 2007, S. 62 ff. 21 Siehe King (Fn. 19), der die unterschiedliche Wahrheitsorientierung in den USA und Europa anhand philosophischer Traditionen zu erklären versucht. 22 Siehe die inzwischen „klassische“ Erklärung unterschiedlicher Justiz- und Gerechtigkeitsstile aufgrund verschiedener Interpretationen der staatlichen Ordnung („reactive state“ und 17

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auch im Lauf der Zeit veränderbar. So ist die Präsentation der Beweise in der Hauptverhandlung durch die Parteien längst keine Spezialität des angloamerikanischen Rechts mehr, sondern findet auch in einigen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen statt23 - auch ein Staat, der ein aktives Interesse an der Wahrheitsfindung hat, kann also die Initiative in der Hauptverhandlung durchaus (zunächst24) den Parteien überlassen. Andererseits wird der Grundsatz, dass die Wahrheit nicht „um jeden Preis“, sondern nur unter Beachtung bestimmter Regeln, die auf wahrheitsexternen Zwecken beruhen, erforscht werden darf,25 auch in den Rechtsordnungen des „civil law“ respektiert, so dass heute – wenngleich in unterschiedlichem Umfang – etwa die Intimität zwischen Ehepartnern, bestimmte Berufsgeheimnisse und der Schutz vor erzwungener Selbstbelastung allgemein als Grenzen der Wahrheitsermittlung vor Gericht anerkannt sind.26 Ein anderes Beispiel für die geringe Erheblichkeit von Rechtstraditionen ist der Umstand, dass sich bekanntlich Beweisverwertungsverbote wegen unrechtmäßiger Beweiserhebung in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland in beachtlichem Umfang durchgesetzt haben,27 während sich das englische Recht (obwohl es eigentlich stärker „regelorientiert“ sein müsste) insoweit deutlich zurückhält.28 Man wird also nicht sagen können, dass die Entscheidung für die eine oder die andere Orientierung der Wahrheitssuche mit dem jeweiligen

„activist state“) bei Damaska, The Faces of Justice and State Authority, New Haven 1986, S. 47 ff. (siehe dazu aus der Sicht des „internationalen“ Strafprozesses Swart Journal of International Criminal Justice 6 [2008], 87); Damaska Law, Probability and Risk 2 (2003), 117. Im Strafverfahren ist allerdings auch der „reactive state“ gleichzeitig als Partei engagiert, so dass Damaskas Modell hier nicht genau passt. 23 Siehe Art. 496, 498 ital. StPO; Art. 708 span. StPO (Befragung der Zeugen zunächst durch die Parteien, die sie benannt haben). 24 Zur ergänzenden Rolle des Richters bei der Sachaufklärung im adversatorischen System siehe unten bei Fn. 62. 25 So die bekannte Formulierung in BGHSt 14, 358, 365. 26 Siehe den Überblick in: Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer, Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote (AE-ZVR), 1996, S. 121 ff. 27 Aktueller Überblick bei Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, Einl. Rn. 55 ff. Es ist allerdings festzustellen, dass die deutschen Gerichte nicht zuletzt aufgrund der Priorität der Wahrheitsfeststellung die Nichtverwertung eines vorhandenen Beweismittels immer noch als begründungsbedürftige Anomalie ansehen; siehe etwa BVerfG NJW 2010, 287; BGHSt 44, 241, 249; 51, 285, 290 (Beweisverwertungsverbot „nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall“). 28 Section 78 Police and Criminal Evidence Act 1984 überlässt es dem Ermessen des Gerichts, rechtswidrig erlangte Beweisstücke zuzulassen oder zurückzuweisen; siehe hierzu Spencer, in: Delmas-Marty/Spencer (Hrsg.), European Criminal Procedures, Cambridge 2006, S. 603 ff.

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„Volksgeist“ oder einer bestimmten „Rechtskultur“ zwingend verbunden ist.29 Auch wenn sich also der von der traditionellen Rechtsvergleichung stets als Bezugspunkt genommene Gegensatz zwischen den Verfahrenssystemen des common law und des civil law zunehmend relativiert, so bleiben doch unterschiedliche Grundhaltungen bestehen. Im adversatorische Modell setzt man auf den Wettstreit der Parteien in einem dialektischen Verfahren als die effektivste Methode, die Wahrheit ans Licht zu bringen: Durch die Präsentation der unterschiedlichen Versionen von Wahrheit durch Anklage und Verteidigung sowie durch die Überprüfung der jeweiligen Version durch die Gegenpartei soll sich die „wahre“ Wahrheit herauskristallisieren.30 Demgegenüber setzt das inquisitorische Modell bekanntlich auf die aktive Aufklärungstätigkeit des Richters als eines am Ergebnis zunächst desinteressierten staatlichen Amtsträgers,31 der sich gewissermaßen hauptberuflich um Wahrheitsfindung zu kümmern hat. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Modellen besteht heute noch darin, dass der Umfang der zu erhebenden Beweise im adversatorischen Verfahrenstyp von den Parteien, im inquisitorischen Verfahrenstyp dagegen vom Gericht bestimmt wird.32

2. Das Vordringen des adversatorischen Modells Die Grenzen zwischen common law und civil law verschwimmen. Auffällig ist dabei, dass die Entwicklung durchweg in dieselbe Richtung geht: Traditionell am kontinentaleuropäischen System orientierte Verfahrensordnungen übernehmen jedenfalls für die Hauptverhandlung die Struktur des anglo-amerikanischen Parteiverfahrens.33 Man könnte geneigt sein, aus dieser offensichtlichen Attraktivität des adversatorischen Verfahrens im internationalen Wettbewerb auf die Überlegenheit dieses Verfahrenstyps bei der Suche nach der (mindestens: prozessual relevanten) Wahrheit zu schließen. Ob die dialektische Methode tatsächlich besser geeignet ist, im Wege der Gegenüberstellung einander widersprechender Thesen „Wahrheit“ zu 29

Siehe zur Frage einer „kulturellen“ Grundierung unterschiedlicher Strafjustizsysteme Eser Festschrift für Klaus Tiedemann, 2008, S. 1453, 1456 f.; Hörnle ZStW 117 (2005), 801; Vogel GA 2010, 1, 7 f. 30 Siehe Damaska (Fn. 22), 109 ff.; Damaska, Evidence Law Adrift, 1997, S. 74 ff.; Hodgson (Fn. 17), 223 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren, 2003, S. 66-70. 31 Zweifelnd diesbezüglich Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 340 ff. 32 Siehe Kirsch StV 2003, 636, 638. 33 Beispiele unten bei 3.

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produzieren,34 ist freilich nach wie vor eine offene Frage.35 Zwei wesentliche Argumente sprechen für die adversatorische Beweisauswahl und -präsentation: Das Eigeninteresse der Verfahrensparteien bewirkt, dass sie sich mit großem Einsatz um das Auffinden und die wirksame Darstellung der Beweismittel bemühen, die für ihre jeweilige Seite der Wahrheit sprechen; insgesamt soll so die Informationsbasis für die Schlussentscheidung des Gerichts optimiert werden.36 Demgegenüber muss sich das inquisitorische Verfahrensmodell ausschließlich auf das Pflichtbewusstsein und das Befragungsgeschick der Richter verlassen.37 Der zweite Vorteil des adversatorischen Modells besteht darin, dass es keine Vorinformation des Gerichts über die Ermittlungsergebnisse notwendig macht;38 so wird jeder Anschein der Befangenheit des Gerichts vor Beginn der Hauptverhandlung vermieden. Diesen Vorteilen stehen allerdings beträchtliche Probleme gegenüber, die es insgesamt eher als unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass durch den adversatorischen Verfahrensmodus tatsächlich die „ganze Wahrheit“ zur Urteilsgrundlage wird.39 Nur hinzuweisen ist auf den typischerweise größeren Zeitaufwand, der für die Verhandlung eines „streitigen“ Falles im Parteiverfahren nötig ist: Die doppelte Beweispräsentation durch Verhör und Kreuzverhör sowie die Klärung der wegen der Verfahrensstruktur40 komplizierten Verfahrensfragen (durch „bench conferences“, bei denen Ankläger und Verteidiger im Flüsterton mit dem Vorsitzenden beraten) nehmen deutlich mehr Zeit in Anspruch als die Sachverhaltsaufklärung durch einen gut 34 Es wird in diesem Abschnitt von einem „streitigen“ Verfahren ausgegangen, bei dem Anklage und Verteidigung unterschiedliche Tatsachenversionen vortragen; zum „unstreitigen“ Verfahren unten 4. 35 Siehe hierzu Duff/Farmer/Marshall/Tadros (Fn. 20), 62 ff.; Kühne GA 2008, 361-364; Schünemann StraFo 2010, 90, 91 ff.; Trüg (Fn. 30), 59 ff. 36 Siehe die überzeichnete, aber für die US-amerikanische Sicht nicht untypische Stellungnahme von Walpin Harvard Journal of Law & Public Policy 26 (2003), 175, 177: “In the adversarial system, the lawyer for a party has the duty to act zealously and faithfully for his client. […] That is simply not the obligation of an inquisitorial judge”. 37 Dieser Nachteil wird allerdings deutlich entschärft, wenn den übrigen Verfahrensbeteiligten, wie im deutschen Recht, weitreichende Fragerechte zugestanden werden. 38 Siehe zu dem Problem der Vorinformation des Gerichts beim inquisitorischen Verfahrenstyp Damaska Law, Probability and Risk 2 (2003), 117, 121; Eser (Fn. 29), 1459, 1469 f.; Schünemann StV 2000, 159 39 Gute Zusammenfassung der Probleme bei Jackson, in: McConville/Wilson (Hrsg.), The Criminal Justice Process, 2002, S. 335, 337 f.; siehe auch Eser, in: Krüssmann (Hrsg.), ICTY: Towards a Fair Trial, 2008, S. 207; Weigend Harvard Journal of Law and Public Policy 26 (2003), 157, 158 ff. 40 Wobei der wesentliche Faktor für die Komplizierung des Beweisrechts in Rechtsordnungen des common law in der Entscheidungsfindung durch eine ohne Mitwirkung von Berufsrichtern beschließende jury liegt.

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vorbereiteten Vorsitzenden etwa in einer deutschen Hauptverhandlung.41 Ebenfalls nur am Rande erwähnt sei die durch die bipolare adversatorische Struktur vorgegebene Schwierigkeit, dem Verletzten eine aktive Position im Verfahren einzuräumen;42 es ist kein Zufall, dass der Verletzte im angloamerikanischen Strafverfahren immer noch eine marginale Rolle spielt und dass dort Einrichtungen wie Nebenklage oder action civile als eher exotisch und jedenfalls systemfremd betrachtet werden. Außerdem kann der Verletzte im richterlich dominierten Verfahrenstyp als Zeuge grundsätzlich besser vor Angriffen geschützt werden als im adversatorischen Verfahren.43 Von mehr grundsätzlicher Bedeutung als die genannten „Randstörungen“ sind weitere Defizite des adversatorischen Verfahrenstyps.44 So kann zunächst die als „beste Maschinerie zum Hervorbringen der Wahrheit“45 gepriesene Methode des Kreuzverhörs von Zeugen der Gegenpartei in der Hand geschickter und zielorientierter Anwälte dazu führen, dass auch wahrheitsgemäß aussagende Zeugen so verunsichert oder eingeschüchtert werden, dass ihre Aussagen am Schluss nicht mehr als glaubhaft erscheinen.46 Es kann also bei der kritischen Prüfung der Aussagen von Zeugen und Sachverständigen aufgrund der strikten Parteilichkeit des Verfahrens zu einem overkill kommen, der dem Gericht letztlich nicht mehr viel an verlässlicher Tatsachengrundlage für seine Entscheidung übrig lässt. Dieses Problem exemplifiziert den prinzipiellen Nachteil des adversatorischen Verfahrens, der darin liegt, dass keine der Verfahrensparteien darauf abzielt, ein objektives und vollständiges Bild der „wahren“ Tatsachen zu zeichnen, sondern dass jede Partei nur das vorträgt, was für ihre Verfahrensposition 41

Eser (Fn. 29), 1463; Langer American Journal of Comparative Law 53 (2005), 835, 872 ff. 42 Siehe Blondel Duke Law Journal 58 (2008), 237; Dubber, Victims in the War on Crime, 2002, S. 7 ff.; Fletcher, With Justice for Some: Victims' Rights in Criminal Trials, 1994; McEwan (Fn. 13), 61; Pizzi Utah Law Review 1999, 349. Siehe auch die vergleichende Studie (Deutschland/USA) zur Stellung des Opfers im Strafverfahren von Pizzi/Perron Stanford Journal of International Law 32 (1996), 37. 43 Gerade deshalb gibt es freilich in den USA gesetzliche Gegensteuerungen wie durch die sog. rape shield laws, die die Befragung von Vergewaltigungsopfern über ihr sexuelles Vorleben grundsätzlich verbieten; siehe etwa California Evidence Code §§ 782, 1103; New York State Criminal Procedure Law Art. 60.42 (jeweils mit Ausnahmen). 44 Siehe dazu auch Eser (Fn. 39); Schünemann Festschrift für Gerhard Fezer, 2008, S. 555. 45 Siehe Wigmore, Evidence in Trials at Common Law, 4. Aufl. 1974, § 1367: Crossexamination “is beyond any doubt the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth”; siehe aber auch die skeptischere moderne Betrachtung bei Dennis (Fn. 18), 581. In den USA genießt die Einrichtung des Kreuzverhörs wegen der „confrontation clause“ im 6. amendment Verfassungsrang; siehe Crawford v. Washington, 541 U.S. 36 (2004). 46 Vgl. McEwan (Fn. 13), 60; Spencer (Fn. 28), 629; Weigend ZStW 100 (1988), 733, 746 ff. Zur rechtlichen Ausgestaltung des Kreuzverhörs in den USA siehe Broun (Hrsg.), McCormick on Evidence, 6. Aufl. 2006, S. 45 ff.

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günstig ist.47 Es ist ein bloßes Postulat, aber keine psychologisch oder forensisch abgesicherte Annahme, dass auf diese Weise ein zutreffendes Bild des tatrelevanten Geschehens entsteht, dass sich also aus zwei Halbwahrheiten von selbst die ganze Wahrheit herausbildet. Und schließlich ist es zwar richtig, dass im adversatorischen System die Sachaufklärung durch das Eigeninteresse der Parteien effizient vorangetrieben wird; damit wird aber gleichzeitig der Wahrheitsfindungsprozess von den faktischen (insbesondere finanziellen) Ermittlungsmöglichkeiten, der spezifischen Ausbildung und den intellektuellen wie taktischen Fähigkeiten der beteiligten Anwälte und schließlich auch von deren persönlichem Engagement abhängig.48 Dass diese Faktoren zwischen Anklage und Verteidigung typischerweise gleichmäßig verteilt wären, wird man kaum sagen können. Es besteht also, von dem Ausnahmefall wirtschaftlich höchst potenter Angeklagter mit Zugang zu den besten Anwälten abgesehen, im Parteiverfahren häufig ein Ungleichgewicht zwischen den Parteien zu Lasten des Angeklagten, das dort– anders als beim inquisitorischen Verfahrenstyp – nicht durch ein autonomes Aufklärungsstreben des Gerichts ausgeglichen wird. Angesichts dieser ziemlich offensichtlichen Schwächen ist nicht leicht zu erklären, weshalb sich die adversatorische Methode offenbar weltweit wachsender Beliebtheit erfreut. Neben einer allgemeinen Präferenz mancher junger Demokratien für alles, was aus den USA kommt, und einem verbreiteten negativen Image des inquisitorischen Modells, mit dem häufig immer noch die spanische Inquisition, die Folter und die völlige Rechtlosigkeit des Angeklagten assoziiert werden,49 dürfte für den Erfolg des angloamerikanischen Verfahrensstils vor allem die Vorstellung eine Rolle spielen, dass er die Autonomie des Individuums am besten verwirkliche50: Der Prozesserfolg des angeklagten Bürgers ist nicht vom Wohlwollen eines inquirierenden Richters abhängig, sondern allein von seiner und seines Anwalts Fähigkeit, das Gericht davon zu überzeugen, dass er unschuldig ist 47

Damaska (Fn. 38), 120; Eser (Fn. 29), 1464 f.; Jackson Journal of International Criminal Justice 7 (2009), 17, 21. 48 Vgl. Hörnle ZStW 117 (2005), 801, 833. 49 So schreibt etwa McEwan (Fn. 13), 59: “Defendants in continental trials are at the mercy of the presiding judge, lacking the protective shield of the Anglo-American exclusionary rules about bad character.” Siehe auch Walpin (Fn. 36), 179: “The adversarial lawyer has an advantage over the inquisitorial judge, because the lawyer has access to the facts of his client’s case … in contrast to the inquisitorial judge who has to reach his superficial conclusions, if he does, on a light body of evidence.” 50 Treffend Grande (Fn. 17), 231: “Being associated with Lockean liberal values, distrust of the state, restraint of state power, and freedom from the state’s intrusion in private lives, adversary criminal procedure symbolizes the procedural model that would appear to best safeguard the individual against state abuses.” Siehe auch Sward Indiana Law Journal 64 (1989), 301, 302.

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oder dass mindestens die Belastungsbeweise nicht ausreichen, um den Zweifelssatz zu überwinden. Dies kommt dem „liberalen“ Vertrauen in die Selbstbehauptungskraft des Einzelnen und der Ablehnung jeder paternalistischen Bevormundung entgegen, wie sie dem Zeitgeist des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts entsprochen haben. Der allmähliche Rückzug des „reinen“ Inquisitionsverfahrens51 und die Präferenz für den adversatorischen Verfahrensstil in der Hauptverhandlung hat allerdings nicht zu einem weltweiten Siegeszug eines Strafverfahren „U.S. style“ geführt, sondern zu einer Herausbildung eklektischer Verfahrenssysteme. Streng genommen gehört auch das deutsche Strafverfahren zu den Mischsystemen, obgleich es in Bezug auf den Verfahrensablauf wie auf die Beweissammlung und –präsentation (§ 244 II StPO) noch deutlich inquisitorische Züge trägt. Schon durch die Abschaffung des Untersuchungsrichters im Jahre 1975 ist das Inquisitionsprinzip in Deutschland gewissermaßen verunreinigt worden: Durch die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft für die Sachverhaltsaufklärung im Ermittlungsverfahren (§ 160 I StPO) vermischen sich dort Neutralität und Parteilichkeit, wobei letztere zu leugnen nur gelingt, wenn man die verfahrenspsychologische Realität ausblendet. Andererseits haben die Anerkennung eines stark ausgeprägten Fragerechts der Verfahrensbeteiligten (§ 240 II StPO) und vor allem deren Beweisantragsrecht von Anfang an große Breschen in das ursprüngliche Inquisitionsprinzip geschlagen. Noch stärker vermischen sich die Verfahrenstypen in einer größeren Zahl ausländischer Rechtsordnungen, zu denen etwas Japan52 und Taiwan,53 aber auch europäische Staaten wie Italien54, Spanien,55 und Russland56 gehören.57 51 Siehe zur Strafverfahrensreform in lateinamerikanischen Staaten Ambos ZStW 110 (1998), 225. 52 Siehe zum aktuellen Stand des japanischen Verfahrensrechts Ingram Weber East Asia Law Review 4 (2009), 125. 53 Taiwan hat in den Jahren 2002 und 2003 sein Strafverfahren stärker am angloamerikanischen Modell orientiert; siehe Lewis Virginia Journal of International Law 49 (20082009), 651. 54 Siehe zur italienischen Strafprozessreform von 1988 Amodio ZStW 102 (1990), 171; Grande American Journal of Comparative Law 48 (2000), 227; Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, 2009 (insb. S. 216 ff.); Stile ZStW 104 (1992), 429; speziell zum Beweisverfahren Rafaraci, La prova contraria, 2004. 55 Siehe Art. 728, 729 Nr. 2 Ley de enjuiciamiento criminal (Parteigrundsatz, aber ergänzende Aufklärungsmöglichkeit des Gerichts). Siehe dazu Gimeno Sendra, Derecho Procesal Penal, 2. Aufl. 2007, S. 671 ff.; Mülfarth, Grundlagen und Grenzen von Beweiserhebung und Beweisverwertung im spanischen Strafverfahren, 2009, S. 71 ff. 56 Art. 273, 275 Abs. 3, 278 Abs. 3 StPO der Russischen Föderation (Parteiprozess, aber mit ergänzendem Fragerecht des Vorsitzenden). 57 Bemerkenswert ist auch die Betonung der Waffengleichheit und des “contradictoire”Elements des Strafverfahrens im Article premier des französischen Code de Procédure Pénale:

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Dort wird zwar das Ermittlungsverfahren typischerweise „inquisitorisch“ durch die Staatsanwaltschaft betrieben; in der Hauptverhandlung stehen sich Anklage und Verteidigung aber dann auf gleicher Stufe gegenüber, und beide Parteien versuchen das neutrale, über die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht informierte Gericht von der Richtigkeit ihrer Version des Geschehens zu überzeugen. Wie sich die Schaffung solcher hybrider Verfahrensformen in der Praxis auswirkt, hängt auch von der Beharrungskraft der hergebrachten Praxis (und ihrer Träger in der Justiz) ab.58

3. Konvergenz der Systeme? Die Zeichen deuten auf eine Konvergenz der von der traditionellen Rechtsvergleichung als strikt getrennt verstandenen beiden Verfahrensmodelle.59 So entspricht das Klischee vom vollkommen passiven Schiedsrichter, der nur punktuell über die prozessuale Zulässigkeit bestimmter Beweismittel oder Fragen entscheidet, vielleicht noch der Verfahrenswirklichkeit beim jury trial in manchen US-amerikanischen Jurisdiktionen,60 aber schon im amerikanischen Verfahren ohne jury und insbesondere in England verstehen viele Richter ihre Rolle so, dass sie sich zwar während der Beweispräsentation durch die Parteien zurückhalten, aber durchaus ergänzend eingreifen, wenn dies für die Wahrheitsfindung not-

“La procédure pénale doit être équitable et contradictoire et préserver l’équilibre des droits des parties.” Der Sache nach ist das französische System bisher allerdings stark dem inquisitorischen Modell verhaftet geblieben, so dass das „contradictoire“-Element sich im wesentlichen auf das Recht auf rechtliches Gehör und ein relativ schwach ausgeprägtes Frage- und Beweisantragsrecht beschränkt; siehe Pfefferkorn, Einführung in das französische Strafverfahren, 2006, S. 189 f. 58 Siehe dazu Damaska American Journal of Comparative Law 45 (1997), 839, 840 (“the music of the law changes, so to speak, when the musical instruments and the players are no longer the same”); Jackson Modern Law Review 68 (2005), 735, 738 f.; Langer Harvard International Law Journal 45 (2004), 1. 59 Siehe dazu eingehend Trüg (Fn. 30) (zu Deutschland und den USA); siehe auch Harding, in: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, 2004, S. 3. 60 Siehe aber für das Verfahren vor den US-amerikanischen Bundesgerichten Rule 611 (a) der Federal Rules of Evidence: “The court shall exercise reasonable control over the mode and order of interrogating witnesses and presenting evidence so as to (1) make the interrogation and presentation effective for the ascertainment of the truth, (2) avoid needless consumption of time, and (3) protect witnesses from harassment or undue embarrassment.”

Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren 761

wendig ist.61 Das Gleiche gilt erst recht für die Verfahrenssysteme, deren Ursprünge aus der kontinentaleuropäischen Tradition stammen; dort liegt es besonders nahe, dem Richter auch nach der Umstellung auf die Beweispräsentation durch die Parteien das Recht zur eigenständigen Ergänzung der Beweisaufnahme zuzugestehen.62 In solchen Regelungen zeigt sich das Fortbestehen der Vorstellung, dass letztlich das Gericht verantwortlich dafür ist, dass das Urteil auf einer ausreichenden Informationsgrundlage beruht. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Regelungen für die internationalen Strafgerichtshöfe.63 So beruht das Verfahren vor dem JugoslawienGerichtshof auf dem adversatorischen Verfahrensmodell,64 jedoch besteht hier die Möglichkeit, dass das Gericht den Parteien aufgibt, weitere Beweismittel vorzulegen, oder dass es von sich aus zusätzliche Beweise erhebt.65 Auch beim Internationalen Strafgerichtshof steht es der Verfahrenskammer frei, Fragen an die Zeugen zu stellen66 sowie die Beibringung zusätzlicher Beweismittel anzuordnen.67 Auch hier besteht also grundsätzlich die Vorstellung, dass die Parteien und (subsidiär) das Gericht zusammenarbeiten sollen, um die Wahrheit zu erforschen. Ob und wie diese Zu61 Siehe z.B. R. v. Wallwork, (1958) Criminal Appeals Reports 153, 159 (Recht des Richters, Zeugen zu laden); R. v. Cameron, (2001) Criminal Law Review 587 (Recht des Richters, Fragen an Zeugen zu stellen). 62 So gestattet es Art. 506 Abs. 2 des italienischen Codice di Procedura Penale dem Vorsitzenden, im Anschluss an die Befragung von Zeugen und Sachverständigen durch die Parteien selbst Fragen an die Zeugen oder Sachverständigen zu stellen, und nach Art. 507 Abs. 1 Codice di Procedura Penale kann der Vorsitzende auch von Amts wegen weitere Beweismittel heranziehen, wenn dies „assolutamente necessario“ ist. Siehe auch Art. 298 Abs. 2 (Recht des Gerichts, Beweismittel ex officio zu erheben) und Art. 304 (grundsätzliche Erstvernehmung von Zeugen durch den Vorsitzenden, mit Möglichkeit abweichender Reihenfolge) japanische Strafprozessordnung; Art. 163 Abs. 2 taiwanesische Strafprozessordnung („The court may, for the purpose of discovering the truth, ex officio investigate evidence; in case for the purpose of maintaining justice or discovering facts that are critical to the interest of the accused, the court shall ex officio investigate evidence.“). 63 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 7. 64 Siehe Art. 85 ICTY Rules of Procedure and Evidence; dort ist in Abs. (B) auch das Recht des Gerichts zur ergänzenden Befragung geregelt („a Judge may at any stage put any question to the witness”). Zur Praxis Eser (Fn. 29), 1457 f.; Kirsch StV 2003, 636, 638. 65 Siehe Art. 98 ICTY Rules of Procedure and Evidence: “A Trial Chamber may order either party to produce additional evidence. It may proprio motu summon witnesses and order their attendance.” 66 Rule 140 (2) (c) der Rules of Procedure and Evidence („The Trial Chamber has the right to question a witness before or after a witness is questioned by a participant …“). Siehe dazu auch Damaska (Fn. 45), 121; Orie (Fn. 7), 1475 ff. 67 Art. 64 (6) (d) IStGH-Statut: “The Trial Chamber may, as necessary … order the production of evidence in addition to that already collected prior to the trial or presented during the trial by the parties …”

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sammenarbeit in der Verfahrenswirklichkeit funktioniert, dürfte dort vor allem von der rechtskulturellen Prägung der einzelnen Richter und Anwälte abhängen – die Statuten geben dem Gericht jedenfalls kein ausdrückliches Mandat zur selbständigen Wahrheitssuche, so dass die Richter ganz frei darin sind, in welchem Umfang sie von ihren diesbezüglichen prozessualen Befugnissen Gebrauch machen möchten. Eine Annäherung erfolgt aber auch von der Seite der Verfahrenssysteme, die ihre “inquisitorische” Struktur beibehalten haben. Verantwortlich dafür sind Vorgaben für den Strafprozess in den eingangs erwähnten internationalen menschenrechtlichen Instrumenten, die ihrerseits stark durch angloamerikanische Verfahrensgrundsätze geprägt sind.68 So dürfte sich beispielsweise das Recht auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) in einem inquisitorischen System alter Prägung nicht angemessen verwirklichen lassen, und Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK erzwingt mit seiner Forderung, dass der Angeklagte die Möglichkeit haben muss, „Fragen an Belastungszeugen zu stellen“, eine Berechtigung des Angeklagten und/oder seines Verteidigers zur aktiven Teilnahme an der Hauptverhandlung. So kann es über längere Sicht, bei fortbestehenden Unterschieden in Einzelheiten, durchaus zu einem international akzeptierten Modell „partizipatorischen“ Verfahrens69 kommen, bei dem die Partikularinteressen der Parteien in der Hauptverhandlung deutlich zur Geltung kommen, aber doch durch das Gericht, das das Gemeininteresse an der Ermittlung der Wahrheit zu verwirklichen sucht, im Zaum gehalten werden. Die Menschenrechtsorientierung eines solchen Systems hätte dafür zu sorgen, dass die Rechtsposition des Angeklagten auch dann gewahrt wird, wenn er es vorzieht, sich aus dem Streben nach Wahrheit herauszuhalten, indem er von seinem Recht zu schweigen und auf jede aktive Kooperation zu verzichten Gebrauch macht.

4. Wahrheitsfindung ohne Hauptverhandlung? In den bisherigen Überlegungen sind wir davon ausgegangen, dass Wahrheitsfindung im Wesentlichen in der öffentlichen Hauptverhandlung unter Beteiligung aller interessierten Parteien stattfindet. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass diese Annahme inzwischen auch für das deutsche Strafverfahren fiktiv ist – die große Mehrzahl aller Verfahren wird entweder vor 68

Siehe hierzu Amann Indiana Law Journal 75 (2000), 809; 832 f.; Hörnle ZStW 117 (2005), 801, 825. 69 Siehe Hörnle ZStW 117 (2005), 801, 829; Jackson Modern Law Review 68 (2005), 735, 740.

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oder nach der Anklageerhebung einvernehmlich durch Einstellung beendet oder findet ihren Abschluss ohne Sachaufklärung vor Gericht durch ein im Wege der „Verständigung“ (§ 257c StGB) abgesprochenes Urteil. Dass man auch bei einem auf „Konsens“ beruhenden Verfahrensabschluss das Ergebnis nicht ohne Bezug zur Wirklichkeit allein aufgrund eines Zahlenpokers aushandeln kann (nach dem Motto, „Egal was war, der Beschuldigte kriegt zwei Jahre mit Bewährung“), ohne noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit der Strafjustiz aufs Spiel zu setzen, sollte keiner näheren Begründung bedürfen.70 Damit gewinnt die Frage entscheidende Bedeutung, wie eine verlässliche Tatsachengrundlage in Verfahren ohne („echte“) Hauptverhandlung sichergestellt werden kann.71 Diese Frage stellt sich mit besonderer Schärfe in den Rechtsordnungen des common law, in denen prinzipiell kein rechtlich geregeltes Ermittlungsverfahren stattfindet, sondern jede Partei für die Sammlung der ihr nützlichen Informationen und Beweismittel verantwortlich ist. Aber auch in manchen inquisitorisch geprägten Systemen – wie etwa in Deutschland, Italien und neuerdings Österreich – gibt es keinen neutralen Untersuchungsrichter mehr, der für die Beweissammlung vor dem Hauptverfahren zuständig wäre. So lässt es sich nicht vermeiden, dass sich die typischerweise deutlich überlegene Ermittlungskapazität der Anklagebehörde samt der ihr zuarbeitenden Polizei gegenüber etwaigen eigenen Bemühungen der Verteidigung durchsetzt und sich im Ergebnis des Ermittlungsverfahrens maßgeblich niederschlägt. Angesichts des politisch und pragmatisch begründeten Eigeninteresses der Staatsanwaltschaft jedenfalls in den (hier allein interessierenden) Fällen mit erheblichem Tatverdacht ist, ungeachtet aller normativen Verpflichtung zur Objektivität (siehe § 160 II StPO), ein wirklich umfassendes und ausgewogenes Ermittlungsergebnis, auf das sich guten Gewissens ohne nähere Prüfung ein Urteil gründen ließe, eher nicht zu erwarten. Will man also auf eine Hauptverhandlung verzichten und dennoch eine an Wahrheit und Gerechtigkeit orientierte Entscheidung treffen, so muss man versuchen, das Ermittlungsverfahren so auszugestalten, dass in ihm auch die Perspektive der Verteidigung in hinreichendem Maße zur Geltung kommt. Die Idee eines „partizipatorischen Ermittlungsverfahrens“ ist vor ein paar Jahren in Deutschland diskutiert worden, allerdings ohne positives Ergebnis.72 Im ausländischen Recht findet man teilweise Ansätze, die zu diesem 70

Siehe dazu die Ausführungen zum “Alford plea” unter I. Jung, in: Duff/Farmer/Marshall/Tadros (Hrsg.), The Trial On Trial, Bd. I, 2004, S. 147, 154; siehe zur Lage in den USA Prosser Wisconsin Law Review 2006, 541, 560; Turner American Journal of Comparative Law 54 (2006), 201, 202 ff. 72 Zum „partizipatorischen Ermittlungsverfahren“ Däubler-Gmelin StV 2001, 359; Satzger, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag, 2004, S. C 32 ff.; Schünemann ZStW 114 (2002), 71

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Schlagwort passen. So hat der italienische Gesetzgeber der Verteidigung im Vorverfahren relativ weitreichende Befugnisse für eigene Ermittlungen gegeben. Der Verteidiger kann mit Zeugen – mit richterlicher Genehmigung auch mit inhaftierten Personen – Gespräche führen und aufzeichnen, wobei die Aufzeichnungen unter bestimmten Voraussetzungen als Beweismittel verwendet werden können.73 Der Verteidiger kann darüber hinaus (mit richterlicher Genehmigung) sogar öffentlich nicht zugängliche Orte aufsuchen und ein Protokoll über das dort Vorgefundene erstellen; dies gilt allerdings nicht für Wohnungen, es sei denn, dort seien Tatspuren zu finden.74 Solche Ansätze zu einer wirkmächtigen eigenen Ermittlungstätigkeit der Verteidigung stoßen allerdings in doppelter Hinsicht bald an Grenzen: Zwangsmittel wird man dem Verteidiger nicht an die Hand geben wollen, und das Maß seiner möglichen Aufklärungstätigkeit hängt weniger von rechtlichen als von materiellen Voraussetzungen ab, die angesichts der finanziellen Situation der meisten Beschuldigten oft nicht gegeben sein werden. Eine denkbare Alternative zur einseitigen Ermittlung seitens der Staatsanwaltschaft und der Polizei ist die verstärkte Einschaltung des Richters in das Ermittlungsverfahren. In einer ganzen Reihe von Rechtsordnungen – Frankreich75, die Niederlande76 und Spanien77 sind die bekanntesten Beispiele – ist der alte inquisitorische Untersuchungsrichter noch lebendig, freilich meist mit praktisch eingeschränktem Aktionsradius und angesichts von Reformvorschlägen mit unsicherer Zukunftsperspektive. Die grundsätzlichen Einwände gegen eine vollständige richterliche Voruntersuchung wiegen schwer: Nur ein mit einem starken – und folglich teuren – eigenen Ermittlungsapparat ausgestatteter Untersuchungsrichter besitzt die Fähigkeit zu unabhängiger aktiver Aufklärungstätigkeit; und wenn diese Voraussetzung gegeben ist, stellt sich die Frage, weshalb man sich den Luxus zweier voneinander unabhängiger, zeitraubender richterlicher Wahrheitserforschungen derselben Sache im Vor- und im Hauptverfahren leisten möchte.78 Auch wenn also der Untersuchungsrichter alten Stils in einem an Effizienz und Ökonomie orientierten Justizsystem wie ein Fossil aus grauer Vorzeit 1, 34 ff.; kritisch Bittmann ZRP 2001, 443; Ignor/Matt StV 2002, 102, 105 f.; Salditt StV 2001, 311. 73 Art. 391-bis, 391-ter, 391-decies (2) Codice di Procedura Penale. 74 Art. 391-septies Codice di Procedura Penale. 75 Art. 49 - 52-1, 79 – 190 Code de Procédure Pénale. 76 Zu den Befugnissen des „Rechter-comisaris“ siehe Art. 170 ff. Wetboek van Strafvordering. 77 Das Vorverfahren vor dem Untersuchungsrichter ist geregelt in Art. 299 ff. Ley de enjuiciamiento criminal. 78 Zu weiteren Kritikpunkten siehe Spencer (Fn. 28), 626.

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wirkt, könnte er – oder ein funktionales Äquivalent – vielleicht doch auch in einem modernen Ermittlungsverfahren eine sinnvolle Funktion erfüllen: Er könnte die Sachaufklärung dadurch „neutralisieren“, dass er der Verteidigung ein Forum für eigene Ermittlungsmaßnahmen bietet.79 Vorbilder dafür gibt es im niederländischen80 wie im französischen81 Recht. In beiden Rechtsordnungen kann der Beschuldigte beim Untersuchungsrichter die Vornahme bestimmter Beweiserhebungen beantragen, und ein solcher Antrag kann nur mit schriftlicher Begründung abgelehnt werden. Über die Details eines solchen qualifizierten Rechts auf die richterliche Erhebung von Beweisen für die Verteidigung müsste man gewiss diskutieren, aber die Grundidee ist es wert, weiterverfolgt zu werden. Sie könnte dazu beitragen, neutrale Wahrheitsfindung schon im Ermittlungsverfahren zu ermöglichen und damit eine verbesserte Grundlage für Abschlussentscheidungen ohne Hauptverhandlung zu schaffen.

5. Zusammenfassung Das Bemühen um Wahrheitsfindung ist ein unverzichtbares Element des Strafverfahrens, wie immer man das Ziel des Strafprozesses definiert. Darin stimmen letztlich die Verfahrensordnungen des common law und des civil law überein, auch wenn sie die Akzente hinsichtlich der Bedeutung prozessualer Regeln für die Wahrheitsfindung jeweils anders setzen und zu einer unterschiedlichen Verteilung der Verantwortlichkeit zwischen Gericht und Parteien neigen. Insbesondere bei der Gerichtsbarkeit der internationalen Strafgerichtshöfe, aber auch bei rechtsvergleichender Sicht gibt es deutliche Zeichen für eine zunehmende Konvergenz des inquisitorischen und des adversatorischen Modells. Einen wichtigen Beitrag hierzu liefert die internationale Anerkennung prozessualer Mindestrechte des Individuums. Am Ende könnte ein „partizipatorisches“ Verfahren stehen, bei dem sich Gericht und Parteien gemeinsam um die Wahrheitsermittlung bemühen. Dabei muss freilich

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Die derzeit nach deutschem Recht gegebene Möglichkeit zur Stellung von Anträgen nach § 163a II StPO ist für die Verteidigung aus vielen Gründen unattraktiv und führt im Übrigen nach überwiegender Meinung nur zu einer Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft; s. Meyer-Goßner, StPO. Kommentar, 53. Aufl. 2010, § 163a Rn. 15 m.w.N. Die Möglichkeit, Beweisanträge unmittelbar beim Richter zu stellen (§ 166 StPO), ist eng auf Eilfälle beschränkt. 80 Art. 36a ff. Wetboek van Strafvordering. 81 Art. 82-1 – 82-3 Code de Procédure Pénale.

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dem Angeklagten die Option erhalten bleiben, sich hieran nicht zu beteiligen, ohne dass ihm deshalb Rechtsnachteile drohen. Ein wesentliches Problem des modernen Strafverfahrens liegt darin, dass das Bemühen um Wahrheitsfindung durch das Vordringen von Verfahrenserledigungen ohne „echte“ Hauptverhandlung in den Hintergrund geschoben wird. Ein wesentliches Anliegen sollte es deshalb sein, Wege zu finden, wie auch Entscheidungen in abgekürzten Verfahrensformen auf eine verlässliche Tatsachengrundlage gestellt werden können. An dieser Frage wird sich die Glaubwürdigkeit des Strafverfahrens im 21. Jahrhundert entscheiden.

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB GEREON WOLTERS

Die vor einiger Zeit wiedergegebene1 Voraussage Gustav Radbruchs, bei den durch den Erfolg qualifizierten Delikten handele es sich um einen Gegenstand, „dessen neuerliche Bearbeitung ... wenig Dank verheißt“,2 hat sich jedenfalls dann als treffend erwiesen, wenn man den Begriff „Dank“ im Sinne einer „freundlichen wissenschaftlichen Aufnahme“ versteht. Soweit erkennbar, ist nämlich dem Unternehmen, für die Einordnung des „Rücktritts beim ‚erfolgsqualifizierten Delikt‘“3 der „heute durchweg abgelehnten ‚Vollendungslösung‘ neues Leben einzuhauchen“,4 der Erfolg versagt geblieben. Wenn Rolf Dietrich Herzberg aber hervorhebt, der methodische Ansatz verdiene Zustimmung,5 so gibt dies Anlass, keinen gänzlichen Fehlschlag anzunehmen, sondern – von diesem fruchtbaren Boden ausgehend und der juristischen Methode weiter folgend – einen zweiten Versuch der Wiederbelebung zu wagen.

I. Der methodische Ansatz Schon in der üblichen Formulierung der Rechtsfrage („Rücktritt vom erfolgsqualifizierten Versuch“)6 wird deutlich, dass die Annahme eines tatbestandlichen Stufenverhältnisses von § 249 Abs. 1 und § 251 StGB den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet. Da aber nicht ersichtlich ist, warum diese Überschneidung in Gestalt von Grund- und Spezialtatbestand ein Axiom darstellen soll (das keines weiteren Beweises bedarf), kann sie gera1

Wolters GA 2007, 65. Radbruch Erfolgshaftung, in: VDA II (1908), 227 ff. 3 S. den Fall BGHSt 42, 158 ff. mit Besprechungsaufsätzen, Anmerkungen bzw. Aufbereitungen von Anders GA 2000, 64 ff., Jäger NStZ 1998, 161 ff., Martin JuS 1997, 178 f., Sonnen JA 1997, 184 ff., Beineke JuS 1997, 1151. 4 Wolters GA 2007, 65 (67). 5 JZ 2007, 615 (616). 6 S. jüngst Streng, in: Festschrift für Küper (2007), 629 ff. 2

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de nicht die unüberprüfte Grundlage der Untersuchung, sondern nur ein durch sorgfältige Auslegung begründetes Zwischenergebnis sein. Wenn man (aber eben auch erst wenn man) tatsächlich durch eine vorwertungsfreie Auslegung zu der Erkenntnis gelangen sollte, dass der Tatbestand des Raubes mit Todesfolge den des (schweren) Raubes qualifiziert und auf ein entsprechendes Stufenverhältnis von versuchtem Raub mit Todesfolge7 und versuchtem (schweren) Raub zu schließen ist, wäre im Weiteren die rechtliche Bewertung eines täterlichen Abstandnehmens von der nötigungsbedingten Gewahrsamsverschiebung (allein) an den Kategorien der versuchten Tat, insbesondere an den gesetzlichen Merkmalen des § 24 StGB zu messen.8 Nur am Rande: Es darf in des letzteren Angesichte bezweifelt werden, ob sich die vom Bundesgerichtshof zur „entscheidungserheblichen“ erhobene Frage, „ob ein Rücktritt vom Versuch des Raubes noch möglich ist, wenn bereits durch diesen Versuch die qualifizierende, leichtfertig verursachte schwere Folge des Todes eines Menschen eingetreten ist“,9 wirklich aus einem „eindeutigen“ Wortlaut dergestalt beantwortet, dass „der Täter von dem nur versuchten Grunddelikt strafbefreiend zurücktreten (kann)“ und in diesem Falle „mit der Strafbarkeit wegen des versuchten Grunddelikts auch der erforderliche Anknüpfungspunkt für die Qualifikation (entfällt)“, die „zumindest einen strafbaren Versuch des Grunddelikts voraussetzt“.10 „Eindeutig“ dürfte nämlich nur sein, dass auf der Grundlage einer „Versuchslösung“ die Weichen durch Auslegung der gesetzlichen Merkmale der allgemeinen Rücktrittsvorschrift gestellt werden, ein Versagen des Privilegs also nicht allein auf den – in der Sache nicht zu leugnenden – Hinweis zu stützen ist, dass für „die Definition der besonderen Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit des erfolgsqualifizierten Delikts ganz zentral ... der ‚Unmittelbarkeitszusammenhang‘ zwischen der im Grundtatbestand pönalisierten Gefahrschaffung und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs“ sei und mit der infolge der Nötigungsgefahren eingetretenen Erfolgsqualifizierung eben „genau das“ vorliege, „was der Gesetzgeber durch die Kodifizierung verhindern bzw. im Eintretensfalle mit besonders hoher Strafe geahndet sehen wollte“.11 Entsprechende Fingerzeige auf „unbefrie7 Hier ist nicht der Ort, auf die „Lehre vom erfolgsqualifizierten Versuch“ einzugehen (s. eingehend und mit der ganz überwiegenden Sichtweise widerstreitenden, sehr beachtlichen Argumenten Hardtung Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten des § 11 Abs. 2 StGB [2002], S. 198 ff., 201 ff., 216 ff., 227 ff.; s. auch jüngst den Überblick von Herzberg, in: Festschrift für Amelung [2009], 159 [161 ff.]). 8 Dazu bereits Wolters GA 2007, 65 (68 ff.). 9 BGHSt 42, 158 (159). 10 BGHSt 42, 158 (160). 11 So zutreffend Streng (oben Fn. 6), 629 (632); so auch Klaas, in: Putzke, Juristische Arbeiten, 3. Aufl. (2010), S. 142.

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digende Ergebnisse“,12 die „Realisierung der tatbestandsspezifischen Gefahr im schweren Erfolg“13 und die „im Prinzip ... bewirkte Vollendung der Qualifikation“14 sprechen zunächst offensichtlich für die „Vollendungslösung“, sind auf dem Boden einer „Versuchslösung“ aber eben keine Anwendung des geschriebenen Rechts,15 sondern für sich genommen kaum mehr als ein Appell an den Gesetzgeber, ein für materiell sachwidrig erkanntes Gesetz im Sinne des für teleologisch richtig Erachteten anzupassen. Eine legislative Tätigkeit16 dürfte freilich schon deswegen kaum zu erwarten sein, weil man mit Wilfried Küper doch hoffen darf, dass den Strafgesetzgeber andere Sorgen umtreiben als die Regelung des „Rücktritts vom erfolgsqualifizierten Versuch“.17 Dass bei der (nur) nach der „Versuchslösung“ erforderlichen Auslegung des § 24 StGB die „Grenzen der Wortlautinterpretation“18 des geltenden Rechts einzuhalten sind, sollte zwar selbstverständlich sein, verdient aber angesichts der häufig auszumachenden „Textferne des Umgangs mit § 24 StGB“19 durchaus eine Hervorhebung. In diesem Zusammenhang hat Christian Jäger aufgezeigt, dass der Wortlaut dieser Vorschrift eine „Gleichstellung von ‚Grunddelikt‘ und ‚Tat‘“20 gerade nicht eindeutig zum Ausdruck bringt, und seine Anwendung an eine „zurechenbare Gefährdungsumkehr“ geknüpft.21 Auch hat Franz Streng jüngst mit beachtlichen Argumenten dargelegt, dass die „Aufgabe der Tat“ mehr verlangt als den „Verzicht lediglich auf die Diebstahlskomponente“; der strafbefreiende Rücktritt setze bei bereits manifestierter Verzahnung von Nötigung und Diebstahl mit ihren spezifischen Gefährdungspotentialen vielmehr das „Aufgeben auch der Nötigungskomponente unter Eliminierung der Gefahrensituation“ voraus,

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BGHSt 42, 158 (160). Ulsenheimer Zur Problematik des Rücktritts vom Versuch erfolgsqualifizierter Delikte, in: Festschrift für Bockelmann (1979), 405 (414). 14 Bacher Versuch und Rücktritt vom Versuch beim erfolgsqualifizierten Delikt (1999), S. 217. 15 Hierauf hat dankenswerterweise schon Hardtung (oben Fn. 7) hingewiesen (S. 257). 16 Schon Radbruch (oben Fn. 2), S. 227 (252) hat vorgeschlagen, den strafbefreienden Rücktritt bei Eintritt des qualifizierenden Erfolgs „durch eine Zusatzbestimmung zum Rücktrittsparagraphen“ folgenden Inhalts abzuschneiden: „Bei den eines bestimmten Erfolges wegen mit erhöhter Strafe bedrohten Verbrechen bleibt jedoch in den vorstehenden Fällen der Versuch nur dann straflos, wenn auch jener Erfolg ausgeblieben oder abgewendet ist“. 17 Küper JZ 1997, 229 (231). 18 Martin JuS 1997, 178. 19 Streng (oben Fn. 6), 629 (640). 20 Jäger NStZ 1998, 161 (163). 21 Jäger NStZ 1998, 161 (164 f.); ähnlich Anders GA 2000, 64 (72 ff.). 13

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was angesichts der eingetretenen Erfolgsqualifizierung nicht mehr möglich sei.22 Letzteren Überlegungen ist zwar ein methodisch pfleglicherer Umgang mit dem Gesetzestext zu bescheinigen, auch sie gehen aber eben (wiederum ohne Begründung dieser Grundlage) davon aus, dass § 251 StGB nur versucht, § 24 StGB also generell anwendbar ist. Vor einer Auslegung der allgemeinen Rücktrittregelung bedarf es aber der Feststellung, dass die von § 24 StGB in Bezug genommene „Tat“ tatsächlich nicht vollendet ist. Ist sie vollendet, hätte ein „Rücktritt“ nämlich von vornherein kraft Gesetzes keine Strafaufhebung zur Folge („wegen Versuchs wird nicht bestraft“).23

II. Die Fragestellung Bei methodisch richtigem Vorgehen steht vor der „Versuchslösung“ also die Frage, ob die Weiche nicht doch in die Richtung der „Vollendungslösung“ zu stellen ist. Der Schlüssel für diese (erste) Antwort liegt in der Auslegung der gesetzlichen Merkmale der Vorschrift des Besonderen Teils.24 Es ist ein besonderes Verdienst Bernhard Hardtungs, im Rahmen seiner Untersuchung der „Teilvorsatzdelikte“25 nicht nur zu betonen, dass die „Vollendungslösung” als schlüssiges, widerspruchsfreies und stimmiges Begründungsmodell eine eingehende Beschäftigung verdient, sondern auch die „dogmatisch konsistente Konzeption“ einer – richtig verstandenen, also: formellen – „Vollendungslösung” treffend herauszuarbeiten: Sollten, so Hardtung, „die Erfolgsqualifikationen in Wahrheit gar nicht zur tatbestandlichen Voraussetzung (haben), dass das Grunddelikt vollendet ist“, wären „Erfolgsqualifikationen“ gar keine, da ihre Tatbestände eben nicht alle Merkmale des jeweiligen „Grunddelikts“ enthielten, mithin nicht spezieller

22 Streng (oben Fn. 6), 629 (643). S. dazu über die soeben ausdrücklich genannten Autoren hinaus auch Bacher (oben Fn. 14), S. 204 ff. 23 Vgl. Hardtung (oben Fn. 7), S. 257; Klaas (oben Fn. 11), S. 123. 24 Der methodische Unterschied zwischen der formellen „Vollendungslösung“ und den Ansätzen, welche auf dem Boden der „Versuchslösung“ das Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 StGB ablehnen, wird in Literatur und Rechtsprechung zumeist nicht deutlich genug hervorgehoben (s. jüngst etwa Vogel, in LK-StGB, 12. Aufl. [2010], § 251 Rdn. 18). Eine sorgfältige Unterscheidung findet sich bei Hardtung (oben Fn. 7), S. 32 ff. 25 Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten des § 11 Abs. 2 StGB, Über Erfolgsqualifikationen und andere sogenannte Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen (2002).

