This commemorative work is dedicated to Ruth Rissing-van Saan, Presiding Judge at the Federal Supreme Court, on the occa
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German Pages 843 [845] Year 2011
Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Kann nach der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren noch auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Urteilsabsprache zurückgegriffen werden?
Über die „Kunst des Urteilschreibens“
Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB
Ermessensamtsträger oder Ermessensbeamter – Überlegungen zu § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB
Zur Zurückweisung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen eigener Sachkunde des Gerichts - § 244 Abs. 4 S. 1 StPO – bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage - zugleich eine Besprechung von BGH - 2. Senat – JZ 2010, 471
Einlassung mit oder durch den Verteidiger - Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?
Regina Probationum
Spuren der Strafrechtswissenschaft. Eine Leseempfehlung
§ 127 StGB - Aktuell oder noch im Dornröschenschlaf?
Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge
Digitale Außenprüfung und Strafrecht
Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte
Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung
„Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen
Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts - Die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts
Vollzugslockerungen und Reststrafenaussetzung
Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht
Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und das Verbot der Tötung auf Verlangen
Zur Zukunft der Widerspruchslösung - Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf -
Neurobiologie, forensische Psychiatrie und juristische Urteilsfindung - die Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten im Einzelfall
Das Negativattest im Protokoll (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO)
Einige verfassungsrechtliche Gedanken zum Tatbestand der Marktmanipulation
Zur Auslegung der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll
Sicherungsverwahrung im Umbruch
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Vollstreckungsmodell (BGHSt 52,124)
Boom der Insolvenzdelikte?
Die schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters - Materialien zur Reform des § 267 StPO
Schadensfiktionen in der Rechtsprechung der Strafgerichte
Die Neuausrichtung der passiven Sterbehilfe - Der Fall Putz im Urteil des BGH vom 25. 06. 2010 – 2 StR 454/09
Neue Wege für das Betrugsstrafrecht
„Siemens-Darmstadt“ (BGHSt 52, 323) und das internationale Korruptionsstrafrecht
Zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK
Die „unterbelichtete“ Schadenswiedergutmachung gemäß § 46a StGB
Zwei Rechtsfragen aus dem Bereich der Nebenklage
Strafbare Teilnahme an einer Untreue nach § 266 StGB bei gegenläufigen Interessen?
Generalklauseln im Wirtschaftsstrafrecht - am Beispiel der Unlauterkeit im Wettbewerbsstrafrecht
Zur Strafbarkeit des Arztes beim „off-label-use“ von Medikamenten
Zur Strafbarkeit des Dopings de lege lata und de lege ferenda
Das Verbot der Verständigung über Maßregeln der Besserung und Sicherung - § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO -
Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren
Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB
Das Konkurrenzverhältnis von Zustands- und Dauerdelikt
Zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau
Schriftenverzeichnis
Autorenverzeichnis
Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag
Festschrift für
RUTH RISSING-VAN SAAN zum 65. Geburtstag am 25. Januar 2011 herausgegeben von
Klaus Bernsmann Thomas Fischer
De Gruyter
ISBN 978-3-89949-827-1 e-ISBN 978-3-89949-828-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ' Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Am 25. Januar 2011 vollendet die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan ihr 65. Lebensjahr. Diese Festschrift ist der Jubilarin aus Anlass ihres Ausscheidens aus dem aktiven Richterdienst am 31. Januar 2011 gewidmet. Ruth van Saan wurde 1946 in Neuss geboren. Nach der Volksschule besuchte sie zunächst die Realschule (1956 bis 1960); dann wechselte sie auf das damals einzige staatliche Gymnasium für Mädchen in Neuss, eine katholische Klosterschule mit Internat, die sie als Externe besuchte. Aus der Zeit strenger – und wohl auch: enger – Aufsicht durch die das Institut leitenden Nonnen weiß sie bis heute Anekdoten zu erzählen. Das Abitur erlangte sie 1966. Von 1966 bis 1970 studierte die Jubilarin Jura; zunächst drei Semester an der damals noch jungen Ruhr-Universität Bochum, sodann zwei Semester in Freiburg; dann wieder in Bochum, wo sie im Mai 1970 das erste Staatsexamen bestand. Ihre anschließende Referendarzeit unterbrach sie vom Herbst 1970 bis zum Januar 1973, um als wissenschaftliche Assistentin am strafrechtlichen Lehrstuhl von Gerd Geilen zu arbeiten; in dieser Zeit fertigte sie auch ihre Dissertation zum strafrechtlichen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Datenschutz. Wegen des sich lang hinziehenden Promotionsverfahrens konnte sie das Rigorosum jedoch erst 1978 ablegen. Bis Ende 1974 arbeitete sie während der restlichen Referendarzeit weiterhin im Rahmen einer Nebentätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin; im Dezember 1974 legte sie die Zweite Juristische Staatsprüfung ab. 1971 heiratete sie Heinz-Josef Rissing, einen promovierten katholischen Theologen und Lehrer für Geschichte, Religion und andere Fächer an Berufsbildenden Schulen. Er trat im Jahr 2006 als stellvertretender Leiter einer großen Berufsbildenden Schule in Bochum in den Ruhestand. Zum 1. März 1975 trat die Jubilarin in den höheren Justizdienst des Landes Nordrhein-Westfalen ein. Ihre Assessorenzeit verbrachte sie als Richterin in einer Zivilkammer des Landgerichts Bochum, als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Bochum und als Strafrichterin beim Amtsgericht Bochum. 1978 wurde sie zur Richterin auf Lebenszeit ernannt und kehrte als Beisitzerin einer Wirtschaftsstrafkammer an das Landgericht Bochum zurück. 1979 wurde sie stellvertretende Vorsitzende einer Hilfsstrafkammer als Schwurgericht, später Vorsitzende dieser Kammer. Nebenamtlich leitete
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Vorwort
sie bis 1983 Referendar-Arbeitsgemeinschaften im Strafrecht und war Prüferin im Ersten Staatsexamen. Die in Nordrhein-Westfalen übliche „Erprobung“ für Beförderungsstellen fand in Form einer Abordnung an das Oberlandesgericht Hamm von Juni 1983 bis Februar 1984 statt. Nach Rückkehr an das Landgericht Bochum war Ruth Rissing-van Saan zunächst wieder Beisitzerin in einer Zivilkammer, nach Beförderung zur Vorsitzenden Richterin am Landgericht ab Oktober 1985 ein Jahr Vorsitzende einer Wirtschaftsstrafkammer, ab Ende 1986 bis Anfang 1989 Vorsitzende der Schwurgerichts-Strafkammer des Landgerichts, eine Position, die sie sich gewünscht hatte. Beisitzern und Verfahrensbeteiligten aus jener Zeit ist bis heute ihre kenntnisreiche und souveräne Verhandlungsleitung in guter Erinnerung. Sie selbst beschreibt diese Zeitspanne wegen der engen Verbindung zum praktischen Leben als ihre beruflich schönste Zeit. Aus den vielen Verfahren, die sie als Schwurgerichtsvorsitzende führte, sei hier nur der so genannte „Katzenkönig-Fall“ genannt, anhand dessen der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz die bis heute geltenden Zurechnungsregeln für die mittelbare Täterschaft bei (vermindert) schuldhaft handelndem Tatmittler formulierte (vgl. BGHSt 35, 347). Im November 1988 wurde Ruth Rissing-van Saan zur Richterin am Bundesgerichtshof gewählt; am 1. März 1989 wurde sie ernannt. Bis 2002 war sie sodann, mehr als 13 Jahre lang, Mitglied des 3. Strafsenats, ab September 1998 dessen Stellvertretende Vorsitzende. Im Juni 2002 wurde sie zur Vorsitzenden Richterin am Bundesgerichtshof ernannt und als Nachfolgerin von Burkhard Jähnke Vorsitzende des 2. Strafsenats, dem sie bis heute, also seit fast neun Jahren angehört. Den 2. Strafsenat führte die Jubilarin mit der ihr eigenen Entschlossenheit und Zugewandtheit durch ruhige wie durch stürmische Zeiten. Von 1998 bis zu ihrem Ausscheiden war sie Mitglied des Großen Senats für Strafsachen, seit 2007 auch Vorsitzende des RichterDienstgericht des Bundes, das als Revisionsinstanz in Dienstsachen der Richter aller Bundesgerichtsbarkeiten, der Bediensteten sowie des Bundesrechnungshofs zuständig ist. 12 Jahre lang war sie Mitglied des Präsidialrats des Bundesgerichtshofs. In zahlreichen Veröffentlichungen zum materiellen und zum Strafprozessrecht hat Ruth Rissing-van Saan praxisrelevante Probleme des Strafrechts aufgegriffen. Schon 1993 gewannen die Herausgeber des Leipziger Kommentars zum StGB sie überdies als Mitarbeiterin der 11. Auflage des Großkommentars. Ihre 1998 vorgelegte Kommentierung der Konkurrenzregeln (§§ 52 bis 55 StGB), die sie in der aktuellen 12. Auflage fortgesetzt hat, gilt als Maßstab setzend. Für die 12. Auflage des Kommentars hat sie nicht nur zusätzlich weitere wichtige Teile der Kommentierung übernommen – insbesondere die zur Sicherungsverwahrung (erschienen 2008) sowie zu den
Vorwort
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Tötungsdelikten (erscheint demnächst), sondern ist auch an Stelle von Burkhard Jähnke zum Kreis der Herausgeber getreten. Seit 1998 ist sie Mitglied der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbunds. Seit dem Wintersemester 2006 nahm die Jubilarin Lehraufträge zum Strafrecht an der Universität zu Köln wahr, ab Sommersemester 2008 an der Ruhr-Universität Bochum. Im Februar 2010 wurde sie dort zur Honorarprofessorin für die Fächer Strafrecht und Strafprozessrecht ernannt. Sie bietet Lehrveranstaltungen zu Themenbereichen des Besonderen Teils des materiellen Strafrechts an und ist an einer Veranstaltungsreihe zur Praxis der Strafverteidigung beteiligt. Ihre Verbindung zu ihrer Heimatstadt hat die Jubilarin nie abgebrochen. Bochum blieb, auch wegen des Berufs ihres Ehemanns, einer von zwei Familienwohnsitzen, obwohl das Pendeln mit zusätzlichen Belastungen verbunden war. Eine Erkrankung der Wirbelsäule und eine daraus folgende Operation im Jahr 2006 meisterte Ruth Rissing-van Saan mit der ihr eigenen Disziplin, so dass sie schon bald wieder zu ihrem jährlichen Wanderurlaub nach Oberstdorf reisen konnte. Ein schwerer Schicksalsschlag traf sie, als eine seit langem bekannte Erkrankung ihres Ehemannes an Leukämie wieder auflebte, an der dieser, nach einer Zeit der Hoffung und des gemeinsamen Kampfes, Anfang des Jahres 2009 verstarb. Die Aufzählung biographischer Daten vermag einen Menschen gewiss nur umrisshaft und reduziert auf Umstände darzustellen, deren Bedeutung für das Leben der Person und der mit ihr verbundenen Menschen oft unsicher oder oberflächlich, jedenfalls aber nicht abschließend sein kann. Gleichwohl vermitteln sie einen Eindruck von den Entscheidungen, Bestrebungen und Einstellungen, der über äußere Zufälligkeiten hinausgeht. In Ruth Rissing-van Saan erkennen wir eine Frau, die mit großer Selbstdisziplin, hohem Arbeitsethos und Pflichtgefühl und Einsatz bis an die Grenzen der Belastbarkeit eine außergewöhnliche Karriere verwirklicht hat, in welcher ihre Begabungen und Wünsche zusammen fanden. Wer näher und länger mit ihr zusammengearbeitet hat, kennt sie darüber hinaus als vielseitig interessierten, unkonventionellen und Neuem aufgeschlossenen, herzlichen und fürsorglichen Menschen. Für die Zeit nach ihrer Pensionierung hat sie viele Pläne. Herausgeber und Autoren wollen mit dieser Festschrift ihren Dank für die Zusammenarbeit, ihre Verbundenheit und ihren Wunsch zum Ausdruck bringen, dass der Jubilarin auch in der Zukunft gelingen möge, was sie erstrebt. Karlsruhe und Bochum, im Januar 2011 Die Herausgeber
Inhalt GERHARD ALTVATER Kann nach der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren noch auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Urteilsabsprache zurückgegriffen werden?..............................................1
EKKEHARD APPL Über die „Kunst des Urteilschreibens“………………...…………………35
CLEMENS BASDORF/URSULA SCHNEIDER/PETER KÖNIG Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB…………....…………59
KLAUS BERNSMANN Ermessensamtsträger oder Ermessensbeamter – Überlegungen zu § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB ……………………..………………….………..75
RÜDIGER DECKERS Zur Zurückweisung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen eigener Sachkunde des Gerichts - § 244 Abs. 4 S. 1 StPO – bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage - zugleich eine Besprechung von BGH - 2. Senat – JZ 2010, 471………….………………………………...87
KLAUS DETTER Einlassung mit oder durch den Verteidiger Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?...……...............97
RALF ESCHELBACH Regina Probationum ……………………………………………............115
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Inhalt
THOMAS FISCHER Spuren der Strafrechtswissenschaft. Eine Leseempfehlung……….……..143
GERD GEILEN § 127 StGB - Aktuell oder noch im Dornröschenschlaf?..........................181
RAINER HAMM Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge…………………………...….195
ERIC HILGENDORF Digitale Außenprüfung und Strafrecht………………………………...…205
HANS JOACHIM HIRSCH Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte…………………………………………………………....219
TATJANA HÖRNLE Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung……………………...239
KRISTIAN HOHN „Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen………………...259
MATTHIAS JAHN Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts.... ………………275
CHRISTOPH KREHL Vollzugslockerungen und Reststrafenaussetzung ……………………….301
Inhalt
XI
CLAUS KREß Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht………….317
KLAUS KUTZER Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und das Verbot der Tötung auf Verlangen……………………………….337
ANDREAS MOSBACHER Zur Zukunft der Widerspruchslösung Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf - ……………………...……357
NORBERT NEDOPIL Neurobiologie, forensische Psychiatrie und juristische Urteilsfindung die Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten im Einzelfall……………...379
MARTIN NIEMÖLLER Das Negativattest im Protokoll (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO)……………393
TIDO PARK Einige verfassungsrechtliche Gedanken zum Tatbestand der Marktmanipulation………………………………………………...…405
JÜRGEN PAULY Zur Auslegung der Vorschriften über das Hauptverhandlungsprotokoll……………………………………………..425
JENS PEGLAU Sicherungsverwahrung im Umbruch……………………………………..437
JOCHEN POHLIT Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Vollstreckungsmodell (BGHSt 52,124)……………………………...…..453
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Inhalt
CHRISTOF PÜSCHEL Boom der Insolvenzdelikte?.......................................................................471
PETER RIESS Die schriftlichen Urteilsgründe des Tatrichters Materialien zur Reform des § 267 StPO…...……………..………...……491
THOMAS RÖNNAU Schadensfiktionen in der Rechtsprechung der Strafgerichte……………..517
HENNING ROSENAU Die Neuausrichtung der passiven Sterbehilfe Der Fall Putz im Urteil des BGH vom 25. 06. 2010 – 2 StR 454/09…….547
SVENJA RUHS Neue Wege für das Betrugsstrafrecht……………………………......…...567
WILHELM SCHMIDT / KERSTIN FUHRMANN „Siemens-Darmstadt“ (BGHSt 52, 323) und das internationale Korruptionsstrafrecht…………………………………………………......585
BERTRAM SCHMITT Zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK..………….....617
HEINZ SCHÖCH Die „unterbelichtete“ Schadenswiedergutmachung gemäß § 46a StGB…………………………………………………………...…..639
LOTHAR SENGE Zwei Rechtsfragen aus dem Bereich der Nebenklage………...…………657
Inhalt
XIII
SVEN THOMAS Strafbare Teilnahme an einer Untreue nach § 266 StGB bei gegenläufigen Interessen?………………………………………...……...669
KLAUS TIEDEMANN Generalklauseln im Wirtschaftsstrafrecht am Beispiel der Unlauterkeit im Wettbewerbsstrafrecht…...………...….685
KLAUS ULSENHEIMER Zur Strafbarkeit des Arztes beim „off-label-use“ von Medikamenten………………………………………………...……..701
BRIAN VALERIUS Zur Strafbarkeit des Dopings de lege lata und de lege ferenda……..…...717
HANS-JOACHIM WEIDER Das Verbot der Verständigung über Maßregeln der Besserung und Sicherung - § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO -…………..……731
THOMAS WEIGEND Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren………………………………………………………....749
GEREON WOLTERS Das gesetzliche Merkmal „durch den Raub“ in § 251 StGB……………………………………………………...……..767
FRANK ZIESCHANG Das Konkurrenzverhältnis von Zustands- und Dauerdelikt……………...787
GEORG ZIMMERMANN Zur Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau………………807
XIV
Inhalt
SCHRIFTENVERZEICHNIS Ruth Rissing-van Saan…………………………………...………………823
AUTORENVERZEICHNIS…………………………..…………………….825
Kann nach der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren noch auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Urteilsabsprache zurückgegriffen werden? GERHARD ALTVATER
I. Am 4. August 2009 ist das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren in Kraft getreten.1 Mit dem Vorhaben ist der Gesetzgeber einer Bitte des Bundesgerichtshofs nachgekommen. Der Große Senat für Strafsachen hatte ihn aufgerufen, die Zulässigkeit und - bejahendenfalls die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Der Senat erachtete ein Tätigwerden des Gesetzgebers für erforderlich, weil die Versuche der obergerichtlichen Rechtsprechung, die zwischenzeitlich weit verbreiteten Urteilsabsprachen im Wege der systemimmanenten Korrektur von Fehlentwicklungen zu strukturieren oder unter Schaffung neuer, nicht kodifizierter Instrumentarien ohne Bruch in das gegenwärtige System einzupassen, nur unvollkommen gelingen konnten und die Gerichte stets von neuem an die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung führten.2 Der Gesetzgeber hat diesen Auftrag noch in der 16. Legislaturperiode in Angriff genommen. Dabei hat er gleichsam einen Mittelweg beschritten: Einerseits hat er die in der Praxis der Tatgerichte praeter oder contra legem entwickelte Urteilsabsprache unter der Bezeichnung Verständigung3 gesetzlich anerkannt. Andererseits hat er aber davon abgesehen, ein eigenständiges institutionalisiertes Verständigungsverfahren zu schaffen, das als „konsensuale“ Alternative neben das herkömmliche „streitige“ Strafverfahren treten konnte. Die Urteilsabsprache sollte vielmehr in das hergebrachte System des Strafverfahrens 1
BGBl. I 2353. BGHSt 50, 40, 64. 3 Der Begriff Verständigung wurde in Abkehr vom bisherigen Sprachgebrauch gewählt, um den Eindruck zu vermeiden, dem Urteil liege eine quasi vertraglich bindende Vereinbarung zugrunde, vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 8. 2
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Gerhard Altvater
integriert werden, wobei die bisherigen Verfahrensgrundsätze, insbesondere die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) „unberührt“ bleiben sollten.4 Der Gesetzgeber ist also den Weg weiter gegangen, den die Rechtsprechung bereits eingeschlagen hatte. Die neuen Vorschriften beschränken sich auf die Beantwortung einiger zentraler Fragen; es geht ihnen insbesondere um Transparenz und um die Kontrolle der Praxis der Instanzgerichte. Eine erschöpfende Regelung des Verständigungsverfahrens enthalten sie nicht. Für die Praxis stellt sich deshalb zunächst die Frage, ob und in welchem Umfang die Rechtsprechung der Obergerichte zur Urteilsabsprache weiterhin anwendbar ist. Darum soll es in dem Beitrag gehen. Es geht weder um Fundamentalkritik an der Anerkennung eines quasivertraglichen Fremdkörpers im bisher weitgehend dispositionsfeindlichen, an Amtsermittlungsgrundsatz und Schuldprinzip ausgerichteten Strafverfahren noch um die möglicherweise verpasste Chance, ein näher am Konsens orientiertes eigenständiges Verfahren zu entwickeln.5 Die - gewiss spannende - Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der strafrechtlichen Sanktionierung auf konsensualer Grundlage werfe ich nicht auf. Ich wage mich auch nicht an die Prognose, ob die gesetzliche Neuregelung Entscheidendes an der bisherigen Praxis ändern wird oder ob die Instanzgerichte - wie bisher - ihre eigenen Wege abseits des Gesetzes beschreiten werden. Dafür mag einiges sprechen, weil die Missstände, die zur Verbreitung der Absprachen geführt haben, durch das neue Gesetz nicht behoben werden6 und weil zu befürchten ist, dass das Jahrzehnte währende Judizieren „praeter legem“ nicht ohne Einfluss auf die Rechtstreue der Beteiligten und auf die Bindungskraft des geschriebenen Rechts geblieben ist.7 Aber das ist nicht mein Thema. Mir geht es um die Prüfung, inwieweit unter der Geltung des neuen Rechts noch auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zurückgegriffen werden kann und inwieweit sie durch die gesetzliche Neuregelung überholt ist. Naturgemäß kann nicht alles erörtert werden, was binnen eines Vierteljahrhunderts zur Verfahrensabsprache judiziert worden ist. Ich beschränke mich deshalb auf einige zentrale Themen und gehe im Übrigen davon aus, dass dies genügt, um Verschränkungen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung aufzuzeigen.
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So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 8f. Vgl. hierzu Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 3327, 328ff. 6 Fischer, StraFo 2009, 177, 187. 7 Zur geringen Akzeptanz der durch den Bundesgerichtshof entwickelten Leitlinien in der gerichtlichen Praxis, vgl. Weider StV 2003, 267; Fischer StraFo 2009, 177, 178ff.; vgl. auch Harms FS Nehm (2006) S. 289ff. 5
Regelung der Verständigung im Strafverfahren
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II. 1. Weiterhin verbindlich ist unzweifelhaft die Rechtsprechung, die vom Gesetzgeber ohne inhaltliche Änderung festgeschrieben und in Gesetzesform gegossen wurde. Dies gilt etwa für die Pflicht, dem Angeklagten eine qualifizierte Rechtsmittelbelehrung zu erteilen,8 aber auch für die Entscheidung, keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist zu gewähren, wenn eine Belehrung, die dieser Anforderung entspricht, nicht erteilt wurde.9 Nunmehr regelt § 44 Satz 2 StPO diesen Sachverhalt, indem er auf andere Alternativen des § 35a StPO, nicht aber auf den neuen § 35a Satz 3 StPO verweist. Die frühere Rechtsprechung gewährte Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Revision nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, etwa dann, wenn ein Rechtsmittelverzicht Gegenstand der Absprache war und zugleich ein Irrtum des Angeklagten über deren Reichweite vorlag10 oder wenn der in der Absprache vereinbarte Verzicht im Vertrauen auf eine unwirksame und letztlich nicht eingehaltene Zusage abgegeben worden war.11 Keine Wiedereinsetzung wurde hingegen gewährt, wenn der Angeklagte die Rechtsmittelfrist in der irrigen Annahme verstreichen ließ, er sei durch einen in der Absprache vereinbarten und deshalb unwirksamen Rechtsmittelverzicht gebunden:12 Der auf der Unkenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beruhende Irrtum über die Unwirksamkeit des Verzichts begründete keine Verhinderung im Sinne des § 44 Satz 1 StPO.13 Die Rechtsprechung war nicht immer konsequent. Ihr kann aber immerhin entnommen werden, dass Wiedereinsetzung nur in besonders gelagerten Fällen zu gewähren war, insbesondere dann, wenn ein zusätzlicher Vertrauenstatbestand vorlag, der von der Justiz geschaffen wurde oder von ihr zu verantworten war. Dies dürfte auch in Zukunft gelten: Der Rechtsirrtum wird weiterhin grundsätzlich zu Lasten des Irrenden gehen; Wiedereinsetzung wird nur dann zu gewähren 8 § 35a Satz 3 StPO; zum Inhalt der Belehrung vgl. BGH NStZ 2009, 282; zum Inhalt des Protokollvermerks BGH NStZ-RR 2009, 282. 9 So BGHSt 50, 40, 62f., der Große Senat für Strafsachen wollte die Vermutung des Nichtverschuldens nicht auf eine durch Richterrecht geschaffene Belehrungspflicht erstrecken; BGH NStZ-RR 2005, 271; wistra 2005, 468; 2006, 28; 146; 189. 10 BGHSt 45, 227, 233. Die Verständigung im Ausgangsverfahren zielte auf eine „Generalbereinigung“ ab; die Staatsanwaltschaft stimmte aber der hierzu erforderlichen Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, das zur Zeit der Absprache weder dem Gericht noch dem Sitzungsvertreter bekannt war, nicht zu. 11 BGH NStZ 1995, 556; vgl. auch wistra 2006, 231 zur nicht eingehaltenen Zusage als Wiedereinsetzungsgrund. 12 BGH NStZ 2005, 582. 13 BGHSt 50, 40, 63; wistra 2005, 310; 2006, 28.
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Gerhard Altvater
sein, wenn dies mit Blick auf die Anforderungen auf ein rechtsstaatliches Verfahren unabweisbar geboten ist. Bereits zum neuen Recht hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, dass die Unkenntnis des neuen § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO, der den Rechtsmittelverzicht nach einer Verständigung ausschließt, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist nicht begründen kann.14 Der Senat führt damit die bisherige Rechtsprechung bruchlos fort. Dass eine Punktstrafe nicht Gegenstand der Verständigung sein kann,15 ergibt sich nunmehr aus dem Gesetz, das in ersichtlicher Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (nur) die Angabe einer Ober- und Untergrenze der Strafe zulässt und damit zugleich die konkrete Festlegung auf eine bestimmte Sanktion verbietet (§ 257c Abs. 3 Satz 2 StPO).16 Die Neuregelung weicht allerdings von der bisherigen Rechtsprechung ab, die nur die Angabe einer Obergrenze vorgesehen hatte.17 Die - bisweilen kritisierte18 - Regelung zwingt den Tatrichter, auch im abgesprochenen Urteil Ausführungen zur Strafzumessung zu machen und jedenfalls die dafür bestimmenden Umstände im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO darzulegen. Bei der Vereinbarung einer Punktstrafe könnte er sich dieser Aufgabe durch den Hinweis auf die Bindung der Verständigung entziehen, mit der Folge, dass die Strafzumessung in der Revisionsinstanz weithin unüberprüfbar würde. Der neue § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO schreibt jetzt das Verbot fest, Maßregeln der Sicherung und Besserung zum Gegenstand der Absprache zu machen; auch diese Vorschrift greift Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf,19 geht allerdings, soweit die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) erfasst wird, darüber hinaus. Ob der Gesetzgeber gut beraten war, auch Verständigungen über diese Maßregel zu verbieten, kann bezweifelt werden, zumal die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Ermessen des Gerichts steht, also disponibel ist und - soll sie erfolgreich 14
BGH, Beschl. v. 1. 4. 2010 - 4 StR 637/09. BGHSt 43, 195, 206; 51, 84. 16 Vgl. BGHSt 51, 84; zur Auslegung der Vorschrift vgl. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren § 257c Rn. 45; SK-Velten § 257c Rn. 21. 17 BGHSt 43, 195 hatte nur die Angabe einer Strafobergrenze vorgesehen, die erfahrungsgemäß auch ausgeurteilt wurde; künftig wird wohl die von der Staatsanwaltschaft als angemessen akzeptierte Strafuntergrenze den Rechtsfolgenausspruch bestimmen, vgl. Meyer-Goßner Ergänzungsheft (EH) zu StPO, 52. Aufl. § 257c Rn. 20. Bittmann wistra 2009, 414, 415 will die Vorschrift dahingehend verstehen, dass das Gericht entweder eine Ober- oder aber eine Untergrenze in Aussicht stellen kann; gegen diese - mit dem Wortlaut schwerlich in Einklang zu bringende - Auslegung streitet die Entwurfsbegründung, die von einem Strafrahmen spricht, vgl. BT-Drucks 16/12310 S. S. 14. 18 Vgl. Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 11. 19 So BGH Strafverteidiger 2006, 118. 15
Regelung der Verständigung im Strafverfahren
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verlaufen - in besonderem Maße der Mitwirkung des Verurteilten bedarf.20 Zu der Frage, ob Verständigungen über die Aussetzung einer Unterbringung (§ 67b StGB), über die Dauer einer Sperre nach § 69a StGB oder über die Aussetzung eines Berufsverbots (§ 70a StGB) möglich sind,21 liegen - soweit ersichtlich - keine Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vor. Das neue Recht enthält sich einer ausdrücklichen Stellungnahme hierzu; die Gesetzesmaterialien sind nicht ergiebig. Ob diese Begleitentscheidungen vom Verbot des § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO erfasst werden, wird also von einer künftigen Auslegung der Vorschrift abhängen, die nicht ohne weiteres vorhersehbar ist. Dabei liegt ein enges Verständnis des Verbots nahe. Die Dauer der Sperrfrist steht im Ermessen des Gerichts; bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung von Maßregeln ist dem Tatrichter ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt. Beides erscheint grundsätzlich als ebenso verhandelbar, wie die Höhe einer Strafe oder die Aussetzung ihrer Vollstreckung. Auch die Forderung des Bundesgerichtshofs, wonach der Schuldspruch nicht Gegenstand der Verständigung sein dürfe,22 hat Eingang in das geschriebene Recht gefunden und gilt damit fort. Wie bisher bleiben allerdings Reichweite und Sinn des Verbots im Dunkeln. Ein Verbot von Vereinbarungen über die rechtliche Bewertung der Urteilsfeststellungen wäre sinnlos, weil sich diese Bewertung unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und für den gesetzesgebundenen Richter nicht verfügbar ist: Dass ein Sachverhalt, der sämtliche Merkmale des Raubs enthält, nicht in einen Diebstahl „umgedeutet“ werden darf, ist eine Banalität, die der gesetzlichen Regelung nicht bedurft hätte. Hingegen ist eine Verständigung über die Urteilsfeststellungen nicht nur möglich, sondern meist auch erforderlich. Die im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Verständigung über ein Geständnis (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO) setzt Einvernehmen über den Inhalt der geständigen Einlassung voraus: Der Angeklagte teilt mit, was er gestehen will, das Gericht erklärt sich mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft bereit, dies als Urteilsgrundlage, gleichsam als die „prozessuale“ Wahrheit zu akzeptieren. Der dem Schuldspruch zugrunde zu legende Sachverhalt ist deshalb regelmäßig „Gegenstand“ der Verständigung; innerhalb der durch Akteninhalt und Aufklärungspflicht gezogenen Grenzen ist er konsensual
20
Zweifelnd auch BGH NStZ 2000, 286, 287. Der Entwurf der BRAK erachtete Verständigungen über diese Punkte für möglich, vgl. ZRP 2005, 239. Dass Absprachen über die Dauer der Sperre nach § 69a StGB in der amts- und landgerichtlichen Praxis an der Tagesordnung waren und wohl auch noch sind, ist sicher anzunehmen. 22 Vgl. BGHSt 43, 195, 204; 50, 40, 50; StV 2009, 274; BGH, Urt. vom 16. Juni 2005 3 StR 338/04, bei Becker NStZ-RR 2007, 2. 21
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gestaltbar.23 Gestaltbar ist der Schuldspruch ferner durch die Möglichkeiten der Teileinstellung und der Beschränkung der Strafverfolgung (§ 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO), die nach wie vor Gegenstand von Verständigungen sein können.24 Das Entfallen der Bindung des Gerichts an die Absprache formuliert das Gesetz mit den Worten des Großen Senats, der die Voraussetzungen für die Lösung von der Verständigung gegenüber der früheren Rechtsprechung herabgesetzt hat.25 In Gesetzesform gegossen ist nunmehr auch die vom Bundesgerichtshof26 im Gegensatz zu einer beachtlichen Literaturmeinung27 bejahte Notwendigkeit, die Staatsanwaltschaft in die Verständigung einzubinden. Damit wurde wohl die angemessene und richtige Entscheidung getroffen, weil der Übergang in das Verständigungsverfahren einen Einschnitt in die Hauptverhandlung bildet, der einer Verfügung über die Anklage gleichkommt und weil solche Verfügungen nach der klassischen Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht der Mitwirkung der Anklagebehörde bedürfen.28 Das in der Rechtsprechung entwickelte Verbot, einen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand der Absprache zu machen,29 ist zwar nicht ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen worden;30 die Unwirksamkeit solcher Vereinbarungen ergibt sich aber nunmehr aus § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO, der den Rechtsmittelverzicht bei Urteilen, denen eine Verständigung vorausgegangen ist, ausschließt.
2. Auf der anderen Seite steht Rechtsprechung, die ebenso unbestreitbar durch das neue Gesetz überholt ist. Dazu zählen etwa die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur (grundsätzlichen) Wirksamkeit des Rechtsmit-
23 Zur Umgehung des Verbots der Verständigung über den Schuldspruch durch einvernehmliche Geständnisse mit zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, vgl. Fischer StraFo 2009, 177, 181; vgl. auch Altenhain/Haimerl JZ 2010, 337, 331. 24 Vgl. RegE, BT - Drucks. 16/12310 S. 13; Bittmann wistra 2009, 414, 415. 25 BGHSt 50, 40, 50, enger noch BGHSt 43,195 (LS 2), der neue und schwerwiegende Umstände zu Lasten des Angeklagten voraussetzen wollte. 26 BGHSt 45, 312, 315; NStZ 2003, 563. 27 Meyer-Goßner StPO, 51. Aufl. Rn. 12 vor § 213 m. w. N. 28 Die Entscheidung für das Verständigungsverfahren wiegt nicht weniger schwer als der Übergang in das Strafbefehlsverfahren nach § 408a StPO. 29 BGHSt 43, 195 (LS 5); 50, 40 (LS 1). 30 Der Regierungsentwurf, BT-Drucks 16/12310, hatte dies in § 257c Abs. 2 Satz 2 StPO noch ausdrücklich vorgesehen; dies ist durch den im Gesetzgebungsverfahren erweiterten § 302 Abs. 1 Satz 2, der die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts vorsieht, überholt. Zur Praxis: Fischer StraFo 2009, 177, 184.
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telverzichts.31 Sie sind durch den bereits erwähnten § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO hinfällig geworden. Hier wird sich das Terrain der Auseinandersetzung auf Umgehungsversuche verlagern. Anzeichen dafür werden schon jetzt sichtbar: In einem bereits zum neuen Recht ergangenen Beschluss hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, dass eine Revision auch dann vor Ablauf der Einlegungsfrist zurückgenommen werden kann, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist. Die Rücknahmeerklärung führt die Rechtskraft unmittelbar herbei, denn sie enthält den Verzicht auf die Wiederholung des Rechtsmittels32 und führt dazu, dass die erneute Einlegung innerhalb der noch offenen Rechtsmittelfrist nicht mehr zulässig ist.33 Der Senat deutet allerdings an, dass er ein ausschließlich auf die Umgehung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO abzielendes Verhalten nicht akzeptieren will. Ob ein solcher Missbrauchsfall vorliegt, der die Unwirksamkeit der Revisionsrücknahme zur Folge haben könnte, wird vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessenlage zu bewerten und im Einzelfall zu entscheiden sein, etwa danach, ob der Angeklagte ein nachvollziehbares Interesse an der sofortigen Rechtskraft hat. Durch § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO überholt ist ferner die differenzierende und nicht immer einheitliche Entscheidungspraxis zur Frage der Verwertung eines absprachegemäß abgelegten Geständnisses im Falle des Scheiterns der Verständigung.34 Weiterhin aktuell dürfte hingegen die Rechtsprechung des BGH sein, wonach Geständnisse, die im Falle des Scheiterns einer Absprache nicht verwertet werden dürfen, gleichwohl strafmildernd zu berücksichtigen sind.35 Nicht im strengen Sinne überholt, indessen weitgehend bedeutungslos geworden ist die Pflicht, dem Rechtsmittelberechtigten eine qualifizierte Belehrung zu erteilen.36 Sie findet sich zwar in dem neuen § 35a Satz 3 StPO wieder; ein Verstoß ist aber folgenlos, weil der Rechtsmittelverzicht unabhängig von der Belehrung stets unwirksam ist (§ 302 Abs. 1 Satz 2 StPO) und weil die Fiktion des Nichtverschuldens nach der Neufassung des § 44 Satz 2 StPO für solche Verstöße nicht gilt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Belehrungsmängeln also nicht gewährt wird.37 Ersichtlich handelt es sich um ein weitgehend inhaltslos gewordenes Relikt aus dem 31 BGH NStZ 2004, 164; BGHSt 50, 40, 57 ff.; die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts wurde angenommen, wenn entweder keine qualifizierte Belehrung erfolgt war oder der Angeklagte durch unzulässigen Druck zur Abgabe der Erklärung genötigt worden war, vgl. BGH NJW 2004, 1885. 32 BGHSt 10, 245. 33 BGH StV 2010, 346 34 Zum Regelungsbedarf vgl. BGHSt 50, 40, 51. 35 BGHSt 42, 191. 36 BGHSt 50, 40, 61. 37 In diesem Sinne bereits BGHSt 50, 40, 62f.
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ursprünglichen Regierungsentwurf, der - insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des Großen Senats für Strafsachen - die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts noch an die qualifizierte Belehrung knüpfen wollte.38 Die Vorschrift sollte überdacht werden: Bei einem verteidigten Angeklagten bringt das Gebot der qualifizierten Belehrung Zweifel an Redlichkeit oder Fähigkeit des Verteidigers zum Ausdruck; sie wirkt deshalb diskriminierend, ohne dass dafür ein tragfähiger Grund zu ersehen wäre.39 Dies legt es nahe, das Gebot der qualifizierten Belehrung auf die Fälle zu beschränken, in denen der Angeklagte keinen Verteidiger hat und deshalb der Belehrung bedarf. Ich bemerke dies, obwohl das Gebot der qualifizierten Belehrung vom Bundesgerichtshof gerade für Fälle der notwendigen Verteidigung entwickelt wurde. Mit den Regelungen der §§ 202a, 212 StPO, die informelle Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung ausdrücklich zulassen, tritt das Gesetz den Bedenken entgegen, die der Bundesgerichtshof in seiner älteren Rechtsprechung gegen solche Kontakte zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht geäußert hatte.40 Im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung wird zugleich klargestellt, dass Gespräche dieser Art nicht den Vorwurf der Befangenheit rechtfertigen.41 Verboten ist allerdings die gezielte Umgehung eines Verfahrensbeteiligten. Die unfaire Nichtbeteiligung an Vorbesprechungen zur Verfahrenserledigung oder die Täuschung über die Verbindlichkeit einer unwirksamen Zusage kann die Besorgnis der Befangenheit des beteiligten Richters begründen.42 Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung43 sieht das Gesetz keinen Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf ein Rechtsgespräch vor; es räumt dem Gericht insoweit kumulativ Ermessen („kann“) und einen nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum („geeignet erscheint“) ein.44
38 Vgl. den ersichtlich an BGHSt 50, 40 anknüpfenden § 302 Abs. 1 Satz 2 i. d. F. des Entwurfs der Bundesregierung, BT-Drucks 16/12310 S. 6. 39 Kritisch auch Nehm StV 2007, 549, 552; allein der Umstand, dass der Verteidiger an der Absprache ein eigenes Interesse haben kann (vgl. etwa die Untersuchung von Schünemann NJW 1989, 1895, 1901), rechtfertigt den in der Vorschrift zum Ausdruck kommenden Generalverdacht nicht. 40 Vgl. etwa BGH NStZ 1994, 196; 1997, 561; Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2627 empfehlen, die Initiative zu Verständigungsgesprächen dem Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft zu überlassen. 41 So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 13 zum Rechtsgespräch in der Hauptverhandlung; zur Zulässigkeit von Kontakten zwischen Gericht und Verteidigung außerhalb der Hauptverhandlung vgl. BGH NStZ 2008, 172. 42 Vgl. BGH NStZ 2003, 563. 43 BGHSt 43, 212. 44 Kritisch hierzu SK-Velten § 257b Rn. 2.
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3. Eine weitere Gruppe bilden die Regelungen des neuen Gesetzes, die kein Vorbild in der Rechtsprechung finden. Dazu zählen in erster Linie die umfassenden Dokumentations- und Aufklärungspflichten der § 160b Satz 2, § 202a Satz 2 auch in Verbindung mit § 212, § 267 Abs. 3 Satz 5, § 273 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1a StPO. Der bisherigen Rechtsprechung waren keine umfassenden Pflichten zur Dokumentation von Gesprächen mit dem Ziel einer verfahrensbeendenden Absprache zu entnehmen; lediglich das Ergebnis einer Absprache in der Hauptverhandlung musste als wesentliche Förmlichkeit in das Protokoll aufgenommen werden.45 Zur Reichweite der Beweiskraft dieser Protokollvermerke lagen divergierende Entscheidungen der Strafsenate vor. Nach der überwiegenden Rechtsprechung war infolge der negativen Beweiskraft mit dem Schweigen des Protokolls bewiesen, dass eine Absprache nicht stattgefunden hatte (§ 274 StPO).46 Vereinzelt finden sich allerdings auch Entscheidungen, die in der fehlenden Protokollierung kein Hindernis für die freibeweisliche Feststellung einer (unzulässigen) Absprache in der Revisionsinstanz sahen.47 Das neue Recht führt die Streitfrage einer differenzierenden Lösung zu: Enthält das Protokoll die in § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO bezeichneten Feststellungen, so stehen Ablauf, Inhalt und Ergebnis der Verständigung fest, denn es handelt sich um wesentliche Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO. Vergleichbares gilt für das sog. Negativattest des § 274 Abs. 1a Satz 3 StPO;48 hier erstreckt sich die formelle Beweiskraft des Protokolls auf die dokumentierte Feststellung, eine Verständigung habe nicht stattgefunden.49 Schweigt die Niederschrift, enthält sie also weder die Feststellung einer Verständigung noch die Feststellung, eine Verständigung habe nicht stattgefunden, so liegt eine offensichtliche Lücke vor, die Feststellungen im Freibeweisverfahren ermöglicht bzw. gebietet.50 Die formelle Beweiskraft des Protokolls gilt nur im anhängigen Verfahren für
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Vgl. etwa BGHSt 43, 195, 206. BGH NStZ 2004, 342; 2007, 355. 47 BGHSt 45, 227, 228 (4. Strafsenat) zur unzulässigen Vereinbarung einer Punktstrafe, mit dem bemerkenswerten Argument, die Beweiskraft des Protokolls hindere die freibeweisliche Feststellung eines rechtlich unzulässigen Geschehens nicht; der 3. Strafsenat hat die Frage der absoluten Beweiskraft des Protokolls aufgeworfen, letztlich aber nicht entschieden (vgl. NStZRR 2007, 245f. zum Beweiswert eines abgesprochenen Geständnisses). 48 So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 15; Jahn/Müller NJW 2009, 2630; nunmehr BGH StV 2010, 346; Bittmann wistra 2009, 416 will hingegen nur den gescheiterten Verständigungsversuch in das Protokoll aufnehmen. 49 BGH StV 2010, 346. 50 Vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 274 Rn. 17. 46
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das Gericht höherer Instanz.51 Hinsichtlich des Nachweises von Absprachen, die in anderen Verfahren stattgefunden haben, ist deshalb zu differenzieren: Geht es um die Prüfung der Glaubhaftigkeit einer (möglicherweise) abgesprochenen Aussage, gilt das Strengbeweisverfahren; Beweisanträge sind nach § 244 Abs. 3 bis 6 StPO zu verbescheiden.52 Geht es - etwa mit Blick auf § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO - nur um die Verwertbarkeit einer Aussage, mithin um eine nur prozessual erhebliche Tatsache, so ist dies im Freibeweisverfahren, d. h. ohne Bindung an das formelle Beweisantragsrecht zu klären.53 Mit § 160b StPO, der Absprachen im Ermittlungsverfahren zum Gegenstand hat, hat der Gesetzgeber Neuland betreten. Das neue Gesetz regelt den Inhalt solcher Absprachen nicht; angesprochen wird nur die (selbstverständlich schon vorher gegebene) Möglichkeit, den Verfahrensstand zu erörtern und die (neue) Pflicht, den wesentlichen Inhalt solcher Erörterungen aktenkundig zu machen. Die Begründung des Regierungsentwurfs stellt klar, dass das Gesetz damit nicht nur rein informative Gespräche im Sinne einer Bestandsaufnahme meint, sondern dass es auch um einvernehmliche Regelungen über Fortgang und künftige Gestaltung des Ermittlungsverfahrens gehen kann; im Gesetzeswortlaut wird dies durch die Voraussetzung verdeutlicht, wonach solche Gespräche geeignet sein sollen, das Verfahren zu fördern.54 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Absprachen im Ermittlungsverfahren hält sich in überschaubaren Grenzen, weil nicht das Ermittlungsverfahren, sondern die Hauptverhandlung im Fokus der Revision steht. Zusagen der Ermittlungsbehörden wurden danach nahezu ausschließlich unter dem Blickwinkel der Verwertungsverbote, insbesondere des § 136a Abs. 3 StPO gewürdigt.55 Entscheidungen, die fehlgeschlagene Absprachen im Ermittlungsverfahren zum Gegenstand haben, sind vereinzelt geblieben; wesentliche Fragen sind noch offen. Nicht abschließend geklärt ist etwa, wie der Fall zu behandeln ist, dass die Staatsanwaltschaft an ihrer Zusage nicht mehr festhalten will, wenn der Angeklagte ein Rechtsmittel zurückgenommen hat im Vertrauen auf das Versprechen der Staatsanwaltschaft, sie werde der Einstellung eines anderen Verfahrens zustimmen: Nach einer älteren Entscheidung des 3. Strafsenats soll der Bruch der Zusage grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis führen, sondern lediglich als bestimmender und deshalb gem. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO ausdrücklich zu erörternder Umstand bei der Strafzumessung zu be51
BGHSt 26, 281, 286. BGH NStZ-RR 2007, 116. 53 BGHSt 16, 164, 166. 54 BT-Drucks. 16/12310 S. 11/12. 55 In Betracht kommt insbesondere das Versprechen gesetzlich nicht vorgesehener Vorteile, vgl. hierzu die Beispiele bei Meyer-Goßner a.a.O. § 136a Rn. 23. 52
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rücksichtigen sein.56 Weitergehend will eine neuere Entscheidung desselben Senats unter dem Blickwinkel der Verfahrensfairness ein Verfahrenshindernis nicht ausschließen, wenn eine angemessene Kompensation auf andere Weise nicht möglich ist.57 In beiden Fällen war die Zusage der Staatsanwaltschaft allerdings in eine Absprache eingebunden, die ein gerichtlich anhängiges Verfahren betraf und die unter Mitwirkung des Gerichts zustande gekommen war. Auf Zusagen der Staatsanwaltschaft, die nicht in diesem Kontext stehen, kann diese Rechtsprechung nicht ohne weiteres übertragen werden. Eine Pflicht, Vorgespräche im Ermittlungsverfahren aktenkundig zu machen (§ 160b Satz 2 StPO), wurde in der Literatur zwar erörtert,58 die Rechtsprechung hatte diese Forderung indessen bisher nicht aufgegriffen. Das Gesetz betritt deshalb auch insoweit Neuland. Die Grenzlinie zwischen Erörterungen, die zu dokumentieren sind, und zwischen bloßen Kontaktaufnahmen und Auskünften, die dessen nicht bedürfen, wird in der Praxis allerdings noch zu ziehen sein. Den Gesetzesmaterialien kann hierzu wenig entnommen werden. Der Regierungsentwurf sieht den Sinn der Regelung darin, dass Erörterungen für die Beteiligten von Gewicht sein können „besonders im Hinblick auf die dabei möglicherweise erzielten Ergebnisse und den weiteren Verfahrensablauf“ und dass die Fixierung in den Akten Streitigkeiten über das „Ob und Wie solcher Gespräche“ vorbeugen soll.59 Man wird dem entnehmen können, dass nur Erörterungen von Gewicht zu dokumentieren sind, etwa solche, die ein Ergebnis haben, das das künftige Verfahren beeinflussen kann.60 Die bloße Anfrage des sachbearbeitenden Staatsanwalts beim Verteidiger, ob mit einem Geständnis zu rechnen sei, gehört dazu nicht. Einschränkend sollten auch die Dokumentationsgebote der §§ 202a, 212 StPO ausgelegt werden. Da es nicht darum gehen kann, jeden Kontakt zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten zu formalisieren, erscheint es angezeigt, diese Vorschriften im Licht der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO auszulegen: Danach sind jedenfalls solche Gespräche in den Akten festzuhalten, die die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand haben oder dazu führen können. Darüber hinaus sollte Zurückhaltung walten: Zu weitgehende Dokumentations- und Erörterungspflichten werden von der Praxis entweder nicht ernst genommen 56 BGHSt 37, 10, 14 m. Anm. Gatzweiler NStZ 1991, 46; Weigend JR 1991, 257; Scheffler wistra 1990, 319. 57 BGH NStZ 2008, 416. 58 Vgl. etwa Meyer-Goßner a.a.O. Rn. 18 vor § 213. 59 Vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 11. 60 Vgl. Bittmann wistra 2009, 414; Meyer-Goßner EH § 160b Rn. 8; Schlothauer in Niemöller/Schlothauer/Weider Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren § 160b Rn. 23f., § 202a Rn. 21.
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oder als lästig empfunden. Sie können ein Hindernis für den von Gesetzgeber gewünschten offenen Verhandlungsstil61 bilden. Ferner kann die Bekanntgabe gescheiterter Gespräche zu Spekulationen in der Öffentlichkeit führen; der Angeklagte kann einen nachhaltigen Imageverlust erleiden.62 Neuland betritt das Gesetz schließlich mit der Pflicht, die Verständigung in den Gründen des Urteils festzuhalten (§ 267 Abs. 3 Satz 5 StPO). Der Hinweis stellt die erforderliche Transparenz her und kann bei der Gewichtung des Beweiswerts der Urteilsgründe hilfreich sein. Über das Strafverfahren hinaus gilt das vor allem im Disziplinar- und im berufsgerichtlichen Verfahren, so etwa bei der Frage, ob die für einen Lösungsbeschluss (§ 57 Abs. 1 Satz 2 BDG; § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO § 118 Abs. 3 Satz 2 BRAO; § 109 Abs. 3 Satz 2 StBerG) erforderlichen Zweifel oder Bedenken gegen strafgerichtliche Feststellungen begründbar sind.63 Formelle Beweiskraft hat der Hinweis in den Urteilsgründen nicht; der Inhalt des Protokolls geht vor.64 Der Vermerk dient nicht der verfahrensinternen Überprüfung der Beweiswürdigung in der Revisionsinstanz. Er ist deshalb auch bei unmittelbarer Rechtskraft der Entscheidung in das abgekürzte Urteil aufzunehmen (§ 267 Abs. 4 Satz 2 StPO). Fehlt der Hinweis, macht das die Beweiswürdigung nicht lückenhaft und bereits deshalb angreifbar; für die Revision ist ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht folgenlos. Die Pflicht, den Angeklagten über Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von der Verständigung zu belehren (§ 257c Abs. 5 StPO), sollte nach der ursprünglichen Konzeption des Referentenentwurfs den Angeklagten vor den dort noch wesentlich gewichtigeren Risiken der Urteilsabsprache warnen. Der Entwurf sah nämlich vor, dass die Verwertung des abgesprochenen Geständnisses des Angeklagten auch im Falle des Scheiterns der Absprache nicht „grundsätzlich“ ausgeschlossen sein sollte.65 Unterblieb die Belehrung, sollte dies dazu führen, dass das Geständnis des Angeklagten nur mit dessen Einverständnis verwertet werden konnte (§ 257c Abs. 5 Satz 2 StPO in der Fassung des Referentenentwurfs). Demgegenüber enthält der insoweit Gesetz gewordene Regierungsentwurf ein Verwertungsverbot für das abgesprochene Geständnis, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO), und zwar unabhängig davon, ob der Angeklagte belehrt wurde oder nicht. Dadurch hat die Vorschrift die ihre ursprünglich beigelegte Bedeutung verloren. Der Verstoß gegen die Belehrungspflicht ist nunmehr folgenlos: Löst 61
BT-Drucks. 16/12310 S. 12. Bittmann aaO S. 414; Fischer StraFo 2009, 177, 186. 63 Vgl. BVerwG Urt. v. 14.3.2007 - 2 WD 3/06 zit. nach juris. 64 Vgl. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO § 267 Rn. 10 (S. 129). 65 § 257c Abs.4 Satz 2 StPO-RefE; ähnlich § 243 Abs. 6 Satz 3 StPO i. d. F. des Bundesratsentwurfs, BT-Drucks. 16/4197. 62
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sich das Gericht von der Verständigung, ist das Geständnis des Angeklagten schon von Gesetzes wegen nicht verwertbar; auf die Belehrung kommt es nicht an. Ergeht hingegen ein vereinbarungskonformes Urteil, hat sich die Gefahr, vor der der Hinweis warnen sollte, nicht verwirklicht. Die rein abstrakte Möglichkeit, dass sich der Angeklagte nicht geäußert hätte, wenn er - grundlos - den Widerruf der Verständigung befürchtet hätte, liegt außerhalb des Schutzbereichs der Norm; ein Verwertungsverbot kommt in diesem Fall nicht in Betracht. 66
4. Daneben stehen Fallgestaltungen, die in der Rechtsprechung eine Rolle gespielt haben, die aber vom Gesetz nicht oder nur rudimentär geregelt werden.
a. Dies gilt zunächst für den Inhalt möglicher Verständigungen. § 257c Abs. 2 StPO regelt die Leistungen, die zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden können, nur bruchstückhaft und stellenweise unklar. Für das Gericht wird der der Verständigung zugängliche Verfahrensstoff durch die angeklagte Tat eingegrenzt, die im Sinne des § 264 StPO Gegenstand der Urteilsfindung ist (§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO), denn nur sie unterliegt der Kognition und der Verfügungsbefugnis des Tatrichters. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung sind Zusagen, die über diesen Bereich hinausweisen, nicht zulässig.67 Nach der Begründung des Regierungsentwurfs sind daneben Zusagen der Staatsanwaltschaft möglich, für die dieser Grundsatz nicht gelten soll.68 Gesetzlich geregelt wird die Einbindung solcher Zusagen in die Verständigung allerdings nicht. Seitens des Gerichts beschränkt sich der Katalog möglicher Zusagen auf die Rechtsfolgen, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können und auf sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren (§ 257c Abs. 2 Satz 1). Unzulässig sind danach Zusagen, die das Vollstreckungsverfahren betreffen;69 auch das entspricht der bisherigen Rechtsprechung.70 Eine weitere, grundlegende Einschränkung ergibt sich daraus, dass das Gesetz die Verständigung nicht 66 A. A. Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider a.a.O. S. 183, der den einfachen Kausalzusammenhang zwischen Belehrungsmangel und Aussage genügen lässt. 67 BGH NStZ 2000, 495; RegE BT-Drucks. 16/12310 S. 13. 68 BT-Drucks. 16/12310 S. 13; Schlothauer/Weider, StV 2009, 600, 601. 69 So ausdrücklich § 243a Abs. 2 StPO i. d. F. d. Entwurfs des Bundesrats BT-Drucks. 16/4197. 70 BGH StV 2000, 542.
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mit einer weiterreichenden Bindungswirkung ausstattet und zugleich die unbeschränkte Nachprüfung in den Rechtsmittelinstanzen vorsieht. Die „Verhandlungsmasse“, die das Gericht einbringen kann, beschränkt sich deshalb auf Bereiche, in denen ihm ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Bereits daraus ergibt sich, dass der Schuldspruch und die meisten Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Gegenstand der Verständigung sein können. § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO, der dies ausdrücklich ausspricht, hat deshalb (weitgehend)71 plakativen Charakter; ersichtlich wollte der Gesetzgeber die bereits erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs72 festschreiben. Vom Bundesgerichtshof bisher nicht entschieden, durch das neue Recht aber nicht ausdrücklich verboten und deshalb wohl zulässig sind Absprachen über die Strafaussetzung zur Bewährung73 und über die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld i. S. d. § 57 a StGB.74 Die den Gerichten insoweit eingeräumten Beurteilungs- bzw. Ermessensspielräume lassen Verständigungen als möglich erscheinen. In Betracht kommt ferner etwa die Zusage einer dem Angeklagten günstigen Anrechnungsentscheidung gem. § 51 StGB.75 Eine Verständigung wird auch über Verfall und Einziehung möglich sein. Der Verfall ist im StGB zwar als zwingende Rechtsfolge ausgestaltet; er kann aber nach Maßgabe der § 430 Abs. 1, § 442 Abs. 1 StPO aus dem Verfahren ausgeschieden werden und ist schon deshalb „verhandelbar“. Gleiches dürfte für Nebenstrafen gelten, etwa für das Fahrverbot (§ 44 StGB). Nicht verhandelbar sind hingegen die zwingenden Rechtsfolgen der Verurteilung, etwa der Verlust der Amtsfähigkeit (§ 45 Abs. 1 StGB). Kein Ermessen ist dem Gericht bei der Entscheidung eingeräumt, ob auf einen Heranwachsenden Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht Anwendung findet (§ 105 JGG). Das in der Rechtsprechung entwickelte Verbot der Vereinbarung von Jugendstrafrecht76 gilt deshalb fort. Nicht ausgeschlossen ist hingegen eine Verständigung über die Höhe der Jugendstrafe.77 Zur Disposition des Gerichts (mit Zustimmung der ohnedies zu beteiligenden Staatsanwaltschaft) stehen ferner Teileinstellungen und Beschränkungen der Strafverfolgung nach Maßgabe der § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO in Bezug auf die angeklagten Taten. Es handelt sich um „verfahrensbezogene Maßnahmen des Erkenntnisverfahrens“ im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO, die Gegenstand 71 Auf die Ausnahme der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§64 StGB) wurde bereits oben hingewiesen. 72 BGHSt 43, 195; 50, 40. 73 Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 12; BRAK-Entwurf, ZRP 2005, 239. 74 Jahn/Kett-Straub StV 2010, 271ff. 75 BRAK-Entwurf ZRP 2005, 239. 76 BGH NStZ 2001, 555. 77 BGH StV 2005, 489; Bedenken noch in NStZ 2001, 555.