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB

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als diese seien.26 Die Antwort müsse, so Hardtung weiter, „für jede einzelne Erfolgsqualifikation gesondert untersucht werden“.27 Der gesetzlich mit „Raub mit Todesfolge“ überschriebene Tatbestand des § 251 StGB ist erfüllt, wenn der Täter „durch den Raub (§§ 249 und 250)“ wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen verursacht. Nach der „Vollendungslösung“ verweist das Merkmal „durch den Raub“ allein auf das Element der qualifizierten Nötigung des (schweren) Raubes, so dass der Tatbestand vollständig verwirklicht ist, wenn „der Täter durch den auf eine Wegnahme gerichteten Einsatz von Gewalt gegen eine Person oder durch die auf eine Wegnahme gerichtete Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen verursacht“. Möchte man letztere Formulierung verkürzen, ist das Merkmal „durch den Raub“ zu lesen als „durch das Raubmittel“.28 Da die „Vollendungslösung“ die Verknüpfung von finaler Nötigungshandlung und Todesfolge betont, wird deutlich, dass die gelegentlich zu findende Etikettierung als „Unternehmensdelikt“29 (wenn nicht unzutreffend, so doch) zumindest in Randbereichen unscharf ist; für die „Vollendungslösung“ kommt es nämlich auf die Nötigungskomponente, nicht aber darauf an, ob der tatbestandlich beschriebene Todeserfolg (zugleich) auf den Versuch des Raubes zurückzuführen ist. Mag mit der Vornahme der Nötigungshandlung auch in der Regel ein Raubversuch zu begründen sein, so deckt sich beides nicht notwendigerweise: Einerseits ist die Gleichsetzung mit dem Raubunternehmen zu weit, da zumeist bereits das unmittelbare Ansetzen zur (finalen) Nötigungshandlung den (unbeendeten) Raubversuch begründet. Die „Vollendungslösung“ knüpft die Strafbarkeit aber an die vollständige Verwirklichung des Raubmittels, also an die abgeschlossene Gewalt oder Drohung. Der Gedanke einer „Umdeutung“ der „Nötigung mit Todesfolge“ in ein Unternehmensdelikt mag sich danach allein dann einstellen, wenn bereits das unmittelbare Ansetzen zur Gewalt etc. den Tod zur Folge hat.30 In diesen, aber eben auch nur in diesen Konstellationen wird man – entsprechend der Diskussion bei den (reinen) Erfolgsdelikten – die Frage zu stellen haben, ob der Versuch der (qualifizier-

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Hardtung (oben Fn. 7), S. 32 f. Hardtung (oben Fn. 7), S. 32; s. auch Lüdeking-Kupzok Der erfolgsqualifizierte Versuch (1979), S. 125 ff. 28 Wenn im weiteren Text der Begriff „Raubmittel“ verwandt wird, ist hiermit gemeint der Einsatz des im Sinne des § 249 Abs. 1 StGB qualifizierten Nötigungsmittels zum Zwecke der Wegnahme. 29 BGHSt 42, 158 (160); Hardtung (oben Fn. 7), S. 33; Herzberg JZ 2007, 615 (616); dazu auch Bacher (oben Fn. 14), S. 229 ff.; Klaas (oben Fn. 11), S. 127. 30 Dazu Hardtung (oben Fn. 7), S. 101 f. 27

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ten und finalen) Nötigung wie der Versuch der Körperverletzung,31 der Versuch der Freiheitsberaubung32 oder der Versuch der Brandstiftung33 die Vollendung des Todesfolgedelikts zu tragen vermag.34 Andererseits ist die Gleichsetzung mit dem Raubunternehmen zu eng, da bei dem – zeitlich und räumlich möglicherweise weit gestreckten – zweiaktigen Delikt Gestaltungen denkbar sein mögen, in welchen der Einsatz des Raubmittels noch als Vorbereitung des Raubes zu charakterisieren ist. Suchte man für die „Vollendungslösung“ eine treffende Deliktsbeschreibung, wäre der Raub mit Todesfolge ein modalisiertes teilvorsätzliches Erfolgsdelikt:35 „Modalisiert“ ist der Tatbestand, weil der Todeserfolg durch eine bestimmte Ausführungsart (den Einsatz des Raubmittels) bewirkt werden muss; insoweit „teilvorsätzlich“ ist er, als dass sich der Vorsatz nur auf diese finale Nötigungshandlung, nicht aber notwendigerweise auf den Todeserfolg beziehen muss.

III. Die Auslegung des gesetzlichen Merkmals Sind hiernach die Kriterien von Versuch und Vollendung ohne Bedeutung, fragt sich im Folgenden, ob § 251 StGB im Sinne eines formell vollendeten, also kraft Gesetzes nicht rücktrittsfähigen Delikts auszulegen ist. Mit den dankenswert klaren Worten Hardtungs ist danach insoweit einzig „entscheidungserheblich“ die Frage:36 „Setzt § 251 einen vollendeten Raub voraus?“37 Wird die „Vollendungslösung“ in dieser Weise sprachlich zutreffend verdichtet, zeigt sich besonders nachdrücklich, dass der Einwand, sie missachte „den strafschärfenden Charakter der erfolgsqualifizierten Delikte“ und enthalte „überdies dem Täter die Strafmilderungsmöglichkeit des § 23 Abs. 2 StGB“ vor,38 auf einer zirkulären Argumentation gründet: § 251 StGB ist nach dieser Auslegung nämlich gerade nicht Qualifikation des Raubs, sondern ein eigener Tatbestand; etwaige mit einer nur versuchten 31 Angesichts des Einwands der gesetzeswidrigen Umwandlung in ein Unternehmensdelikt ist es durchaus interessant, dass der Bundesgerichtshof es für die Körperverletzung mit Todesfolge (die immerhin den „Tod der verletzten Person“ voraussetzt) genügen lässt, dass „die Körperverletzungshandlung zum Tode des Angegriffenen geführt hat“ (BGHSt 14, 110 [112]). 32 Horn/Wolters, in: SK-StGB (2003) § 239 Rdn. 22. 33 So im Grundsatz BGHSt 20, 230, wo andere Gründe einer Verurteilung (wegen Vollendung und Versuchs) entgegenstanden; s. auch Wolters/Horn, in: SK-StGB (2006), § 306c Rdn. 3 mit weiteren Nachweisen. 34 Vgl. Hardtung (oben Fn. 7), S. 46 f. 35 Dazu bereits Wolters GA 2007, 65 (72). 36 Vgl. demgegenüber noch einmal BGHSt 42, 158 (159). 37 Hardtung (oben Fn. 7), S. 97. 38 Sowada Jura 1995, 644 (651).

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB

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Tat verbundene gesetzliche Privilegierungen kommen dem Täter nicht zugute, wie sie eben nach der gesetzgeberischen Wertung jedem anderen Vollendungstäter auch nicht zugute kommen.

1. Der Wortsinn des gesetzlichen Merkmals „durch den Raub“ Dass das Ergebnis der „Vollendungslösung“, den Rücktritt vom versuchten Raub nicht auch beim Raub mit (eingetretener) Todesfolge mit einer Strafaufhebung zu honorieren, beinahe einhellig für richtig gehalten wird, zeigt sich in dem – eben selten mehr und zumeist weniger der Methodik verpflichteten – Bemühen, auch auf dem Boden der „Versuchslösung“ zu ihm zu gelangen. So verwundert es nicht, dass gegen eine richtig verstandene (also: formelle) „Vollendungslösung“ vor allem ins Feld geführt wird, das Erfordernis einer Vollendung des Raubes folge aus dem Sinn des Wortes „Raub“.39 Der besonders sorgfältige Blick auf das geschriebene Recht ist im Lichte des verfassungsrechtlich verbürgten Bestimmtheitsgebotes zwar die vornehmste Pflicht eines jeden Strafgesetzanwenders, doch sollte ihm auch gewahr sein, dass das Analogieverbot zuweilen wie eine „Guillotine“40 die eigentliche Argumentation ersetzt.

a. Der Ausdruck „Raub“ Dieser Versuchung nicht erliegend, hat sich Hardtung eingehend mit dem Begriff „Raub“ beschäftigt: Er betont zunächst, dass „nach dem natürlichen Sprachgebrauch damit gemeint (ist), dass § 249 komplett erfüllt sein muss, nicht nur versucht“,41 da etwa das Opfer eines Raubversuchs, das seine Sachen erfolgreich verteidigen konnte, nicht sagen wird, es sei „Opfer eines Raubes“ geworden. „Zwingend“ sei eine derartige Deutung aber nicht, da es sein könne, „dass der Gesetzgeber mit ‚Raub‘ nur das Delikt, nicht aber dessen Verwirklichungsstufe kennzeichnen wollte“.42 In dieser Wortsinnsuche zeigt sich schulmäßig das für die Auslegung ganz wesentliche Verhältnis von allgemeinem und besonderem Sprachgebrauch:43 Selbst wenn die (oft wenig ergiebige) allgemeine Sprache den „Raub“ im Sinne einer abgeschlossenen Nötigung zur vollständigen Wegnahme gebrauchen mag,44 geht die besondere Sprache des Gesetzes jedenfalls solange vor, wie die Grenze 39

Eingehend Hardtung (oben Fn. 7), S. 98 f.; ihm folgend Herzberg JZ 2007, 615 (616). Küper JZ 1997, 229 (231). 41 Hardtung (oben Fn. 7), S. 98 (Hervorhebung nicht im Original). 42 Hardtung (oben Fn. 7), S. 98. 43 Zum „Wortsinn“ als Kriterium der Auslegung s. Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. (1979), S. 307 ff. 44 S. dazu Wahrig Deutsches Wörterbuch (Neuausgabe 2000), Stichwort „Raub“. 40

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des sprachlich möglichen Wortsinns nicht überschritten wird.45 Dass der gesetzlich verwandte Begriff des „Raubs“ sprachlich als „Einsatz des Raubmittels“ verstanden werden kann, ein entsprechendes (sich etwaig aus dem weiteren Auslegungskanon ergebendes) Verständnis sich also im Rahmen der zulässigen Gesetzesauslegung bewegt und nicht eine Gesetzeslücke durch (hier) unzulässige Analogie ergänzt, findet eine besonders starke Stütze in der Etymologie des Wortes: So lassen die westgermanischen wie alt- und mittelhochdeutschen Wurzeln erkennen, dass der „Raub“ sich von Begriffen ableitet, die auf das „Reißen“ oder „Rupfen“ deuten,46 bei denen also kein weitergehender Erfolg, sondern eine bestimmte finale Handlung in Gestalt einer körperlichen Kraftentfaltung und Zwangswirkung im Vordergrund stehen. Die sprachliche Verwandtschaft zum „Raufen“47 vermag dies zu unterstreichen. So zeigt auch ein Blick in die Rechtsgeschichte, dass die Verwendung des Begriffs „Raub“ vor allem den charakteristischen Unterschied zum („heimlichen“) Diebstahl in Gestalt des offenen Zugriffs und körperlichen Zwangs deutlich machen sollte.48 Diese Gesichtspunkte lassen jedenfalls erkennen, dass der Begriff „Raub“ einer Ausfüllung und Wertung durchaus zugänglich ist, aus dem Gesetzeswortlaut mithin nicht nur eine mögliche, mithin einzig „richtige“ Lösung zu folgern ist.49 Bei der Auslegung des möglichen Sinns des Gesetzes muss indes die gesamte Tatbestandsformulierung, hier also auch der Klammerzusatz („§§ 249 und 250“) in Bedacht genommen werden. Mit ihm wollte der Gesetzgeber bei der Neufassung „klarstellen“,50 dass „sich diese Vorschrift sowohl auf die Fälle des § 249 als auch auf die des § 250 bezieht“.51 Möchte man der Legislative nicht bescheinigen, lediglich das Selbstverständliche auszudrücken, dass nicht nur bei Verwirklichung des Grundtatbestands, sondern auch bei seine Merkmale qualifizierenden Umständen ein Schuldspruch wegen (schweren) Raubes mit Todesfolge erfolgen kann, so wird man den Klammertext als Hinweis darauf deuten dürfen, dass eben auch die nur vom schweren Raub beschriebenen Handlungen den Todeserfolg zu tragen vermögen: So wäre die schwere Folge des § 251 StGB etwa auch dann „durch 45

Larenz (oben Fn. 43), S. 309. Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. (1999), Stichworte „Raub“ und „rauben“. 47 Wahrig (oben Fn. 44), Stichwort „Raub“; Kluge (oben Fn. 46), Stichwort „Raub“. 48 Kaufmann, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band 4 (1990), Stichwort „Raub“. 49 Kritisch zum „‚scharfen Schwert‘ des Analogieverbots“ auch (allerdings mit Blick auf die für die „Versuchslösung“ maßgebende Auslegung der Merkmale des § 24 StGB) Bacher (oben Fn. 14), S. 207. 50 BT-Drucks. 7/1261 S. 18. 51 Vergleichbares gilt für gesetzgeberische Erwägungen bei § 178 StGB (BT-Drucks. 13/8587 S. 32 zu § 176b StGB E und BT-Drucks. 13/9064 S. 28 zu § 178). 46

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB

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den Raub“ verursacht, wenn der Täter die Wegnahme bereits vollendet hat, der Tod aber erst „durch“ eine anschließende Verwendung einer Waffe52 oder „durch“ eine anschließende schwere körperliche Misshandlung53 eingetreten ist; eine derartige Deutung setzt naturgemäß voraus, dass die genannten Verhalten in der Beutesicherungsphase dem Merkmal „bei der Tat“ (noch) zu subsumieren sind.54 Darüber hinaus spricht der Gesichtpunkt der technischen (genauer: der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit geschuldeten) Gesetzesgestaltung dafür, in Text und Klammerzusatz zwar nur den Tatbestand des Besonderen Teils in Form der gesetzlichen Überschrift oder der Paragraphennummer („Raub“, „§ 249“ etc.) zu nennen, auf diese Weise aber lediglich die in Bezug genommene Norm kenntlich machen zu wollen. Sähe man hierin auch den inhaltlichen Hinweis, dass sämtliche Merkmale (einschließlich des Erfolgs) vorausgesetzt sind, stellten sich völlig sachwidrige, ganz offensichtlich nicht gewollte Konsequenzen ein: So dürfte etwa eine Führungsaufsicht nach § 256 Abs. 1 StGB, der an Fälle „der §§ 249 bis 255“ anknüpft, nicht angeordnet werden, wenn ein schwerer Raub nach § 250 Abs. 2 StGB (der - ohne Ansehung der Milderungsmöglichkeit – mindestens fünf Jahre Freiheitsstrafe nach sich zieht) nur versucht ist, während die entsprechende Maßregelanordnung beim Versuch einer (einfachen) Erpressung wegen der (im Lichte des § 23 Abs. 1 StGB gebotenen) ausdrücklichen Erwähnung in § 253 Abs. 3 StGB möglich ist. Es dürfte hiernach auf der Hand liegen, dass der Gesetzgeber bei Nennung einer Vorschrift des Besonderen Teils jedenfalls sämtliche Erweiterungsnormen des Allgemeinen Teils (neben dem Versuch etwa die Teilnahme und das Unterlassen) auch sprachlich eingeschlossen wissen möchte,55 das Bestimmtheitsgebot also eine Formulierung wie „§ 249, auch in Verbindung mit den §§ 13 Abs. 1, 23 Abs. 1, 26 oder 27 Abs. 1“ schon aus Gründen der „Greifbarkeit“ nicht verlangt. So möchte der Gesetzgeber beispielsweise (ohne hierfür auch nur einen leisen Begründungsbedarf zu sehen) das in § 176a Abs. 1 StGB verwandte Merkmal „in den Fällen des § 176 Abs. 1 und Abs. 2“ als Hinweis auf „Versuch und Vollendung“ gedeutet wissen,56 obwohl die Versuchsstrafbarkeit in dieser

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BGHSt 52, 376 (377 f.). BGHSt 53, 234 (236 f.). 54 Dagegen die wohl ganz überwiegende Meinung; so etwa Sander, in: MüKo-StGB (2003), § 250 Rdn. 59 (zu § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) und § 250 Rdn. 51 und 65 (zu § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB) mit zahlreichen Nachweisen. S. dazu auch jüngst BGH NJW 2010, 1892 (1893). 55 So denn auch etwa ohne jede Begründung Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 256 Rdn. 1. 56 BT-Drucks. 13/9064 S. 22. 53

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Norm erst in Absatz 6 StGB angeordnet wird, der Versuch also gerade kein Fall der ersten beiden Absätze ist.57

b. Der Ausdruck „durch“ Ist hiermit gezeigt, dass die Nennung des Vollendungstatbestandes („Raub“ etc.) ausschließlich im Sinne einer technischen Bezugnahme auf eine Vorschrift dient, kann sie sprachlich auch ohne weiteres in der Weise verstanden werden, dass sie allein auf die Verwirklichung der von dem bezeichneten Delikt beschriebenen Tathandlung hinweist. Da § 251 StGB nach seinem Wortlaut aber nicht nur auf den „Raub“ etc. Bezug nimmt, sondern verlangt, dass der Tod eben „durch“ diesen verursacht wird, ist unter dem Gesichtspunkt des Wortsinns weiter darüber nachzudenken, ob die schwere Folge das letzte Glied einer Kausalkette darstellen muss, welche durch sämtliche Merkmale des Raubs, also ausgehend von der Nötigungshandlung über den Nötigungserfolg zum Todeseintritt gebildet wird. Wäre das Merkmal „durch den Raub“ in dieser Weise zu verstehen, wäre der Tatbestand indes einzig in der kaum jemals praktisch relevanten und zudem theoretisch höchst umstrittenen58 Fallgestaltung verwirklicht, in welcher der Tod durch die Wegnahme bewirkt wird. Da schon die Einordnung des Delikts in den zweiundzwanzigsten Abschnitt unschwer erkennen lässt, dass es nicht aufgestellt ist, um an die hinsichtlich des Lebens typischerweise ungefährliche Wegnahme anzuknüpfen (kein „Diebstahl mit Todesfolge“),59 sondern den insoweit typischerweise gefährlichen Einsatz des Raubmittels verhindern (bzw. bestrafen) möchte, kann das Merkmal „durch den Raub“ nicht im Sinne einer durchlaufenden Kausalität zu deuten sein. Die Entscheidung des Gesetzgebers, nicht sämtliche „Nötigungen mit Todesfolge“ mit erhöhter Strafe zu belegen,60 sondern nur solche, die qualifizierte Mittel (wie „Gewalt gegen eine Person“) und bestimmte Erfolge (wie die Duldung der Wegnahme in Zueignungsabsicht) voraussetzen, liegt 57

Kritisch daher Wolters/Horn, in: SK-StGB (2008), § 176a Rdn. 3 und 5. Dazu eingehend Hardtung (oben Fn. 7), S. 103 f. und Herzberg JZ 2007, 615 (616 ff.) mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Gegen eine Einbeziehung der Wegnahme etwa Herdegen, in: LK-StGB, 11. Aufl. (1994), § 251 Rdn. 2; Kindhäuser, in NK-StGB, 2. Aufl. (2005), § 251 Rdn. 2; Sinn, in SK-StGB (2009), § 251 Rdn. 13. 59 Auch § 178 StGB steht nicht die Gefährlichkeit der sexuellen Handlung vor Augen (kein „Beischlaf mit Todesfolge“); dieser Gesichtspunkt wird allerdings beim „sexuellen Missbrauch mit Todesfolge“ nach § 176b StGB stärker zutage treten, da angesichts des geringen Lebensalters des Opfers im Rahmen der §§ 176 und 176a StGB schon die sexuelle Handlung auch in Bezug auf das Rechtsgut Leben gefährlich ist (näher Wolters/Horn, in: SK-StGB [2008], § 176b Rdn. 2). 60 Vgl. aber die gesetzgeberische Wertung, bei der „Nachstellung“ eine entsprechende Regelung zu schaffen (§ 238 Abs. 3 StGB). 58

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB

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dabei offensichtlich im Rahmen seiner Prärogative, da die Einschätzung, dass die Vornahme einer typischerweise (lebens-)gefährlichen Handlung erst um der Erreichung besonders verwerflicher Ziele willen ein gegenüber der einfachen Nötigung erheblich gesteigertes Unrecht darstellt, sachgerecht erscheint. Aus der Formulierung „durch den Raub“ wird man auch nicht das Erfordernis einer zeitlichen Reihung in der Gestalt abzulesen haben, dass der Tod zwar allein durch das Raubmittel bewirkt sein kann, der Raub aber doch in Gänze vollendet sein muss, bevor der besondere Erfolg eintritt.61 Diese Deutung ginge am genannten Regelungsgrund allzu offensichtlich vorbei: Wird er nämlich allein in der typischerweise gefährlichen Handlung gesucht, kann es nicht von Bedeutung sein, zu welchem – eher mehr als weniger zufälligen – Zeitpunkt der typischerweise ungefährliche Schlussakt gesetzt wird.62 Wenn aber die Gefährlichkeit des Raubmittels von herausragender Bedeutung ist und zudem der Rauberfolg mit dem Tod in keiner ursächlichen oder auch nur zeitlichen Beziehung stehen muss, wird die Formulierung „durch den Raub“ letztlich auch von den Anhängern der „Versuchslösung“ zu eben nur der „Hälfte“ wahrgenommen, auf die sich auch die „Vollendungslösung“ stützt – auf die Verursachung des Todes durch die Nötigungshandlung. Gelegentlich finden sich gar Formulierungen, die zeigen, dass die schwere Folge nicht einmal auf das Raubmittel zurückgeführt werden muss: Wenn der Bundesgerichtshof etwa betont, es sei „mit dem Schutzzweck des § 251 StGB ... unvereinbar, einen Raubtäter von der Sanktion auszunehmen“, der seine „tatspezifische Gefährlichkeit“ erst „bei der sich anschließenden Phase der Flucht und Beutesicherung“ gezeigt habe,63 wird der im Gesetzeswortlaut anklingende Ursachenzusammenhang („durch“) gänzlich verwässert und der Tatbestand letztlich angewandt, als enthielte er das Merkmal „bei dem Raub“.64 Ob das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ tatsächlich zu nichts anderem schrumpft als zu einer notwendigen Bedingung der Vollendungsstrafbarkeit, wird im Weiteren zu beleuchten sein.65

61 Vgl. Lobe, in: LK-StGB, 4. Aufl. (1929), § 251 Anm. 6; zum Meinungsstand Bacher (oben Fn. 14), S. 229 ff. 62 Vgl. zur (tatbestandlich indes anders strukturierten, weil nicht zweiaktigen) Brandstiftung mit Todesfolge Wolters/Horn, in: SK-StGB (2006), § 306c Rdn. 3. 63 BGHSt 38, 295 (298 f.); zweifelnd jüngst BGH NJW 2010, 1892 (1893). 64 Vgl. die entsprechende Fassung des § 251 RStGB (dazu noch unten). 65 S. dazu auch Lüdeking-Kupzok (oben Fn. 27), S. 288 ff.

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2. Der weitere Bedeutungszusammenhang des gesetzlichen Merkmals „durch den Raub“ Bei der weiteren Auslegung des gesetzlichen Merkmals „durch den Raub“ kann der mögliche Einwand, das Stufenverhältnis folge aus § 18 StGB, unschwer entkräftet werden. Wenn es auch zutrifft, dass „die Vorschriften des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs nicht isoliert von den Regelungen des Allgemeinen Teils angewendet werden können “,66 so muss doch die allgemeine Vorschrift die Auslegung der besonderen überhaupt beeinflussen können. Für die Auslegung des hier betrachteten § 251 StGB bedarf es aber einer Anwendung des § 18 StGB überhaupt nicht, da sich sämtliche Merkmale im Besonderen Teil und in der die innere Tatseite betreffenden allgemeinen Vorschrift des § 15 StGB finden: Wenn vorausgesetzt ist, dass „der Täter durch den Raub (§§ 249 und 250) wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen (verursacht)“, folgt aus § 15 StGB, dass hinsichtlich der das Merkmal „durch den Raub (§§ 249 und 250)“ begründenden Umstände Vorsatz gegeben sein muss, während das Merkmal „wenigstens leichtfertig den Tod ... verursacht“ unmittelbar und vollständig zeigt, dass ausnahmsweise auch ein nicht vorsätzlich herbeigeführter Erfolg strafbar ist. Mag sich somit der in § 251 StGB beschriebene „Tod eines anderen Menschen“ nach der Auslegung als „eine besondere Folge der Tat“ (namentlich „des Raubs“) darstellen, so bedarf es für seine Auslegung eines Rückgriffs auf § 18 StGB nicht. Des letzteren Anwendungsbereich als Erweiterung des § 15 StGB beschränkt sich hiernach auf Vorschriften, die sich im Besonderen Teil zur inneren Tatseite nicht verhalten (wie die §§ 227 oder 239 Abs. 4 StGB).

3. Die Entstehungsgeschichte des Tatbestands Es verwundert nicht, dass in der Diskussion um die „richtige“ Auslegung des Tatbestands die Entstehungsgeschichte der Vorschrift kaum nutzbar gemacht wird, da diese doch kaum anderes als die formelle „Vollendungslösung“ tragen dürfte. Seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich (RStGB) am 1. Januar 1872 hat der Gesetzgeber lediglich zweimal die Voraussetzungen des in Rede stehenden Tatbestands geändert. Die heutige Fassung (einschließlich des hier in den besonderen Blick genommenen Merkmals „durch den Raub“) geht auf das seit dem 1. Januar 1975 geltende Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB)67 zurück,68 das den 66 67

BGHSt (GS) 39, 100 (103). Vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469).

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB

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früheren § 251 RStGB, nach dem „der Räuber“ schärfer bestraft wurde, „wenn bei dem Raube ein Mensch gemartert oder durch die gegen ihn verübte Gewalt eine schwere Körperverletzung oder der Tod desselben verursacht worden ist“, in zwei Punkten änderte: Neben der Streichung der Tatbestände der Marterung und der Bewirkung der schweren Körperverletzungsfolge69 wurde die Formulierung, dass der Tod „durch die gegen ihn verübte Gewalt“ verursacht sein muss, dahingehend angepasst, dass er nunmehr „durch den Raub“ einzutreten hat. Nach dem früheren Wortlaut kam es für die Vollendung des Tatbestands also allein darauf an, dass der Tod durch „die der Wegnahme dienende tatbestandsmäßige Gewalt“70 vermittelt wurde, nicht aber darauf, ob die „Wegnahme“ verwirklicht war.71 Ganz im Sinne der formellen „Vollendungslösung” fand das Reichsgericht auf der Grundlage dieser Gesetzesfassung besonders klare Worte zur Bedeutungslosigkeit des Merkmals der Wegnahme:72 „... Damit ist aber, da die gegen M. verübte Gewalt dessen Tod herbeigeführt hat, die Anwendbarkeit des § 251 StGB gegeben, obwohl die Tat nicht bis zur Vollendung der Wegnahme gediehen ist. Soweit nicht aus dem Wortlaut oder aus Sinn und Zweck der betreffenden Vorschrift etwas anderes zu entnehmen ist, muß davon ausgegangen werden, daß eine Tatsache, die das Gesetz als straferhöhenden Umstand bezeichnet, diese Bedeutung ebenso für die versuchte wie für die vollendete Tat besitzt. Tatbestandlich erfordert der § 251 nichts weiter, als daß Gewalt angewendet wurde und sie den Tod des Menschen, gegen den sie gerichtet war, herbeigeführt hat; diese beiden Erfordernisse können aber sehr wohl erfüllt sein, ohne daß es zur Wegnahme irgendeiner Sache gekommen ist. Ohne Grund macht der Verteidiger gegen diese Auffassung geltend, daß nach dem Wortlaut des § 251 nur der ‚Räuber‘ bestraft werde, und daß ein ‚Räuber‘ lediglich sei, wer das im § 249 bezeichnete Verbrechen nicht allein versucht, sondern vielmehr nach seinen sämtlichen Tatbestandsmerkmalen voll verwirklicht habe. Diese Ausführung übersieht jedoch (...), daß das Gesetz den Versuchstatbestand und den Umfang seiner An68 Für die hiesige Untersuchung ist die zweite Änderung der tatbestandlichen Voraussetzungen durch das sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164) ohne Bedeutung: Durch dieses wurde vor dem Begriff „leichtfertig“ ein „wenigstens“ eingefügt und das Opfer geschlechtsneutral beschrieben („eines anderen Menschen“). Eine weitere Änderung betraf allein die Umstellung auf das neue Rechtsfolgensystem durch das erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645). 69 Diese Modalitäten finden sich – inzwischen – sprachlich und inhaltlich abgewandelt in den neuen §§ 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a und 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB wieder. 70 BGHSt 22, 362 (363); BGHSt 16, 316 (319); missverständlich RGSt 75, 52 (54). 71 Vgl. Olshausen, StGB, 2. Aufl. (1886), § 251 Anm. 2, Anm. 4, aber auch Anm. 6. 72 RGSt 62, 422 (422 f.).

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wendbarkeit ein für alle Male in dem § 43 StGB erledigt und sich daher später bei der Tatbestandsfassung der einzelnen Zuwiderhandlungen grundsätzlich darauf beschränkt, den Tatbestand der vollendeten Zuwiderhandlung anzugeben; es geht dabei immer stillschweigend von dessen entsprechender Anwendbarkeit auf den Fall des bloßen Versuchs nach Maßgabe des § 43 aus. (...) Ein innerer Grund, den § 251 auf das Vorliegen eines vollendeten Raubes zu beschränken, ist nicht ersichtlich. Der im Gesetz bezeichnete straferhöhende Umstand besteht in der verhängnisvollen Folge, welche die Tat für das Leben und nicht für das Vermögen der betroffenen Person gehabt hat; er wird also von der Frage, ob und in welchem Umfange es zu einer Wegnahme von Sachen gekommen ist, in keiner Weise berührt ... Da das Gesetz in der Anwendung von Gewalt an sich einen Anlaß findet, den Täter auch dann, wenn die damit von ihm bezweckte Wegnahme von Sachen nicht zur Ausführung gekommen ist, härter – nämlich als Räuber und nicht als Dieb – zu bestrafen, ist die Annahme gerechtfertigt, daß es ebenso auch die besonders schwere Strafe, die es bei dem Eintritt des Todes als Folge der verübten Gewalt androht, in allen Fällen, also auch dann angewendet wissen will, wenn der Täter die damit bezweckte Wegnahme von Sachen nicht ausführen konnte.“ 73 Dass auch der historische Normsetzer dem Nötigungserfolg für die Vollendungsstrafe keine Bedeutung beigemessen hat, wird (noch) deutlicher bei § 178 RStGB: Auf der Tatbestandsseite verlangte dieser nämlich lediglich, dass „durch eine der in den §§ 176 und 177 bezeichneten Handlungen der Tod der verletzten Person verursacht worden (ist)“;74 durch die pluralische Formulierung knüpfte diese Vorschrift an jede einzelne Handlung des zweiaktigen Geschehens75 und damit vor allem an die typischerweise lebensgefährliche Nötigungshandlung an, jeder sprachliche Bezug zur (Gesamt-)Vollendung des (vermeintlichen) „Grunddelikts“ fehlte.

73 Gerade aus dem letzten hier wiedergegebenen Satz darf man schließen, dass der Senat die Vollendungsstrafe des § 251 StGB zwingend verwirkt sah, da er eine Milderungsmöglichkeit nach dem früheren § 44 Abs. 1 StGB nicht anklingen lässt. Wenn seinerzeit dennoch gelegentlich das Vorliegen des Nötigungserfolgs zur Voraussetzung für einen Schuldspruch aus dem fraglichen Vollendungsdelikt erhoben worden ist (s. RGSt 75, 52 [54]), dürfte dieses – nicht näher begründete – Ergebnis wiederum aus dem vom Gesetz nirgends verwandten „Begriff der Erfolgsqualifikation“ abgeleitet sein (vgl. Schönke/Schröder StGB, 17. Aufl. [1974], § 56 Rdn. 7; s. auch Lüdeking-Kupzok [oben Fn. 27], S. 267). 74 Weniger eindeutig war noch § 144 Abs. 2 PreußStGB gefasst, der die Verursachung des „Todes der Person, gegen welche das Verbrechen verübt wird“, voraussetzte. 75 S. Frank StGB, 18. Aufl. (1931), § 178, der in den wenigen Zeilen seiner Kommentierung einzig den Hinweis für notwendig erachtet, dass „ein Fall des § 178 auch dann vorliegt, wenn die Frauensperson bei der Niederkunft stirbt“ (Hervorhebung hier).

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Freilich soll hier nicht verschwiegen werden, dass sich der Bundesgerichthof trotz des eindeutigen Wortlauts des früheren Tatbestands und der oben wiedergegebenen Erwägungen des Reichsgerichts nicht ausdrücklich zur formellen Vollendungslösung bekannt hat. Ebenso wenig deutlich folgte er aber der „Versuchslösung“. Insbesondere kann das in der mehrfach wiedergegebenen Grundsatzentscheidung76 angeführte, das frühere Recht betreffende Urteil77 nicht zu letzterer Paten gemacht werden: Zum Gegenstand hatte dieses zwar eine Revision gegen eine Verurteilung wegen „versuchter Notzucht mit Todesfolge“, jedoch kann aus der Begründung nicht auf ein dem Schwurgericht entsprechendes Gesetzesverständnis geschlossen werden, da eine Strafbarkeit aus § 178 StGB nicht aus Versuchsgesichtspunkten, sondern (schon) deswegen verneint wurde, weil die Todesfolge nicht „durch eine der in § 177 StGB bezeichneten Handlungen“ (zurechenbar) verursacht wurde.78 Inhaltlich findet sich insoweit ausschließlich eine Erörterung der Frage, ob sich (nach heutiger Begrifflichkeit) die Gefährlichkeit der Nötigungshandlung (!) realisiert hat, kein Wort aber zu dem nach dem Wortlaut nicht verlangten Eintritt des Nötigungserfolges;79 mit dem Gesichtspunkt des Versuchs beschäftigte sich der Senat allein mit Blick auf das „Grunddelikt“.80 Angesichts der genannten, deutlich für die „Vollendungslösung“ streitenden früheren Tatbestandsfassungen und der (soweit sich eine inhaltliche Auseinandersetzung findet) durchaus zugeneigten Interpretation durch die höchstrichterliche Rechtsprechung wird man jedenfalls kaum behaupten können, dass es dem Gesetzgeber „selbstverständlich bekannt (war), dass der alte § 251 StGB allgemein gedeutet wurde als Qualifikation eines vollendeten Raubes“.81 Vielmehr dürfte sich doch umgekehrt zeigen, dass man dem Gesetzgeber wird attestieren dürfen, dass er eine vom Wortsinn getragene und an der Sache orientierte Gesetzesanwendung wünscht, solange sich keine Indizien dafür finden, dass er bei den Überlegungen zur Neufas-

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BGHSt 42, 158 (159). BGH NJW 1955, 1327 f. = BGH LM § 177 Nr. 6. 78 BGH NJW 1955, 1327 (1328); kritisch zum Ergebnis Geilen, in: Festschrift für Welzel (1974), 655 (664 f.). 79 In Gestalt der „unzüchtigen Handlung“ (§ 176 Abs. 1 Nr. 1 RStGB) oder des „außerehelichen Beischlafs“ (§ 177 Abs. 1 RStGB). 80 Auf die „Vollendungslösung“ musste hier auch deswegen nicht eingegangen werden, weil der Täter nach Ansicht des Senats mangels Freiwilligkeit nicht strafbefreiend zurückgetreten war, da er glaubte, die zu vergewaltigende Person sei durch die Gewaltanwendung gestorben, es aber sein Ziel war, „nicht mit einem toten, sondern mit einem lebenden Mädchen den Beischlaf auszuführen“ (wiedergegeben nur in BGH LM § 177 Nr. 6). 81 Herzberg JZ 2007, 615 (616). 77

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sung der in Rede stehenden Vorschriften von diesem sachgerechten Verständnis abweichen wollte.82 Nach § 246 Abs. 2 StGB E 1960 und § 246 Abs. 2 StGB E 1962 sollte bestraft werden, wenn „der Täter durch den Angriff ... den Tod eines Menschen“ verursacht. Diese Neuformulierung sollte klarstellen, dass „der Täter den Tod des anderen zwar durch den Angriff herbeiführen muß, daß der Getötete aber ein beliebiger Dritter sein kann, gegen den sich der Angriff gar nicht richtete“.83 Da sich aus den Materialien keine weiteren Motive ergeben, darf angenommen werden, dass mit der beabsichtigten Fassung „durch den Angriff“ nur die bisherige tatbestandliche Beschränkung auf das Nötigungsmittel der „Gewalt“84 aufgegeben werden sollte und eine Erweiterung auf die ebenfalls spezifisch gefährliche Drohung vorgesehen war.85 Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens war ohne nähere Begründung zunächst beabsichtigt, den Ausdruck „Angriff“ (dem übrigens schon der versuchte Einsatz des Nötigungsmittels zu subsumieren sein dürfte86) durch das auch in vergleichbaren Tatbeständen bereits verwandte oder zu verwendende87 Merkmal „durch die Tat“ zu ersetzen; später fand – wiederum ohne Beschäftigung – die Formulierung „durch den Raub“ erst den Weg in den Entwurf88 und dann in das Gesetz.89 Hiernach findet sich nicht nur in der zu der Neufassung führenden Reformdiskussion kein einziger Hinweis, dass die Voraussetzungen des § 251 StGB eingeschränkt werden sollten, sondern sieht der Bundesgerichtshof sogar eine sachgerechte Ausdehnung über „nur der Wegnahme dienende Nötigungshandlungen“ hinaus.90 Die Auslegung des geltenden Gesetzes im Sinne einer „Vollendungslösung“ wird von der weiteren Genese der Tatbestandsfassungen noch unterstrichen: Da nach § 233 Nr. 3 des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten, der 82 Vgl. demgegenüber Herzberg JZ 2007, 615 (616) mit Hinweis auf Hardtung (oben Fn. 7), S. 98. 83 Begründung des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs (StGB), E 1960, BT-Drucks. 3/2150, S. 384 und (gleichlautend) Begründung des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs (StGB), E 1962, Bundesratsvorlage, S. 417. 84 Olshausen StGB, Band 2, 11. Aufl. (1927), § 251 Anm. 4; Lobe, in: LK-StGB, 4. Aufl. (1929), § 251 Anm. 3; s. schon Goltdammer Materialen zum Strafgesetzbuche für die Preußischen Staaten, Theil II (1852), § 233 Anm. 3. 85 Herdegen, in: LK-StGB, 11. Aufl. (1994), § 251 Vor Rdn. 1. 86 Vgl. Wolters Das Unternehmensdelikt (2001), S. 314 f. 87 S. BT-Drucks. VI/1552 S. 17 (zu § 176 Abs. 4 und 177 Abs. 3 StGB E) und S. 18 (zu § 178 Abs. 3 StGB E) sowie BT-Drucks. VI/3521 S. 37 (zu § 176 Abs. 3 StGB E) und S. 40 (zu § 177 Abs. 3 StGB E). 88 BT-Drucks. 7/550 S. 248 (mit Hinweis auf BT-Drucks. VI/2139 S. 3 und VI/2722 S. 2) und BT-Drucks. 7/1261 S. 18. 89 Art. 19 Nr. 128 EGStGB vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469). 90 S. noch einmal BGHSt 38, 295 (299) für Handlungen nach Vollendung der Wegnahme.

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„Wiege“ des heutigen Tatbestands, lebenslanger Freiheitsentzug schon verwirkt war, „wenn bei dem Raube der Tod eines Menschen durch Misshandlung oder Körperverletzung verursacht ist“, fand die Vorschrift auch Anwendung, „wo der Raub nur versucht ist, wenn die Gewaltthätigkeiten gegen Personen die hier vorgesehene Wirkung gehabt haben“.91 Nachdem zunächst erwogen wurde, diese Vorschrift (als § 175 StGB E 1868) wortgleich in das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund zu übernehmen,92 ist sie im weiteren Gesetzgebungsverfahren93 an die später auch ins Reichsstrafgesetzbuch überführte Formulierung angepasst worden,94 ohne dass an irgendeiner Stelle der Wunsch nach einer inhaltlichen Modifizierung erkennbar wird. Dass sachlich stets allein der gefährliche Einsatz des Raubmittels die Qualifikation tragen sollte, wird auch in der älteren Reformdiskussion offenbar: So knüpfte der Vorentwurf 190995 die Strafschärfung daran, dass „durch die Handlung der Tode eines Menschen verursacht“ (§ 274 Abs. 1 StGB E 1909) wird; die einzig zum Tatbestand geäußerten Bedenken betrafen die Rechtsfolgenseite.96 Der Entwurf 191397 knüpfte die 91

Oppenhoff Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten (1867), § 233 Anm. 6. S. John Entwurf mit Motiven zu einem Strafgesetzbuche für den Norddeutschen Bund (1868), S. 535. Für den hiesigen Untersuchungsgegenstand mag noch von Interesse sein, dass dieser Entwurf die verwandte Qualifikation der Bewirkung einer schweren Körperverletzung (§ 174 Nr. 5 E) nicht mehr an die Modalität einer Misshandlung oder Körperverletzung knüpfen wollte, da es gleichgültig sei, welche Raubhandlung die Ursache bilde (John ebendort, S. 544). 93 S. zunächst noch den § 175 StGB E 1868 inhaltlich entsprechenden § 229 Nr. 2 StGB E Juli 1869 (vgl. demgegenüber § 153 Abs. 2 StGB E Juli 1869, der bei der sexuellen Nötigung nur darauf abstellte, dass „der Tod der Person, gegen die das Verbrechen verübt wird, dadurch verursacht [ist]“). Zu Beginn der Beratungen der Bundesratskommission (1. Lesung) ist der Antrag gestellt worden, tatbestandlich vorauszusetzen, dass „der Tod eines Menschen durch die bei einem Raube ihm zugefügte Misshandlung verursacht worden ist“, während dieser später auf das Erfordernis umgestellt wurde, dass „jemand bei dem Raube ... in Folge der gegen ihn verübten Gewalt eine schwere Körperverletzung erlitten oder der Tod eingetreten ist“ (in: Schubert/Vormbaum, Entstehung des Strafgesetzbuchs, Band 1 [2002], S. 131). Letztere Fassung entspricht inhaltlich § 248 StGB E November 1869, der sodann nach der 2. Lesung als § 246 StGB E Dezember 1869 im Wesentlichen die aus dem Reichsstrafgesetzbuch vertraute abweichende Fassung erhielt (vgl. Schubert/Vormbaum, Entstehung des Strafgesetzbuchs, Band 1 [2002], S. 366 und 396), die zwischenzeitlich (nur) hinsichtlich der Modalität des „Marterns“ Gegenstand der Diskussion war (s. Schubert/Vormbaum, Entstehung des Strafgesetzbuchs, Band 2 [2004], S. 112). 94 § 251 des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund: „Mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus wird der Räuber bestraft, wenn bei dem Raube ein Mensch oder durch die gegen ihn verübte eine schwere Körperverletzung oder der Tod desselben verursacht worden ist“. 95 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch (1909). 96 S. die Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, gefertigt vom Reichsjustizamt (1911), S. 374; ebenso der Gegen92

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Strafschärfung daran, dass der Tod „infolge der Tat eingetreten“ ist (§ 36 1 Abs. 4 StGB E 1913), nach dem Entwurf 1919 musste „die Tat den Tod eines Menschen zur Folge“ haben (§ 369 Abs. 4 StGB E 1919),98 die Entwürfe aus den Jahren 1922, 1923, 1925, 1927 und 1930 setzten schlicht voraus, dass „der Verletzte (stirbt)“.99 Ein Blick in die Gesetzgebungsgeschichte und die Reformdiskussionen der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte zeigt demnach, dass seit jeher allein über den Gesichtspunkt der Gefährlichkeit des Raubmittels nachgedacht worden ist, das Merkmal der Wegnahme dagegen zu keinem Zeitpunkt auch nur eine Erwähnung gefunden hat.100 Es ist mithin auch aus historischer Sicht schlicht unerklärlich, warum letzteres sich in den jüngeren Jahrzehnten ohne eingehende Auseinandersetzung als unerschütterliche Voraussetzung der Vollendungsstrafbarkeit verfestigt hat.

4. Ergebnis Nach Gesagtem liegt die „Vollendungslösung“ nicht nur innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinns, sondern findet auch starke systematische und historische Stützen. Da niemand in Abrede stellt, dass sich in der fraglichen Fallgestaltung im schweren Erfolg gerade die raubspezifische Gefahr realisiert,101 und eine Rücktrittsprivilegierung wohl durchweg als

entwurf zum Vorentwurf eines Deutschen Strafgesetzbuchs, Begründung (1911), S. 278 (zu § 304 StGB GE 1911). 97 Entwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Entwurf der Strafrechtskommission (1913); anders noch die Fassung der ersten Lesung (s. Vormbaum/Rentrop Reform des Strafgesetzbuchs, Sammlung der Reformentwürfe, Band 1 [2008], S. 183). 98 Die Denkschrift zum Entwurf 1919 (1921) betont allein, dass der Tod „nicht unmittelbar durch die Gewaltanwendung herbeigeführt worden zu sein (braucht)“ (S. 318). 99 In Zeiten nationalsozialistischer „Gesetzgebung“ findet sich eine weitere Formulierung in § 461 Abs. 3 StGB E 1936: Hiernach war die Schärfung davon abhängig, dass „der Vergewaltigte an den Folgen der Gewaltanwendung (stirbt)“. In den §§ 453a StGB E 1938 und 460 StGB E 1939 wurde „der Vergewaltigte“ durch „den Angegriffenen“ ersetzt. 100 Dass die vorgenannten Deutungen nicht zwingend zu sein scheinen, zeigt ein rechtsvergleichender Blick: Obwohl § 143 Satz 3 ÖStGB die Strafschärfung allein daran knüpft, dass „die Gewaltanwendung ... den Tod eines Menschen zur Folge (hat)“, findet sich auch in der österreichischen Literatur die – wohl wiederum auf der Kennzeichnung als „Erfolgsqualifikation“ gründende – Vorstellung, dass trotz Bewirkung des Todes durch die Gewaltanwendung das Delikt nur versucht ist, solange die Wegnahme unvollendet bleibt (Eder-Rieder, in: WK-StGB, 2. Aufl. [1999], § 143 Rdn. 30; vgl. Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 11. Aufl. [2010], § 143 Rdn. 5, die betonen, dass „der Räuber durch eben die Gewaltanwendung, durch die er in den Besitz der Beute gelangen will“, die Folge herbeiführen muss). 101 Vgl. Ulsenheimer (oben Fn. 13), 405 (414); s. auch Streng (oben Fn. 6), 629 (632).

Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB

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„unbefriedigend“102 empfunden wird, spricht auch der Schutzweck der Norm für die Deutung im Sinne der „Vollendungslösung“.103 Hiernach sind die gesetzlichen Merkmale des Raubs mit Todesfolge bei leichtfertiger Verursachung des Todes durch den vorsätzlichen und finalen Einsatz des Raubmittels vollständig verwirklicht, der Tatbestand also formell vollendet. Eine Anwendung der Privilegierungsvorschrift des § 24 StGB scheidet demnach kraft Gesetzes aus.

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BGHSt 42, 158 (160). Vgl. Geilen, Jura 1979, 613 (614), der zwar ganz im Sinne der „Vollendungslösung“ ausführt, es könne „keine Rolle spielen“, ob die „für die Todesfolge doch weitgehend indifferenten Diebstahlselemente des Raubes vorliegen“, dennoch aber an der Figur des „erfolgsqualifizierten Versuchs“ festhält. 103

Das Konkurrenzverhältnis von Zustands- und Dauerdelikt FRANK ZIESCHANG

I. Einleitung Die verehrte Jubilarin hat sich nicht nur in der Praxis als Vorsitzende Richterin des 2. Strafsenats des BGH über Jahre mit nicht einfachen Fragen des Strafrechts befasst,1 sondern ist auch der Wissenschaft sehr eng verbunden. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Frau Rissing-van Saan Mitherausgeberin der 12. Auflage des renommierten Leipziger Kommentars zum Strafrecht ist und gleichzeitig dort umfassend und detailreich die Konkurrenzen kommentiert, teilweise durchaus auch kritisch gegenüber der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Der vorliegende Beitrag will an diese Verbindung von Praxis und Wissenschaft anknüpfen. Er hat den Interessen der Jubilarin entsprechend ein konkurrenzrechtliches Thema zum Gegenstand, das praxisrelevant, jedoch auch von wissenschaftlicher Bedeutung ist. Es geht um die Frage, wie bei einem Zusammentreffen von Zustands- und Dauerdelikt das Konkurrenzverhältnis dieser Straftaten zueinander zu beurteilen ist. Vorausgeschickt sei zur Klärung der Randbedingungen kurz eine Begriffsbestimmung. Wann liegt ein Dauerdelikt vor, und in welchem Fall haben wir es mit einem Zustandsdelikt zu tun? Die Jubilarin selbst gibt darauf eine Antwort, indem sie schreibt: „Dauerdelikte sind Strafnormen, bei denen durch die Straftat ein rechtswidriger Zustand geschaffen wird, den der Täter dann willentlich aufrechterhält, oder bei denen er seine delik1 Aus jüngerer Zeit ist etwa auf folgende Urteile des 2. Strafsenats des BGH hinzuweisen: BGH, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05 – (Fall Kanther/Weyrauch; Untreue durch schwarze Parteikasse); BGH, Urt. v. 4.4.2007 – 2 StR 34/07 – („Teilrücktritt“ von der Qualifikation); BGH, Urt. v. 27.4.2007 – 2 StR 490/06 – (Verlesung von früheren schriftlichen Erklärungen bei Berufung auf das Auskunftsverweigerungsrecht); BGH, Urt. v. 4.6.2008 – 2 StR 577/07 – (Substitutionsbehandlung); BGH, Urt. v. 13.8.2008 – 2 StR 240/08 – (vorbehaltene Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden); BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07 – (Untreue zum Nachteil der Siemens AG); BGH, Urt. v. 3.12.2008 – 2 StR 86/08 – (nicht geringe Menge bei Metamfetamin); BGH, Urt. v. 25.6.2010 – 2 StR 454/09 – (Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens).

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tische Tätigkeit fortsetzt“.2 Dagegen besitzt beim Zustandsdelikt „das Aufrechterhalten des rechtswidrigen Zustands keinen selbständigen Unrechtsgehalt …, da der tatbestandliche Vorwurf nur an die Herbeiführung des widerrechtlichen Zustands anknüpft.3 Auch wenn damit etwa bei einer Körperverletzung die zugefügte Wunde erst über eine Dauer von mehreren Wochen heilt, handelt es sich also dennoch um ein Zustandsdelikt, denn das Unrecht der Tat ist mit der Verursachung des entsprechenden Erfolges vollständig erfüllt. Dauerdelikte im Sinne einer Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands sind dagegen etwa § 123 StGB und § 239 StGB. Zu den Dauerdelikten in der Ausprägung der Fortsetzung der deliktischen Tätigkeit zählen zum Beispiel §§ 248b, 316 StGB sowie § 21 StVG. Nicht selten kommt es nun vor, dass Zustandsdelikte mit Dauerdelikten gemeinsam verwirklicht werden. Unterschiedliche Konstellationen sind denkbar, die hier am Beispiel des Hausfriedensbruchs verdeutlicht werden sollen:4 Erstens kommt in Betracht, dass das Zustandsdelikt der Begründung des Dauerdeliktes dient. Das ist etwa der Fall, wenn der Täter die Tür aufbricht, um in die fremde Wohnung zu gelangen. Dann dient die Sachbeschädigung der Begründung des Hausfriedensbruchs. Die zweite denkbare Möglichkeit ist diejenige, dass das Zustandsdelikt zur Aufrechterhaltung des Dauerdelikts eingesetzt wird. Der Täter schlägt beispielsweise den Hausrechtsinhaber in der Wohnung nieder, um weiter dort verbleiben zu können. Als dritte Konstellation ist der Fall anzuführen, dass das Dauerdelikt dazu dient, eine Straftat zu begehen, also durch das Dauerdelikt ein Zustandsdelikt ermöglicht werden soll. Das trifft etwa zu, wenn der Täter in die Wohnung einbricht, um dort zu stehlen. Dann wird der Hausfriedensbruch begangen, um den Diebstahl zu verwirklichen. Das Dauerdelikt ist in diesem Fall Mittel zum Zweck. Schließlich kommt viertens in Betracht, dass der Täter „bei Gelegenheit“ des Dauerdelikts eine Straftat begeht. Dies liegt zum Beispiel vor, wenn jemand in die Wohnung einbricht, um dort einen Gegenstand zu stehlen, und nach dem Diebstahl nun spontan den Entschluss fasst, die Wohnung zu verwüsten. Die Sachbeschädigung erfolgt dann – wenn man diese Formulierung wählen mag – „bei Gelegenheit“ des Dauerdelikts. 2

Rissing-van Saan, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 52 Rn. 49. Rissing-van Saan (Fn. 2) Vor § 52 Rn. 49 (Hervorhebung im Original). 4 Siehe dazu auch Geppert Jura 1989, 378 (382 f.); Lenckner/ Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 123 Rn. 36; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 10. Aufl. 2009, § 30 Rn. 27 ff.; Seier JA 1978, 622 f. Aus Raumgründen ausgenommen werden sollen bei der folgenden Betrachtung die eigenständige Problematik der Klammerwirkung sowie die Frage der Unterbrechung des Dauerdelikts. 3

Das Konkurrenzverhältnis von Zustands- und Dauerdelikt

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Es stellt sich nun bei jeder dieser Konstellationen die Frage, in welchem Konkurrenzverhältnis das jeweilige Zustandsdelikt zum Dauerdelikt steht. Dazu sollen im Folgenden die maßgeblichen Kriterien ermittelt werden.