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einer Verständigung sein können.78 Die damit verbundene Beschränkung des Prozessstoffes kann zwar den Schuldspruch berühren; dieser nur mittelbare Einfluss macht den Schuldspruch aber nicht zum „Gegenstand“ der Verständigung.79 Über welche sonstigen Maßnahmen sich die Verfahrensbeteiligten verständigen können ist unklar;80 Beweiserhebungen dürften jedenfalls in nur sehr eingeschränktem Maße in Betracht kommen, weil das Gericht einerseits durch die nach § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO „unberührt“ bleibende Aufklärungspflicht gebunden ist, andererseits aber auch keine „unnötigen“ Beweise erheben darf. Als Leistung des Angeklagten kommt in erster Linie ein Geständnis in Betracht. Für die bisherige Rechtsprechung war ein zuverlässiges und konkretes Geständnis regelmäßige Voraussetzung einer Verständigung;81 ausweislich des Regierungsentwurfs will das Gesetz daran festhalten.82 Ein bloßes Formalgeständnis oder etwa die Angabe, den Anklagevorwurf nicht bestreiten zu wollen, reicht nicht aus:83 Bei unklarer Beweislage ist solches nicht geeignet eine Verurteilung zu tragen, bei klarer Beweislage trägt es die Zusage einer Strafmilderung nicht.84 Dem Geständnis gleich steht indessen die Beschränkung einer Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch85 oder die Rücknahme des eigenen Rechtsmittels, wenn die Staatsanwaltschaft eine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung eingelegt hat, weil der Angeklagte hierdurch den Schuldspruch prozessual wirksam außer Streit stellt. Als sonstige Leistungen, die der Angeklagte einbringen kann, werden bisweilen die Wiedergutmachung des Schadens oder das Bemühen um einen Täter-Opfer-Ausgleich genannt.86 Insoweit ist aber in den Blick zu nehmen, dass Ausgleichsleistungen ohne Geständnis nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringeres strafmilderndes Gewicht haben 78
BT-Drucks. 16/12310 S. 13. Schlothauer/Weider StV 2009, 600, 602; vgl. auch § 243a Abs. 2 Satz 3 StPO i. d. F. des Entwurfs des Bundesrats, BT-Drucks. 16/4197. 80 Kritisch Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 13. 81 Vgl. BGHSt 50, 40, 49 „in der Regel“; weitergehend Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 16f. „Ausgangs- und Angelpunkt jeder Absprache“; ebenso: Bittmann aaO S. 415; Nr. 10 der GStA-Eckpunkte „conditio sine qua non“; vgl. auch § 243a Abs. 3 StPO in der Fassung des Entwurfs des Bundesrats, BT-Drucks. 16/4197; Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf § 257c Abs. 2 Satz 2; BT-Drucks 16/12310 S. 18. 82 BT-Drucks. 16/12310 S. 14 unter Bezugnahme auf BGH NJW 2005, 1440, 1442 und NStZ-RR 06, 187; weitergehend der Entwurf des Bundesrats, der in § 243a Abs. 3 StPO-E stets die Erwartung eines Geständnisses voraussetzte. 83 Vgl. Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2629; a. A. Schlothauer/Weider StV 2009, 600, 602. 84 Zur strafmildernden Wirkung eines abgesprochenen Geständnisses vgl. Niemöller GA 2009, 172, 178; Fischer StraFo 2009, 177, 181f. 85 Vgl. LG Freiburg, Urt. v. 18.01.2010 - 7 Ns 610 Js 13070/09. 86 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO. § 257c Rn. 97ff.; KMR - v. HeintschelHeinegg § 257c Rn. 30; § 243a Abs. 1 Nr. 2,3 StPO i. d. F. d. BRAK Entwurfs ZRP 2005, 239. 79
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und in der Regel die Annahme eines Täter/Opfer-Ausgleichs nicht begründen können.87 Diese Wertung darf nicht durch die Gewährung eines großzügigen Strafnachlasses im Rahmen einer Verständigung unterlaufen werden. Zulässig ist das Einverständnis mit der formlosen Einziehung von Gegenständen.88 Möglicherweise im Gegensatz zu der - in diesem Punkt allerdings sehr unklaren - Begründung des Regierungsentwurfs dürften Beweisanträge zur Schuldfrage nicht als „Verhandlungsmasse“ in Betracht kommen.89 Der Bundesgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung von der Unzulässigkeit von Beweisanträgen aus, deren Thema sich auf den Schuldspruch bezieht, die aber unter die Bedingung einer bestimmten Rechtsfolge gestellt werden: Das Beweisbegehren sei nicht ernst gemeint, sondern diene lediglich als Druckmittel.90 Entsprechendes ist einem Beweisantrag entgegenzuhalten, der sich auf die Schuldfrage bezieht, den der Angekl. aber gegen eine Strafmilderung für verhandelbar erachtet. Auch hier wird ein inkonnexes Ziel verfolgt, das zur Unzulässigkeit des Antrags führt. Denkbar ist hingegen die Zusage eines anderen, das Verfahren abkürzenden Prozessverhaltens, so etwa des Einverständnisses mit der Verlesung von Urkunden oder der Zurücknahme eines Widerspruchs gegen die Verwertung von möglicherweise rechtswidrig erlangten Beweisen.91 Weiterhin gültig ist die Rechtsprechung, wonach ein vollständiger Verzicht auf Verteidigung nicht zulässig ist. Die Zusage des Angeklagten, er werde alle aus Sicht des Gerichts zur beschleunigten Beendigung der Hauptverhandlung erforderlichen Erklärungen abgeben, kann deshalb nicht Gegenstand einer Verständigung sein.92 Im Anschluss an die Rechtsprechung, wonach das dem Angeklagten angesonnene Verhalten mit der angeklagten Tat oder dem Gang der Hauptverhandlung im Zusammenhang stehen muss,93 wurde bisweilen angenommen, dass die Hilfe bei der Aufklärung von Straftaten dritter Personen nicht Gegenstand einer Verständigung sein könne.94 Ich möchte dies bezweifeln, weil der notwendige Konnex zwischen der Strafzumessung für die angeklagte Tat und dem Aufklärungsbeitrag nun-
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Vgl. BGHSt 48, 134 aber auch StV 2008, 464. KMR - v. Heintschel-Heinegg § 257c Rn. 27; Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 10; zur formlosen Einziehung BGHSt 20, 253; kritisch Hüls/Reichling StraFo 2009, 198, 199. 89 Vgl. BT-Drucks 16/12310 S. 13; ablehnend die Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf BT-Drucks 16/12310 S. 18 unter Bezug auf Meyer-Goßner StV 2006, 285, 287; vgl. auch Beulke/Swoboda JZ 2005, 72. 90 BGHSt 40, 287, 290. 91 Vgl. Beulke/Swoboda JZ 2005, 67, 71. 92 BGH NStZ 2006, 586; RegE BT-Drucks. 16/12310 S. 13. 93 BGHSt 49, 84. 94 Vgl. Weider NStZ 2004, 339, 340. 88
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mehr durch die Kronzeugenregelungen des materiellen Rechts (§ 46b StGB, § 31 BtMG) hergestellt wird. Über Zusagen der Staatsanwaltschaft sagt das Gesetz nichts. Sie sind jedenfalls insoweit möglich, als sie sich auf Mitwirkungsakte richten, die erforderlich sind, um gerichtliche Zusagen im Rahmen einer Verständigung zu erfüllen - zu denken ist etwa an die Zustimmung zu Teileinstellungen bzw. zur Beschränkung der Strafverfolgung nach Maßgabe der § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2 StPO in Bezug auf die angeklagten Taten. Der Regierungsentwurf geht ferner davon aus, dass auch Zusagen der Staatsanwaltschaft zur Sachbehandlung in anderen Verfahren möglich sein sollen, obwohl sich diese weder auf das der Anklage zugrunde liegende Erkenntnisverfahren beziehen noch Gegenstand des Urteils oder der dazu gehörigen Beschlüsse sein können. Bindende Wirkung soll solchen Zusagen der Staatsanwaltschaft allerdings nicht zukommen. 95 Nach der bereits erwähnten Rechtsprechung insbesondere des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ist ein Abweichen der Staatsanwaltschaft von der Zusage, ein anderes Verfahren einzustellen, gleichwohl nicht folgenlos: Hat das Gericht die Staatsanwaltschaft in eine solche Verfahrensabsprache eingebunden und hält die Staatsanwaltschaft unter Verstoß gegen die Verfahrensfairness ihre Zusage nicht ein, so ist der Angeklagte nach Möglichkeit so zu stellen, als ob die Vereinbarung durchgeführt worden wäre.96
b. Verständigungen kommen durch gegenseitiges Nachgeben zustande; wie letztlich alle vertragsähnlichen Vereinbarungen sind sie das Ergebnis wechselseitigen Drucks und Gegendrucks. Über Maß und Gegenstand des zulässigen Drucks trifft das Gesetz allenfalls rudimentäre Regelungen. Nach wie vor von erheblicher Bedeutung ist deshalb die Rechtsprechung zu den Mitteln, die bei den der Verständigung vorausgehenden Verhandlungen eingesetzt werden dürfen. (1) Absprachen „sollen“ auf ein Geständnis abzielen (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO); unter diesem Blickwinkel bereiten sie die Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor. Dass sich das Gericht bei der Herbeiführung des Geständnisses nicht der Mittel bedienen darf, die den Strafverfolgungsbehörden durch § 136a StPO untersagt sind, sollte selbstverständlich sein. Es ist deshalb verboten, mit verfahrensrechtlich unzulässigen Methoden zu drohen oder gesetzlich nicht vorgesehene Vortei95 BT-Drucks. 16/12310 S. 13; weitergehend wohl § 243a Abs. 2 Satz 3 des Entwurfs des Bundesrats. 96 Vgl. oben II 3
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le in Aussicht zu stellen. Die zu diesem Komplex ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, etwa zur Inaussichtstellung der Aufhebung eines Haftbefehls für den Fall eines Geständnisses oder - was letztlich dasselbe bedeutet - die Androhung der Aufrechterhaltung für den Fall unkooperativen Verhaltens,97 ist deshalb nach wie vor verbindlich. (2) Die thematische Beschränkung der möglichen Gegenstände einer Verständigung auf das anhängige Erkenntnisverfahren (§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO) soll auch verdeutlichen, dass Leistung und Gegenleistung „konnex“ sein müssen.98 Dem Angeklagten darf kein Verhalten abgenötigt werden, das nicht im Zusammenhang mit der angeklagten Tat steht, so etwa die Nachzahlung von Steuern, die eine andere Vorverurteilung betreffen. Auf der anderen Seite darf das Gericht keine Zusagen machen, die über das anhängige Erkenntnisverfahren hinausgehen, so etwa hinsichtlich der Strafvollstreckung. Auch dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung.99 Ein zum Urteil gehöriger Beschluss im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO ist etwa die Entscheidung über Bewährungsauflagen und Weisungen (§ 268a StPO). Der Bewährungsbeschluss kann deshalb Gegenstand einer Verständigung sein, mit der Folge, dass die Strafaussetzung von der Bereitschaft zur Erfüllung von Auflagen abhängig gemacht werden kann. Der Schluss, dass damit auch all das zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden könnte, was als Auflage oder als Weisung in Betracht kommt, wäre hingegen verfehlt. Insoweit gilt weiterhin, dass das dem Angeklagten angesonnene Verhalten einem Zweck dienen muss, der in einem inneren Zusammenhang mit der angeklagten Tat und dem Gang der Hauptverhandlung steht. Die Verständigung über eine Geldauflage zugunsten der Staatskasse im Fall einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe, ist danach zulässig; unzulässig, weil dem Konnexitätsgebot zuwiderlaufend wäre es hingegen, die Höhe einer nicht aussetzungsfähigen Strafe von einer solchen Zahlung abhängig machen zu wollen.
97 Statthaft ist etwa die Zusage der Haftentlassung, wenn als Haftgrund Verdunkelungsgefahr angenommen wurde, die durch das Geständnis ausgeräumt werden kann, vgl. BGH MDR 52, 532, nicht zulässig hingegen bei Fluchtgefahr, vgl. BGHSt 20, 268; ähnlich BGH StV 2004, 360 betr. die Nötigung zum Rechtsmittelverzicht. Vgl. auch die Begründung des BRAK Entwurfs, ZRP 2005, 239. 98 So der RegE, BT-Drucks. 16/12310 S. 13, der etwa die Schadenswiedergutmachung „selbstverständlich“ auf das gegenständliche verfahren bezogen wissen will. 99 BGH NStZ 2004, 338 m. Anm. Weider zur Begleichung einer Steuerschuld; StV 2000, 542 zu Zusagen betreffend die Strafvollstreckung; dass unzulässige Zusagen unter dem Blickwinkel der Verfahrensfairness Bindungswirkung entfalten können wurde bereits oben dargelegt, vgl. auch BGH NStZ 1995, 556.
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(3) Die so genannte Sanktionsschere besteht in der Gegenüberstellung der jeweiligen Straferwartungen für die Fälle der Geständnisbereitschaft einerseits und der Nichtkooperation andererseits. Wird dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine schuldunangemessen niedrige Strafe in Aussicht gestellt oder wird ihm deutlich gemacht, dass er sich der Gefahr einer überhöhten Bestrafung aussetzt, wenn er auf das gerichtliche Angebot einer Verständigung nicht eingeht, handelt es sich um Anwendungsfälle des § 136a Abs. 1 StPO.100 Die Drohung mit einer übersetzten, nicht mehr schuldangemessenen Strafe zur Herbeiführung eines Geständnisses kann darüber hinaus den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllen.101 Darin erschöpfen sich die unter dem Begriff der Sanktionsschere erfassten Fälle unzulässigen Drucks nicht. Die Feststellung eines Verstoßes gegen § 136a StPO durch die Androhung einer übersetzten oder durch das Versprechen einer schuldunangemessen geringen Sanktion erweist sich in der Praxis als schwierig. Sie stößt auf das Problem, dass die Trennlinie zwischen noch schuldangemessener und nicht mehr hinnehmbarer Rechtsfolge im nur sehr eingeschränkt kontrollierbaren Bereich der Strafzumessung zu verschwimmen droht. Einigkeit besteht ferner darüber, dass die Zulässigkeit nicht nur davon abhängen kann, ob gerade noch vertretbare Strafen in Aussicht gestellt werden oder ob diese Grenze überschritten ist. Auch innerhalb dieser Grenzen kann das Maß zulässigen Drucks überschritten sein, nämlich dann, wenn das Verhältnis von Zuckerbrot und Peitsche nicht stimmt, oder - um beim Bild zu bleiben - wenn die Schere zu weit geöffnet ist. Eine allgemein verbindliche Festlegung, um welchen Prozentsatz die ohne Geständnis zu erwartende Strafe über der für den Fall der Verständigung in Aussicht gestellten Sanktionsobergrenze liegen darf, hat die Rechtsprechung allerdings bisher nicht getroffen. Dies dürfte auch künftig nicht zu erwarten sein, weil der Beitrag des Angeklagten - wie Geständnisse im Allgemeinen - durchaus unterschiedliches Gewicht aufweisen kann. Er hängt zum einen von innerprozessualen Umständen ab, etwa von der Beweislage, von der zu erwartenden Verfahrensbeschleunigung oder von Fragen des Opferschutzes; zum anderen können auch Gesichtspunkte ins Gewicht fallen, die über das Verfahren hinausweisen, etwa wenn ein Kronzeugenbeitrag zu erwarten ist oder wenn der Aufklärungsbeitrag die Solidarität organisierter Krimineller aufbrechen 100
Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. § 136a Rn. 21, 23; Rn. 16 vor § 213. Vgl. Schlothauer Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO Teil D Rn. 42,43; weitergehend Salditt, StraFo 2003, 98f., der bereits in der Inaussichtstellung einer an sich angemessenen Strafe eine Drohung mit einem empfindlichen Übel sieht. Unabhängig von der strafrechtlichen Würdigung ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch das Versprechen einer schuldunangemessen niedrigen Strafe die Freiheit der Willensentschließung und die Fairness des Verfahrens beeinträchtigen kann, vgl. BGH StV 2003, 637. 101
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soll. Im Sinne einer Faustregel kann indessen davon ausgegangen werden, dass die Strafe ohne Geständnis in der Regel nicht mehr als ein zusätzliches Drittel über der nach einem Geständnis zu verhängenden Strafe liegen darf;102 mehr trägt die strafmildernde Wirkung jedenfalls eines „einfachen“ Geständnisses nicht. Die Rechtsprechung ist nicht immer einheitlich: Der Bundesgerichtshof hat ein Sanktionsspektrum zwischen 2 Jahren Freiheitsstrafe mit Bewährung für den Fall einer Absprache und einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren für den Fall fehlender Kooperation als ein nicht durch Strafzumessungsgesichtspunkte erklärbares unzulässiges Druckmittel beanstandet.103 Nicht beanstandet wurde die Differenz zwischen 4 Jahren und 6 Monaten für den Fall der Verständigung und „deutlich über 7 Jahren“ für den Fall der Nicht-Kooperation, weil beide Sanktionen im Ergebnis schuldangemessen waren; unzulässiger Zwang iSd § 136a StPO oder ein Verstoß gegen das Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK wurden verneint.104 Ferner wurde die Verwertung eines Geständnisses, das nach der Zusage, die Strafe auf die Hälfte zu reduzieren, abgelegt worden war, für zulässig erachtet.105 Unzulässiger Druck im Vorfeld einer Absprache war in der Praxis bislang schwer nachweisbar, weil das Interesse an der Aufdeckung für die Verfahrensbeteiligten gering war und Vorgespräche nicht protokolliert werden mussten. Bezeichnender Weise liegen der Rechtsprechung zur Sanktionsschere überwiegend Fälle zu Grunde, in denen eine Verständigung gescheitert war; zu beurteilen war die Differenz zwischen der angebotenen und der letztlich ausgeurteilten Strafe. Ob die Erweiterung der Protokollierungspflichten durch das neue Gesetz mehr Sicherheit bringen wird, mag bezweifelt werden. Zwar schreibt § 273 Abs. 1 Satz 2 StPO nunmehr vor, dass Erörterungen über den Stand des Verfahrens im Sinne des § 257b StPO nach ihrem wesentlichen Ablauf und Inhalt in das Protokoll aufzunehmen sind; dazu gehört auch die Vorbereitung einer Verständigung.106 Die Vorschrift betrifft aber nur Erörterungen, die in der Hauptverhandlung stattgefunden haben. Die nach Maßgabe des neuen § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO ebenfalls zu protokollierende Bekanntgabe von verfahrensbezogenen Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 4 iVm § 202a, § 212 StPO) bezieht sich zwar auch auf die Mitteilung, dass keine Erörterungen
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Meyer-Goßner EH § 257c Rn 19; zustimmend Bittmann wistra 2009, 415. BGH StV 2004, 270. 104 BGH NStZ 2007, 656. 105 BGH NStZ 1997, 561. 106 Die Erwägung es handle sich um eine überflüssige Belastung des Protokolls (MeyerGoßner EH § 273 Rn. 2), dürfte in dieser Allgemeinheit nicht zutreffen. 103
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stattgefunden haben107 und ist deshalb umfassend. Inhalt und Umfang der Mitteilung hängen indessen letztlich von der Einschätzung des Vorsitzenden ab, was als wesentlicher Inhalt der Erörterung mitzuteilen und festzuhalten ist. Die Beweiskraft des Protokolls erstreckt sich nur auf das Ob und Wie der Mitteilung, nicht auf deren Wahrheit und Vollständigkeit. Ob die Vorschrift für mehr Transparenz sorgen wird, hängt danach wohl hauptsächlich vom guten Willen der Beteiligten ab.108 Entsprechendes gilt für die praktisch nicht überprüfbare Pflicht, Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung aktenkundig zu machen (§§ 160a, 202a, 212 StPO). (4) Dass der Angeklagte durch sein Prozessverhalten Druck auf andere Verfahrensbeteiligte ausüben kann, steht außer Zweifel.109 Der neue § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO scheint dies zu legitimieren, indem er das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten als möglichen Gegenstand einer Verständigung bezeichnet. Der zunächst nahe liegende Schluss, der Angeklagte könne sich durch die Androhung konfrontativer Verteidigungsstrategien ohne weiteres einen Strafrabatt einhandeln, täuscht indessen. Dies gilt nicht nur für dysfunktionales Verteidigungsverhalten im engeren Sinne, das schon per se unter dem Blickwinkel des Missbrauchs von Verfahrensrechten unzulässig wäre und das bereits deshalb nicht angedroht werden darf. Darüber hinaus kann vielmehr auch ein an sich zulässiges Verteidigungsverhalten dadurch unzulässig werden, dass es vom Angeklagten als Verhandlungsmasse in eine Absprache eingebracht wird. Auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Unzulässigkeit von Beweisanträgen, die an die Bedingung eines bestimmten Rechtsfolgenausspruchs geknüpft sind, nach ihrer Thematik aber zum Schuldspruch gehören,110 wurde bereits hingewiesen. Sie beruht auf dem Vorwurf mangelnder Ernstlichkeit, die gerade dadurch zu Tage treten soll, dass der Antragsteller bereit ist, sich den Antrag im Rahmen eines „deals“ abhandeln zu lassen. Dass vergleichbare Einwände auch anderen Formen prozessualen Verhaltens entgegengehalten werden können, 107 § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO wurde im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat so verstanden, dass auch ein Negativattest erforderlich sei (so die Gegenäußerung BT-Drucks. 16/12310 S. 18). Die Bundesregierung ist diesem Verständnis nicht entgegengetreten, sie hat vielmehr eine Prüfung zugesagt. Der Wortlaut der Vorschrift wurde daraufhin nicht geändert. 108 Die Revision begründet eine Verletzung der Mitteilungspflicht nur dann, wenn Gespräche mit dem Ziel einer Verständigung verschwiegen oder unrichtig dargestellt wurden (aA mglw. Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO Teil C Rdn. 39). Hat der Vorsitzende jegliche Mitteilung unterlassen, kann der Verfahrensverstoß nur dann beanstandet werden, wenn der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO erfolglos geblieben ist. 109 Die sog. Münsteraner Thesen der Großen Strafrechtskommission des DRiB (abgedruckt bei Kintzi JR 1990, 310) sehen darin sogar eine der Hauptursachen für Verständigungspraktiken. 110 BGHSt 40, 287,290.
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liegt auf der Hand. Zu denken ist etwa an das Angebot, einen Befangenheitsantrag zurückzunehmen, weil schon das Angebot, mit dem abgelehnten Richter eine Verständigung abzuschließen, mit einer fortbestehenden Besorgnis der Befangenheit nicht vereinbar ist. Obstruktionsmaterial, das in eine Absprache eingebracht werden soll, unterliegt damit einem gewissen Verschleiß.
5. Die in der Rechtsprechung breiten Raum einnehmenden Folgen fehlerhafter oder gescheiterter Absprachen werden im Gesetz allenfalls bruchstückhaft geregelt. Mit Ausnahme des erst auf Initiative des Rechtsausschusses in das Gesetz aufgenommene Verwertungsverbots für das Geständnis des Angeklagten im Falle des Wegfalls der Bindung des Gerichts an die Verständigung (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO), verhält sich die Neuregelung zu diesem Themenkreis nicht; ein weiter gehendes Recht der Leistungsstörungen hat der Gesetzgeber nicht geschaffen. Deshalb wird weiterhin auf die Ergebnisse der bisherigen Rechtsprechung zurückzugreifen sein, soweit diese durch das neue Recht nicht überholt sind. Überholt ist etwa die frühere Rechtsprechung, wonach das im Rahmen einer Absprache abgelegte Geständnis auch dann verwertet werden konnte (und musste), wenn das Gericht aus Rechtsgründen gehindert war, seine Leistung zu erbringen. Der in der rechtlich unzulässigen Zusage liegende Fairnessverstoß war bei der Strafzumessung auszugleichen.111 Nunmehr regeln § 257c Abs. 4 Satz 1 und 3 StPO diesen Fall in dem Sinne, dass einerseits die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt, andererseits das Geständnis des Angeklagten nicht verwertet werden kann. Für eine weitergehende Kompensation ist in diesem Fall der gesetzlich geregelten Störung des Austauschverhältnisses kein Raum; ein solcher Ausgleich ist nur noch dann erforderlich, wenn der Angeklagte eine Leistung erbracht hat, die nicht mehr zurück gewährt oder neutralisiert werden kann.
a. Nach der insoweit einheitlichen Rechtsprechung aller Strafsenate begründen nur vorbereitende Gespräche keinen Vertrauenstatbestand, aus dem ein Verfahrensbeteiligter verbindliche Zusagen ableiten könnte. 111 BGH StV 2004, 471: Der Tatrichter hatte im Rahmen einer Verständigung die - rechtlich unzulässige - Einbeziehung einer anderweit erkannten Strafe in eine Gesamtstrafe zugesagt und den Angeklagten nach der Erteilung eins rechtlichen Hinweises ohne Einbeziehung zu einer Gesamtstrafe in der in Aussicht gestellten Höhe verurteilt. Entsprechend der damaligen Rechtslage hat der BGH die Höhe der erkannten Gesamtstrafe, nicht aber die Verwertung des absprachegemäß erkannten Geständnisses beanstandet.
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Das versteht sich von selbst bei Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung, die erkennbar ohne Ergebnis geblieben sind, etwa weil die Strafkammer hierüber noch nicht abschließend beraten hatte. Das gilt auch dann, wenn an dem Gespräch die gesamte Strafkammer und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft teilgenommen hatten.112 An Vorstellungen über das Strafmaß, die der Vorsitzende während einer solchen Besprechung geäußert hatte, muss sich das Gericht nicht festhalten lassen. Einem verteidigten Angeklagten muss solches bewusst sein; ein rechtlicher Hinweis auf die Unverbindlichkeit solcher Gespräche ist deshalb nicht geboten. Hat der Angeklagte ein Angebot des Gerichts abgelehnt und ist aus diesem Grund eine Verständigung nicht zustande gekommen, so begründet das (erloschene) Angebot keinen Vertrauenstatbestand. Das Gericht muss sich daran nicht festhalten lassen, auch wenn sich der Angeklagte anders besinnt und doch noch das Geständnis ablegt, zu dem er sich zuvor nicht bereit finden konnte.113 Insbesondere ist das Gericht nicht verpflichtet, den Angeklagten vor der Entgegennahme des Geständnisses darauf hinzuweisen, dass das ursprüngliche Angebot keine Geltung mehr hat. Ergebnislose Gespräche haben danach keine „Orientierungsfunktion“. Solange es an einer verbindlichen Absprache fehlt, verstößt das Gericht nicht gegen den Fair-TrialGrundsatz, wenn es die Strafe nicht nach den Vorstellungen bemisst, die bei den vorbereitenden Besprechungen geäußert wurden. Darüber hinaus geht der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch Zuständigkeitsmängel zur Unverbindlichkeit einer Zusicherung führen können. Aus einem Gespräch (nur) mit dem Vorsitzenden der Strafkammer kann keine verbindliche Zusage über die Strafhöhe abgeleitet werden.114 Ferner begründet die Zusage einer Strafobergrenze, die das Gericht gegen den Widerspruch oder ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft abgibt, kein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten.115 Der Grundsatz der Verfahrensfairness kann die fehlende Kompetenz des Zusagenden nicht in dem Sinne ausgleichen, dass der Angeklagte letztlich so gestellt wird, als habe der Zusagende im Rahmen seiner Zuständigkeit gehandelt. Da kein Fall des Abweichens des Gerichts von einer bindenden Verständigung vorliegt, greift das Verwertungsverbot des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO nicht ein. Eine weitere Fallgruppe bilden offensichtliche Mängel betreffend die Form der Verständigung. So begründen Gespräche über eine verfahrensbeendende Absprache, die außerhalb der Hauptverhandlung geführt werden, 112
BGH, Beschl. v. 20.10.2006 - 1 StR 487/06 zit. nach juris. BGH, Urt. v. 16.12.2004 - 1 StR 420/03, insoweit in BGHSt 49, 381 nicht abgedruckt. 114 BGH Beschl. v. 20.10.2006 - 1 StR 487/06 zit. nach juris. 115 BGH NStZ 2003, 563. 113
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keinen Vertrauenstatbestand, der nur durch einen förmlichen Hinweis wieder zu beseitigen wäre.116 Als vertrauensbegründend im Sinne des FairTrial-Prinzips wurden ferner nur solche Absprachen oder Zusicherungen bewertet, die als wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens zu protokollieren waren und protokolliert wurden.117 Das gilt jedenfalls bei verteidigten Angeklagten: Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass sich der Angeklagte und sein Verteidiger in Zweifelsfällen durch die Anrufung des Gerichts (§ 238 Abs. 2 StPO) Klarheit über Bestand und Reichweite einer Zusage verschaffen können.118 Wird dieser Zwischenrechtsbehelf versäumt, scheitert die gleichwohl eingelegte Verfassungsbeschwerde am Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
b. § 257c Abs. 4 StPO betrifft das Scheitern von Verständigungen. Die Vorschrift erfasst zwei Fallgruppen, unter denen die Bindung an die Verständigung entfällt, nämlich das Auftauchen rechtserheblicher Umstände und das „prognosewidrige“ Verhalten des Angeklagten. Beide Alternativen haben dieselbe Rechtsfolge: Das Geständnis des Angeklagten kann nicht verwertet werden. (1) Der Wegfall der Bindung setzt keine neuen Erkenntnisse voraus; es genügt vielmehr, wenn das Gericht rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen hat. Die Vorschrift greift auf eine Formulierung des Großen Senats für Strafsachen zurück,119 der die Schwelle für die Lösung von der Absprache bewusst niedriger angesetzt hat, als die frühere Rechtsprechung, die ursprünglich „schwerwiegende neue Umstände“ gefordert hatte, welche dem Gericht bislang unbekannt waren.120 Ersichtlich sollte eine vollständige Überprüfung des auf einer Absprache beruhenden Urteils in der Revisionsinstanz ermöglicht werden. Aus diesem Grund sahen der Große Senat für Strafsachen und - ihm folgend - nunmehr auch das Gesetz vor, dass die Bindungswirkung bereits bei rechtlichen Fehleinschätzungen im Verantwortungsbereich der Justiz entfällt, ohne dass es eines förmlichen Widerrufs durch den Tatrichter bedurfte.121 Rechtlich fehlerhafte Verständi116
BGH NStZ 2004, 342; BGHR StPO vor § 1 faires Verfahren Vereinbarung 14. BGH NStZ 2004, 342; 338. 118 BVerfG - 2. Kammer des 2. Senats - StV 2000, 3. 119 BGHSt 50, 40, 50. 120 Die leitende Entscheidung des 4. Strafsenats in BGHSt 43, 195, 210 setzte schwerwiegende neue Erkenntnisse voraus, Nova forderte auch die die Nr. 8 der Eckpunkte der Generalstaatsanwälte vom 24.1.2005, abgedruckt bei Niemöller/Schlothauer/Weider aaO Anhang 2. 121 A. A. Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO § 257c Rn. 113, der einen mit Zweidrittelmehrheit zu fassenden Widerrufsbeschluss des Gerichts für erforderlich hält. Diese 117
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gungen sollten keine innerprozessuale Bindung bewirken können, die der Aufhebung eines abgesprochenen Urteils im Wege stehen konnte. Bereits bisher ist kein Fall bekannt geworden, in dem von der Aufhebung eines unrichtigen Urteils abgesehen werden musste, weil das Revisionsgericht die Bindung des Tatrichters an eine im Nachhinein als fehlerhaft erkannte Absprache respektieren musste.122 Da sich die Rechtslage durch das neue Gesetz nicht geändert hat, wird das auch künftig gelten. Man mag eine Regelung bedauern, die das Risiko einer unrichtigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage durch die Gerichte allein dem Angeklagten zuschiebt.123 Die Forderung nach „Nova“ hätte indessen zu einer sehr weitgehenden Bindung geführt, die letztlich eine faktische Unanfechtbarkeit des Rechtsfolgenausspruchs abgesprochener Urteile zur Folge gehabt hätte. Dies würde insbesondere dann gelten, wenn sich die Auslegung des Begriffs der „neuen Tatsache“ an der sehr restriktiven Rechtsprechung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung orientiert hätte. Gemäß § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO soll die Bindung des Gerichts auch dann entfallen, wenn das Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose zu Grunde gelegt worden war124. Gemeint ist damit der Fall, dass der Angeklagte die Leistungen, die er versprochen hat, seinerseits nicht erbringt;125 in der Regel wird es sich darum handeln, dass das in Aussicht gestellte Geständnis nicht weit genug geht oder nicht glaubhaft ist, seltener dürften die Fälle sein, in denen es um die Erwartung eines anderen prozessualen Verhaltens geht. Der Wegfall der Bindung im Falle eines nicht hinreichenden Geständnisses entspricht der bisherigen Rechtsprechung. Zu der Frage, ob die Bindung auch dann entfällt, wenn die Zusage eines prozessualen Verhaltens gebrochen wurde, die
Sicht ist mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu vereinen und läuft auch dem Anliegen des Gesetzgebers zuwider, der die Bindung an die Verständigung bewusst schwach ausgestaltet hat, weil „das Ergebnis des Prozesses stets ein richtiges und gerechtes Urteil sein muss“ (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 14), das in der Rechtsmittelinstanz in vollem Umfang überprüft werden kann. 122 Nach Jahn/Müller NJW 2009, 2628, 2629 ist eine schlichte Meinungsänderung des Gerichts zwar kein Widerrufsgrund; es genügt indessen, wenn die geläuterte Auffassung auf der Behebung eines Rechtsirrtums beruht oder wenigstens so begründet wird; für das Revisionsgericht genügt die Feststellung eines - augenscheinlich auf Rechtsirrtum beruhenden - Festhaltens an einer fehlerhaften Verständigung, um einen Rechtsfehler im Sinne des § 337 StPO feststellen zu können. 123 So etwa Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 26. 124 Der Wortlaut des Gesetzes, wonach die Bindung des Gerichts „an die Verständigung“ entfällt ist allerdings missverständlich; dass die in Aussicht gestellte Strafmilderung nur im Gegenzug für die Leistung des Angeklagten erbracht werden soll, ist Gegenstand der Verständigung und weicht nicht von ihr ab. 125 Bittmann aaO. S. 416.
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rechtswidrig war und nicht hätte entgegengenommen werden dürfen, liegen unterschiedliche Entscheidungen vor: Im Falle eines unzulässig vereinbarten Rechtsmittelverzichts ließ die Ankündigung des Angeklagten, er werde gegen das auf Grund der Absprache ergehende Urteil gleichwohl Rechtsmittel einlegen, die Bindung nicht entfallen.126 Anders verhielt es sich bei der Zusage, Steuerschulden zu bezahlen, einer Zusage also, die (nur) deshalb unzulässig war, weil sie nicht den Gegenstand des Verfahrens betraf.127 Entfällt in solchen Fällen die Bindung, ist allerdings zu beachten, dass die Differenz zwischen der ausgeurteilten und der ursprünglich vereinbarten Strafe in angemessener Relation zu dem wegfallenden Strafzumessungsgrund stehen muss. Über den Wegfall ihrer Bindungswirkung hinaus hat die (wirksame) Verständigung eine gewisse Orientierungsfunktion für die Bemessung der Rechtsfolgen. Die Frage, ob die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zur Verständigung iSd § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO zurücknehmen kann, ist in der Rechtsprechung bisher noch nicht entschieden worden. Man wird dies schon aus formellen Gründen zu verneinen haben, weil die Zustimmung eine gestaltende Prozesshandlung ist. Solche Handlungen können grundsätzlich weder widerrufen noch angefochten werden.128 Im Übrigen stellt § 257c Abs. 4 StPO klar, dass es ausschließlich auf die Sicht des Gerichts ankommt. Nur das Gericht kann die Verständigung nachträglich zu Fall bringen; enttäuschte Erwartungen der Staatsanwaltschaft spielen insoweit keine Rolle. (2) Das Gericht muss seine Absicht, an der Verständigung nicht mehr festhalten zu wollen, den Verfahrensbeteiligten unverzüglich mitteilen (§ 257c Abs. 4 Satz 4 StPO). Auch diese Regelung entspricht der bisherigen Rechtsprechung:129 Die möglichst frühzeitige Mitteilung entspricht einem selbstverständlichen Gebot der prozessualen Fairness, so dass eine Verzögerung verfahrensfehlerhaft wäre. Da der Wegfall der Bindungswirkung an die Überzeugung des Gerichts von der Unangemessenheit des in Aussicht gestellten Strafrahmens, an eine innere Tatsache also, anknüpft, sind Verzögerungen nur schwer nachzuweisen. Die Vorschrift stellt deshalb allenfalls sicher, dass die Lösung von der Verständigung noch in der Hauptverhandlung bekannt gegeben und dass den Verfahrensbeteiligten, insbesondere dem Angeklagten und seinem Verteidiger, hinreichende Gelegenheit zur Reaktion auf die neue Lage gegeben wird.
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BGH, NStZ 2008, 416. BGH NStZ 2004, 338 m. Anm. Weider. 128 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. Einl. Rn. 103, 112ff., 116. 129 BGHSt 50, 40, 50. 127
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(3) Die Mitteilung des Gerichts hat die Unverwertbarkeit des Geständnisses des Angeklagten zur Folge (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO). Gemeint ist die in der Hauptverhandlung nach dem Zustandekommen der Verständigung erfolgte geständige Einlassung des Angeklagten, gleichgültig, ob es sich um ein umfassendes oder nur um ein Teilgeständnis handelt;130 frühere Angaben bleiben auch nach dem neuen Recht verwertbar. Wie bereits oben ausgeführt, ist die Rechtsprechung bislang davon ausgegangen, dass das Geständnis grundsätzlich auch dann verwertet werden kann, wenn das Gericht an der Absprache nicht festhält. Entscheidungen zu Umfang, Reichweite und Folgen des Verbots, ein abgesprochenes Geständnis zu verwerten, sind deshalb nur in Ausnahmefällen und allenfalls vereinzelt festzustellen. Bereits erwähnt wurde, dass das Geständnis auch dann bei der Strafzumessung als begünstigender Umstand zu berücksichtigen ist, wenn es nicht verwertet werden kann.131 Selbstverständlich gilt das nur, wenn es glaubhaft ist. Ferner dürfte dem Verwertungsverbot keine Fernwirkung zukommen; Beweisergebnisse zu denen das Geständnis den Weg gewiesen hat, bleiben auch nach dem Scheitern der Verständigung verwertbar.132 Ermittlungsansätzen in einem nicht verwertbaren Geständnis muss das Gericht indessen nicht nachgehen. Die Entgegennahme eines Geständnisses, das sich im Nachhinein als nicht verwertbar erweist, berechtigt nicht zur Ablehnung der Schöffen:133 Auch von Laienrichtern kann erwartet werden, dass sie in der Lage sind, nach entsprechender rechtlicher Unterrichtung durch die Berufsrichter ihre Überzeugungsbildung ausschließlich auf der Basis dessen vorzunehmen, was ihnen in der Schlussberatung als verwertbares Beweismaterial unterbreitet worden ist. Insoweit gilt nichts anderes als bei anderen Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung, deren Ergebnisse sich im Nachhinein als nicht verwertbar erweisen. Die Frage, ob sich das Verwertungsverbot auch auf Umstände bezieht, die dem Angeklagten günstig sind, ist bislang nicht entschieden worden.134 Sie dürfte zu bejahen sein, weil Geständnisse anhand der Kriterien belastend/entlastend nicht zweifelsfrei teilbar sind und weil Wahrheitsgehalt und Glaubhaftigkeit einer Aussage in aller Regel nicht isoliert für bestimmte Abschnitte gewürdigt werden können.135 Der Ange130
Bittmann wistra 2009, 416; der Geständnisbegriff entspricht dem des § 254 Abs. 1 StPO. BGHSt 42, 191, 194. 132 Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO § 257c Rn. 150; Fischer, StraFo 2009187; aA für den Fall, dass der Widerruf in der Sphäre des Gerichts begründet ist, Jahn/Müller NJW 2009, 2626, 2629. 133 BGHSt 42, 191; zustimmend auch für das neue Recht: Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 28; differenzierend nach der Ursache des Wegfalls: Schlothauer/Weider StV 2009, 600, 605, Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2629. 134 A. A. wohl Bittmann wistra 2009, 416. 135 Vgl. dazu etwa Hamm NJW 1996, 2185, 2187f. 131
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klagte hat es in der Hand, sein Geständnis ganz oder teilweise zu wiederholen. In der Rechtsmittelinstanz ist zu beachten, dass das Verwertungsverbot bei abgesprochenen Verurteilungen den Rechtsfolgenausspruch mit den Grundlagen des Schuldspruchs verklammern kann. Rechtsmittel, die von der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten oder vom Nebenkläger eingelegt werden,136 können unter Umständen nicht auf den Strafausspruch beschränkt werden, weil die Aufhebung des Strafausspruchs zur Lösung von der Verständigung führen und dadurch das Geständnis in Frage stellen könnte, auf dem der Schuldspruch beruht. Dieser Zusammenhang wird auch sonst bei der Teilaufhebung von Urteilen in der Revisionsinstanz zu beachten sein; dabei kann die Frage Bedeutung erlangen, ob und in welchem Umfang das angefochtene Urteil auf dem Geständnis beruht. Weitergehende Folgen für den Angeklagten hat die Mitteilung nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO nicht. Insbesondere hat der Gesetzgeber davon abgesehen, die Prozesshandlungen, die der Angeklagte in Erfüllung der Verständigung vorgenommen hat, für wirkungslos zu erklären.137 Zurückgenommene Beweisanträge leben deshalb nicht wieder auf; sie müssen vielmehr erneut gestellt werden. Das wird auch für solche Beweisanträge anzunehmen sein, bei denen das Gericht davon ausgehen konnte, sie seien durch das Geständnis überholt, weil konkludent zurückgenommen. Die Staatsanwaltschaft wird durch die Verständigung nicht gebunden. Sie kann zwar die Verständigung nicht dadurch zu Fall bringen, dass sie ihre Zustimmung zur Verständigung zurücknimmt oder anficht, weil es sich um eine prozessuale Bewirkungshandlung handelt. Sie ist aber an ihre Zusagen auch dann nicht gebunden, wenn das Gericht an der Verständigung festhält. Nach bisheriger Rechtsprechung soll das Gericht dann aber gehalten sein, einen Angeklagten, der seinerseits seine Leistung erbracht hat, nach Möglichkeit so zu stellen, als sei die Zusage der Staatsanwaltschaft erfüllt worden. Bereits erwähnt wurde eine jüngere Entscheidung des 3. Strafsenats, der bei einer nicht eingehaltenen Zusage der Staatsanwaltschaft, einen Antrag nach § 154 Abs. 2 StGB zu stellen, ein Verfahrenshindernis in Betracht zieht.138 Im Regelfall dürfte es ausreichen, wenn in dem absprachewidrig angeklagten Verfahren ein wesentlicher Strafmilderungsgrund angenommen
136 Bei Rechtsmitteln des Angeklagten führt das Verschlechterungsverbot zu einer Perpetuierung der zugesagten Strafobergrenze mit der Wirkung, dass das Geständnis verwertbar bleibt, vgl. BGH StraFo 2010, 201. 137 So aber § 243a Abs. 5 Satz 1 des BRAK-Entwurfs, der allerdings nach den Ursachen des Wegfalls der Bindung unterscheidet. 138 BGH NStZ 2008, 416; Anm. Fezer JZ 2008, 1059, Eisenberg NStZ 2008, 698; Lindemann JR 2009, 82.
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wird.139 Die Entscheidungen des 3. Strafsenats sind zu Zusagen der Staatsanwaltschaft ergangen, die in gerichtliche Verständigungen eingebunden waren; ob sie auch auf Zusagen übertragen werden können, die nicht in diesem Zusammenhang stehen, erscheint fraglich. Andere Verfahrensbeteiligte, so etwa der Nebenkläger, sind an der Verständigung nicht formell beteiligt und werden durch sie nicht gebunden. Haben sie im Rahmen der Verständigung einen Strafantrag oder eine Privatklage zurückgenommen, so können sie dies auch dann nicht mehr rückgängig machen, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt. Rücknahme und Anfechtung dieser Prozesshandlungen sind nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht möglich; ein zurückgenommener Strafantrag kann nicht erneut angebracht (§ 77d Abs. 1 Satz 3 StGB), eine Privatklage kann nicht erneut erhoben werden (§ 392 StPO). Die Zusage von Ober- und Untergrenze im Falle einer formgerecht zustande gekommenen Verständigung enthält einen Akt der vorweggenommenen oder hypothetischen Strafzumessung: Das Gericht teilt mit, welche Strafe es für angemessen erachtet, wenn der Angeklagte ein Geständnis ablegt oder eine andere Leistung erbringt. Solche Erklärungen haben auch dann Gewicht, wenn die Verständigung letztlich scheitert: Die Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass die in Aussicht gestellte Strafe eine Orientierungsfunktion hat: Der Unterschied zwischen ihr und der ausgeurteilten Rechtsfolge muss durch den wegfallenden Strafzumessungsgrund erklärbar sein.140 Die Rechtsprechung zur sog. Sanktionsschere wird gleichsam „gespiegelt“: Letztlich geht es auch hier um die Begrenzung des Drucks, der von einer Verständigung ausgehen kann.
d. Bereits nach der bisherigen Rechtsprechung waren Urteile, die nach einer Verständigung ergangen waren, in vollem Umfang in der Rechtsmittelinstanz nachprüfbar. Die Verständigung entfaltete keine innerprozessuale Bindung, die das Rechtsmittelgericht in seiner Prüfungsbefugnis einschränken konnte, da schon ein Rechtsirrtum des Gerichts die Lösung von der Absprache ermöglichte. Der in der Praxis der Instanzgerichte verbreiteten Tendenz, in den Rechtsmittelverzicht auszuweichen, ist der Bundesgerichtshof mehrfach, so etwa durch die Pflicht zur „qualifizierten“ Belehrung 139 So BGHSt 37, 10 für den Fall, dass der Angekl. ein Rechtsmittel im Vertrauen auf die Zusage der Staatsanwaltschaft zurücknimmt, ein anderes Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO einzustellen. 140 BGH NStZ 2004, 338, 339; vgl. auch Weider NStZ 2002, 174, 175.
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entgegengetreten.141 Das neue Recht unterstreicht dies: Es schreibt nicht nur eine „qualifizierte“ Belehrung vor,142 sondern schließt - insoweit über die Rechtsprechung hinausgehend - den Rechtsmittelverzicht bei abgesprochenen Urteilen vollständig aus. Den Vorschlägen des Bundesrats und der Bundesrechtsanwaltskammer, die Berufung gegen abgesprochene Urteile auszuschließen und die Revision auf bestimmte Beschwerdepunkte zu beschränken,143 ist der Gesetzgeber nicht gefolgt. Auf die entsprechende Rüge selbst des geständigen Angeklagten hin prüft das Revisionsgericht deshalb, ob der Tatrichter seiner Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts (§ 244 Abs. 2 StPO) nachgekommen ist. § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO stellt nunmehr ausdrücklich klar, dass diese Pflicht „unberührt“ bleibt. Auch das entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs144 sowie des Bundesverfassungsgerichts.145 Gleichwohl hat die Vorschrift teilweise heftige Kritik erfahren,146 vom systematischen Standpunkt aus betrachtet wohl mit Recht, weil Wahrheit nicht vereinbart werden kann, sondern ermittelt werden muss, Konsens und Amtsermittlung deshalb notwendig entgegengesetzt sind.147 In der Praxis dürfte die Vorschrift allerdings weitgehend bedeutungslos sein, soweit sie sich auf Angeklagte bezieht, die in die Absprache eingebunden sind: Wenn die Staatsanwaltschaft bereits ohne Geständnis hinreichenden Tatverdacht bejaht hat und der Tatrichter dieser Bewertung durch die Eröffnung des Hauptverfahrens beitreten konnte, trägt ein „anklagekonformes“ Geständnis die Verurteilung auch dann, wenn es sich um eine „schlanke“ Einlassung handelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Aufklärungsrüge eines geständigen Angeklagten Erfolg haben könnte, ist allenfalls gering. In der Praxis der Revisionsgerichte geringe Bedeutung hat auch die Prüfung des Wahrheitsgehalts von Geständnissen, die hinter dem Anklagevorwurf zurückbleiben. Auf die Revision des Angeklagten wird solches regelmäßig nicht geprüft. Beanstanden Staatsanwaltschaft oder Nebenkläger Defizite bei der Aufklärung, so müssen sie sich die Frage entgegenhalten lassen, weshalb es sich dem Tatrichter aufdrängen sollte, weitere Beweise zu erhe141
Vgl. etwa BGHSt 50, 40. § 302 Abs. 1 Satz 2, § 35a Satz 3 StPO; vgl. hierzu BT-Drucks 16/12310 S. 9. 143 § 312 Satz 2, § 337 Abs. 3 StPO in der Fassung des Gesetzentwurfs des Bundesrats BTDrucks. 16/4197; § 312, § 337 Abs. 3 in der Fassung des BRAK-Entwurfs. 144 Vgl. nur BGHSt 43, 195, 204. 145 Vgl. bereits BVerfG NStZ 1987, 419 m. Anm. Gallandi. 146 Vgl. etwa Meyer-Goßner EH § 257c Rn. 3: „Lippenbekenntnis“; ähnlich Fischer StraFo 2009, 177, 181 zur Unvereinbarkeit von Wahrheitsermittlung und Konsensprinzip; Schünemann ZRP 2009, 104, 106; Jahn/Müller NJW 2009. 2625, 2631: „unrealistisch und in sich widersprüchlich“; aber auch Kröpil JR 2010, 96, 99, der die notwendige Sachaufklärung (jedenfalls?) normativ für gewährleistet erachtet. 147 Vgl. Fischer StraFo 2009, 177, 181. 142
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ben, wenn Anklagebehörde und Nebenklage solches nicht für erforderlich gehalten haben. Zudem verbieten sich Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen abgesprochene Urteile in aller Regel schon deshalb, weil die Verständigung nur mit ihrer Zustimmung zustande kommen konnte (§ 257c Abs. 3 Satz 4 StPO). Legt die örtliche Staatsanwaltschaft trotz ihrer Zustimmung Rechtsmittel ein, setzt sie ihren Ruf als verlässliche Verhandlungspartnerin aufs Spiel und läuft Gefahr, sich den Vorwurf des Vertrauensbruchs gegenüber dem „eigenen“ Gericht zuzuziehen. Reale Bedeutung hat § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO danach vor allem dann wenn es um die Verurteilung eines nicht verständigungsbereiten Angeklagten aufgrund von Geständnissen seiner Mitangeklagten geht;148 diese Konstellation hat die Vorschrift indessen nicht im Blick. In seiner Entscheidung vom 3. März 2005 hat der Große Senat für Strafsachen die Frage, ob und in welchem Maße im Revisionsverfahren - mit Blick auf die Besonderheiten des Abspracheverfahrens, etwa unter dem Blickwinkel widersprüchlichen Verhaltens - bestimmte Verfahrensrügen ausgeschlossen sein könnten als offen und regelungsbedürftig bezeichnet.149 Gleichwohl regelt das neue Recht diesen Komplex nicht. Deshalb ist nach wie vor auf die bisherige Rechtsprechung zur Verwirkung von Verfahrensrügen zurückzugreifen, die sich auf Prozesshandlungen beziehen, die einer Verständigung vorausgehen. Danach sind etwa Befangenheitsrügen unzulässig, wenn der Angeklagte nach sachlicher Bescheidung seines Befangenheitsantrags mit den zuvor als befangen abgelehnten Richtern eine Urteilsabsprache trifft. Denn durch seine Mitwirkung bringt er regelmäßig zum Ausdruck, dass das Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Richter ausgeräumt ist; beanstandet er dies dennoch mit der Revision, setzt er sich dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens aus. Etwas anderes soll allerdings dann gelten, wenn sich nach der Verständigung eine neue Sachlage ergibt, wenn etwa das Gericht an der Verständigung nicht mehr festhält oder wenn besondere Umstände vorliegen, die trotz der Absprache ein fortbestehendes Misstrauen in die Unparteilichkeit des Gerichts rechtfertigen.150 Die Rüge, der Tatrichter habe einen Antrag auf Austausch des Pflichtverteidigers nicht verbeschieden, ist unzulässig, wenn der Angeklagte nach diesem Antrag unter Mitwirkung des Pflichtverteidigers eine Verständigung getroffen hat.151 Vergleichbares wird für Beweisanträge anzunehmen sein, die der Angeklagte vor der Ablegung eines abgesprochenen Geständnisses gegen den Schuldspruch ins Feld geführt hatte: Eine Rüge formellen Beweisan148
BGHSt 48, 161, 168f. m. Anm. Weider StV 2003, 266. BGHSt 50, 40, 52. 150 BGH NJW 2009, 690. 151 BGH StraFo 2010, 157. 149
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tragsrechts dürfte mit Blick auf die Widersprüchlichkeit des Prozessverhaltens des Angeklagten - das Geständnis in der Tatsacheninstanz schließt das Festhalten an bestreitenden Beweisbehauptungen aus - rechtsmissbräuchlich und deshalb unzulässig sein.152 Die Rüge, das Gericht habe im Verständigungsverfahren gegen das prozessuale Fairnessgebot verstoßen, ist subsidiär. Übt das Gericht unzulässigen Druck auf den Angeklagten aus, indem es ihm etwa die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung androht, liegt ein schwerwiegender Verstoß vor, der zur Ablehnung des betroffenen Richters berechtigt. Der Bundesgerichtshof betrachtet die Regeln über die Ablehnung dann aber auch als vorgreiflich, so dass der Angeklagte die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren in der Revisionsinstanz nicht mehr geltend machen kann, wenn er das erforderliche Ablehnungsgesuch versäumt hat.153 Diese Rechtsprechung hat weiterhin Bestand. Da das neue Gesetz keine besondere Verfahrensordnung für das Abspracheverfahren geschaffen hat, gilt das allgemeine Verfahrensrecht, wie etwa das Recht des Angeklagten auf das letzte Wort (§ 258 Abs. 2 StPO) auch dann, wenn eine verfahrensbeendende Verständigung stattgefunden hat. In diesen Fällen besteht allerdings besonderer Anlass, das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß zu prüfen. Mit dem Hinweis, das Ergebnis des Verfahrens habe ohnedies schon festgestanden, kann die Ursächlichkeit von Verfahrensverstößen indessen nicht verneint werden.154
III. Bereits bei der ersten Durchsicht der neuen Vorschriften entsteht der Eindruck, dass es sich wohl nicht um das berühmte „berichtigende Wort des Gesetzgebers“ handelt, das nach einem von Kirchmann zugeschriebenen Wort „ganze juristische Bibliotheken zur Makulatur werden lässt“. Der zweite Blick bestätigt diese Einschätzung.155 Der Gesetzgeber hat sich ersichtlich darauf beschränkt, „durch verdeutlichende Regelungen Auswüchse einzudämmen und Unsicherheiten zu beseitigen“. Im Ergebnis ist er damit den Empfehlungen gefolgt, die bereits der 58. Deutsche Juristentag gegeben hatte.156 Viele Fragen bleiben nach wie vor der Rechtsprechung überlassen; die Mehrzahl der von den Obergerichten entwickelten Lösungen ist weiter152 Vgl. Senge jurisPR-StrafR 4/2009; die Aufklärungsrüge bleibt auch dem geständigen Angeklagten unbenommen; sie dürfte aber in den seltensten Fällen zum Erfolg führen. 153 BGH NStZ 2005, 526; die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG - Kammer - Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 799/05. 154 BGH, Beschl. v. 4. 2. 2010 - 1 StR 3/10. 155 So auch die Bewertung von Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, aaO S. 6. 156 Verhandlungen Bd. II L 206.
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hin verbindlich. Dies gilt auch für die hauptsächlichen Probleme des Konsensualverfahrens, nämlich für die Möglichkeit nötigungsähnlicher Druckausübung bei ihrem Zustandekommen und für die Rechtsfolgen gescheiterter Absprachen: Der Gesetzgeber hat weder die Sanktionsschere entschärft noch ein Recht der Leistungsstörungen geschaffen. Hinter den Vorschlägen des Bundesrats und der Bundesrechtsanwaltskammer, die einen weiteren Schritt in die Richtung eines eigenständigen Konsensualverfahrens gehen wollten, bleibt das neue Recht zurück. Dem Appell des Großen Senats, der die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen der Urteilsabsprachen gesetzlich geregelt sehen wollte,157 ist der Gesetzgeber damit nur unvollkommen nachgekommen; er hat sich weitgehend darauf beschränkt, die bisherigen Ergebnisse der Rechtsprechung festzuschreiben. „Mission failed“ also? Mit diesem Befund würde man dem Gesetzesvorhaben Unrecht tun. Es hat in einer rechtlichen Grauzone Grenzen aufgezeigt und Sicherungen eingebaut. Sein Verdienst liegt nicht zuletzt darin, dass das geltende Recht vor weiterer Erosion geschützt und dass der „deal“ in das Licht der Hauptverhandlung geholt wird.158 Das sollte nicht überbewertet, aber auch nicht unterschätzt werden. Ob der Gesetzgeber gut beraten gewesen wäre, wenn er eine umfassendere oder anspruchsvollere Lösung Angriff genommen hätte, mag bezweifelt werden.
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BGHSt 50, 40, 64. Nach Bittmann wistra 2009, 414 fördert und bremst das neue Gesetz zugleich; dem dürfte zuzustimmen sein. 158
Über die „Kunst des Urteilschreibens“ EKKEHARD APPL
I. Einleitung Auf den ersten Blick könnte man durchaus hinterfragen, ob ein Beitrag, der sich mit dem Abfassen eines strafrechtlichen Urteils befasst, nicht vornehmlich der Ausbildung von Referendaren dient, keine wissenschaftlichen Ansprüche erheben kann und deshalb der Aufnahme in eine Festschrift von vornherein unwürdig ist. Hat nicht die Strafrechtswissenschaft zahlreiche äußerst diffizile und anspruchsvolle Rechtsfragen zu bieten, deren Aufarbeitung weitaus lohnender wäre, als die Beschäftigung mit scheinbar schlichten handwerklichen Fähigkeiten, die jeder Strafrichter perfekt zu beherrschen glaubt? Bereits bei näherer Betrachtung des eindrucksvollen beruflichen Werdegangs der Jubilarin ergibt sich freilich ein differenzierteres Bild: Die zu Ehrende war über viele Jahre am Landgericht Bochum in verschiedenen Strafkammern tätig, zuletzt vor ihrer Ernennung zur Richterin am Bundesgerichtshof als Vorsitzende einer Schwurgerichtskammer. In dieser Zeit hat sie selbst zahlreiche erstinstanzliche Strafurteile verfasst. In der Revisionsinstanz beim Bundesgerichtshof hat sie fast zweiundzwanzig Jahre lang zunächst als Mitglied des 3. Strafsenats, seit 2002 als Vorsitzende des 2. Strafsenats, vornehmlich erstinstanzliche Urteile der Landgerichte gelesen und bearbeitet sowie - auch noch als Vorsitzende - Revisionsurteile verfasst, zuletzt im Juni 2010 das wegweisende Urteil zur Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch.1 Allein in den ca. 9 Jahren als Vorsitzende des 2. Strafsenats hat die Jubilarin etwa 600 landgerichtliche Urteile jährlich, in der Summe also ungefähr 5400!! Urteile nebst dazugehörigen Revisionsschriften gelesen und auf Rechtsfehler überprüft. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die berufliche Tätigkeit einer Strafsenatsvorsitzenden nicht nur geprägt, sondern nahezu ausgefüllt wird, durch die Lektüre von Urteilen, die in Umfang und Qualität unterschiedlicher nicht sein könnten.2 Entsprechend unterschiedlich fällt auch der „Genuss“ der Lektüre aus, wofür gele1
BGH NJW 2010, 2963 - zur Aufnahme in BGHSt vorgesehen. Das gilt ebenso für Revisionsschriften, die bisweilen Besinnungsaufsätzen gleichen und dann wenig geeignet sind, einem Angeklagten zu seinem Recht zu verhelfen. 2
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gentliche Eingangsanmerkungen der Jubilarin im Revisionsheft, wie z. B.: ein bemerkenswert gutes - schwulstiges - furchtbar langatmiges - geschwätziges Urteil, ein sicherer Beleg sind. Schon unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Lebensleistung der zu Ehrenden3 scheint also eine nähere Befassung mit dem Strafurteil als dem „täglichen Brot“ des Revisionsrichters durchaus gerechtfertigt. Hinzu kommt folgendes: Eine Vielzahl von Urteilsaufhebungen durch den Bundesgerichtshof hat seine Grundlage nicht etwa in der Verkennung schwieriger Rechtsfragen durch das Tatgericht, sondern beruht vielmehr auf handwerklichen Mängeln bei der Abfassung der Entscheidungsgründe; denn auch ein „richtiges“ Urteil unterliegt „falsch“ geschrieben der Aufhebung. So führen z. B. nicht selten sogenannte Darstellungsmängel bei der Sachverhaltsfeststellung oder Erörterungsmängel bei der Beweiswürdigung zur Aufhebung des Urteils. Dabei ist es für den Urteilsverfasser, der - nach mitunter monatelanger Hauptverhandlung - viel Mühe und Arbeit in die Abfassung zum Teil mehrerer hundert Seiten langer Urteilsgründe investiert hat, schon beinahe eine kleine Katastrophe, wenn einfach vermeidbare Fassungsfehler zur Aufhebung eines in der Sache häufig richtigen Urteils führen.
II. Der Urteilsadressat - Aufgaben des schriftlichen Urteils Das Wort „Urteil“ findet sich erstmals in den Akten des Brandenburger Schöppenstuhls des 16. Jahrhunderts, der seine Rechtsauskünfte „Belehrungsurteil“, seit dem 17. Jahrhundert „Informationsurteil“ und im 18. Jahrhundert „Urteil“ oder „Sentenz“ nannte. Das schriftliche Urteil soll für jeden, der es liest, das strafbare oder zunächst für strafbar gehaltene Geschehen von der Grundlage des Strafgesetzes aus auf alle objektiven und subjektiven Voraussetzungen hin prüfen und so dem Leser die Erwägungen klarmachen, auf die der Richter seinen Schuld- und Rechtsfolgenausspruch oder aber seinen Freispruch gestützt hat. Zu den Lesern eines rechtskräftigen Urteils zählen in erster Linie die Prozessbeteiligten, hier vornehmlich der Angeklagte, aber auch z. B. Vollzugs- und Gnadenbehörden, Strafvollstreckungsrichter, Bewährungshelfer etc.; ein angefochtenes Urteil wird zudem vom jeweiligen Rechtsmittelgericht gelesen und geprüft. Den Inhalt des Urteils behandelt - allerdings nicht erschöpfend - die Strafprozessordnung hauptsächlich in den §§ 260, 267 und 275 StPO. Die Bestimmungen über die Gründe sind in § 267 StPO, diejenigen über den sonstigen Inhalt des Urteils in §§ 260, 275 Abs. 2 u. 3 StPO enthalten. Im 3
Die zudem bei zahlreichen, dem Erfahrungsaustausch mit Tatrichtern dienenden Veranstaltungen immer wieder über dieses Thema referiert hat.
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Wesentlichen besteht ein Urteil aus den fünf Komponenten Eingang (= Rubrum), Urteilsformel (= Tenor), Liste der angewendeten Vorschriften, Urteilsgründe und Unterschriften. Dieser Beitrag will und kann nur grundlegende Fragen bei der Abfassung der Urteilsgründe ins Blickfeld nehmen, im Übrigen ist auf entsprechende Literatur zu verweisen.4 Ein Urteil so zu begründen, dass alles Wesentliche aber auch nichts als dies darin steht, ist alles andere als leicht. Die Urteilsgründe sind nicht dazu da, Gelehrsamkeit oder Wissenschaftlichkeit zu erweisen; der Urteilsverfasser soll praktisch sein und immer das Endergebnis im Auge behalten. Dabei ist zu bedenken, dass die Gründe einerseits insbesondere für den Angeklagten verständlich sein sollen, andererseits aber auch das Rechtsmittelgericht von der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung überzeugen müssen. Darin liegt ein gewisser Spagat: Der Angeklagte will wissen, warum das Gericht nicht ihm sondern vielmehr einem Zeugen geglaubt hat und warum die Strafe so und nicht milder ausgefallen ist. Die Urteilsbegründung soll ihm zeigen, dass er verstanden, mit seinen Einwendungen ernst genommen worden ist und dass die Richter sich die erforderliche Mühe mit seinem Fall gegeben haben.5 Juristische Fragen hingegen, so z. B. warum er wegen Untreue und nicht wegen Betruges verurteilt worden ist, sind für den Angeklagten - anders für das Revisionsgericht - häufig von untergeordneter Bedeutung. Der ehemalige Amtsrichter und Professor Vultejus6 erteilt insoweit für den Umgang mit der Revisionsinstanz folgenden Rat: „Es ist nicht nur sinnvoll, sondern auch in der Strafprozessordnung vorgeschrieben, dass die Straftat im Urteil genau bezeichnet wird. Mehr ist aber von Übel. Es reizt nur das Rechtsmittelgericht zu Korrekturen. Man kann nie sicher sein, ob man die - zufällig? - geltende Rechtsaufassung des Revisionsgerichts trifft…Die Revisionsrichter sollten nur das angefochtene Urteil prüfen. In Wahrheit lesen sie natürlich die gesamten Strafakten und überlegen, ob das Urteil nach dem Inhalt der Strafakten plausibel ist oder nicht.“
Wer diesen - von völliger Unkenntnis der Arbeit eines Revisionsgerichts zeugenden - Rat eines ehemaligen Praktikers und Strafrechtswissenschaftlers befolgt, wird zwangsläufig Schiffbruch erleiden. So ist es eine allerdings verbreitete - Mär, Revisionsrichter würden sämtliche Strafakten lesen und aufgrund der dadurch gewonnenen Überzeugung urteilen. Tat4
Vgl. Meyer-Goßner/Appl Die Urteile in Strafsachen, 28. Aufl.; Meyer-Goßner NStZ 1988, 529 ff.; Winkler SchlHA 2006, 245 ff. sowie Föhrig Kleines Strafrichter-Brevier, 2008 S. 91 ff.; zu materiell-rechtlichen Fehlern in Strafurteilen aus revisionsrechtlicher Sicht MeyerGoßner NStZ 1986, 49 ff. und 103 ff. 5 Sarstedt Rechtsstaat als Aufgabe, 1987 S. 142. 6 Vultejus ZRP 2008, 130, 131.