II. Erste Konstellation: Das Zustandsdelikt dient der Begründung des Dauerdelikts Nicht selten findet sich die Aussage, das Zustandsdelikt stehe mit dem Dauerdelikt in Idealkonkurrenz, wenn ersteres zur Begründung des zweiten begangen wird.5 Bei einer genaueren Betrachtung dieser Fallgestaltung und der hierbei möglichen Abläufe zeigt sich aber, dass diese Aussage doch sehr pauschal ist und korrigiert oder zumindest präzisiert werden muss. Im Einzelnen: Vom Ausgangspunkt ist zu beachten, dass die Idealkonkurrenz (Tateinheit) an zwei Bedingungen geknüpft ist, die kumulativ vorzuliegen haben:6 Erstens müssen mehrere verwirklichte Delikte in Handlungseinheit stehen. Ist dies der Fall, darf zweitens keine Konstellation der Gesetzeskonkurrenz – also Spezialität, Subsidiarität oder Konsumtion – vorliegen. Nur wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, ist Idealkonkurrenz (Tateinheit) gegeben. Berücksichtigt man dies, ergeben sich bereits zwingende Korrekturen an der Aussage, das Zustandsdelikt stehe in Idealkonkurrenz zum Dauerdelikt, wenn ersteres der Begründung des zweiten dient; man denke etwa nur an den Fall, dass der Täter eine Freiheitsberaubung durch längeres Festhalten verwirklicht, sodass zur Begründung des Delikts eine Nötigung begangen wird. In dieser Konstellation stehen nun aber § 239 StGB und § 240 StGB nicht in Idealkonkurrenz. Vielmehr tritt die regelmäßig mit der Freiheitsberaubung gleichzeitig verwirklichte Nötigung hinter § 239 StGB zurück, da mit § 240 StGB normalerweise kein über die Freiheitsberaubung hinausgehender Unrechtsgehalt verbunden ist, die Nötigung sich also darin erschöpft, das Opfer an der freien Bestimmung seines Aufenthaltsorts zu

5 Vgl. BGH bei Dallinger MDR 1955, 144; BGH NStZ 1999, 513 (514); Eisele, Strafrecht Besonderer Teil I, 2008, Rn. 648; Geppert Jura 2000, 651 (652); Haft, Strafrecht Besonderer Teil II, 8. Aufl. 2005, S. 19; Kindhäuser, Strafrecht Besonderer Teil I, 4. Aufl. 2009, § 33 Rn. 40; Küpper, Strafrecht Besonderer Teil 1, 3. Aufl. 2007, § 5 Rn. 17; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 52 Rn. 7; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 4) § 123 Rn. 36; Lilie, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2009, § 123 Rn. 78; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2009, § 56 Rn. 58; ders. (Fn. 4) § 30 Rn. 28; Seier JA 1978, 622 (623). 6 Siehe Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2009, S. 192.

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hindern.7 Es liegt also ein Fall der Gesetzeskonkurrenz vor, sodass Idealkonkurrenz entfällt. Eine erste Korrektur oder Klarstellung ist also bereits vorzunehmen: Wird ein Dauerdelikt durch eine Zustandsdelikt begründet, kommt Idealkonkurrenz (Tateinheit) überhaupt nur in Betracht, wenn kein Fall der Gesetzeskonkurrenz vorliegt. Aber bedarf es nicht möglicherweise noch weiterer Korrekturen der Ausgangsthese? Sicherlich ist es zutreffend, dass Handlungseinheit und mangels Gesetzkonkurrenz dann Idealkonkurrenz vorliegt, wenn der Täter das Opfer bei der Fesselung verletzt. Das liegt aber weniger daran, dass die Körperverletzung die Freiheitsberaubung begründet, sondern letztentscheidend für die Annahme von Handlungseinheit ist in diesem Fall folgender Aspekt: Sowohl die Körperverletzung als auch die Freiheitsberaubung werden durch eine Handlung im natürlichen Sinn begangen, sodass § 223 StGB und § 239 StGB dann in Handlungseinheit und mangels Gesetzeskonkurrenz in Idealkonkurrenz stehen. Ebenso ist zwischen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch Idealkonkurrenz anzunehmen, wenn ein Täter zur Begründung des Hausfriedensbruchs durch eine Scheibe in die Wohnung springt, wobei das Glas zerbricht. Dann werden nämlich das „Beschädigen“ im Sinne des § 303 StGB und das „Eindringen“ gemäß § 123 StGB durch eine Handlung im natürlichen Sinn verwirklicht, sodass – da Gesetzeskonkurrenz nicht greift – von Tateinheit (Idealkonkurrenz) auszugehen ist.8 Das muss aber keineswegs so sein, was sich an folgendem Beispiel verdeutlichen lässt: Man stelle sich den Fall vor, dass der Täter an einer einsam gelegenen Almhütte im Spätsommer das Türschloss zerstört, damit er einige Wochen später ungehindert in das Haus hineingelangen kann, um dort bei schlechtem Wetter zu übernachten. In diesem Fall dient das Zustandsdelikt der Sachbeschädigung sicherlich der Begründung des Hausfriedensbruchs; besteht aber dann noch zwischen beiden Delikten Handlungseinheit und in der Folge Idealkonkurrenz? Über den Gesichtspunkt der Handlung im natürlichen Sinn ist das nicht zu begründen: Zwischen beiden Verhaltensweisen liegen mehrere Wochen, es geht um zwei voneinander zu unterscheidende Handlungen. Ebenso wenig kommt Idealkonkurrenz über die Konstruktion der Handlungseinheit kraft Klammerwirkung oder aufgrund der Teilidentität der Ausführungshandlung in Betracht. Es findet sich kein 7 BGHSt. 30, 235; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2009, § 9 Rn. 37; Kindhäuser (Fn. 5) § 15 Rn. 30; Krey/M. Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil Band 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 318; Sonnen, in: Nomos Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2010, § 239 Rn. 31; Wieck-Noodt, in: Münchener Kommentar, StGB, 2003, § 239 Rn. 55. 8 Lilie (Fn. 5) § 123 Rn. 78.

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verklammerndes Delikt, noch wird durch das Zerstören des Schlosses das Eindringen verwirklicht. „Eindringen“ im Sinne des § 123 StGB liegt nämlich erst dann vor, wenn der Täter zumindest mit einem Teil seines Körpers gegen oder ohne den Willen des Hausrechtsinhabers in den geschützten Raum hineingelangt.9 Handlungseinheit könnte daher allenfalls über die – freilich stark umstrittene – Rechtsfigur der natürlichen Handlungseinheit begründet werden.10 Nach dem BGH ist dazu erforderlich, dass der Täter aufgrund eines einheitlichen Willens im Sinne derselben Willensrichtung handelt und die einzelnen tatbestandsverwirklichenden Handlungen in einem derart engen zeitlichen, räumlichen und sachlichen Zusammenhang stehen, dass sie bei natürlicher, an den Anschauungen des Lebens orientierter Betrachtungsweise als ein einheitliches zusammengehörendes Tun erscheinen.11 Unabhängig davon, ob man mit dem BGH eine solche Konstruktion überhaupt befürwortet,12 erscheint das Vorliegen ihrer Voraussetzungen in dem erwähnten Beispielsfall sehr zweifelhaft. Zwar handelt der Täter aufgrund eines einheitlichen Willens – das Aufbrechen soll der späteren Übernachtung dienen –, jedoch ist der zeitliche Zusammenhang bei mehreren dazwischen liegenden Wochen kaum noch begründbar. Zudem wäre es zumindest sehr bedenklich, das Verhalten bei einer an den Anschauungen des Lebens orientierter Betrachtung angesichts der doch weiten zeitlichen Spanne als ein zusammengehörendes Tun aufzufassen. Zutreffend erscheint es daher, in diesem Fall von Handlungsmehrheit zwischen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch auszugehen, obwohl § 303 StGB der Begründung des Hausfriedensbruchs diente. Ebenso würde es sich verhalten, wenn der Täter ein Seil in einem Baumarkt stiehlt, um damit einige Monate später sein Opfer zu fesseln und folglich eine Freiheitsberaubung zu begehen. Der vorangegangene Diebstahl des Seils und die Freiheitsberaubung stehen dann in Handlungsmehrheit. Es wird damit deutlich, dass das entscheidende Kriterium für die Lösung der Konkurrenzen und die Annahme von Idealkonkurrenz nicht die Antwort auf die Frage ist, ob das Zustandsdelikt der Begründung des Dauerdelikts dient. Wie gesehen, kann zum einen in diesem Fall durchaus das Zustandsdelikt im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurücktreten. Zum anderen hat sich gezeigt, dass Fälle vorstellbar sind, in denen das zur Begründung des Dauerdelikts begangene Zustandsdelikt in Handlungsmehrheit zum Dauerdelikt 9 Siehe etwa BGH bei Dallinger MDR 1955, 144; Bernsmann Jura 1981, 337 (340); Geppert Jura 1989, 378 (379). 10 Siehe zur natürlichen Handlungseinheit im Einzelnen unten den Text bei Fn. 41. 11 BGHSt. 43, 312 (315). 12 Siehe dazu unten den Text bei Fn. 48.

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steht, die zur Realkonkurrenz führt, wenn kein Fall der mitbestraften Voroder Nachtat gegeben ist. Entscheidender Gesichtspunkt für die Beantwortung der Konkurrenzfrage ist also auch bei der Begründung eines Dauerdelikts durch ein Zustandsdelikt, ob über die bekannten Strukturen Handlungseinheit oder eben Handlungsmehrheit anzunehmen ist: Mit anderen Worten ist zu prüfen, ob die Delikte durch eine Handlung im natürlichen Sinn verwirklicht sind oder die Figur der natürlichen Handlungseinheit, der Aspekt der Teilidentität der Ausführungshandlung oder eine Klammerwirkung greift. Ist dies der Fall, liegt Handlungseinheit vor, die zur Idealkonkurrenz führt, wenn kein Fall der Gesetzeskonkurrenz (Spezialität, Subsidiarität, Konsumtion) vorliegt. Der Merksatz „Idealkonkurrenz liege vor, wenn das Zustandsdelikt das Dauerdelikt begründet“, hilft im Ergebnis nicht weiter und verschleiert eher die maßgeblichen Gesichtspunkte als dass er Klarheit schafft.

III. Zweite Konstellation: Das Zustandsdelikt dient der Aufrechterhaltung des Dauerdelikts In dieser Fallgruppe gehen Rechtsprechung und Schrifttum ebenfalls von Idealkonkurrenz aus.13 Auch hier fällt jedoch bei einer näheren Betrachtung auf, dass es Konstellationen gibt, die davon abweichen können, zumindest eine Präzisierung der Aussage notwendig machen: So ist etwa darauf hinzuweisen, dass beim Dauerdelikt des Unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs der zur Aufrechterhaltung der Dauerstraftat dienende gleichzeitig verwirklichte Diebstahl des benutzten Benzins und der Schmiermittel von § 248b StGB konsumiert wird, da dieser Diebstahl der Betriebsmittel bereits vom Unrechtsgehalt der Vorschrift erfasst ist.14 Idealkonkurrenz scheitert also am Vorliegen von Gesetzeskonkurrenz, obwohl in diesem Fall das Dauerdelikt vom Zustandsdelikt aufrechterhalten wird. Ebenso tritt eine Nötigung im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück, wenn der Täter einer 13 Siehe BGH NStZ 1999, 513 (514); BGH NStZ-RR 2007, 46 (47); BayObLG JR 1957, 148; OLG Koblenz VRS 56, 38 (40); OLG Köln NJW 1982, 296 (297); Eisele (Fn. 5) Rn. 648; Geppert Jura 2000, 651 (652); Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 722; Küpper (Fn. 5) § 5 Rn. 17; Lackner/Kühl (Fn. 5) § 52 Rn. 7; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 4) § 123 Rn. 36; Mitsch JuS 1993, 385 (387); Rengier (Fn. 5) § 56 Rn. 58; ders. (Fn. 4) § 30 Rn. 28; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band II, 2003, § 33 Rn. 96; Seier JA 1978, 622 (623); Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 91; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 232; a.A. aber Lilie (Fn. 5) § 123 Rn. 79. 14 Siehe etwa BGHSt. 14, 386 (388); Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 248b Rn. 11; Seelmann JuS 1985, 288.

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Freiheitsberaubung deren Form verändert, indem er etwa das Opfer nicht mehr fesselt, sondern zur Aufrechterhaltung der Freiheitsberaubung einsperrt. Dann hat § 240 StGB keine eigenständige, über die Freiheitsberaubung hinausgehende Bedeutung. Damit zeigt sich erneut: Idealkonkurrenz kommt überhaupt nur dann in Betracht, wenn keine Gesetzeskonkurrenz greift. Gibt es nun aber bei der Aufrechterhaltung eines Dauerdelikts auch mit diesem handlungsmehrheitlich konkurrierende Zustandsdelikte? Dagegen spricht zunächst einmal, dass sich in diesem Fall beide Vorschriften zwingend überschneiden, da der rechtswidrige Zustand des Dauerdelikts bereits vorliegt und im Zeitpunkt der Begehung des Zustandsdelikts fortbesteht. Hier zeigt sich die Besonderheit des Dauerdelikts, bei dem das Fortbestehen des rechtswidrigen Zustands das Unrecht der Tat vertieft, das Delikt also mit der Begründung des Zustands nicht bereits vom Unrechtsgehalt vollständig abgeschlossen ist. Das Zustandsdelikt wird also im Zeitpunkt der fortlaufenden Verwirklichung des Dauerdelikts begangen. Das spricht für Handlungseinheit. Hinzu kommt aber noch ein weiterer entscheidender Gesichtspunkt, der dazu führt, dass Handlungsmehrheit logischerweise ausscheiden muss. Wird das Dauerdelikt durch das Zustandsdelikt aufrechterhalten, hat das zur zwingenden Konsequenz, dass ein und dieselbe Handlung nicht nur das Zustandsdelikt verwirklicht, sondern auch das Dauerdelikt in der Form, dass das Unrecht dieser Tat weiter intensiviert wird, mit anderen Worten das Dauerdelikt erfüllt wird. Nicht nur das Verhalten, welches den rechtswidrigen Zustand beim Dauerdelikt herbeiführt, sondern auch das, welches ihn aufrechterhält, verwirklicht den Tatbestand des Dauerdelikts.15 Wenn aber eine Handlung sowohl das eine als auch das andere Delikt erfüllt, dann besteht Handlungseinheit und damit, sofern kein Fall der Gesetzeskonkurrenz greift, Idealkonkurrenz. Im Fall der Aufrechterhaltung eines Dauerdelikts durch ein Zustandsdelikt scheidet also Handlungsmehrheit und daraus resultierend Realkonkurrenz aus. Es besteht nicht nur Zeitgleichheit beider Delikte, sondern eine Handlung des Täters verwirklicht die Merkmale beider Delikte, was zwingend zur Handlungseinheit führt, die bei fehlender Gesetzeskonkurrenz Tateinheit bedeutet.

15 Werle, Die Konkurrenz bei Dauerdelikt, Fortsetzungstat und zeitlich gestreckter Gesetzesverletzung, 1981, S. 152.

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IV. Dritte Konstellation: Durch das Dauerdelikt soll ein Zustandsdelikt ermöglicht werden Dieser Fall wird in Rechtsprechung und Wissenschaft kontrovers diskutiert. So gehen Teile des Schrifttums davon aus, dass Idealkonkurrenz vorliege,16 dagegen nehmen andere Autoren17 wie auch die höchstrichterliche Rechtsprechung18 Realkonkurrenz an. Zur Lösung des Konkurrenzverhältnisses scheint auch hier wiederum eine differenzierte Betrachtung geboten.

a. Einmal ist es möglich, dass zum Zeitpunkt der Begründung des Dauerdelikts gleichzeitig die Schwelle zum Versuch des intendierten Zustandsdelikts überschritten wird. Wenn zum Beispiel A in die Wohnung seines Opfers O einbricht, weil er weiß, dass im Flur des O ein wertvolles Gemälde hängt, das er aus Rache beschädigen möchte, dann ist das Betreten der Wohnung nicht nur die Begehung des § 123 StGB, sondern stellt gleichzeitig ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung in Bezug auf § 303 StGB dar, sofern keine weiteren wesentlichen Zwischenschritte - etwa das Ausschalten einer Alarmanlage, das Überwinden einer besonders komplizierten Sicherung des Bildes – zur Beschädigung des Bildes mehr nötig sind. Das bedeutet nun aber nichts anderes, als dass ein und dieselbe Handlung sowohl den Hausfriedensbruch verwirklicht als auch den Versuch

16 Eisele (Fn. 5) Rn. 650; Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. 2004, § 38 Rn. 67; Kindhäuser (Fn. 5) § 33 Rn. 41; Küpper (Fn. 5) § 5 Rn. 17; Rengier (Fn. 5) § 30 Rn. 29; Sonnen, Strafrecht Besonderer Teil, 2005, S. 89; von Heintschel-Heinegg, in: Münchener Kommentar, StGB, 2005, § 52 Rn. 33, anders aber Rn. 93; Welzel (Fn. 13) S. 232; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 779. Lippold, Die Konkurrenz bei Dauerdelikten als Prüfstein der Lehre von den Konkurrenzen, 1985, S. 26, nimmt Tateinheit bei einem „spezifischen Unwertzusammenhang“ an, der vorliegen soll, wenn „die Dauerstraftat bereits eine erhebliche Gefährdung des Rechtsgutes des konkurrierenden Deliktes bedeutet“; siehe zu diesem Gedanken unten Fn. 40. 17 Cording, Der Strafklageverbrauch bei Dauer- und Organisationsdelikten, 1993, S. 95 f.; Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 52 Rn. 52; Fischer (Fn. 14) Vor § 52 Rn. 24 f., 60; Geppert Jura 1989, 378 (383); ders. Jura 2000, 651 (652); Jescheck/Weigend (Fn. 13) S. 722; Lackner/Kühl (Fn. 5) § 52 Rn. 7; Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 4) § 123 Rn. 36; Lilie (Fn. 5) § 123 Rn. 79; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 2, 7. Aufl. 1989, § 55 Rn. 70 ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil Teilband 1, 10. Aufl. 2009, § 30 Rn. 23; Oske MDR 1965, 532; Rissing-van Saan (Fn. 2) § 52 Rn. 23; Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 95; Schäfer, in: Münchener Kommentar, StGB, 2005, § 123 Rn. 69; Seier JA 1978, 622 (623). 18 RGSt. 32, 137 (139 f.); RGSt. 54, 288 (289); BGHSt. 18, 29 (32 f.); BGH JR 1967, 303 (304); BGH LM § 177 Nr. 8.

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der Sachbeschädigung darstellt. Reicht das nun zur Befürwortung von Handlungseinheit aus?19 Annehmen könnte man dies möglicherweise über den Gesichtspunkt der Teilidentität der Ausführungshandlung, das heißt eine Handlung verwirklicht zumindest teilweise zwei verschiedene Delikte. Voraussetzung dafür wäre, dass der Zeitraum ab dem Versuchsbeginn schon als Ausführungshandlung des Delikts gelten würde. Dies kann man sicherlich bejahen, wenn bereits eine partielle Verwirklichung des Delikts vorliegt, also objektive Tatbestandsmerkmale teilweise schon erfüllt werden. Was gilt aber in Bezug auf solche Handlungen, die zwar dem Versuchsbereich zuzurechnen sind, aber den in Frage stehenden Tatbestand noch nicht teilverwirklichen? Überwiegend werden diese Verhaltensweisen, obgleich sie den Versuchsbeginn kennzeichnen, im Schrifttum nicht als Ausführungshandlung im Sinne der Konkurrenzlehre aufgefasst.20 Es müsse zumindest ein Teilstück der tatbestandlichen Handlung verwirklicht werden; es handele sich hierbei noch nicht um einen Teil der tatbestandlichen Ausführungshandlung, sondern um tatbestandsnahe Gefährdungen.21 Auch der BGH nimmt diesen Standpunkt ein.22 Diese Sicht überzeugt jedoch nicht vollends. Ist nämlich ein Verhalten, selbst wenn es noch kein Tatbestandsmerkmal verwirklicht, als Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung anzusehen, sodass die Schwelle zur Versuchsstrafbarkeit überschritten ist, liegt es in der Konsequenz, insofern auch bereits eine tatbestandliche Ausführungshandlung zu bejahen. Dafür spricht im Übrigen auch § 8 StGB, der Aussagen zur Tatbegehung trifft. Beim Versuch sind dies nämlich die Handlungen, mit denen der Täter zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar ansetzt.23 Tatbegehung liegt beim Versuch nicht erst bei der (Teil)Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen vor. Dann sollte aber auch bei den Konkurrenzen das gesamte Spektrum des Versuchs bereits als Ausführung des Tatbestands begriffen werden. Anderenfalls würde man zudem die Entwicklung der Versuchslehre, die zu einem Aufgeben der formal-objektiven Theorie24 geführt hat, im Bereich 19 Teilidentität im Versuchsstadium lassen genügen Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 33. Abschnitt Rn. 10 a. E.; Rengier (Fn. 4) § 30 Rn. 28; Samson/Günther, in: Systematischer Kommentar, StGB, Stand: 1995, § 52 Rn. 12 a. E. 20 Fischer (Fn. 14) Vor § 52 Rn. 24 a. E.; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 21 Rn. 42; Rissing-van Saan (Fn. 2) § 52 Rn. 22; Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 92; anders aber Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 36 Rn. 26. 21 Rissing-van Saan (Fn. 2) § 52 Rn. 22. 22 BGHSt. 16, 397 (398). 23 Fischer (Fn. 14) § 8 Rn. 3. 24 Sie verlangte für den Versuchsbeginn eine Teilverwirklichung des Tatbestands; vgl. dazu Roxin (Fn. 13) § 29 Rn. 104.

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der Konkurrenzen nicht hinreichend berücksichtigen. Abgesehen davon ist es widersprüchlich, wie es der BGH vertritt,25 Tateinheit anzunehmen, wenn die Taten im Versuchsstadium steckenbleiben, dieses richtige Ergebnis dann aber wieder zu ignorieren und Tatmehrheit zu bejahen, wenn die Taten später zur Vollendung gelangen, da der Täter im weiteren Verlauf jeweils gesondert vorgegangen sei. Die hier befürwortete Sicht hat dann zur Konsequenz, dass sich im oben angegebenen Fall der Beschädigung des Bildes die Ausführungshandlungen von § 123 StGB einerseits und § 303 StGB andererseits teilweise überschneiden, da das für § 123 StGB maßgebliche Betreten der Wohnung gleichzeitig den Versuchsbeginn in Bezug auf § 303 StGB darstellt. Daher ist Handlungseinheit anzunehmen. Sie wird zur Idealkonkurrenz, sofern nicht ein Fall der Gesetzeskonkurrenz gegeben ist. Im vorliegenden Fall ist daher der Täter wegen Hausfriedensbruchs in Tateinheit (Idealkonkurrenz) mit Sachbeschädigung zu bestrafen. Es kann aber durchaus auch Gesetzeskonkurrenz greifen. Hätte der Täter die Wohnung betreten, um das Bild nicht zu beschädigen, sondern zu stehlen, so stellt das Eindringen in den geschützten Bereich gleichzeitig den Diebstahlsversuch dar, so dass Handlungseinheit vorliegt. Insofern greift nun aber § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB, der das Dauerdelikt des Hausfriedensbruchs im Wege der Konsumtion verdrängt.26 Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten: In einer ganzen Reihe von Fällen wird, wenn das Dauerdelikt das Zustandsdelikt ermöglichen soll, Handlungseinheit aufgrund des Umstands vorliegen, dass mit der Begründung des Dauerdelikts das Zustandsdelikt bereits im Versuchsstadium gelangt ist. Es liegt daher zwischen diesen Delikten Idealkonkurrenz vor, sofern kein Fall der Gesetzeskonkurrenz gegeben ist.

b. Nun kann es andererseits auch sehr gut möglich sein, dass im Zeitpunkt der Begründung des Dauerdelikts das Zustandsdelikt, welches ermöglicht werden soll, noch nicht das Versuchsstadium erreicht hat. Zu denken ist beispielsweise an den Fall, dass der Täter den Zaun eines weitläufigen Villengrundstücks übersteigt, um nach dem anschließend erfolgenden Eindringen in die Villa eine seltene Münze zu suchen, die er stehlen will. Im Zeitpunkt des Übersteigens des Zauns ist in diesem Fall der Diebstahl noch nicht ins Versuchsstadium gelangt, da noch wesentliche Zwischenschritte – Hineingelangen in die Villa, Suche nach der Münze – zu überwinden sind. 25 26

BGHSt. 16, 397 (398). Krey/M. Heinrich (Fn. 7) Rn. 454b; Schäfer (Fn. 17) § 123 Rn. 69.