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sächlich ist dem Revisionsrichter ein Blick in die Strafakten - wenn nicht eine entsprechende Verfahrensrüge dazu zwingt - grundsätzlich verwehrt. Das Revisionsgericht darf bei einer Sachrüge nur die Urteilsurkunde zum Gegenstand seiner Entscheidung machen, alle anderen Erkenntnisquellen sind ihm verschlossen.7 Im Übrigen setzt bereits der immense Arbeitsanfall - ein Strafsenat besetzt mit sieben Richtern einschließlich des Vorsitzenden erledigt im Jahr mehr als 600 Verfahren - jeglicher Neugier enge Grenzen. Wer, wie der 2. Strafsenat unter Vorsitz der Jubilarin erst vor wenigen Wochen in einem Untreueverfahren, ein aus sieben Leitzordnern bestehendes, ca. 3000 Seiten umfassendes Senatsheft8 durchzuarbeiten hat, verspürt nicht die geringste Neigung, ohne Not auch noch in den 45 Bände umfassenden, 19500 Seiten starken Sachakten zu stöbern. Entscheidungsgrundlage für das Revisionsgericht ist also das erstinstanzliche Urteil, das - anders als von Vultejus empfohlen - in aller Regel auch Rechtsausführungen enthalten muss, um Bestand zu haben.9
III. Umfang und Inhalt eines „guten“ Urteils Wie lang muss oder darf ein gutes Urteil sein? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, kommt es doch auf die Zahl der Angeklagten und der ihnen vorgeworfenen Taten sowie die Schwierigkeit der Sache an. Bei einfach gelagerten, gehäuft auftretenden Sachverhalten mit geständigen Angeklagten kann eine Urteilsbegründung von fünf Seiten völlig ausreichend sein,10 während bei komplexen Wirtschaftsstrafverfahren in seltenen Ausnahmefällen auch 100 Seiten oder mehr vonnöten sein können. Generell ist aber die Tendenz zu beobachten, dass Urteile - und zwar nicht nur landgerichtliche Urteile, sondern auch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs - zunehmend umfangreicher werden.11 Was aber ist der Grund dafür? Den notwendigen Inhalt der Urteilsgründe umreißt § 267 StPO. Obwohl dieser Paragraph im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweitet und nunmehr zur wohl umfangreichsten Vorschrift der gesamten StPO geworden ist, enthält er keineswegs alles das, was bei der Abfassung der Urteilsgründe zu beachten ist. So ist ein großer Teil der 7
BGHSt 35, 238, 241. Ein Senatsheft enthält neben dem angefochtenen erstinstanzlichen Urteil in der Regel die Revisionsbegründungen, evtl. Gegenerklärungen sowie die Stellungnahme des Generalbundesanwalts. 9 Dazu Meyer-Goßner/Appl aaO Rn 409 ff. sowie unten III. 4. 10 Z. B. bei sogenannten “Schluckerfällen“, d. h. bei am Flughafen aufgegriffenen Rauschgiftkurieren, die inkorporiert Kokain einführen. 11 Diesen Umstand hat bereits Sarstedt aaO S. 139 ff. im Jahre 1974 beklagt. 8
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Regeln, nach denen sich die Begründung richtet, von der Rechtsprechung frei entwickelt und vor allem ausgeweitet worden. In seiner ursprünglichen Fassung des Jahres 1877 setzte § 275 StPO dem Gericht noch eine Frist von nur drei Tagen zur Abfassung der Gründe, welche im Jahre 1921 auf eine Woche verlängert wurde.12 Es versteht sich von selbst, dass es ohne den Einsatz von moderner Textverarbeitung unmöglich war, in solch kurzer Frist Urteile von mehreren hundert Seiten anzufertigen. Dass die Urteilsgründe im Laufe der Zeit immer länger wurden, ist neben der modernen Textverarbeitung dem Fortschritt in der Kriminalwissenschaft und -technik geschuldet, der zum vermehrten Einsatz von Sachverständigen im Strafprozess führt. Dementsprechend verlangen die Revisionsgerichte heute eine differenzierte Auseinandersetzung mit z. B. eingeholten anthropologischen Gutachten, mit Gutachten zur Blutalkoholkonzentration und zu DNASpuren, mit psychologischen Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage, mit psychiatrischen Gutachten zur Schuldfähigkeit sowie zur Gefährlichkeit des Täters usw. Die insoweit vom Bundesgerichtshof gestellten Begründungsanforderungen sind durchaus beachtlich.13 Auch permanente Gesetzesänderungen fordern dem Tatrichter vermehrte Schreibarbeit ab. So ist er z. B. nach der gesetzlichen Normierung der Verständigung im Strafverfahren in § 257 c StPO gemäß § 267 Abs. 3 S. 5 StPO gehalten, im Falle einer Verständigung dies in den Urteilsgründen offenzulegen;14 bei Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB hat er entsprechend der Neufassung des § 67 Abs. 2 S. 2 u. 3 StGB für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ein Vorwegvollzug eines Teils der Strafe unter Berücksichtigung der ebenfalls in den Urteilsgründen präzise zu erörternden voraussichtlichen Therapiedauer zu erfolgen hat.15 Allein die im Laufe der Zeit stetig gestiegenen Begründungsanforderungen erklären indes noch nicht die signifikante Zunahme überlanger Urteile speziell einiger Landgerichte. So veranlasst auch die - dem gegenwärtigen Zeitgeist geschuldete - Angst später an den öffentlichen Pranger gestellt zu
12 Freilich wurde § 275 StPO bis zur Einführung des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO durch das 1. Strafverfahrensreformgesetz vom 9. Dezember 1974 (BGBl. I 3393, 3533) als Ordnungsvorschrift und Fristüberschreitungen demzufolge als nicht revisibel angesehen, Hamm Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. Rn 479, Fn 1087. 13 Vgl. dazu auch unten III. 4. 14 Der Angabe des Inhalts der Verständigung bedarf es in den Urteilsgründen nicht; insoweit erfolgt die Dokumentation in der Sitzungsniederschrift (§ 273 Abs. 1a StPO), vgl. BGH NStZRR 2010, 151. 15 BGH NStZ 2009, 87.
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werden,16 viele Tatrichter, in allen nur erdenklichen Fällen die Anwendung einer - gegebenenfalls auch vorbehaltenen - Sicherungsverwahrung ausdrücklich zu erörtern, um sich so vorsorglich zu exkulpieren. Darüber hinaus versucht so mancher Tatrichter das Revisionsgericht durch Ausführlichkeit sowohl von der Sorgfalt seiner Arbeit als auch von der Richtigkeit des festgestellten Sachverhalts zu überzeugen, dabei außer Acht lassend, dass ausführliche Gründe erfahrungsgemäß auch mehr Angriffsflächen bieten. Der ehemalige Bundesrichter Winkler hat dazu an etwas verborgener Stelle einen lesenswerten Beitrag unter dem Titel „Schreiben wir uns tot? - Vom Mut zur Kürze bei der Begründung eines Urteils in Strafsachen“ verfasst.17 Zutreffend bemängelt er, dass aufgeblähte Urteile, die viel zu lang sind, unnötige Ressourcen beim Abfassen, beim Schreibdienst, beim Lesen durch die anderen Kammermitglieder und schließlich bei der Kontrolle durch das Revisionsgericht vergeuden. Das wirft die Frage auf, wo liegt Einsparpotential, d. h. an welchen Stellen kann und sollte sich der Tatrichter kürzer fassen, aber auch, an welch anderer Stelle besteht vielleicht sogar ein gesteigertes Begründungserfordernis. Beim Bundesgerichtshof besteht die Übung, den Urteilsentwurf des Berichterstatters einer sogenannten Fassungsberatung durch den gesamten Senat zu unterziehen. Dabei werden jedes Argument und jeder Satz auf den Prüfstand gestellt unter dem Aspekt „brauchen wir das für die Falllösung?“ In aller Regel ist das aus einer solchen Beratung erwachsende Urteil dann deutlich kürzer als der Entwurf des Berichterstatters. Eine entsprechende kritische Endkontrolle ist auch den Landgerichten anzuraten und zwar hinsichtlich aller fünf Hauptbestandteile eines verurteilenden Erkenntnisses, nämlich persönliche Verhältnisse (1), Feststellungen (2), Beweiswürdigung (3), rechtliche Würdigung (4) und Rechtsfolgen (5).
1. Die persönlichen Verhältnisse Wird der Angeklagte verurteilt, muss sich das Urteil mit den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten (Vorleben, Vorstrafen, berufliche Entwicklung, Familienverhältnisse, Krankheiten, Eigenarten etc.) auseinandersetzen. Enthält das Urteil hierzu keine Ausführungen, liegt darin ein sachlichrechtlicher Mangel, der zur Aufhebung im Rechtsfolgenausspruch führt.18 Allerdings sind die Feststellungen zur Person kein Selbstzweck. Sie dürfen 16
Vgl. z. B. die Bildzeitung vom 6. August 2010, die unter Ablichtung und unter voller Namensnennung eines Vorsitzenden Richters am Landgericht auf der Titelseite reißerisch aufmacht: „Justizschande - Dieser Richter ließ einen Sex-Täter laufen. Trotz Warnung vom Gutachter.“ 17 Winkler aaO S. 245 ff. 18 BGH NStZ-RR 2007, 236 mwN; OLG Köln StraFo 2009, 242.
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nur insoweit in die Urteilsgründe aufgenommen werden, wie ihre Kenntnis zur Beurteilung der Schuld- und Straffrage erforderlich ist. So ist es mehr als überflüssig, z. B. bei einem wegen Untreue verurteilten 60-jährigen GmbH-Geschäftsführer dessen Kindheit und Schulzeit in allen Details zu schildern. Der Bundesgerichtshof sagt dazu folgendes: „Das Landgericht hat den persönlichen Werdegang des Angeklagten auf neun eng beschriebenen Seiten geschildert und hierbei zu dem mehr als 30 Jahre vor der Tat beginnenden Werdegang ausgeführt… Dabei ergibt sich aus der Beweiswürdigung, dass in jeder Hinsicht entscheidungsunerhebliche Details teilweise nicht einmal ohne nennenswerten Aufwand in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind, sondern sogar Gegenstand ´streitiger´ Beweisaufnahme waren… Derartige überflüssige Feststellungen führen zu einer Aufblähung der Beweisaufnahme und der Urteilsgründe. Unnötig umfangreiche Urteilsbegründungen, wie sie in zunehmendem Maße zu beobachten sind, laufen damit nicht nur dem Erfordernis der Schonung der knappen Rechtsprechungsressourcen zuwider, sondern bringen den Tatrichter in die (hier allerdings nicht entstandene) Gefahr, dass die bestimmenden Umstände im Sinne des § 267 Abs. 3 S. 1 StPO in den Hintergrund treten.“ 19
Zum einen bringt der Bundesgerichtshof damit seinen Unmut zum Ausdruck, sich durch seitenlange, sachlich nicht gebotene Biographien quälen zu müssen, andererseits weist er auf die Gefahr hin, dass die Unüberschaubarkeit zu langer Urteile die Gefahr in sich birgt, das Fehlen von entscheidenden Feststellungen nicht zu bemerken, die zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmals erforderlich gewesen wären.20 Auch sämtliche Vorstrafen des Angeklagten müssen nicht schematisch aufgezählt werden.21 So ist es etwa überflüssig, bei einem mehrfach einschlägig vorbestraften Bankräuber mitzuteilen, dass dieser als 14-jähriger betrunken Mofa gefahren ist oder dass ein Mörder als Jugendlicher wegen eines Ladendiebstahls verwarnt worden war. Die vielfach zu beobachtende Methode, einfach den Computerausdruck aus dem Bundeszentralregister in die Urteilsgründe zu übernehmen, nährt den Verdacht, der Richter habe sich nicht wirklich ernsthaft mit den Vorstrafen des Angeklagten befasst und birgt im Übrigen die Gefahr, dass nach § 51 Abs. 1 BZRG zur Zeit der Hauptverhandlung unverwertbar gewordene Vorstrafen Eingang in die
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BGHR StPO § 267 Abs. 3 S. 1 Strafzumessung 20. So auch Föhrig aaO S. 106, der darauf hinweist, dass Widersprüche in eigener Produktion auf 20 Seiten leichter denn auf 120 Seiten erkannt werden. 21 Vgl. § 243 Abs. 5 S. 3 StPO. 20
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Urteilsgründe finden.22 Andererseits sind nähere Feststellungen zu einschlägigen Vorstrafen immer dann erforderlich, wenn ihnen indizielle oder strafzumessungsrechtliche Bedeutung zukommt, insbesondere auch dann, wenn die Anordnung von Sicherungsverwahrung erwogen wird; dann sind die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB mit allen notwendigen Einzelheiten wie Tatzeit, Vollstreckung und Höhe der Einzelstrafen darzulegen.23 Auch ist - was beim gedankenlosen Abschreiben des Strafregisterauszuges oftmals vergessen wird - der Vollstreckungsstand einzelner Vorverurteilungen dann festzustellen und mitzuteilen, wenn eine Gesamtstrafenbildung mit der neuerlichen Verurteilung in Betracht kommt. Nur so wird das Revisionsgericht nämlich in die Lage versetzt, die Richtigkeit der Gesamtstrafenbildung zu überprüfen.24 Wenn eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe in eine zu vollstreckende Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen wird, sind wegen der Anrechnungspflicht der §§ 58 Abs. 2 S. 2 i. V. m. 56 f Abs. 3 StGB zur Erfüllung von Auflagen erbrachte Leistungen im Urteil mitzuteilen.25 Immer wieder geschieht es auch, dass nach Aufhebung eines Urteils nur im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen in den Gründen des neu ergangenen Urteils „zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen“ auf die Feststellungen des aufgehobenen Urteils zu den persönlichen Verhältnissen Bezug genommen wird; dies ist unzulässig und führt zwingend zu einer ärgerlichen erneuten Urteilsaufhebung, weil die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen systematisch zum Strafausspruch gehören und deshalb bei der ersten Urteilsaufhebung mitaufgehoben waren.26 Nach alledem sind Feststellungen zu Werdegang, Vorleben und Persönlichkeit eines Angeklagten - in angemessener Kürze - bei verurteilenden Erkenntnissen stets notwendig, um nachvollziehbar zu machen, ob der Tatrichter die wesentlichen Anknüpfungstatsachen für die Strafzumessung ermittelt und berücksichtigt hat. Aber auch bei freisprechenden Urteilen können - was in der Praxis häufig übersehen wird und Aufhebungspotential birgt - Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen erforderlich sein, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht notwendig sind.27 Das kann z. B. der Fall sein bei Umständen aus dem Vorleben, denen indizielle Bedeutung für die angeklagte Tat zukommt.
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BGHR StPO § 267 Abs. 1 S. 1 Sachdarstellung 1. BGH StraFo 2010, 256. 24 BGH NStZ-RR 2010, 202. 25 BGH NStZ-RR 2009, 201. 26 BGH StraFo 2004, 211. 27 BGHSt 52, 314; BGH NStZ 2010, 529. 23
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2. Die Feststellungen Die Sachverhaltsschilderung bildet das Kernstück des Strafurteils. Sie soll kurz, klar und bestimmt sein, alles Unwesentliche fortlassen und vor allen Dingen eine in sich geschlossene Darstellung aus einem Guss sein. Während das, was zur Erfüllung des Tatbestandes wichtig ist, präzise geschildert werden muss, können Vor- und Nachgeschichte der Tat kürzer dargestellt werden. Dagegen wird in der Praxis häufig verstoßen. Zwar kann die Darstellung der Vorgeschichte, aus der sich eine Straftat entwickelt hat, zu deren Verständnis geboten sein; wenn aber die Schilderung des eigentlichen Tatgeschehens z. B. auf Seite 50 eines Urteils beginnt, lässt das nur den Schluss zu, dass der Urteilsverfasser nicht die notwendige gedankliche Vorarbeit angestellt hat, eine wertende Auswahl zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu treffen. Genau darin liegt aber die unverzichtbare geistige Leistung, die von einem Richter erwartet wird. Häufig wird dagegen auf die Schilderung des subjektiven Tatbestandes zu wenig Sorgfalt verwendet. Zwar sind Ausführungen zum Vorsatz entbehrlich, soweit er sich unmittelbar aus dem objektiven Geschehen ergibt, so z. B. die Zueignungsabsicht bei einem Banküberfall. Wenn jedoch ein Angeklagter seinem Opfer einen Messerstich in den Oberkörper versetzt, muss zwingend erörtert werden, ob er dies mit Körperverletzungs- oder Tötungsvorsatz getan hat. In Vergewaltigungsfällen genügt es nicht festzustellen, es sei für den Angeklagten erkennbar gewesen, dass er den Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Frau ausführte, weil sich daraus noch nicht ergibt, ob er dies auch erkannt hat. Bei Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB wird häufig vergessen anzugeben, welche Vorstellungen sich der Angeklagte von dem Alter des Kindes gemacht hat. Die Liste solcher - scheinbarer - Selbstverständlichkeiten, deren Nichtbeachtung immer wieder zu Urteilsaufhebungen führt, ließe sich beliebig fortsetzen. Besonders augenfällig ist, dass freisprechende Urteile prozentual betrachtet wesentlich häufiger aufgehoben werden, als verurteilende Erkenntnisse. Das dürfte zwei Gründe haben: Zum einen werden Revisionen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage in der Regel nach reiflicherer Überlegung und eingehenderer Prüfung bei weitem nicht so inflationär und reflexartig eingelegt wie solche der Angeklagten. Sowohl den Generalstaatsanwaltschaften als auch dem Generalbundesanwalt, die nicht erfolgversprechende staatsanwaltschaftliche Revisionen bereits im Land anhalten, bzw. auf deren spätere Rücknahme hinwirken, kommt insoweit eine nicht zu unterschätzende Filterfunktion zu.
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Daraus erklärt sich auch die wesentliche höhere Erfolgsquote staatsanwaltschaftlicher Revisionen.28 Zum anderen liegt die höhere Aufhebungsquote vermutlich darin begründet, dass die Tatgerichte „im Freisprechen weniger geübt“ sind und die formalen Anforderungen an ein freisprechendes Urteil von denen eines verurteilenden Erkenntnisses durchaus abweichen. So ist im Falle eines Freispruchs zunächst kurz der Anklagevorwurf aufzuzeigen; ausnahmsweise sind auch Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen erforderlich.29 Sodann muss - wogegen häufig verstoßen wird - in einer geschlossenen Darstellung aufgezeigt werden, welchen Sachverhalt das Gericht als festgestellt erachtet. Erst danach ist zu erörtern, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden konnten.30 Wenn diese Grundsätze vom Tatrichter nicht beachtet werden, ist eine Urteilsaufhebung wegen Darstellungsmängeln nahezu unvermeidbar.31 Zuletzt besteht noch Anlass zu dem Hinweis, dass - was die Tatgerichte bisweilen verkennen - auch eine vorangegangene Verständigung nicht von der Verpflichtung enthebt, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt aufzuklären und darzulegen, um dem Revisionsgericht eine entsprechende Prüfung zu ermöglichen.32
3. Die Beweiswürdigung Eine vollständige und erschöpfende Beweiswürdigung muss die Einlassung des Angeklagten sowie den maßgeblichen Inhalt der übrigen erhobenen Beweise wiedergeben und zusammenfassend begründen, warum die Feststellungen so und nicht anders getroffen wurden. Dabei trennt sich - um es bildlich auszudrücken - häufig „die Spreu vom Weizen“. In einem reinen Indizienprozess, z. B. bei einem Mord ohne Leiche und einem schweigenden Angeklagten, plausibel darzulegen, warum man von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt ist, erfordert einiges Geschick, müssen doch die Beweisgründe in sich logisch, geschlossen, klar und frei von Lücken oder Widersprüchen sein. Insbesondere müssen sie sich mit allen naheliegenden 28 Ca. 95 % der Revisionen werden von Angeklagten eingelegt und führen in 12 % der Fälle zumindest zu einem Teilerfolg. 4 % der Revisionen, die aber zu 40 % erfolgreich sind, entfallen auf die Staatsanwaltschaften; das restliche 1 % sind zu 10 % erfolgreiche Nebenklägerrevisionen. 29 Vgl. oben III. 1. 30 Meyer-Goßner/Appl aaO Rn 622; BGH NStZ-RR 2009, 116; 2010, 182. 31 Vgl. zuletzt z. B. BGH NStZ-RR 2009, 116; 2010, 182; Urt. v. 25. März 2010 – 1 StR 601/09. 32 BGH NStZ-RR 2010, 54 mwN.
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Tatsachen und Umständen, die Schlüsse zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zulassen, auseinandersetzen. Dabei ist es allerdings - wie weit verbreitet und nicht ausrottbar - nicht erforderlich, ja bisweilen sogar schädlich, zunächst einmal aufzuzählen, welche Zeugen und Sachverständige das Gericht in der Hauptverhandlung vernommen, welche Urkunden es verlesen und welche Gegenstände es in Augenschein genommen hat. Wird etwa ein in der Anklage benannter Zeuge aufgeführt, auf den aber in der Hauptverhandlung verzichtet worden ist oder wird die Verlesung einer Urkunde behauptet, obwohl sie nur vorgehalten worden ist, kann dies die Revision begründen.33 Ebenso verfehlt wäre es, den Inhalt der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu dokumentieren, indem etwa die Zeugenaussagen der Reihe nach und in ihren Einzelheiten mitgeteilt oder über Seiten sämtliche Gesprächsinhalte einer Telefonüberwachung wiedergegeben werden. Auch ist es völlig überflüssig, für jede Feststellung, z. B. dazu, welchen Schulabschluss ein Angeklagter erworben hat, in den Urteilsgründen einen Beleg zu erbringen, also jeweils zu sagen „diese Feststellung beruht auf…., jene Feststellung beruht auf….“. Vielmehr muss das Beweisergebnis gesichtet und darf nur soweit erörtert werden, wie es für die Entscheidung von Bedeutung ist; alle nebensächlichen Einzelheiten sind fortzulassen. Wenn gegen diese scheinbar einfachen und einleuchtenden Grundregeln immer wieder von denselben Strafkammern eklatant verstoßen wird, entlädt sich der dadurch beim Bundesgerichtshof aufgestaute Unmut gelegentlich eruptionsartig wir folgt: „Die Fassung der 129 Seiten umfassenden Urteilsgründe gibt dem Senat Anlass zu folgendem Hinweis: Die schriftlichen Urteilsgründe dienen, wie der Senat schon wiederholt zu bemerken Anlass hatte, weder der Darstellung eines bis in verästelte Einzelheiten aufzuarbeitenden ‚Gesamtgeschehens’ noch der Nacherzählung des Ablaufs der Ermittlungen oder des Gangs der Hauptverhandlung. Es ist Aufgabe des Richters, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und die Begründung seiner Entscheidungen so zu fassen, dass der Leser die wesentlichen, die Entscheidung tragenden tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen ohne aufwändige eigene Bemühungen erkennen kann. Urteilsgründe sollen weder allgemeine ‚Stimmungsbilder’ zeichnen noch das Revisionsgericht im Detail darüber unterrichten, welche Ergebnisse sämtliche im Hauptverhandlungsprotokoll verzeichneten Beweiserhebungen gehabt haben. Das vorliegende Urteil wird dem nicht gerecht. Der Leser erfährt erstmals auf UA S. 32, um welchen möglicherweise strafbaren Sachverhalt es überhaupt geht. 33
Vgl. BGHR StPO § 52 Abs. 1 Nr. 3 Mitbeschuldigter 10; BGH NStZ 2000, 211.
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Die dann folgenden tatsächlichen Feststellungen zu den 5 abgeurteilten Taten umfassen insgesamt 7 ½ Seiten; sie werden mehrmals unterbrochen von insgesamt 8 ½ Seiten mit Feststellungen, die jeweils mit ´nicht angeklagt´ überschrieben sind und deren Sinn sich dem Leser daher nicht erschließt. Auf den folgenden 17 Seiten wird in unübersichtlicher, verzweigter und weitschweifiger Weise die Aufdeckung der Taten nacherzählt; weitere 7 Seiten schildern den Gang des Ermittlungsverfahrens. Auf UA S. 67 erfährt der Leser erstmals, ob und wie der Angeklagte sich eingelassen hat; von UA S. 71 bis 107 folgen sodann mehr als 35 Seiten mit Erwägungen über die Glaubwürdigkeit der Geschädigten. In 28 Abschnitten schließen sich Ausführungen dazu an, worauf eine kaum zu überblickende Vielzahl teilweise unbedeutender oder nur das Randgeschehen betreffender Feststellungen ‚beruht’; die Gliederung dieser Abschnitte ist überdies weder mit derjenigen der Anklage noch mit der Nummerierung der Taten identisch. Eine solche unübersichtliche Breite ist weder durch § 267 StPO noch sachlichrechtlich geboten. Sie ist geeignet, den Blick auf das Wesentliche zu verstellen. So erscheint es symptomatisch, dass im vorliegenden Urteil zwar Nebensächlichkeiten breit dargestellt sind, wesentliche Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand der abgeurteilten Taten jedoch fehlen. Das Abfassen unangemessen breiter Urteilsgründe führt auch zu einer vermeidbaren Vergeudung personeller Ressourcen. Angesichts der durchweg hohen Belastungen der Strafjustiz sollte es im Interesse der Tatgerichte liegen, Arbeitskraft und Zeit nicht für das Verfassen mehrerer hundert Seiten starker Urteilsgründe in einfach gelagerten Fällen aufzuwenden. Soweit von tatrichterlicher Seite gelegentlich darauf hingewiesen wird, eine möglichst breite und umfassende Darstellung aller Einzelheiten empfehle sich, um möglichen Beanstandungen wegen des Fehlens einzelner Erörterungen durch das Revisionsgericht zuvorzukommen, erscheint dies verfehlt. Die sogenannte ‚Revisionssicherheit’ von Strafurteilen ist kein Selbstzweck, sondern ergibt sich aus ihrer Freiheit von Rechtsfehlern. Eine unnötige breite Darlegung von Nebensächlichkeiten, gedanklichen Zwischenschritten und Randgeschehen ist aber, wie das vorliegende Urteil beispielhaft zeigt, gerade nicht geeignet, Fehler zu vermeiden, welche den Bestand des Urteils gefährden. Der Senat verkennt nicht, dass die die Abfassung der Urteilsgründe stets auch Ausdruck individueller richterlicher Gestaltung und Bewertung sowie der in Spruchkörpern gewachsenen Erfahrung und Übung ist. Hiergegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Kommt es aber zu einer auffälligen Häufung bestimmter fehlerhafter Entwicklungen oder zu erheblichen Abweichungen zwischen einzelnen Gerichten, ist es Aufgabe des Revisionsgerichts, dem entgegen zu wirken.“34
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BGH NStZ 2007, 720 unter Vorsitz der Jubilarin; ähnlich BGH NStZ 2002, 49; NStZ-RR 2009, 183.
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Dem ist nichts hinzuzufügen. Ungeachtet dieser Kritik an der Arbeitsweise einiger Strafkammern gilt selbstverständlich der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Es ist zunächst Sache des Tatrichters das Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen. Er hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.35 Dabei hat er den festgestellten Sachverhalt erschöpfend zu würdigen und dies in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht überprüfbar darzulegen. Im Zweifel hat er zugunsten des Angeklagten zu entscheiden - in dubio pro reo. Insoweit handelt es sich jedoch um eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung zu gewinnen vermag.36 Allerdings braucht der Tatrichter entlastende Angaben eines Angeklagten, für deren Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinzunehmen; vielmehr hat er sich aufgrund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme eine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Behauptung zu bilden.37 An dieser Stelle ist auch noch darauf hinzuweisen, dass der Einlassung eines Angeklagten, der sich - wie seit einiger Zeit „in Mode“ gekommen - nur durch einen vom Verteidiger verlesenen Schriftsatz erklärt und Nachfragen nicht zulässt, ein erheblich geminderter Beweiswert zuzumessen ist. Dies deshalb, weil in einem solchen Fall die Einlassung eines Angeklagten nur bedingt einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich ist.38 Das Revisionsgericht kann die Beweiswürdigung nur in engen Grenzen nachprüfen. So wird es einen Erörterungsmangel nur dann feststellen, wenn sich der Tatrichter über gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzt, wenn er gegen zwingende Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln verstößt, wenn seine Ausführungen widersprüchlich oder lückenhaft sind oder wenn er z. B. im Falle eines Freispruchs überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung stellt.39 Dabei kann unter Umständen schon ein einziges unbedachtes oder überflüssiges Wort zur Urteilsaufhebung führen und die Arbeit mehrerer Monate zunichtemachen. So hatte z. B. ein Landgericht in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen seine Überzeugung im Wesentlichen aus den Aussagen des Tatopfers gewonnen und dazu ausgeführt, die Geschädigte habe das Tatgeschehen gegenüber der Polizei, im 35
BGHSt 10, 208. BGH NStZ-RR 2007, 43. 37 BGHSt 51, 324. 38 BGH StV 2008, 126. 39 St. Rspr, vgl. BGH NJW 2008, 2792, 2793; NStZ-RR 2010, 182. 36
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Rahmen ihrer Glaubwürdigkeitsbegutachtung und gegenüber dem Gericht im Kerngeschehen „weitgehend“ konstant wiedergegeben. Das - möglicherweise nur lapidar aus Gedankenlosigkeit eingefügte - Wort „weitgehend“ veranlasste den Bundesgerichtshof zu folgenden Ausführungen: „Das Landgericht beschränkt sich jedoch darauf mitzuteilen, dass die Aussagen im Kernbereich ‚weitgehend’ konstant waren…, lässt dies besorgen, dass die Aussagen der Nebenklägerin auch im Kernbereich nicht konstant waren. Das Landgericht hat es danach rechtsfehlerhaft unterlassen, die Abweichungen der einzelnen Aussagen darzustellen und nachvollziehbar zu begründen, weshalb die Aussage der Nebenklägerin gleichwohl insgesamt glaubhaft sein soll.“40
Wenn der Richter seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten jedoch zweifelsfrei begründet hat, ist das Revisionsgericht nicht befugt, eine eigene Bewertung vorzunehmen und seine Überzeugung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen. Dies gilt auch dann, wenn es die auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruhenden Schlussfolgerungen des Tatrichters zwar für möglich, aus seiner Sicht aber andere Schlüsse für naheliegender oder wahrscheinlicher erachtet. Ergibt die - in einem solchen Fall vielleicht etwas kritischere - Rechtsprüfung keinen Rechtsfehler, lautet das geflügelte Wort: „Die Sache geht mit dem Tatrichter heim“.
4. Die rechtliche Würdigung Wenn sich aus der Sachverhaltsschilderung für den kundigen Leser die verwirklichten Tatbestände zweifelsfrei ergeben, d. h. wenn alle Tatbestandsmerkmale durch Tatsachenfeststellungen ausgefüllt sind, erübrigen sich Rechtsausführungen in aller Regel. Es genügt dann festzustellen, der Angeklagte habe sich wegen Körperverletzung oder Diebstahls strafbar gemacht. Im Einzelnen gehört ein wenig Gespür und Routine dazu, wann und in welchem Umfang Rechtsausführungen nötig sind. Kommen z. B. mehrere Tatbestandsalternativen wie etwa bei der Hehlerei oder im konkreten Fall mehrere Qualifikationen wie bei Raub oder Vergewaltigung in Betracht, muss stets herausgearbeitet werden, welche jeweils vorliegt. Vertiefte Ausführungen sind ebenso erforderlich, wenn in subjektiver Hinsicht (z. B. bei der Verwirklichung von Mordmerkmalen) Zweifel bestehen, wenn z. B. bei BtM-Delikten die Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe im Raum steht oder wenn Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe in Betracht zu ziehen sind. Bei der Verurteilung wegen einer versuchten Straf40
BGH Beschl. v. 17. Juni 2009 – 2 StR 178/09.
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tat, insbesondere bei versuchten Tötungsdelikten, sind Ausführungen zu einem möglichen Rücktritt gemäß § 24 StGB geradezu unerlässlich. Der Tatrichter muss stets prüfen und sollte dies auch darlegen, ob ein Versuch beendet, unbeendet oder fehlgeschlagen war, bzw. ob der Täter die weitere Tatausführung freiwillig aufgegeben hat. Anderenfalls ist - in der Praxis keineswegs selten - eine Urteilsaufhebung nahezu unumgänglich. Spätestens im Rahmen der rechtlichen Würdigung ist auch, wenn dazu Anlass besteht, die - verminderte oder ausgeschlossene - Schuldfähigkeit des Angeklagten zu erörtern. Die fehlerhafte Anwendung oder Nichtanwendung des § 21 StGB mit den sich daraus für die Strafzumessung sowie für die Maßregelanordnung ergebenden Konsequenzen ist der Grund, der zu den meisten Urteilsaufhebungen beim Bundesgerichtshof führen dürfte.41 Dabei sind es vor allem zwei Dinge, die immer wieder Anlass zu Beanstandungen geben: Zum einen scheint vielen Tatrichtern der Unterschied zwischen Einsichtsund Steuerungsfähigkeit und die sich daraus ergebenden Folgen nicht bewusst zu sein. Zum anderen gelingt der richtige Umgang mit Sachverständigengutachten teilweise nicht. Erst jüngst hat sich der zweite Strafsenat des BGH unter Vorsitz der Jubilarin in einem Fall, wo beides zusammentraf, wie folgt geäußert: „Zwar hat der gehörte psychiatrische Sachverständige ausgeführt, ‚die Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führe dazu, dass bei einer akuten Phase die Steuerungsfähigkeit vollkommen ausgeschlossen sei, aber ansonsten erheblich eingeschränkt sei’. Damit wären die Voraussetzungen einer Anordnung nach § 63 StGB gegeben. Das Landgericht gibt auch vor, den Ausführungen des Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit folgen zu wollen. Tatsächlich aber stellt die Strafkammer darauf ab, die Fähigkeit des Beschuldigten, das Unrecht seiner Taten einzusehen, sei zumindest erheblich vermindert, wenn nicht sogar vollkommen ausgeschlossen gewesen. Damit aber scheidet nach ständiger Rechtsprechung die Anwendung des § 21 StGB aus, weil der Täter bei hier möglicherweise nur erheblicher Verminderung der Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte erkennt, die Einsicht also tatsächlich hat (Fischer, StGB, 57. Aufl., § 21 Rn. 3 mwN). An eine bloße Verminderung der Einsichtsfähigkeit, die nicht zum Fehlen der Einsicht geführt hat, kann eine Maßregel nach § 63 StGB nicht geknüpft werden (BGHSt 34, 22, 26 f; NStZ 2006, 682, 683; NStZ-RR 2007, 73). Diese, durch das Revisionsgericht nicht ausräumbaren Widersprüche führen zur Aufhebung des Urteils.“ 42
41 42
So schon Meyer-Goßner NStZ 1988, 529, 534. BGH Beschl. v. 18. August 2010 – 2 StR 311/10.
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Während obige Ausführungen zu § 21 StGB selbsterklärend sind, noch einige Hinweise zum Umgang mit Sachverständigengutachten, die gegebenenfalls sowohl bei der Beweiswürdigung - z. B. Glaubhaftigkeitsgutachten - als auch bei den Rechtsausführungen - z. B. Schuldfähigkeitsgutachten - und schließlich auch bei den Rechtsfolgenausführungen - z. B. psychiatrische Gutachten zu §§ 63, 64, 66 StGB - Eingang in die Urteilsgründe finden müssen: An den Inhalt eines Gutachtens ist der Richter nicht gebunden, es ist nur Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung. Schließt sich der Richter dem Ergebnis der Beurteilung eines Sachverständigen an, ist er grundsätzlich verpflichtet, wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiederzugeben, wie es zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Fehlerfreiheit notwendig ist.43 Geschieht dies mit eigenen Worten und erfolgt dessen Würdigung gegebenenfalls unter Hinweis auf eigene Prozessbeobachtungen und Überlegungen ist dies ein Beleg dafür, dass der Tatrichter hinter dem Gutachten steht, weil er es verstanden hat.44 Gelangt der Richter hingegen zu einem anderen Ergebnis als der Sachverständige, darf er sich nicht ohne Begründung oder mit laienhaften Erwägungen über die Meinung des Sachverständigen hinwegsetzen. Vielmehr muss er seine gegenteilige Ansicht genau begründen und dabei erkennen lassen, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat.45 Dazu muss er die Darlegungen des Sachverständigen im Einzelnen wiedergeben, insbesondere welche Verfahren der Sachverständige herangezogen hat, welchen Aussagewert sie haben und welche Vorgehensweise bei ihnen zu beachten ist.46
5. Der Rechtsfolgenausspruch Für den - insbesondere geständigen - Angeklagten ist dieser Urteilsteil oftmals von größtem Interesse. Zum Rechtsfolgenausspruch zählen neben der Strafe vor allem auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie Verfall und Einziehung. Ohne auf die vielfältigen Fehlermöglichkeiten bei der Begründung des Rechtsfolgenausspruchs im Einzelnen eingehen zu können, sollen hier nur die wichtigsten, immer wieder auftauchenden Mängel angesprochen werden.
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BGHSt 34, 29, 31; BGH Beschl. v. 14. April 2010 – 5 StR 123/10. Föhrig aaO S. 105. 45 BGH NStZ 2009, 571; NStZ-RR 2010, 105. 46 BGH NStZ 2005, 628. 44
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a. Die Strafzumessungsgründe müssen sachlich abgefasst werden. Moralisierende und persönliches Engagement vermittelnde Formulierungen sind zu vermeiden, da sie den Eindruck erwecken können, das Gericht sei nicht unbefangen, habe sich von Emotionen oder Empörung leiten lassen und wäge die für und wider den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte nicht ruhig und sachlich gegeneinander ab.47 Auch eine mathematisierende Betrachtungsweise, etwa das Abstellen auf das arithmetische Mittel des angewandten Strafrahmens, wird dem Vorgang der Strafzumessung nicht gerecht.48 Spätestens bei der Strafzumessung ist - soweit nicht schon im Rahmen der rechtlichen Würdigung geschehen - insbesondere bei länger zurückliegenden Sexualstraftaten gemäß § 2 Abs. 3 StGB zu erwägen, ob nicht ein früheres, zur Tatzeit oder danach gültig gewesenes Gesetz eine mildere Rechtsfolge vorgesehen hätte. Sieht der anzuwendende Straftatbestand die Möglichkeit von minder schweren oder besonders schweren Fällen vor und kommen gleichzeitig weitere sogenannte vertypte Milderungsgründe z. B. aus §§ 21, 23 Abs. 2, 27 Abs. 2 S. 2, 30 Abs. 1 S. 2, 46 a, 46 b StGB, § 31 BtMG i. V. m. § 49 StGB in Betracht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Richter die erforderliche Gesamtabwägung vorgenommen hat und - gegebenenfalls aufgrund einer Mehrfachmilderung - von dem für den Angeklagten günstigsten Strafrahmen ausgegangen ist.49 Bei der Strafzumessung im engeren Sinne, also der Festlegung der konkreten Strafe innerhalb des gefundenen Strafrahmens, muss der Tatrichter die bestimmenden Umstände - und nur diese - mitteilen und dabei darauf achten, nicht solche Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, strafschärfend heranzuziehen; so darf er z. B. dem wegen Totschlags verurteilten Angeklagten nicht anlasten, er habe bedenkenlos ein Menschenleben ausgelöscht; darin läge ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Ebenso wenig darf einem die Tat bestreitenden Angeklagten das Fehlen von Schuldeinsicht oder Reue, bzw. die Bagatellisierung seines Verhaltens50 angelastet werden. Bei der strafschärfenden Heranziehung von Vorstrafen ist das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG bei Tilgungsreife zu beachten. Stets ist zu prüfen, ob noch nicht erledigte Vorverurteilungen gesamtstrafenfähig sind. Dazu ist - was häufig unbeachtet bleibt - der jeweilige Voll47
BGH NStZ 2006, 96; NStZ-RR 2007, 195; 2009, 103, 104; vgl. auch BGHR StGB § 46 Abs. 2 Persönlichkeit 1: Der Angeklagte sei „ein in jeder Hinsicht gescheiterter Mensch, ein Niemand“ und „ein im sozialen Sinne höchst lästiger Mensch.“ 48 BGH NStZ 2008, 233. 49 Dazu im Einzelnen Meyer-Goßner/Appl aaO Rn 444 ff. 50 Dazu zuletzt BGH Beschl. v. 8. September 2010 – 2 StR 407/10.
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streckungsstand mitzuteilen und gegebenenfalls ist ein Härteausgleich vorzunehmen, was den Urteilsgründen hinreichend deutlich zu entnehmen sein muss.51 Bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen hat der Tatrichter nach neuer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs52 unter Anwendung der sogenannten Vollstreckungslösung zu bestimmen, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt. Dass - ebenso wie bei der Beweiswürdigung53 - auch bei der Begründung der Strafe sorgfältigstes Arbeiten vonnöten ist, weil ein einziges unbedachtes Wort zur Aufhebung führen kann, belegt eine aktuelle Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs:54 Das Landgericht hatte gegen einen nicht vorbestraften und geständigen Täter eine kurze, zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von drei Monaten verhängt und unter Bezugnahme auf § 47 Abs. 1 StGB sehr ausführlich begründet, warum die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe statt einer Geldstrafe „geboten“ war. Damit war die Aufhebung im Strafausspruch unvermeidbar, weil die Strafkammer ihrer Entscheidung einen falschen Prüfungsmaßstab zu Grunde gelegt hatte. Hätte sie, den Wortlaut des § 47 Abs. 1 StGB beachtend, dargelegt, dass nach ihrer Einschätzung die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe „unerlässlich“ war, wäre dagegen nichts zu erinnern gewesen.55
b. Wird eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, ist diese nach § 267 Abs. 6 S. 1 StPO im Urteil zu begründen.56 Umgekehrt gilt der Begründungszwang auch dann, wenn, obwohl sich insbesondere die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB nach den Urteilsgründen aufdrängte, eine Auseinandersetzung mit dieser Frage nicht erfolgt ist.57 Anordnung und Vollzug der Maßregel setzen die hinreichend konkrete Aussicht voraus, die süchtige Person zu heilen oder zumindest über eine erhebliche Zeitspanne vor einem Rückfall in die Sucht zu bewahren. Obwohl dies seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 199458 auch ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist und zudem durch Gesetz vom 16. Juli 2007 (BGBl. I 1327) in § 64 StGB seinen Niederschlag gefunden hat, stellen nach wie vor zahlreiche Tatgerichte die Erwägung an, ein Behandlungserfolg sei „nicht von vornherein als aus51
BGH StV 2010, 240. BGHSt 52, 124. 53 Dazu oben III. 3. 54 BGH Beschl. v. 8. September 2010 – 2 StR 407/10. 55 Vgl. Fischer StGB, 57. Aufl. § 47 Rn 7 und 10. 56 Zu den Urteilsanforderungen für den Fall eines Teilvorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 StGB n. F. s. oben unter III. sowie BGH NStZ 2009, 87. 57 BGH Beschl. v. 2. September 2010 – 2 StR 388/10. 58 BVerfGE 91, 1. 52
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sichtslos zu betrachten“, was in der Regel zur Aufhebung durch das Revisionsgericht führt.59 Die Unterbringung nach § 64 StGB geht der freiwilligen Therapie nach § 35 BtMG auch nach der Herabstufung des § 64 StGB zu einer Sollvorschrift weiterhin vor.60 Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt - was immer noch gelegentlich verkannt wird - anders als die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt voraus, dass die Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit des Täters positiv festgestellt wird, also nicht etwa nur nicht auszuschließen ist.61 Soweit die Verminderung der Einsichtsfähigkeit nicht das Fehlen der Einsicht bei Tatbegehung ausgelöst hat, kommt eine Unterbringung nicht in Betracht.62 Die Anordnung des § 63 StGB verlangt Ausführungen dazu, dass zwischen dem seelischen Zustand des Angeklagten und dessen Gefährlichkeit ein sogenannter symptomatischer Zusammenhang besteht. Weiter bedarf es einer genauen, eingehend zu begründenden Auseinandersetzung mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit neuerlicher schwerer Störungen des Rechtsfriedens unter Berücksichtigung des früheren Verhaltens des Angeklagten, vor allem auch der Gründe für seine bisherigen Straftaten.63 Geht es um die Anordnung der Sicherungsverwahrung,64 ist besonderes Augenmerk auf die Darlegung der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB zu richten, die sich in allen vier möglichen Alternativen (Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 1 und Abs. 3 S. 2) erheblich unterscheiden. Auch an die Begründung der materiellen Voraussetzungen stellen die Revisionsgerichte wegen des besonders einschneidenden Eingriffs in die Handlungsfreiheit eines Betroffenen hohe Anforderungen, weshalb insbesondere zu Hang und Gefährlichkeit eine gewissenhafte Argumentation angezeigt ist.65
c. Was schließlich die Anordnung von Verfall, Verfall von Wertersatz, erweitertem Verfall und Einziehung (§§ 73 ff. StGB sowie vor allem auch § 33 BtMG) anbelangt, kommt man um die Feststellung nicht umhin, dass es sich für manchen Tatrichter um „terra incognita“ handelt. Die zugegeben recht komplizierten Regelungen führen in der Praxis immer wieder zu Fehl59
Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Fischer aaO § 64 Rn 18 sowie BGH StraFo 2009, 247: „Es ist daher nicht verständlich, dass Tatgerichte entgegen dem Gesetzeswortlaut noch immer an einer Auslegung des § 64 StGB festhalten, die der seit 15 Jahren ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung widerspricht.“ 60 BGH StV 2008, 405. 61 BGH NStZ-RR 2007, 105. 62 Vgl. dazu oben III. 4. 63 BGH NStZ-RR 2006, 136. 64 Von der Jubilarin kommentiert im Leipziger Kommentar seit der 12. Auflage. 65 Vgl. BGH NStZ-RR 2010, 77.
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entscheidungen, weil die gesetzlich richtige und gebotene Maßnahme aufgrund oberflächlicher Befassung nicht getroffen wird. Zwar wird - weil in einer Vielzahl von Strafverfahren (BtM-, Untreue-, Betrugsverfahren) veranlasst - irgendeine Maßnahme angeordnet. In der Regel wird diese dann aber - aus Bequemlichkeit, Unsicherheit oder gar Unkenntnis - nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbar und auf Rechtsfehler überprüfbaren Weise begründet. Das Revisionsgericht stellt dann entweder das Ganze richtig66 oder sieht sich mangels ausreichender Feststellungen z. B. zu den Vermögensverhältnissen des Täters zu einer Teilaufhebung genötigt.67 Angesichts der Vielzahl von Verfahren, in denen eine Verfalls- oder Einziehungsentscheidung zu treffen ist, kann jedem Richter nur nahe gelegt werden, sich mit der Systematik dieser Vorschriften vertraut zu machen und dies in den Urteilsgründen entsprechend auszuweisen.
IV. Stil und Sprache eines guten Urteils Zur Einleitung wiederum ein Zitat von Vultejus :68 „Es gilt also, das Wohlwollen des Revisionsrichters zu erringen. Er muss von der Richtigkeit des Urteils überzeugt sein, wenn er es gelesen hat. Ist es gelungen, diese Überzeugung zu wecken, besteht das angegriffene Urteil die Prüfung in der Revisionsinstanz, mag kommen was will. Nie aber wird ein Revisionsrichter ein Urteil bestätigen, dass er im Ergebnis für falsch hält, mag es noch so fachgerecht begründet sein.“
Dieser Aussage ist, was den zweiten Teil des Zitats anbelangt, entschieden zu widersprechen. Entgegen allen „Stammtischparolen“ prüft der Bundesgerichtshof ihm vorgelegte Urteile ausschließlich auf Rechtsfehler. Weist ein Urteil einen durchgreifenden Rechtsfehler auf, unterliegt es der Aufhebung; anderenfalls wird die Revision verworfen. Ob der Strafsenat einen Angeklagten im Gegensatz zum Landgericht eher verurteilt bzw. freigesprochen oder ihn härter bzw. milder bestraft hätte, spielt dabei keine Rolle! Uneingeschränkt zuzustimmen ist aber dem Rat, sich das Wohlwollen des Revisionsrichters zu sichern, wobei zu fragen ist „wozu“ und „wie“? Die Frage nach dem „wozu“ ist schnell beantwortet: Zum einen gibt es objektivierbare Rechtsfehler z. B. im Rahmen der rechtlichen Würdigung, die stets zur Urteilsaufhebung zwingen. Zum anderen besteht aber in bestimmten 66
So zuletzt BGH Beschl. v. 8. September 2010 – 2 StR 396/10. BGHSt 53, 179. 68 Vultejus aaO S. 131. 67
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Bereichen oft ein gewisser Beurteilungsspielraum des Revisionsgerichts, wenn es um „lässliche Fehler“ geht, so z. B. bei der Frage, ob die tatsächlichen Feststellungen zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmals gerade noch ausreichen oder ob die angestellten Beweiserhebungen eine Überzeugungsbildung gerade noch zu rechtfertigen vermögen. Es liegt in der menschlichen Natur, dass nicht alle Revisionsrichter bei der Bewertung solcher Grenzfälle in revisionsrechtlichen Grauzonen stets übereinstimmen. Deshalb ist es auch kein Geheimnis, dass in Grenzfällen ein Urteil vor einem Senat bestand haben könnte, vor einem anderen jedoch nicht. Mitunter kann der Bestand eines Urteils - wenn auch nur in wenigen Ausnahmefällen sogar von der jeweiligen Senatsbesetzung abhängig sein. Dass nun einem Urteil eine solch wohlwollende Betrachtungsweise durch den Senat zu Gute gekommen ist, erfährt der Urteilsverfasser aus in Revisionsentscheidungen gelegentlich anzutreffenden Formulierungen wie „aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich gerade noch, dass …“. Etwas überspitzt wird gelegentlich von einem „Heilen“ bzw. „Gesundbeten“ des Urteils durch das Revisionsgericht gesprochen. Wie aber verdient man sich eine solch wohlwollende Gesamtbetrachtung? Der normale Leser legt ein schlecht geschriebenes, schwer verständliches Buch alsbald zur Seite und wendet sich einem anderen zu. Diese Freiheit hat ein Revisionsrichter nicht; er muss ein angefochtenes Urteil aufmerksam von Anfang bis Ende lesen, sei es auch noch so langatmig, unstrukturiert und sprachlich misslungen. Das erregt zwangsläufig den Unmut des Lesers und findet gelegentlich Niederschlag in entsprechenden Anmerkungen im Senatsheft, die nicht unbedingt auf Wohlwollen schließen lassen.69 Dabei würde es - was leider alles andere als selbstverständlich ist - genügen, einige Grundregeln zu beherzigen. So müssen sich Stil und Sprache eines Urteils an dessen Funktion orientieren: Sachlich, präzise und allgemein verständlich.70 Ein gelungenes Urteil zeichnet sich durch einen guten Stil aus. Der Richter soll nicht nur richtiges Recht sprechen, sondern auch das Recht richtig sprechen.71 Dabei ist die Sprache das Werkzeug des Juristen, das es zu pflegen und zu verbessern gilt. Die Sucht, sich möglichst kompliziert auszudrücken nach dem Motto: „Je höher die Stelzen, desto erhabener der Gang“ führt hingegen manchmal zum gegenteiligen Ergebnis.72 Deshalb ist wichtigstes Erfordernis des Stils die Klarheit. Klar schreiben kann freilich nur, wer auch klar denkt; hingegen verbirgt sich hinter einer weitschweifigen, verwickelten Darstellungsweise meist auch ein unklares Denken. Ein 69
Vgl. oben I. Winkler aaO S. 246. 71 Jasper MDR 1986, 198, 200. 72 Barfuß DRiZ 1987, 49, 53. 70
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zusammenhängender „Brei“ von der ersten bis zur letzten Seite der Urteilsgründe ohne Absätze und vernünftige Gliederung ist für jeden Leser eine Zumutung. Gleiches gilt, wenn bei einer Mehrzahl von Straftaten Fallziffern abweichend von der Anklage und zudem im Sachverhalt bei der Beweiswürdigung, der rechtlichen Würdigung und bei der Strafzumessung unterschiedlich verwendet werden.73 Da der Richter mit Erlass eines Urteils ein Hoheitsrecht des Staates ausübt, hat er nicht die Freiheit, die sonst jedem Schriftsteller zuzubilligen ist. Seine Ausdrucksweise soll schlicht und würdig, keinesfalls aber lustig, ironisch oder gar sarkastisch sein.74 Urteile in Gedichtsform, humoristisch75 oder in Form eines Kriminalromans76 abzufassen, mag zwar lustig scheinen, wird aber der Tragik der abgeurteilten Verbrechen nicht gerecht, wirkt auf Opfer bzw. deren Hinterbliebene zumindest befremdlich und ist unvereinbar mit der Würde des Gerichts. Das Urteil darf keine Sprachfehler enthalten. Gutes und richtiges Deutsch sollte selbstverständlich sein. Nachlässigkeiten in diesem Punkt könnten beim Leser den Verdacht aufkommen lassen, auch die inhaltliche, vornehmlich die rechtliche Qualität, sei in gleicher Weise zweifelhaft.77
V. Resümee Ein Urteil, das verständlich geschrieben nicht zu lang und nicht zu kurz ist, alles Wesentliche - und nur das - enthält, den Leser von der Richtigkeit seiner Feststellungen durch eine prägnante Beweiswürdigung überzeugt, seine rechtliche Bewertung fehlerfrei darlegt und für die verhängten Rechtsfolgen uneingeschränkte Zustimmung erntet, ist durchaus ein kleines, in der Praxis gelegentlich anzutreffendes Kunstwerk. Ebenso wenig wie jedes Buch das Zeug zum Bestseller hat, kann aber auch nicht jedes Urteil ein Kunstwerk sein. Das muss es auch nicht, um Erfolg zu haben, das heißt in diesem Fall die Rechtsprüfung durch das Revisionsgericht zu bestehen. Es sollte jedoch handwerklich gut gemacht sein, um sich - z. B. wenn es um die Auslegung der Urteilsgründe geht - das Wohlwollen des Revisionsgerichts zu sichern bzw. wenigstens dessen Unmut nicht zuzuziehen. Eine angemessene Sorgfalt in die Abfassung der Urteilsgründe zu investieren spart einem weiteren Tatrichter unter Umständen eine erneute langwierige 73
BGH wistra 2010, 67; BGH Urt. v. 13. Januar 2010 – 1 StR 247/09. BGH NStZ-RR 2000, 293 [K]. 75 So z. B. LG Köln NJW 1987, 1421 oder AG Rheine NJW 1995, 894. 76 BGH NStZ-RR 1999, 261 [K] betreffend ein Urteil des LG Bochum; BGH NStZ-RR 2009, 103, 104. 77 So auch Winkler aaO S. 246. 74
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Hauptverhandlung, wiederum verbunden mit dem Abfassen eines Urteils; dem Revisionsrichter erleichtert es die Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils und bringt ihn nicht in die Bedrängnis, ein möglicherweise „richtiges“ Urteil nur deshalb aufheben zu müssen, weil es „falsch“ geschrieben ist.
Zum Umgang des Revisionsgerichts mit § 64 StGB CLEMENS BASDORF UNTER MITARBEIT VON URSULA SCHNEIDER UND PETER KÖNIG
A. Einleitung In einem Antwortbeschluss nach § 132 GVG unter dem Vorsitz der Jubilarin zur Problematik der Fassung und Verlesung des Anklagesatzes in Wirtschafts-Serienstrafverfahren hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unlängst eine Art „dialektischer“ Begründungsstruktur gewählt. Unter Hinweis darauf, dass die Erörterung im Senat kein einheitliches Meinungsbild ergeben habe, wurden die divergierenden Standpunkte dargestellt.1 Was bei üblichen Beschlüssen nicht möglich wäre, erscheint beim Ringen um schwierige Rechtsfragen im „Dunstkreis“ des Großen Senats für Strafsachen durchaus nicht unangemessen. Diese originelle Fassung verhalf dem Erstverfasser, der über viele Jahre hinweg das Vergnügen hatte, mit der Jubilarin im Großen Senat um Rechtsfragen zu ringen, zu der Idee, in der Festschrift zu ihren Ehren einen teilweise ähnlich strukturierten Beitrag vorzulegen. Der Zufall wollte es, dass etwa zur selben Zeit eine Rechtsfrage im Zusammenhang mit § 64 StGB im 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter Vorsitz des Erstverfassers ähnlich kontrovers diskutiert wurde. In der abschließenden Senatsentscheidung fand dieser im Senat letztlich nicht geklärte Streit zwar fast keinen Widerhall.2 Er lässt sich indes im Rahmen dieses Beitrags in der Wiedergabe der gegensätzlichen Standpunkte der betroffenen „Meinungsführer“ im Senat festhalten. Dies gibt auch den beiden Kollegen die Gelegenheit, sich gemeinsam mit dem Erstverfasser und im Namen des gesamten 5. Strafsenats von der verdienten Kollegin Frau Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan zu verabschieden.
1 2
BGH wistra 2010, 66. BGH, Beschl.v.13.1.10 – 5 StR 493/09.
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B. Probleme mit § 64 StGB Die Maßregel der Unterbringung eines Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB findet in der alltäglichen Praxis der Strafsenate des Bundesgerichtshofs eine, gemessen an der Bedeutung der Norm, wohl überproportionale ausdrückliche Erörterung in begründeten Entscheidungen. Davon sind der 2. und der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nicht ausgenommen. Eine private Statistik des Erstverfassers weist für die letzten drei Jahre im 2. Strafsenat 33 Aufhebungen wegen rechtsfehlerhaften Umgangs mit § 64 StGB auf, im 5. Strafsenat 27 Aufhebungen. Dies ist bezogen auf die Gesamtzahl der Urteilsaufhebungen der Senate ein Anteil von 11,5 Prozent im 2. und von 7,5 Prozent im 5. Strafsenat. Die Ursache für die signifikant häufige Befassung mit § 64 StGB dürfte zum einen an einer – bewusst überzeichnet so hart benannten – Ignoranz nicht ganz weniger Tatgerichte gegenüber der Existenz dieser Maßregel liegen; solche Haltung bleibt gegen stetige Unkenrufe des Bundesgerichtshofs fast unglaublich resistent. Manchmal kommt vielleicht das Bestreben hinzu, den Zeitaufwand und die Kosten für die nach § 246a Satz 2 StPO vorgeschriebene Zuziehung eines Sachverständigen zu ersparen. Als weitere Ursache wirkt sich wohl eine Abwehrhaltung mancher psychiatrischer Sachverständiger aus; gelegentlich drängt sich dem Revisionsrichter die Vermutung auf, dass insbesondere dem Maßregelvollzug verbundene Sachverständige – übrigens aus durchaus nachvollziehbaren, nicht etwa unredlichen Motiven – möglichst viele Problempatienten von der Einweisung „wegbegutachten“ wollen. Schließlich nimmt die Ausnahmevorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO dem Revisionsgericht bei der Maßregel nach § 64 StGB (nicht anders als bei § 63 StGB, wo dies freilich eine viel geringere Rolle spielt) die Rücksicht auf die Beschwer des revisionsführenden Angeklagten. Die durch das „Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt“3 vorgenommene Neufassung des § 64 StGB wollte mit seiner Umgestaltung zu einer Sollvorschrift den Tatgerichten bei der Anordnung der Maßregel eine größere Flexibilität geben.4 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Bundesgerichtshof die daraus auch ihm mittelbar erwachsenen Chancen noch nicht genutzt hat.
3 4
Vom 16. Juli 2007, BGBl I 1327. Vgl. nur Fischer StGB 57. Aufl. § 64 Rdn. 22 f.; Schneider NStZ 2008, 68.
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I. Berücksichtigung von Ressourcenknappheit Wie im Zusammenhang mit der Einstellung mancher eingeschalteter Psychiater bereits etwas überzeichnet angedeutet, wird in der Praxis des Maßregelvollzugs angestrebt, die in Zeiten allseitiger öffentlicher Sparzwänge kaum aufstockbaren knappen Kapazitäten der vorhandenen Entziehungsanstalten nicht mit der Einweisung von Problempatienten allzu sehr zu belasten, die den Vollzugsalltag erschweren und hemmen. Der Grundsatz, dass die Maßregelanordnung nicht davon abhängen darf, welche Kapazitäten – etwa gar im räumlichen Bereich des entscheidenden Landgerichts – für den Maßregelvollzug tatsächlich zur Verfügung stehen,5 muss auch nach der Neufassung des Gesetzes unverändert gelten. Unangemessen begrenzte tatsächliche Kapazitäten stellen die nach § 64 Satz 2 StGB erforderliche hinreichend konkrete Behandlungsaussicht6 ebenso wenig in Frage, wie sie bei der Ermessensentscheidung eine Rolle spielen können. Die Zuweisung öffentlicher Mittel darf die Realisierung bestehender Gesetze nicht partiell in Frage stellen; vielmehr ist der Haushaltsgesetzgeber gehalten, die notwendigen Mittel für die Realisierung einer gesetzlichen Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Es versteht sich freilich vor dem Hintergrund der tatsächlich knappen Ressourcen im Maßregelvollzug in Zeiten knapper Kassen von selbst, dass Einweisungen gleichsam „nach Herzenslust“ oder eher „auf Probe“ mit überaus naivem Optimismus als Grundlage für die hinreichend konkrete Behandlungsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB oder in allzu weitgehender Auslegung der Voraussetzungen für Hang, symptomatischen Zusammenhang und Gefährlichkeit im Sinne des § 64 Satz 1 StGB unbedingt zu vermeiden sind. Eine derartige Tendenz der Rechtsprechung der Landgerichte wie des Bundesgerichtshofs ist indes nicht ersichtlich.7
II. Alternative § 35 BtMG Unverändert beharrt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf dem Standpunkt, dass die Möglichkeit einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG gegenüber der Maßregelanordnung nach § 64 StGB nachrangig sei.8 Mag die Auslegung, eine besonders aussichtsreiche Rehabilitationsbehandlung im Sinne des § 35 BtMG beseitige nicht etwa die hinreichend konkrete Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB, spreche vielmehr gar für eine solche, gut vertretbar, beinahe zwingend sein, so 5
Vgl. Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 24. Orientierung der Neufassung an BVerfGE 91,1. 7 S. aber zur Absprachenproblematik den Beitrag König a. E. 8 Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 26 m.Rspr.-Nachw. 6
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hätte sich in diesem Bereich doch mit der Eröffnung eines Ermessensspielraums für die Tatgerichte eine veränderte Einstellung der Revisionsgerichte angeboten. In Fällen, in denen die zeitlichen Gegebenheiten für eine Zurückstellung nach § 35 BtMG in absehbarer Zeit erfüllt sind und eine – gar höhere – Motivation des Angeklagten für die entsprechende Rehabilitationsbehandlung sowie eine tatsächliche Realisierbarkeit vorliegt, sollte diese als bessere Alternative gegenüber der Maßregel nach § 64 StGB Anerkennung finden.9
III. Sprachunkundigkeit Nach dem Eindruck, den die Verfasser aus beim 5. Strafsenat anhängigen Verfahren gewonnen haben – der Verurteiltenstatistik sind insoweit keine Angaben zu entnehmen – zählen Ausländer zu einem nicht geringen Prozentsatz zu den Verurteilten wegen Symptomtaten nach § 64 StGB. Sind sie der deutschen Sprache nicht mächtig, stellt sich die Frage, ob dies gar bereits die erforderliche hinreichend konkrete Behandlungsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB berührt, jedenfalls aber die Frage, ob der neue tatgerichtliche Ermessensspielraum nach § 64 Satz 1 StGB dem Tatgericht die Möglichkeit gibt, wegen der Sprachunkundigkeit des sonst grundsätzlich einzuweisenden Angeklagten von der Maßregel abzusehen. An diesem Problem entzündete sich die eingangs geschilderte Kontroverse im 5. Strafsenat. Hierzu werden folgende Standpunkte vertreten:
1. Pro Einweisung (Schneider): Ausländer und deutsche Staatsangehörige ausländischer Herkunft stellen im Maßregelvollzug gegenwärtig eine – in der Praxis oftmals als schwierig empfundene – Realität dar. Erhebungen in den forensischen Kliniken Bayerns10 und Baden-Württembergs11 ergaben, dass ihr Anteil im Maßregelvollzug deutlich höher ist als in der Bevölkerung (und in der Allgemeinpsychiatrie), allerdings deutlich niedriger als im Strafvollzug. Bereits letzteres weist auf „Ausleseprozesse“ hin. Im Bereich der Prüfung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt dürfte dabei bereits vor der Neufassung des § 64 StGB die Verneinung der Therapiefähigkeit wegen fehlender Deutsch-
9
Vgl. Schöch in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB 2009 § 64 Rdn. 43. 2004 betrug der Ausländeranteil dort 15 %: Hausner u.a. Krankenhauspsychiatrie 2006, 68, 69. Nach Auskunft des Krankenhauses für Maßregelvollzug in Berlin liegt der Anteil der Ausländer und der deutschen Staatsangehörigen ausländischer Herkunft dort derzeit bei rund 30 %. 11 Vgl. Hoffmann RuP 2009, 67, 71; vgl. auch Heinhold RuP 2006, 187, 188. 10
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kenntnisse – auch entgegen den in BGHSt 36, 199 entwickelten Grundsätzen – eine gewisse Rolle gespielt haben. In den rechtspolitischen Diskussionen, die vorausgingen12, spielte die problematisierte Gruppe der durchreisenden ausländischen Drogenkuriere, die aufgrund bestehender eigener Drogensucht nach § 64 StGB untergebracht wurden, eine nicht unerhebliche Rolle. Sie wurden – auch aus Sicht der Zweitverfasserin zu Recht – als besonderes Problem für den Maßregelvollzug begriffen, soweit sie weder über einen Aufenthaltstitel in Deutschland noch über deutsche Sprachkenntnisse verfügten. Bereits vor der Gesetzesänderung bot hier § 456a StPO die grundsätzliche Möglichkeit, von der Vollstreckung der Maßregel abzusehen, allerdings nur in Verbindung mit einem Absehen von der Vollstreckung der parallel verhängten Freiheitsstrafe. Zur Lösung der Problematik sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung13 die Möglichkeit einer Änderung der Vollstreckungsreihenfolge für ausreisepflichtige Ausländer vor, um Gelegenheit für eine tatsächliche Beendigung des Aufenthalts noch während des Vollzugs der Freiheitsstrafe zu schaffen. Demgegenüber wollte der Gesetzentwurf des Bundesrates14 diese und weitere Straftätergruppen, bei denen „zwar eine Erfolgsaussicht gerade noch bejaht werden kann, die Ausgangsbedingungen aber sehr ungünstig sind“, über die Umgestaltung des § 64 StGB zu einer Sollvorschrift von der Anordnung der Maßregel ausnehmen. Gesetz geworden sind aufgrund eines Kompromisses letztlich beide Vorschläge (vgl. §§ 64, 67 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 2 und 3 StGB).15 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass der Rechtsausschuss des Bundestages auch zur Klärung des Anwendungsbereichs beider Ausnahmeregelungen in seiner Beschlussempfehlung – unter Verweis auf BGHSt. 36, 199, 201– betonte, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers alleine nicht Grund sein könne, auf seine Unterbringung zu verzichten.16 Auch nach der Überzeugung der Zweitverfasserin ist es grundsätzlich Aufgabe der für den Vollzug der Maßregel zuständigen Behörden, für behandlungs- und besserungsfähige ausländische Täter hinreichend geeignete, ihren besonderen persönlichen Verhältnissen individuell gerecht werdende Vollstreckungsmöglichkeiten bereitzustellen.17 Dies gilt für die unter den fremdsprachigen Straftätern wohl größte Gruppe der Migranten, die aus 12 Der Zweitverfasserin sind diese aus ihrer damaligen Tätigkeit als Leiterin des Referates „StGB-Allgemeiner Teil“ im Bundesjustizministerium bestens bekannt. 13 BTDrucks. 16/1110 S. 14 f. 14 BTDrucks. 16/1344 S. 12. 15 Derjenige der Bundesregierung allerdings in einer aufgrund der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses abgewandelten, engeren Fassung, BTDrucks. 16/5137 S. 10. 16 BTDrucks. 16/5137 S. 24. 17 Vgl. BGHSt. 36, 199, 201.
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dem Ausland stammend ihren Lebensmittelpunkt in die Bundesrepublik Deutschland verlegt haben.18 Bei ihnen muss sich der Maßregelvollzug schon unter Sicherheitsgesichtspunkten der Aufgabe stellen, ungeachtet ihrer Sprachkenntnisse geeignete Behandlungsformen zu finden. Es hat aber auch für die Gruppe der EU-Ausländer zu gelten, die in großem Umfang Freizügigkeit genießen und die durch Art. 12 EGV vor Diskriminierung besonders geschützt sind.19 Nur wenn dem unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen, weil z.B. die verurteilte Person ausschließlich20 eine in Deutschland sehr selten vertretene Fremdsprache spricht und auch nicht erwartet werden kann, dass sie im Vollzug ausreichend Deutsch lernen wird, um an einer Therapie mitwirken zu können, sollte von ihrer Unterbringung abgesehen werden. Im Zuge der Europäisierung, ja Globalisierung, die Deutschland zu einem Einwanderungsland hat werden lassen,21 können sich auch Justiz und Maßregelvollzug nicht auf eine „Tellerrandperspektive“ zurückziehen. Dabei soll keineswegs verkannt werden, dass sprachunkundige Ausländer und Spätaussiedler eine erhebliche Herausforderung für den Maßregelvollzug darstellen; die Probleme, die mit ihrer Unterbringung und Behandlung verbunden sind, gehen über Sprachprobleme noch hinaus.22 Indes gehört ihre Integration in das psychiatrische Versorgungssystem angesichts der gesellschaftlichen und rechtlichen Realitäten zu den Aufgaben, denen sich die forensische Psychiatrie – ebenso wie die allgemeine Psychiatrie – zu stellen hat. Auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) wurden 2002 die sog. „Sonnenberger Leitlinien“ erarbeitet, die Grundaussagen für ein Konzept zur Bewältigung des Problems einer umfassenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten enthalten. Dort werden unter anderem die Bildung multikultureller Behandlerteams unter bevorzugter Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz und der Einsatz psychologisch geschulter Fachdolmetscher gefordert. In der Praxis wird es dabei nicht darum gehen, eine unübersehbare Vielzahl von Sprachen „vorzuhalten“. Das Zuwanderungsgeschehen ist zwar nach Herkunftsländern breit gefächert, konzentriert sich jedoch 18 Vgl. die Definition im im Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 2008. 19 Darauf weist auch Heinhold aaO (Fn. 11) S. 191 f. in seiner Kritik an den Vorschlägen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (!) hin. 20 In einigen Fällen mangelnder deutscher Sprachkenntnisse des Untergebrachten wird eine Kommunikation in Englisch oder einer anderen „gängigen“ Fremdsprache möglich sein. 21 Von 1991 bis 2008 wurden etwa 16,5 Mio. Zuzüge vom Ausland nach Deutschland registriert, vgl. Migrationsbericht aaO (Fn. 18) S. 17. 22 Hoffmann aaO (Fn. 11) S. 72.
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stark auf einzelne dieser Länder.23 Dabei sammeln sich bestimmte Zuwanderergruppen in bestimmten Regionen Deutschlands. Ähnlich ist die Situation im Maßregelvollzug.24 Es muss deshalb erwartet werden können, dass sich der Maßregelvollzug zumindest auf die Hauptzuwanderergruppen einstellt. In einzelnen Städten gibt es bereits spezialisierte Dolmetscherdienste, die fachlich kompetente Personen für den Einsatz in sozialen und gesundheitlichen Einrichtungen schulen und vermitteln;25 in vielen Maßregelvollzugskliniken werden fremdsprachige Therapeuten und Pflegekräfte beschäftigt und in manchen Kliniken wird deutscher Sprachunterricht angeboten.26 Es ist zu befürchten, dass all diese in der Vergangenheit und Gegenwart bereits unternommenen Bemühungen unter dem bestehenden Kostendruck zurückgefahren würden, wenn sich eine gerichtliche Spruchpraxis entwickeln sollte, die bei sprachunkundigen Ausländern großzügig von ihrer Unterbringung nach § 64 StGB absieht.
2. Contra Einweisung (König): Ein erstaunliches Stück deutscher Kriminalpolitik: Die auch mit dem Anspruch einer Entlastung angetretene Maßregelrechtsreform 2007 ersetzt einen Anordnungszwang durch eine (gebundene) Ermessensregel und es ändert sich – der Erstverfasser legt es dar – wenig bis gar nichts. Dafür verantwortlich dürfte vorrangig die Beschlussempfehlung des BundestagsRechtsausschusses sein. Danach bleibt es (trotz des Wörtchens „soll“ im Gesetzestext) dabei, dass der Tatrichter bei Vorliegen der Voraussetzungen anordnen „müsse“; lediglich „in besonderen Ausnahmekonstellationen“ sei dies anders.27 Nach formaler Erwähnung der auf Lockerung abzielenden Intentionen des Bundesratsentwurfs folgen speziell auf die Fallgruppe der Sprachunkundigen bezogene Erwägungen, die das mit der Änderung ver23 So stammte 2008 ein Fünftel aller Zuwanderer aus Polen, vgl. Migrationsbericht aaO (Fn. 18) S. 19 ff., unter der ausländischen Bevölkerung in Deutschland stellten türkische Staatsangehörige mit einem Viertel den größten Anteil, Migrationsbericht S. 200 ff.; von den türkischen Männern wird man aber in der Regel ausreichende Sprachkenntnisse erwarten können. 24 Vgl. Hoffmann aaO (Fn. 11) S. 71 f. für Baden-Würrtemberg. 25 Vgl. Machleidt Ausgangslage und Leitlinien transkultureller Psychiatrie in Deutschland, im Internet veröffentlicht: http://www.psychiatrie.de/data/downloads/3b/00/00/Beitrag_Mach leidt.pdf. 26 Hoffmann aaO (Fn. 11) S. 72 f. Nach Auskunft des Berliner Krankenhauses für Maßregelvollzug arbeitet dort ein ärztlicher Therapeut, der – neben deutsch – arabisch, französisch und polnisch spricht. Darüber hinaus werden Sprachmittler aus dem Pflegepersonal eingesetzt sowie ein Deutschkurs für Ausländer angeboten. 27 BTDrucks. 16/5137 S. 10.
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folgte Konzept dann endgültig aushebeln. Unter Bezugnahme auf BGHSt 36, 199 (zur alten Rechtslage!)28 und eine vorgebliche Verpflichtung der Behörden, ausländischen Tätern „hinreichend geeignete, ihren besonderen persönlichen Verhältnissen individuell gerecht werdende Vollstreckungsmöglichkeiten bereitzustellen“, wird die Nichtanordnung der Maßregel an „unüberwindliche Schwierigkeiten“ gekoppelt, denen auch nicht mit Deutschkursen im Maßregel- oder Strafvollzug begegnet werden könne.29 Bei einer solchen Interpretation ist die Sollvorschrift in der Tat überflüssig, weil es beim verbleibenden „Rest“ eindeutig schon an der Erfolgsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB fehlt.30 Die Frage ist nur, ob es eine den genannten Worten allzu sehr verhaftete Rechtsprechung mit der – ohnehin umstrittenen31 – subjektiv-historischen Auslegungsmethode nicht zu weit treiben würde. Nimmt man nämlich den Gesetzeswortlaut mit der Beschlussempfehlung zusammen, so wird man keine Schnittmenge finden. Das Ergebnis ist deswegen nicht „folgerichtig“, sondern perplex. Es wird eine Sollvorschrift kreiert, für die es keinen Anwendungsbereich gibt. Die Änderung entbehrt jeglichen Sinns, und dies, obwohl eine an Wortlaut und Wortsinn sowie den mit ihr erstrebten Zielen ausgerichtete Interpretation durchaus sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten ergibt.32 Am Ende steht das Konstrukt einer Sollregelung die „keine Ermessensvorschrift i. e. S.“33 ist – aber was ist sie dann, eine solche im weiteren Sinn, eine verkappte Mussvorschrift, ein gesetzgeberisches Tollstück? Das kann nicht das Ergebnis sachgerechter Auslegung sein. Aber zurück zur Erfolgsaussicht, die nunmehr auch nach dem Gesetz eine „hinreichend konkrete“ sein muss. Sie entspringt einer Prognose und deckt eine Bandbreite mehr oder weniger aussichtsreicher Fälle ab. Der Bundesgerichtshof ist - wie schon vor der Reform - „anordnungsfreundlich“. Zugespitzt ausgedrückt genügt ein „Fünkchen konkreter Aussicht“, und zwar auch in Bezug auf das Erwecken eines zunächst nicht vorhandenen Therapiewillens.34 Klar ist, dass der Aufwand mit den Ausgangsbedingungen korreliert: Je ungünstiger sie sind, desto mehr Ressourcen werden gebunden. Sie sind vergeudet, wenn es dann doch schiefgeht. Und ebenso klar ist, 28 S. dazu ergänzend unten. Schon nach alter Rechtslage anders BGH NStZ 2001, 418 (5. Strafsenat). 29 BTDrucks. 16/5137 S. 10. 30 So die – freilich generelle – Gesetzeskritik bei Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 23. 31 Vgl. Eser in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 1 Rdn. 41. 32 Sie finden sich – nicht abschließend – im Bundesratsentwurf BTDrucks. 16/1344 S. 12 f. Ergänzend wird auf die Ausführungen des Erstverfassers verwiesen. 33 So Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 23; verständnisvoller Schöch in LK 12. Aufl. § 64 Rdn. 156 ff. 34 Nachweise bei Fischer aaO (Fn. 4) § 64 Rdn. 20.
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dass sich Schwierigkeiten und Aufwand nochmals beträchtlich erhöhen, wenn der Therapeut mit dem Probanden radebrechend und/oder per Dolmetscher kommunizieren muss.35 Meine geschätzte Kontrahentin pflegt dem mit dem Hinweis zu begegnen, dass Derartiges im Maßregelvollzug Alltag sei. Indessen war es gerade das Ziel der Reform, den Maßregelvollzug von Fällen mit solch ungünstigen Ausgangsbedingungen zu entlasten. Der Tatrichter soll bei derartigen Gegebenheiten von der Anordnung auch dann absehen dürfen, wenn nach einer Gesamtwürdigung das angesprochene „Fünkchen“ Erfolgsaussicht vielleicht noch gegeben ist und nicht Sachgründe nach Durchführung der Therapie drängen.36 Was in diesem Kontext Art. 12 EGV anbelangt: Es leuchtet nicht ein, wie die Nichtanordnung einer den Angeklagten beschwerenden Maßregel37 gegen das Diskriminierungsverbot von EU-Ausländern verstoßen könnte. Die zuvor geäußerte Kritik an einer zu starken Fokussierung der Rechtsprechung auf die Gesetzesmaterialien muss für die Fallgruppe der Verständigungsprobleme sogleich relativiert werden. Die Entscheidungen seit der Reform scheinen den Verlautbarungen in der Beschlussempfehlung zumindest nicht uneingeschränkt zu folgen. So hat der 1. Strafsenat seinen in BGHSt 36, 19938 eingenommenen Standpunkt nicht aufrecht erhalten, wonach mangelhafte oder fehlende Sprachkenntnisse bei der Unterbringungsanordnung außer Betracht zu bleiben haben.39 Auch der 3. Strafsenat verweist den Tatrichter auf die Möglichkeit der Nichtanordnung.40 Der 5. Strafsenat sieht von einer Aufhebung wegen unterbliebener Erörterung des § 64 StGB auch deswegen ab, weil der Angeklagte ausreisepflichtig und eine erfolgversprechende Therapie aufgrund unzulänglicher Kommunikationsgrundlage kaum vorstellbar sei.41 Es wäre erfreulich, wenn diese Judikate als Anzeichen für eine Stärkung des tatrichterlichen Ermessensspielraums 35 Wer das Anforderungsprofil an einen für die Ausübung „transkultureller Psychiatrie“ geeigneten Dolmetscher erfahren möchte, dem sei die Lektüre der nicht spezifisch für den Maßregelvollzug geschriebenen Ausführungen von Machleidt (Fn. 25) empfohlen. 36 Etwa bei einem im Inland verwurzelten Angeklagten, der es gleichwohl nicht zu hinreichenden Sprachkenntnissen gebracht hat und dem nicht etwa wegen der abgeurteilten Straftat die Ausweisung droht. 37 BVerfGE 91, 1, 28 ff.; s. dazu, dass die Maßregel kein „Mittel der Suchtfürsorge“ bzw. der „Gesundheitsfürsorge“ ist, BGHSt 28, 327, 332. Ein von der Zweitverfasserin in der Sache propagierter Anspruch auf bestmögliche Therapie, ausgelöst durch die Begehung von Straftaten, ist mit dem Charakter der strafrechtlichen Maßregel nicht vereinbar. 38 Und NStZ-RR 2002, 7. 39 StV 2008, 138; wobei der 1. Strafsenat den Bundesratsentwurf in Bezug nimmt (was den Drittverfasser, damals noch Gesetzgebungsreferatsleiter im bayerischen Justizministerium, gefreut hat). 40 NStZ-RR 2009, 170. 41 BGHR StGB § 64 Nichtanordnung 2.
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im Rahmen des § 64 Satz 1 StGB auch für andere Konstellationen genommen werden könnten. Noch ein Wort zum Ressourcenproblem. Der Maßregelvollzug kostet bekanntlich viel Geld. Beispielsweise in Bayern liegt sein Anteil am gesamten Sozialhaushalt bei nahezu unglaublichen rund 10%.42 Es handelt sich um Geld, das die Sozialministerien lieber für andere Zwecke ausgeben würden. Vor diesem Hintergrund unternommene Vorstöße der Sozial- bzw. Gesundheitsressorts, die Maßregel des § 64 StGB unter Hinweis auf den viel billigeren Strafvollzug abzuschaffen oder stark einzuschränken, konnten im Zuge der Maßregelreform abgewehrt werden. Niemand vermag aber zu prognostizieren, was mit ihr bei immer weiter überlaufenden Anstalten in Zeiten geschieht, in denen die öffentlichen Haushalte durch Banken- und Eurokrise in bislang unbekanntem Ausmaß durchgeschüttelt werden und man nach Einsparungen sucht, um Kürzungen z.B. bei den Titeln Jugend, Familie, Frauen, Alte oder auch Arbeit zu vermeiden. Es wäre zu erwarten, dass der Hinweis auf eine nach Auffassung des Bundes bestehende Verpflichtung der Länder, zumindest für die wichtigsten 20, 30 oder 40 Sprachen sprachkompetente Therapeutenteams bzw. psychologisch geschulte Dolmetscher zur Verfügung zu stellen, das Seine tun würde. Auch das sollte man nicht aus den Augen verlieren. Abschließend noch ein Gegenpol: Nicht alle Gerichte stehen dem § 64 StGB zurückhaltend gegenüber. Man hört immer wieder, dass die Maßregel einschließlich der Bemessung der Therapiedauer mit Blick auf eine Halbstrafenaussetzung nach Vorwegvollzug eines Strafteils bei manchem Gericht beliebter Gegenstand von Verfahrensabsprachen ist, die der Bundesgerichtshof wegen sofortigen Eintritts der Rechtskraft nicht zu sehen bekommt. Gegebenenfalls: ein (Justiz-)Skandal.
IV. Weitere Ausländerprobleme Für das Problemfeld einzuweisender ausländischer Verurteilter bietet die Vorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB für Fälle, in denen eine Abschiebung konkret zu erwarten ist, eine Regelung, die den Vorwegvollzug der Strafe, auf welche unmittelbar die Ausreise folgen soll, vorsieht. Eine Ausschlusswirkung in dem Sinn, dass bei einer Ausreisepflicht von der Sollregelung nach § 64 Satz 1 StGB kein Gebrauch gemacht werden darf, kann man der Vorschrift nicht beimessen. Gerade auch die Fälle der Ausreisepflicht hatte der Bundesrat für die Sollregelung im Auge.43 Die Beschlussempfehlung verweist in diesem Zusammenhang auf Sicherheitsaspekte im 42 43
In Zahlen: Für das Jahr 2010 nach Haushaltsansatz 234 Mio. € von knapp 2,5 Mrd. €. BTDrucks. 16/1344 S. 12.
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Zusammenhang mit dem Teilvorwegvollzug, die ihrer Ansicht nach für die Anwendung des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB statt der Nichtanordnung sprechen können.44 Das zwingt aber nicht zu dem Umkehrschluss, dass in Fällen, in denen die konkreten Voraussetzungen dieser Norm noch nicht erfüllt sind, gleichwohl mit einem weiteren Aufenthalt des Verurteilten in Deutschland nach Straf- und Maßregelvollzug nicht zu rechnen ist, die Maßregelanordnung zwingend ist. Sollte nicht jenseits der Spezialvorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB von der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB auch nach Ermessen abgesehen werden können, wenn die Suchtbehandlung in Deutschland absehbar allenfalls ein (jedenfalls für einen nicht unbeträchtlichen Zeitpunkt) suchtfreies Leben anderswo bewirken wird? Insoweit wäre freilich vorzugswürdig eine rechtliche Internationalisierung, wie sie im Bereich des Strafens - auch mit der Berücksichtigung anderweitig verhängter ausländischer Strafen45 - insbesondere mit dem Bestreben der Überstellung zur Strafverbüßung im Heimatland46 im Vormarsch ist. Dies würde freilich ähnliche Maßregeln im Ausland und die Möglichkeit einer Überstellung in den dortigen Vollzug voraussetzen,47 an denen es derzeit leider vielfach fehlt.
V. Andere Extremfälle (lebenslang) Auch für den Extremfall der lebenslangen Freiheitsstrafe wird bislang keine Handhabe für ein Absehen von der Maßregel nach § 64 StGB gesehen.48 Es soll sogar, weil insoweit keine Sonderregelung für die vorzeitige Entlassung - vergleichbar § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB bei zeitiger Freiheitsstrafe - besteht, ein Teilvorwegvollzug der Strafe nur in Ausnahmefällen gebotener sachgerechter Vorbereitung des Verurteilten auf den Maßregelvollzug während des beginnenden Strafvollzugs in Betracht kommen. Soll es aber wirklich sinnvoll sein, mit einer Entziehungsbehandlung primär letztlich nichts anderes zu erreichen als einen suchtfreien Zustand im - ungeachtet der Idee von BVerfGE 45, 187 - dauerhaften Strafvollzug? Sind hierfür nicht strafvollzugsinterne Therapiemaßnahmen geboten und unbedingt vorzugswürdig? Auch hier könnte ein Anwendungsbereich für den tatgerichtlichen Beurteilungsspielraum des § 64 Satz 1 StGB gefunden werden, wenn man nicht sogar die erforderliche konkrete Behandlungsaussicht des § 64 Satz 2 StGB eingeschränkt auf das Ziel suchtfreien Lebens in Freiheit 44
BTDrucks. 16/5137 S. 10. Auf diesem Feld hat sich zwischen dem 2. und 5. Strafsenat jüngst ein Disput entzündet: Vgl. BGH StV 2010, 240 (2. Strafsenat) und 242 (5. Strafsenat). 46 Vgl. nur Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. vor § 449 Rdn. 7. 47 Vgl. dazu schon BGHSt 36, 199, 203 f. 48 Grundlegend BGHSt 37, 160; vgl. dazu jüngst Kreicker NStZ 2010, 239. 45
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interpretierte und damit bei Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe von einer Maßregel nach § 64 StGB stets abzusehen hätte.
VI. § 67 Abs. 2 StGB Die seit Juli 2007 geltende Fassung des Maßregelrechts hat in § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB zu einer praktisch hochvernünftigen Neuregelung über einen Teilvorwegvollzug für die Maßregel nach § 64 StGB bei mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe geführt. Die vom Bundesgerichtshof jüngst in vielen Entscheidungen konkretisierte Regelung schafft eine Grundlage für die Erwartung, dass eine sofortige Entlassung aus dem später angetretenen Maßregelvollzug in die Freiheit nach erfolgreicher Therapie, deren erforderliche Dauer vorab konkret zu bemessen ist, verwirklicht werden kann; dabei erfährt der Maßregelunterworfene gegenüber dem ohne gleichzeitige Maßregelanordnung Bestraften nach § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB eine Besserstellung, indem die Reststrafaussetzung bei ihm im Regelfall und nicht - wie sonst in § 57 Abs. 2 StGB vorgesehen - nur in Sonderfällen schon zum Halbstrafzeitpunkt erfolgt. Der Bundesgerichtshof hat hier, gestützt durch den Wortlaut des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB („ist so zu bestimmen“), jeder flexiblen Bemessung eine Absage erteilt.49 Dies erscheint für eine nicht ganz seltene Fallgestaltung nicht unproblematisch. Freilich wird nach erfolgreicher Suchttherapie die Gewährung von Reststrafaussetzung selbst Bewährungsversagern schwerlich zu verweigern sein. Indes finden sich unter den wegen Symptomtaten im Sinne des § 64 StGB Abgeurteilten oftmals auch solche Täter, die - bei Verurteilung bereits eindeutig absehbar - ohne Maßregelanordnung nicht die mindeste Chance auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB hätten. Das ist selbstverständlich noch nicht bei einmaligem Bewährungsversagen zu bescheinigen; es gilt aber fraglos, wenn massiv wiederholtes Bewährungsversagen, gar bei Reststrafaussetzung nach einer höheren Freiheitsstrafe, bei der es sich nicht um die erste Verurteilung gehandelt hat, vorliegt. Ist derartigen Tätern allein aufgrund des Erfolgs einer Suchttherapie ohne weiteres sofort eine Reststrafaussetzung nach der Hälfte der verhängten Strafe zu gewähren, während sie sonst keinerlei Chance auf eine Reststrafaussetzung hätten? Sie wären damit im Vergleich mit nicht zugleich gemaßregelten Verurteilten doppelt besser gestellt: Hätten jene überhaupt keine Chance auf Reststrafaussetzung, kämen diese selbst ohne Vorliegen eines Ausnahmefalles in den Genuss der Halbstrafaussetzung. Die Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern wird dies schwerlich anerkennen. Sie wird allenfalls dazu gelangen, dass die bisher hartnäckigen Bewährungsversager mit Rücksicht 49
Fischer aaO (Fn. 4) § 67 Rdn. 11 m.Rspr.-Nachw.
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auf die erfolgreiche Therapie die Chance einer Zweidrittelaussetzung erhalten, so wie entsprechende nicht gemaßregelte Verurteilte in besonderen Ausnahmefällen mit einer Reststrafaussetzung nicht nach zwei Dritteln der verbüßten Strafe, aber noch vor Vollverbüßung rechnen können.50 Sollte es nun aber mit Rücksicht auf das praktische Bestreben nach § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB nicht den Gerichten gestattet sein, in derartigen Fällen, in denen eine Halbstrafaussetzung absehbar nicht in Betracht kommt, die Berechnung des Vorwegvollzuges nach dem Zweidrittelzeitpunkt auszurichten? Eine Übertragung der Sollvorschriften in § 64 Satz 1 und § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB in die scheinbar starre Norm des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB erscheint nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung allemal vorzugswürdig. Das Dilemma notwendiger Prognose und nicht bindender Festlegbarkeit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Reststrafaussetzung kann kein Grund sein, die Regelung unbedingt starr auszulegen; auch die Entscheidung über die voraussichtliche Therapiedauer erfordert eine Prognose. Geboten wäre freilich, bei Abweichung von der Regel des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB die gesicherte Vorausschau mangelnder Chance auf Halbstrafaussetzung.
VII. Rechtsmittelbeschränkung Die in § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO normierte Ausnahme vom Schlechterstellungsverbot kann für Revidenten, die eine Maßregel nach § 64 StGB zu vermeiden suchen, Motiv sein, keine Revision durchzuführen. Ihnen kommt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit BGHSt 38, 362 in gewisser Weise entgegen, indem sie gestattet, die Nichtanordnung der Maßregel vom Revisionsangriff auszunehmen. Dies wirft in zweierlei Beziehung praktische Probleme auf. Innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs wird eine Aufspaltung des Revisionsangriffs auf Strafe und Maßregel häufig möglich sein. Will der Revisionsführer indes auch den Schuldspruch angreifen, erscheint eine Abspaltung eines Teils des - notwendig komplett sekundären - Rechtsfolgenausspruchs dogmatisch kaum gangbar. Der umgekehrte Weg, etwa eine angeordnete Maßregel bei gleichzeitiger Anfechtung des Schuldspruchs nicht anfechten zu wollen, ist ersichtlich ausgeschlossen.51 Sicher werden sich die Revisionsgerichte besonders zurückhalten, das Unterlassen 50 So für die Altfassung des § 67 Abs. 2 StGB BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug, teilweiser 15; BGH NStZ-RR 1998, 174; entsprechender Anlauf des 5. Strafsenats für die Neufassung: BGH StV 2008, 307; zustimmend SK-StGB/Sinn § 67 Rdn. 11b; im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nun abweichend BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug, teilweiser 17. 51 Vgl. BGH NStZ-RR 2004, 365; 2010, 171.
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einer Maßregel nach § 64 StGB zu beanstanden, wenn der revisionsführende Angeklagte sie ausdrücklich nicht wünscht. Ist ein Rechtsfehler in diesem Bereich indes nicht zu übersehen, muss der Revisionsführer, der auf gleichzeitige Anfechtung des Schuldspruchs bei Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregel vom Revisionsangriff anträgt, auf die Widersprüchlichkeit seines Begehrens hingewiesen werden. Erklärt er dann keine ausdrückliche Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch, so ist diese unwirksam, und die unterbliebene Maßregel muss beanstandet werden. Ein Diskurs mit dem Revisionsführer ist auch angezeigt, wenn die Prüfung der Revision ergibt, dass allein die Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB zu beanstanden wäre, ohne dass der Beschwerdeführer hierzu Ausführungen gemacht hat. Angesichts möglicher Rechtsmittelbeschränkung sollte dem Revisionsführer ein solches mögliches Ergebnis seines Rechtsmittels vor der abschließenden Entscheidung bekanntgegeben werden, damit er diesem absehbar unerwünschten Resultat durch Revisionsrücknahme oder Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch unter ausdrücklicher Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregelanordnung vom Revisionsangriff wirksam entgegentreten kann. Ein solches Vorgehen, das der 5. Strafsenat in ständiger Praxis pflegt, ist aus Fairnessgründen angezeigt52 und nicht etwa – da die Staatsanwaltschaft eben keine Revision eingelegt hat - eine Aushöhlung des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO, der keine Urteilsaufhebung gegen den Willen des Revisionsführers um jeden Preis im Maßregelbereich ermöglicht.
VIII. § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO Die „Begeisterung“ der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für § 64 StGB und die Legion der Entscheidungen aus den letzten 20 Jahren, in denen die Nichtanordnung dieser Maßregel beanstandet wird, lässt einer Idee unseres verstorbenen Senatskollegen Joachim Häger nicht mehr widmen als eine wehmütige Reminiszenz. Bei immer wieder aufkeimenden Einzelfalldiskussionen, ob Urteile wegen der Nichterörterung des § 64 StGB zu beanstanden seien, hat der Kollege Häger immer wieder darauf hingewiesen, dass das Gesetz den Tatgerichten Ausführungen zur Nichtanordnung einer Maßregel nur bei Stellung dahingehender Anträge vorschreibt, woraus er den Schluss ziehen wollte, dass in diesem Bereich Bean52 Vgl. BGH, Beschlüsse v. 19.8.09 – 5 StR 304/09; 9.11.09 – 5 StR 421/09; 13.1.10 – 5 StR 493/09; im Anschluss an Basdorf in Festschrift für Meyer-Goßner 2001 S. 665 weist der Senat praeter legem aufgrund des Fairnessgebots auch Nichtrevidenten auf die Möglichkeit hin, einer nicht gewünschten, nicht notwendig nur günstigen Revisionserstreckung nach § 357 StPO zu widersprechen: BGHR StPO § 357 Entscheidung 2.
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standungen nur auf eine ausdrücklich erhobene, auf Verletzung des § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO gestützte Verfahrensrüge unter Hinweis auf einen nicht in der gewünschten Richtung verbeschiedenen Antrag möglich seien. Die Rechtsprechung hat diesen Gedanken eindeutig überholt; sie verlangt verbindlich Ausführungen zur Maßregel nach § 64 StGB, wenn die Feststellungen auf das Vorliegen der Voraussetzungen hindeuten, und ordnet dies als sachlichrechtliche Verpflichtung ein.53 Außer der wehmütigen Reminiszenz sollte aber immerhin eine gewisse Richtschnur anerkannt bleiben, dass die nicht erörterte und auch von keinem Prozessbeteiligten thematisierte Maßregel des § 64 StGB nur bei Feststellung wirklich markanter Anhaltspunkte im Urteil für das Vorliegen ihrer Voraussetzungen Anlass zu Beanstandungen geben sollte.
C. Schluss Die aus dem Vorsitz des 2. Strafsenats ausscheidende Jubilarin wird sich in ihrem juristischen Alltag wohl allenfalls noch im Rahmen der Mitherausgabe des Leipziger Kommentars mit Problemen um die Maßregel des § 64 StGB befassen müssen. Ihr Eintritt in den Ruhestand gibt den Verfassern und allen Mitgliedern des 5. Strafsenats Anlass, Frau Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan für eine gute gemeinsame Zeit konstruktiver, fairer und spannender Zusammenarbeit beim Ringen um das Recht im Spagat zwischen Karlsruhe und Leipzig zu danken, der mit der Jubilarin stets mühelos zu bewältigen war. Wir wünschen der scheidenden Kollegin Freude und Erfüllung an ihrer fortwirkenden Lehrtätigkeit und ihrem schriftstellerischen Engagement, zudem an sicherlich ganz ungewohnten neuen Freiräumen nach einer Richterkarriere, die von beispielhaftem Pflichtbewusstsein geprägt war. Die Erinnerung hieran, zudem die Vorstellungen der Jubilarin vom Recht, wie sie sich in vielen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs niedergeschlagen haben, werden dessen Rechtsprechung auch künftig begleiten und beeinflussen.
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BGHR StGB § 64 Anordnung 1.
Ermessensamtsträger oder Ermessensbeamter – Überlegungen zu § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB KLAUS BERNSMANN
I. Der 2. Strafsenat des BGH, dem die verehrte Jubilarin seit dem Jahr 1989 angehört und dessen Vorsitzende sie seit 2002 ist, hat am 19. Dezember 1997 – ohne Mitwirkung der an dieser Stelle Geehrten – mit der sog. „GTZ“-Entscheidung1 eine anschließend außerordentlich lebhafte Rechtsprechung zu den Korruptionsdelikten der §§ 331 ff. StGB im Allgemeinen und - noch mehr - zum „Amtsträgerbegriff“ des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB im Besonderen in Gang gesetzt. Im Zuge der durch den „AT 1975“ eingeleiteten und sodann durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 20. August 1997 noch einmal angefeuerten Entwicklung wurde aus dem ursprünglich der Vorschrift des § 359 a. F. StGB entnommenen sog. „strafrechtlichen Beamtenbegriff“2 der schillernde, in seinen Konturen bzw. seiner Erstreckung wenig griffige Begriff des „Amtsträgers“ (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 a - c StGB). In BGHSt 43, 370 hat das Gericht zwar noch auf der Basis der Fassung des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB entschieden, die durch das EGStGB von 1974 als „AT 1975“ Gesetz geworden war, dabei aber entweder vorweggenommen, was der Gesetzgeber des KorrBekG für die Zukunft geregelt sehen wollte3 oder „lediglich klargestellt, was schon immer galt“ (BGHSt 43, 370, 377). In beiden Fällen hätte der 2. Senat allerdings die – iner effektiven Korruptionsbekämpfung angeblich entgegenstehende – Entscheidung des 5. Senats vom 30.1.19924 kaum zutreffend interpretiert. Doch das ist Geschichte und soll hier auf sich beruhen.5 1
BGHSt 43, 370. Vgl. etwa: RGSt 62, 24; 188; 67, 299; 75, 396; Holl, Der Begriff des Beamten im strafrechtlichen Sinn, 1908, S. 23; Schröder, Der strafrechtliche Beamtenbegriff in der Entwicklung der Rechtsprechung und der Entwürfe, 1965, S. 83 ff. 3 Vgl. BR-Drucks. 553/96 S. 25. 4 BGHSt 38, 199. 5 Dazu näher: Bernsmann, StV 2009, 308. 2
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Die eingangs zitierte „GTZ“-Entscheidung hat in jedem Fall die Aufmerksamkeit nachhaltig auf den in § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB geregelten „sonstigen Amtsträger“ gelenkt. Dabei handelt es sich um eine Person, die ohne „Beamter oder Richter“ zu sein (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 a StGB) bzw. in einem „sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis“ zu stehen, „sonst dazu bestellt“ ist, „bei einer Behörde oder einer sonstigen Stelle … Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen“. Dabei soll es – was Gegenstand der wie auch immer zu verstehenden „Klarstellung“ durch das KorrBekG war – auf die „zur Aufgabenerfüllung gewählte(n) Organisationsform“ nicht ankommen (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB). Die „GTZ“-Entscheidung und die eben zitierte, die Organisationsform betreffende Formulierung durch das KorrBekG haben in der Folgezeit dazu geführt, dass „Amtsträger“ – mit den entsprechenden besonderen strafrechtlichen Korruptions-Risiken der §§ 331 ff. StGB – nunmehr zwanglos auch in GmbHs bzw. AGs tätig sein können, soweit nur das jeweilige Unternehmen eine „sonstige Stelle“ und eine „Bestellung“ zur „Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ anzunehmen ist. Auch insoweit hat im Übrigen BGHSt 43, 370 die „Spur“ gelegt: Unter erheblicher Strapazierung des Wortlauts des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB soll es bei der „Bestellung“ nicht – wie vom Wortlaut nahegelegt – um einen öffentlich-rechtlichen Akt gehen, der sich direkt an die Person des potentiellen „Amtsträgers“ richtet, die etwaige „Bestellung“ des Unternehmens soll vielmehr deren Mitarbeiter gleich mit-bestellen.6 Nicht nur durch diesen unbefangenen, die Vorschrift des § 14 StGB nicht einmal erwähnenden Umgang mit der „Bestellung“ hat sich § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB für die Praxis zu einer Sphinx entwickelt: Sobald ein Träger öffentlicher Gewalt - meist eine Kommune - an einem privatrechtlich organisierten Unternehmen allein oder in Form einer Partnerschaft mit Privaten („Public-PrivatePartnership“/gemischt-wirtschaftliche Unternehmen) beteiligt ist, dessen Gegenstand auch öffentlich-rechtlich hätte organisiert werden können, sollte jeder Prognose mit Vorsicht begegnet werden, die sich darauf bezieht, ob die Annahme eines Vorteils durch einen Angestellten dieses Unternehmens nach Maßgabe der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen die §§ 331 ff. StGB oder – gemäß den dortigen engeren Voraussetzungen – „nur“ § 299 Abs. 1 StGB erfüllt. Auch darauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Das vom 2. Senat geschaffene Bild vom „gleichsam verlängerten Arm des Staates“, dessen Anschein ein behördengleiches und damit „Amtsträger“ beschäftigendes Unternehmen indizieren soll, hat sich in Rechtsprechung und Literatur trotz offensichtlich ausgelöster erheblicher Rechtsunsicherheit souverän gegen vereinzelt gebliebene Kritik durchge6
BGHSt 43, 370, 380; ausf. dazu: Rausch, Die Bestellung zum Amtsträger, 2007, S. 44 ff.
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setzt.7 Ob das auch mit der – von der kriminologischen Empirie allerdings wenig untermauerten medial aber umso mehr geschürten – Korruptionsphobie (bzw. -hysterie) in den letzten zwei Jahrzehnten zu tun hat, kann hier nicht weiter vertieft werden. Ein von dem 2. Senat so erfolgreich installiertes und fortentwickeltes „Produkt“ wie die Chiffre vom „verlängerten Arm“ des Staates für eine „sonstige Stelle“8 kann nicht ausgerechnet in einer Ehrengabe für dessen Vorsitzende Richterin von einem Kritiker – dann wohl eher schlechtem „Verlierer“ – ein weiteres Mal attackiert werden.9 Inzwischen scheint das wissenschaftliche Interesse an den Korruptionsdelikten einschließlich der §§ 299 ff. StGB ohnehin allmählich abzunehmen. Die Rechtsprechung hat die meisten Probleme abgearbeitet; und die Literatur hat sich zumindest zu einem Teil den potentiellen Korruptions-„Opfern“ zugewendet. Von der relativen Strenge der repressiven Korruptionsbekämpfung profitiert seit einiger Zeit eine stetig wachsende „Compliance“Wirtschaft, die u. a. mit einer kaum noch überschaubaren Flut an grundsätzlich auch strafrechtsbezogener Literatur die Wirtschaft erfolgreich zur „Implementierung“ von korruptionsvermeidenden bzw. zumindest -erschwerenden Compliance-Systemen anhält. Dass die „Corporate Compliance“ auf die „Public Compliance“ überschwappt, ist dabei abzusehen. Die expansive Fassung des Amtsträgerbegriffs hat diese Entwicklung sicher nicht initiiert. Die relativ große Rechtsunsicherheit dürfte aber dazu beigetragen haben, dass „Compliance“ – schlichter ausgedrückt: normgetreues Verhalten – nunmehr allenthalben in der Wirtschaft der besonderen Erläuterung zu bedürfen scheint. Der „Erfolg“ von „Compliance“ wird sich noch zeigen; dass insbesondere Großkonzerne insgesamt normgetreuer bzw. „ethisch“ korrekter handeln als früher, darf in jedem Fall bezweifelt werden.
II. Dass die Prognose, ob es sich in einem konkreten Fall bei einem Beschäftigten eines bestimmten privatisierten Unternehmens der öffentlichen Hand 7 Zur Rspr. im Anschluss an BGHSt 43, 370 vgl. nur: BGHSt 45, 16; 46, 30; 49, 214; 50, 299; 52, 290, 293 (Rn 11); 53, 6; 54, 202; BGH NJW 2001, 3062, 3063; 2004, 693; 2007, 2932, 2933; BGH NStZ 2007, 211; zur h. M.: LK-Hilgendorf, 12. Aufl. 2007, § 11 Rn 40; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht, 2001, S. 384; sowie als eigentlicher Urheber der Einbeziehung von privatrechtlich organisierten Unternehmen in die Gruppe der Arbeitgeber von „Amtsträgern“: Lenckner, ZStW 106 (1994), 502, 515. 8 Zuletzt BGHSt 54, 202. 9 Vgl. hier nur: Bernsmann, StV 2009, 308; ähnlich: Rausch, Fn 6; s. auch Zwiehoff, FS für Herzberg, 2008, S. 155 ff.
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oder eines gemischt-wirtschaftlichen, d. h. eines unter privater Beteiligung geführten Betriebes um einen „Amtsträger“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB handelt oder nicht, höchst unsicher ist, lässt sich durch einen Blick in die, in jeder Kommentierung wiedergegebene reichhaltige Kasuistik belegen. Fällt die Diagnose positiv aus und ist damit der Anwendungsbereich der §§ 331 ff. StGB eröffnet, ist zugleich der Allgemeine Teil verlassen; die verbleibenden Probleme haben in der Regel nichts mehr mit dem Begriff des „Amtsträgers“ zu tun, sondern sind solche der Merkmale dieser Vorschriften. Mindestens ein Folgeproblem ist aber noch ganz eng mit dem Begriff des „Amtsträgers“ verknüpft. Es ist im Gesetz an eher verstecktem Ort angesiedelt und hat möglicherweise nicht zuletzt auch deswegen die höchstrichterliche Praxis – soweit ersichtlich – bislang erst ein Mal beschäftigt. Gemeint ist die Vorschrift des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB und der dort normierte Umgang mit Amtsträgern, denen in Bezug auf eine unter Korruptionsverdacht stehende künftige (Dienst-)Handlung „Ermessen“ eingeräumt ist. Nach § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB macht sich ein „Amtsträger“ schon dann strafbar, wenn er sich (lediglich) bereit gezeigt hat, sich bei der Ausübung des Ermessens durch den (geforderten, versprochenen oder angenommenen) Vorteil beeinflussen zu lassen. Ob er ernstlich dazu bereit ist bzw. ob die Entscheidung im Ergebnis zu beanstanden ist (gewesen wäre) oder nicht, spielt dabei keine Rolle.10 Die Handlung ist schon deswegen pflichtwidrig, weil der „Amtsträger“ sich bei seiner Entscheidung von dem versprochenen etc. Vorteil beeinflussen lässt (bzw. sich dazu bereit gezeigt hat).11 Ins Praktische gewendet heißt das: ein „Ermessens-Amtsträger“ macht sich schon dann nach § 332 Abs. 1 StGB strafbar, wenn er – unabhängig von einer im Ergebnis noch so „richtigen“ Entscheidung – im Vorfeld einen „bösen Schein“ gesetzt hat. Er läuft wegen § 335 Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 2 StGB dann sogar Gefahr, einem „besonders schweren Fall der Bestechlichkeit“ und dessen robuster Strafandrohung anheimzufallen. Der soeben geschilderte Befund führt in Bezug auf die eingangs erörterten „Amtsträger“, die in privatrechtlich organisierten und privatwirtschaftlich tätigen Unternehmen der öffentlichen Hand z.B. als Geschäftsführer, Vorstände, Prokuristen etc. tätig sind, zu der Frage, ob ihre alltäglichen, vom jeweiligen Unternehmensgegenstand und -interesse bestimmten unternehmerischen Entscheidungen auch in dem „Ermessen“ stehen, das § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB meint. Wenn ja, wäre die Parallelisierung von inner- und außerbehördlich, hier: in der privatwirtschaftlichen Sphäre tätigen „Amts10
BGHSt 11, 125, 130. Vgl. BGHSt 15, 239, 249; 47, 260, 263; 48, 44, 49 ff.; Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 332 Rn 12. 11
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trägern“ in der Tat konsequent umgesetzt.12 Andererseits wäre allerdings auch der Abstand zu dem, was eine methodengetreue Auslegung dem § 11 Abs. 2 Nr. 2 c StGB entnehmen könnte, kaum noch zu vergrößern. Am Beispiel des Geschäftsführers eines Unternehmens, das z. B. in öffentlichprivater Partnerschaft mit einer Mehrheitsbeteiligung des öffentlichen Partners betrieben wird: Bei ihm fehlte nicht nur ein an ihn persönlich adressierter förmlicher Akt der „Bestellung“;13 sein Handeln als Geschäftsführer eines marktorientierten Unternehmens ließe sich auch ebenso wenig als „Diensthandlung“ bezeichnen wie anzunehmen wäre, dass er sich als „Träger“ eines „Amtes“ fühlt; und schließlich würde er seine unternehmerischen Entscheidungen auch kaum für vergleichbar halten mit Ermessensentscheidungen, die ein Beamter trifft. Das aus dieser Perspektive insbesondere nicht sonderlich fernliegende Wortlautargument hat den 5. Senat des BGH in der bislang wohl einzigen einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidung allerdings überhaupt nicht be- bzw. gerührt. Er überträgt - schlicht - die überkommene Definition des „uralten“ Ermessens-Beamten auf den erst seit BGHSt 43, 370 bzw. - etwa zeitgleich - dem KorrBekG „existierenden“ „Geschäftsführer“-(„Vorstand“etc.)Amtsträger neuer Prägung: Nach „der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift“ meint „Ermessen“ i. S. von § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB „lediglich das Vorhandensein mehrerer rechtmäßiger Entscheidungsvarianten, unter denen der Amtsträger die Wahl hat, nicht ein Ermessen im strikt verwaltungsrechtlichen Sinne“14. Als offenbar zugleich systematisches und teleologisches Argument verweist der BGH dann – allerdings ohne Nachweis – auch noch auf den „Gesetzgeber“, dem es lediglich darum geht, „die Beeinflussbarkeit bei einem derartigen Entscheidungsvorgang derjenigen bei zukünftigen rechtswidrigen Diensthandlungen gleichzusetzen“15. Was daraus allerdings speziell für die Gleichsetzung von „Geschäftsführerpflichten“16 und „Ermessen“ im verwaltungsrechtlichen Sinn herzuleiten sein soll, erschließt sich nicht. Im Gesetzgebungsverfahren wurde jedenfalls noch durchgängig vom „Ermessensbeamten“ gesprochen.17 Das könnte immerhin – mit Systematik und „Teleologie“ zwanglos vereinbar – dafür sprechen, dass nur die gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 a – StGB als „Amtsträger“ in Betracht kommenden Personen Täter des § 332 Abs. 1, 3 Nr. 2 StGB sein können, die – wie die in § 11 Abs. 1 Nr. 2 a StGB genannten „Beamten“ – über „Ermessen“ im verwaltungsrechtlichen Sinn verfügen. Dass „Ermes12
LK-Sowada, 12. Aufl. 2009, § 332 Rn 13. Vgl. BGHSt 43, 370, 382. 14 BGH wistra 2007, 17, 18. 15 BGH Fn 14. 16 BGH Fn 14. 17 Vgl. BT-Drucks. 7/550 S. 270. 13
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sen“ dabei schon immer auch sonstige, dem Verwaltungsrecht zuzuschlagende Fälle mitumfasst, in denen auch mindestens zwei unterschiedliche Entscheidungen rechtmäßig sein können18, wie es beim Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen, etwa in Zusammenhang mit Prüfungsentscheidungen der Fall sein kann, wäre kein durchschlagendes Gegenargument.19 Darin liegt nur eine vergleichsweise schwache Lockerung des verwaltungsrechtlich-technischen „Ermessensbegriffes“, nicht aber eine Abkoppelung des „Ermessensbegriffes“20 von jedem verwaltungsrechtlichen Bezug, wie sie der BGH betreibt.
III. Dass die der Ansiedlung von „Amtsträgern“ in GmbHs und AGs kongeniale Mediatisierung des Ermessensbegriffes, d. h. seine Befreiung von jedweder Verwaltungsrechtsakzessorietät, nicht nur auslegungstechnisch verfehlt, sondern auch eine nachgerade absurde Konsequenz hat, ergibt sich aus Folgendem: „Ermessen“ ist ein „Fundamentalbegriff“ des Verwaltungsrechts,21 der u. a. in § 40 VwVfG, aber auch z. B. in § 5 AO bzw. § 39 SGB I erscheint. Der Begriff meint insoweit die einer Verwaltungsbehörde durch Rechtsvorschrift eingeräumte Freiheit zum Handeln und damit zur Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten.22 Im jeweiligen Gesetz wird die Einräumung von „Ermessen“ durch „kann“, „darf“, „soll“, „ist befugt“, „ist berechtigt“ zum Ausdruck gebracht.23 Warum der Begriff des „Ermessens“ in § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB nicht in einem solchen verwaltungsrechtsakzessorischen Sinn zu verstehen sein sollte, lässt sich durch den apodiktischen Hinweis auf – in Wahrheit gar nicht vorhandene – systematische bzw. teleologische Erwägungen des Gesetzgebers des „AT 1975“ schon deswegen nicht begründen, weil der Amtsträgerbegriff des EGStGB nicht von der Existenz von Amtsträgern in privatisierten Unternehmen ausging.24 Abgesehen davon unterscheidet § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB auch jetzt noch zwischen Personen, die bei einer „Behörde“ und Personen, die bei einer „sonstigen Stelle“ zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben „bestellt“ sind. Dass z. B. eine GmbH allenfalls eine „sonstige Stelle“ sein kann, dürfte außer Streit sein. Wenn 18
Vgl. OLG Frankfurt NJW 1990, 2074 f. Vgl. MüKo-Korte, 2006, § 332 Rn 31; NK-Kuhlen, 2. Aufl. 2005, § 332 Rn 9. 20 Vgl. LK-Sowada, Fn 12. 21 Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 31 Rn 33. 22 Vgl. Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 55 Rn 2. 23 Vgl. Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, GG, 58. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn 189. 24 Vgl. dazu ausf.: Bernsmann, Fn 5. 19
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zusätzlich „Ermessen“ qua ausdrücklicher verwaltungsrechtlicher Zuweisung in § 40 VwVfG (nur) einer „Behörde“ zukommt, ist es – nach Maßgabe der ansonsten vom BGH zur Identifizierung einer „sonstigen Stelle“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB postulierten verwaltungsrechtsakzessorischen Begriffsbildung25 - ebenso folgerichtig wie in Ansehung des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 103 Abs. 2 GG geboten, „Ermessen“ in § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB nur einem solchen Handeln eines „Amtsträgers“ zuzuordnen, das im Ergebnis einer „Behörde“ zuzurechnen ist. Der etwaige Einwand, dass es auch den Begriff des „unternehmerischen“ Ermessensspielraums gebe und § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB insoweit allumfassend umgangssprachlich zu verstehen sei, würde nicht verfangen. Im Gesellschaftsrecht bzw. in betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen ist „Ermessen“ – anders als im Verwaltungsrecht – kein feststehender Begriff. Er steht vielmehr gleichberechtigt neben anderen, bedeutungsgleichen Termini: Der Bundesgerichtshof in Zivilsachen spricht z. B. in seiner Grundsatzentscheidung zum sog. Unternehmerischen Ermessensspielraum (vgl. §§ 76, 77, 93 Abs. 1, 2 AktG; 43 Abs. 1 GmbHG)26 – allerdings ohne den Begriff des „Ermessens“ zu verwenden – von einem „weiten Handlungsspielraum …, ohne den unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar“ sei. Dazu gehöre neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen.27 Diese Definition zeigt, dass „unternehmerischer Ermessensspielraum“, der das Charakteristikum der Gestaltungs-Freiheit eines Vorstands bzw. eines Geschäftsführers ist, etwas anderes bedeuten muss als die gesetzesdirigierte und gesetzestreue Verwirklichung des Staatswillens im Einzelfall, der die Ermessensausübung durch eine „Behörde“ zu dienen hat.28 Aus grammatikalischer Perspektive drängt sich daher auf, dass es nur um Handlungs- und Entscheidungsspielräume gehen kann, die von konkreten Normen eingeräumt werden, nicht aber um den generellen Freiheits(Spiel-)Raum, der der Leitung einer GmbH oder einer AG deswegen zuzubilligen ist, weil das „Unternehmensinteresse“, dem die Handlungen des Geschäftsführers bzw. des Vorstandes zu dienen haben, ein hochkomplexes Interessengeflecht umfasst und zudem im Wirtschaftsleben Chancen und 25
Vgl. hier nur: BGHSt 43, 370. BGHZ 135, 244, 253; zur Gleichsetzung der Begriffe „ordentlicher Geschäftsmann“ (§ 43 Abs. 1 GmbHG) und „ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter“ (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG) vgl. hier nur: Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 43 Rn 7; Hachenburg/Mertens, GmbHG, 8. Aufl., § 43 Rn 16; Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 43 Rn 3. 27 BGHZ 135, 244, 253. 28 Vgl. auch: Ossenbühl, FS für H. Huber, 1981, S. 283, 286. 26
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Risiken im Allgemeinen untrennbar miteinander verknüpft sind. Unternehmerisches „Ermessen“ hat sich grundsätzlich an betriebs- und ggf. volkswirtschaftlichen Vorgaben zu orientieren – mit dem „Ermessen“, das das Verwaltungsrecht einer Behörde im konkreten Einzelfall einräumt, weist unternehmerisches „Ermessen“ keinerlei materielle bzw. substantielle Ähnlichkeit auf. Das Strafrecht kann aber Unvergleichbares nicht allein deswegen gleich behandeln, weil es eine umgangssprachliche Definition gibt, die zufällig auf einen vom historischen Gesetzgeber nicht bedachten Fall außerhalb eines verwaltungsrechtlichen Zusammenhangs passt. Verwaltungsermessen und Unternehmensermessen sind grundverschiedene Phänomene. Das Strafrecht muss sich entscheiden. Dann aber ist die Zuordnung des „Ermessensamtsträger“ zum Handeln einer „Behörde“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB) die unabweisbare Konsequenz. Wie bereits angedeutet kann auch aus subjektiv-historischer Perspektive mit „Ermessen“ in § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB nur „Ermessen“ in verwaltungsrechtlichem Sinn gemeint sein. Die Frage, ob der Geschäftsführer einer privatisierten GmbH, deren Gesellschafter zur öffentlichen Hand gehören, bei Führung des Unternehmens „Ermessens“-Entscheidungen i. S. von § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB trifft, hat sich bis zur Entscheidung des 2. Senats des BGH vom 19.12.199729 nicht gestellt. Soweit ersichtlich gab es bis dahin keine höchstrichterliche Entscheidung zu einem Geschäftsführer (bzw. Vorstand) oder sonstigen Angestellten eines privatisierten Unternehmens, in der dessen „Beamten“- bzw. „Amtsträgereigenschaft“ nach § 359 a. F. bzw. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c a. F. StGB bejaht worden wäre.30 Unter Geltung des sog. „strafrechtlichen Beamtenbegriffs“ gab es ohnehin keine Entscheidung, in der über den sog. „Ermessensbeamten“ nachgedacht wurde, ohne dass es um verwaltungsrechtlich begründete Pflichten gegangen wäre.31 Wenn es aber nun – entsprechend den Beteuerungen von Gesetzgeber und Bundesgerichtshof32 - zutrifft, dass § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB in der Fassung des KorrBekG nur klarstelle, was schon zu Zeiten des § 359 a. F. bzw. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c a. F. StGB gegolten habe, kann der früher ausschließlich im verwaltungsrechtlich technischen Sinn verstandene „Ermessenbeamte“ nicht „einfach“, d. h. nur weil die verwaltungsrechtsorientierte Definition „passt“, zum universellen „Ermessens-Amtsträger“ mutieren und damit die in Betracht kommenden (Ermes29
BGHSt 43, 370. Dazu ausf.: Rausch, Fn 6, S. 13 ff. 31 Etwa: RGSt 1, 404; 25, 400; 74, 251; BGHSt 11, 125; BGH NJW 1960, 830 f.; BGH JR 1961, 507, 508; BGH GA 1960, 374; BayObLG GA 1959, 374; HansOLG StV 2001, 277, 281. 32 BT-Drucks. 13/5584, S. 12; BGHSt 43, 370, 377; 46, 301, 312. 30
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sens-)Handlungen um den fast grenzenlosen Bereich von Entscheidungsträgern erweitert werden, die unter gesellschaftsrechtlichen und betriebswirtschaftlichen Regime handeln. Der Einzugsbereich des früheren „strafrechtlichen Beamtenbegriffs“ mag durch die Ergänzung des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c n. F. StGB durch das KorrBekG („… unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Form“) ausgeweitet worden sein,33 offensichtlich ist aber zugleich, dass dem Gesetzgeber nicht bewusst war, dass sein Zugeständnis an die Privatisierungswelle öffentlicher Unternehmungen34 mit dem früheren „Ermessensbeamten“ nicht kompatibel ist. Auch die vom BGH ebenfalls für sich beanspruchte Gesetzessystematik35 spricht in Wahrheit gegen einen verwaltungsrechtsunabhängigen Ermessensbegriff. Zunächst ist nicht einsichtig, warum § 299 StGB keine Regelung enthält, die der des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB entspricht, obwohl auch bei der „Bestechlichkeit“ bzw. „Bestechung im geschäftlichen Verkehr“ (§ 299 Abs. 1, 2 StGB) zwischen gebundenen und „Ermessens“Entscheidungen differenziert werden könnte. Die Vorschrift des § 299 Abs. 1 StGB pönalisiert die Bestechlichkeit von Nicht-Amtsträgern weitgehend in Analogie zur Regelung des § 332 Abs. 1 StGB.36 Wenn einem Geschäftsführer (oder Vorstand) als idealtypischem Täter dann aber auch „Ermessen“ i. S. von § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB eingeräumt wäre, hätte es nahegelegen, § 299 Abs. 1 StGB mit einer entsprechenden Regelung für den Fall eines für eine künftige Handlung geforderten etc. Vorteils zu versehen. Dies ist nicht geschehen und führt zu einem auffälligen Ungleichgewicht strafrechtlicher Risiken. Über die „Behördengleichheit“ eines privatisierten Unternehmens können Zufälligkeiten insbesondere dann entscheiden, wenn es etwa um (Sperr-)Minoritätsbeteiligungen Privater geht.37 Warum der eine Beschäftigte von dem Risiko einer Strafbarkeit entsprechend der Regelung des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB ausgenommen ist, weil § 299 Abs. 1 StGB die künftige „Ermessens“-Entscheidung nicht behandelt, ein anderer aber, weil, besser: obwohl er bei einer „behördengleichen“ Einrichtung beschäftigt ist, für sein (angebliches) „Geschäftsführer-Ermessen“ einstehen muss, ist wenig einsichtig. Auch „Sinn und Zweck“ der Vorschrift des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB streitet entgegen der Annahme des BGH38 nicht dafür, z. B. Geschäftsführer von GmbHs, mögen deren Gesellschafter auch der öffentlichen Hand zuzurechnen sein und das Unternehmen wie ein „verlängerter Arm“ des Staates 33
Vgl. oben. Vgl. BT-Drucks. 13/5584, S. 12. 35 BGH wistra 2007, 17, 18. 36 Vgl. BT-Drucks. 13/3353, S. 13. 37 Vgl. hier nur: BGHSt 50, 299. 38 BGH Fn 1. 34
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wirken, als gleichsam „geborene“ „Ermessensbeamte“ zu betrachten. Jedenfalls dann nicht, wenn § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB in Zusammenhang mit dem gesamten Regelungskomplex gesehen wird: Zwar dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass der Schutzzweck der Bestechungsdelikte alles andere als eindeutig ist,39 doch liegt es gerade bei Zugrundelegung des vom Gesetzgeber und der Rechtsprechung angenommenen Schutzzwecks des „Schutzes der Reinheit oder Lauterkeit der Amtsausübung“,40 bzw. des „Vertrauens der Öffentlichkeit auf die Makellosigkeit und Lauterkeit des öffentlichen Dienstes“41 oder des „Schutzes des Staatswillens vor Verfälschung“42 durchaus nahe, nach Art der Stellung des Täters im – zu schützenden – „öffentlichen Dienst“ und der daraus folgenden Wirkung seiner Handlung in Bezug auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in das ordnungsgemäße Funktionieren des „öffentlichen Dienstes“ zu differenzieren. Wenn § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB eine Unterscheidung trifft zwischen a) Beamten oder Richtern, b) Personen, die in einem sonstigen öffentlichrechtlichen Amtsverhältnis stehen und c) Personen, die sonst bei Behörden oder sonstigen Stellen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, so steht dahinter eine Skalierung, die mit der Staatsnähe und dem Vertrauen korrespondiert, das die Öffentlichkeit dem jeweiligen Amt bzw. der Position im Gefüge der staatlichen Repräsentanz entgegenbringt. Der Geschäftsführer einer GmbH in öffentlicher Hand erscheint (nur) als „verlängerter Arm des Staates“, ist aber selbst gerade nicht Staat und damit staatsferner als ein Beamter im staatsrechtlichen Sinn. Ersterer genießt daher – idealtypisch – kaum mehr Vertrauen in seine Unbestechlichkeit als der Geschäftsführer einer GmbH in privater Trägerschaft oder einer solchen, die in „Public-Private-Partnership“ betrieben wird bzw. als der Geschäftsführer einer privatisierten Gesellschaft, die sich zwar in staatlichem Eigentum befindet, deren „Steuerung“ aber noch nicht der durch einen „verlängerten Arm“ gleichkommt. Insoweit könnten die Sonderregelungen der Bestechlichkeit für Richter (§ 332 Abs. 2 StGB) und Ermessens-„Beamte“ (§ 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB) dann aber durchaus einer abgestuften Schutzintention des Gesetzes entsprechen.