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Die Ausführungshandlungen decken sich also nicht, und die Konstellation, dass das Zustandsdelikt das Dauerdelikt aufrechterhalten soll, ist ebenfalls nicht gegeben. Wie sind dann die Konkurrenzverhältnisse zu beurteilen? Ein Teil der Literatur lässt es für die Handlungseinheit ausreichen, dass das Dauerdelikt Mittel zur Begehung des Zustandsdelikts ist, ohne dass sich die tatbestandlichen Ausführungshandlungen überschneiden müssen.27 Wenn der Dauerzustand eine Voraussetzung für die Begehung der anderen Straftat schafft und zu diesem Zweck herbeigeführt worden sei, liege Handlungseinheit vor, selbst wenn sich die Ausführungshandlungen nicht überschneiden. Danach müsste im Beispielsfall, falls es zum Diebstahl der Münze kommt, Idealkonkurrenz angenommen werden. Demgegenüber verlangen höchstrichterliche Rechtsprechung28 und die Gegenauffassung im Schrifttum29 stets zumindest eine teilweise Überschneidung der Ausführungsakte. Da im angegebenen Beispiel eine solche Überschneidung nicht vorliegt – durch den Diebstahl selbst wird der Hausfriedensbruch nicht intensiviert – wäre Handlungsmehrheit von § 123 StGB und § 242 StGB anzunehmen. Zur Lösung der anstehenden Fragen bedarf es zunächst eines klarstellenden Hinweises. Allein die Tatsache, dass zwei oder mehrere Delikte zeitgleich begangen werden, bedeutet nicht automatisch das Vorliegen von Handlungseinheit. Darin sind sich Rechtsprechung und Schrifttum einig. Bereits das Reichsgericht hat ausgeführt, Handlungseinheit sei nicht schon dadurch gegeben, dass mehrere Strafgesetze zur gleichen Zeit verwirklicht werden.30 Im Schrifttum weist man insofern darauf hin, dass es zu einer Ausuferung der Idealkonkurrenz kommen würde, falls man Zeitgleichheit genügen lasse, da viele Dauerdelikte sich über größere Zeiträume hinziehen können.31 Es ist also verfehlt, wenn man argumentieren würde, da das Zustandsdelikt während des Dauerdelikts begangen worden ist, liege bereits deswegen Handlungseinheit vor. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn A in eine fremde Wohnung eindringt, um sich dort nach Wertsachen umzuschauen, und nun hierbei zufällig auf der Straße seinen Nebenbuhler B entdeckt, daraufhin das Fenster aufreißt und B beleidigt, dann verwirklicht A zwar zeitgleich § 123 StGB und § 185 StGB, jedoch stehen beide Delikte in keinem Zusammenhang. Beide Verhaltensweisen können voneinander „isoliert“ betrachtet werden, ohne dass sich dadurch etwas an 27

Siehe die Nachweise in Fn. 16. Vgl. die Nachweise in Fn. 18 sowie ergänzend RGSt. 66, 117 (119); BGH VRS 30, 283; BGHSt. 18, 66 (71); BGHSt. 27, 66 (67); BGH NStZ 1984, 135; BGHSt. 43, 317 (319); BGH NStZ 2000, 641. 29 Siehe die Belege in Fn. 17. 30 RGSt. 32, 137 (139). 31 Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 94. 28

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dem jeweils einzelnen Delikt ändert. Neben der Zeitgleichheit muss also ein weiteres Erfordernis hinzukommen. Hier wird nun wie gesehen kontrovers beurteilt, ob es ausreicht, dass das Dauerdelikt Mittel zur Begehung des Zustandsdelikts ist oder enger verlangt wird, dass sich jeweils die Ausführungshandlungen des Delikts zumindest teilweise decken müssen. Ein weiterer Gesichtspunkt ist den nachfolgenden Überlegungen voranzuschicken: Hinter der Diskussion um Handlungseinheit oder –mehrheit steht auch die Frage, welche prozessualen Konsequenzen das jeweilige Konkurrenzverhältnis hat, insbesondere, ob im Hinblick auf bislang unentdeckt gebliebene Delikte, welche während des Dauerdelikts begangen worden sind, nach Rechtskraft des Urteils Strafklageverbrauch eintritt.32 Insofern ist jedoch zu betonen, dass sich das materielle Recht bei der Beantwortung des Konkurrenzverhältnisses nicht von den jeweiligen möglicherweise eintretenden prozessualen Konsequenzen leiten lassen darf.33 Das materielle Recht ist nicht dazu da, prozessuale Schwierigkeiten zu lösen.34 Vielmehr hat man sich bei der Lösung der Konkurrenzfrage am materiellen Recht zu orientieren, nicht an prozessualen Konsequenzen. Was nun die eigentliche Frage nach Handlungseinheit oder –mehrheit anbetrifft, könnte möglicherweise zugunsten einer bloßen Mittel-ZweckRelation angeführt werden, dass es im Einzelfall durchaus schwierig sein kann festzustellen, ob eine Teilidentität der Ausführungshandlungen gegeben ist oder nicht. Sperrt etwa der Täter sein Opfer ein, um es später sexuell zu missbrauchen, ist es jedenfalls nicht von vornherein klar, ob ein Überschneiden der Ausführungshandlungen beider Delikte gegeben ist oder nicht. Sehr kontrovers wird zudem beispielsweise diskutiert, ob für das Organisationsdelikt der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB Handlungseinheit oder –mehrheit mit den in Zusammenhang mit der Mitgliedschaft begangenen Straftaten anzunehmen ist. So hat das OLG Karlsruhe35 Handlungsmehrheit angenommen, da die strafbare Mitgliedschaft in einer Organisation nicht die Begehung von Straftaten im Dienste der Organisation umfasse. Der BGH36 ist indes von Handlungseinheit ausgegangen. 32 So führt etwa Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 94 (u.a.) gegen Idealkonkurrenz das Argument des Strafklageverbrauchs an; vgl. aber auch dens., a.a.O. Rn. 100 a. E. Zu dem Problemkreis des Strafklageverbrauchs siehe u.a. Cording (Fn. 17) S. 133 ff.; Erb GA 1994, 265; Mitsch JR 1990, 162; Paeffgen NStZ 2002, 281; Schlüchter JZ 1991, 1057. 33Paeffgen NStZ 2002, 281 (286); Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 13) Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 91. 34 Vgl. auch Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 367 f. 35 NJW 1977, 2222 (2223); ebenso K. Meyer JR 1978, 35; in diese Richtung auch Herdegen MDR 1980, 438 (439). 36 BGHSt. 29, 288 (290 f.); so auch etwa Haberstumpf MDR 1979, 977 (980); Rissing-van Saan (Fn. 2) § 52 Rn. 27; Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 100.

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Andererseits ist zu bedenken, dass der Gesichtspunkt, ob eine Frage schwierig zu beantworten ist und Kontroversen auslöst, letztlich nicht ausschlaggebend sein darf, sondern maßgeblich muss unabhängig davon in erster Linie sein, was sachlich zutreffend ist. Im Übrigen kann man bei einer eingehenden tatbestandsbezogenen Betrachtung der genannten Delikte durchaus zu einer überzeugenden Lösung gelangen: So ist nämlich bereits das Einsperren des Opfers als Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB anzusehen,37 sodass Handlungseinheit anzunehmen ist, selbst wenn man eine Teilidentität der Ausführungshandlung verlangt. Bei § 129 StGB (§ 129a StGB) ist in Bezug auf Delikte, die im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft begangen werden, richtigerweise Handlungseinheit gegeben, denn gemäß § 129 StGB (§ 129a StGB) macht sich u.a. strafbar, wer sich an der Vereinigung als Mitglied beteiligt, was sich gerade auch in der deliktischen Tätigkeit für die Organisation manifestiert,38 sodass Teilidentität der Ausführungshandlungen und damit Handlungseinheit zu bejahen ist. Für Handlungseinheit könnte weiterhin sprechen, dass die jeweils verwirklichten Delikte scheinbar nicht ohne Weiteres voneinander getrennt werden können: Ohne das Übersteigen des Grundstückzauns hätte der Täter nicht an die Münze gelangen können. Das Dauerdelikt schafft überhaupt erst die Voraussetzungen, um das Zustandsdelikt zu begehen. Insofern ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieser Gesichtspunkt auch bei einem Zusammentreffen zweier Zustandsdelikte kein Grund für die Annahme von Handlungseinheit ist. Wenn der A den Ehemann der F krankenhausreif schlägt, um zwei Tage später die F ungehindert töten zu können, stehen beide Delikte in Handlungsmehrheit. Ebenso ist der Fall zu beurteilen, dass der Täter zu Beginn einer Kinovorstellung die Tasche seines Opfers mit einem Messer aufritzt, um zwei Stunden später beim Hinausgehen aus dem Kinosaal die in der Tasche befindliche Geldbörse zu entwenden. Falls keine natürliche Handlungseinheit vorliegt,39 stehen dann Sachbeschädigung und Diebstahl in Handlungsmehrheit.40 Daran ändert sich nun aber auch nichts, wenn das Delikt, welches die andere Straftat ermöglichen soll, ein Dauerdelikt ist: Durch das nachfolgende Zustandsdelikt wird das Dauerdelikt nicht 37 Siehe BGHSt. 18, 29 (33 f.); BGH NStZ 1999, 83; BGH NStZ 2000, 419 f.; BGH NStZRR 2003, 42 (43); Fischer (Fn. 14) § 177 Rn. 7; Samson/Günther (Fn. 19) § 52 Rn. 13. 38 Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 100. 39 Zu dieser Frage siehe unten bei Fn. 41. 40 Deswegen überzeugt auch die These von Lippold (siehe oben Fn. 16 a. E.) nicht. Ebensowenig wie bei den Zustandsdelikten geht es bei den Konkurrenzen im Zusammenhang mit Dauerdelikten um die Frage, ob ein anderes Rechtsgut „erheblich gefährdet“ ist. Hinzu kommt, dass die von Lippold herangezogenen Kriterien vage und abstrakt bleiben, sodass daraus keine praktikablen Ergebnisse herzuleiten sind. So bleibt etwa offen, wann die Gefährdung erheblich ist und zu welchem Zeitpunkt sie vorliegen muss.

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mehr im Sinne einer Aufrechterhaltung oder Intensivierung verändert. Es steht bloß neben dem Zustandsdelikt, ohne dass dieses auf das Dauerdelikt Einfluss nimmt. Die Situation entspricht daher der bloßen Zeitgleichheit zweier Delikte, die für die Annahme von Handlungseinheit wie gesehen nicht ausreicht. Das Erfordernis der zumindest teilweisen Überschneidung der Ausführungsakte erweist sich also als richtig. Von daher ist es als zutreffend zu erachten, in Fällen, in denen das Dauerdelikt ein Zustandsdelikt bloß ermöglichen soll, ohne dass mit der Begründung des Dauerdelikts das Zustandsdelikt bereits zumindest ins Versuchsstadium gelangt, Handlungsmehrheit zwischen den Delikten anzunehmen, sofern – und diesen Aspekt gilt es nunmehr zu beleuchten – nicht von einer natürlichen Handlungseinheit ausgegangen werden kann. Als weiteres Zwischenergebnis ist jedoch zunächst festzuhalten: Neben der Zeitgleichheit bedarf es zur Annahme von Handlungseinheit der zumindest teilweisen Überschneidung der Ausführungshandlungen. Korrekturen kommen allenfalls möglicherweise über die Figur der natürlichen Handlungseinheit in Betracht, auf die nunmehr einzugehen ist.

c. Die vom BGH41 befürwortete Figur der natürlichen Handlungseinheit ist sehr umstritten. Eine starke Auffassung im Schrifttum steht der Rechtsprechung sehr kritisch bis ablehnend gegenüber.42 Wie bereits gesehen,43 verlangt der BGH im Ausgangspunkt, dass der Täter einen einheitlichen Willen durch eine Mehrheit gleichgearteter Akte betätigt und diese einzelnen Akte aufgrund ihres räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs objektiv erkennbar derart zusammengehören, dass sie nach der Auffassung des Lebens eine Handlung bilden.44 Dabei nimmt die Rechtsfigur eine gewisse Zwitterstellung zwischen nur einer Gesetzesverletzung einerseits und Handlungseinheit andererseits ein.45 So liegt nur eine Beleidigung im Sinne einer Gesetzesverletzung vor, wenn A gegenüber O im unmittelbaren Zusammenhang eine Vielzahl von Schimpfwörtern ausspricht. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber um solche Konstellationen nicht. Es stellt sich hier vielmehr die Frage, ob die Figur der natürlichen Handlungseinheit verschieden41

Siehe etwa BGHSt. 10, 230 (231); BGHSt. 4, 219 (220). Vgl. etwa Eschelbach (Fn. 17) § 52 Rn. 61; Jakobs (Fn. 19) 32. Abschnitt Rn. 35; Kindhäuser JuS 1985, 100 (105); Maiwald JR 1985, 513 (514); Rissing-van Saan (Fn. 2) Vor § 52 Rn. 18; Roxin (Fn. 13) § 33 Rn. 54 ff.; Sowada NZV 1995, 465 (466 f.); Stree/SternbergLieben (Fn. 13) Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 22; Wessels/Beulke (Fn. 16) Rn. 765. 43 Vgl. die Umschreibung oben bei Fn. 11. 44 So die Formulierung in BGHSt. 10, 230 (231). 45 Zieschang (Fn. 6) S. 193. 42

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artige Tatbestände zu einer Handlungseinheit verbinden kann. Ist also im Fall des Hausfriedensbruchs zur Ermöglichung eines Diebstahls, wobei sich die Ausführungsakte der Delikte nicht überschneiden, möglicherweise dennoch Handlungseinheit über die Figur der natürlichen Handlungseinheit anzunehmen? Der Bundesgerichtshof befürwortet im Grundsatz die Annahme von Handlungseinheit bei der Verwirklichung verschiedenartiger Tatbestände über die natürliche Handlungseinheit. So hat die Rechtsprechung etwa Handlungseinheit zwischen § 242 StGB und § 267 StGB angenommen, wenn jemand ein Fahrzeug stiehlt und sogleich zum Verkauf die KfzNummer verändert.46 Insbesondere in den Polizeifluchtfällen werden verschiedene Delikte – etwa §§ 142, 113, 315b StGB – über die natürliche Handlungseinheit zu einer Handlung zusammengefasst.47 Sicherlich ist ein Aspekt, der vom Ausgangspunkt zugunsten der natürlichen Handlungseinheit spricht, dass ein einheitliches zusammengehöriges Tun auch als eine Handlung aufgefasst werden sollte. Wenn also jemand wie im obigen Beispiel sein Opfer mit mehreren Schimpfwörtern überzieht, ist es als zutreffend zu erachten, insofern nur eine Beleidigung anzunehmen.48 Darf man aber so weit gehen, dass auch unterschiedliche Strafbestimmungen über die natürliche Handlungseinheit zur Handlungseinheit verknüpft werden? Dafür mag einiges sprechen, wenn ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den Taten besteht, der von einem einheitlichen Willen getragen wird. Zwei ausschlaggebende Aspekte sprechen aber letztlich dennoch dagegen, über die natürliche Handlungseinheit verschiedene Strafbestimmungen zur Handlungseinheit zusammenzufassen: Zum einen wird damit das Erfordernis der zumindest teilweisen Überschneidung der Ausführungshandlungen umgangen und konterkariert, zum anderen bringt diese Figur Unsicherheiten in die Lösung der Konkurrenzen hinein, da die mit der natürlichen Handlungseinheit von der Rechtsprechung verbundenen Aspekte derart vage sind, dass es im Einzelfall beliebig erscheint, ob Handlungseinheit oder –mehrheit bejaht wird. Zunächst zum Aspekt der Unbestimmtheit: Zwar ist das mit der natürlichen Handlungseinheit verbundene Erfordernis des engen zeitlichen, räumlichen und sachlichen Zusammenhangs durchaus noch in den Griff zu bekommen; hierbei handelt es sich durchaus um bekannte Größen, wenn man daran denkt, dass der Strafrechtsanwender vergleichbare Gesichtspunkte beispielsweise dann prüfen muss, wenn er das Erfordernis der „frischen 46 BGH bei Holtz MDR 1981, 452; vgl. auch etwa BGH NStZ 1997, 276; siehe zudem die Nachweise bei Rissing-van Saan (Fn. 2) Vor § 52 Rn. 15 f. 47 So etwa BGHSt. 22, 67 (76). 48 Siehe bereits Zieschang GA 1997, 457 (461).

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Tat“ in § 252 StGB beleuchtet. Die Figur der natürlichen Handlungseinheit wird aber in ihrer Anwendung unberechenbar und damit willkürlich, da mit ihr der Aspekt verbunden wird, dass die einzelnen Akte bei natürlicher, an den Anschauungen des Lebens orientierter Betrachtungsweise als einheitliches zusammengehöriges Tun erscheinen müssen. Was nämlich „natürliche Betrachtungsweise“ bedeuten soll, ist gänzlich offen und nicht vorhersehbar. Zudem lässt sich trefflich darüber streiten, ob die Verwirklichung unterschiedlicher Delikte bei einer an den Anschauungen des Lebens orientierten Betrachtung als eine Handlung aufzufassen ist. Zieht man etwa den hier erwähnten Fall heran, in dem der Täter den Gartenzaun übersteigt, um später eine Münze zu stehlen, so kann man einerseits sagen, nach der Lebensanschauung gehört beides vor dem Hintergrund zusammen, dass ohne den Hausfriedensbruch der Diebstahl nicht hätte begangen werden können. Andererseits lässt dieses weiche Kriterium aber auch das Ergebnis zu, dass nach den Anschauungen des Lebens zwei Handlungen vorliegen, da beide Verhaltensweisen – also der Hausfriedensbruch und der Diebstahl – getrennt voneinander beurteilt werden können, ohne dass dies eine unnatürliche Aufspaltung darstellt. Dass die Rechtsprechung mit der Rechtsfigur der natürlichen Handlungseinheit vage und nicht handhabbare Aspekte zur Begründung von Handlungseinheit heranzieht, zeigt sich zudem daran, dass der BGH in diesem Bereich durchaus widersprüchlich entscheidet. So soll einerseits bei einer zu Betrugszwecken vorgenommenen Brandstiftung und dem späteren Betrugsversuch Handlungsmehrheit vorliegen,49 andererseits hat der BGH natürliche Handlungseinheit angenommen, wenn der Täter nach einem Diebstahl in einem Haus einen Brand legt, um die Spuren des Diebstahls zu verwischen.50 Dies veranschaulicht die Unberechenbarkeit, die mit der Figur der natürlichen Handlungseinheit bei der Zusammenfassung verschiedener Delikte zu einer Handlung verbunden ist. Nun zum zweiten Aspekt: Die natürliche Handlungseinheit umgeht die engen Voraussetzungen, welche erfüllt sein müssen, damit von Handlungseinheit gesprochen werden kann. So betont die Rechtsprechung normalerweise, dass eine einheitliche Zielsetzung, ein übereinstimmender Beweggrund, die Verfolgung eines Endzwecks oder eine Mittel-ZweckVerknüpfung allein nicht zur Tateinheit führen können.51 Diesen treffenden Ausgangspunkt nimmt sie jedoch bei der natürlichen Handlungseinheit dann tatsächlich nicht ernst. Es geht in Wirklichkeit um ein Nebeneinander von 49

BGH NJW 2000, 226 (227). BGH NStZ 1997, 276. 51 Siehe BGHSt. 7, 149 (151); BGHSt. 14, 104 (109); BGHSt. 33, 163 (165); BGHSt. 43, 317 (319). 50

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verschiedenen Delikten, was für sich genommen nicht ausreicht, um Handlungseinheit zu bejahen.52 Vor diesem Hintergrund ist auch diejenige Auffassung im Schrifttum abzulehnen, wonach für Handlungseinheit die „Nähe und Ähnlichkeit zur natürlichen Handlung“53 ein „situativ-zeitlich-voluntativer Zusammenhang“ genügen soll.54 Schon die Formulierung ist zu vage und zu abstrakt, um daraus verwertbare Ergebnisse für die Praxis ableiten zu können. Es werden Unsicherheiten in die Lösung der Konkurrenzen hineingetragen, sodass nicht mehr hinreichend klar ist, wann Handlungseinheit und in welchen Fällen Handlungsmehrheit vorliegt.55 Festgehalten werden kann somit: In Fällen, in denen das Dauerdelikt ein Zustandsdelikt ermöglichen soll, ohne dass mit der Begründung des Dauerdelikts das Zustandsdelikt bereits zumindest ins Versuchsstadium gelangt, ist Handlungsmehrheit zwischen den Delikten anzunehmen. Abzulehnen ist es, über die Figur der natürlichen Handlungseinheit verschiedene Delikte zur Handlungseinheit zu verbinden.

V. Vierte Konstellation: Ein Zustandsdelikt wird „bei Gelegenheit“ eines Dauerdelikts begangen Schließlich bedarf es der näheren Untersuchung der Fallgestaltung, bei der ein Zustandsdelikt – so häufig die Umschreibungen im Schrifttum56 – „bei Gelegenheit“ oder „gelegentlich“ eines Dauerdelikts verwirklicht wird. Zu Beginn wurde insofern auf das Beispiel hingewiesen, dass der Täter in eine Wohnung einbricht, um dort zu stehlen, und nach dem Diebstahl spontan den Entschluss fasst, die Wohnung zu verwüsten. In welchem Verhältnis stehen dann der Hausfriedensbruch und die Sachbeschädigung? Betrachtet man die einschlägige Rechtsprechung und Literatur, findet man in Zusammenhang mit solchen Konstellationen ganz überwiegend den Hinweis, dass dann Dauerdelikt und Zustandsdelikt in Realkonkurrenz 52 Siehe dazu auch Rissing-van Saan (Fn. 2) Vor § 52 Rn. 18: Die Annahme von Tateinheit, ohne dass eine Teilidentität der Ausführungshandlungen vorliegt, über die Figur der natürlichen Handlungseinheit sei als „systemfremd und dogmatisch widersprüchlich“ zu bezeichnen. 53 Samson/Günther (Fn. 19) Vor § 52 Rn. 35 ff. 54 Samson/Günther (Fn. 19) Vor § 52 Rn. 35 ff., § 52 Rn. 13; Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 13) Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 90 f.; vgl. auch Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, § 30 Rn. 26. 55 Kritisch auch Rissing-van Saan (Fn. 2) Vor § 52 Rn. 19 a.E. 56 Eisele (Fn. 5) Rn. 648; Fischer (Fn. 14) Vor § 52 Rn. 24; Geppert Jura 2000, 651 (652); Jescheck/Weigend (Fn. 13) S. 722; Küpper (Fn. 5) § 5 Rn. 17; Lackner/Kühl (Fn. 5) § 52 Rn. 7; Seier JA 1978, 622; Schäfer (Fn. 17) § 123 Rn. 70; Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 13) Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 90; Welzel (Fn. 13) S. 232; Wessels/Beulke (Fn. 16) Rn. 779.

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stünden.57 Davon weichen nur die Autoren ab, welche Idealkonkurrenz annehmen, sofern ein „situativ-zeitlich-voluntativer Zusammenhang“ besteht, was etwa der Fall sei, wenn der enttäuschte Einbrecher Teile des Mobiliars zerstört;58 dass diese Auffassung jedoch nicht zu überzeugen vermag, wurde bereits erläutert.59 In der Tat scheint vom Ausgangspunkt bezogen auf den Beispielsfall die Annahme von Realkonkurrenz unter Zugrundelegung der bisherigen Überlegungen auch einsichtig und konsequent: Zwar besteht Zeitgleichheit von § 123 StGB und § 303 StGB, jedoch genügt dies für sich genommen nicht zur Annahme von Handlungseinheit, sondern zusätzlich müssen sich die Ausführungshandlungen der Delikte zumindest teilweise überschneiden. Das ist nun aber bei § 123 StGB und § 303 StGB im vorliegenden Fall zu verneinen, sodass Handlungsmehrheit zu bejahen ist, die zur Realkonkurrenz führt, da weder ein Fall der mitbestraften Voroder Nachtat vorliegt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob das immer so ist, mit anderen Worten stets dann, wenn eine Straftat „bei Gelegenheit“ begangen wird, so wie im Schrifttum angenommen Handlungsmehrheit vorliegt. Dazu bedarf es zunächst einmal der näheren Konkretisierung dessen, was überhaupt unter der Formulierung, ein Zustandsdelikt wird „bei Gelegenheit“ eines Dauerdelikts begangen, zu verstehen ist. Im Schrifttum ist der Begriff nicht selten gar nicht weiter konkretisiert, zuweilen finden sich aber auch gewisse Hinweise auf Präzisierungen. Einmal könnte man die Formulierung in dem Sinne mit Inhalt füllen, dass der Täter die spätere Tat nicht von vornherein geplant hatte, sondern sich spontan dazu entschließt.60 Es fragt sich aber, ob bei einem solchen Verständnis des Begriffs „bei Gelegenheit“ wirklich immer von Handlungsmehrheit auszugehen wäre. Man denke etwa an den Fall, dass der Täter A in das Haus seines verfeindeten Nachbarn O eindringt, um dort die Wohnung zu verwüsten. Unvorhergesehen kommt nun O früher als gewohnt nach Hause. A entschließt sich spontan, den O mit einem kräftigen Faustschlag nieder57 Vgl. etwa BGH VRS 30, 185; OLG Koblenz NJW 1978, 716 (717); Eisele (Fn. 5) Rn. 649; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2009, § 11 Rn. 53; Geppert Jura 1989, 378 (383); ders. Jura 2000, 651 (652); Haft (Fn. 5) S. 19; Jäger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, Rn. 390; Kindhäuser (Fn. 5) § 33 Rn. 42; Küpper (Fn. 5) § 5 Rn. 17; Rengier (Fn. 5) § 56 Rn. 41; Schäfer (Fn. 17) § 123 Rn. 70; Seier JA 1978, 622; Sonnen (Fn. 16) S. 89; von Heintschel-Heinegg (Fn. 16) § 52 Rn. 90; Welzel (Fn. 13) S. 232; Wessels/Beulke (Fn. 16) Rn. 779. 58 Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 13) Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 90, im Anschluss an Samson/Günther (Fn. 19) § 52 Rn. 13; für Idealkonkurrenz – ohne weitere Begründung – auch Lagodny Jura 1992, 659 (665). 59 Siehe den Text bei Fn. 53. 60 Vgl. Rengier (Fn. 4) § 30 Rn. 27, 30; ders. (Fn. 5) § 56 Rn. 61; von Heintschel-Heinegg (Fn. 16) § 52 Rn. 33; Wessels/Beulke (Fn. 16) Rn. 779.