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Vgl. Fischer, § 331 Rn 3; NK-Kuhlen, § 331 Rn 9 ff.; LK-Sowada, Vor §§ 331 ff. Rn. 12 ff. 40 Vgl. RGSt 72, 233; BGHSt 10, 237, 241; 15, 88, 96. 41 BGHSt 30, 46, 48; BGH NJW 1984, 2654. 42 BT-Drucks. 7/550, S. 269; vgl. auch: Eb. Schmidt, Die Bestechungstatbestände, 1960, S. 149.
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IV. Der BGH wird die vorstehenden Argumente gegen die Erstreckung des „Ermessens“-Amtsträgers auf Beschäftigte privatisierter Unternehmen erwogen haben. Immerhin verweist er auf die gängigen Bezugspunkte strafrechtlicher Interpretation: „Systematik“, „Sinn und Zweck“, Anliegen des „Gesetzgebers“.43 Einen Aspekt, den der BGH wahrscheinlich auch zugleich „systematisch“ wie „teleologisch“ bezeichnen würde, hat er allerdings nicht berührt und wahrscheinlich auch nicht gesehen: Unter der der h. M. entsprechenden Voraussetzung, dass die von §§ 331 ff. StGB erfassten Drittvorteile auch Vorteile sein können, die der juristischen Person zugute kommen (sollen), in deren „Dienst“ der Amtsträger steht,44 dürfte ein Großteil der Handlungen von „Amtsträgern“ in privatisierten, am Wirtschaftsleben teilnehmenden Unternehmender Vorschrift des § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB zuzurechnen sein. Worum sonst als um „Vorteile“ für das Unternehmen wird und sollte es z. B. einem Geschäftsführer bei Verhandlungen mit (potentiellen) Geschäftspartnern gehen. Er wird sich Vorteile versprechen bzw. anbieten lassen, die er bei seiner unternehmerischen Entscheidung für oder gegen das jeweilige Geschäft in Rechnung stellen wird. Damit ist aber das alltägliche Handeln eines „AmtsträgerManagers“ genau das, was § 332 Abs. 2 Nr. 3 StGB als pflichtwidrig pönalisiert. Derart Abwegiges kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben und kann § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB auch objektiv nicht normieren. Auswege, d. h. Möglichkeiten, diese Fälle aus § 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB auszunehmen und dem argumentum ad absurdum zu entkommen, ohne zugleich den „Ermessensamtsträger“ ganz aus privatwirtschaftlichen Unternehmungen des Staates zu verbannen, lassen sich wahrscheinlich finden oder zumindest behaupten. Bei der Suche nach entsprechenden Argumenten wird allerdings nicht mitwirken, wer u. a. im Interesse der Rechtsklarheit und -sicherheit ohnehin keinen Bedarf sieht, den ins Privatrecht ausweichenden Staat zu Lasten der Normadressaten zu schützen, „als ob“ er Staat wäre!
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BGH Fn 14. Vgl. OLG Karlsruhe NJW 2001, 907, 908; OLG Köln NStZ 2002, 35; OLG Celle NJW 2008, 164; Fischer, § 331 Rn 14; NK-Kuhlen, § 331 Rn 45; LK-Sowada, § 331 Rn 44. 44
Zur Zurückweisung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen eigener Sachkunde des Gerichts – § 244 Abs. 4 S. 1 StPO – bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage Zugleich eine Besprechung von BGH (2. Senat), Beschl. v. 27. 01. 2010 – 2 StR 535/09* RÜDIGER DECKERS
A. Vorbemerkung Eine Entscheidung des 2. Strafsenats vom 27.01.2010 – 2 StR 535/09 – verdient große Aufmerksamkeit und ist bereits in der Literatur1 überwiegend auf Zustimmung gestoßen.
B.
I. 2
Der in der JZ abgedruckte Leitsatz lautet: „Wenn der Tatrichter einen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens (§ 244 Abs. 4 Satz 2 StPO), der auf substantiiert dargelegten methodischen Mängeln des (vorbereitenden) Erstgutachtens gestützt ist, allein mit der Begründung zurückweist, er verfüge selbst über die erforderliche Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO), darf er sich in den Urteilsgründen hierzu nicht dadurch in Widerspruch setzen,
* NJW 2010, 1214 = JZ 2010, 471. 1 Eisenberg JZ 2010, 474. 2 JZ 2010, 471.
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dass er seiner Entscheidung das Erstgutachten ohne Erörterung der geltend gemachten Mängel zugrunde legt.“ Es liegt dem Beschluss folgender Fall zugrunde: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen, sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in acht Fällen, jeweils in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen – Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 52 weiteren Fällen – freigesprochen. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg; der Rüge liegt die fehlerhafte Zurückweisung eines Beweisantrags zugrunde. II. Die erfolgreiche Verfahrensrüge betrifft einen Beweisantrag der Verteidigung mit dem sie begehrt, ein alternatives Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen und dabei das zunächst von der Strafkammer erhobene Erstgutachten moniert: Das Ursprungsgutachten weise qualitative Mängel in der Fragetechnik sowie der Analyse der speziellen Aussagetüchtigkeit, Aussageentstehung und -entwicklung sowie der Prüfung motivationaler Faktoren für eine Falschaussage auf. Das Landgericht hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, die Kammer verfüge über die erforderliche eigene Sachkunde. Die Gutachterin sei durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren beauftragt worden, die Kammer hätte dies von sich aus nicht veranlasst. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen sei Aufgabe des Gerichts; ein aussagepsychologisches Gutachten könne nur eine zusätzliche Entscheidungshilfe sein. Der Beschluss führt sodann aus: „Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall die Hinzuziehung eines Sachverständigengutachtens erfordern würden, sind nicht ersichtlich. Die Kammer hat allein zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung die (...) Sachverständige U. zur Hauptverhandlung hinzugezogen, zumal ihr hinsichtlich der Angaben der Zeugin (...) im Rahmen der Exploration zwecks Überprüfung der Aussagekonstanz ohnehin die Funktion einer Zeugin zufiel.“ Das Urteil der Strafkammer setzt sich in seinen Gründen ausführlich mit der Aussage der einzigen Belastungszeugin auseinander und gelangt zum Ergebnis, die Aussage sei glaubhaft.
Bemerkungen zu BGH 2 StR 535/09
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Ergänzend hebt das Urteil: „Hinsichtlich der Bewertung der Zuverlässigkeit der Aussage auf das eingeholte aussagepsychologische Gutachten“ ab, die Kammer schließt sich den Ausführungen der forensisch erfahrenen Sachverständigen nach eigener Prüfung an. Während der Beweisantrag methodische und inhaltliche Mängel des „Erstgutachtens“ anführt, stützt sich der Beschluss ausschließlich auf § 244 Abs. 4 S. 1 StPO und verhält sich nicht zu den im Beweisantrag vorgetragenen monita, was der Senat als „insofern konsequent“ erachtet. Die Strafkammer hat nämlich – offenbar der von Fischer3 favorisierten Linie entsprechend – schon die Einholung des Erstgutachtens für nicht erforderlich gehalten. Sie ist lediglich deshalb zur Erhebung dieses Beweises in der Hauptverhandlung geschritten, weil die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren die Gutachterin beauftragt hat und diese in der Hauptverhandlung ohnehin als Zeugin hätte vernommen werden müssen. III. Das Urteil verfällt indes – nach der Entscheidung des Senats – deshalb der Revision, weil es sich – auch – auf das Erstgutachten stützt und eine Auseinandersetzung mit den methodenkritischen Einwänden aus dem Beweisantrag der Verteidigung gänzlich vermissen lässt. Das Urteil beruhe auch auf dem Mangel, weil es die Belastungsaussage als konstant bewertet, ohne die Methodenkritik aus dem Beweisantrag bei der Analyse der Entwicklungsgeschichte der Aussage zu würdigen. IV. Kernsätze der Entscheidung sind: 1. Der Sache nach ist die Ablehnung der beantragten Einholung eines weiteren Gutachtens - in der hier vorliegenden besonderen Konstellation - dem Ablehnungsgrund der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit einer Beweisbehauptung verwandt.
3 Vgl. Fischer Aussagewahrheit und Glaubhaftigkeitsbegutachtung in: FS Widmaier, S. 191 ff.; ders. NStZ 1994,1; KK-Fischer § 244 RN 49 ff.; differenzierend: Meyer-Goßner 53. Aufl., § 244 RN 74 m.w.N.
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2. Wie in jedem Fall in der Ablehnung des Beweisantrags eine konkludente Zusage des Gerichts liegt, den unter Beweis gestellten Tatsachen nicht nachträglich entgegen den Gründen des Ablehnungsbeschlusses doch Bedeutung zuzumessen4, kann die substantiiert geltend gemachte Fehlerhaftigkeit eines Sachverständigengutachtens nur dann dahinstehen, wenn es auf das Ergebnis des Gutachtens für das Beweisergebnis in keiner Richtung ankommt (Kongruenzgebot). Die Strafkammer hat sich mit ihrem Anschluss an das Erstgutachten in Widerspruch zur Ablehnungsbegründung gesetzt, mit der die Verteidigung nicht rechnen musste. Der Angeklagte konnte sich vielmehr nach der Begründung des Ablehnungsbeschlusses darauf verlassen, dass das Landgericht die geltend gemachten – sich nach dem Wortlautprotokoll der Exploration in der Tat aufdrängenden – methodischen Fehler des Gutachtens als solche erkannt hat und das Gutachten daher – im Hinblick auf seine eigene Sachkunde – seinem Urteil nicht zugrunde legen würde. 3. Anderenfalls hätte das Landgericht den Angeklagten auf seine abweichende oder geänderte Beurteilung hinweisen und die geltend gemachten Mängel in den Urteilsgründen erörtern müssen; bei Erneuerung des Beweisantrages hätte es einer gem. § 244 Abs. 4 S. 2 StPO substantiierten Begründung bedurft, wenn ein Zweitgutachten nicht eingeholt werden sollte.
C. Bemerkungen
I. Die Entscheidung stützt sich im Wesentlichen auf das Kongruenzgebot5, dass - klassischerweise - aus den Ablehnungsgründen der Bedeutungslosigkeit und der Wahrunterstellung folgt: Eine im Beweisantrag behauptete Tatsache, die der Ablehnungsbeschluss des angerufenen Gerichts als bedeutungslos qualifiziert, darf im Urteil nicht verwendet werden. Das Urteil darf sich zur Ablehnungsbegründung nicht in Widerspruch setzen, insbesondere nicht auf das Gegenteil der unter Beweis 4 Vgl. BGH NStZ 1988, 38; 1994, 195; BGH StV 1997, 338; Meyer-Goßner StPO, 53. Aufl., § 244 Rn. 56; Fischer in: KK-StPO, 6. Aufl. § 244 Rn. 146; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. Rn. 216a; jew. m.w.N. 5 Vgl. dazu: KK-Fischer § 244 Rn. 188.
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gestellten Tatsachen stützen.6 Inkongruenz kann auch dann vorliegen, wenn das Gericht die Tatsache als zweifelhaft, aber möglicherweise bedeutsam ansieht7 oder die Beweisbehauptung verkürzt, eingeengt oder umgedeutet wird, um ihre Erheblichkeit vermeiden zu können. Dabei kommt es für die Bewertung einer Tatsache als bedeutungslos auf den Zeitpunkt des Urteilserlasses an.8 Es versteht sich von selbst, dass ein Hinweis der Strafkammer in der laufenden Hauptverhandlung über diesen Bedeutungswandel, die Tatsache als erheblich anzusehen, den Mangel heilt. Damit korrespondiert das Gebot, dass die Urteilsgründe einer Wahrunterstellung nicht widersprechen dürfen.9 Besonders problematisch ist die Fallkonstellation, dass eine Tatsache zunächst als wahr unterstellt und später zuungunsten des Angeklagten als erwiesen angesehen und im Urteil verwendet wird. Die Inkongruenz liegt dann in der konkludenten Zusage, dass die unter Beweis gestellte als entlastend gewertet wird. Ohne einen entsprechenden Hinweis verstößt die gegenteilige Verwendung der Tatsache im Urteil gegen das Kongruenzgebot.10 II. In dem vom 2. Strafsenat entschiedenen Fall liegt nun die Inkongruenz nicht in der gegenteiligen Verwendung einer behaupteten Beweistatsache, sondern in der Behauptung der eigenen Sachkunde unter gleichzeitiger Beanspruchung sachverständiger Hilfe zur Beantwortung der Beweisfrage (Zuverlässigkeit der Zeugenaussage). Der Fehler in der Urteilsbegründung der Strafkammer erscheint indes relativ leicht vermeidbar. Allein das Weglassen der ergänzenden – nicht unbedingt tragenden - Begründung im Urteil: „…hat sich die Kammer auch der Beratung durch die (...) Sachverständige bedient“, hätte das zentrale Argument der Inkongruenz beseitigt. Das muss zu denken geben. Wenn der Senat – völlig zu Recht – von der Verwandtschaft der Ablehnung eines Beweisantrages wegen eigener Sachkunde mit dem Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit spricht, so kann dies nicht auf die Fallkonstellation beschränkt sein, in der der Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens abzielt (§ 244 Abs. 4 S. 2 StPO). 6
Meyer-Goßner § 244 Rn. 56 m.w.N.; KK-Fischer a.a.O; BGH 5 StR 110/02. KK-Fischer a.a.O.; BGH 5 StR 110/02. 8 Niemöller in: FS Hamm S. 537, 545 ff. 9 KK-Fischer § 244 Rn. 193; Meyer-Goßner Rn. 71a. 10 Vgl. BGHSt 51, 364 m. Anm. Niemöller. 7
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Der Senat scheint mit der Formulierung: „Insofern konsequent hat der ablehnende Beschluss daher die substantiierten Einwendungen des Beweisantrags gegen die Qualität des (vorbereitenden) Gutachtens weder erörtert noch überhaupt erwähnt“, die Ansicht zu vertreten, die Ablehnung eines Beweisantrages wegen „eigener Sachkunde“ – die nach der Gesetzessystematik sowohl für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines ersten als auch weiterer Gutachten angeführt werden kann – bedürfe keiner Auseinandersetzung mit dem Antragsvorbringen der Verteidigung im Ablehnungsbeschluss. Auch wenn es dann in der Urteilsbegründung an der Inkongruenz zwischen der Behauptung eigener Sachkunde und der Inanspruchnahme des Gutachtens fehlt, könnte das Antragsvorbringen auch in der Beweiswürdigung unberücksichtigt bleiben, ohne das Urteil zu gefährden. Denn, ob die beanstandete Fragetechnik, die Analyse der speziellen Aussagetüchtigkeit, Aussageentstehung und –entwicklung sowie die Prüfung motivationaler Faktoren im Urteil dargelegt und erörtert wird, bleibt der Gestaltung des Tatgerichts überlassen.11 Meyer-Goßner kommentiert: „Im Ablehnungsbeschluss muss nicht dargelegt werden, aus welchen Gründen sich das Gericht die erforderliche Sachkunde zutraut.“12 Fischer kommt indes in seiner Kommentierung des § 244 Abs. 4 S.1 StPO13 der Verwandtschaft des Ablehnungsgrundes der eigenen Sachkunde zum Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit erheblich näher: „Die Grundlagen eigener Sachkunde muss das Gericht in den Gründen des ablehnenden Beschlusses, jedenfalls aber in den Urteilsgründen darlegen, wenn es mehr als Allgemeinwissen in Anspruch nimmt (....). Die Berufung auf eigene Sachkunde ist nichtssagend, wenn das Gericht die im konkreten Fall geforderte Sachkunde nicht haben kann, insbesondere, weil unerlässliches Anwendungs- oder Auswertungswissen fehlt (.....); allein die theoretische Beschäftigung mit einem Wissenschaftsgebiet vermittelt noch nicht die Sachkunde praktischer Erfahrung.“
III. Der Formulierung bei Meyer-Goßner:„In 1. Hinsicht gelten aber die Ablehnungsgründe des Abs. 3“, ist der Ansatz zu jener „logischen Hierarchie der Ablehnungsgründe“ zu entnehmen, die hier vertreten wird. 11
Vgl. zur Problematik: Eschelbach Feststellungen, in: FS Widmaier S. 127 ff. Meyer-Goßner § 244 Rn. 73. 13 KK-Fischer § 244 Rn. 198; vgl. auch Eisenberg BewR der StPO, Rn. 255. 12
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Die Struktur der Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 u. 4 StPO legt nahe, dem Aspekt der Erheblichkeit/Bedeutung der behaupteten Beweistatsache Priorität zuzumessen. In einem vom 2. Strafsenat des BGH entschiedenen Fall zum Verhältnis zwischen Erheblichkeit/Bedeutungslosigkeit und Wahrunterstellung einer Beweistatsache wird diese innere Systematik verdeutlicht:14 „1. Die gleichzeitige Ablehnung eines Beweisantrages durch Wahrunterstellung und wegen Bedeutungslosigkeit ist nicht möglich, weil eine Wahrunterstellung nur bei erheblichen Tatsachen in Betracht kommt. 2. Sind die als wahr unterstellten Umstände mit den im Urteil getroffenen Sachverhaltsfeststellungen offensichtlich nicht in Einklang zu bringen, ist das Gericht gehalten, in den Urteilsgründen auf die als wahr unterstellten Tatsachen ausdrücklich einzugehen und näher zu erläutern, wie es trotz der Wahrunterstellung zu den Sachverhaltsfeststellungen gelangt ist.“ Diese Erkenntnis lässt sich auch für die übrigen Ablehnungsgründe verallgemeinern. Da das Verfahren der Erforschung der für ein Urteil erheblichen Tatsachen dient, ist bei jeder Prüfung eines Beweisantrages zunächst zu beantworten, ob die Beweistatsache überhaupt erheblich ist. Eine unerhebliche Tatsache ist unabhängig davon, ob sie offenkundig ist, ob sie mit den angebotenen Beweismitteln bewiesen werden kann oder ob sie schon erwiesen ist, nicht für das Verfahren von Bedeutung. Die fakultativen Ablehnungsgründe enthalten daher alle – als ungeschriebene Voraussetzung – das Erheblichkeitserfordernis.15 Das über einen Beweisantrag befindende Gericht hat deshalb stets die Prüfung voranzustellen, ob eine Beweisbehauptung erheblich bzw. bedeutungsvoll ist. Verneint es die Erheblichkeit, steht der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit an erster Stelle mit den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten besonderen Begründungsanforderungen.16 Werden diese eingehalten, stellen sie die bestmögliche Informationsplattform für den Antragsteller dar und ermöglichen einen fortschreitenden formalisierten und fairen Dialog17. Es erscheint in diesem Kernbereich der Rechte des 14
BGH 2 StR 431/05 = NStZ 2006, 497 bei Becker wistra 2006, 190; StV 2007, 18. Anders zur Erwiesenheit einer Tatsache der BGH (NJW 2003, 152), der ohne weitere Begründung anführt, auch die Beweiserhebung über eine nicht erhebliche Tatsache könne mit dieser Begründung abgelehnt werden. Diese Auffassung ist aus den genannten Gründen abzulehnen. 16 Vgl. BGH NStZ 2005, 224; EGMR NStZ 2005, 224; BGH NStZ 2007, 352; NStZ-RR 2007, 84. 17 Basdorf StV 1995, 310, 318 f.; BGHSt 43, 212 f.; BGH NStZ 2005, 224. 15
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Beweisantragstellers nicht überzogen, die Qualitätssicherung im Sinne einer qualifizierten Auseinandersetzung um die Sache einzufordern. Sie ist - auch – geeignet, eine entfaltete Streitkultur zu fördern, die den Boden für gegenseitige Wissensbildung und Überzeugung bereitet. Sie dient zugleich der Prozessökonomie, weil die Verteidigung nicht darauf verwiesen wird, vorsorglich absichernde Hilfsbeweisanträge zu stellen und ihr die Übersicht erleichtert wird, koordinierte Beweisanträge zu stellen.18 Die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache muss daher grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von den durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen entsprechen. Die Ablehnung darf nicht dazu führen, dass erklärbare, zu Gunsten des Angeklagten sprechende Umstände der gebotenen Gesamtabwägung in der Beweiswürdigung entzogen werden.19 IV. Bezogen auf den vom 2 Strafsenat entschiedenen Fall sind daher folgende – über die Entscheidung hinausgreifende - Konsequenzen zu ziehen: 1. Abgeleitet vom Gedanken der „Verwandtschaft“ des Ablehnungsgrundes der „eigenen Sachkunde“ mit dem der „Bedeutungslosigkeit“, wie sie in der logischen Struktur der Ablehnungsgründe verankert ist, muss sich der auf eigene Sachkunde stützende Ablehnungsbeschluss mit den Behauptungen im Beweisantrag auseinandersetzen, die über das allgemeine Wissen hinaus Fragen des jeweiligen Fachgebietes ansprechen, aus dem der Sachverstand eingefordert wird – unabhängig davon, ob der Antrag auf die Einholung eines ersten oder eines weiteren Gutachtens abzielt. Es ist deshalb eher als inkonsequent anzusehen, die inhaltlichen Anforderungen an die Beschlussbegründung dann – „gegen Null“ – abzusenken, wenn sich das erkennende Gericht auf eigene Sachkunde beruft. Der Antragsteller bliebe dann ohne Auskunft, sein Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG liefe leer. Er sollte auch nicht auf die Urteilsgründe verwiesen werden können, aus denen er erst dann erfahren soll, woraus sich die eigene Sachkunde und die Unerheblichkeit seiner Tatsachenbehauptungen ergibt; denn es entspricht dem Wesen des Beweisantragsrechts, dass der Antragsteller noch in
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Vgl. dazu: Widmaier StraFO 2006, 437, 438. BGH NStZ 2005, 224; zum Ganzen: Deckers Der strafprozessuale Beweisantrag, 2. Aufl., 2007, S.72.ff. 19
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der Hauptverhandlung auf die tragenden Ablehnungsgründe reagieren kann. Das setzt voraus, dass der Antragsteller sie rechtzeitig erfährt.
2. Inkongruenz der Urteilsgründe liegt auch dann vor, wenn das Urteil sich auf solche Tatsachen stützt, die in Widerspruch zu behaupteten Beweistatsachen stehen, im ablehnenden Beschluss nicht erörtert sind, und im Urteil weder mitgeteilt, erörtert noch gewürdigt sind. 3. Wenn der 2. Strafsenat in einer weiteren bemerkenswerten Entscheidung20 eine Unterrichtungspflicht statuiert: „Wenn es nahe liegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache in Zusammenhang steht und das – im Gegensatz zu dieser Tatsache – für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung ist,“ dann wird die primäre Unterrichtungspflicht im Ablehnungsbeschluss – etwa wegen „der Annahme eigener Sachkunde“ - umso evidenter.
D. Schlussbemerkung Das Beweisantragsrecht stellt ein zentrales Element des Anspruchs auf rechtliches Gehör des unter Anklage stehenden Bürgers dar. Es bildet in diesem Sinne durch die Strafprozessordnung konkretisiertes Verfassungsrecht, prozessuales Grundrecht ab. Bestrebungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zielen darauf ab, dieses Recht einzugrenzen. So ist in richterlicher Rechtsfortbildung bei extremer Verfahrensverzögerung die Möglichkeit geschaffen worden, dem Antragsteller eine Frist zu setzen, nach deren Ablauf der Anspruch auf Bescheidung des Beweisantrages in der Hauptverhandlung nur noch dann bestehen soll, wenn er die Gründe für die Verspätung nachvollziehbar und substantiiert darlegen kann oder die Aufklärungspflicht die Beweiserhebung gebietet 21. Auch soll es möglich sein, einen Hilfsbeweisantrag selbst dann mit den Urteilsgründen zu bescheiden,
20
2 StR 296/05 = StV 2006, 121. Vgl. zum Streitstand und ablehnend: Meyer-Goßner § 244 RN 69b; vgl. auch zur Fehleranfälligkeit: BGH NStZ 2010, 161. 21
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wenn die Ablehnung auf den Grund der Prozessverschleppung gestützt wird.22 Der 2. Strafsenat hat sich in diese Restriktionen des Beweisantragsrechts nicht eingereiht. Stattdessen kündet die vorliegende Entscheidung von einem Ausbau des formalisierten Dialogs. Wenn das Kongruenzgebot gestärkt wird, wird der überraschende Rückgriff auf ausgeschiedene Tatsachen (Bedeutungslosigkeit) oder die Umdeutung wahr unterstellter Tatsachen verhindert. Der Antragsteller wird in die Lage versetzt, den Prozessfortgang zu „lesen“. Gleiches soll nun auch gelten, wenn das erkennende Gericht sich trotz substantiierten Sachvortrages in einer komplexen Beweisfrage auf eigene Sachkunde beruft. Dass dieser Impuls des Judikats über die besondere Konstellation des Beweisantrags, ein weiteres Gutachten einzuholen, hinauswirkt, war aufzuzeigen. Diese Konsequenz ist in der Entscheidung angelegt. Sie fordert beide Seiten – Antragsteller wie Gericht – zur vertiefenden Begründung des Antrags wie des antwortenden Beschlusses heraus. Die Chance zu höherem Erkenntnisgewinn liegt hüben wie drüben. Die geschätzte Jubilarin mag dem Autor nachsehen, dass ihr Wirken mehr als ihre Person im Zentrum der Betrachtung dieses Beitrages steht.
22
Vgl. zum Streitstand: Meyer-Goßner § 244 Rn. 44a u. 69b.
Einlassung mit oder durch den Verteidiger (Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?) KLAUS DETTER
I. Die Einlassung des Angeklagten nach § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO Eines der wesentlichen Rechte des Angeklagten im Strafverfahren ist die Möglichkeit, sich zu den ihm vorgeworfenen Straftaten zu äußern. Nach § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO (früherer Abs. 4; geändert mit Wirkung vom 4. 8. 2009 durch Art. 1 Nr. 7 Buchst. b des Gesetzes vom 29. 7. 2009 BGBl I 2353 – Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren) wird der Angeklagte darauf hingewiesen, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ist der Angeklagte zur Äußerung bereit, so wird ihm Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen (§ 243 Abs. 5 Satz 2 StPO in Verbindung mit § 136 Abs. 2 StPO). Mit dieser Regelung soll dem Angeklagten rechtliches Gehör gewährt und zugleich gewährleistet werden, dass dieser für seine Verteidigung die ihn entlastenden Umstände dartun und die ihn belastenden Umstände widerlegen kann, so dass das Gericht bei der Beweisaufnahme sein Augenmerk auch auf diese Gesichtspunkte richten kann1. Nicht als Einlassung in diesem Sinne einzuordnen sind Schriftsätze des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, die Angaben des Angeklagten zur Sache enthalten2, der Inhalt von Beweisanträgen bei schweigendem Angeklagten3 sowie schriftliche Äußerungen des Angeklagten unabhängig von der Verteidigung4. Derartige Äußerungen können aber im Wege des Zeugen- oder Urkundenbeweise Beweisbedeutung erlangen. Nicht der Beweisaufnahme 1 Becker in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. Rn. 65 f.; Schneider in KK 6. Aufl. Rn. 38 jew. zu § 243 StPO; vgl. dazu Schäfer in Festschrift für Dahs S. 441, 444 ff.; Müller in Festschrift für Hanack, S. 67 ff. 2 Anders für Schreiben des Angeklagten vgl. BGH NStZ 1994, 593 = StV 1994, 521 insoweit in BGHSt 40, 211 nicht abgedruckt; vgl. auch BGHSt 39, 305 ff.; BGH NStZ 2002, 555. 3 BGH NStZ 1990, 447. 4 BGHSt 39, 305; BGH NStZ 2000, 439 = StV 2001, 548.
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zugänglich. sind grundsätzlich Mitteilungen des Angeklagten an seinen amtierenden Verteidiger vor der Hauptverhandlung. Der Inhalt solcher Besprechungen zwischen einem Angeklagten und seinem Verteidiger dient der Vorbereitung der Verteidigung, vor allem der Frage, ob Angeklagte sich zur Sache einlässt oder schweigt5. Eine der Einlassung des Angeklagten im Sinne von § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO entsprechende Äußerung kann aber auch in Angaben zur Sache im Rahmen des „letzten Worts“ nach § 258 Abs. 2 und 3 StPO zu sehen sein6 oder in der Erklärung des Verteidigers in seinem Schlussvortrag, über die von seinem Mandanten eingestandenen Fälle hinaus seien bestimmte weitere Vorwürfe zutreffend, wenn der Verteidiger die Äußerung ausdrücklich für den Angeklagten abgegeben und dieser sich in seinem letzten Wort den Ausführungen seines Verteidigers angeschlossen hat7.
II. „Vertretung“ in der Einlassung Eine Art „Vertretung“ in der Wahrnehmung des Rechts auf Stellungnahme zur Anklage kennt die Strafprozessordnung nur in den Fällen, in denen der Angeklagte abwesend sein darf (§ 234 StPO8). Als die gesetzlich vorausgesetzte Form der Einlassung des in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten (§ 243 Abs. 5 Satz 2, § 136 Abs. 2 StPO) ist grundsätzlich seine mündliche Erklärung anzusehen. Lässt sich aber ein in der Hauptverhandlung anwesender Angeklagter selbst mündlich zur Sache ein, wird er mit seiner Aussage zu einem außerhalb der Beweisaufnahme gewonnenen, der richterlichen Beweiswürdigung zugänglichen, Beweismittel. Die Einlassung des Angeklagten zur Sache kann somit ein riskantes, aber auch effektives Mittel materieller Verteidigung sein. Die Verteidigung hat aber oft ein Interesse daran, die mündliche Äußerung des Angeklagten zu vermeiden und an deren Stelle eine ,,wohl formulierte" Verteidigererklärung zu setzen oder eine vorab gemeinsam ausgearbeitete, schriftliche Einlassung mit einer bestimmten Sachverhaltsdarstellung in das Verfahren einzuführen. Durch die schriftlich ausgearbeitete Erklärung bzw. Sacheinlassung verbunden mit dem Hinweis an das Gericht, dass darüber hinaus keine Fragen beantwortet werden, soll der möglicherweise rhetorisch nicht geschickte, intellektuell oder aufgrund der psychisch ungewohnt belastenden Situation überforderte
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BGH StV 2008, 284 f. m. Anm. Beulke/Ruhmannseder StV 2008, 285 ff. BGH StraFo 2010, 71. 7 BGH Beschl. v. 23.02.2000 – 1 StR 605/99. 8 Vgl. dazu Becker aaO, § 234 Rn. 14 m. w. N. 6
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Angeklagte9 vor der Befragung durch das Gericht und die Staatsanwaltschaft effektiv geschützt werden10. Die Praxis der Strafverteidigung hat deshalb, wohl aus Angst, der Angeklagte werde sich um Kopf und Kragen“ reden11, oder auch um die Angaben des Angeklagten für das Revisionsverfahren zu dokumentieren12, die “Stellvertretung“ bei der Einlassung des in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten zur Sache erheblich ausgedehnt und dadurch eine umfangreiche Diskussion ausgelöst13, was zu einer Vielzahl von Entscheidungen, auch des Bundesgerichtshofs14, geführt hat. Die schriftliche Sacheinlassung verbunden mit dem ansonsten schweigenden Angeklagten ist dabei nicht nur in der täglichen Praxis ein Dauerthema, auch die Revisionsgerichte befassen sich immer wieder damit. Von Verteidigerseite wird dabei sogar die Meinung vertreten, diese (neue) Form der Einlassung scheine von den Tatgerichten häufig als „persönliche Beleidigung" angesehen zu werden, sie nehme ihnen das scheinbar beste Beweismittel gegen den Angeklagten, nämlich das „gegen sich selbst“, und zwinge sie darüber hinaus, aus Revisionsgründen zur inhaltlich vollständigen Wiedergabe in den Urteilsgründen15. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass ein regelrechtes Wechselspiel von immer wieder neuen Verteidigungs9
Vgl. dazu Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397. Noll StRR 2008, 444 f.; Dahs NStZ 2004, 451 ff. 11 Vgl. dazu Wesemann StraFo 2001, 293, 295; Dencker in Festschrift für Fezer 2008, S. 115, 117; Eisenberg/Pincus aaO, S. 397; kritisch dazu Pfister NStZ Sonderheft Miebach 2009, S. 25, 26. 12 So z. B. Schlothauer StV 2007, 623, 624; Dencker aaO, S. 118; Voraussetzung ist aber die Verlesung der schriftlichen Einlassung als Urkunde: BGHSt 38, 14, 16; BGH StV 1993, 118; NStZ 1997, 296; NStZ-RR 2003, 52; vgl. auch Mehle in Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins 2009, 655: Schäfer Festschrift für Dahs 2005, 441, 448; vgl. auch BGH NStZ 2004, 163; NStZ 2007, 349; 2009, 282 f.; vgl. auch Becker aaO, Rn. 79 zu § 243; weicht nämlich die Darstellung der verlesenen Einlassung in den Urteilsgründen vom Text der verlesenen Erklärung ab oder enthalten die Urteilsgründe keine umfassende Würdigung der schuldspruch- oder strafzumessungsrelevanten Inhalte, kann darin ein revisibler Verstoß gegen § 261 StPO; vgl. auch BGHSt 38, 14, 16; BGH StV 1993, 118. 13 Vgl. dazu Salditt StV 1993, 442, 444, Michel MDR 1994, 648; Park StV 1998, 59 und 2001, 589 ff.: Miebach NStZ 2000, 234, 239; Wesemann StraFo 2001, 293, 294 ff.; Eisenberg/Pinkus JZ 2003, 397 ff.; Meyer-Mews JR 2003, 361 ff.; Dahs NStZ 2004,451 ff.; Geppert Festschrift für Rudolphi 2004. S. 643 ff.; Schäfer Festschrift für Dahs 2005, 441 ff.; Olk JZ 2006, 204 ff.; ders Die Abgabe von Sacherklärungen des Angeklagtem durch den Verteidiger Diss. 2006; Beulke Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer 2006 S.87 ff.; Schlothauer StV 2007, 623 ff.; Schlösser NStZ 2008, 310 ff.; Noll StRR 2008, 444 ff.; Dencker in Festschrift für Fezer 2008 S. 115 ff.; Mehle in Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins 2009, 655 ff.; Gillmeister Festschrift für Mehle 2009 S. 233 ff., Pfister NStZ Sonderheft Miebach 2009, S. 25 ff. 14 Vgl. ua NStZ 2004, 163; 2007, 349; 2008, 349; 2009, 282 f.; NStZ-RR 2008, 21; BGHSt 52, 175 ff.; zur Entwicklung der Rechtsprechung: Schäfer aaO, S. 450 ff. 15 Noll StRR 2008, 444. 10
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strategien bei den „Einlassungssurrogaten" und entsprechenden – oft ablehnenden - Reaktionen der Gerichte, vor allem auch der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, entstanden ist16.
III. Die „Sonderformen“ der Einlassung Unter den Strafverteidiger ist ersichtlich ein gravierender Wandel bei der Handhabung der Einlassung des Angeklagten im Rahmen von § 243 Abs. 5 StPO eingetreten17, wobei der Stellung des Verteidigers bei der Einlassung des Angeklagten mehr Raum gegeben wird als dies vom Gesetzgeber wohl gewollt war und von der Rechtsprechung toleriert werden kann. Es haben sich insoweit unterschiedliche Vorgehensweisen herausgebildet und zwar vor allem: (1)
der Angeklagte verliest seine mit Hilfe des Verteidigers vorbereitete schriftliche Einlassung
(2)
der Angeklagte übergibt eine schriftlichen Erklärung und beantragt bzw. regt an, diese durch das erkennende Gericht zu verlesen
(3)
der Verteidiger gibt mündlich eine Erklärung für Angeklagten ab
(4)
der Verteidiger verliest eine von ihm verfasste schriftliche Erklärung oder beantragt deren Verlesung durch das Gericht.
Nicht alle diese Vorgehensweisen sind von der Rechtsprechung akzeptiert und als der Strafprozessordnung entsprechend anerkannt worden. Der Bundesgerichtshof hat stets deutlich gemacht, dass er Versuchen entgegentritt, das strafprozessuale Grundprinzip der mündlichen Einlassung eines Angeklagten aufzuweichen und zu umgehen. (1) Der Angeklagte verliest seine mit Hilfe des Verteidigers vorbereitete schriftliche Einlassung18. Ein solches Vorgehen ist rechtlich nicht zu beanstanden19. Unerheblich ist, ob die Angaben vom Angeklagten in freier Rede vorgetragen oder von ihm verlesen werden. Dem Angeklagten darf die Verlesung jedenfalls nicht untersagt werden. Hier muss eine Parallele zu
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Vgl. auch zur Skepsis der Gerichte: Gillmeister aaO, S. 240, 241. Dahs NStZ 2004, 452 spricht davon, die Strafverteidiger hätten insoweit einen „ungewöhnliche Ideenreichtum“ entwickelt. 18 Vgl dazu Schäfer aaO, S. 446 ff. 19 BGH NStZ 2000, 439; anders noch BGHSt 3, 368; Becker aaO, Rn. 76; Schneider KK 6. Aufl. Rn. 43 ff. jew. zu § 243 StPO; ausführlich Dencker aaO, S. 120 ff.; Schäfer aaO, S. 449; Pfister aaO, S. 26; Eisenberg/Pincus aaO, S. 399 f. 17
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letztem Wort im Rahmen von § 258 StPO gezogen werden20. Der Vorsitzende darf einem Angeklagten, der beim Schlusswort einen schriftlichen Entwurf zum Vorlesen benutzen will, das Vorlesen nicht von vornherein untersagen. Der Angeklagte hat zwar bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung, wie auch bei sonstigen Vernehmungen, seine Erklärungen, von den Ausnahmefällen des § 186 GVG (Taubheit oder Stummheit) abgesehen, nach der verfahrensrechtlichen Regelung der §§ 243 Abs. 5, 136 StPO mündlich abzugeben und darf grundsätzlich die mündlichen Erklärungen nicht durch die Vorlesung einer Verteidigungsschrift ersetzen. Aus keiner verfahrensrechtlichen Vorschrift ergibt sich aber, dass der Angeklagte seine Ausführungen zum letzten Wort nur in freier Rede machen dürfe. Selbst dem Anklagevertreter und dem Verteidiger steht es unbestritten frei, ihre Schlussvorträge schriftlich auszuarbeiten und die Entwürfe in der Hauptverhandlung zu benutzen21. Was aber für das letzte Wort als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör Geltung hat, darf für die Einlassung, die ebenfalls das rechtliche Gehör gewährleisten soll, nicht anders beurteilt werden. Ob sich Angeklagte des Verteidigers bei seiner Einlassung nur als Schreibhilfe bedient hat oder ob die Einlassung auf einer Absprache zwischen dem Verteidiger und dem Angeklagten beruht, ist für die Zulässigkeit des Vorgehens ohne Bedeutung. Die Angaben selbst sind deshalb zu werten als Einlassung des Angeklagten im Rahmen von § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO, ihr Beweiswert ist aber problematisch22, denn es steht nicht fest, von wem die Erklärung tatsächlich stammt, das gilt vor allem wenn keine Fragen zugelassen werden. Das Vorgehen bringt im Übrigen dem Angeklagter nicht nur Vorteile. Dieses Prozessverhalten kann sich nämlich auch negativ für den Angeklagten auswirken. Es kann insoweit von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Angeklagter zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen Angaben macht und insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen unterlässt (sog. Teilschweigen23). Daraus dürfen unter Umständen für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden. denn das Schweigen kann einen negativen Bestandteil seiner Aussage bilden, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO unterliegt24. 20
BGHSt 3, 368 zum letzten Wort gemäß § 258 StPO. BGHSt 3, 368. 22 Becker aaO, Rn. 77 zu § 243. 23 BGHSt 45, 367 ff.: BGH NStZ 1999, 47; 2003, 45 f.; auch Widmaier JR 2004, 85 f; Volk NStZ 1984, 377 f; Jäger JR 2003, 166 f.; Aselmann JR 2001, 80 ff.; Park StV 2001, 589, 590 f.; Meyer-Mews JR 2003, 361, 363 ff.; Richter StV 1994, 687 ff.: Miebach NStZ 2000, 234 ff.; Volk NStZ 1984, 377 ff.; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 7. 10. 2008 – 2 BvR 1494/08. 24 BGH NStZ 2000, 494 f.; StV 2002, 409 f. m. Anm. Jäger JR 2003, 166 f.; Widmaier JR 2004, 85 f. 21
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(2) Der Angeklagte oder der Verteidiger übergeben eine schriftliche Erklärung des Angeklagten dem Gericht mit dem Antrag oder der Anregung, diese zu verlesen25 Anfänglich hat der Bundesgerichtshof immer wieder betont, dass in Fällen, in denen der Angeklagte sich zur Sache äußern will, er dies mündlich muss tun26. Diese Meinung hat er aber in dieser Schärfe nicht mehr aufrechterhalten. Schriftliche Erklärungen, die der Angeklagte im anhängigen Verfahren zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgibt, sind nunmehr auch seiner Meinung nach verlesbar, selbst wenn der Angeklagte später Angaben verweigert. Das Gesetz lässt nämlich dort den Urkundenbeweis zu, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt; ein solches Verbot besteht für Erklärungen des Angeklagten nicht27. Seine Erklärung kann somit im Wege des Urkundenbeweises verlesen werden, aber nicht durch den Verteidiger, sondern durch das Gericht. Die Verlesung durch den Verteidiger genügt nicht, um den Beweiswert einer Urkunde zu schaffen. Die vom Gericht nicht angeordnete Verlesung einer Einlassung des Angeklagten zur Sache durch seinen Verteidiger wird mangels Beweiserhebung über den Wortlaut der Erklärung nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung; vielmehr wird Gegenstand der Hauptverhandlung lediglich der mündliche Vortrag des Verteidigers und die zustimmende Erklärung des Angeklagten28. Wenn sich ein Angeklagte bei seiner (geständigen) Einlassung in der Hauptverhandlung der Hilfe seines Verteidigers in der Form bedient, dass der Verteidiger mit seinem Einverständnis oder seiner Billigung für ihn eine schriftlich vorbereitete Erklärung abgibt und diese sodann vom Gericht – ohne prozessuale Verpflichtung - entgegengenommen und als Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wird, ist sie dadurch auch nicht zum Bestandteil des Hauptverhandlungsprotokolls geworden. Die Strafprozessordnung verbietet zwar nicht, in einem Schriftstück festgehaltene Äußerung des Angeklagten im Wege des Urkundenbeweises zu verwerten, das Tatgericht ist aber nach der nicht unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich nicht verpflichtet, die schriftliche Einlassung eines Angeklagten als Urkunde zu verlesen, da seine mündliche Vernehmung grundsätzlich nicht durch die Verlesung einer schriftlichen Erklärung durch das Gericht ersetzt werden kann29, da nach der Rechtsprechung die Vernehmung eines Angeklagten zur Sache grundsätzlich durch mündliche Befragung und mündliche Antworten erfolgen 25
Vgl. dazu Becker aaO, Rn. 79 ff. zu § 243. Vgl ua BGH NJW 1994, 2904, 2906; NStZ 2000, 439. 27 BGHSt 20, 161 ff.; 39, 305 ff. 28 BGH StV 2007, 621. 29 BGH NStZ 2004, 392; StV 2007, 621; 2007, 622 f.; vgl dazu Schlothauer StV 2007, 623 ff.; Schlösser NStZ 2008, 310 ff.; Pfister aaO, S. 27; Mehle aaO, S. 655, 660 ff. 26
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soll30. Nach den Umständen des Falles kann aber die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), deren Inhalt und Umfang sich nicht allein nach dem Prozessverhalten des Angeklagten richten darf, die Verlesung eines solchen Schreibens im Hinblick auf seinen Inhalt gebieten31. Das kann vor allem in Betracht kommen, wenn es sich um die erste Äußerung des Angeklagten zum Tatvorwurf handelt, ein Geständnis enthält oder in relevanter Weise frühere Einlassungen ergänzt oder von ihnen abweicht. Eine Einlassung wird wohl auch – abgesehen von der auch auf dem Gebot der Wahrheitsfindung beruhenden Aufklärungspflicht - verlesen werden müssen, wenn besondere Umstände, etwa Sprachfehler, Sprachhemmungen, ein deutlich unterdurchschnittlicher Intellekt oder eine Minderbegabung des Angeklagten diesen am eigenen, mündlichen Vortrag hindern oder ihn wesentlich beeinträchtigen würden32. Da die gesetzlich vorgesehene Form der Einlassung des Angeklagten (§ 243 Abs. 5 Satz 2, § 136 Abs.2 StPO) nicht dadurch umgangen werden kann, dass dieser seine Stellungnahme zur Anklage in einem Schreiben an das Gericht niederlegt und nach dessen Eingang einen Antrag auf Verlesung des Wortlauts im Urkundsbeweis stellt, kann das Tatgericht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch einen Beweisantrag mit der Beweisbehauptung, der Angeklagte habe sich in einem Schriftstück in einer bestimmten Weise zum Tatvorwurf geäußert, ablehnen. Der Beweisantrag betrifft nach der – nicht unbestrittenen33 - Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für sich grundsätzlich keine für die Entscheidung über den Schuldspruch oder Rechtsfolgenausspruch relevante Beweistatsache, die im formellen Strengbeweis aufzuklären ist. Anders liegt es nur, wenn gerade der Inhalt des Schriftstückes an sich als Beweisgrundlage für den Urteilsspruch heranzuziehen ist34. Eine Verlesung nach § 254 StPO scheidet aus35. Die schriftliche Einlassung eines Angeklagten, der sich nur durch einen vom Verteidiger verlesenen Schriftsatz erklärt und Nachfragen nicht zugelassen hat, darf aber ein nur erheblich geminderten Beweiswert zugemessen werden. Denn in einem solchen Fall ist die Einlassung des Angeklagten nur bedingt einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich, da mangels Möglichkeit von Nachfragen nur eingeschränkt nachgeprüft werden kann, ob die verlesenen Angaben auf einem tatsächlichen Geschehen basieren. Dazu kommt, dass sich ein unmittelbarer Eindruck des Aussageverhaltens, insbesondere 30
BGH NStZ 2004, 163; StV 2007, 621; BGHSt 52, 175 ff. BGH StV 2001, 548 f.; BGHSt 52, 175 ff.; Schlothauer StV 2007, 623 ff.; ders. NStZ 2008, 310 ff.; Eisenberg/Pincus aaO, S. 399, 400. 32 BGH NStZ 2008, 349 f. 33 Vgl. Mehle aaO, S. 660 ff. 34 BGHSt 52, 175 ff.; vgl dazu Mosbacher JuS 2009, 124 f. 35 BGH StV 2009, 454. 31
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vom Sprachfluss und der begleitenden Körpersprache, nicht gewonnen werden kann36. Zu beachten ist bei den Vorgehensweisen auch, dass aus der Sicht des Gerichts das Gewicht der Einlassung erheblich gemindert ist, wenn diese offensichtlich vom Verteidiger stammt. Dazu kommt auch hier in den Fällen, in denen Fragen nicht zugelassen werden, dass sich das Problem des „Teilschweigens“ bei der Beweiswürdigung durch das Tatgericht stellt. Entsprechendes kann gelten, wenn er zwar nicht die Beantwortung an ihn gestellter Fragen verweigert, jedoch zu dem ihm vorgeworfenen Geschehen von sich aus nur lückenhafte Angaben macht. Auch dann dürfen grundsätzlich für ihn nachteilige Schlüsse daraus gezogen werden, dass er einen bestimmten Punkt eines einheitlichen Geschehens von sich aus verschweigt. Die Schlussfolgerung ist jedoch nur dann berechtigt, wenn nach den Umständen Angaben zu diesem Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natur sind37. Die Verteidigung wird auch zu beachten haben, falls sie die schriftliche Einlassung gewählt hat, um diese für das Revisionsverfahren zu dokumentieren, dass in Fällen, in denen der Angeklagte entgegen § 261 StPO seine schriftliche Einlassung durch den Tatrichter unzureichend gewürdigt sieht, die zulässige Erhebung einer Verfahrensrüge (neben der Mitteilung des Einlassungsinhalts) voraussetzt, dass dargetan wird, in welcher Weise die Einlassung in der Hauptverhandlung Verwendung gefunden hat, insbesondere ob und durch wen das Schriftstück verlesen worden ist. Ansonsten ist das Revisionsgericht nicht in der Lage zu prüfen, ob der Wortlaut der Einlassung zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden ist. Weiter ist auszuführen, inwieweit die Würdigung der Einlassung vermisst wird; eine pauschale Darstellung reicht insofern nicht38. (3) Der Verteidiger gibt für Angeklagten eine Erklärung ab: Die Vernehmung des Angeklagten zur Sache erfolgt – wie dargelegt – an sich grundsätzlich persönlich und mündlich39. Er darf er aber auch seinen Verteidiger damit betrauen, sich für ihn zur Sache zu äußern. Dieser kann den Angeklagten wegen des höchstpersönlichen Charakters der Einlassung 36
BGH StV 2008, 126, 127 f. BGH StV 2002, 409. 38 BGH NStZ 2004, 163 f.; für den Fall eines Widerspruch zwischen Urteilsgründen und Hauptverhandlungsprotokoll hinsichtlich der Einlassung des Angeklagten zur Sache BGH StV 2008, 235 f. 39 BGH NStZ 2000, 439; 2004, 163; 392; 2008, 349 f. m. Anm. Schlösser NStZ 2008, 310; Schlothauer StV 2007, 622; zur Entstehungsgeschichte des jetzigen § 243 Abs. 5 StPO vgl. Olk Die Abgabe von Sacherklärungen des Angeklagtem durch den Verteidiger Diss. 2006, S. 91 unter Hinweis auf Hahn, Die gesamten Materialen zu den Reichs-Justizgesetzen Abt. 1. 37
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jedoch nicht in dem Sinne in der Willensbildung vertreten, dass er für ihn auch entscheidet, welchen Inhalt die Erklärung haben soll. Der Verteidiger ist vielmehr nur befugt, für den Angeklagten die Erklärung abzugeben, sie also für seinen Mandanten dem Gericht zu übermitteln40. Erklärungen des Verteidigers in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten, der selbst keine Erklärung zur Sache abgibt, können auch nicht ohne weiteres als Einlassung des Angeklagten verwertet werden. Die Verwertbarkeit setzt vielmehr voraus, dass der Angeklagte den Verteidiger zu dieser Erklärung ausdrücklich bevollmächtigt oder die Erklärung nachträglich genehmigt hat41. Gibt somit der Verteidiger eine Sacherklärung ab, ist dieser vom Vorsitzenden zu befragen, ob die von ihm abgegebene Erklärung als Einlassung des Angeklagten anzusehen ist. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Erklärung in diesem Fall zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht wird. Verneint der Verteidiger oder widerspricht der Angeklagte, so darf die Erklärung nicht als Beweismittel verwertet werden. Außerdem muss der Angeklagte entweder durch ausdrückliche Erklärung oder durch Äußerungen, die jeden Zweifel hieran ausschließen, zum Ausdruck bringen, dass er die Angaben des Verteidigers als seine eigene Einlassung verstanden wissen will. Eine in Gegenwart des Angeklagten vom Verteidiger in der Hauptverhandlung abgegebene Erklärung, sein Mandant trete der Anklage nicht entgegen, ist auch dann wohl nicht als Einlassung zu werten, wenn der Angeklagte zwar seinem Verteidiger "in keiner Weise widersprochen" hat, später aber erklärt, sein Verteidiger habe die fragliche Erklärung "aus pragmatischen Gründen" abgegeben42. Das Gericht ist nicht verpflichtet, den über sein Schweigerecht ordnungsgemäß belehrten Angeklagten vorab qualifiziert über die prozessualen Konsequenzen einer Zustimmung zu der durch seinen Verteidiger abgegebenen Erklärung, in der eine Sacheinlassung zu sehen ist, aufzuklären, wenn er sich im weiteren Prozessverlauf wiederholt zur Sache einlässt und damit zeigt, dass er von seinem Schweigerecht keinen Gebrauch machen will43. Ob die Förmlichkeiten im Zusammenhang mit der Genehmigung/ Billigung der Erklärung zur Sache durch den Verteidiger eingehalten sind, kann nur durch das Sitzungsprotokoll nachgewiesen werden. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist aber teilweise nicht sehr konsequent, sie lässt auch eine „stillschweigende“ Zustimmung genügen44. 40
Becker aaO, Rn. 74 zu § 243. BGH StV 2005, 536 m. Anm. Olk JZ 2006, 204 ff.; StV 1998, 59 m. Anm. Park; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 7. 10. 2008 - 2 BvR 1494/08; anders und zu weitgehend: BGH StV 1994, 468; 1998, 59. 42 BGH NStZ 2006, 408 f. 43 BVerfG Beschl. v. 7. 10. 2008 - 2 BvR 1494/08. 44 BGH StV 1998, 59. 41
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(4) Der Verteidiger verliest eine schriftliche Erklärung zur Sache Schriftsätzliche Ausführungen des Verteidigers, in denen er Angaben des Angeklagten wiedergibt, sind in aller Regel nicht als schriftliche Erklärung des Angeklagten verlesbar. In Betracht kommt die Vernehmung des Verteidigers als Zeuge, wenn es um die Feststellung geht, ob der Angeklagte das schriftlich Niedergelegte geäußert hat45. Denn wenn der Angeklagte sich gegenüber einer anderen Person geäußert und diese die Äußerung schriftlich festgehalten hat, so handelt es sich bei der Wiedergabe um die Erklärung eines Zeugen vom Hörensagen, der niedergeschrieben hat, was er als Äußerung des Angeklagten zur Kenntnis genommen hat. Geht es um die Feststellung, ob der Angeklagte das schriftlich Niedergelegte geäußert hat, so ist die niederschreibende Person über ihre Wahrnehmung bei der Unterredung mit dem Angeklagten als Zeuge vom Hörensagen zu vernehmen46. Nichts anderes gilt, wenn die niederschreibende Person der Verteidiger ist. Um Vertretung (§ 234 StPO) handelte es sich hier nicht. Anders kann es sein, wenn der Angeklagte sich des Verteidigers nur als Schreibhilfe bedient hat47. Wenn das Tatgericht eine schriftliche Erklärung des Angeklagten durch seinen Verteidiger verlesen lassen und - prozessordnungswidrig - als Protokollanlage entgegengenommen hat, muss es die Angaben dann als Einlassung auch in den Urteilsgründen dokumentieren. Die Abgabe der schriftlich vorbereiteten Erklärung ändert nichts daran, dass sich der Angeklagte damit mündlich geäußert und das Gericht den Inhalt dieser Äußerung in den Urteilsgründen festzustellen hat48. Zu den hier erfassten Schriftsätzen des Verteidigers gehören jedoch nicht allgemeine Äußerungen des Verteidigers, die Anträge und sonstige Prozesserklärungen beinhalten49 oder Tatsachenbehauptungen in Beweisanträgen50.
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BGHSt 39, 305 f.; BGH StV 1994, 468; 2002, 182. BGHSt 17, 383, 384 ff.; BGH NStZ–RR 2002, 176; NStZ 1994, 502; vgl auch dazu Detter NStZ 2003, 1 ff. 47 BGHSt 39, 305,307. 48 BGH NStZ 2009,145 f.; 282 f. 49 BGH NStZ-RR 2008, 21. 50 BGH NStZ 1990, 447; 2000, 495 f.; vgl. auch Becker aaO Rn. 75 zu § 243, vor allem Fn. 241. 46
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IV. Bedenken gegen eine Einlassung mit oder über den Verteidiger Die neuen Arten von Einlassungen durch oder über den Verteidiger, wie sie oben dargestellt sind, werfen für das Strafverfahren nicht unerhebliche Probleme auf. Es fragt sich, ob sich bei diesem Vorgehen tatsächlich die Erwartungen auf Seiten der Verteidigung für den Angeklagten bei einer „kontrollierten“ Einlassung erfüllen. Wesentlich für die Beurteilung muss dabei Sinn und Zweck der Einlassung eines Angeklagten sowie deren Bedeutung im Strafverfahren sein. Mit der Einlassung werden Weichen für das gesamte weitere Verfahren gestellt51. Die Verteidigung wird insoweit meist dem erkennenden Gericht eine überzeugende Erklärung zur Sache präsentieren wollen52. Die Sacheinlassung eines Angeklagten selbst ist Teil der Beweisaufnahme im materiellen Sinn, weil sie den Umfang der durchzuführenden formellen Beweisaufnahme bestimmt. Sie ist aber kein Beweismittel im technischen Sinn53. Der Einlassung kommt jedoch unter dem Aspekt der Sachaufklärung erhebliche Bedeutung für den weiteren Gang der Hauptverhandlung zu; insbesondere kann ein glaubhaftes Geständnis eine Beweisaufnahme völlig oder in Teilen überflüssig machen. Andererseits kommt einer widerlegten Einlassung allein nur ein begrenzter Beweiswert für die Täterschaft zu, weil auch ein Unschuldiger vor Gericht Zuflucht zur Lüge nehmen kann54. Aus den unrichtigen Angaben des Angeklagten allein darf ebenso wenig ein sicherer Schluss auf die Täterschaft gezogen werden wie bei einem misslungenen Alibibeweis. Insbesondere muss sich das Tatgericht bei der Beweiswürdigung bewusst sein, dass eine wissentlich falsche Einlassung des Angeklagten ihren Grund nicht nur darin haben kann, dass er die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat und nur seine Täterschaft verbergen will, sondern sich oft auch eine andere Erklärung finden kann55. Soll die nachgewiesene Lüge als Belastungsindiz dienen, setzt dies die Feststellung voraus, dass eine andere Erklärung nicht in Betracht kommt oder den Umständen nach fern liegt56. Eine Einlassung des Angeklagten darf aber auch nicht kritiklos gefolgt werden, entlastende Angaben des Angeklagten, für die keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen, und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, dürfen 51 Teilweise wird ihr sogar eine Art „Schlüsselfunktion“ zugewiesen: Eisenberg/Pincus aaO S. 397. 52 Schäfer Festschrift für Dahs 2005 S. 441, 444. 53 BGHSt 52, 175,178 (Rn.16). 54 BGHSt 41, 153 ff. BGH NStZ 1986, 325; StV 1985, 356 f.: BGH StV 2001, 439 ; 1985, 356; 1994, 175 55 vgl dazu ua Meyer-Mews JR 2003, 361, 364 f. m. w. Nachw. 56 BGHSt 41, 153 ff.
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nicht im Hinblick auf den Zweifelssatz der Entscheidung zugrunde gelegt werden57, andererseits darf das Fehlen einer Einlassung oder deren Widerlegung nicht strafschärfend gewertet werden58. Das Recht des Angeklagten, zu schweigen, verbietet es dabei nicht nur, aus einem vollständigen Schweigen zum Tatvorwurf, sondern auch aus einer unterschiedlichen Ausübung des Aussageverweigerungsrechts während verschiedener Verfahrensstadien oder Vernehmungen Schlüsse zum Nachteil des Angeklagten zu ziehen, weil anderenfalls sein Recht, nicht zur Sache auszusagen, eingeschränkt würde. Von daher darf das Tatgericht selbst bei einer erfolgten Sachäußerung im Rahmen der polizeilichen Festnahme keine nachteiligen Schlüsse für den Angeklagten aus einem späteren uneingeschränkten Schweigen im Rahmen einer richterlichen Vernehmung ziehen59. Lässt sich ein Angeklagter aber nur zu bestimmten (Anklage-) Punkten ein und schweigt im Übrigen, darf dies bei der Beweiswürdigung mitberücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann es nämlich von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Angeklagter zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen Angaben macht und insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen unterlässt. Das Schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO unterliegt60. Entsprechendes kann gelten, wenn er zwar nicht die Beantwortung an ihn gestellter Fragen verweigert, von sich aus jedoch zu einem Geschehen nur lückenhafte Angaben macht. Auch dann dürfen grundsätzlich für ihn nachteilige Schlüsse daraus gezogen werden, dass er einen bestimmten Punkt eines einheitlichen Geschehens von sich aus verschweigt. Die Schlussfolgerung ist jedoch nur dann berechtigt, wenn nach den Umständen Angaben zu diesem Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natur sind61. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist die Einlassung eines die Tatvorwürfe bestreitenden Angeklagten, die nur über oder durch die Verteidigung erfolgt und bei der keine Fragen zugelassen werden, vom Gehalt und der prozessualen Bedeutung her massiv entwertet. Der Bundesgerichtshof hat insoweit ausdrücklich für zulässig erachtet, der schriftlichen 57 Vgl. dazu BVerfG, Beschl. vom 8. November 2006 - 2 BvR 1378/06; BGHSt 34, 29,34; BGH NStZ-RR 2003, 371; 2009, 90; NStZ 2004, 35, 36; 2008, 510; 646; 2009, 29; 226; NStZRR 2010, 85 ff.; NJW 2007, 2274; BGH Urt. v. 8. 4. 2009 - 5 StR 65/09; vgl. auch Nack GA 2009, 201, 206 (zur Problematik der Schuldfähigkeit). 58 Kammergericht VRS 114, 444 f. 59 BGH NStZ 1999, 47. 60 Vgl. oben Fn 23 und 24. 61 BGHSt 20, 298 ff.; BGH StV 2002, 409.