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zuschlagen, um ungehindert weiter in der Wohnung bleiben zu können und dortiges Inventar zu beschädigen. In diesem Fall dient die Körperverletzung, obwohl der A sich dazu erst spontan entschlossen hatte, der Aufrechterhaltung des Hausfriedensbruchs, sodass nach den obigen Überlegungen aufgrund Zeitgleichheit und Teilidentität der Ausführungshandlungen zwischen § 123 StGB und § 223 StGB Handlungseinheit anzunehmen ist. Würde man also den Begriff „bei Gelegenheit“ verstehen als „nicht von vornherein geplant“, wäre nicht unbedingt immer Handlungsmehrheit zwischen den Delikten gegeben. Schon treffender, sofern man meint, das Zusammentreffen „bei Gelegenheit“ führe stets zur Handlungsmehrheit, erscheint es, wenn man den Begriff dahingehend versteht, dass das Zustandsdelikt mit dem Dauerdelikt „in keinem Zusammenhang“ steht.61 Andererseits ist auch diese Formulierung noch sehr vage und gibt den entscheidenden Gesichtspunkt nicht klar genug wieder. Letzten Endes ist nämlich wie bei den gesamten zuvor genannten Konstellationen maßgeblich, ob sich bei einer Zeitgleichheit von Zustandsund Dauerdelikt die Ausführungshandlungen der Delikte zumindest teilweise decken.62 Kann dies bejaht werden, ist Handlungseinheit gegeben, fehlt es dagegen an einer der beiden Voraussetzungen, liegt Handlungsmehrheit vor. Die vorstehenden Erwägungen offenbaren gleichzeitig, dass nach hiesigem Verständnis der Begriff „bei Gelegenheit“ zur Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses von Zustands- und Dauerdelikt nicht letztentscheidend ist; maßgeblich ist vielmehr, ob neben der Zeitgleichheit zumindest eine Teilidentität der Ausführungshandlungen vorliegt; dann ist Handlungseinheit gegeben. Von Handlungsmehrheit ist auszugehen, wenn eine der beiden Voraussetzungen fehlt. Dies mag man damit umschrieben, dass eine Straftat „bei Gelegenheit“ begangen wird, Klarheit schaffen jedoch erst die beiden Gesichtspunkte der Zeitgleichheit und Teilidentität der Ausführungshandlungen.

61 Vgl. zu dieser Formulierung Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 4) § 123 Rn. 36 a. E.; Schäfer (Fn. 17) § 123 Rn. 70. 62 Siehe Rissing-van Saan (Fn. 2) § 52 Rn. 24.

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VI. Schluss Die Lösung der Konkurrenzfrage lässt sich damit sinnvoll und sachgerecht auf wenige entscheidende Kriterien reduzieren. Es hat sich erwiesen, dass das Zusammentreffen von Zustands- und Dauerdelikt im Grundsatz keine Besonderheiten in der Behandlung der Konkurrenzen mit sich bringt. Letztlich besteht nur ein Spezifikum beim Dauerdelikt darin, dass Handlungseinheit auch dann noch in Betracht kommen kann, wenn ein Zustandsdelikt erst nach Begründung des Dauerdelikts ins Versuchsstadium gelangt und begangen wird: Dies führt nämlich zur Handlungseinheit, wenn das Zustandsdelikt der Aufrechterhaltung des Dauerdelikts dient. Hier wirkt sich die Eigentümlichkeit des Dauerdelikts aus, bei dem das Unrecht nicht mit der Begründung des rechtswidrigen Zustands voll verwirklicht ist, sondern mit der weiteren Fortsetzung des Zustands intensiviert wird, so dass im Fall der Aufrechterhaltung des Dauerdelikts durch ein Zustandsdelikt neben Zeitgleichheit auch eine Teilidentität der Ausführungshandlungen vorliegt. Diese Handlungseinheit führt dann zur Idealkonkurrenz, sofern kein Fall der Gesetzeskonkurrenz gegeben ist.

Zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau GEORG ZIMMERMANN

Ein Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses der Jubilarin, die ich in der Zeit meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in den Jahren von 2007 bis 2010 persönlich kennenlernen durfte, gilt – sicherlich mitbedingt durch ihr früheres Amt als Vorsitzende einer Schwurgerichtskammer – der rechtsdogmatischen Durchdringung der Tötungsdelikte.1 Mein Beitrag nähert sich den Tötungsdelikten aus einem anderen, tatsachengeprägten Blickwinkel. Er beschäftigt sich mit der Rolle, die die Ausgestaltung der allgemeinen äußeren Leichenschau in Deutschland für die Aufdeckung von Tötungsdelikten spielt. Die vielfach beklagten strukturellen Probleme der Leichenschau waren zuletzt Gegenstand der Tätigkeit einer durch den Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz eingerichteten Projektgruppe „Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau“. Der – bisher unveröffentlichte2 – Bericht dieser Projektgruppe hat der Herbstkonferenz der Justizminister am 5.11.2009 vorgelegen. Diese hat ihn als schlüssiges Gesamtkonzept bezeichnet und beschlossen, ihn zur Ressortabstimmung der Gesundheits-, Innen- und Kultusministerkonferenz zur Kenntnis zu bringen; die Empfehlungen der Projektgruppe seien eine geeignete Grundlage für entsprechende gesetzgeberische Überlegungen in den Ländern. Ich werde im Folgenden einen kurzen Überblick über die Problematik der allgemeinen äußeren Leichenschau geben, die Vorschläge des Berichts

1 Zuletzt: Rissing-van Saan Das systematische Verhältnis von Mord und Totschlag und die Reform der Tötungsdelikte – Eine kritische Betrachtung aus der Perspektive der Rechtsprechung in: Jahn/Nack (Hrsg.) Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog am 19. Juni 2009 Köln 2010 S. 26 ff. 2 Eine knappe Zusammenfassung der Vorschläge bietet Püschel Rechtsmedizin 2009, 389.

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vorstellen und sie im Zusammenhang der Debatte über die strukturellen Probleme der Leichenschau bewerten.3

Arten der äußeren Leichenschau Die allgemeine äußere (Pflicht-)Leichenschau ist zu unterscheiden von der forensischen Leichenschau gemäß §§ 87 ff. StPO.4 Letztere dient der Klärung, ob im Einzelfall Todesursache eine Straftat gewesen ist. Die allgemeine ärztliche Pflichtleichenschau ist dagegen an jeder Leiche vorzunehmen; sie dient neben dem öffentlichen Interesse an der Aufdeckung von Tötungsdelikten einer Vielzahl außerstrafrechtlicher, auch privater Zwecke. Ihre Ausgestaltung ist landesgesetzlich geregelt;5 entgegen vereinzelt in der Literatur vertretener Annahme6 ist sie nicht Gegenstand der konkurrierenden Landesgesetzgebung nach Art. 72, 74 GG, sondern ausschließlicher Gesetzgebungskompetenz der Länder gem. Art. 70 I GG.7 Weiter zu unterscheiden ist sie von der sog. Kremations- oder Feuerbestattungsleichenschau. Um dem durch die Verbrennung der Leiche drohenden Beweisverlust entgegenzuwirken, sehen sämtliche Landesgesetze außer demjenigen Bayerns als Voraussetzung der Zulässigkeit einer Feuerbestattung die vorhergehende Durchführung einer zweiten Leichenschau durch einen nach Maßgabe des jeweiligen Landesrechts besonders qualifizierten Arzt vor, die dem Ausschluss einer nichtnatürlichen Todesart dient.8 Diese zweite Leichenschau war erstmals flächendeckend durch Reichsgesetz vom 15.5.19349 eingeführt worden, zu einer Zeit, zu der die Pflichtleichenschau in Teilen Deutschlands noch durch nichtärztliche Leichenschauer durchge3 Für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags bedanke ich mich bei Frau MRin Ulrike Rothstein, JM NRW. 4 Vgl. zu dieser neben den Standardkommentaren zur StPO auch Geerds MedR 1984, 172, 174 ff.; ders ArchKrim Bd. 199 (1997) S. 41 ff. u. 75 ff.; zu neueren Reformüberlegungen Parzeller/Dettmeyer/Madea ArchKrim Bd. 223 (2009) S. 1 ff.; Parzeller/Dettmeyer/Bratzke ArchKrim Bd. 225 (2010) S. 73 ff. 5 Eine Übersicht über alle geltenden Regelungen des Landesrechts kann hier aus Platzgründen nicht gegeben werden; vgl. dazu Dettmeyer/Verhoff Rechtsmedizin 2009, 391 ff. sowie den Abdruck der Vorschriften in Madea Die ärztliche Leichenschau 2. Aufl. 2006 S. 217 ff. 6 Madea (Fn. 5) S. 2; ders. Rechtsmedizin 2009, 399; so auch der Projektbericht (im Weiteren: PB) S. 7. 7 So zutreffend Dettmeyer/Madea KritV 2004, 349; Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 19; Scheib Die Dunkelziffer bei Tötungsdelikten aus kriminologischer und rechtsmedizinischer Sicht Berlin 2002 S. 42; ders. Kriminalist 2004, 161. 8 Näheres bei Dettmeyer/Madea in Madea (Fn. 5) S. 142 ff.; Dettmeyer/Verhoff (Fn. 5) 397 f. 9 RGBl I 380.

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führt wurde.10 Obwohl inzwischen bundesweit – abgesehen von einer Ausnahme des schleswig-holsteinischen Rechts für einige Inseln und Halligen ohne dort ansässigen Arzt11 – eine obligatorisch durch einen Arzt durchzuführende erste Leichenschau existiert, ist die Kremationsleichenschau in fast allen Ländern nach wie vor zwingende Voraussetzung der Zulässigkeit einer Feuerbestattung. Das lässt sich nicht anders als das gesetzgeberische Anerkenntnis des Umstandes verstehen, dass die obligatorische erste Leichenschau angesichts der ihr innewohnenden strukturellen Probleme nicht hinreichend leistungsfähig hinsichtlich des Ausschlusses einer nichtnatürlichen Todesart ist. Dem entspricht, dass die Projektgruppe die Erwartung hegt, dass sich bei einer Umsetzung ihrer Empfehlungen eine Steigerung der Qualität der Pflichtleichenschau ergeben wird, die die Durchführung der zweiten Leichenschau als Voraussetzung einer Feuerbestattung entbehrlich machen könnte.12

Aufgaben der äußeren Leichenschau Die Leichenschau dient neben der sicheren Feststellung des Todeseintritts13 auch derjenigen der Todeszeit, -ursache sowie der Todesart.14 Mit letzterer Feststellung wird neben anderen Zwecken auch der strafprozessuale der Aufdeckung möglicher Tötungsdelikte verfolgt: Die Feststellung eines nichtnatürlichen Todes wie auch einer ungeklärten Todesart in den dafür vorgesehenen – im Einzelnen sehr unterschiedlich ausgestalteten – Ankreuzfeldern der Leichenschauformulare hat nach nahezu allen landesgesetzlichen Regelungen die Verpflichtung des Leichenschauers zur Meldung an die Strafverfolgungsbehörden zur Folge.15 Diese haben, sofern Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod i.S.d. § 159 I StPO vorliegen (zum Unterschied zur Begrifflichkeit der Landesgesetze im Weiteren), eine Leichensache gem. § 159 StPO einzuleiten und die Entscheidung über die 10 Groß Die Entwicklung der inneren und äußeren Leichenschau in historischer und ethischer Sicht Würzburg 2002 S. 41 f. mwN. 11 § 3 II BestattG Schl.-H. v. 4.2.2005 (GVOBl 70). 12 S. 24 PB. 13 Mit Ausnahme von Bremen, wo die Feststellung des Todes den Notärzten anvertraut und der Leichenschau vorgelagert ist, die insofern lediglich der Dokumentation des Todes dient; vgl. § 3 I 1 LeichenG Brem sowie ergänzend Birkholz in Madea (Fn. 5) S. 46. 14 Daneben bestehen noch seuchenhygienische Zwecke und bestimmte Meldepflichten; vgl. den Überblick bei Madea (Fn. 5) S. 2 Tab. 1-1. 15 Vgl. zur entsprechenden Ausgestaltung der Leichenschauformulare in den einzelnen Ländern die Übersicht bei Dettmeyer/Verhoff (Fn. 5) 395.

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Erforderlichkeit einer forensischen – äußeren oder inneren – Leichenschau nach §§ 87 ff. StPO zu treffen. Lediglich der schleswig-holsteinische Leichenschauschein sieht in Übereinstimmung mit § 6 I 1 BestattG Schl.-H. die Feststellung einer ungeklärten Todesart nicht mehr vor, sondern stellt bei der Frage nach Anhaltspunkten für einen nichtnatürlichen Tod lediglich die Alternativen „ja“ und „nein“ zur Verfügung; er begünstigt damit eine Neigung des Arztes, der die Todesursache für ungeklärt hält, mangels positiver Anhaltspunkte für einen nichtnatürlichen Tod „nein“ anzukreuzen.16 Das steht im Einklang damit, dass in Schleswig-Holstein bereits seit Jahrzehnten kraft innerbehördlicher Organisationsakte polizeiliche Ermittlungen im Fall der Bescheinigung einer ungeklärten Todesart nicht mehr durchgeführt wurden.17 Bemühungen einer Arbeitsgruppe der Gesundheitsministerkonferenz zur länderübergreifenden Vereinheitlichung der Leichenschauscheine in den Jahren von 1986 bis 1990 sind gerade an einer solchen Fassung der Todesartqualifikation gescheitert, die einen ähnlichen „Ermittlungsquietismus“ wie in Schleswig-Holstein begünstigt hätte und deshalb auf den Widerstand einer Anzahl von Bundesländern gestoßen war.18

Probleme der äußeren Leichenschau Unterschiede der landesrechtlichen Regelungen Als strukturelles Problem der Leichenschau wird vielfach – und seit jeher – bereits die unterschiedliche Ausgestaltung der Bestimmungen in den verschiedenen Ländern beklagt, die allerdings im Kontext sonstiger Regelungsbereiche des Verwaltungsrechts keine Besonderheit des Leichen- und Bestattungswesens darstellt. Forderungen nach einer Vereinheitlichung des Rechts der Leichenschau19, die mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes nur durch Übernahme inhaltsgleicher Regelungen in alle Landesrechte erfolgen könnte, gipfelten im Jahr 2003 in einem Gesetzentwurf der Bundesärztekammer;20 ein Erfolg ist dieser Initiative aber jedenfalls bisher nicht beschieden gewesen. 16 Zu dieser Neigung anhand der entsprechenden früheren Ausgestaltung der bad.-württ. Leichenschauscheine schon Thomsen/Schewe ArchKrim Bd. 193 (1994) S. 79, 84 f. 17 Thomsen/Schewe (Fn. 16) 85 f.; Brinkmann/Banaschak u.a. ArchKrim Bd. 199 (1997), S. 65, 68. 18 Vgl. zu Einzelheiten Brinkmann/Püschel MedR 1991, 233, 236; Thomsen/Schewe (Fn. 16) 86 ff.; Dettmeyer/Madea (Fn. 7) 353; Madea (Fn. 5) S. 8. 19 Zuletzt etwa von Madea (Fn. 5) S. V. 20 abgedruckt in Madea (Fn. 5) S. 213 ff.

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Von der Arbeitsgruppe aufgegriffene Probleme der äußeren Leichenschau Die Qualität der Ergebnisse, die die Leichenschau gerade im Hinblick auf die Feststellung der Todesart erzielt, ist seit jeher nach einhelligem Urteil der rechtsmedizinischen wie kriminalistischen Fachliteratur sehr niedrig. Bereits 1983 stellten der Generalbundesanwalt und die Generalstaatsanwälte auf ihrer Jahrestagung „… mit Besorgnis fest, dass die Leichenschau in der z. Zt. vorwiegend normierten Form – wonach grundsätzlich jeder Arzt zu ihrer Durchführung befugt ist – die sichere Feststellung nicht-natürlicher Todesfälle nicht gewährleistet.“ Sie äußerten die Auffassung, „dass hierdurch die Erkennung und Verfolgung von Straftaten gegen das Leben und damit ein gravierendes rechtsstaatliches Interesse gefährdet ist.“21 Die Probleme, die seit Jahrzehnten in einer Vielzahl wissenschaftlicher Fachpublikationen referiert werden, sind in jüngerer Vergangenheit als Gegenstand eines journalistisch orientierten Sachbuchs22 zur Kenntnis auch einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Aus der unzutreffenden Qualifizierung der Todesart als natürlicher Tod in einer unbekannten Anzahl von Fällen resultiert ein Dunkelfeld unerkannter Tötungsdelikte, dessen Ausmaß naturgemäß nur geschätzt werden kann. In der Fachliteratur kursieren regelmäßig Schätzungen eines Verhältnisses entdeckter zu nicht entdeckten Tötungsdelikten von zwischen 1 : 3 und 1 : 7, die allerdings häufig auf unreflektierte Übernahme von Werten einer kriminalistischen Veröffentlichung von 1941 zurückgehen.23 Eine von 1993 bis 1995 durchgeführte multizentrische Studie unter Beteiligung von 23 rechtsmedizinischen Einrichtungen gelangt zu einer „Hochschätzung“, wonach in Deutschland bei seinerzeit zwischen 880.000 und 900.000 jährlichen Sterbefällen mit 11.000 bis 22.000 bei der Leichenschau fälschlich als „natürlich“ klassifizierten Todesfällen zu rechnen sei, darunter 1.200 bis 2.400 unerkannt bleibenden Tötungsdelikten.24 Der Studie wird allerdings durch die Projektgruppe vorgehalten, dass es dem zugrunde liegenden Material an Repräsentativität gefehlt habe.25 Der Projektbericht selbst beruft sich auf eine auf der Frühjahrstagung 2009 der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin vorgestellte retrospektive Analyse von Kremationsleichen21 Zit. nach Brinkmann/Püschel (Fn. 18) 236; Nehm Rechtsmedizin 2000, 122, 126; Püschel (Fn. 2). 22 Rückert Tote haben keine Lobby – Die Dunkelziffer der vertuschten Morde Hamburg 2000. 23 Scheib (Fn. 7) S. 27 f. unter Bezugn. auf Mayer Kriminalist. Abhandlungen 1941, Heft 47, S. 12 ff. 24 Brinkmann/Banaschak u.a. (Fn. 17) S. 67 ff.; dies bei seinerzeit rund 2.000 entdeckten vollendeten Tötungsdelikten lt. Polizeilicher Kriminalstatistik. 25 S. 6 PB.

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schauen im Raum Bonn, die ergab, dass 2,7 % der untersuchten Todesfälle fälschlich als natürlich qualifiziert worden waren.26 Als fehleranfällig hinsichtlich der Feststellung der Todesart ist in geringerem Grad die Leichenschau an einer im öffentlichen Raum gefundenen Leiche oder in Krankenhäusern und Anstalten anzusehen, vielmehr in erster Linie die Leichenschau im häuslichen Bereich. Hauptfehlerquelle ist hier der Umstand, dass im Grundsatz jeder approbierte Arzt, gleich welcher engeren Fachrichtung, berechtigt und auf Aufforderung auch verpflichtet ist, die Leichenschau durchzuführen. Dies begünstigt besonders im häuslichen Bereich die Vornahme durch unerfahrene und gegenüber verdächtigen Begleitumständen arglose ärztliche Leichenschauer. Hinzu kommt, dass die Durchführung der Leichenschau von einem Teil der Ärzteschaft weniger als letzter Dienst am Patienten, sondern als ungeliebte Pflichtaufgabe jenseits des durch den Tod beendeten ärztlichen Heilauftrags angesehen wird. Im häuslichen Bereich stellt sich zudem gerade für den niedergelassenen Arzt das Problem der Erwartungshaltung der Angehörigen. Der in einen Trauerhaushalt gerufene Hausarzt der Familie ist nicht selten mit der – stillschweigenden oder explizit geäußerten – Erwartung der Angehörigen konfrontiert, die Ruhe des Verstorbenen nicht durch eine allzu sorgfältige Untersuchung der Leiche oder gar die Bescheinigung eines ungeklärten Todes zu stören. Diese Situation stellt ihn insbesondere dann vor handfeste wirtschaftliche Probleme, wenn er den Verlust weiterer Patienten in Gestalt der Angehörigen oder Bekannten des Toten befürchten muss. Eine oberflächliche Durchführung der Leichenschau erscheint aber gerade bei einem solchen Hintergrund als problematisch, weil bei einem spurenarmen Tötungsdelikt im häuslichen Bereich der Täter regelmäßig im nahen persönlichen Umfeld des Verstorbenen zu suchen ist. Ähnliche Probleme werden auch für das Verhältnis zwischen Altenheimleitungen und Ärzten berichtet, die auf vertraglicher Grundlage oder in Festanstellung in einem Heim ständig hausärztlich tätig sind.27

26 27

S. 17 Fn. 3 PB. Vgl. zum Ganzen Rothschild Rechtsmedizin 2009, 407 f.

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Gerade, aber nicht nur bei der Leichenschau im häuslichen Bereich findet sich vor diesem Hintergrund immer wieder der Kardinalfehler, der häufig zu Fehlqualifikationen einer Todesart als natürlich führt: nämlich die nicht ausreichende Untersuchung der Leiche −

ohne vollständige Entkleidung,28



ohne Inspektion aller Körperregionen einschl. Rücken, behaarter Kopfhaut etc. sowie sämtlicher Körperöffnungen und/oder



bei mangelhaften Lichtverhältnissen.

In der Literatur finden sich seit Jahrzehnten regelmäßig wiederkehrend Fallgeschichten über haarsträubende Fehlleistungen der Leichenschau, die aus derartigen unzureichenden Untersuchungen resultieren.29 Sie werden gelegentlich begünstigt durch einen naheliegenden persönlichen Abscheu gerade weniger erfahrener Leichenschauer gegen die Beschäftigung mit Leichen, die in ekelerregendem Zustand oder unter sonst problematischen hygienischen Verhältnissen aufgefunden werden. Allerdings wirken die Landesgesetzgeber dem in jüngerer Zeit mehr und mehr entgegen, indem schon der Gesetzeswortlaut der Mehrzahl der Landesgesetze inzwischen die Entkleidung der Leiche, teilweise auch die Inspektion aller Körperregionen, -öffnungen etc. ausdrücklich vorschreibt. Zum Teil ist eine entsprechende Art und Weise der Durchführung der Leichenschau vom Arzt auf dem Formularvordruck des Leichenschauscheins ausdrücklich zu bestätigen.30 Mit den Problemen, die hier bei der Feststellung der Todesart auftreten, korrespondiert, dass auf Grund oberflächlicher Untersuchung der Leiche als Todesursache an Stelle diagnostisch differenzierter Angaben zum Grundleiden und der daraus resultierenden unmittelbaren Todesursache nichtssagende Feststellungen des Endzustands wie „Herzversagen“, „Hirnversagen“, „Tod im Schlaf“ oder „Altersschwäche“ eingetragen werden.31

28 Der PB (S. 18 Fn. 4) beruft sich auf eine retrospektive Studie im Zusammenhang mit Kremationsleichenschauen am Essener Krematorium, die auf der Frühjahrstagung 2009 der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin vorgestellt wurde und ergab, dass in 30 % aller Fälle bei der ersten Leichenschau die Leichen zur Untersuchung nicht vollständig entkleidet worden waren. 29 Vgl. etwa Brinkmann/Püschel (Fn. 18) 235; Brinkmann/Banaschak u.a. (Fn. 17) S. 1 ff. u. 65 ff. jew. mwN sowie zuletzt Althaus/Freislederer Rechtsmedizin 2009, 424 ff.; Zweihoff/Püschel Rechtsmedizin 2009, 428 ff. Zahlr. weitere Nachw. auch bei Dettmeyer/Madea (Fn. 7) 357 Fn. 44. 30 Vgl. Dettmeyer/Verhoff (Fn. 5) 396. Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 44 f. weisen am Bespiel des nordrhein-westfälischen Formulars auf den rechtswidrigen Zwang zur Selbstbezichtigung einer Ordnungswidrigkeit hin. 31 Madea/Dettmeyer/Schmidt in Madea (Fn. 5) S. 100 f.