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Einlassung eines Angeklagten, der sich nur durch einen vom Verteidiger verlesenen Schriftsatz erklärt und Nachfragen nicht zugelassen hat, einen nur erheblich geminderten Beweiswert zuzumessen62. Zwar wird auch durch eine solche Einlassung dem Erfordernis der Eingrenzung des Prozessstoffes wohl genüge getan, ansonsten kommt dem Vorbringen, vor allem wenn daraus für den Angeklagten günstige Schlüsse gezogen werden sollten, kaum wesentliches Gewicht zu, da völlig offen bleibt, ob die Angaben die tatsächliche Einstellung des Angeklagten zu den Anklagevorwürfen wiedergibt. Einer Einlassung kommt zusätzlich auch dann geringeres Gewicht zu, wenn es sich nicht um eine eigentliche, mündlich vor Gericht abgegebene Aussage, sondern um eine schriftliche Verteidigererklärung handelte, die erst im Laufe der Hauptverhandlung in Kenntnis des wesentlichen Teils des Beweisergebnisses abgegeben worden ist und die sich der Angeklagte lediglich als Einlassung zu eigen macht63. Soweit in ihr entlastende Angaben enthalten sind, wird sie das Tatgericht normalerweise nicht ungeprüft seiner Entscheidung zugrunde legen. Auch falls der Angeklagte mit seiner Einlassung ein Geständnis abgeben will, ist die Wahl einer der „Sonderformen“ nicht unproblematisch. Ganz wesentlich ist dabei die Überlegung, wann und wie64 der Angeklagte ein Geständnis ablegt. Dabei ist von besonderer Bedeutung, welcher Stellenwert einem Geständnis im gegenständlichen Strafverfahren zukommt65. Ein Geständnis ist zwar grundsätzlich geeignet, Gewicht als strafmildernder Gesichtspunkt zu erlangen, auch wenn seine strafmildernde Wirkung gemindert sein kann, z.B. falls es auf prozesstaktischen Erwägungen beruht66. Es muss nicht strafmildernd gewertet werden, wenn es ersichtlich nicht aus einem echten Reue- und Schuldgefühl heraus abgelegt ist, sondern auf erdrückenden Beweisen beruht67. Wenn ein Geständnis in Betracht kommt, sei es aus Überzeugung, sei es, weil die Beweise erdrückend sind, dann muss es so früh wie möglich abgelegt werden, ansonsten ist es als ein wesentlicher Strafmilderungsgrund entwertet. Falls eine – geständige - Einlassung zur Sache, insbesondere Angaben auch zu in Betracht kommenden Strafzumessungserwägungen gemacht werden sollen, macht es oft keinen Sinn, die vom Gesetzgeber als höchstpersönliche und mündliche Erklärung 62
BGH StV 2008, 126 f.; dagegen Gillmeister aaO, S. 241. BGH NStZ 2003, 498,499 m. Anm. Dahs NStZ 2004, 451 ff. 64 Gillmeister aaO meint, in diesem Fall sei den Gerichten „jede Vortragsform“, vor allem durch den Verteidiger, S. 233, 249 f. willkommen oder oft zumindest im Hinblick auf die Person des Angeklagten ausdrücklich erwünscht. 65 Vgl. dazu Lammers StraFo 1999, 366 ff. 66 BGHSt 42, 191, 194/195. ausführlich Eschelbach in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB § 46 Rn. 125 ff. 67 BGHR StGB § 213 2. Alt. Gesamtwürdigung 2. 63
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gewollte Stellungnahme des Angeklagten in ihrer Substanz völlig umzugestalten und zu „entpersonifizieren“, indem eine vom Verteidiger vorgefertigte Erklärung als Geständnis gelten soll. Legt der Angeklagte ein Geständnis ab, so soll er dies nach dem Willen des Gesetzgebers nämlich im Grundsatz mit eigenen Worten tun (vgl. auch RiStBV Nr. 45 Abs. 2), gegebenenfalls ergänzt durch Erklärungen seines Verteidigers68. Möglich ist zwar, wie oben aufgezeigt, auch eine vom Verteidiger vorformulierte, vom Angeklagten lediglich pauschal übernommene Erklärung. Allerdings bedürfen von Dritten für den Angeklagten vorformulierte und von diesen nur summarisch bestätigte Geständnisse generell besonders kritischer Betrachtung hinsichtlich ihrer Substanz, ihrer Übereinstimmung mit dem Ermittlungsergebnis sowie dahingehend, ob sie wirklich als von dem jeweiligen Angeklagten stammend, als von diesem akzeptiert, angesehen werden können69. Auch insoweit gilt jedoch der Grundsatz der freien richterlichen Überzeugungsbildung. Bei einem Geständnis wird es aus der Sicht der Verteidigung deshalb häufig notwendig sein, zu überlegen, ob es tatsächlich ausschließlich schriftsätzlich niedergelegt, vom Angeklagten oder vom Verteidiger verlesen wird, um Missverständnisse zu vermeiden. Es ist sicherlich eine wichtige Aufgabe der Verteidigung, die Einlassung des Angeklagten kritisch zu überwachen und einzugreifen, wenn sich Ungenauigkeiten oder auch Missverständnisse zeigen. Der Angeklagte sollte sich deshalb zum Beispiel nicht selbst äußern, wenn er sprachlich nicht gewandt genug ist. Er kann in solchen Fällen Erklärungen, und damit auch Geständnisse, stellvertretend durch seinen Verteidiger abgeben. Das sollte aber gerade bei Geständnissen nicht der Normalfall sein, da hier der persönliche Eindruck vom Angeklagten von besonderer Bedeutung ist. Zu beachten ist dabei auch, dass das Geständnis gerade in Strafsachen, in denen der Opferschutz eine wesentliche Rolle spielt70, erhebliche strafmildernde Auswirkungen haben kann, denn „der Umgang mit dem Tatopfer“ wird nicht geringe Auswirkungen auf das Strafmaß haben. Zwar darf der „Opferschutz“ nicht immer vorrangig den Angeklagten zu einem Geständnis bewegen. Prozessverhalten, mit dem der - die Tat bestreitende - Angeklagte, ohne die Grenzen zulässiger Verteidigung zu überschreiten, den ihm drohenden Schuldspruch abzuwenden versucht, darf nämlich grundsätzlich nicht straferschwerend berücksichtigt werden71. Die Grenzen der zulässigen Verteidigung sind aber fließend, insbesondere wenn es um die Glaubwür68
BGHSt 52, 82. Eschelbach aaO, § 46 Rn. 130. 70 Vgl. dazu BGH NStZ 2005, 579 f.; NJW 2005, 1519 f.; BGH Beschl. v. 13. 5. 2009 – 1 StR 209/09. 71 BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 14; BGH NJW 2005, 1519. 69
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digkeit von Zeugen und damit vor allem um Angriffe gegen die Person des Tatopfers bei Sexualdelikten geht (vgl. auch § 68 a StPO). Gerade um dem Tatopfer eine Konfrontation mit dem Angeklagten zu ersparen, kommt dem Geständnis in diesem Bereich nicht unerhebliche Bedeutung zu. In diesen Fällen kann es tatsächlich wegen der persönlichen Beziehung zwischen Angeklagtem und Tatopfer manchmal aber auch geboten sein, von den Möglichkeiten einer „Vertretung“ bei der Äußerung zur Sache Gebrauch zu machen. Ansonsten bestehen jedoch nicht geringe Zweifel an der Effektivität der zwischenzeitlich in diesen Verfahren zum Handwerkszeug der meisten Strafverteidiger gehörenden „Sonderformen“ einer Einlassung des Angeklagten auch bei einem Geständnis. Denn es kann gerade aus der Sicht des Tatopfers geboten sein, dass der Angeklagte sich selbst, und nicht sein Verteidiger, in der Hauptverhandlung zur Tat mit eigenen Worten bekennt, um so dem Tatopfer zu zeigen, dass tatsächlich eine Schuldeinsicht beim ihm vorliegt und nicht nur eine – oft floskelhafte - Erklärung aus prozesstaktischen Gründen vorgeschoben wird, die nicht geeignet ist, dem Tatopfer die notwendige Genugtuung zu verschaffen. Oft wird sogar in diesen Fällen, bei denen zum Beispiel der vertypte Milderungsgrund des Täter-OpferAusgleich nach § 46 a StGB angestrebt wird, einem mündlichen Geständnis des Angeklagten besondere Wirkung zu kommen, vor allem wenn es überzeugend vorgetragenen wird72. Dies hängt aber mit der Sache selbst und vor allem mit der Persönlichkeit des Angeklagten zusammen. Es sind aber auch in diesem Bereich Fälle denkbar, bei denen es angebracht und meist nicht nachteilig für die Verteidigung ist, von den „Sonderformen“ der Einlassung Gebrauch zu machen, weil das Tatopfer dies wünscht, und somit eine schriftlich fixiertes, vom Angeklagten selbst vorgelesenes oder vom Verteidiger vorgetragenes Geständnis ausreicht. Insoweit könnten dann ausnahmsweise bei einem Geständnis die “Sonderformen“ der Einlassung tatsächlich verfahrensrechtlich angebracht sein. Gegen die Zulassung der „Sonderformen“ der Einlassung eines Angeklagten dürften dann kaum Bedenken bestehen, wenn im Rahmen einer Verständigung der Angeklagte (meist geständige73) Angaben zur Sache74 machen soll, die dann absprachegemäß dem Urteil zugrunde gelegt werden sollen. Hier ist oft eine mit dem Verteidiger abgesprochene, vielleicht auch schon schriftlich fixierte Erklärung sachgerecht, um „Überraschungen“ zu vermeiden. Vor allem bei einem auf einer Verständigung beruhenden Ges-
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Vgl dazu BGHSt 48,134, zuletzt BGH NStZ 2010, 82 f. Vgl § 257 c Abs. 2 Satz 2 StPO nF. 74 Zu Geständnis und Absprache: Salditt in Festschrift für Widmaier 2008, S. 545 ff. 73
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tändnis75 bietet sich deshalb an, diese Angaben vom Angeklagten (ausnahmsweise) verlesen oder auch im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung einführen zu lassen. Dabei müssen aber auch Geständnisse, die auf Verfahrensabsprachen beruhen, so gestaltet sein, dass sie in ihren Grundlagen und ihrer Darstellung in den Urteilsgründen den allgemeinen Anforderungen an eine sachgerechte Beweiswürdigung genügen76. Ein Schluss auf die allgemeine Gebotenheit de Heranziehung der Sonderformen lässt sich aber auch bei einer Verständigung wegen der prozessualen Besonderheiten nicht ableiten. Nicht unberücksichtigt darf hier bleiben, dass das strafmildernde Gewicht eines Geständnisses, das im Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache abgegeben worden ist, dann geringer sein kann, wenn es allein auf dem Einfluß der Verteidigung beruht, wenn überwiegend prozesstaktische Überlegungen bestimmend waren und das Tatgericht dies durch das in den Urteilsgründen dargelegte sonstige Prozessverhalten bestätigt sieht77.
V. Resümee Im Ergebnis schwächen die neuen Arten der Einlassung des Angeklagten in den meisten Fällen deren Gewicht bei der Entscheidung über Schuld und Strafe, obwohl das Recht des Angeklagten auf Äußerung zur Sache nach § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO an sich als ein für den Angeklagten günstiges Instrument der Verteidigung gedacht war. Angesichts der Bedeutung der Einlassung im Strafverfahren erscheint die heftige Auseinandersetzung über Sonderformen der Sacheinlassung des Angeklagten deshalb kaum nachvollziehbar und die Meinung von Becker78, es handle sich bei den Problemen im Zusammenhang mit den „Sonderformen“ der Einlassung um einen „Sturm im Wasserglas”, ist nicht von der Hand zu weisen. Denn bei genauer Betrachtung überwiegen die einem Angeklagten bei einer „Stellvertretung“ bei der Einlassung entstehenden Nachteile nicht unerheblich die möglichen Vorteile. Vielleicht sollten sich deshalb pflichtbewusste Strafverteidiger zu Herzen nehmen, was ihnen Pfister79 bei einem Symposium ins Stammbuch geschrieben hat: „Die neuen Formen der Einlassung bringen dem Angeklagten in der Tatsacheninstanz nicht viel, im Revisionsverfahren wohl gar 75 Vgl. dazu ausführlich Niemöller/Schlothauer/Weider - Gesetz zur Verständigung in Strafverfahren 2010 Teil II § 257 c Rn. 89 ff. 76 BGHSt 50, 40, 49; BGHSt 52, 78 ff. m. Anm. Schmitz NJW 2008, 1751 f.; Stübinger JZ 2008, 798 ff. 77 BGH Beschl. v. 8. 5. 2007 - 1 StR 193/07. 78 aaO § 243 Rn. 73. 79 aaO S. 29.
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nichts“. Angesichts der doch zwischenzeitlich sehr eindeutig distanzierten Haltung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs zu den „Einlassungssurrogaten“ dürfte sich auch der schon im Jahr 2004 von Dahs80 geäußerte Wunsch nach einer Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen nicht erfüllen. Für den Angeklagten und seinen Verteidiger bleibt weiterhin ein nicht unerhebliches prozessuales Risiko bei der Inanspruchnahme der „Einlassungssurrogate“. Die Strafprozessordnung gewährt nach Sinn und Zweck der Regelung des § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO dem Angeklagte kein uneingeschränktes Recht, sich in einer selbstbestimmten Form zur Sache zu äußern.
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NStZ 2004, 452.
Regina probationum RALF ESCHELBACH
Die Entwicklung des Beweisrechts verläuft historisch in Sinuskurven zwischen Formalisierung und Freiheit der Beweiswürdigung.1 Wenn es zutrifft, dass der Grad des Vorstellungsvermögens von Juristen darüber, dass und warum Geständnisse von Beschuldigten falsch sein können, Auskunft über den Entwicklungsstand einer Rechtsordnung gibt,2 dann hat das Strafprozessrecht derzeit einen Tiefpunkt erreicht. Auch deshalb ist es zu begrüßen, dass die Jubilarin nach langer Strafrechtspraxis nun ihren Erfahrungsschatz verstärkt der Ausbildung junger Juristen zur Verfügung stellt. Die folgende Kurzdarstellung von Geständnisproblemen mag zu Vertiefungen anregen.
I. Fehlerquellenforschung Ein Beispielsfall für das Problemfeld sieht wie folgt aus: Der minderbegabte Klaus B. hatte sich als Voyeur betätigt. Er geriet in dem von regem Medieninteresse begleiteten Fall3 eines Doppelmordes an Mutter und Tochter in einer Villa in Mainz ins Visier der Fahnder, nachdem sich drei „Mörder“ gemeldet und aus Renommiersucht falsche Geständnisse abgelegt hatten. Auch in andere Richtungen hätte der Verdacht gelenkt werden können, etwa weil die ermordete Schülerin mit der Drogenszene Kontakt gehabt hatte oder weil der zur Tatzeit abwesende Familienvater in riskante Geschäfte verwickelt gewesen war. Aber das Verfahren4 befasste sich nach 1
Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2008, S. 17, 19 ff. Hussmann, Das falsche Geständnis, 1935, S. 12. 3 Dazu Karl Peters, Justiz als Schicksal. Ein Plädoyer für die „andere Seite“, 1979, S. 92 ff. und ders., Strafprozess, 4. Aufl., S. 2 ff.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1983, S. 361 ff. 4 Der Beschuldigte hatte nach seiner Verhaftung die Bestellung eines Verteidigers beantragt. Kurz bevor sie erfolgte, begaben sich ein Staatsanwalt und ein Richters des Landgerichts (sic!) zu ihm und vernahmen ihn. Das Protokoll (Bl. 1416 d. A.) betrug nur eine Seite und enthielt die Zurücknahme einer Haftbeschwerde und des Geständniswiderrufs. Vorangegangen war eine polizeiliche Vernehmung (Bl. 1425 ff. d. A.), in welcher „kriminalistische List“ vorkam: 2
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Aussonderung von 300 Spurenakten mit solchen Alternativen nicht mehr.5 Nach der Verdachtshypothese sollte Klaus B. der Täter gewesen sein, weil ihm als „Spanner“ ein sexuell motivierter Übergriff zugetraut wurde. Nach den späteren Urteilsfeststellungen6 drang er in der Nacht vom 12. zum 13. April 1970 in das Haus ein, in dem er zuvor das Mädchen beobachtet hatte. Er erstach zuerst die Mutter, die ihm im Wege war, um dann zu dem Mädchen vordringen zu können. Als dieses sich widersetzte, tötete Klaus B. das Mädchen aus Verärgerung. Nach der Tat fanden sich im Haus keine Einbruchsspuren, keine Finger- oder Fußabdrücke und keine sonstigen Täterspuren, so dass der Eindruck entstand, Spuren seien gezielt vermieden worden.7 Der minderbegabte, als Voyeur gemeinlästige, aber bei Auftreten von Widerstand sonst feige Mann soll demnach einen Mord zur Ermöglichung einer sexuellen Nötigung und dann einen Mord aus niedrigen Beweggründen begangen haben, wonach er noch eine Spurenbeseitigung betrieben habe.8 Im Vorverfahren hatten die Festnahme, Vernehmungen ohne Verteidigerbeistand,9 stets nach stundenlangen informellen Vorgesprächen, die nicht dokumentiert wurden, die Widerstandskraft des Beschuldigten übertroffen.10 Er räumte ein, was die Ermittler hören wollten und änderte seine Angaben auf Vorhalte passend. Nach dem Geständnis fragte ihn der Anstaltspfarrer, ob er die Morde auch ihm beichten wolle. Dies lehnte Klaus B. mit der Bemerkung ab, dass er die Taten nicht begangen habe. Der Pfarrer riet zum Geständniswiderruf. Bei Beachtung dieser Genese könnte dem „Wenn Du nicht sagst, wo der Revolver ist, kann jemand anders mit dem Revolver einen Mord begehen!“. Es folgte die Antwort des Beschuldigten, er habe die (vom Täter am Tatort entwendete) Waffe verkauft, was sich später als falsch erwies. 5 Bemerkenswert ist, dass die Verdachtshypothese, die am 19.7.1972 in Urteilsfeststellungen mündete, der „Fallanalyse“ eines 25jährigen Kriminalmeisters vom 3.6.1970 folgte, sich unverändert durch das Vor-, Zwischen- und Hauptverfahren fortpflanzte, und Alternativhypothesen keinen Erfolg haben konnten. 6 Kurzreferat in BVerfGE 117, 71, 77 f. 7 Dies wurde dahin gedeutet, dass der Täter Handschuhe getragen habe. Der minderbegabte Klaus B. antwortete auf diesbezügliche Frage: „Wieso Handschuhe? Es war doch Frühling!“ 8 Klaus B. wurde von den Polizeibeamten zu einem Waschbecken geführt, in dem der Täter sich nach den Blutantragungen die Hände gewaschen hatte. Das Waschbecken hatte einen ungewöhnlichen Wasserhahn, dessen Bedienung dem Beschuldigten nicht gelang. 9 Es ist international üblich, dass Verteidigerbeistand vor der polizeilichen Vernehmung vermieden wird, um an ein Geständnis zu gelangen; vgl. für die deutsche Praxis den Fall BGH, NJW 1993, 338, 339 (Vernehmung ohne Verteidiger „bis Klarheit herrscht“); für Japan Yoshida, in: FS für Müller-Dietz, 2001, S. 995, 1000. 10 Der Vernehmungsbeamte KK F. begegnete dem Beschuldigten bald „väterlich“, bald „polternd“ (Bl. 2133 d. A.) und räumte ein „Ich war nach der Vernehmung so fertig, dass ich Formulierungsfehler machte“ (Bl. 2126 d. A.). Der Beschuldigte „verlangte immer wieder nach einem Arzt“ (Bl. 2101, 2133 d. A.).
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anschließenden Widerruf hoher Beweiswert zugebilligt werden, was aber von der Justiz nicht angenommen wurde. Es schlossen sich mindestens 21 weitere Beschuldigtenvernehmungen an, wieder zunächst ohne Verteidigerbeistand, zweifach erneut mit dem Resultat eines Geständnisses. Die Geständnisse wurden jeweils widerrufen. Sie divergierten in Details, wurden aber Beweisgrundlage von Anklageschrift, Eröffnungsbeschluss einerseits (mit einer Variante) und Urteil andererseits (mit einer anderen Variante). In der Hauptverhandlung bestritt Klaus B. die Taten konstant. Er wurde aufgrund seiner widerrufenen Geständnisse wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt,11 die heute noch vollstreckt wird. Die Geständnisüberprüfung hatte sich auf „Täterwissen“ konzentriert und war angeblich fündig geworden. Jedoch waren die informellen Vorgespräche, Fragen und Vorhalte bei den förmlichen Vernehmungen sowie eventuelle Informationen des Angeklagten aus Presseberichten nicht rekonstruierbar. Glaubhaftigkeit wegen Existenz von „Täterwissen“ kann einem Geständnis dann eigentlich nur beigelegt werden, wenn Detailangaben durch spätere Ermittlungsmaßnahmen bestätigt werden, was hier nicht der Fall war. Das Urteil betonte dagegen, dass der Angeklagte kein Motiv zur Ablegung eines falschen Geständnisses gehabt habe. Damit wurde eine rationale Verhaltensweise unterstellt, die angesichts des Vernehmungsdrucks nicht vorgelegen haben musste, um falsche Angaben des Minderbegabten zu bewirken. Da divergierende Geständnisse abgelegt wurden, steht fest, dass mindestens eine Variante objektiv falsch war. Der Geständniswiderruf wurde dagegen nicht auf seine Motivlage überprüft. Daher stellt sich die Frage, ob er im Gegensatz zu einem Geständnis bedeutungslos ist. Wäre ein Geständnis eine Prozesshandlung, so würde sich die Frage stellen, ob es unwiderruflich ist. Da das Geständnis aber ebenso wie der Widerruf eine Realhandlung ist, müssen beide beweistechnisch auf dieselbe Weise überprüft werden. Unterschiede in den Einlassungen von Klaus B. kamen besonders darin zum Ausdruck, dass die Anklageschrift daraus herleitete, er habe zuerst die Tochter aus niedrigen Beweggründen und danach die Mutter in Verdeckungsabsicht getötet, während das Urteil einen Mord an der Mutter zur Ermöglichung eines Sexualdelikts an der Tochter sowie den anschließenden Mord an der Tochter feststellte. Das machte für den Schuld- und Strafausspruch im damaligen Erkenntnisverfahren, bei dem die besondere Schwere der Schuld noch keine Rolle spielte, keinen Unterschied. Es wäre heute aber für die Kriminalprognose nach §§ 57, 57a StGB von Bedeutung; denn ein Mord zur Ermöglichung einer anderen Tat verlangt mehr Zielstrebigkeit als die auch einem ängstlichen Täter eher zuzutrauende Tötung zur Verdeckung 11
LG Mainz, Urt. vom 19.7.1972 - 2 Ks 2/72; BGH, Beschl. vom 6.12.1973 - 2 StR 265/73 (§ 349 Abs. 2 StPO).
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einer Vortat. Die Geständnisdivergenzen und deren Auflösung durch das Schwurgericht wirken sich damit über Jahrzehnte hinweg aus. Seit der Hauptverhandlung ist Klaus B. Tatverleugner und auch deshalb weiter in Haft.12 Karl Peters hat nach Rechtskraft der Verurteilung von Klaus B. ein Gutachten angefertigt. Ein darauf gestützter Wiederaufnahmeantrag blieb ohne Erfolg.13 Peters war jedoch zeitlebens überzeugt, dass der Minderbegabte den perfekten Doppelmord nicht begangen haben konnte. Tatsächlich spricht manches dagegen; zumindest sind die Feststellungen zur Reihenfolge der Morde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsch, weil die vom Gericht bevorzugte Variante mit der Persönlichkeitsstruktur unvereinbar erscheint. Im Vollstreckungsverfahren entzündete sich ein „Gutachterstreit“ an der Frage, ob auch dann von Urteilsfeststellungen auszugehen ist, wenn sie Sachverständigen nachträglich unmöglich erscheinen. Die Frage der Bindungswirkung ist aber nicht abschließend beantwortet, nachdem das Bundesverfassungsgericht sie trotz entsprechender Rügen übergangen hat.14 Der Beispielsfall zeigt Einflüsse auf,15 die zu Fehlurteilen führen können: Alternativhypothesen werden im Ermittlungsverfahren nicht verfolgt, während eine Verdachtshypothese fast ausschließlich alleine nachexerziert wird. „Spurenakten“ werden der Überprüfung entzogen.16 Die Ermittler stehen in Fällen, die Öffentlichkeitsinteresse entfalten, unter erheblichem Erfolgs12 LG Koblenz, Beschl. vom 10.11.1997 - 7 StVK 715/95 nahm an, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht gebiete. LG Koblenz, Beschl. vom 29.1.2002 – 7 StVK 583/98 lehnte die Strafrestaussetzung ab: „Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass der Verurteilte die Tat selbst verneint und infolge dessen einer Bearbeitung des spezifischen Motivationsgefüges für die Tat in keiner Weise zugänglich ist.“ OLG Koblenz, Beschl. vom 22.4.2002 - 2 Ws 308/02 bestand darauf, dass bei der Prognosebeurteilung von einer Tatbegehung in der Weise auszugehen sei, wie sie vom Schwurgericht festgestellt worden war. 13 LG Bad Kreuznach, Beschl. vom 22.6.1982 - 1 AR 1/82; OLG Koblenz, Beschl. vom 3.1.1983 - 1 Ws 465/82. 14 BVerfGE 117, 71, 120 ff. 15 „Der Vorgang wirft die Frage auf, welche Bedeutung widerrufenen Geständnissen zukommt, wenn keinerlei objektive und subjektive Beweismittel vorhanden sind, wenn zu erwartende Spuren nicht vorhanden sind, wenn der Geständige über die Vorgänge selbst keine einwandfreien Angaben machen kann, wenn bei seinen geistigen Fähigkeiten nicht angenommen werden kann, dass er in vorbildlicher Weise Spuren vernichtet haben kann, wenn die Tatsache eines Sexualdelikts fragwürdig ist, wohl aber nach den Tatortvorstellungen ein Racheakt naheliegt, wenn die Reihenfolge der Ermordungen nicht festzustellen ist (Staatsanwalt und Gericht waren darüber verschiedener Meinung)?“ Karl Peters, Strafprozess, 5. Aufl., S. 3. 16 Im Fall des aufgrund seines Geständnisses wegen Kindermordes zu lebenslanger Haft verurteilten Gensmer verschwand ein einwandfreies Alibi in den Spurenakten. Gensmer wurde nach 16 Jahren Haft im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen; LG Hamburg, Urt. vom 15.12.1987 – (83) 74/86 Ks.
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druck, der sich bei der Intensität und Ausrichtung der Vernehmungen auswirkt. Ziel der Ermittlungen müsste die neutrale Erforschung der Wahrheit sein. Stattdessen wird nur nach Bestätigung der Verdachtshypothese durch ein Geständnis gesucht, dessen Herbeiführung als größter Erfolg gilt. Alle Aussagen von Auskunftspersonen werden an der Verdachtshypothese gemessen, nur unter diesem Blickwinkel wahrgenommen und mit den Worten der Verhörspersonen aufgezeichnet.17 Fragen und Vorhalte, auch Informationen aus Presseberichten, die dazu geführt haben können, dass scheinbares „Täterwissen“ in Wahrheit aus Fremdinformationen stammt, werden nicht festgehalten. Der verhaftete Beschuldigte steht, auch wenn die Schwelle des § 136a Abs. 1 StPO nicht überschritten wird, unter psychischem Druck, der von den Strafverfolgungsorganen taktisch ausgenutzt wird, dessen Wirkungen später aber unterschätzt werden. Die Suggestibilität, besonders bei Minderbegabten, wird nicht berücksichtigt. Das Geständnis des Beschuldigten ist die Kapitulation vor dem Vorwurf, seine Äußerung aber oft inhaltlich kein aussagekräftiger Beweis. Es wird durch die Hypothesen der Ermittler aufgrund von Fragen oder Vorhalten bei kargen Antworten angereichert, ohne dass dies den Vernehmungsprotokollen genau zu entnehmen ist. Die Glaubhaftigkeitsfrage müsste auch an der Widerstandskraft des Beschuldigten und dem konkreten Druck, unter dem sie zusammengebrochen ist, gemessen werden. Das geschieht aber kaum jemals, weil der Gedanke überbewertet wird, dass ein Beschuldigter sich nicht ohne zwingenden Grund selbst belasten werde. Genau das aber geschieht nicht selten. Das Geständnis nimmt in den Köpfen der Justizjuristen eine Sonderrolle ein, die ihm in der Wertung generell ein größeres Beweisgewicht als allen Gegenindizien zukommen lässt, namentlich größere Bedeutung als einem Geständniswiderruf. Von einem aussagepsychologischen oder kriminologischen Standpunkt aus ist das falsch. Genaue Maßstäbe dazu hat die Rechtsprechung aber noch nicht entwickelt. Jedenfalls zeigt der Beispielsfall des Klaus B. das eine Geständnisüberprüfung anhand des Akteninhalts trügerisch ist und den Kontrollzweck des Strengbeweisverfahrens verfehlt.
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Im Fall des Klaus B. sind Fragen und Vorhalte meist nicht protokolliert worden. Soweit das doch geschah, lässt sich erkennen, dass ausführliche Vorgaben in Frageform schlicht mit „ja“ beantwortet wurden, woraus an anderen Stellen unter Umformulierung in die Ich-Form scheinbar eine substantiierte Aussage des Beschuldigten wurde. Die Detailliertheit und Plausibilität einer Angabe ist aber kein relevantes Glaubhaftigkeitskriterium mehr, wenn der Aussageinhalt gar nicht vom Vernommenen stammt.
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II. Rechtliche, psychologische und kriminologische Bedeutung des Geständnisses Das Geständnis ist für die Praxis heute alles, sein Widerruf nichts. Das durch Folter herbeizuführende Geständnis war der Dreh- und Angelpunkt im gemeinen Recht. Entweder ein unterzeichnetes Geständnis oder zwei klassische Zeugen waren damals zur Verurteilung nötig. Heute reichen in der Praxis meist eine geständnisgleiche Handlung oder ein „Opferzeuge“. Das Geständnis steht vor allem bei Urteilsabsprachen im Brennpunkt.18 Es ist aber schon im Vorverfahren aus der Sicht der Ermittler das zentrale Ziel der Vernehmung.19 Warum das mit dem Gericht später „vereinbarte“ Geständnis eine andere Bedeutung haben soll als ein im Vorverfahren abgelegtes Geständnis, entzieht sich einer rationalen Erklärung. Wegen seiner die Arbeit erleichternden Wirkung und Erfolgsbedeutung ist das Geständnis für chronisch überlastete Justizjuristen von besonderem Reiz.20 Schließlich führt es zu einer Reduzierung der Verantwortung der Juristen für alle Urteilsfolgen, im Fall von Klaus B. für 40 Jahre Haft trotz immer noch zweifelhafter Beweislage. Angesichts der überragenden Bedeutung des Geständnisses wirkt es überraschend, dass schon der Begriff, aber auch die Beweisbedeutung und das Strafzumessungsgewicht des Geständnisses heute unklar wirken, nachdem früher Klarheit geherrscht hatte.21 Ob ein Geständnis schon beim Einräumen irgendwelcher Tatsachen zum inkriminierten Sachverhalt22 oder erst auch bei einem Schuldbekenntnis vorliegt, ob eine Äußerung außerhalb des Offizialverfahrens auch ein „Geständnis“ ist und welche inhaltliche Qualität ein Geständnis haben muss, um tragfähige Beweisgrundlage einer Verurteilung oder relevanter Strafzumessungspunkt zu sein, erscheint zum Beispiel angesichts der ausufernden Absprachenpraxis mit inflationären Strafrabatten für Geständnisse oder geständnisgleiche Leistungen in der Hauptverhandlung wieder ungewiss. Der Gesetzgeber hat sich bisher einer Äußerung enthalten, obwohl der Strafprozess gerade in malam partem revolutioniert wird. Das Geständnis ist kein Beweismittel im engeren Sinne, weil in der Hauptverhandlung nach der Vernehmung des Angeklagten (§ 243 Abs. 4 StPO) die Beweisaufnahme erst beginnen soll (§ 244 Abs. 1 StPO). Das tut sie nach einem in der Hauptverhandlung sogleich abgelegten Geständnis heute nicht mehr. Der Sache nach ist das Geständnis traditionell dennoch ein Beweismittel, das sogar die Beweisaufnahme entbehrlich machen 18
Stübinger JZ 2008, 798, 800. Geipel, (Fn. 1) S. 342; vgl. als Beispiel den Fall BGHSt 51, 367, 373. 20 Rieß, FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 436. 21 Wimmer ZStW 50 [1930], 538 f. 22 So die Rechtsprechung zu § 254 StPO seit RGSt 45, 196, 197. 19
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kann.23 Jedoch ist das Geständnis aus einer am Wahrheitserforschungsziel ausgerichteten Perspektive nur ein Indiz wie jeder andere auch. Es geht um sachbezogene Angaben einer Auskunftsperson. Geständnis, Geständniswiderruf, Unschuldsbeteuerungen und neutrale Tatsachenmitteilungen sind allesamt Sachaussagen des Beschuldigten. Der geständige Mitbeschuldigte, der drittbelastende Angaben macht,24 hat im deutschen Recht eine Zwitterstellung zwischen einem (Mit-) Beschuldigten und einem Zeugen der Anklage gegen den anderen Beschuldigten. Im Sinne des innerstaatlichen Rechts ist er bis zur (Teil-) Erledigung des gegen ihn gerichteten Verfahrens Beschuldigter, im konventionsrechtlichen Sinne des Art. 6 EMRK ist er Zeuge. Die Geständnisaussage des Beschuldigten oder eines Mitbeschuldigten ist deshalb beweismethodisch ebenso zu behandeln wie die Aussage eines Zeugen. Von einem aussagepsychologischen oder kriminologischen Standpunkt aus gesehen hat sie keine andere Beweisbedeutung. Das Geständnis kann ganz oder teilweise richtig oder falsch sein, es kann glaubhaft wirken oder auch nicht. Das bedarf genauer Prüfung im Einzelfall, namentlich bei wechselnden Einlassungen oder drittbelastenden Geständnissen.25 Das Geständnis und der Geständniswiderruf als sein actus contrarius sind beweistechnisch gleichwertig, da falsche Geständnisse ebenso vorkommen wie falsche Widerrufserklärungen. Die Glaubhaftigkeit des Einen wie des Anderen hängt von der Bewertung des Aussagemotivs, der Entstehungsgeschichte, der Plausibilität und der Vereinbarkeit der Angaben mit anderen Beweisen ab. Jedoch wird dies von Richtern, Staatsanwälten und auch von Nebenklagevertretern oft nicht so empfunden. Dem Geständnis wird besondere Beweisbedeutung zugemessen, welche diejenige von Zeugenaussagen und diejenige des Geständniswiderrufs im Allgemeinen weit übersteigen soll. Diese Vorstellung ist psychologisch und kriminologisch aber nicht begründbar. Sie resultiert aus der Fehlvorstellung, dass Menschen sich jedenfalls nicht ohne Zwang im Sinne von § 136a StPO26 oder ohne pathologische Ursachen zu Unrecht selbst bezichtigen. Unbewusst steht dahinter auch die Wunschvorstellung vom sicheren und von Eigenverantwortung entlastenden Schuldbeweis. Anders ist es kaum zu erklären, dass im Einzelfall einem „schlanken Geständnis“ der Vorzug vor einem substantiierten 23
KK/Fischer, StPO, 6. Aufl., § 244 Rn. 2. Zu extrem weit reichenden Zusagen an Mitbeschuldigte im Vorverfahren für drittbelastende Geständnisse Volk NJW 1996, 879 ff. 25 BGH NJW 1967, 2020, 2021 26 Ein Geständnis muss nicht deshalb falsch sein, weil es erzwungen wurde; RGSt 58, 298, 299. Das Verbot der Anwendung von Zwang nach § 136a Abs. 1 StPO ist deshalb nicht dadurch begründet, dass der Beweisinhalt unbrauchbar sei, vgl. BGH NJW 1953, 1114, 1115, sondern dadurch, dass ein Aussagezwang den Beschuldigten zum Objekt des Verfahrens degradieren und daher seine Menschenwürde verletzen würde. 24
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Geständniswiderruf gegeben wird oder das Auffinden von klaren Entlastungsindizien nicht einmal zur Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages führen soll, wenn dieser sich gegen ein auf Geständnissen beruhendes Urteil richtet.27 Derzeit ist die Praxis der Geständnisüberprüfung uneinheitlich. Tatgerichte, die eine Urteilsabsprache treffen, prüfen das daraufhin abgelegte Geständnis meist kaum noch nach,28 vor allem dann nicht, wenn es ihrer Verdachtshypothese aus dem Eröffnungsbeschluss exakt entspricht und diese Hypothese als Extrakt des Akteninhalts den Maßstab für die Glaubhaftigkeitskontrolle bildet.29 Durch diese Vorgehensweise gerät aber die nach Art. 97 Abs. 1, 101 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK geschuldete Neutralität der gerichtlichen Untersuchung in Gefahr; denn das Gefühl, mit seiner schon früher einer Entscheidung zu Grunde gelegten Vorstellung bestätigt zu werden, korrumpiert fast jeden Beurteiler.30 Wird die Sache danach rechtskräftig erledigt, dann interessiert sich zunächst niemand mehr dafür. In einem Vollstreckungs- oder Wiederaufnahmeverfahren oder auch in einem Haftpflichtprozess zum gleichen Vorfall können jedoch nachträglich Bedenken aufkommen. Die Revisionsgerichte, die keine umfassende inhaltliche Richtigkeitskontrolle der Verurteilung vornehmen können und dazu auch nicht berufen sind, greifen im Bereich der Beweiswürdigung im Ergebnis so selten zugunsten des Angeklagten ein,31 dass das rechtsstaatliche Prinzip der Kontrolle dadurch nicht erfüllt werden kann.32 Eine effektivere Kontrolle müsste geboten erscheinen, wenn die Folgen bekannt wären. Fehlurteile sind häufiger,33 als es gemeinhin angenommen wird, wobei
27 Im Fall des nach einem Gaststättenbesuch verschwundenen Landwirts Rudolf R. führten widerrufene Geständnisse zur Verurteilung von vier Angeklagten wegen Beteiligung an einem Totschlag, nach dem die Leiche zerstückelt und an Tiere verfüttert worden sein soll; LG Ingolstadt, Urt. vom 13.5.2004 – JKLs 11 Js 491/04. Jahre später fand sich das unversehrte Skelett des Toten in seinem Auto sitzend auf dem Grund der Donau. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens wurde dennoch wegen des angeblichen Beweiswerts der widerrufenen Geständnisse zunächst als unzulässig verworfen, was erst von der Beschwerdeinstanz korrigiert wurde; LG Landshut, Beschl. vom 17.11.2009 – JKLs 7 Js 14112/09 jug; OLG München, Beschl. vom 9.3.2010 – 3 Ws 109-112/10. 28 Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397. 29 Vgl. BGHSt 50, 40, 49. 30 „Wie es einer Zeugen- und Sachverständigenpsychologie bedarf, sollte auch eine Richterpsychologie entwickelt werden. Ihre Kenntnis ist für den Gesetzgeber notwendig, um geeignete gesetzliche Regelungen zu treffen, für den Richter um sich immer wieder der Selbstkritik zu stellen, und für den Verteidiger, um nicht ungünstige Reaktionen für den Beschuldigten hervorzurufen“; Karl Peters, in: Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 366. 31 Geipel, (Fn. 1) S. 23 ff. 32 Graf/Eschelbach, StPO, 2010, § 261 Rn. 66 f. 33 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl., Rn. 913.
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infolge von Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekten34 die fehlerhafte Verurteilung wiederum häufiger ist als der falsche Freispruch; denn ein objektiv fehlerhaftes Aussondern nur angeblich unrichtiger oder übersetzter Vorwürfe erfolgt meist schon im Vorverfahren nach §§ 170 Abs. 2, 153 ff. StPO. Die Existenz einer nicht unerheblichen Fehlurteilsquote wird auch durch die (zu) geringe Freispruchsquote von unter drei Prozent unterstrichen. Eine der Quellen für Fehlurteile ist das unkritische Hinnehmen falscher Geständnissen,35 die aus verschiedenen Gründen vorkommen36 und ihrerseits häufiger sind als es Juristen ahnen.37 Gründe für falsche Geständnisse sind vor allem: -
die Angst die Angst vor Straf- oder Untersuchungshaft,38 die zu einem Geständnis auch zur Erlangung nur kurzfristiger Vorteile führt, bisweilen sogar in der Erwartung, das Geständnis später erfolgreich widerrufen zu können,39
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über oder unterhalb der Schwelle des § 136a Abs. 1 StPO liegende Drohungen für den Fall der Tatverleugnung oder Versprechungen für den Fall des Geständnisses,40
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allgemeiner Vernehmungsdruck41 und die Anpassung des Beschuldigten an die Erwartungshaltung von Verhörspersonen, wie im Beispielsfall des Klaus B.,
34 Geipel, (Fn. 1) S. 345 ff.; Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 18; Schünemann StV 2000, 159 ff. 35 Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozess, 1960, S. 17 ff.; Karl Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, Bd. 2, 1972, S. 13; Stern StV 1990, 563; s. a. Gisela Friedrichsen, Im Zweifel gegen die Angeklagten, 2008, S. 42 ff. 36 Eisenberg, (Fn. 33) Rn. 730 ff.; Lawaczeck, Das Phänomen des falschen Geständnisses im Strafverfahren, 2010, S. 36 ff.; Volbert/Böhm, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 253 ff. 37 Beneke, Das falsche Geständnis als Fehlerquelle im Strafverfahren unter kriminologischen, speziell kriminalpsychologischen Aspekten, 1990, S. 26; Eisenberg, (Fn. 33) Rn. 729; Gudjonsson/Sigurdsson, in: Psychology, Crime and Law 1 (1994), S. 21 ff.; Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, S. 189 ff.; Köhnken, in: Gisela Friedrichsen, (Fn. 35) S. 222 ff.; Lawaczeck, (Fn. 36) S. 33 ff.; Volbert/Böhm, (Fn. 36), S. 253, 255. 38 Vgl. BGH NJW 1965, 2262; StV 2001, 440, 441. 39 Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. Rn. 1123. 40 Bedenklich ist es daher zwar nicht nach § 136a StPO, wohl aber nach §§ 244 Abs. 2, 261 StPO, wenn Richter und Verteidiger dem Angeklagten nachdrücklich „ins Gewissen reden“, damit er zur Erlangung einer Strafmilderung ein Geständnis ablege; vgl. den Fall BGH NJW 1960, 1212, 1213.
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suggestive Fragen und Vorhalte,42
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Resignation des Beschuldigten gegenüber einer vermeintlich erdrückenden Beweislage43 oder gegenüber der Präsentation objektiv falscher Belastungsbeweise,44 aber auch gegenüber dem bloßen Eindruck des Beschuldigten, der Vernehmende halte ihn für überführt,45
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Furcht vor Medienöffentlichkeit oder das umgekehrte Interesse daran, in den Brennpunkt der Öffentlichkeit zu gelangen,46
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die Absicht andere Taten oder weiter gehende negative Sachverhaltsteile zur „Schadensbegrenzung“47 zu verdecken,48
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der Wunsch, einem anderen zu schaden oder einen anderen zu begünstigen,49
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der objektiv falsche Rat des Verteidigers zur Geständnisablegung.50
Ob ein solcher Fall vorliegt, wäre nach dem überkommenen Strafprozessrecht abstrakt-generell mittels einer förmlichen Beweisaufnahme zu prüfen und vor einer Verurteilung sicher auszuschließen.51 Es ist aber schon daran zu zweifeln, dass alle Juristen die Notwendigkeit einer Geständniskontrolle erkennen. Intuitiv wird meist davon ausgegangen, dass ein Unschuldiger durch den natürlichen Selbsterhaltungstrieb52 daran gehindert werde, ein falsches Geständnis abzulegen, sofern nicht gerade ein pathologischer Fall erkennbar ist.53 Dies ist jedoch ein Irrglaube, weil die Motive für falsche 41 Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397; zweifelhaft ist daher die generalisierende Annahme, der Beschuldigte habe bei der Vernehmung nach seiner Verhaftung „frei von physischem oder psychischem Druck“ ein Geständnis abgelegt; vgl. den Fall BGH NJW 1951, 122. 42 Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 16 f. 43 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1105 f.; Hirschberg, (Fn. 35) S. 16 ff.; Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 19. 44 Volbert/Böhm, (Rn. 36), S. 253, 258 ff. 45 Volbert/Böhm, (Fn. 36) S. 253, 258 ff.; Wimmer ZStW 50 (1930), 537, 547. 46 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1102, 1107. 47 Rieß, in: FS für Richter II, 2006, S. 433, 437. 48 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1108 ff. 49 Bender/Nack/Treuer, (Fn. 39) Rn. 1113. 50 Zu einem Fall des Geständnisses nach Drittbelastung durch einen Kronzeugen Eschelbach, in: FS für Stöckel, 2010, S. 199 (215 ff.). 51 Zur Abweichung der Absprachenpraxis davon Fezer NStZ 2010, 177, 178 f. 52 Wimmer ZStW 50 (1930), 537, 547. 53 Stern StV 1990, 563.
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Geständnisse zahlreicher sind und die Hemmschwelle gegenüber einer falschen Selbstbezichtigung leichter überwunden wird, als es meist vermutet wird. Die Absprachenpraxis reduziert die gerichtliche Geständnisüberprüfung oft auf Null,54 obwohl der Geständniszweck hier gerade in besonders dubioser Weise darauf ausgerichtet ist, den favor iudicis55 zu erlangen und Nachteile durch eine „streitige“ Verhandlung zu vermeiden. Die Quote der falschen Geständnisse wird vor allem durch das Vorzeigen einer Sanktionsschere drastisch erhöht. Hatte sie vorher nach den Forschungen von Karl Peters schon mindestens 7 % betragen, so steigt sie zumindest im Experiment auf 43 %, wenn ein „Deal“ im Raum steht.56 Das müsste in einem Rechtsstaat genügen, um Urteilsabsprachen ohne empirische Untersuchung zu untersagen;57 der Gesetzgeber ist dem nicht gefolgt, er hat aber auch keine klare Aussage über die notwendigen Beweisgrundlagen einer Verurteilung gemacht. Vor allem muss von der Rechtsprechung eine wirkungsvolle Geständnisüberprüfung verlangt werden, weil bei einer derart hohen Fehlerquote eine sichere richterliche Überzeugung nicht alleine auf die Annahme der Glaubhaftigkeit von Geständnissen gestützt werden darf.58 Die Geständnisüberprüfung alleine anhand des Akteninhalts ist aber weder eine ausreichende Richtigkeitsgarantie, noch entspricht sie dem Zweck des Strengbeweisverfahrens, der in einer Gegenkontrolle des Aktenbefundes bestehen soll.
III. Begriff und Bedeutung des Geständnisses Es herrscht schon Unklarheit über den Begriff des Geständnisses.59 Das Geständnis soll Beweismittel, Prozesshandlung und Strafzumessungsgrund sein.60 Das kann aber auch alles anders gesehen werden. Ein Geständnis im Strafverfahren ist jedenfalls die Sachaussage eines Beschuldigten, die auf einen strafrechtlichen Vorwurf bezogen ist und dazu Tatsachenangaben macht.61 „Blankogeständnisse“ sind ohne jeden Wert.62 Bei einem beweisre54
Zu Recht kritisch Fezer NStZ 2010, 177 ff. Hammerstein StV 2007, 48, 51. 56 Volbert/Böhm, (Fn. 36), S. 253, 259. 57 S. a. Fischer NStZ 2007, 433, 436. 58 Zu dem Grad der notwendigen Wahrscheinlichkeit als objektiver Grundlage der richterlichen Überzeugung bietet „die Rechtsprechung selbst kein einheitliches oder systematisches Bild“; Geipel, (Fn. 1) S. 99. 59 Rieß, FS Christian Richter II, 2006, S. 433, 434. 60 Rode StraFo 2007, 98, 99. 61 Geständnis im Sinne von § 254 StPO ist nur das Eingestehen von Tatsachen zum Gegenstand des konkreten Verfahrens, RGSt 54, 126, 127 f.; auch sonst ist zumindest der Schwerpunkt in der Tatsachenäußerung zu sehen; Rieß, FS Christian Richter II, 2006, S. 433, 434. 55
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levanten Geständnis geht es auch nicht nur um eine Aussage allein mit Rechtsbegriffen.63 Begrifflich wird die Annahme des Vorliegens eines „Geständnisses“ zumindest erschwert, wenn der Angeklagte zwar die Tatsachengrundlage des Vorwurfes einräumt, aber davon ausgeht, dass er kein Unrecht begangen habe. Die Prozesspraxis nimmt dann das Tatsachenzugeständnis hin und wertet die Fakten selbst. An der Qualität der Sachaussage als Geständnis soll das auf eigenen Wertungen beruhende Schulddementi nichts ändern und das angebliche Teilgeständnis wird dem Angeklagten in einem gegenüber dem Vollgeständnis reduzierten Umfang, dem Grunde nach aber dennoch zu Gute gehalten. Beides ist zweifelhaft; denn ersteres beruht auf einer Fehldeutung von § 254 StPO, letzteres auf dem heute nahezu übiquitären Fehlen einer Reflexion darüber, worin der Grund für die Strafmilderung des (Teil-) Geständnisses liegen soll.
1. Beweismittel Legt der Angeklagte in der Hauptverhandlung ein Geständnis ab, dann ist dies beweisrelevant. Eine Äußerung des Angeklagten zur Sache im Rahmen seiner Vernehmung nach § 243 Abs. 4 StPO, bei Anmerkungen zu Beweiserhebungen nach § 257 StPO oder im „letzten Wort“ nach § 258 StPO64 sind Gegenstand der richterlichen Beweiswürdigung. Deswegen ist es anerkannt, dass ein in der Hauptverhandlung abgelegtes Geständnis die Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 1 StPO) entbehrlich machen kann, wenn es genügend Aussagekraft besitzt, um alle entscheidungserheblichen Tatsachen glaubhaft zu belegen. Der Schluss von der Ablegung eines Geständnisses auf die Glaubwürdigkeit des Angeklagten ist freilich ein Trugschluss,65 weil das Geständnis ganz oder teilweise falsch sein kann. Die geständige Einlassung in der Hauptverhandlung kann von Rechts wegen jedenfalls ein alleine entscheidendes Beweismittel sein.66 Das früher im Vor- oder Zwischenverfahren oder ganz außerhalb des Verfahrens abgelegte Geständnis ist dagegen kein Beweismittel, sondern auch und gerade im Fall einer späteren Aussageänderung Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.67 Es muss nach §§ 244 Abs. 2, 261 StPO dort eingeführt,68 überprüft
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BGH NJW 1957, 719, 720. Vgl. schon RGSt 1, 415, 416. 64 OLG Köln NJW 1961, 1224; Eisenberg, (Rn. 36) Rn. 887. 65 Wimmer ZStW 50 (1930), 538, 543. 66 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 55; Jerouschek ZStW 102 (1990), 793, 805. 67 BGH NJW 1966, 1524. 68 Soweit angenommen wird, das Geständnis eines früheren Mitangeklagten könne durch Erläuterung des gegen diesen ergangenen Urteils durch den Vorsitzenden eingeführt werden 63
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und gewürdigt werden.69 Freilich fehlt in der Praxis wiederum bisher meist eine zuverlässige Dokumentation als Mittel zur Rekonstruktion der früheren Aussage. Um die Aussage eines Geständigen korrekt beurteilen zu könnten, müsste am besten auf eine Videoaufnahme zurückgegriffen werden können,70 die aber technischer Möglichkeiten im Regelfall nicht existiert. Die deutsche Prozesspraxis begnügt sich immer noch mit der Technik des 19. Jahrhunderts, aus dem die Strafprozessordnung stammt. § 254 StPO regelt eine erleichterte Form der Beweiserhebung über „ein“ Geständnis, also gegebenenfalls auch dasjenige eines Mitangeklagten,71 gegenüber einem Richter72 durch Urkundenverlesung anstelle einer Zeugenvernehmung. Wo diese Durchbrechung des Prinzips der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nicht eingreift, muss mit personellen Beweismitteln über die frühere Äußerung des Beschuldigten Beweis über das Geständnis erhoben werden. Jedenfalls ist die Ablegung eines Geständnisses dann selbst ein Beweisthema, aber kein Beweismittel. Es bedarf auch sonst beweisrechtlich der gleichen Überprüfung wie eine Zeugenaussage.73 Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht ist das Geständnis ein Indiz dafür, dass sich die mitgeteilten Tatsachen so zugetragen haben können.
2. Prozesshandlung Die Praxis versteht das Geständnis auch als Prozesshandlung. Das ist führt jedoch auf Irrwege, zumal dann der Geständniswiderruf eine prozessuale Bedeutung haben könnte, die noch unerforscht ist. Die Gerichte lassen den Verteidiger im konsensualen Verfahren wie einen Vertreter des Angeklagten auftreten und eine vorformulierte Geständniserklärung übermitteln, die der Angeklagte dann allenfalls noch durch bejahende Erklärung auf die richterliche Frage, ob dies zutreffe, „autorisiert“.74 (BGH NStZ-RR 2007, 20 f.) beruht dies auf einer Umgehung des Strengbeweises. Wie darauf eine genaue Beweiswürdigung aufbauen soll, bleibt unklar. 69 BGH NStZ 2007, 538. 70 Kassin/Gudjonsson Gehirn & Geist 1-2 (2007), 15, 19. 71 BGHSt 22, 372, 374. 72 Zur frühzeitigen Ausdehnung der Beweiserleichterung auf nichtrichterliche Vernehmungen, die im richterlichen Vernehmungsprotokoll (etwa mit der Bemerkung: „meine polizeiliche Aussage ist richtig“) in Bezug genommen wurden, RGSt 40, 425, 426. Der Vorhalt eines richterlichen Geständnisprotokolls gegenüber dem bestreitenden Angeklagten ist aber kein förmlicher Geständnisbeweis, RGSt 52, 243, 244. 73 Rieß, in: FS für Christian Richter II, S. 433, 437. 74 BGH JZ 2008, 796 f. mit Anm. Stübinger; unkritisch auch BVerfG Beschl. vom 7.10.2008 – 2 BvR 1494/08 aufgrund einer Verfassungsbeschwerde, die mit Beulke, in: FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der BRAK, 2007, S. 87, 96 f. eine qualifizierte Belehrung des Angeklagten über die Bedeutung der offenbar auf eine Reduzierung des Tatbeitrags von Mittä-
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Eine Prozesshandlung, bei der sich der Angeklagte vertreten lassen könnte, ist das Geständnis jedoch schon deshalb nicht, weil es schließlich auch außerhalb des Verfahrens abgelegt werden kann und eine Wissenserklärung darstellt. § 362 Nr. 4 StPO verdeutlicht dies.75 Damit wird im Übrigen auch die Möglichkeit eröffnet, dass ein Geständnis in einer Urkunde mit strafrechtlichen Folgen u.a. aus §§ 164, 267 StGB gefälscht werden kann.76 Das Geständnis ist vom Prozessgeschehen unabhängig und stellt eine Realhandlung dar. Daher bestimmt etwa auch § 254 StPO nicht, dass „Geständnisse“, welche in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, verlesen werden können, sondern dass „Erklärungen“ des Angeklagten, welche in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis verlesen werden können.77 Das Geständnis ist dort also das Beweisthema, aber kein Beweismittel. Diese Erkenntnis ist auch wichtig für die Bewertung der in der Praxis als geständnisgleiche Handlung bewerteten anwaltlichen Erklärungen zur Sache. Der Strafverteidiger ist, solange er nicht förmlich als Zeuge vernommen wird, keine Auskunftsperson im Strengbeweisverfahren. Der Verteidiger ist auch im Allgemeinen kein Stellvertreter des Angeklagten.78 § 234 StPO bestätigt als Ausnahme nur diese Regel. Die anwaltliche Erklärung selbst ist demnach für sich genommen beweisrechtlich irrelevant.79 Ihr kommt auch nicht deshalb erhöhte Glaubhaftigkeit zu, weil der Verteidiger in besonderer Weise der Unschuldsvermutung verpflichtet ist.80 Nur das Verhalten des Angeklagten kann Gegenstand der Beweiswürdigung sein.81 Es hat aber für sich genommen keinen Aussagegehalt. Die anwaltliche Erklärung wird praktisch wie ein Vorhalt gebraucht, dessen Bestätigung durch den Angeklagten zum angeblich aussagekräftigen Beweis mutiert. Damit ist zwar verfahrensrechtlich irgendetwas vorhanden, aber es bleibt die Frage zu beantworten, welchen Beweiswert die Bestätigung der anwaltlichen Erklärung besitzen kann. Genau genommen muss man annehmen, dass jeder Beweiswert fehlt, solange jedenfalls unklar bliebt, aus welchen Informationsquellen und aufgrund welcher Motivlage der anwaltlich vorformulierte Geständnistext entstanden terschaft auf Beihilfe ausgerichteten Verteidigungserklärung und ihrer „Bestätigung“ als ernsthafter Schuldbeweis vermisst hatte. 75 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 63. 76 Vgl. den Fall eines - gefälschten - drittbelastenden Geständnisses RGSt 7, 47 ff. 77 RGSt 45, 196, 197. 78 Beulke, in: FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, S. 87 ff.; Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397, 402 f. 79 BGH NStZ 2005, 703; OLG Düsseldorf NJW 2002, 2728; OLG Hamm StV 2000, 187 f.; OLG Saarbrücken NStZ 2006, 182, 183; großzügiger zugunsten der Genehmigungslösung Beulke, in: FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der BRAK, S. 87, 93 ff. 80 Salditt, in: FS für Widmaier, 2008, S. 545. 81 BGH JZ 2006, 204 mit Anm. Olk.
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ist. Schon die Tatsache, dass der Verteidiger die Erklärung vorformuliert hat und anstelle des Angeklagten äußert, zeigt, dass nicht alleine das Wissen des Angeklagten aus seiner Erinnerung an das Tatgeschehen zum Gegenstand der Äußerung gemacht wurde. Die Verteidigererklärung wird typischerweise einerseits anhand des Akteninhalts auf den Erwartungshorizont des Gerichts ausgerichtet, dem sich die Verteidigung im konsensualen Verfahren gefügig zeigt; andererseits wird innerhalb dieses Rahmens zur „Schadensbegrenzung“ nur das unbedingt zur Erlangung der gerichtlichen Zusagen Erforderliche eingeräumt.82 Demnach ist die anwaltliche Geständniserklärung als Sachaussage zum historischen Geschehen generell mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zumindest zum Teil falsch. Dies als Beweisgrundlage in einem auf Wahrheitserforschung ausgerichteten Strafverfahren zu machen, ist paradox. Die anwaltliche Erklärung ist eher eine Prozesserklärung als eine Wissensmitteilung (vom Hörensagen). Die Zustimmung des Angeklagten hierzu ist der Sache nach keine Bestätigung der Übereinstimmung des Erklärungsinhalts mit dem wahren historischen Geschehen, sondern wiederum eine prozessuale Äußerung des Akzeptierens. Die „Aussageentstehung“ und das „Aussagemotiv“ bleiben so dubios, dass eine Beweiswürdigung nach herkömmlichen Maßstäben zu § 261 StPO unmöglich wird; eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§§ 257c Abs. 1 Satz 2, 244 Abs. 2 StPO) durch Hinnahme solcher Erklärungen ist evident. Ist das substantiierte mündliche Geständnis des Angeklagten eine Aussageleistung, so ist der fixierte Text, dessen Motivation, Urheberschaft und Quellen unklar bleiben, beweisrechtlich nichts wert. Er lässt sich als solcher nicht hinterfragen und sein Zweck der „Schadensbegrenzung“ besteht gerade darin, dass er nicht überprüft wird. Wäre das Geständnis eine Prozesshandlung, so könnte eine geständnisähnliche Äußerung auch konkludent in anderen Prozesserklärungen, insbesondere in einem Verzicht auf Beweisanträge oder Rechtsmittel, in einer Rechtsmittelzurücknahme oder -beschränkung, gesehen werden. Tatsächlich versuchen Gerichte etwa, einem Wiederaufnahmeantrag entgegenzuhalten, dass im Erstverfahren eine Rechtsmittelbeschränkung,83 ein Rechtsmittelverzicht oder eine Zurücknahme84 erklärt wurde und dies wie ein Geständnis zu bewerten sei. Indes hat eine solche Prozesserklärung keinen Erklärungsgehalt zur Sache selbst. Abweichende Deutungsversuche sind Fiktionen. Dagegen müssen Bedenken angemeldet werden.85 82
Noll StRR 2008, 444 ff. So hat LG Passau, Beschl. vom 15.10.2003 - 1 Qs 133/03 - eine absprachenbedingte Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch als geständnisgleiche Handlung gewertet, die einem Wiederaufnahmeantrag entgegen stehen soll. 84 LG Karlsruhe NStZ 2003, 108 f. 85 Eschelbach HRRS 2008, 190, 202 ff. 83
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3. Strafmilderungsgrund Bis zur Ablegung des Geständnisses steht die Strafjustiz dem Angeklagten „in Kampfstellung“ hinsichtlich der Schuldfrage gegenüber; erst danach wendet sich ihre Aufmerksamkeit der Frage des Strafmaßes zu. Wird die Tat aufgrund des Geständnisses erst verständlich, dann bricht sich eine erhebliche Strafmilderung Bahn86 nach dem Motto: „Alles verstehen heißt alles verzeihen“.87 Das Tatschuldprinzip geht dabei über Bord. Das Geständnis soll in jedem Fall, auch bei einer taktisch motivierten Vorgehensweise, ein bestimmender Strafmilderungsgrund sein,88 wobei aber nicht mehr nachzuvollziehen ist, warum in dieser Honorierung des Geständnisses nicht zugleich eine härtere Bestrafung des schweigenden oder leugnenden89 Angeklagten liegen soll.90 Die Absprachenpraxis honoriert letztlich die Arbeitsersparnis mittels eines Geständnisses.91 Eine Selbststeuerung der Arbeitslast durch die Gerichte in der Weise, dass ein Geständnis honoriert wird, weil es der Justiz Aufklärungsarbeit erspart, verletzt Art. 3 Abs. 1 GG.92 Wo genau die Sanktionenschere93 beginnt, die zulässige von nicht mehr zulässigen Sanktionsalternativen für ein Urteil mit und ohne Geständnis unterscheiden soll, ist zudem noch nicht definiert worden. Ein Begrenzungsmittel dieser Fehlentwicklung wäre es zumindest, wenn im Urteil der Strafrabatt wegen des Geständnisses konkret ausgewiesen werden müsste. Selbst das „taktische Geständnis“ wird als allgemeiner Strafmilderungsgrund anerkannt,94 obwohl früher klar war, dass der Angeklagte nicht alleine wegen seines Geständnisses milder bestraft werden kann.95 Die ohnehin schon zweifelhaften Kriterien der Schuldeinsicht und Reue als mittelbarer Grund für eine Strafmilderung in Form eines Indizes für mindere Tatschuld werden nun nicht einmal mehr zwingend vorausgesetzt, weil die rasche Wiederherstellung des Rechtsfriedens und die Genugtuung für das Opfer durch die Verurteilung aufgrund des Geständnisses als genügender Grund für eine Strafmilderung gilt.96 Mit dem Tatschuldprinzip im engeren Sinne 86 Zum traditionell stärkeren Bedürfnis nach Geständnis und Entschuldigung in Japan Shitara, in: Kunig/Nagata (Hrsg.), Persönlichkeitsschutz und Eigentumsfreiheit in Japan und Deutschland, 2009, S. 189, 193 ff.; Yoshida, in: FS für Müller-Dietz, 2001, S. 995, 1002 ff. 87 Wimmer ZStW 50 (1930), 537, 541. 88 Rode StraFo 2007, 98, 101 ff. 89 Zum „hartnäckigen Leugnen“ BGH NJW 1961, 85; HansOLG Bremen NJW 1951, 286. 90 Wimmer ZStW 50 (1930), 538, 539. 91 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 52. 92 Vgl. in anderem Zusammenhang BVerfGE 54, 277, 293. 93 BGH NStZ 2008, 170 f. 94 BGHSt 43, 195, 209. 95 BGHSt 1, 105, 106. 96 BGH NStZ 2000, 366.