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Als weitere wichtige Fehlerquelle ist die Unklarheit der Todesartklassifikation zu nennen, die über das Gegensatzpaar „natürlich“ – „nichtnatürlich“ erfolgt. Leichenbeschauenden Ärzten ist häufig nicht klar, was ein nichtnatürlicher Tod im Sinne der Landesgesetze über das Bestattungs- und Leichenwesen ist. So kreuzten nach einer Untersuchung in den Krankenhäusern Niedersachsens 5 % der mit Leichenschauen befassten Krankenhausärzte stets die Rubrik „natürlicher Tod“ schon deshalb an, weil es sich um Krankenhausfälle handelte.32 Selbst bei äußerer Gewalteinwirkung, Vergiftung oder Suizid gingen nur etwa 70 % der befragten Ärzte von einem nichtnatürlichen Tod aus.33 Beklagt wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder eine Neigung der Todesermittler der Polizei, sich mit der Bescheinigung eines nichtnatürlichen oder ungeklärten Todes nicht zufrieden zu geben, sondern bei vermeintlich unverdächtigen Fällen den Leichenschauer zu einer Änderung der Todesart im Leichenschauschein zu drängen, um dem Zwang zur förmlichen Einleitung einer Leichensache nach § 159 StPO zu entgehen.34 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass das Tatbestandsmerkmal „nicht natürlicher Tod“ in § 159 I StPO einerseits und in den Bestattungsund Leichenwesengesetzen der Länder andererseits trotz seiner Wortgleichheit im Hinblick auf die verschiedenen Zwecke der beiden Regelungskomplexe unterschiedlich interpretiert wird. Der Begriff des nicht natürlichen Todes im Sinne des § 159 I StPO – der für die Tätigkeit der Todesermittler von Polizei und Staatsanwaltschaft maßgeblich ist – wird vor dem Hintergrund des strafprozessualen Zwecks der Norm verstanden: Er erfasst jeden Todesfall, bei dem nicht von vornherein auszuschließen ist, dass das Verhalten eines Dritten eine Ursache für den Tod gesetzt hat.35 Eine solche an der – wenn auch entfernten – Möglichkeit eines Fremdverschuldens orientierte Definition der Todesart kann aber nicht Gegenstand der Feststellungen des ärztlichen Leichenbeschauers sein, der damit überfordert wäre, bei jedem Todesfall Ermittlungen zur Ursächlichkeit Dritter anzustellen. In den landesrechtlichen Leichenschauvorschriften, die neben der Aufdeckung von Tötungsdelikten auch medizinstatistischen, epidemiologischen und verschiedenen privatrechtlichen Zwecken dienen, ist der Begriff deshalb in einem weiteren Sinn zu verstehen. Natürlich im Sinne dieser Vorschriften ist nur der Tod aus krankhafter Ursache, der völlig unabhängig von recht-

32

Berg/Ditt Niedersächs. Ärztebl 1984, 332, 334. Vgl. auch Madea (Fn. 6) 399. 34 Brinkmann/Püschel (Fn. 18) 234; Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 43 f.; Rothschild (Fn. 27) 408 u. 410. 35 Griesbaum in KK-StPO § 159 Rn. 2; Erb in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 159 Rn. 2; Patzak in Graf StPO § 159 Rn. 3. 33

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lich bedeutsamen äußeren Faktoren eingetreten ist.36 Rechtlich bedeutsame äußere Faktoren begründen dagegen auch ohne die Möglichkeit eines Fremdverschuldens einen nichtnatürlichen Tod. Die unterschiedliche Begriffsbildung führt immer wieder dazu, dass nichtnatürliche Todesfälle, die nach dem Eindruck des Leichenschauers nicht auf Fremdverschulden beruhen, etwa bei Unfällen ohne Beteiligung anderer, fälschlich als natürlich qualifiziert und damit weiteren polizeilichen Ermittlungen entzogen werden. Ein weiterer typischer Einschätzungsfehler besteht in der Verkennung längerer und über mehrere Stationen vermittelter Kausalketten, bei denen der Tod nur mittelbar auf eine von außen gesetzte Ursache zurückzuführen ist.37 Schließlich verstärkt die Assoziation eines nichtnatürlichen Todes mit einem Fremdverschulden die ohnehin naheliegende Neigung eines vorbehandelnden Arztes, in seiner Eigenschaft als Leichenschauer einen Todeseintritt, der möglicherweise auf Folgen der eigenen ärztlichen Behandlung zurückzuführen ist, als natürlich zu kennzeichnen. Allerdings sind einige Länder in den letzten Jahren zu Legaldefinitionen des Begriffs des nichtnatürlichen Todes übergegangen. Die aufzählende Reihung von Selbsttötung, Unfall und sonstiger Einwirkung von außen bzw. von fremder Hand als Todesursachen, teilweise ergänzt durch ausdrückliche Nennung der strafbaren Handlung (so oder ähnlich in Bayern, Bremen, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und NordrheinWestfalen), nur vereinzelt auch durch Nennung des Todes durch Behandlungsfehler (Thüringen) oder durch Komplikationen medizinischer Behandlung (Sachsen), ist aber eher geeignet, den Blick des Leichenschauers zu verengen. Vorzugswürdig wäre, umgekehrt den natürlichen Tod zu definieren und den nichtnatürlichen negativ davon abzugrenzen.

36

Berg/Ditt (Fn. 32) 335; Brinkmann/Püschel (Fn. 18) 234. Vgl. die Fallbeispiele 4 u. 7 bei Madea/Dettmeyer/Schmidt in Madea (Fn. 5) S. 101 f.: Patientin stirbt 4 Jahre nach einem Narkosezwischenfall mit der Folge eines apallischen Syndroms an einer Pneumonie; Schenkelhalsbruch durch häuslichen Sturz führt zu mehrmonatiger Immobilisation der 74 Jahre alten Patientin, die an einer hypostatischen Pneumonie verstirbt: beides nichtnatürliche Tode. Zahlr. weitere Beispiele bei Grellner/Dettmeyer/Madea in Madea (Fn. 5) S. 144 ff. 37

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Der Projektbericht38 nennt neben den bereits erörterten Fehlerursachen schließlich auch −

die situative Erschwerung der Durchführung der Leichenschau etwa durch Licht- oder Raumverhältnisse, übergroßes Gewicht der Leiche, Fäulniserscheinungen, Vornahme in der Öffentlichkeit,



die unzureichende nachträgliche Kontrolle des Ergebnisses der Leichenschau und



deren unzulängliche Honorierung im Verhältnis zu ihrem Umfang und ihrer Bedeutung.

Vorschläge der Projektgruppe zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau Den wesentlichen Schritt zur Qualitätsverbesserung sieht die Projektgruppe in der Entkoppelung der Todesfeststellung von der Leichenschau.39 Sie folgt damit der Sache nach dem Vorbild des Bremischen Landesrechts.40 Die Todesfeststellung soll nach wie vor durch den Arzt getroffen werden, der von der Leblosigkeit einer Person zunächst in Kenntnis gesetzt worden ist; dazu soll jeder approbierte Arzt verpflichtet bleiben. Die nachfolgende äußere Leichenschau soll hingegen nur durch einen speziell im Rahmen einer Zusatzqualifikation fort- und weitergebildeten Arzt oder durch einen Rechtsmediziner vorgenommen werden, und zwar grundsätzlich auch weiterhin am Auffindeort und unverzüglich. Besitzt der die Todesfeststellung treffende Arzt die erforderliche Zusatzqualifikation nicht, soll er deshalb verpflichtet sein, unverzüglich einen zur Durchführung der Leichenschau befugten Arzt zu benachrichtigen. Einer Übernahme des in England und Wales praktizierten Systems41 bei dem bestimmte Todesfallkategorien zur näheren Untersuchung dem durch die Kommunalbehörde bestellten Coroner gemeldet werden müssen, erteilt die Projektgruppe hingegen eine Absage, ebenso einer Anlehnung an niederländische oder österreichische Modelle auf öffentlich-rechtlicher Grundlage bestellter Leichenschauärzte. Sie hält solche Modelle nicht nur aus organisatorischen und finanziellen Gründen für nicht auf Deutschland übertragbar. Vielmehr sieht sie das Coroner-System im Vergleich zum deut-

38

S. 18 f. S. 19-21 PB. 40 Näher zur Reform des Leichenschauwesens in Bremen Birkholz in Madea (Fn. 5) S. 45 ff. 41 Vgl. zu diesem Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 31. 39

Zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau

817

schen auch nicht als leistungsfähiger an. Es gewährleiste im Ergebnis nichts anderes als das Todesermittlungsverfahren nach § 159 StPO. Nach Auffassung der Mehrheit der Projektgruppe sollen ambulant behandelnde Ärzte mit der entsprechenden Zusatzqualifikation nicht von der Vornahme der Leichenschau ausgeschlossen sein, wenn sie den Verstorbenen vorher behandelt hatten. Forderungen nach Vornahme einer Leichenschau durch einen neutralen Arzt, wie sie auch in der Literatur gelegentlich aufgestellt werden, fanden zwar mehrere Befürworter, aber keine Mehrheit. Demgegenüber soll bei Sterbefällen in Krankenhäusern, Heimen und Hospizen die Leichenschau stets durch einen externen Arzt vorgenommen werden. Die auf Anhieb wenig zwingend anmutende Ungleichbehandlung ist tatsächlich sachgerecht. Zwar tritt bei Vornahme der Pflichtleichenschau durch den Vorbehandler auch im ambulanten Bereich gelegentlich das Problem der Todesursächlichkeit früherer eigener ärztlicher Behandlungsmaßnahmen auf, das bei der forensischen Leichenöffnung zum Ausschluss des vorbehandelnden Arztes nach § 87 II 3 StPO führt. Bei der übergroßen Mehrzahl der unproblematisch verlaufenden Leichenschauen sind aber die Vorkenntnisse des behandelnden Arztes über Anamnese, Befund, Prognose des Grundleidens und Umständen des Todeseintritts von unschätzbarem Wert und müssten vom neutralen Leichenschauer stets erst mit entsprechendem Zeitverlust beim behandelnden Arzt erfragt werden. Bei derzeit zwischen 800.000 und 850.000 jährlichen Sterbefällen in Deutschland erschiene es auch organisatorisch als unrealistisch, für sämtliche Leichenschauen den vorbehandelnden Arzt als Leichenschauer auszuschließen.42 Demgegenüber ist im Bereich stationärer Behandlung und Pflege die Behandlungsgeschichte regelmäßig schriftlich dokumentiert und so auch für den externen Leichenschauer feststellbar. Hier tritt deshalb der Gesichtspunkt der Erfassung todesursächlicher eigener ärztlicher und pflegerischer Maßnahmen der Anstalt in den Vordergrund, der den Anschein mangelnder Neutralität des Leichenschauers hervorrufen kann und deshalb hier zur Externalisierung der Befugnis zur Leichenschau drängt. Für den ambulanten Bereich erwägenswert, von der Projektgruppe jedoch nicht erörtert wäre aber eine Übernahme der bereits im sächsischen und thüringischen Recht verankerten Befugnis der nächsten Angehörigen, den Vorbehandler im Einzelfall als Leichenschauer abzulehnen.43 Hier kann ein Mittel liegen, für konkrete Verdachtsfälle einer Fehlbehandlung den Interessenkonflikt beim Leichenschauer zu verhindern. Weniger hilfreich er42

Madea (Fn. 5) S. 6; Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 66. § 12 II 3, 4 SächsBestG v. 8.7.1994 (GVBl 382); § 5 II ThürBestG v. 19.5.2004 (GVBl 505). 43

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scheint demgegenüber die Lösung in § 10 II 3 des hessischen Friedhofsund Bestattungsgesetzes44: Danach darf dann, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der Tod in ursächlichem Zusammenhang mit einer ärztlichen Maßnahme eingetreten ist, der Arzt, der die Maßnahme veranlasst oder durchgeführt hat, die Leichenschau nicht durchführen. Offen bleibt hier, wer die Feststellung über das Vorliegen solcher Anhaltspunkte und die Befugnis zur Durchführung der Leichenschau trifft. Eine Absage erteilt die Projektgruppe schließlich dem Vorschlag des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums, eine Leichenschau durch einen amtlichen Leichenschauarzt nur für unerwartete Todesfälle außerhalb von Krankenhäusern vorzusehen. Die Projektgruppe hält bereits die Abgrenzung erwarteter von unerwarteten Todesfällen für nicht durchgängig umsetzbar und weist zutreffend darauf hin, dass auch bei einem tödlich erkrankten Patienten etwa unter Palliativversorgung der Eintritt des Todes eine andere, insbesondere nichtnatürliche Ursache haben kann als die Erkrankung. In der Tat erschiene es verfehlt, in diesen Fällen schon durch organisatorische Maßnahmen den Blick des Leichenschauers auf die „erwartete“ Todesursache zu verengen. Im Zusammenhang mit ihrem Hauptvorschlag regt die Projektgruppe die Schaffung von Regelungen zu einer entsprechenden ärztlichen Fort- und Weiterbildung an.45 Sie greift im Weiteren das Problem der organisatorischen Anbindung entsprechend qualifizierter Leichenschauärzte auf, das dadurch entsteht, dass für den selbst nicht zur Leichenschau qualifizierten, den Tod feststellenden Arzt ein qualifizierter Leichenbeschauer unverzüglich erreichbar sein muss.46 Befürwortet wird hier die Anbindung an das Gesundheitsamt als diejenige Organisation, die am ehesten zur flächendeckenden Sicherstellung einer qualifizierten Leichenschau in der Lage ist. Dabei soll es den Gesundheitsämtern überlassen bleiben, eigenes qualifiziertes Personal einzusetzen, sich eines rechtsmedizinischen Instituts zu bedienen – wofür auch die damit verbundene Verbesserung der Rahmenbedingungen für Lehre, Aus-, Fort- und Weiterbildung spreche –, auf vorhandene Strukturen und Zusammenschlüsse etwa der ärztlichen Berufsverbände aufzubauen47 oder andere Ärzte mit erworbener Zusatzqualifikation zu ermächtigen. Erforderlich erscheint aber in jedem Fall, dass das Gesundheitsamt über mindestens einen Arzt verfügt, der auf Grund besonderer Qualifikation befähigt und in der Lage ist, den Leichenschaudienst nicht nur 44

V. 5.7.2007 (GVBl I 338). S. 21 PB. 46 S. 21 f. PB. 47 Angespielt wird hier insbesondere auf den in München eingerichteten Leichenschaudienst des Ärztlichen Kreis- und Bezirksverbands, vgl. zu diesem Fieseler/Kunz/Graw/Peschel Rechtsmedizin 2009, 418 ff. 45

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zu organisieren, sondern fachlich anzuleiten; wünschenswert erscheint der Projektgruppe hier die Facharztqualifikation „Rechtsmedizin“. Zur Qualitätssicherung hält die Projektgruppe für erforderlich, dass die Leichenschauscheine unmittelbar und kurzfristig zu den Gesundheitsämtern gelangen. Die Gesundheitsämter sollen zur Durchführung einer Leichennachschau bei nicht anders ausräumbaren Zweifeln an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der Angaben verpflichtet werden, wobei die Möglichkeit zur Delegation sowohl der Durchsicht der Leichenschauscheine als auch der Durchführung der Nachschau auf rechtsmedizinische Institute eingeräumt werden soll.48 Neben dem organisatorischen Aufbau eines Systems von Leichenschauen durch qualifizierte Leichenschauärzte unter Trennung von Todesfeststellung und Leichenschau erwägt die Kommission eine Verpflichtung schon des todesfeststellenden Arztes zur Meldung bestimmter Todesfälle an die Polizei.49 Genannt sind hier −

Tod von Kindern bis 16 Jahre,



Tod in amtlichem Gewahrsam,



Auffindung einer Leiche nach Wohnungsöffnung,



fortgeschrittene Leichenveränderung,



Tod nach berufsbedingtem Umgang mit giftigen oder gesundheitsgefährdenden Stoffen.

Hier lehnt sich die Projektgruppe der Sache nach an das System von Todesfällen an, die in England und Wales an den Coroner zu melden sind,50 und erweitert die Meldepflicht bei nichtnatürlichen oder ungeklärten Todesfällen um solche Fallgruppen, die hinsichtlich der Feststellung eines natürlichen Todes als besonders fehleranfällig gelten. Schließlich beschäftigt sich der Bericht mit der Honorierung der äußeren Leichenschau.51 Die einfache Gebühr für die Untersuchung eines Toten einschließlich Feststellung des Todes und Ausstellung des Leichenschauscheines beläuft sich derzeit auf 14,57 €, so dass bei Anwendung eines Steigerungsfaktors von 2,3 regelmäßig bis zu 33,51 € angesetzt werden können; hinzu kommt das Wegegeld nach § 8 GOÄ.52 Die Projektgruppe erachtet diese Honorierung zutreffend für unzureichend und hält für den 48

S. 23 PB. S. 22 PB. 50 Graphische Übersicht bei Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 31. 51 S. 23 f. PB. 52 Zu Einzelheiten Bartsch/Fischer in Madea (Fn. 5) S. 138 f. 49

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Regelfall einen Betrag in einer Größenordnung von 170 € für angemessen. Darin ist ein Anteil in einer Größenordnung von 20 € enthalten, der dem Gesundheitsamt für die Wahrnehmung seiner administrativen Aufgaben und qualitätssichernder Maßnahmen zustehen und von dem die Gebühr erhebenden Arzt abzuführen sein soll. Das Entgelt für die Todesfeststellung soll in der Gebühr für die Leichenschau enthalten sein, also nicht gesondert berechnet werden, wenn die Todesfeststellung im Rahmen der Leichenschau erfolgt.

Abschließende Bewertung und Verhältnis zur inneren Leichenschau Begrüßenswert erscheint angesichts der seit Jahrzehnten andauernden einhelligen Kritik an der Qualität der äußeren Leichenschau bereits die Anerkennung des Verbesserungsbedarfs als solche durch die Justizministerkonferenz. Die Vorschläge der Projektgruppe zur Entkoppelung von Todesfeststellung und Leichenschau und zur Professionalisierung scheinen geeignet, das Kardinalproblem der äußeren Leichenschau zu lösen, das mit der regelmäßigen Tätigkeit unerfahrener und uninteressierter Leichenschauer einhergeht. Es bleibt abzuwarten, zu welchen Ergebnissen die Ressortabstimmung führt; einer früheren Initiative der Justizministerkonferenz zur Einführung speziell qualifizierter Leichenschauer hatte die seinerzeit federführende Gesundheitsministerkonferenz noch 1989 eine Absage erteilt.53 Auch die Herausbildung weiterer Fallgruppen, in denen unabhängig von der Feststellung der Todesart eine Meldung an die Ermittlungsbehörden zu erfolgen hat, ist zu begrüßen. Wünschenswert, von der Projektgruppe aber nicht in den Blick genommen erscheint neben der Professionalisierung der Leichenschauer auch eine stärkere Aus- und Fortbildung der mit der Todesermittlung befassten Beamten der Polizei und Staatsanwaltschaft, die zum Ziel haben sollte, die unterschiedlichen Belange der Todesartfeststellung bei der ärztlichen Pflichtleichenschau und der Feststellung der Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod i.S.d. § 159 I StPO zu verdeutlichen. Schon wegen ihres beschränkten Arbeitsauftrags nur peripher befasst hat sich die Kommission mit der in Teilen der ärztlichen Fachliteratur vehement vertretenen Ansicht, wonach angesichts der beschränkten Erkenntnismöglichkeiten einer rein äußerlichen Untersuchung eine substantielle Verkleinerung des Dunkelfeldes nichtnatürlicher Tode nicht durch eine Verbesserung der äußeren Leichenschau, sondern nur durch eine Erhöhung der – im inter53

Madea (Fn. 5) S. 8; zu den damaligen Ergebnissen auch Thomsen/Schewe (Fn. 16) 86 ff.

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nationalen Vergleich in Deutschland sehr niedrigen – Obduktionsrate erreicht werden könne.54 Die Schlussbemerkung des Projektberichts erkennt das Problem ausdrücklich an, beschränkt sich aber auf die zurückhaltende Empfehlung, über einen verstärkten Einsatz des Instruments der inneren Leichenschau, insbesondere im Interesse einer sichereren Feststellung der Todesursache und zur Aufklärung nichtnatürlicher Todesfälle, nachzudenken.55

54 So etwa Brinkmann/Püschel (Fn. 18) 236 f.; Madea/Dettmeyer in Madea (Fn. 5) S. 151 ff.; Püschel (Fn. 2) 389 f.; Madea (Fn. 6) 404 f.; Große Perdekamp/Pollak/Bohnert/Thierauf Rechtsmedizin 2009, 413 ff. Zum Grad d. Übereinstimmung v. Leichenschaudiagnose u. späterem Obduktionsergebnis bei nichtnatürlichen Todesfällen zuletzt Doberentz/Madea/Böhm/Lessig ArchKrim Bd. 225 (2010) S. 1 ff. 55 S. 25 PB.

Schriftenverzeichnis Ruth Rissing-van Saan: I. Aufsätze, Vorträge, Festschriftbeiträge 1) Der „erkennende Richter“ als Zeuge im Strafprozess?, MDR 1993, 310 2) Die Behandlung rechtlicher Handlungseinheiten in der Rechtsprechung nach Aufgabe der fortgesetzten Handlung (unter besonderer Berücksichtigung des Staatsschutzstrafrechts), in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Bd. IV (Hrsg. Roxin/ Widmaier), 2000, S. 475 3) Die „Bande“ Rückblick und Ausblick nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des BGH, Beschluss vom 22.3.2001 – GSSt 1/00, in: Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen (Hrsg. Bernsmann/Ulsenheimer), 2003, S. 131 4) The German Federal Supreme Court and the Prosecution of International Crimes Committed in the Former Yugoslavia, Journal of Criminal Justice 3, Oxford 2005, S. 381 5) Vorbehaltene und nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als Bewährungsproben des Rechtsstaats in: Festschrift für Kai Nehm zum 65. Geburtstag (Hrsg. Griesbaum/Hannich/ Schnarr), 2006, S. 191 6) Für betrügerische oder andere kriminelle Zwecke errichtete oder ausgenutzte Unternehmen: rechtliche Handlungseinheiten sui generis?, in: Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag (Hrsg. Sieber/Dannecker/Kindhäuser/Vogel/Walter), 2008, S. 391 7) Divergenzausgleich und Fragen von grundsätzlicher Bedeutung – Stellung und Funktion des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs und sein Verhältnis zu den Strafsenaten – ein Problem des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) in: Festschrift für Gunter Widmaier zum 70. Geburtstag (Hrsg. Schöch/ Satzger/Schäfer/Ignor/Knauer), 2008, S. 505

824

Schriftenverzeichnis

8) Das systematische Verhältnis von Mord und Totschlag und die Reform der Tötungsdelikte – eine kritische Betrachtung aus der Perspektive der Rechtsprechung - Vortrag, gehalten auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog, 19. Juni 2009, in: Jahn/Nack (Hrsg), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht? Schriften zur Theorie und Praxis des Strafrechts, Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009 (2010)., S. 26 ff. 9) Die Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht (Vortrag, gehalten auf dem 13. Strafverteidiger Frühjahrssymposium 2010 in Karlsruhe), StraFO 2010, Heft 9 10) Die Besetzungsreduktion der großen Strafkammern nach § 76 As.2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG – als Dauerlösung tauglich?, in: Amelung/Günther/Kühne (Hrsg.), Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag, 2010, S. 431 ff.

II. Kommentierungen Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl. 1992 ff.: Kommentierung vor § 52 bis § 55 StGB 12. Aufl. 2007 ff.: Mitherausgeberschaft, Kommentierung vor § 52 bis § 55, §§ 66 bis 66b und §§ 67a bis 67h (zusammen mit Jens Peglau)

Autorenverzeichnis GERHARD ALTVATER, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof – Abteilungsleiter –, Karlsruhe EKKEHARD APPL, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe CLEMENS BASDORF, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Leipzig KLAUS BERNSMANN, Dr. jur., o. Professor an der Ruhr-Universität Bochum RÜDIGER DECKERS, Dr. h.c., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Düsseldorf KLAUS DETTER, Dr. h.c., Richter am Bundesgerichtshof a. D., Waldbronn RALF ESCHELBACH, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe THOMAS FISCHER, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Honorarprofessor an der Universität Würzburg KERSTIN FUHRMANN, Staatsanwältin, Heilbronn

826

Autorenverzeichnis

GERD GEILEN, Dr. jur., em. o. Professor an der Universität Bochum RAINER HAMM, Dr. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. ERIC HILGENDORF, Dr. jur. Dr. phil., Professor an der Universität Würzburg HANS JOACHIM HIRSCH, Dr. jur. Dres. h. c. mult., em. o. Professor an der Universität zu Köln TATJANA HÖRNLE, Dr. jur., Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin KRISTIAN HOHN, Dr. jur., Wissenschaftlicher Assistent an der Bucerius Law School, Hamburg MATTHIAS JAHN, Dr. jur., Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg, Richter am Oberlandesgericht PETER KÖNIG, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Leipzig Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München CHRISTOPH KREHL, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. CLAUS KREß, Dr. jur., o. Professor an der Universität zu Köln KLAUS KUTZER, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Karlsbad

Autorenverzeichnis

827

ANDREAS MOSBACHER, Dr. jur., Vorsitzender Richter am Landgericht Berlin NORBERT NEDOPIL, Dr. med., Professor an der Universität München, Abteilung für Forensische Psychiatrie Psychiatrische Klinik der Ludwig-Maxmilians-Universität München MARTIN NIEMÖLLER, Richter am Bundesgerichtshof a.D., Ettlingen TIDO PARK, Dr. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Dortmund, Honorarprofessor an der Universität Münster JÜRGEN PAULY, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Frankfurt am Main JENS PEGLAU, Dr. jur., Richter am Oberlandesgericht Hamm JOCHEN POHLIT, Richter am Landgericht Landau in der Pfalz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe CHRISTOF PÜSCHEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Köln PETER RIESS, DR. JUR., Ministerialdirektor a. D., Honorarprofessor an der Universität Bonn THOMAS RÖNNAU, Dr. jur., Professor an der Bucerius Law School, Hamburg

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Autorenverzeichnis

HENNING ROSENAU, Dr. jur., Ordinarius an der Universität Augsburg SVENJA RUHS, Dr. jur., Richterin am Landgericht Limburg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe WILHELM SCHMIDT, Dr. jur., Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe BERTRAM SCHMITT, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Universität Würzburg URSULA SCHNEIDER, Dr. jur., Richterin am Bundesgerichtshof, Leipzig HEINZ SCHÖCH, Dr. jur., em. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München LOTHAR SENGE, Bundesanwalt beim Bundesgerichtsgerichtshof a.D., Karlsbad KLAUS TIEDEMANN, Dr. jur. Dr. h. c. mult., em. Ordinarius an der Universität Freiburg SVEN THOMAS, Dr. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Düsseldorf KLAUS ULSENHEIMER, Dr. jur. Dr. rer. pol., Rechtsanwalt, Apl. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München BRIAN VALERIUS, Dr. jur., Privatdozent, Würzburg, Lehrstuhlvertreter an der Goethe-Universität Frankfurt a. M.

Autorenverzeichnis

HANS-JOACHIM WEIDER, Dr. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Frankfurt a. M. Honorarprofessor an der Universität Gießen THOMAS WEIGEND, Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität zu Köln GEREON WOLTERS, Dr. jur., Professor an der Ruhr-Universität Bochum FRANK ZIESCHANG, Dr. jur., Professor an der Universität Würzburg GEORG ZIMMERMANN, Dr. jur., Vorsitzender Richter am Landgericht Bielefeld

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