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ist die Strafmilderung wegen eines Geständnisses aber schon im Allgemeinen unvereinbar.97 Die dogmatische Rechtfertigung der Strafmilderung wegen eines taktischen Geständnisses ist danach ungeklärt.98 Wenn das Prozessrecht die Wahrnehmung bestimmter Rechte vorsieht, wie das Schweigen zur Sache oder das Insistieren auf Beweiserhebungen durch Beweisantrag, dann kann aus ihrer Nichtwahrnehmung kein ernst zu nehmender Grund für eine Strafmilderung hergeleitet werden.99 Die derzeitige Praxis ist mit Art. 3 Abs. 1 GG, § 46 Abs. 1 StGB unvereinbar. Das Geständnis nach der Tat verändert nämlich nicht nachträglich den Umfang der Tatschuld, die den zentralen Maßstab für die Strafbemessung liefert (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Es kann allenfalls durch eine doppelte Indizkonstruktion100 dahin gewertet werden, dass der später in reumütiger Weise geständige Täter schon bei der Tatbegehung nicht mit besonders hoher krimineller Energie vorgegangen war. Außerdem wird die Indizwirkung des späteren Geständnisses auf die Tatzeitpersönlichkeit des Täters hinsichtlich spezialpräventiver Strafzwecke, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), erstreckt. Ein singuläres Indiz für mindere Schuld und geringeres spezialpräventives Strafbedürfnis ist aber kein zwingender Beweis. Es dürfte auch nicht abstrakt-generell als Strafmilderungsgrund herangezogen werden, was aber in der Praxis geschieht. Das beruht auf Fiktionen. Das wirklich reumütige Geständnis wird dadurch entwertet; auch darin zeigt sich eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG.
4. Indiztatsache Im Ganzen gesehen ist das Geständnis eine Indiztatsache, die Beweisbedeutung für das Ob und Wie der Tatbegehung einerseits sowie das Schuldgewicht bei der Begehung der Tat andererseits haben kann. Es bedarf daher der Überprüfung wie andere Beweise auch.101 Das Geständnis ist für die Beweiswürdigung und die Strafzumessung weder erforderlich noch ausreichend. Es kann allenfalls dann als alleinige Beweisgrundlage eines Urteils genügen, wenn es aussagekräftig und hinsichtlich seiner Entstehungsgeschichte, seines Motivs und Inhalts glaubhaft ist. Andernfalls bedarf es im prozessordnungsgemäß geführten Verfahren der Ergänzung und Überprüfung durch weitere Beweise. Die Möglichkeit der Verständigung hat daran nichts geändert (§ 257c Abs. 1 Satz 2 StPO). Es besteht im Übrigen kein 97
Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, S. 108 ff., 164 ff. Rieß, in: FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 442 f. 99 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 59. 100 Hammerstein StV 2007, 48, 49; krit. Dencker ZStW 102 (1990), 51, 56 f. 101 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 52; Jerouschek ZStW 102 (1990), 793, 799. 98
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Grund, das umfassende Geständnis technisch anders zu bewerten, als eine bestreitende Einlassung oder ein Teilgeständnis mit Teilbestreiten oder aber eine Äußerung, der man für sich genommen zunächst nicht glauben möchte.102
IV. Geständnisinhalt Unklarheit herrscht über den notwendigen Inhalt des Geständnisses und die Möglichkeiten sowie die Notwendigkeit seiner Auffüllung mit weiteren entscheidungserheblichen Tatsachen, die im Geständnistext nicht auftauchen oder als Normalfall103 vorausgesetzt werden. In den Anfangstagen der Strafprozessordnung hatte sich die Rechtsprechung noch dazu veranlasst gesehen zu betonen, dass der Tatrichter seine Überzeugung nicht schon anhand des Akteninhalts auf weitere Umstände, die nicht Gegenstand des Geständnisses waren oder durch andere Beweismittel im Strengbeweisverfahren belegt wurden, erstrecken dürfe.104 Ein Geständnis das keine Tatsachenmitteilung enthält, sondern sich zum Beispiel auf die Wiedergabe der gesetzlichen Merkmale des Straftatbestands beschränkt, ermöglichte nach dieser heute noch dem Gesetz entsprechenden Rechtsprechung105 keine tragfähigen Urteilsfeststellungen; eine gerichtliche Geständnisüberprüfung wird dadurch nicht ermöglicht. Obwohl dies nach § 261 StPO selbstverständlich sein sollte, muss heute daran erinnert werden. Zweck des Strengbeweisverfahrens ist die Kontrolle der Ergebnisse des Vor- und Zwischenverfahrens, nicht nur deren Rekapitulation. Das wird von der Urteilsabsprachenpraxis ignoriert. Eine geständige Aussage des Beschuldigten kann nach einer in der Literatur vertretenen Meinung sogar dann, wenn sie umfassend ist, nicht den vollen Schuldbeweis ersetzen.106 Die Rechtsprechung folgt dem nicht und lässt es im Fall eines substantiierten Geständnisses bisweilen dabei bewenden. Wann das ausreichend ist, bleibt unklar. Die erste Entscheidung zum Thema verdeutlicht das Problem. Dort hatte der Angeklagte zwei Schuldscheinurkunden im Zwangsvollstreckungsverfahren gefälscht und verwendet, was er einräumte; er bestritt aber die Absicht, sich durch Gebrauchma102
Rieß, in: FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 437. Ist etwa ein Messergebnis einer Blutalkoholuntersuchung vorhanden, so wird vorausgesetzt, dass auch die richtige Probe untersucht wurde. Ohne konkreten Prüfanlass wird diese Frage nicht vertieft. Solche Normalfallannahmen aufgrund der Lebenserfahrung scheinen unverzichtbar; Dencker ZStW 102 (1990), 51, 71 f. 104 RGSt 1, 81, 82. 105 RGSt 1, 415, 416. 106 Eisenberg, (Fn. 36) Rn. 727. 103
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chen von den falschen Urkunden einen Vermögensvorteil zu verschaffen. Für das Reichsgericht war es selbstverständlich, dass dies eine ergänzende Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nicht entbehrlich machte, weil damit kein vollumfängliches Geständnis vorlag.107 Ob das heute noch überall so gesehen würde, muss bezweifelt werden. Die meisten Gerichte dürften in einem solchen Fall aus den zugestandenen äußeren Umständen auf den inneren Willen schließen und es bei dem Geständnis als Beweisgrundlage des Urteils belassen. Die genaueste Geständnisüberprüfung findet in Schwurgerichtssachen statt, insbesondere wenn es um innere Tatsachen, wie Tatmotive, den Zeitpunkt und die Zielrichtung des Tatentschlusses, einen Vorsatzwechsel, verschiedene Grade der Steuerungsfähigkeit und um den Rücktrittshorizont geht. Weil auch der Angeklagte selbst die Nuancen der inneren Vorgänge mit einigem zeitlichem Abstand zum Tatgeschehen kaum noch sicher rekonstruieren kann, müssen alle seine Äußerungen dazu in die Hauptverhandlung eingeführt, mit anderen Beweisergebnissen abgeglichen und in einer Gesamtwürdigung beurteilt werden. Deshalb wird in Schwurgerichtssachen oft trotz Geständnisses umfangreich Beweis erhoben. Das erscheint mit Blick auf die Folgen unverzichtbar. Auch die Überprüfbarkeit eines Geständnisses, namentlich für eine Inhaltsanalyse108 und Plausibilitätskontrolle, ist nur möglich, wenn das Geständnis substantiiert vorgetragen wird und zumindest der Angeklagte selbst auf Fragen und Vorhalte Rede und Antwort steht. Je weniger Aussagegehalt das Geständnis hat, desto weniger ist es geeignet, alle entscheidungserheblichen Tatsachen zu belegen und auch einer Glaubhaftigkeitsprüfung zugänglich zu sein. Indes ist die Überprüfung des Geständnisses alleine anhand seines Inhalts und im Abgleich nur mit dem Akteninhalt109 oder anhand der dort zugrunde liegenden Verdachtshypothese ungeeignet, um Fehlvorstellungen des Vorverfahrens zu korrigieren. Das sollte oben mit dem Beispielsfall des Klaus B. aufgezeigt werden. Die Absprachenpraxis der Tatgerichte begnügt sich aber auch heute noch oft mit „schlanken Geständnissen“,110 die nichts anderes als eine pauschale Bestätigung der Richtigkeit des Vorwurfes enthalten. Das keinen besonderen Zweifeln unterliegende Geständnis muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber wenigstens so konkret sein, dass geprüft werden kann, ob es derart im Einklang mit der Aktenlage
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RGSt 1, 81, 82. Zu dieser Methode in der Soziologie Wasserburg, Rechtstheorie 1981, 491 ff., in der Aussagepsychologie Volbert/Böhm, (Fn. 36) S. 253, 261. 109 Zur Unsinnigkeit des Aktenabfragens Prüfer, StV 1993, 602, 605; zustimmend Deckers, in: Deckers/Köhnken (Hrsg.), Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2007, S. 89, 94. 110 KK/Fischer, StPO, § 244 Rn. 30. 108
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steht,111 dass sich hiernach keine weitergehende Sachaufklärung aufdrängt. Das ist oftmals mehr als die Praxis der Tatgerichte leistet, aber weniger als der Zweck des Strengbeweisverfahrens es eigentlich erfordert. Bei der Absprachenjudikatur wird der eigentlich zu kontrollierende Befund nach Aktenlage zum Maßstab für die Geständniskontrolle. Diese Perspektive ist falsch und begünstigt Fehlurteile, die nicht selten aufgrund von falschen Geständnissen entstehen. Ein inhaltsleeres Formalgeständnis reicht jetzt von Rechts wegen nicht mehr aus.112 Mit einem solchen Geständnis, das die Mindestvoraussetzungen der Zuverlässigkeit und Überprüfbarkeit verfehlt, darf sich das Tatgericht nicht begnügen.113 Erst recht ist es ungenügend, wenn der Angeklagte114 oder sogar nur sein Verteidiger115 zur Sache lediglich erklärt, dass er den Vorwürfen der Anklage nicht entgegentrete und das in Aussicht gestellte Strafmaß akzeptiere. An einem Geständnis fehlt es überhaupt, wenn der Angeklagte erklärt, er werde sich „nur aus prozessökonomischen Gründen“ gegen die näher bezeichneten Vorwürfe „nicht weiter verteidigen“.116 Damit wird konkludent die Richtigkeit der Vorwürfe bestritten. Indes zeigt die Erörterung solcher und ähnlicher117 Fälle in der Rechtsprechung, dass die Tatgerichte sich oft nicht an die minimalistischen Vorgaben der höchstrichterlichen Erwartungen halten. Auch der Bundesgerichtshof ließ zeitweise „schlanke Geständnisse“ als alleinige Urteilsgrundlage genügen.118 Begründet wurde dies damit, dass für eine Verurteilung nur die subjektive richterliche Überzeugung von der Schuld119 erforderlich und ausreichend sei. Das Gesetz schreibe nicht vor, wie und auf welcher Grundlage der Richter seine Überzeugung zu gewinnen habe und das Revisionsrecht gestatte dem Revisionsgericht keine Inhaltskontrolle der Beweiswürdigung. Damit wurde freilich der konkrete Anklagesatz zum Beweisinhalt, der gleichsam auf Vorhalt an den Angeklagten inhaltlich einem personalen Beweismittel zugeordnet wurde. Damit fehlt jede Möglichkeit der Beweisprüfung im Sinne einer Inhaltsanalyse oder Plausibilitätskontrolle. Zudem ist die Aussage, dass alleine die subjektive 111
Vgl. Schmitt GA 2001, 411, 420; krit. Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof?, 2004, S. 146. 112 BGHSt 50, 40, 49; BGH NStZ-RR 2007, 20, 21. 113 BGH NJW 2004, 1335, 1336. 114 BGH NJW 2004, 1885, 1886. 115 BGH NStZ 2006, 408 f. 116 BGH NStZ 2006, 634, 635. 117 Zur bloß moralischen Verantwortungsübernahme BGH StraFo 2003, 381 f. 118 BGHSt 48, 161, 167; BGH NJW 1999, 370, 371 f. mit Anm. Weigend NStZ 1999, 57, 61 ff. 119 So allgemein noch der frühere Maßstab für die Beweiswürdigung in BGHSt 10, 208, 209.
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richterliche Überzeugung eine ausreichende Urteilsgrundlage ergebe, mit den jüngeren Überlegungen in der Rechtsprechung dazu unvereinbar, dass neben der Überzeugung des Richters auch eine objektive Beweisgrundlage vorhanden sein muss, welche zumindest die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Verdachtshypothese begründet.120 Die Billigung einer Verurteilung nur aufgrund eines „schlanken Geständnisses“ ist daher unhaltbar geworden. Das „schlanke Geständnis“ kann andererseits im Zusammenwirken mit weiteren Beweisen eines tragfähige Urteilsgrundlage liefern; dann fehlt freilich ein Grund dafür, dass sich die Richter und Verfahrensbeteiligten in einer Weise „verständigen“, dass hierdurch eine besondere Strafmilderung zu rechtfertigen wäre. Auf Probleme stößt die Praxis, wenn sie sich alleine auf ein mehr oder weniger substantiiertes Geständnis stützen und weitere Beweiserhebungen, bisweilen auch zum Opferschutz,121 vermeiden will, soweit es darum geht, Tatsachen festzustellen, zu denen der Angeklagte keine Angaben aufgrund eigenen Wissens machen kann.122 Das gilt etwa beim Betrug für den Irrtum des Getäuschten. Der Angeklagte kann aus eigenem Erleben gegebenenfalls nur über seine Täuschungshandlung berichten, aber nicht darüber, ob sich der Erklärungsadressat deswegen tatsächlich geirrt hat. Wird der Geschädigte nicht vernommen, weil diese Beweisaufnahme eingespart werden soll, wird ferner auch nicht im Einvernehmen mit den Parteien gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 4 oder Abs. 2 StPO zum Urkundenbeweis übergegangen, etwa weil die Geschädigten auch im Vorverfahren nicht oder jedenfalls nicht sämtlich befragt worden waren, dann fehlt ein aussagekräftiger Beweis der Tatvollendung. Der Angeklagte könnte eigentlich nur wegen einer versuchten Tat verurteilt werden. Sich darauf ohne Not zurückzuziehen, ist der Absprachenpraxis nach §§ 257c Abs. 1 Satz 2, 244 Abs. 2 StPO aber verboten, weil der Schuldspruch als nicht verhandelbar gilt.123 Soweit sich die Praxis daran nicht hält, nimmt sie Interpolationen vor. Das ist jedoch generell rechtsfehlerhaft.
120 BGH NJW 1999, 1562, 1564 m.w.N.; gegen eine Gleichsetzung von (intuitiv bestimmter) Wahrscheinlichkeit und Sicherheit auf der subjektiven Ebene Karl Peters, in: Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 374. 121 BGHSt 49, 84, 88; 50, 40, 55. 122 Dencker StV 1994, 503, 505; Hauer, Geständnis und Absprache, S. 178 f.; Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof? S. 149 f.; Schünemann NJW 1989, 1895, 1898 und ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005, S. 16 f. Fn. 40. 123 BGHSt 43, 195, 204; 50, 40, 47.
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V. Prüfungsgebote und Prüfungsmittel Als Grund für die ausufernde Akzeptanz des Geständnisses werden neben dem Entlastungseffekt das Beschleunigungsgebot und der Opferschutz vor sekundärer Viktimisierung genannt.124 Auch deshalb wird danach getrachtet, dass das Urteil praktisch schon vor der Hauptverhandlung feststeht, damit diese möglichst schlank gestaltet werden kann. Damit wird aber das einzige kontradiktorisch ausgestaltete Verfahrensstück annulliert, in dem eine Fehlvorstellung aus dem Vor- und Zwischenverfahren innerhalb der Verdachtshypothese korrigiert werden könnte. Das durch Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte faktisch bewirkte Vorurteil aufgrund der Verdachtshypothese wird demnach im Absprachenverfahren auch für das Urteil zum alleinigen Maßstab. Die Gewährleistung der mündlichen und öffentlichen Verhandlung der Sache durch ein neutrales Gericht wird aufgehoben. Die Neutralitätsgarantie als notwendige Ergänzung zum strikten Richtervorbehalt für einen Schuldspruch und Straf- oder Maßregelausspruch aus Art. 97 Abs. 1, 101 Abs. 1 Satz 2, 104 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK wird annulliert, wenn der Richter zur eigenen Arbeitsentlastung handelt und dann parteiisch ist. Alle Versuche, das Urteilsabsprachenverfahren in die überkommene Prozessordnung einzubauen, sind gescheitert. Denn es passt nicht zu dem Gebot, eine kontradiktorische Hauptverhandlung ergebnisoffen zu gestalten, wenn das Ergebnis vor der Verhandlung feststehen muss, um eine Verständigung zu ermöglichen. Das Geständnis muss nach der Rechtsprechung aber auch im konsensualen Verfahren auf seine Glaubwürdigkeit überprüft werden. Das Insistieren der Verteidigung auf Geständnisüberprüfung ist dann kein Geständniswiderruf.125 Sich aufdrängende Beweiserhebungen des Gerichts dürfen von Amts wegen nicht unterbleiben.126 Was damit gemeint sein soll, bleibt aber bisher unklar. Praktisch sind Aufklärungsgebote aus der „Richterpsychologie“127 des Abspracheverfahrens nicht mehr gegeben. Ein „glaubhaftes“ Geständnis wird oft zur Bedingung für gerichtliche Zusagen gemacht und was „glaubhaft“ ist, sollen letztlich der Anklagesatz oder die vorläufigen Feststellungen in einer Zwischenentscheidung sagen. Jede Behauptung der Ergebnisoffenheit dieses Verfahrens beruht auf einer Fiktion. Sie ist freilich schon
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BGHSt 49, 84, 88; 50, 40, 55. Salditt, in: FS für Widmaier, S. 545, 548. 126 BGHSt 43, 195, 203; 48, 161, 167; 50, 40, 47; Nack, in: Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2006, § 33 Rn. 17. 127 Allgemein dazu Karl Peters, in: Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 366 f. 125
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außerhalb des Abspracheverfahrens eine Unterstellung.128 Eine Justiz, die einen Freispruch als Niederlage betrachtet und dem mit aller Kraft entgegenwirkt, ist nicht neutral. Die Richtigkeit eines Geständnisses darf nach Meinung des Bundesgerichtshofs vom Tatgericht nicht durch bloß theoretische und spekulative Erwägungen in Frage gestellt werden.129 Folgt das Tatgericht dagegen dem Geständnis, dann trägt der Bundesgerichtshof ihm nur in besonderen Konstellationen bestimmte Erörterungspflichten auf, die sich auf das Geständnismotiv, die Aussageentstehung und den Aussageinhalt sowie die Aussagekostanz beziehen.130 Das gilt etwa für Fälle widersprüchlicher Äußerungen des Angeklagten131 oder bei einem nachträglichen Geständniswiderruf.132 Auch im letzteren Fall behält das frühere Geständnis aber angeblich seinen bisherigen Beweiswert;133 nur muss wegen des Widerrufs unter Berücksichtigung naheliegender Möglichkeiten erörtert werden, warum es zunächst abgelegt und später widerrufen wurde.134 Wird dies im Urteil aber dargelegt und liegt kein Denkfehler vor, dann nimmt das Revisionsgericht das Beweisergebnis hin. Unklar bleibt noch, ob in Fällen von Vorteilsversprechungen für den Fall des Geständnisses eine besondere Prüfungspflicht besteht. Ein Geständnis braucht natürlich nicht allein aufgrund der Tatsache, dass äußere Einflüsse auf den Beschuldigten eingewirkt haben, unwahr zu sein.135 Routinemäßig wird etwa in Missbrauchsfällen, in denen der Opferschutz besonders bedeutsam ist, von Tatrichtern gegenüber dem Angeklagten – an sich zu Recht136 - darauf hingewiesen, dass ein Geständnis, das zur Entbehrlichkeit der Zeugenvernehmung des „Opfers“ führt, erheblich strafmildernd ins Gewicht fallen werde. Legt der Angeklagte vor diesem Hintergrund ein Geständnis ab, so wird es jedenfalls nicht durch weitere Beweiserhebungen im Strengbeweisverfahren überprüft, denn diese sollen zum „Opferschutz“ gerade vermieden werden. Der zugrunde liegende Gedanke wirkt aber zirkelschlüssig, wenn die Eigenschaft des Angeklagten als Täter und diejenige eines Belastungszeugen als Opfer erst am Ende der Hauptverhandlung feststehen kann. Ähnlich ist es in Abspra128
Karl Peters, (Fn. 127) S. 364, 367. BGH NStZ 1998, 265 f. 130 Zur Methode der Geständniskontrolle Stern StV 1990, 563, 567 ff. 131 BGH wistra 2003, 351, 352 f. 132 BGH NStZ-RR 2004, 238, 239 f.; zur Verteidigerarbeit am Widerrufsfall Stern StV 1990, 563, 564 ff. 133 BGH StV 2003, 150, 151. 134 BGHSt 21, 285, 287; Nack, (Fn. 126) § 33 Rn. 18; s. a. BGH NStZ 1998, 475 f.; 1999, 153 zum freisprechenden Urteil nach Widerruf eines wiederholten Geständnisses. 135 RGSt 58, 298, 299. 136 Dencker ZStW 102 (1990), 51, 60 f. 129
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chenverfahren, für welche die Arbeitsersparnis durch Wegfall der Beweisaufnahme der zentrale Beweggrund ist. Die Überprüfung des Geständnisses erfolgt dort, wenn überhaupt, nur anhand der Akten oder durch ergänzende Fragen und Vorhalte. Die Äußerungen des Angeklagten dazu sind aber kaum geeignet, Aktenwissen von „Täterwissen“137 zu unterscheiden. Mit dem Unmittelbarkeitsprinzip ist die Geständniskontrolle anhand der Akten unvereinbar.138 Erst recht gilt dies dann, wenn ein bestimmter Geständnisinhalt zur Absprachenbedingung gemacht wird. Das erfolgt in Fällen, in denen das Gericht für eine eigenen Zusagen ein „glaubhaftes Geständnis“ voraussetzt139 und betont, dass glaubhaft nur sei, was der Verdachtshypothese entspreche, wie sie im Anklagesatz ausformuliert wurde. Gibt der Angeklagte den Verlockungen oder Drohungen im Absprachenkontext statt und hat er nur die Wahl, ob er den Deal so, wie angeboten, annimmt oder gar nicht, dann formuliert praktisch das Gericht vor, was es hören will. Denn für die Verteidigung besteht ein neuer Unsicherheitsfaktor darin, dass sie nicht vorhersehen kann, ob sich das Gericht noch an seine Zusagen gebunden fühlt, wenn das Geständnis nicht exakt dem Erwartungshorizont entspricht.140 Das Verwertungsverbot nach § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO bietet keine Sicherheit dafür, dass der status quo ante ernsthaft wiederhergestellt wird; denn es entfaltet für die nachfolgende Verhandlung mit denselben Richtern oder auch für eine Neuverhandlung immer noch erhebliche Suggestivwirkung und hat nach herrschender Ansicht weder Folge- noch Fernwirkungen.141 Daher empfiehlt auch der Verteidiger, der die Verständigung befürwortet, das Geständnis möglichst anklagekonform zu gestalten. Damit wird der Boden der Erforschung materieller Wahrheit verlassen. Die Selbsterfüllung der Prognose des Eröffnungsbeschlusses wird durch das gerichtliche Postulat eines in seinem Sinne glaubhaften Geständnisses perfektioniert.142 Dies zeigt, dass eine Geständniskontrolle anhand der Akten keinen ernsthaften Rechtsschutz gewährleistet und nichts anderes bewirkt als eine Art von guilty plea.143
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Nack (Fn. 126) § 33 Rn. 19. Rieß, in: FS für Christian Richter II, 2006, S. 433, 438. 139 Zur früher abweichenden Bewertung nach § 136a StPO BGH NJW 1960, 1212, 1213. 140 Salditt, in: FS für Widmaier, S. 545, 546. 141 KMR/von Heintschel-Heinegg, StPO, 2010, § 257c Rn . 52; Jahn/Müller NJW 2009, 2625, 2629; Meyer-Goßner, StPO § 257c Rn. 28; Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, StPO § 257c Rn. 150. 142 Hettinger, in: FS für Egon Müller, 2008, S. 261, 268. 143 Weigend, in: Goldbach (Hrsg.), Der Deal mit dem Recht. Absprachen im Strafprozess, 2004, S. 37, 46. 138
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Eine beinahe konventionelle Verfahrenslage könnte in den Fällen der drittbelastenden144 Geständnisse angenommen werden. Erhöhte Anforderungen an die Beweisführung sind nach der Rechtsprechung zu stellen, wenn die Feststellungen entscheidend auf die geständigen Angaben eines tatbeteiligten Mitangeklagten145 oder gesondert verfolgten Zeugen146 gestützt sind, zumal wenn diese abwechselnd widerrufen und bestätigt worden sind.147 Basiert die Verurteilung eines Angeklagten auf Angaben eines Belastungszeugen, die seinem Geständnis in der gegen ihn geführten Hauptverhandlung entsprechen, und war dieses Geständnis seinerseits Gegenstand einer Absprache zugunsten des informellen Kronzeugen, dann muss die Glaubhaftigkeit der drittbelastenden Bekundungen in einer nachprüfbaren Weise gewürdigt werden.148 Das klingt gut, ist aber dennoch zu wenig, um den alltäglichen Problemen wirksam zu begegnen. Wie niedrig der Standard geworden ist, zeigt sich am historischen Vergleich: Verlangte das gemeine Recht noch zwei klassische Zeugen für eine Verurteilung, dann genügt heute schon ein notorisch unzuverlässiger Zeuge,149 der Eigeninteressen verfolgt. Bei der faktischen Beweisführung mit informellen Kronzeugen150 fällt auch immer wieder auf, dass die Justiz geneigt ist, demjenigen entgegen zu kommen, der eine Verdachtshypothese unterstützt. Das führt zu einem „Wettlauf um die erste Anzeige“.151 Informelle Kronzeugen sind „privilegierte Zeugen“. Dieses Resultat wäre nur hinnehmbar, wenn das Tatgericht einer Kontrolle durch ein leistungsfähiges Rechtsmittel unterläge. Das ist in der Revisionsinstanz jedoch nicht der Fall, da eine Rüge der Aktenwidrigkeit des Urteils unzulässig ist, eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht stattfindet und das Gebot, im Urteil alle wesentlichen Aspekte vollständig zu würdigen, folgenlos verletzt werden kann, wenn sich aus dem Text des „revisionssicheren“ Urteils selbst heraus eine Darstellungslücke nicht entnehmen lässt.
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Vgl. zum Schutz Dritter vor sie belastenden Geständnissen im Zivilprozess, Wolf, in: FS für Nakamura, 1996, S. 685 (690 ff.). 145 BGHR StPO § 261 Mitangeklagte 1 und 2; BGH, StV 1997, 172. 146 BGH NStZ-RR 1997, 105 f. 147 BGH NStZ-RR 1998, 17; Kuckein/Pfister, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 657. 148 BGHSt 48, 161, 168 mit Anm. Kargl/Rüdiger NStZ 2003, 672 ff.; Weider StV 2003, 266 ff.; BGHSt 52, 78, 82 mit Anm. Schmitz NJW 2008, 1751 ff.; Stübinger JZ 2008, 798 ff. 149 Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bestimmte in Art. 64 „Vonn belonten zeugen: Jtem belonte zeugen sein auch verworffenn vnd nit zulessig, sonndern peinlich zu strafen.“ 150 Kargl/Rüdiger NStZ 2003, 672, 673; Schünemann, in: FS für Baumann, 1992, S. 970. 151 Geipel, (Fn. 1) S. 332 ff.
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Das abgesprochene Urteil ist wiederaufnahmeanfällig,152 weil das Wiederaufnahmerecht noch so Geltung besitzt, wie es der historische Gesetzgeber erdacht hatte, nämlich in Strafkammersachen neben der inzwischen abgeschafften richterlichen Vorprüfung als funktionaler Berufungsersatz.153 Der Geständniswiderruf154 ist ein anerkannter Wiederaufnahmegrund,155 der freilich nur dann durchgreift, wenn der Widerruf mehr Beweiswert besitzt als das widerrufene Geständnis. Das wäre bei einem substantiierten Geständniswiderruf im Vergleich mit einem schlanken Geständnis als alleiniger Urteilsgrundlage eigentlich stets der Fall.156 Die Annahme, das Motiv für die anfängliche Ablegung eines falschen Geständnisses müsse plausibel dargelegt werden,157 geht an der zutreffenden Gewichtung des Geständnisses einerseits und der Plausibilität des Widerrufs meist vorbei. Mit der generellen Zulassung des Geständniswiderrufs als ausreichendem Wiederaufnahmegrund gegenüber einem Urteil, das alleine auf ein „schlankes Geständnis“ gestützt wurde, wird aber das Fortbestehen des Urteils praktisch davon abhängig, dass das Geständnis als alleinige Beweisgrundlage nicht widerrufen wird.158 Das zeigt andererseits, dass eine Absprachenpraxis fehlerhaft ist, die sich auf ein schlankes Geständnis oder eine anwaltliche Sachaussage verlässt. Die Praxis sucht auch dann Auswege, um die gegebene Wiederaufnahmemöglichkeit zu annullieren.159 Deshalb wird auf der Ebene der Geeignetheitsprüfung von Wiederaufnahmegerichten gefordert, dass der Antragsteller in seinem Wiederaufnahmeantrag nicht nur die Beweisgrundlage des Urteils, also das Geständnis, bekämpft, sondern auch zu allen Belastungsbeweisen, wie sie sich nur aus den Akten ergeben, Stellung 152
Hellebrand NStZ 2008, 374, 379; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Aufl., Rn. 243. 153 Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, 1913, S. 47; Dippel, in: Jescheck/Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht, 1974, S. 13, 39 f.; KMR/Eschelbach, StPO Vor § 359 Rn. 18; LR/Gössel, StPO Vor § 359 Rn. 29 und § 359 Rn. 160 f. 154 Stern StV 1990, 563 ff. 155 BGH NStZ-RR 1997, 173, 174; OLG Köln StV 1989, 98; OLG Stuttgart NJW 1999, 375, 376; Küpper/Bode Jura 1999, 393, 397 f.; Wasserburg/Eschelbach GA 2003, 335, 339 f. 156 KG StraFo 2006, 169 f. mit Anm. König; Eschelbach HRRS 2008, 190, 200; Hellebrand NStZ 2008, 374, 379; Schünemann NJW 1989, 1895, 1900; Wasserburg, in: Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl., § 16 Rn. 36. 157 OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454, 455. 158 Die wiederaufnahmerechtliche Rechtsprechung betont im Prinzip zu Recht, dass ein Urteil nicht von der Aufrechterhaltung eines Geständnisses abhängig sein dürfe; OLG Hamm, Beschl. vom 12.9.2000 – 2 Ws 232/00; OLG Köln NStZ 1991, 96, 97; OLG Koblenz, Beschl. vom 8.1.2001 – 1 Ws 718/00; OLG München NJW 1981, 594. Das betrifft jedoch nur das genau überprüfte Geständnis als tragfähige Urteilsgrundlage. 159 Vgl. dazu krit. Eschelbach HRRS 2008, 190, 202 ff.; Hellebrand NStZ 2004, 413 ff.; 2008, 374 ff.
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nimmt und deren Widerlegung Punkt für Punkt erläutert.160 Setzt er sich nicht mit allen Punkten auseinander, soll sein Antrag unzulässig sein.161 Damit wird aber der Wiederaufnahmeantrag nicht nur als Angriff auf das Urteil des Erstgerichts, sondern auf den Akteninhalt umfunktioniert, der als solcher nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen war; das „geht nicht an“.162 Freilich wünschen der Gesetzgeber163 und die Justiz nicht, dass bekannt wird, wie viele Fehlurteile vorkommen. Nur so ist zu erklären, warum es immer noch kein rechtliches Gebot der Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung gibt. Das kann kein Dauerzustand bleiben.
VI. Fazit War Klaus B. ein Doppelmörder, dann ist seine weitere Inhaftierung nach 40 Jahren rechtsstaatlich hinnehmbar. Bedenklich erscheint aber, dass auch in Justizkreisen noch Zweifel bleiben. Da das Revisionsverfahren mangels reproduzierbarer Dokumentation von Aussageinhalten und das Wiederaufnahmeverfahren wegen einer zu restriktiven Praxis keine befriedigende Inhaltskontrolle eröffnen, ist eine Reform der Kontrolle dringend. Eine einheitliche Rechtslage und Praxis der Handhabung von Geständnissen existiert nicht, denn es gibt nicht „ein“ Geständnis, sondern zahllose Varianten. Es gibt auch nicht „die“ Überprüfung eines Geständnisses, sondern nur ausnahmsweise eine schulmäßige Nachprüfung im Strengbeweisverfahren, meist allenfalls eine Überprüfung anhand des Akteninhalts, oft aber gar keine. Und es gibt nicht „die“ richterliche Sicht dieser Dinge, sondern eine divergierende Rechtsprechung. Zur Überprüfung des durch die Abspra160
OLG Hamm, Beschl. vom 14.4.2008 – 2 Ws 44/08. OLG Nürnberg, Beschl. vom 4.10.2007 – 2 Ws 343/07, zu dem Fall eines Geständnisses im Vor- und Hauptverfahren und des jeweiligen Widerrufs bei Vorliegen eines drittbelastenden Geständnisses eines informellen Kronzeugen. S. a. BayVerfGH, NStZ 2004, 447, 448 f., der Darlegungen aber nur in dem Umfang erwartet, dass „vernünftige Zweifel an der Wahrscheinlichkeit des die Urteilsfeststellungen mit tragenden Geständnisses“ aufkommen. Auch BVerfG NStZ 1994, 510 billigte das Postulat, der Antragsteller müsse die Umstände anführen, die ein für ihn sprechendes Beweisergebnis „mindestens als möglich“ erscheinen ließen; so auch BGH JR 1977, 217, 218. 162 Hellebrand NStZ 2008, 374, 379. 163 Hirschberg, (Fn. 35) S. 113. Auf Anfrage im Deutsche Bundestag wurde durch das BMJ im Einvernehmen mit den Landesjustizverwaltungen davon abgesehen, den Ertrag von Wiederaufnahmeverfahren offiziell zu bilanzieren (Deutscher Bundestag 4. Wahlperiode 14. Sitzung vom 14.2.1962 S. 408), weil sonst eine Beunruhigung der Bevölkerung und Richterschaft drohen könnte; Theobald, Barrieren im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, 1998, S. 10. 161
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chenpraxis eingeschlagenen Irrweges ist die erneute Erstellung einer Fehlerquellenlehre erforderlich, ferner einer „Richterpsychologie“, danach die Fortbildung der Strafrichter in der Beweislehre und schließlich eine Änderung des Richterberufes, der nach angelsächsischem Vorbild erst nach einigen Jahren der forensischen Erfahrung an anderer Stelle dazu führen dürfte, dass bestimmte Personen von hoher Hand über Lebensschicksale entscheiden. Das sollte angestrebt werden und dafür gilt der Satz: Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.
Spuren der Strafrechtswissenschaft Eine Leseempfehlung THOMAS FISCHER
Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. Franz Kafka: Wunsch, Indianer zu werden
1. Einleitung Im Sommer 2010 sind zwei Beiträge zu Begriff, Inhalt und Sinn von (Straf-) Rechtswissenschaft erschienen: Ein Vortragsmanuskript von Rainer Maria Kiesow: Rechtswissenschaft – was ist das?1, und ein von Eric Hilgendorf herausgegebenes umfangreiches biographisches Sammelwerk: Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen.2 Kiesow bestreitet, dass es so etwas wie Rechts-Wissenschaft – als Rechtsdogmatik – überhaupt gebe.3 In Hilgendorfs Sammelband soll sie sich darstellen. Beide 1
Rainer Maria Kiesow, Rechtswissenschaft – was ist das? Vortrag, gehalten am 19. November 2009 an der Universität Erlangen-Nürnberg, JZ 2010, S. 585 – 591. 2 Eric Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 4: Leben und Werk, Bd. 12), Verlag Walter de Gruyter Berlin/New York, 2010, XIV/702 Seiten. Im Folgenden verweisen alle Zitierungen (nur) mit Namen und Seitenzahl auf dieses Werk. 3 Vgl. aber Kiesow, Die Tage der Juristen, myops 10 (2010), S. 4, 13 ff.: Rechtswissenschaft als Reflexion.
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Veröffentlichungen haben in Zielsetzung und Anlage wenig gemein. Gleichwohl soll die Erstgenannte zum Anlass genommen werden, Projekt und Ergebnisse der Letzteren zu besprechen. Dass dies hier, in der Festschrift für eine Richterin und Vertreterin der Strafrechts-Praxis geschieht, bedarf kurzer Begründung.4 „Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen“ ist ein vertrackter Titel5 für das Unterfangen Hilgendorfs, durch Zusammenstellung autobiographischer Skizzen zum einen die Lebensgeschichten von deutschsprachigen Strafrechtsdogmatikern6 darzustellen, zum anderen hierdurch „einen Eindruck von der Vielfalt der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft zu vermitteln“.7 Zu diesem Zweck haben 21 Personen – Frauen sind, da es keine gab, die die Mitwirkungsvoraussetzungen erfüllten, nicht darunter – der Geburtsjahrgänge 1915 bis 1939, in alphabetischer Reihenfolge geordnet, ohne im Einzelnen vorgegebenes Konzept8 Schilderungen ihrer Lebensläufe verfasst.9 Die Verfasser waren – mit einer Ausnahme – Lehrstuhlinhaber und hauptamtliche Professoren für Fächer der „Gesamten Strafrechtswissenschaften“ an deutschen (17 von 21), österreichischen (einer) und schweizerischen (zwei) Universitäten; bei Beginn des Projekts waren sie mindestens 70 Jahre alt. Ihre Selbstbildnisse sollen in ihrer Gesamtheit ein Bild der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft entwerfen. Der Begriff der Wissenschaft, die der Titel des Sammelbands zunächst meint, ist somit kein wissenschaftstheoretischer oder materieller, sondern beschreibt eher den Berufs-Weg und die Berufs-Tätigkeit der Protagonisten, 4 Einleitungen von Beiträgen zu Festschriften klagen bisweilen über deren hohe Zahl sowie die (eigene) Mühe, ein Thema zu finden (besonders oft: Kühl, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 715; ders., Festschrift für Gössel, 2002, S. 191; ders., Festschrift für Jakobs, 2006, S. 293; ders., Festschrift für Herzberg, 2008, S. 177; ders., Festschrift für Seebode, 2008, S. 61; ders., Festschrift für Volk, 2009, S. 275; ders., Festschrift für Maiwald, 2010, S. 433; ders., Festschrift für Krey, 2010, S. 269, 272; und öfter). Diese Misshelligkeiten haben aber kein großes Gewicht. Die Klage über eine angebliche Inflation gab es vor 30 Jahren schon; sie gehört wohl ihrerseits zur Literaturgattung. Man kann im Übrigen wenigen Beschwernissen so leicht entgehen wie dieser: indem man für sich selbst akzeptiert, was man anderen empfiehlt. 5 Vorbild: Hans Planitz, Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I 1924; Bd. II 1925. 6 Siehe Hilgendorf, XIII. Die Einschränkung auf Strafrechts-Dogmatik wird allerdings in der Einleitung Hilgendorfs und in den Autobiographien nicht durchgehalten; jedenfalls teilweise wird der Begriff wohl synonym mit dem der „Strafrechtswissenschaft“ verwendet. 7 Hilgendorf, Einführung, XIII. 8 Einige Beiträge (Lackner, Maihofer, Schreiber) sind nach Interviews vom Herausgeber entworfen, wurden aber von den Autoren überarbeitet (Hilgendorf, XIII). Der Text über Theodor Lenckner entstand posthum und ist von Edward Schramm verfasst. 9 Der Text von Lüderssen (351–383) entspricht, mit kleineren Ergänzungen, dem letzten Kapitel seines autobiographischen Buchs „Kein Gershwin mehr in Wernigerode. Unregelmäßige Erinnerungen“, das 2009 erschienen ist (dort S. 151–196). Leider fehlt ein Hinweis hierauf.
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aus welcher sich Wissenschaft als Beruf, vielleicht auch das „Wesen“ von Strafrechtswissenschaft erschließen können, wenn und soweit die Verfasser Lebensbilder vermitteln, die Strafrechts-Wissenschaft als Inhalt beschreiben. Das Verhältnis zwischen Strafrechtspraxis, namentlich der Praxis der Strafgerichte, und Strafrechts-Wissenschaft10 gilt als spannungsreich, ungeklärt, jedenfalls problematisch.11 Es ist damit freilich mehr angesprochen als die bloße Frage nach „gegenseitiger Befruchtung“, Kenntnis- und Bezugnahme, nach Bemühungen um Begegnung und Austausch. Vielmehr stellt sich am Grunde die Frage, ob und ggf. wie das Strafverfolgungssystem der Gesellschaft überhaupt von „Wissenschaft“ beeinflusst, gesteuert oder abhängig ist; umgekehrt, ob Strafrechtspraxis überhaupt Ziel, Gegenstand, Anwendung von „Strafrechts-Wissenschaft“ sein kann oder soll: Ist Strafjustiz die Praxis von Strafrechtswissenschaft? Und: Was ist das überhaupt für eine Wissenschaft, deren Ergebnisse „vertretbare“ Urteile und deren gleichermaßen vertretbares Gegenteil sind? Eine Selbstdarstellung der Strafrechtswissenschaft, die nicht allein immanenten Strukturen dogmatischer Ausdifferenzierung folgt, sondern Ergebnisse persönlicher Motivationen beschreibt, könnte hierüber vielleicht Auskunft geben. Ich hoffe, mit der Frage hiernach das Interesse der Jubilarin jedenfalls nicht zu verfehlen.12
10 Eine breit angelegte, zusammenfassende Bestandsaufnahme aus der Innensicht findet sich bei Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, FS für Claus Roxin, 2001, S. 1 – 32. 11 Beispielhaft seien genannt: Erb, Strafrechtswissenschaft, höchstrichterliche Rechtsprechung und tatrichterliche Praxis des Strafrechts, ZStW 113 (2001), S. 1 ff.; Fischer, FS für Rainer Hamm, 2008, S. 63 ff.; Radtke, Gestörte Wechselbezüge? Zum Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung, ZStW 119 (2007), S. 69 ff. Zum Verhältnis zur Gesetzgebung: Joachim Vogel, Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 105 ff.; Wolfgang Frisch, Zur Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Entwicklung des Strafrechts, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, Kap. 5. Fezer (HRRS 2010, 281) denunziert die Frage (unzutreffend) als „Modethema“ – freilich nur, um sich ihr alsdann selbst vertieft zuzuwenden. 12 Ruth Rissing-van Saan gehörte von Anfang an zu den Protagonisten des „Karlsruher Strafrechts-Dialogs“, einer seit 2007 stattfindenden, inzwischen wohl als „eingeführt“ geltenden Veranstaltungsreihe beim Bundesgerichtshof zum Meinungs-Austausch namentlich zwischen Strafrechtslehrern und Angehörigen von Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft. Es ist zu wünschen, dass die Veranstaltung zukünftig mehr noch als bisher zum Dialog genutzt wird, etwa durch gezielt „gekreuzte“, auf die jeweils andere Seite bezogene Themenauswahl.
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2. Literarisches a) Aus Titelei oder Vorwort des Sammelbands ergibt sich nicht, ob es sich um den Beginn einer Reihe handelt. Die im Titel formulierte Regel der Selbst-Darstellung ist insoweit gebrochen, als ein fremd-biographischer Text über Theodor Lenckner wegen dessen Bedeutung für die deutsche Strafrechtswissenschaft13 in die Sammlung aufgenommen wurde. Die Erläuterung der Autorenauswahl weist, neben dem Anforderungsprofil „Strafrechtswissenschaftler“, nur auf das objektive Kriterium eines Mindestalters von 70 Jahren hin, daneben auf nicht näher erläuterte subjektive Präferenzen des Herausgebers sowie auf die Einschätzung, es seien „überwiegend Autoren ausgewählt (worden), deren strafrechtswissenschaftliche Arbeiten internationale Wirkung entfaltet haben“ (Hilgendorf, XIII). Letzteres erklärt freilich noch nicht, warum andere nicht berücksichtigt wurden, deren internationale Wirkung – woran auch immer man diese messen mag – vermutlich nicht geringer ist.14 Der Grund könnte in einer nach ganz subjektiv-emotionalen, also zwar legitimen, aber eher wissenschafts-fernen Kriterien vorgenommenen Auswahl liegen; aber auch darin, dass weitere Autoren zwar angesprochen wurden, einen Beitrag aber nicht liefern wollten. Die Angabe, ob das eine oder das andere der Fall war, wäre zur Orientierung des Lesers zumindest hilfreich, fast schon erforderlich. Denn ein Portrait „der Strafrechtswissenschaft“ muss unter dem Bedenken der Ungenauigkeit stehen, wenn die Auswahlmethode keine einigermaßen hinreichende Gewähr für Repräsentativität bietet oder wenn für deren Fehlen – oder Fraglichkeit – keine inhaltlichen Gründe genannt werden. So formuliert der Titel des Sammelbands im Ergebnis vielleicht eher dessen Wunsch oder Versprechen als seinen Inhalt; ein Titel „Selbstdarstellungen deutschsprachiger Strafrechtswissenschaftler“ hätte besser getroffen, was der Leser erwarten kann.
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Hilgendorf, XIII. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien beispielsweise genannt: Knut Amelung, Ulrich Eisenberg, Gerhard Fezer, Karl-Heinz Gössel, Gerald Grünwald († 18. 12. 2009; Nachruf Dencker StV 2010, 110), Ernst-Walter Hanack, Winfried Hassemer, Rolf Dietrich Herzberg, Günther Jakobs, Heike Jung, Wilfried Küper, Manfred Maiwald, Heinz Müller-Dietz, Harro Otto, Hans-Joachim Rudolphi († 24. 7. 2009; Nachrufe Wolter/Rogall NJW 2009, 3219; Paeffgen StV 2009, 615), Manfred Seebode, Ernst Amadeus Wolff († 3. 5. 2008; Nachruf Zaczyk JZ 2008, 885). 14
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b) Die literarische Form der Autobiographie kennt viele Gestalten, folgt eigenen Regeln und hat immanente Kriterien der Qualität. Freilich sind die Anforderungen der Form, die an die Autobiographie eines (Strafrechts)Wissenschaftlers in seiner Rolle als Repräsentant seiner Berufsgruppe gestellt werden, gewiss andere als die Erwartung an die Selbstdarstellung von Personen, die als solche im Interesse der Öffentlichkeit stehen oder stehen sollen. Ernst-Joachim Lampe formuliert den Unterschied in seinem Beitrag so: „Ihre Autobiographie werden (Wissenschaftler) weniger wie die Künstler und Politiker zur Selbstbesinnung bzw. der Darstellung der eigenen Entwicklung benutzen als vielmehr zur Zusammenfassung ihrer Forschungsergebnisse. Was ihnen darüber hinaus an persönlichem Erleben mitzuteilen bleibt, (…) betrifft hauptsächlich die zeitgeschichtlichen Verhältnisse, unter denen sie ihre Arbeit verrichtet (haben)… Insoweit haben sie nichts Außergewöhnliches mitzuteilen…“ (Lampe, 305).15 Das sieht nicht jeder der 21 Autoren so16, vielmehr wohl nur eine Minderheit; auf die Gründe dafür oder auf deren Richtigkeit kommt es hier nicht an. Die Mehrzahl hat sich für Mischformen zwischen – teils sehr persönlichen – Schilderungen des Lebens-Wegs und mehr oder minder ausführlich kommentierten Berichten über den „Werdegang“ in Ausbildung und Beruf entschieden. Dabei ist auffällig, dass bei fast allen Autoren Ausführungen persönlich-lebensgeschichtlichen Inhalts, Schilderungen von Emotionen, Vorstellungen oder Plänen sich beinahe ganz auf die Zeit ihrer Kindheit und Jugend beschränken – die durchweg, aber mit recht unterschiedlichem Gewicht als berichtenswert angesehen wird –, während die Neigung zur persönlich-biographischen Öffnung oder Reflexion mit dem Fortschreiten der berichteten Lebensabschnitte abnimmt. Es ist kaum anzunehmen, dass diese – gerade in ihrer Wiederholung deutlich werdende – Gewichtung auf jeweils bewussten Entscheidungen beruht. Sie offenbart daher eine durchaus sympathische Laienhaftigkeit im Umgang mit nicht-fachlichen Texten; zugleich aber auch eine Haltung der Vorsicht gegenüber möglichen Risiken
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Vgl. auch Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 10. Aufl. 1996, S. 14: „Es hat sich, soweit seine Kunst in Betracht kommt, selbst bei einer Persönlichkeit vom Range Goethes gerächt, dass er sich die Freiheit nahm, sein ’Leben’ zum Kunstwerk machen zu wollen (…) Auf dem Gebiet der Wissenschaft aber ist derjenige ganz gewiss keine ‚Persönlichkeit’, der als Impresario der Sache, der er sich hingeben sollte, mit auf die Bühne tritt, sich durch ‚Erleben’ legitimieren möchte und fragt: Wie beweise ich, dass ich etwas anderes bin als nur ein ‚Fachmann’, wie mache ich es, dass ich, in der Form oder in der Sache, etwas sage, das so noch keiner gesagt hat wie ich: – eine heute massenhaft auftretende Erscheinung, die überall kleinlich wirkt, und die denjenigen herabsetzt, der so fragt (…).“ 16 Vgl. etwa Stratenwerth, 568.
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der Offenbarung – mögen dies solche der Selbstreflexion oder der sozialen Sichtbarkeit sein. Die heftigen Abneigungen, die Schulen von Haltungen und sogenannten „Grundeinstellungen“, die von außen oft als gegenseitige Zuschreibungen erscheinen, ermüdende Kämpfe um Bedeutungen17: Sozialpsychologisch sind auch diese Erscheinungen fast unvermeidlich in den bisweilen engen Räumen der Fakultäten und Lehrstühle mit ihrer strukturell vorgegebenen Eigenbezogenheit; sie sind jedem vertraut, der sich dem (Verwaltungs)System der (Rechts)Wissenschaft nähert. In den Autobiographien bleiben solche Misshelligkeiten unsichtbar. Schwierige Kollegen, unangenehme Arbeitssituationen, berufliche Unzufriedenheit, mangelnde Anerkennung, unfairer Konkurrenzkampf, schlechtes Personal: All dies gab es angeblich, wenn überhaupt, nur in lang vergangener Zeit. Eine solchermaßen verschönte Darstellung der Rahmenbedingungen hat freilich auch ihre sachlichen Gründe: Eine Wissenschaftsbiographie ist kein Ort der Abrechnung; und in einem weitgehend geschlossenen System von wenigen hundert Personen müssen Grenzen der Toleranz gut bedacht werden.18
c) Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit des Stils, der erzählerischen Haltung, der literarischen Emotion, in welcher die Skizzen verfasst sind. Fast die Hälfte der Autoren hebt eigene Nähe zur Kunst, nicht zuletzt auch zur schönen Literatur hervor. Gleichwohl bleiben Versuche, der eigenen Biographie künstlerische Form zu geben, auf den 700 Seiten des Sammelwerks selten.19 Auch hier, im Rückblick auf das eigene Leben, bleibt der Jurist bei seinem Leisten: Die mittlere Tonlage dominiert bei weitem; die Furcht vor dem Exzess ist spürbar; selbst die Beschreibung der Exzentriker, denen Juristen 17
Otto Lagodny: Strafrechtswissenschaft als „Kampfsport“, Festschrift für Volkmar Mehle, 2009, S. 339. 18 Hinzu kommen Eigenheiten der Sache, auf welche noch einzugehen ist. Eine Wissenschaft, in der man (fast) immer Recht hat, die kaum ein Misslingen kennt und keine Supervision, betrieben von Personen, die in (fast) vollständiger inhaltlicher Unabhängigkeit jeweils an der Spitze von kleinen Gruppen stehen, deren Mitglieder von ihrem persönlichen Wohlwollen existenziell abhängig sind: Es drängt sich auf, dass in einer solchen Struktur auch unsachliche Motive, individuelle Beschränktheiten und kollektive Ausgrenzungen ihren Platz haben. Das mindert den Wert dieser Struktur für die Entwicklung des kritischen Geistes nicht unbedingt, verlangt aber hohe Aufmerksamkeit gegenüber Fehlerquellen. Insofern gilt für die (Straf)Rechtswissenschaft nichts anderes als für vergleichbare Stukturen. 19 Anders etwa: Klaus Lüderssen (oben Fn. 9). Dagegen ist die autobiographische Skizze Günter Spendels, Jugend in einer Diktatur. Erinnerungen eines Zeitzeugen, 1998, nicht mit literarischem, sondern vorwiegend historisch-aufklärerischem Engagement geschrieben.
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im Berufsleben begegnet zu sein gern behaupten, ist erkennbar von der Sorge getragen, nicht etwa selbst für einen solchen gehalten zu werden; Belanglosigkeiten, Schicksalsschläge und Triumphe verschwimmen gleichermaßen im milden Licht des Imperfekt aktiv zum Bericht: Nun starb mein Vater; nun schrieb ich ein Buch; nun heiratete ich; nun wurde ich Privatdozent. Natürlich gibt es, wie stets, Ausnahmen. Wer Vorträge von Gunther Arzt hörte, wird in dessen Beitrag intellektuelle Eleganz und feine Linien der Ironie jenseits üblichen Juristenhumors wieder finden. Die hochreflektierte Darstellungs-Kunst Claus Roxins, der mit dem Gestus des Weltbewegers selbst da noch souverän spielt, wo er eigenen Worten in weiten Räumen nachlauscht, die Arme erhoben wie Charlton Heston zur Teilung des Roten Meers, ist auch in gedruckter Form stets eine Freude. Auf der anderen Seite der Waagschale können einige nicht ganz gelungene Bemühungen ums Anekdotische, einige literarisch weniger überzeugende Versuche, der eigenen Vita durch Erwähnung von griechischen Göttern oder italienischen Architekten retrospektiv eine Nähe zur Hohen Kunst, vielleicht gar eine Neigung zur Bohème abzugewinnen, leicht ertragen werden: Auch hier wird der Leser mit Exzessen nicht strapaziert. All das ist streckenweise sehr interessant, menschlich oft sympathisch, manchmal vielleicht etwas klein kariert.20 Ein wenig anstrengend sind die Ausführungen, mit denen drei der vier aktiven Kriegsteilnehmer unter den Autoren Einzelheiten ihrer Teilnahme am Russland-Feldzug21 einschließlich eigener Hochbegabung auch auf diesem Gebiet22 erläutern. Interessanter als die Wiedergabe soldatischer Pflichterfüllung23 und die Erwähnung hierfür
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Dieses Urteil ist, zugegeben, entschieden subjektiv und sollte mit Blick auf das eigene Spiegelbild geprüft werden. Es berechtigt weder den Verf. noch den geneigten Leser zur Selbstgefälligkeit. 21 S. 173 ff.; 278 ff.; 598 ff.; anders, knapp und klar Maihofer, 392: “Eine ungeheuerliche Erfahrung … war der Russlandfeldzug, den ich als Nachrichtenoffizier (…) erlebte, von den Schlachten um die Ukraine und die Krim bis zu den wahnwitzigen Versuchen einer Eroberung von Leningrad und Stalingrad, mit denen dieser Feldzug in einer militärischen Katastrophe endete.“ 22 „Ich brachte es binnen kurzer Zeit im Morsen auf 120 Buchstaben in der Minute, was allgemein als respektable, bisher nur von Berufssoldaten erreichte Leistung beurteilt wurde“ (Lackner, 277); „Ich vermochte als Jurist durch gut formulierte und gegliederte Bataillonsbefehle meine Lücken in der Führung von Panzerverbänden teilweise auszugleichen…“ (Jescheck, 174). 23 „(Ich schrieb) einen kleinen Artikel über die Haltung der deutschen Offiziere in diesem Krieg (…) Als er mich fragte, warum von uns keiner desertiert sei, antwortete ich: ‚Un officier allemand ne déserte pas’“ (Jescheck, 177).
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erlangter Belobigungen wären hier Gedanken über Schrecken, Trauma, Verantwortung gewesen.24 Unter den Lebensschilderungen finden sich sehr interessante und lesenswerte, vor allem von Autoren, die die Begebenheiten des Lebens nicht als Echo der eigenen Bedeutsamkeit vorstellen. Das ist in autobiographischen Texten nicht einfach zu erreichen. Diese werden, wenn es gelingt, zur Literatur; andernfalls bleiben sie in den Zähheiten einer ermüdend ausgebreiteten „Lebenslauf“-Prosa stecken. Es geht an dieser Stelle freilich weder um eine Kritik der literarischen Fähigkeiten der Autoren noch gar um eine Bewertung ihrer Lebensgeschichten, die mit Enthüllungen kleiner Schwächen Aufmerksamkeit erregt.25 Mein Erkenntnisinteresse folgt der Ambition des Sammelwerks: Es fragt, ob sich aus den Selbstdarstellungen der Personen Elemente ergeben, die einen Rückschluss auf belangvolle Inhalte von Strafrechts-Wissenschaft erlauben.
3. Autobiographisches a) Dass alle Autoren Männer sind, wurde schon erwähnt. Personen mit „Migrationshintergrund“ sind nicht darunter; nur ein „Flüchtling“ im engeren Sinne; kein Jude. Sieben Autoren stammen aus Ostdeutschland, sind aber schon vor dem Mauerbau nach dem Westen gelangt; eine DDRBiographie findet sich nicht.26 24 Die Kriegsteilnehmer sahen dies in ihrer großen Mehrheit anders. Die Mehrzahl schwieg anhaltend; eine Minderheit berichtet bis heute vom anrennenden Russen, dessen man sich pflichtgemäß erwehrte (hierzu auch: Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, 2010). Für die Nachkriegsgeneration war ersteres fast noch schwerer zu ertragen. Deutsches Spezifikum waren nicht die Ausdrucksformen der Traumatisierung, wohl aber deren lebenslange trostlose Ausweglosigkeit. Die ins Weinerlich-Gemütvolle verklärte Form kann man im Kino der 50er und 60er Jahre in den verschiedenen Gestalt-Angeboten des anständigen deutschen Soldaten besichtigen, der in Stalingrad Weihnachtslieder sang und über all dem Völkermord ein guter Mensch blieb. 25 Hierzu nur ein Gemeinplatz: Der sichere Tod der Bedeutsamkeit ist die gravitätische Pose. Ihr verfallen, tragisch, gerade diejenigen, denen am Wissen der Welt um ihre Bedeutung besonders gelegen ist. Die kundigen Geier des Feuilletons wissen das. Dies ist der Quell ihrer eigenen Hybris. 26 Das entspricht dem Stand der Wiedervereinigung im Jahr 20. Zu einzelnen Personen findet sich insoweit etwas z. B. bei Klein/Saar/Schulze (Hrsg.), Zwischen Rechtsstaat und Diktatur. Deutsche Juristen des 20. Jahrhunderts, Berlin 2005; vgl. auch Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der DDR 1949-1971. Dokumente zur politischen Steuerung im Grundlagenbereich, 1996; Mahlmann, Die Strafrechtswissenschaft der DDR, 2002 (Diss. Kiel). Von hohem Anschaulichkeits-Wert ist ein
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Erkenntnisse der Juristen-Soziologie werden bestätigt: Ausnahmslos stammen die Autoren aus kleinbürgerlichem Milieu: Mittlere und höhere Beamte, Ingenieure, Lehrer, selbständige Handwerker, mittlere Offiziere, Kleinunternehmer und Freiberufler waren die Väter, die Mütter Hausfrauen. Ein Autor gibt an, er stamme aus „einfachen Verhältnissen“. Die (Fach)Arbeiterschicht als Wurzel findet sich nicht; ebenso wenig großbürgerliche Kreise oder das Milieu des höheren Adels. Dieser Herkunft entsprechen viele Angaben zu den Motiven der Wahl des Studienfachs: Hoffnungen auf sichere Positionen, auf breite Berufsmöglichkeiten, auf „etwas Vernünftiges“. Die biographischen Urspünge sind für Juristen repräsentativ; sie sind interessant, da sie regelmäßig auch prägend sind für den Blick auf die Welt: Das Kleinbürgertum – die „Mittelschichten“ – ist das Zentrum unserer Kultur, der Kraftquell ihres Erfolgs, das Laboratorium ihrer Innovation.27 Hier schaut man bewundernd hinauf zu den mächtigen Herren und den anerkannten Künstlern, und schaudernd hinab in die Abgründe des Poverismus, aus denen die Großväter einst emporstiegen. Hier steht die Wiege der herrschenden Meinung, des Stolzes über den Aufstieg aus eigener Kraft, der Liebe zum mittleren Maß.
b) Kaum einer der Autoren versäumt, eine gewisse Offenheit des Elternhauses, der Biographie und des eigenen Denkens zur Kunst zu erwähnen, oft zur Musik.28 Bemerkenswert ist auch die Häufigkeit der Schilderung einer frühen Hinwendung zu grundsätzlichen Fragen, etwa in Philosophie, alten Sprachen, Geschichte. Ob dies tatsächlich die Wirklichkeit des jeweiligen Knabenalters wiedergibt oder eher die Schwerpunkte der Rückschau, mag dahinstehen. Erfahrungen oder lebensgeschichtliche Prüfungen durch die NS-Zeit werden überwiegend nur gestreift, von etwa der Hälfte der Autoren nur knapp
Video-Interview mit Erich Buchholz (geb. 1927; em. Ordinarius HU Berlin, seit 1976 Direktor der Sektion Rechtswissenschaft), abzurufen etwa unter www.heimat-ddr.de. 27 Schöne Beschreibungen stammen von Hans Magnus Enzensberger; vgl. etwa Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums, Kursbuch 45 (1976), 1; Verteidigung der Normalität, Die Zeit v. 28. 5. 1982 (in: Der fliegende Robert, 1982); Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, 1990. 28 Durchweg bleibt freilich offen, was man sich hierunter konkret vorzustellen hat (Ausnahme: Lampe, 310). Auch dies entspricht einem von den Autoren unterstellten (kulturellen) „Grundkonsens“, der, so ist zu vermuten, seinen Schwerpunkt im Bereich des bildungsbürgerlichen Kanon der 50er und 60er Jahre hat. Erfrischend ist das Bekenntnis von Ulrich Weber zur Unmusikalität (Weber, 641).
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erwähnt.29 Nur zwei Autoren teilen mit, ihre Väter seien NS-Anhänger gewesen; mehrere berichten aber von dezidiert antifaschistischen Einstellungen, Aktivitäten und Erfahrungen in ihrer Kinder- und Jugendzeit (insb. Weber, 635 ff.; auch Spendel, 529).30 Manche erwähnen vage die „Verhältnisse“, wobei auch Beschönigungen nicht fehlen31; vor allem aber die Wirren und Erschwernisse der Niederlage (meist: „der Zusammenbruch“). Von Erleichterung über das Ende der Diktatur und Hoffnung auf einen bewussten „ganz anderen“ Neuanfang 1945 berichten nur wenige dezidiert (vor allem Maihofer, 392 f.; vgl. auch Lüderssen, 351 f.; Naucke, 417; Roxin, 458; Stratenwerth, 556, 564; Weber, 639 f.). Für die meisten scheint die NS-Zeit eine eher blasse Erinnerung der Kindheit zu sein32; die späten Kriegsjahre erlebten sie im Jugendalter als Zeit der Bedrückung und Angst, die Nachkriegszeit als Lebensperiode der erstmals eigenen Strukturierung eines Alltags-Lebens. Erstaunlich immerhin ist, dass, von Ausnahmen abgesehen (insb. Spendel, 529 ff.; Roxin, 458 f.), in den Autobiographien eine „Aufarbeitung“ weithin fehlt.33 Es finden sich meist (Ausnahme etwa: Weber, 638 ff.) weder autobiographische Hinweise auf eigenen Umgang mit Informationen zu Taten und Tätern des NS-Regimes, die bei fast allen Autoren der hier vertretenen Generation in unmittelbarer – familiärer, sozialer, beruflicher – Nähe verfügbar gewesen sein müssen, noch Erwägungen zur „insgesamt fehlgeschlagenen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz“34 in der (jungen) Bundesrepublik, in der sich die im Sammelband dargestellten juristischen Karrieren entfalteten. Es enttäuscht, dass in den 21 Autobiographien von vor dem Krieg geborenen deutschen Rechtsgelehrten ein Erkenntniszusammenhang zwischen der „vollständigen Missachtung der Idee von Gerechtig29 Die vertretenen Jahrgänge 1915 bis 1939 können unterteilt werden in die Altersgruppe der aktiven Kriegsteilnehmer (1915 bis 1922), eine zur „Flakhelfer-Generation“ zählende Gruppe (1924 bis 1929) und eine Gruppe von nach 1930 Geborenen, die NS-Diktatur und Krieg nur als Kinder erlebten. 30 Zu Lüderssen vgl. ders. (oben Fn. 8), S. 58 ff. 31 „Erst 1940 blieb (meinem Vater) mit Rücksicht auf die Familie nichts anderes übrig, als der Partei beizutreten“ (Hirsch, 126). Lackner (Abitur 1933 in Bonn) erinnert sich, dass es in den Jahren 1930 bis 1933 einen „latenten (!) Antisemitismus (gab), der in den Medien bisweilen (!) erhoben wurde“ (Lackner, 272). 32 Ausführliche biographische Erinnerungen bei Lüderssen (oben Fn. 8), S. 43 ff. 33 Die NS-Prozesse der Nachkriegszeit erwähnt Spendel; Maihofer die Nürnberger Prozesse; interessant sind auch die Hinweise von Naucke (426) auf Gespräche mit dem in Kiel weiter Strafrecht lehrenden NS-Strafrechtler Georg Dahm. Vgl. dazu aber: Thomas Horstmann/Heike Litzinger, An den Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NSVerbrechen, 2006. Als Gesprächspartner vertreten sind dort unter anderem die auch hier vertretenen Autoren Karl Lackner (ebd., S. 149 ff.) und Claus Roxin (ebd., S. 203 ff.). 34 BGHSt 41, 317, 339.
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keit und Menschlichkeit, die das Bild der NS-Justiz prägte“35, und der eigenen Rechtsidee nur von einer Minderheit überhaupt explizit angesprochen wird.36 Für die Jüngeren unter den Autoren begann in der Rückschau mit der Nachkriegszeit ersichtlich erst das Leben. Hierfür waren die Gründung der Bundesrepublik und die Bedeutung des Grundgesetzes wohl nicht wirklich wichtig; sie werden kaum einmal erwähnt. Auch die traumatisierende Erfahrung, dass fast zwei komplette Väter-Generationen, die große Mehrheit der 1949 (noch) lebenden erwachsenen Männer in Deutschland, ihren Kindern (und sich selbst) nicht nur als (prima facie) mutmaßliche Handlanger von Menschheitsverbrechen, sondern vor allem auch als gedemütigte Verlierer gegenüberstanden, findet in den Autobiographien der Söhne weder Erwähnung noch Reflexion.37 Es soll hier nicht der Versuch einer (spekulativen) Projektion dieser Tatsache auf die Lebenswege und wissenschaftlichen Berufslaufbahnen unternommen werden. Als Hypothese mag freilich formuliert sein, dass es eines höchst komplizierten innerpsychischen und sozialen „Bewältigungs“-Prozesses bedurft haben muss, diese katastrophale Erkenntnis im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik bis in die 60er Jahre fast vollständig zu ignorieren und in den individuellen Familien- und Lebensgeschichten in eine im Rückblick oft merkwürdig indifferent und leer erscheinende Haltung vorgeblicher Kontinuität des „Normalen“ umzuwandeln. Dass dies ohne Einfluss auf den Beruf blieb, ist wenig wahrscheinlich.
c) Die Wege ins Rechtsstudium und an die Schwelle des Berufs gleichen einander in überraschenden Aspekten; Ausnahmen sind selten. Die eindrucksvollste, auch biographisch riskanteste Schilderung liefert HansHeinrich Jescheck: „Ein Jahr vor dem Abitur hatte (…) ich Gelegenheit, an einer ‚Hellas-Fahrt’ von deutschen Professoren und Studenten teilzunehmen (…) Bedeutsam war für mich damals ein Erlebnis bei dem Rundgang auf der Akropolis in Athen. Der große Archäologe Wilhelm Dörpfeld legte mir (…) die Hand auf die Schulter, wie um sich auf mich zu stützen. In diesem Augenblick entstand in meiner Vorstellungswelt der Gedanke: Ich will auch Professor werden (…)“ (Jescheck, 169 f.). 35
BGHSt 41, 317, 340. Vgl. hierzu auch Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, 2010, S. 77 ff. Auf die Darstellungen in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33) zur „Königsteiner Tagung“ im April 1966 sei ausdrücklich verwiesen. 37 Ein entfernter Hinweis findet sich bei Lampe, 307. Vgl. auch Lüderssen (oben Fn. 8), S. 108 ff. 36
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Dieses Erweckungserlebnis steht in seiner anrührenden Zerbrechlichkeit allein unter den Autobiographien. Dort überwiegen stattdessen Schilderungen bemerkenswert früher Begabungen, Höchstleistungen und Beurteilungsfähigkeit. Nicht stets wird die Grenze etwas kleinrahmigen Selbstlobs gemieden: Dass Noten von Lateinklausuren oder Belobigungen für die Mitarbeit im Schulorchester international bekannten Hochschullehrern noch nach 60 Jahren zum Beleg ihrer Begabung dienen, ist mitunter etwas anstrengend. Es gilt für den Bereich des „Allzumenschlichen“ bei Strafrechtsprofessoren ersichtlich nichts anderes als bei Richtern und überhaupt im Leben. Dies müsste nicht besonders erwähnt werden, wäre die inhaltliche Basis berichteter Meriten nicht so erstaunlich schmal und so entschieden aufs Milieu derjenigen bezogen, die Etwas Besseres werden, aber bestimmt nicht zu hoch hinaus wollen.38 Kein einziger schlechter, nur ein einsamer „mittelmäßiger“ Schüler; kein präsumtiver Weltumsegler, Industriekapitän, Tyrannenmörder oder Hollywoodstar, keine Träume von den Quellen des Nils. Stattdessen ein paar Sportler, Wandersleute und Opernfreunde: Mehr Extreme finden sich nicht in der Wüste Klavier spielender guter Lateiner, leidlich begabter Mathematiker39 und philosophierender Knaben. Die Liste früher Interessen und Studien ist bei manchem lang und von beeindruckender Tiefe: Schon mit Anfang 20, so will es die Erinnerung wissen, kannte man seinen Goethe; und die Überlegung, ob man Zahnarzt, Erdkundelehrer oder Strafrechtsprofessor werden solle, stützte sich auf eine im autobiographischen Rückblick erstaunlich verbreitete Liebe zu alten Sprachen, schönen Etüden und südländischer Philosophie. Auch die Erkenntnisse, dass Schullehrer wesensmäßig zu übertriebener Fortschrittlichkeit neigen40 und dass der Vergleich des Bildungsniveaus heutiger Abiturienten mit dem des Rechtsgelehrten als Jüngling ein „bestürzendes
38 Dieses sozialpsychologische Leitmotiv kleinbürgerlicher Lebenskultur findet sich namentlich auch unter Justizjuristen und Rechtsanwälten weithin: Nichts wird verächtlicher angesehen und ist so risikoreich wie das offene Bemühen, sich über die „Kollegen“ zu erheben. Zugleich gelten freilich, im jeweiligen forum internum, fast alle Karrieren außer der eigenen als unverdient, zufällig, von Glück, Beziehungen oder Unverstand gesteuert. 39 Auch die seltsame Theorie „Schlechter Mathematiker – schlechter Jurist“ findet Erwähnung (Spendel 528); allerdings auch Widerspruch (Lüderssen, 535). Der Verf. dieses Beitrags erlebte die Praxis dieser Regel beim Besuch von Spendels Vorlesung „Strafrecht AT“ im Wintersemester 1980/81: Wer eine „falsche“ Antwort gab, wurde vom Professor nach der Mathematik-Note im Abiturzeugnis befragt. War diese schlechter als „gut“, gab das dem Rechtsgelehrten, zur eigenen und zur Erheiterung des Auditoriums, Anlass zur nachdrücklichen Empfehlung des Studienabbruchs. 40 Lackner, 272. Das Wort „Fortschrittlichkeit“ steht, wie meist, auch hier in Anführungszeichen. Sie deuten zugleich die eigene Kenntnis des Bewertungsmaßstabs wie die Verächtlichkeit seiner fremden Verkennung an.
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Niveaugefälle“ enthülle41, werden dem Leser leider nicht erspart. Die meisten Autoren des Sammelbands vertiefen die Meriten ihrer frühen Jahre aber nicht weiter. Vor diesem Hintergrund überraschend ist, dass die wenigsten Autoren das Jurastudium aus ursprünglichem Interesse, Neigung oder Überzeugung wählten: Nur drei der 21 geben dies an. Ebenso viele bezeichnen die Rechtswissenschaft ausdrücklich als zweite Wahl. Die überwiegende Mehrheit wählte das Rechtsstudium, weil es die Berufswahl nicht festlege, weil man „etwas Sicheres“ suchte, weil andere Interessen zu risikoreich erschienen. Es besteht insoweit, entgegen häufig zu hörenden Klagen vieler Hochschullehrer, kein Unterschied zu heutigen Verhältnissen. Andere Motive und Erfahrungen fehlen in den Selbstportraits fast ganz: Erfahrungen von Niederlagen, Motive von Furcht, Erlebnisse des Scheiterns.42 Das ist psychologisch verständlich und menschlich nahe liegend, freilich vor dem Hintergrund der Aufgabe objektivierender Selbstbetrachtung von Rechtsgelehrten bemerkenswert. Es setzt sich in den Schilderungen von Studium und Berufskarrieren fort.
d) Beinahe durchweg könnten die Selbstdarstellungen den Eindruck nahe legen, es habe die Zeit der Abenteuer und der Offenheit des Lebensentwurfs schon mit dem Eintritt ins Studium ein Ende gefunden, als sei der lebhafte Fluss der frühen Jahre nun endlich eingemündet in einen ruhigen Strom der Gewissheit, Sicherheit, Zielgerichtetheit des Lebens. Das mag ein wenig der Altherren-Perspektive geschuldet sein, die hier – mitunter etwas zu betont – eingenommen wird. Es ist schwierig und bedarf eines hohen Maßes an Reflexion, in der autobiographischen Darstellung zwischen der Folgerichtigkeit des eigenen Lebensablaufs und dessen Bewertung zu unterscheiden, anders gesagt: In der Rückschau Entscheidungen der Vergangenheit als in dem Maße unsicher, offen, fehlerbehaftet, gar zufällig zu erleben oder darzustellen, welches sie damals tatsächlich oft prägte. Denn was am Ende gelungen erscheint, muss keineswegs richtig, alternativlos, befriedigend gewesen sein. Wer sein Leben darzustellen versucht, als sei es nicht auch ein stetes Orientieren und ausdauerndes Anschwimmen gegen eigene Fehler und Unsicherheiten gewesen, wird, so lehrt das Leben, meist schon nicht die eigenen Kinder, gewiss aber nicht den Rest der Welt überzeugen. Die schwierige Aufgabe wird noch komplizierter, wenn Reiz und Bestreben, das eigene Leben zu beschreiben, fast zwangsläufig in Widerspruch geraten mit 41 42
Hirsch, 130. Ausnahme Lampe, 309: Scheitern des Versuchs, Konzertpianist zu werden.
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der Anforderung, durch die Schilderung eines „Lebens in der Wissenschaft“ diese selbst zu erfassen. Manche der Autoren wollen oder können das hierfür erforderliche Maß an Selbstreflexion und Distanz nicht aufbringen; in den schwächeren Texten ist es wohl auch unterschätzt oder nicht verstanden worden. Zwischen dem ersten Semester und dem Abschluss der Promotion herrscht, von wunderbaren Ausnahmen abgesehen, eine autobiographisch gleichförmige Ödnis des Lernens und Durchdringens, die den Leser beim vergleichenden Blick aufs eigene Leben beunruhigen müsste, wüsste er nicht um die Regeln psychologischer Wahrscheinlichkeit und lebensweltlicher Plausibilität. Das Rechtsstudium erledigten die Verfasser durchweg überaus zügig; fast alle halten diese Tatsache für wichtig.43 Welche Botschaft man den Schilderungen der rasanten Studienabschlüsse entnehmen soll, wird freilich nicht ganz klar: Heutigen Studenten wird gern eine bildungs- und wissenschaftsferne Orientierung am Hauruck-Studium vorgehalten; zugleich aber auch eine der „Behaglichkeit“ (Arzt, 6) hingegebene, übermäßige Ausdehnung des Studiums. Zu empfehlen ist natürlich die im wirklichen Leben seltene Kombination: Extrem kurz, unübertrefflich intensiv, grandios erfolgreich. In den Autobiographien ist sie, was der durch die Karrieren belegten Positivauswahl zuzuschreiben sein dürfte, keine Ausnahme, sondern die Regel. Viele, aber nicht die Mehrzahl der Autoren wechselten mindestens einmal den Studienort; nur wenige verbrachten eine Zeit im Ausland.44 Einer wurde schon im zweiten (!) Semester ins Doktorandenseminar gebeten und erfand schon vor dem sechsten Fachsemester einen gleichrangig neben dem kausalen und dem finalen stehenden eigenen Handlungsbegriff (Maihofer, 393). Fast alle bewältigten in der Kürze der Studienzeit und während der Referendarausbildung45 beeindruckende Studien- und Lesepensen, gründeten Familien, arbeiteten als wissenschaftliche Mitarbeiter, fertigten Dissertationen und verschafften sich einen – im Rückblick – nahezu umfassenden Überblick über den Stand der Strafrechts-Wissenschaft.
43 Acht geben die Anzahl ihrer Fachsemester an (sechs oder sieben), fünf die Noten in den Staatsexamen, drei gar die Notenskala und die von ihnen errungene Platzziffer. Einzelnen Autoren genügt selbst dies zur hinreichenden Präsentation ihrer Leistungen nicht; sie betonen zusätzlich noch, wie schwierig gerade die von ihnen gut bestandenen Prüfungen waren (vgl. etwa S. 603). 44 Informativ und schön geschrieben: Arzt, 7 ff.; vgl. auch Eser, 81. 45 Ein Referendar beherrschte nach sechs Monaten alle Aufgaben des Amtsgerichts und versah während der restlichen Zeit „den größten Teil“ sämtlicher staatsanwaltschaftlicher Dienstgeschäfte für sechs Amtsgerichte zugleich (Tröndle, 603).
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e) Da es um „Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen“ geht, müsste spätestens hier erläutert werden, warum man ausgerechnet Strafrecht sich zum Beruf erwählte. Was war so wichtig, reizvoll oder erfüllend daran, sich jahrzehntelang mit dem Bestrafen von Menschen zu befassen, einem lebensweltlich eher düsteren Gebiet der Ausübung von Macht knapp vor der Grenze der gewalttätigen Willkür oder des Ausnahmezustands?46 Welches war das entscheidende eigene Motiv? „Ich will auch Professor werden“ ist gewiss ein rührender, allemal ein ehrenwerter Lebensplan. Er ist aber als solcher nicht wirklich interessant: Manche möchten dies, andere jenes werden; Geschichten des Gelingens von Beamtenlaufbahnen bewegen sich entschieden am unteren Ende der literarischen Erregungsskala. Die Forderung nach kritischer Selbst-Vergewisserung gilt für StrafrechtsDogmatiker noch mehr als für Vertreter empirischer Kriminalwissenschaften: Wonach will man forschen, wenn man sich entschließt, StrafrechtsWissenschaftler zu werden; was will man lehren, wenn die venia endlich erlangt ist? Ein ausdifferenziertes, letztlich das ganze Leben umspannendes „Arbeitsprogramm“, wie es Naucke skizziert (422 f.), kann gewiss nicht erwartet werden. Es ist aber für den Leser die Erkenntnis etwas enttäuschend, dass er, selbst nachdem die Habilitationen (19 von 21) geschafft sind, immer noch nicht erfahren hat, was „Strafrechts-Wissenschaft“ aus Sicht der Verfasser nun eigentlich ist und warum diese beschlossen haben, sie zu ihrem Beruf zu machen. War der Weg ins Strafrecht purer Zufall, berufstaktisches Kalkül, Suche nach Lebenssinn; oder gab es grundlegende inhaltliche Fragen und Anliegen an die Wissenschaft, auf welche man sich einließ? Überraschend viele Autoren halten dies im Dunkeln. Die meisten Straf-Richter antworten auf die Frage nach der eigenen Motivation, es reize sie am Strafrecht dessen Nähe zum (so genannten) „wirklichen Leben“. Das ist, betrachtet man zum Vergleich andere juristische und vor allem nichtjuristische Berufsbilder, allenfalls ein kleiner Teil der Wahrheit, überdies perspektivisch schon verzerrt durch die Spiegelungen des Rechts. Bei Strafrechtslehrern überwiegt, da der Zugriff auf das Lebensweltlich-Konkrete schon beinahe sprichwörtlich fehlt47, die Begründung mit einer angeblich besonderen „Nähe zum Grundsätzlichen“. Damit ist meist nicht ein Evidenzerlebnis sozialer Grenzerfahrungen gemeint, sondern die allgemeine Öffnung von hochgradig normativen Fragestellungen des Straf46
Informativ immerhin Arzt, 6 (Fn. 2): „Strafrecht hat mich als Student nicht mehr interessiert als andere Fächer.“ 47 Endlos ist die Reihe der Scherze über die „Lehrbuchkriminalität“ fernab angeblicher Wirklichkeit.
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rechts zur Philosophie und zur Staatslehre, zu denen die Grenzen bisweilen mehr zu verschwimmen scheinen als in anderen Rechtsgebieten. Die Begründungen des Sammelbands bleiben meist an der Oberfläche; in Autobiographien hätte man einen schärferen, selbstkritischeren, auch mutigeren Blick erwartet. Man müsste, wenn man Strafrecht als (eigenen) Beruf beschreibt, jedenfalls auch die persönliche Perspektive auf die Macht48 einbeziehen, gewiss in zweierlei Hinsicht: als Reflexion über die Bedingungen sozialer Regulierung und als Reflexion über den Anteil an der Gewalt, den man selbst erstrebt, und über die Gründe dafür.49 „Die Schuld ist immer zweifellos,“ erklärt der Offizier in Kafkas: „In der Strafkolonie“ dem Forschungsreisenden, und über den Text des Gesetzes, das sich des Körpers des Unterworfenen bemächtigt, sagt er: „Es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.“50 Hierzu müsste man, als StrafrechtsWissenschaftler, eine Meinung haben. Da wir sie von den meisten der Forschungsreisenden des Sammelbands in ihren Selbstdarstellungen nicht erfahren, bleibt der Gegenstand am Ende seltsam fern und fremd.51
4. Schüler, Lehrer, Professoren a) Was lern(t)en Strafrechtswissenschaftler von ihren Lehrern? In Selbstdarstellungen von Wissenschaftlern, die sich als Schüler von jemand verstehen und selbst Lehrer wurden, sollte das beantwortet werden, im Rückblick auf eigene Lehrtätigkeit auch die Frage, was man die eigenen Schüler lehrte oder zu lehren versuchte. Insoweit enttäuscht die „Strafrechtswissenschaft
48
In in dem ganz weiten, funktionalen Sinne Luhmanns: Macht und physische Gewalt (vgl. Luhmann, Macht, 2. Aufl, 1988, S. 60 ff.). Anders die Blickrichtung etwa bei Maiwald, „Recht und Macht, JZ 2003, 1073 ff., die keine soziologische, sondern eine rein normative ist. 49 Vgl. Puppe, Gespräch in einem Wartezimmer über die Macht und die Wissenschaft, Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 417, 424: „Galilei: Glaubt Ihr, die Astronomen des Vatikans hatten kein Fernrohr? (…) Für alles fanden sie eine Erklärung, indem sie das System immer noch komplizierter machten.“ 50 „Die Scharfrichter standen beisammen, und Damiens sagte ihnen, sie sollten nicht lästern, sie sollten ihre Arbeit tun, er sei ihnen nicht böse“ (Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1975/1989, S. 11). 51 Überhaupt ist erstaunlich, dass der Jurist Kafka in keiner der 21 Autobiographien erscheint, trotz der beschriebenen Neigungen zur Literatur: Nicht die Strafkolonie, nicht der Prozess, nicht das Schloss, nicht der Landarzt. Konnte man als junger Mensch über Schuld und Strafe, Gewalt und Stigma, Macht und Recht nachdenken, ohne hiervon beunruhigt zu sein?
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in Selbstdarstellungen“ meist:52 Die eigenen Lehrer sind „verehrt“, „hochverehrt“, „dankbar verehrt“ oder „bewundert“. Aber für was?53 Man erfährt viel Interessantes, auch Beeindruckendes, von Offenheit, fairem Umgang, nobler Haltung, von Kampfgeist, Optimismus54 und Bescheidenheit der früheren Lehrer-Generation.55 Die übrigen 60 Millionen Deutsche lernten aber (neue) Bescheidenheit vielleicht ebenso gut von Ludwig Erhard, Fairness von Uwe Seeler und Optimismus von Inge Meysel. Es muss mehr daran sein am Verhältnis der wissenschaftlichen Lehrer zu ihren sich erinnernden Schülern. Die Terminologie rückt die Beziehung der Schüler in die Nähe der Jüngerschaft: Als blicke der junge Mönch auf den alten Meister.56 Dann ginge es vielleicht um eine Haltung, um die Erfahrung des Kreislaufs der Dinge, um den Gleichmut aus langer Betrachtung der Welt. Dies alles aber hat mit Wissenschaft nur am Rande zu tun; ihre „Selbstdarstellung“ kann es nicht sein. Freilich wird oft eindrücklich davon berichtet, wie sehr bestimmte Arbeitshaltungen und Argumentationsstile der Lehrer – die überwiegend zugleich auch Arbeitgeber, Vorgesetzte, Prüfer waren, also über die Lebenschancen der Schüler noch in deren fortgeschrittenem Erwachsenenalter umfassend bestimmten – eigene Einstellungen und Arbeitsweisen beeinflusst haben (vgl. z. B. Weber, 647 f.).
52
Anders etwa Ulrich Weber (647 f.). Lüderssen berichtet, er sei enttäuscht gewesen über den Hinweis Coings in einem (positiven) Gutachten: „Herr L. (…) ist nicht mein Schüler.“ Im Übrigen ist das Verhältnis zu den Lehrern aber nicht ohne Ambivalenz. Geringeres als seine Meister meint wohl keiner der Autoren geleistet zu haben. 54 Schön ist die Schilderung, mit der Ulrich Weber (647) den Tatendrang Jürgen Baumanns beschreibt. 55 Selbst von ehedem fanatischen Nationalsozialisten konnte man 1953 wieder „viel für die wissenschaftliche Arbeit“ lernen (Hirsch, 133, über den ehemaligen Kieler [1935]) und Berliner [1938]) Zivilrechtsprofessor Wolfgang Siebert [1905–1959]), HJ-Bannführer, NSDAPMitglied seit 1933, stellvertretender Leiter des Jugendrechtsausschusses in der Akademie für Deutsches Recht, ab 1953 wieder ordentlicher Professor in Göttingen und Heidelberg [vgl. zu diesem Haferkamp in Neue Deutsche Biographie [NDB], Bd. 24, 2010, S. 325]). Es wird berichtet, Siebert habe sich 1935 bei der Tagung der „Reichsfachgruppe Hochschullehrer im Bund Nationalsozialistischer deutscher Juristen“ dafür eingesetzt, den Gesetzes-Begriff „Mensch“ durch einen völkisch bestimmten Begriff zu ersetzen, da er die Unterschiede zwischen Volksgenossen und Juden verschleiere (vgl. die Nachw. im wikipedia-Artikel „Wolfgang Siebert“). 56 Hier also, was viel komplizierter ist: ein alter Meister auf sich selbst als jungen Mönch, der auf einen alten Meister blickt. Da können Traum und Wirklichkeit gelegentlich zum Kitsch verschwimmen. 53
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b) Den meisten Autoren haben die Betreuer ihrer Dissertationen und namentlich auch ihrer Habilitationsschriften „freie Hand“ gelassen57; nur wenige berichten, zunächst unzureichende Bemühungen seien von ihren Lehrern zurückgewiesen, korrigiert oder verbessert worden (vgl. etwa Burgstaller, 47 f.; Lampe, 309 f.). Eine bemerkenswerte Darstellung findet sich bei Hirsch: „Gespräche über Probleme, bei denen man zeitweilig festsaß, gab es grundsätzlich nicht. Welzel war ein sehr strenger Lehrer (…) Wenn er irgendetwas benötigte, rief er mich an, ob am Wochenende oder früh am Morgen (…) Rückblickend bin ich ihm für die harte Schule aber dankbar.“58 Was genau man in einer Schule solcher Art lernen muss, um zu bestehen, bleibt unerörtert und – nicht allein hier – unklar. Sollten es, wofür es immerhin Hinweise gibt, vor allem auch Unterordnung, Dienstleitung, Ergebenheit sein, so wären dies keine günstigen Bedingungen für den wissenschaftlichen Beruf, und es bestünde wohl die Gefahr, dass hierdurch gerade solche Persönlichkeiten gefördert würden, die ein problematisches Verhältnis zu Autorität, Selbstkritik, Empathie und Selbstwertgefühl haben. Eigenständige, souveräne wissenschaftliche Karrieren würden dann nicht wegen, sondern trotz einer solchen „Schule“ errungen. Man hat als Leser gelegentlich den Verdacht, als stehe einem offeneren Umgang mit solcher Ambivalenz eine Furcht entgegen, am Ende die in schmerzlichem Bemühen erkämpften eigenen Ansprüche auf entsprechende Beflissenheit der wiederum Nachfolgenden zu verlieren. Hieraus entsteht die Gefahr, dass sich ein filigranes Oberflächen-System fortpflanzt, dessen innere Pracht und Zwangsläufigkeit in Widerspruch steht zum unbefangenen äußeren Blick auf des Kaisers Kleider. Da die mangelnde Substanz der tragenden Pfeiler eines solchen Systems den Eingeweihten bekannt ist, haftet seiner sprachlosen Fortführung freilich stets auch ein selbstquälerisches Moment an, da die Freude am Erfolg auf Dauer vergällt bleibt von der Furcht vor dem Versagen. Führungskräfte in der Wirtschaft und Berufspolitiker kennen diese Probleme heute oft und versuchen ihnen mit Supervision und Coaching entgegen zu wirken. In der Rechtswissenschaft wie in der Justiz springt man über solche Schatten nur schwer. Aus den vielfach interessanten Schilderungen der Berufslaufbahnen als Hochschullehrer ergibt sich – auch hier – das verwirrende Bild, dass die „Schüler“ allesamt im selben Moment, da sie terminologisch als solche hervortreten, ihrerseits als Meister sich entpuppen, die allenfalls noch der kollegialen Anregung, gewiss aber nicht mehr der Lehre oder Ausbildung 57 58
Manche waren wohl auch schlicht desinteressiert (vgl. etwa Kaiser, 220). Hirsch, 137.
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bedürfen. Dies gilt namentlich auch deshalb, weil schon die Meisterstücke, deren Annahme den Eintritt in den terminologischen Status des „Schülers“ ernstlich erst erlaubt, also die Habilitationsschriften, ihrerseits – zumindest im Selbstverständnis der Autoren – gleichrangig neben die Meisterwerke der Lehrer traten und am Ende gar sich noch über diese erhoben. „Lernen“ findet, nach aller Erfahrung, vor einer Zeit statt, in der solches gelingt. Es kann freilich auch kaum in der Korrektur von Übungsklausuren, dem Abhalten von Klausurübungen für Anfangssemester oder dem Korrekturlesen (oder Fußnoten-Schreiben) der Werke des jeweiligen Meisters als Assistent bestanden haben. Manche fuhren in der Welt umher, sprachen aufmerksam mit den Menschen und betrachteten die Unterschiede des Lebens und der Rechtskulturen. Manche häuften große Bildungsmassen auf, so dass sich ihre Autobiographie liest wie der kommentierte Katalog der Bibliothek eines studium generale furiosum. Manche gingen in sich und gelangten im Zentrum der Konzentration über sich selbst und die anderen hinaus. Und manchen gelang all dies zugleich. Das Sammelwerk bietet schöne Beispiele für jede dieser Gruppen. Sie alle verdienen Respekt, selbst wenn in Einzelfällen das Licht der Erinnerung vielleicht ein wenig zu rosafarben strahlen mag. Die Wissenschaft aber – und hierauf kommt es an – erklärt all dies nicht; aus der „Selbstdarstellung“ der Protagonisten erschließt sich ihre Darstellung nicht. Man würde nicht auf die Idee kommen, Augenheilkunde, Festkörperphysik oder Archäologie so darzustellen.
c) Der Bereich der Lehre tritt in vielen Beiträgen zurück (anders etwa Roxin, 468 ff.). Gemeint ist, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, nicht das Generieren von „Schülern“ im oben genannten Sinn, sondern die Ausbildung von Rechtsstudenten an der Universität. Dies wird meist59 nur äußerlich, als Ablauf von Lehrveranstaltungen beschrieben. Die Ansicht, früher seien zwar nicht die Lehrer, wohl aber die Schüler (also man selbst) irgendwie besser gewesen (fleißiger, begabter, ernsthafter, gebildeter, berufener), ist in allen Altersgruppen der Autoren vertreten. Da fast jeder Richter bei der Selbstbetrachtung denkt, er kenne eigentlich keinen, der zu ähnlich souveräner Verhandlungsführung fähig sei wie er selbst, und beinahe jeder Strafverteidiger, die Verbindung von sozialer Kompetenz und fachlichem Wissen sei gerade bei ihm optimal gelungen, überrascht es
59
Hervorstechende Ausnahmen etwa: Lüderssen, 366 f.; auch Roxin, 468 f.
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nicht, dass sich auch unter Hochschullehrern selten einer findet, der die eigenen pädagogischen Fähigkeiten gering schätzt.60 Meist nicht thematisiert wird, dass die Auflösung der Einheit von Forschung und Lehre, welche die Autoren, so oder so, beinahe durchweg schildern, im Grunde auch einen Anfang vom Ende der Rechts-Wissenschaft spiegeln könnte, wie sie sich hier selbst versteht61: Dass die Mehrzahl der Rechts-Studenten eine Wissenschaft erlerne, lässt sich auch mit gutem Willen nicht behaupten. Es ist, wie man gesprächsweise erfährt, auch für Hochschullehrer immer weniger erkennbar, welche Art von Wissenschaft es noch sein sollte, die in einem engen Tunnel von Klausurübungen, Präsentationen, Repetitorien, Skripten, Kurzanleitungen und deren Evaluationen die Masse von Jurastudenten binnen neun oder zehn Semestern der Examensreife entgegen schleust.62 60 Die Bezeichnung als „begnadeter Lehrer“ mag Festschrift-typisch sein, trifft auf einige der Autoren gewiss zu, sollte aber gelegentlich kritischer gebraucht werden: Da der Stand dieser Gnade sich (per definitionem) ohne jede Ausbildung, allein durch Anlage und Wollen einstellt, ist es unwahrscheinlich, dass ihn bis zur Emeritierung jeder erreicht. 61 Zur programmatischen Bedeutung dieser Einheit für den Begriff von Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Kiesow JZ 2010, 585, 587. 62 In der Festschrift für Rainer Hamm, 2008, hatte der Verf. bemerkt: Für die Rechtspraxis seien Lehrbücher des Strafrechts von geringer Bedeutung: Schon Studenten bevorzugten eher ‚Skripten’, und Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger läsen Lehrbücher nicht, „weil sie – angeblich oder tatsächlich – keine Zeit haben“ (S. 63, 66). Dies sei, so zürnte vom Berge herab der Strafrechtslehrer Kristian Kühl, „die haltlose und anmaßende Polemik eines Kommentators aus der Praxis“ (Kühl, Festschrift für Volker Krey, 2010, S. 269, 273), und die Ansicht, die Strafrechtswissenschaft müsse sich der Erkenntnis stellen, dass erhebliche Teile ihrer Dogmatik außerhalb ihrer Binnenstruktur „als überflüssiges spectaculum gelten“ (Fischer, a.a.O, S. 81), sei gar „noch (!) anmaßender“ (a.a.O., S. 274, Fn. 6). Es erstaunt, dass Kühl seinen Ausfall in die Komparation ausgerechnet in der Festschrift für Krey platzierte: Der dort Geehrte hatte sich nämlich kurz zuvor unter dem Titel „Die Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel“ ganz ähnlich wie der „Kommentator“ geäußert (Krey/Nuys, Festschrift für Knut Amelung 2009, S. 203): Strafrechtsdogmatiker neigten zu „selbstzweckhafter, eitler Beschäftigung mit Begriffen ohne Wirklichkeitsbezug.“ Beipielhaft sei die Theorie des „Täters hinter dem Täter“: „Ob die Überflüssigkeit jenes Kunstprodukts irgendeinen Einfluss auf seine Preisgabe hat, ist angesichts der Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel fraglich“ (ebd., S. 223).– Vermutlich sind aber die „Kommentatoren aus der Praxis“ das eigentliche Ziel des Kühlschen Unmuts: Sie werden auch dort denunziert, wo die merkwürdige Bezeichnung sachlichen Sinn suggeriert: Für strafrechtliche Kommentierungen stehe, so schreibt der Gelehrte, heute „ein Arsenal von Strafrechtspraktikern – anscheinend beruflich unausgelastet – bereit“ (aaO, S. 278). Andernorts sinniert er: „Die Eigenschaft als ‚Kommentator’ enthält nicht mehr automatisch ein Qualitätssiegel“ (Festschrift für Günter Jakobs, 2007, S. 293), und stellt gar die drängende „Frage, ob die Qualität der Festschriftenbeiträge gehalten werden kann.“– Während man noch überlegt, auf welches Niveau die Kritik noch sinken mag, findet man aber, dass der Kritiker auch vor dem selbstquälerischsten Verdacht nicht zurückschreckt: „Es könnte sich herausstellen, dass Festschriften… weitgehend im Kollegenkreis zirkulieren“ (Kühl, Festschrift für Karl Heinz Gössel, 2002, S. 191).
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Das böseste aller Gleichnisse über die juristische Ausbildung findet sich in einer Skizze von Klaus Eschen63: Die Juristenausbildung gleiche der Dressur von Flöhen - Man sperrt die Tiere in eine Schachtel und legt einen Glasdeckel darauf. Wenn die Flöhe zu springen versuchen, stoßen sie an den Deckel. Im Laufe der Zeit lernen sie, auch bei geöffnetem Deckel weniger hoch zu springen. Man wiederholt den Vorgang mit immer niedrigeren Deckeln so lange, bis die Flöhe nur noch kriechen: „Wenn sie gelernt haben, sich nur noch kriechend fortzubewegen, ist ihre Ausbildung für den Flohzirkus abgeschlossen. Bezogen auf die Juristen ist dies etwa der Zeitpunkt des Assessorexamens.“ 64 Man muss das nicht derart deprimiert sehen, um der Ansicht zu sein, dass der weitaus größte Teil des Rechtsstudiums jedenfalls nicht darin besteht, als wissenschaftlich zu bezeichnende Methoden zur Lösung von Problemen, zum Entwickeln und Überprüfen von Hypothesen zu erlernen oder solche Methoden selbständig anzuwenden: Was als „Methodik der Falllösung“ gelehrt wird, kann Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gewiss nicht erheben. Die Methoden der Auslegung von juristischen Texten, welche Juristen, wenn man sie später nach dem „Wissenschafts“-Gehalt Ihrer Ausbildung befragt, fast regelmäßig als einziges Stichwort nennen (können), beschränken sich meist auf ein recht oberflächlich-schematisches Abarbeiten von „Wortlaut, Sinn und Zweck“.65 Gelehrt wird eine „Kunst der Auslegung“, mit Hilfe derer den begrifflichen Systemen am Ende entlockt wird, was am Anfang in sie hinein gegeben wurde. Wissenschaft findet statt in Veranstaltungen zu Grundlagen- oder Nebenfächern: Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie66 – also Fächern, deren Lehrveranstaltungen kaum jemand besucht, deren „Examensrelevanz“ gegen Null tendiert und deren 63 Einem sog. „linken Anwalt“, Sohn des jüdischen Berliner Fotografen Fritz Eschen, 1969 Mitbegründer des „Sozialistischen Anwaltkollektivs“, später nach Schwierigkeiten als Notar zugelassen, 1992 bis 2000 Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. 64 Eschen, Vor den Schranken, in: Kursbuch Nr. 40 (1975), S. 103, 104. 65 „Auslegung“ wird nicht als Sprach-Wissenschaft verstanden oder gelehrt; Germanistik oder Linguistik gelten nicht als erforderliche Grundlagenfächer. Im äußersten argumentativen Notfall wird Grimms Wörterbuch herbeigeholt. 66 Sie ist im Sammelband, wie in der Strafrechtswissenschaft überhaupt, in besonderen individuellen Interessen und Mehrfach-Qualifikationen verstärkt vertreten. Aus laienhafter Perspektive hat man aber gelegentlich der Eindruck, es werde in der – jedenfalls die Studenten gelehrten – (Straf)Rechtsphilosophie doch meist mit Wasser und auch immer wieder dasselbe gekocht. Von den Diskussionen der Spezialisten scheint die rechtswissenschaftliche Rechtsphilosophie relativ weit entfernt. Das ist freilich streitig (vgl. dazu etwa Roxin, FS für Wilfried Küper [2007]; S. 489 ff.; Zaczyk, FS für Manfred Maiwald [2010], S. 885 ff.), und Ausnahmen gibt es wie überall (beispielhaft, und ohne Hervorhebung im Einzelnen: vgl. etwa die unter „Grundlagen“ zusammengefassten Beiträge in Herzog/Neumann [Hrsg.], Festschrift für Wilfried Hassemer, 2010).
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„Erledigung“ in den Anfangssemestern dringend empfohlen wird; der Rest des „fortgeschrittenen“ Studiums ist dann der „Examensrelevanz“ und der Einübung der Falllösung gewidmet.67 Schwierig am Rechtsstudium ist nicht eigentlich das in Klausuren und Examen geprüfte Auswendiglernen der Merkmale einer Urkunde oder der „Theorien“ zu ihrer Begründung68, sondern das intuitive Erlernen jener unnachahmlichen Mischung aus „Gesetzestreue, Rechtspolitik, eigener und fremder Erfahrung, persönlicher Meinung, Natur der Sache, traditionellen Begründungen, Sprache und Dezisionismus“69, welche den altklugen Studenten des zweiten Semesters noch als zu groß geratene Verkleidung um die Schultern schlottert und den frischgebackenen Assessoren später als ihr wahres Selbst erscheint. Wissenschaftler fragen, wie die Welt ist; Juristen, ob sie so sein dürfe. Gelehrt wird juristische Dogmatik; das Jurastudium ist daher, wenn es gut geht, eine Ausbildung in Rechtskunde und Rechtsanwendungstechnik, also eine Kunstlehre.70 Nur vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die meisten der im Sammelband vertretenen Strafrechtslehrer sich mit dem Verhältnis ihrer Wissenschaft zu den Ergebnissen ihrer Lehre kaum aufhalten, obgleich es aus der Sicht von Wissenschaftlern Anlass zur Sorge geben müsste. Strafrechtslehrer hören dies natürlich nicht gern; es ist aber keine Herablassung damit verbunden festzustellen: Die Vorlesungen zum AT ziehen an der großen Mehrzahl der Studenten des ersten und zweiten Semesters regelmäßig – und: notwendig – vorüber wie Nachrichten aus einer fremden Welt; hieran vermag fast nichts zu ändern, ob der Professor begna-
67 Der Verf. erinnert sich an ein „Grundlagenseminar zur deutschen Rechtsgeschichte“, welches er im 1. Fachsemester (1980/81) bei Friedrich Merzbacher in Würzburg absolvierte. Jeder der etwa 250 Teilnehmer hatte ein Referat von maximal 10 Schreibmaschinenseiten Länge anzufertigen und – in alphabetischer Reihenfolge bis zur Erschöpfung des Semesters – auszugsweise vorzutragen, wobei die maximale Redezeit jeweils 8 Minuten betrug; es gab keine Fragen und keine Diskussion. Alle Teilnehmer bestanden erfreulicherweise mit sehr guten Noten. Damit war die Ausbildung in den wissenschaftlichen Grundlagenfächern erledigt. 68 Anforderungsniveau und Lernpensen des Studiums von Informatikern, Medizinern oder Diplomingenieuren gehen über die Anforderungen des Jurastudiums in der Regel deutlich hinaus. Die Selbstgewissheit von Juristen bereits im Ausbildungsstadium rührt überwiegend wohl weniger aus einem wissenschaftlichen Verständnis der Welt als aus der Freude über den (zunächst unverbindlichen) Erwerb von Herrschaftswissen. Denn ab dem zweiten Semester kennt man die Antworten auf zentrale Lebensfragen: Was kann K von V verlangen?, und: Wie ist T zu bestrafen? 69 Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972, S. 46 (hier zit. nach Lüderssen, 353). 70 Kiesow, JZ 2010, S. 585. 591: „Juristische Dogmatik ist eine an der Universität gelehrte Fachlehre, die kunstvoll betrieben werden kann, so wie kunstvoll gemauert, gebacken und getanzt werden kann.“ Treffenderes Beispiel wäre vielleicht: Gehirn-Chirurgie.
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det oder kurzweilig ist.71 Eine der aus dem 19. Jahrhundert stammenden deduktiven System-Idee geschuldete, substanziell merkwürdige Vorstellung der Strafrechtsdogmatik ist, dass man das Allerwichtigste am Strafrecht, nämlich die extrem verästelten, komplizierten „Allgemeinen Lehren“, im „Grundkurs I“, also ganz zu Beginn des Studiums lehren und lernen müsse. Sie wirft ein trübes Licht auf den Wissenschafts-Charakter des Fachs; Ähnliches dürfte nur dort vorkommen, wo es um Glaubens-Inhalte geht. Drei Vierteln der Strafrechtsstudenten des zehnten Semesters ist der Begriff der „Rechtsgutstheorie“ – immerhin einer der wichtigsten72 Versuche theoretischer Legitimation strafrechtlicher Gewalt – kaum mehr als eine vage Erinnerung; und die ihnen im mündlichen Examen mit Glück zu entlockende Behauptung, jene Theorie sei – wie alle anderen auch – „umstritten“, führt für sie keineswegs zur Beunruhigung über Gründe, Anlass, Legitimität oder Effekte des Strafens, wie es ja auch offenkundig ihre Chance nicht gefährdet, alsbald Richter oder Staatsanwalt zu werden. 73
71 Vgl. auch Arzt, 6 (Fn. 2): „Den AT bei Schmidhäuser habe ich als seltsam realistätsfremd in Erinnerung. Horst Schröder hat den BT schnell vorgetragen. Seine Fallbesprechungen waren eine Klasse für sich, wenn es darum ging, uns mit einem kräftigen Schuss Ironie unsere Fehler um die Ohren zu schlagen“ (Hervorh. v. Verf.). 72 Und sei es auch nur in seinem Anspruch an die „Vereinigungstheorien“, endlich einmal praktisch kritische Kraft zu zeigen. Eine Ablösung des „Rechtsgutsdogmas“ durch einen frei (!) begründeten Begriff der Verhältnismäßigkeit (vermutlich: eines Verhältnisses von Belastungen und Sicherheiten) dürfte diesen Anspruch jedenfalls nicht erfüllen. 73 Fezer (HRRS 2010, S. 281, 283) meint, während die Rechtsprechung (namentlich der BGH) Gegenmeinungen „verschweige“ und inhaltlich-argumentative Substanz ganz vermissen lasse, werde den Rechtsstudenten „beigebracht, dass und wie sie eine umstrittene Rechtsfrage methodisch behandeln müssen“. Dies habe der Verf. „ins Lächerliche gezogen“ (indem er in der Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 63, 66 in einer Fußnote die schaurige universitäre Angewohnheit erwähnte, jeden Lösungsvorschlag für ein Rechtsproblem zu einer angeblichen „Theorie“ aufzublasen, was den Studenten Anlass nicht zum kritischen Denken, sondern zur unkritischen Reproduktion gebe). Solche Empörung zeigt, wie voreingenommen selbst vorsichtige Kritik zur Kenntnis genommen und bewertet wird: Kritische Anmerkungen der vorgeblichen „Gegenseite“, werden als kenntnislose Einmischung abgetan; dieselbe Kritik von (anerkannten) Mitgliedern des eigenen „Lagers“ als luzide Weitsichtigkeit beklatscht. So lange die gern geforderte „Kritikfähigkeit“ stets nur die jeweils andere, nicht aber die eigene Position betrifft, ist sie wenig wert.– Zur zitierten Anmerkung: Der kritische Hinweis auf die Angewohnheit, jeden Lösungsvorschlag zur „Theorie“ zur erklären, findet sich ebenso bei Roxin; und als Sachverständige für das durchschnittliche Niveau der Lehr-Ergebnisse mag, als Beispiel unter vielen, die Strafrechtslehrerin Ingeborg Puppe zitiert werden, die unter dem Beifall der versammelten deutschen Strafrechtslehrer die Lage der Ausbildung beschrieb: „Die Erfahrung aus Prüfungen, Übungen und Seminaren (lehrt), dass die Studenten kaum die Fähigkeit erlernen, sich gewissenhaft und redlich mit Gegenpositionen auseinanderzusetzen“ (zit. bei Gropengießer, in: Eser/Hassemer/Burkhardt [Hrsg.], Die Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 228). Vgl. auch unten Fn. 102.
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d) Erwähnt werden muss das Kapitel „1968“, die im Sammelband meist als „Studentenunruhen“ apostrophierte Phase institutioneller Modernisierung, Ausweitung sozialer Mobilität, kultureller Öffnung – kurz: einer schmerzhaften, 20 Jahre verspäteten Frage nach den Legitimationsgrundlagen der Bundesrepublik und einer Anpassung der aus den 30er Jahren stammenden sozialen Verkehrsformen an die Erfordernisse der modernen (Produktions)Welt, paradigmatisch zugespitzt in der Lebenswelt der bürgerlichen Jugend in Oberschulen und Universitäten; konkret auch verbunden mit moralischem Rigorismus74, pubertärer Bedeutungsschwere, ideologieanfälligem Extremismus. Die Autoren des Sammelbands gehören der „68er“-Generation nicht an und können aus deren Innensicht nichts berichten; keiner fühlte sich ihr inhaltlich nahe. Zwei oder drei äußern vorsichtige (anfängliche) Sympathie, zumindest Verständnis für die Anliegen der Bewegung (Lüderssen, 365; Naucke, 430; Stratenwerth, 560). Die Hälfte der übrigen erwähnt sie als für die eigene Biographie bedeutungsloses Vorkommnis; manche schildern ihre Abneigung gegen undemokratische Formen des Protests und Gewalt gegen Minderheiten. In auffälligem Widerspruch zum Bemühen der Marginalisierung steht, dass nicht wenigen Schilderungen, erstaunlicherweise, noch nach 40 Jahren die persönliche Beleidigtheit des Autors über Sprechchöre, Vorlesungsblockaden und allfällige „Entlarvungs“-Parolen anzuhören ist75. Dies zeigt zum einen wohl, wie tief der Schock wirkte und wie schmerzlich die Fragen empfunden wurden, die jene Provokationen für die eigene Selbstvergewisserung aufwarfen. Die fast demonstrativ wirkende Verschiebung ins Belanglose offenbart zum anderen ein etwas unangenehm anmutendes Bemühen, selbst im Rückblick über Jahrzehnte keine Zweifel an der Bedeutung des eigenen Tuns zuzulassen: Nachdrücklich wird betont, dass nicht etwa die 68er „Vorkommnisse“ zur Modernisierung des Strafrechts geführt oder beigetragen haben; vielmehr war es, nicht ganz selten, gerade jene Schrift, an welcher der jeweilige Autor mitwirkte. Wer die Strafrechtsreformen der vergangenen 45 Jahre – durchaus zu Recht – zumindest teilweise auch als eigenes Werk darstellen möchte, von der „68er“-Bewegung 74
Die Moral derjenigen, die am Schweigen und Lügen der Älteren über die deutschen Völkermordverbrechen und an den Gräueln des Vietnamkriegs verzweifelten, wird freilich nicht schon dadurch rückwirkend lächerlich, dass einige von ihnen wenig später den großen Führer Enver Hoxha verehrten und ein paar Versprengte gar meinten, der Faschismus sei nach Deutschland zurückgekehrt. 75 Besonders nachdrücklich Hirsch (140 f.), dem in der Gestalt eines langhaarigen nichthabilitierten Rektors mit rotem Hemd und Sandalen, der Lehrveranstaltungen „über Physik und Marxismus“ gehalten haben soll, der Untergang des Abendlands leibhaftig begegnete.
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jedoch nur mitteilt, sie sei „nach zwei Semestern abgeflaut“, nachdem (oder weil) sich die juristische Fakultät als Bollwerk bewährt habe, überschätzt sich, mindert hierdurch die eigene Überzeugungskraft und hat manches schlicht nicht verstanden.76 Ernsthafter ist Folgendes: Die sich im Sammelband darstellende Generation von Strafrechtslehrern war, von der Nachkriegszeit über die 50er- bis in die frühen 60er Jahre, als damals aufstrebende Hochschullehrergeneration unmittelbar mit der Unwilligkeit und Unfähigkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft konfrontiert, die Verbrechen der NS-Diktatur überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn „aufzuarbeiten“. Die Generation ihrer Lehrer war zu einem nicht geringen Teil – sei es als Scharfmacher und Täter, sei es als Mitläufer, sei es als schweigende Wegseher – mehr oder weniger in die Schuld der NS-Herrschaft verstrickt. Nachdem die naturrechtlichen Aufwallungen verklungen und kurze Schamfristen des Schweigens abgelaufen waren, kehrten nicht wenige Helden des totalitären Präventionsstrafrechts an die Universitäten zurück, nunmehr in der von ihnen zuvor verhöhnten Gestalt von „strengen Dogmatikern“ und Konstrukteuren strafrechtlicher Begriffspyramiden; schon wieder „begnadete Lehrer“.77 Es darf, wenn von den Errungenschaften und Verdiensten der nachfolgenden, 76
Der am 6. Juli 2010 an der Parkinson-Krankheit verstorbene so genannte „ExKommunarde“ und spätere Straftäter Fritz Teufel erklärte zu dem damals von der Presse in die Nähe des Kennedy-Mordes emporphantasierten geplanten „Pudding-Attentat“ auf den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey vom 2. April 1967 (Planung, „Bomben“ aus Mehl und Puddingpulver auf Humphrey zu werfen): „Wir wollten den Amivize Hamfrie mit Napalm beschmeißen, weil die Amis Vietnam mit Pudding bombardierten.“ Die auf den Korrekturreflex abzielende enthüllende Qualität dieses Satzes war gewiss nicht schlechter als die eines der klassischen Zitate Karl Valentins. Sie wird nicht dadurch schlechter, dass Teufel später ein Straftäter und wegen Bankraubs verurteilt wurde. Zu seinem Tod hat Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Juli 2010 geschrieben: „Die deutsche Justiz hat sich von diesem Mann zum Glück nie wieder erholt.“ Was damit positiv gemeint ist, bleibt leider außerhalb des autobiographischen Rückblicks der Strafrechtswissenschaftler. – Die SZ selbst lieferte ein abschließendes schönes Stück, das Teufel gefreut hätte: Die 1968-Sachverständige Constanze von Bullion schrieb dort, Teufel sei Mitte der 60er Jahre aus der schwäbischen Provinz in die große Stadt Berlin gezogen, um dort kommunistischer Schriftsteller zu werden (SZ vom 16. 07. 2010). Tatsächlich hatte er vor dem Landgericht Berlin einmal zu Protokoll gegeben, er habe humoristischer Schriftsteller werden wollen. 77 Joachim Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, S. 28 ff., unterscheidet zwischen „dem Nationalsozialismus nicht besonders nahe stehenden“ Strafrechtslehrern (zu denen er auch Eduard Kern, Eduard Kohlrausch und Hans Welzel zählt), die ohne wesentliche Unterbrechung im Amt blieben, dezidierten NS-Anhängern (Hans-Jürgen Bruns, Georg Dahm, Heinrich Henkel, Edmund Mezger, Friedrich Schaffstein, Erich Schwinge), die fast durchweg nach einiger Zeit wieder berufen wurden, und (sehr wenigen) NS-Anhängern, denen dies nicht gelang (Johannes Nagler, Karls Siegert); er kommt zu dem beschämenden Ergebnis: „Für die Strafrechtswissenschaft ist nach 1945 eine überwältigende personelle Kontinuität zu konstatieren“ (ebd. S. 28).
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hier nun zurückblickenden Generation von Rechtslehrern die Rede ist, wohl auch nach dem Maß an Interesse, Mut, Rückgrat und Aufrichtigkeit gefragt werden, mit denen diese sich nach 1950 mit der Strafrechtswissenschaft vor 1945 wissenschaftlich und persönlich auseinandersetzte, deren Vertreter sie promovierten und habilitierten. Sie hatte dabei kein größeres Risiko zu tragen als das des Unmuts der Lehrer, des Abbruchs eines Habilitationsvorhabens, des Ausbleibens eines Rufes oder der Missstimmung in einer Fakultät. Die im Sammelband aufzufindenden (wenigen) Schilderungen sind insoweit von großer Zurückhaltung: Man erfährt fast nichts. Auch die den Biographien nachgestellten Verzeichnisse ausgewählter Schriften enthalten, mit Ausnahme der von Jescheck, Roxin und Spendel sowie Aufsätzen zur Verjährung von NS-Morden (Lüderssen, Schreiber), kaum Arbeiten zum Thema.78 Das berechtigt nicht zu pauschalen Urteilen und ist zur Überhebung kein Anlass; es mag im Gesamtüberblick aber doch einen allgemeinen Hinweis darauf geben, dass die kritische Rückschau auf Verantwortung und Entwicklung des eigenen Fachs am Beginn der Berufslaufbahnen der hier vertretenen Juristengeneration nicht zu den Schwerpunkten des Interesses zählte79: Viel wurde nicht gefragt in den 50er und frühen 60er Jahren, und die wieder aufgetauchten feinsinnigen älteren Herren in den Rechtsfakultäten, die freundliche Zweitgutachten schrieben und Neuauflagen ihrer vor 1933 erschienenen Bücher besorgten, ließ man höflich in Ruhe.80 78
Ich habe nicht nachgeprüft, ob dies einem Zufall der Auswahl oder der Tatsache geschuldet ist, dass es solche Veröffentlichungen nicht gibt. 79 Die erste (!) Strafrechtslehrertagung, die sich mit dem Thema befasste, war die Tagung 2003 in Passau. Vgl. dazu den Diskussionsbericht von Julius, ZStW 115 (2003), S. 671, 695 ff., zu den Referaten von Vogel (ZStW 115 [2003], S. 638) und Höpfel. 80 Vgl. aber etwa Jürgen Baumann, in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33), S. 132:„…Es gibt ein paar Kollegen, um die ich ostentativ herumgehe. Dazu gehören sehr bekannte Professoren, die zum Beispiel die Rechtsfähigkeit seinerzeit von der rassischen Zugehörigkeit abhängig gemacht haben (…) Ich mache einen Bogen um sie und gebe ihnen nicht die Hand (…) Als ich hierher kam nach Tübingen, wurde ich erstmal bekannt gemacht mit einem Schrank, der die Asservate enthielt. Die Asservate waren die Schriften, Bücher und Aufsätze derjenigen Leute, die sich hier in der Nazi-Zeit unmöglich verhalten hatten. Es ist doch kein einziger hinausgeschmissen worden. Nicht einer.“ Beispielhaft: Zur Karriere des Marburger Strafrechtslehrers Erich Schwinge vgl. etwa die bei Detlef Garbe, „In jedem Einzelfall … bis zur Todesstrafe“. Der Militärstrafrichter Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben, 1989, aufgeführten Quellen. Zu Bemühungen, die deutschen Strafrechtslehrer zu (dogmatischen oder rechtspolitischen) Aktivitäten hinsichtlich der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu motivieren, vgl. Just-Dahlmann/Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945, 1988, S. 160 ff., 191 ff. Zur versehentlichen Verjährung der Taten von als „Gehilfen“ angesehenen Tätern durch Novellierung des § 50 Abs. 2 a. F. StGB (§ 28 Abs. 2) vgl. etwa Greve, Amnestierung von NS-Gehilfen – eine Panne?, KJ 2000, 402 ff., m.w.N. Umfassende Nachweise zur Diskussion auch bei Joachim Vogel (oben Fn. 77), S. 28 ff.
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An der Universität, ganz oben bei den Erforschern der Gerechtigkeit, war es nicht anders als im übrigen Leben. Der Löwenmut nicht allein der Justiz, sondern auch der deutschen Strafrechtswissenschaft ist ersichtlich erst bei der Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur erwacht.81 Ein selbstkritischer Blick auch hierauf hätte den Leser der „Selbstdarstellungen“ gefreut und die wohlfeile Verachtung einiger Autoren für die „68er“-Anliegen zumindest im Rückblick vielleicht etwas mildern können.82
5. Wissenschaften a) Bei der Darstellung ihrer wissenschaftlichen Arbeit verfolgen die Autoren unterschiedliche Konzepte: Drei Autoren (Lampe, 311 ff.; Lüderssen, 363 ff.; vor allem Naucke, 423 ff.) legen ausdifferenzierte Konzepte der Forschung vor, sei es als retrospektive Übersicht über das Werk (Lampe), als Schilderung eines Erkenntnisverlaufs (Lüderssen) oder als antizipierter Arbeitsplan für das Professorenleben (Naucke). Eine nicht geringe Anzahl der Autoren beschränkt sich auf Aufzählungen von beruflichen Positionen, Projekten und für sie wichtigen Veröffentlichungen. Insoweit bietet der Sammelband wenig Anhaltspunkte für eine inhaltliche Bestimmung dessen, was als Strafrechtswissenschaft zu gelten hat. Die wohl größte Gruppe der Autoren wählt einen „mittleren“ Weg: Eine konzeptionelle Klärung wird nicht vorgenommen oder als bekannt vorausgesetzt; was genau der Inhalt eigener Forschung und Fragestellung war, bleibt oft im Ungewissen. Meist werden jedoch Stichworte genannt, welche eine Zuordnung zu bestimmten inhaltlichen Positionen erlauben. Kritische Resümees der eigenen Arbeit werden vereinzelt gezogen (vgl. neben Lampe, Lüderssen, Naucke vor allem Arzt, 24 ff.).
81 Dazu auch Dencker, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Lehren aus der Justizgeschichte der Bundesrepublik, KritV 1990, 299; Rogall, Bewältigung von Systemkriminalität, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), Festgabe Bundesgerichtshof, Bd. IV, 2000; S. 383 ff.; vgl. auch Roxin, in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33) 203, 210 f.: „An dem zweierlei Maß, da ist schon was dran (…) Es sind eben keine Verstrickten beteiligt bei der Behandlung der DDRKriminalität (…) Die glimpfliche Beurteilung dieser NS-Gewalttäter hängt ja auch ursächlich mit dem Kalten Krieg zusammen…Um Deutschland rasch wieder aufzurüsten, musste natürlich auf die vorhandenen alten Strukturen zurückgegriffen werden (…)“ 82 Im Angesicht welch vergleichsweise geringer Risiken (Verbeamtung) der Furor der „68er“ dahinging und zu welch bemerkenswerten autobiographischen Dichtungen dies führt(e), ist hier nicht zu behandeln.
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b) Soweit sich die Beschreibung der eigenen Berufstätigkeit auf die Beteiligung an Gesetzgebungs-Arbeiten bezieht, sei es als Mitarbeiter des E 1962, sei es als Beteiligter am AE 196683 oder an späteren Gesetzes-Projekten, handelt es sich wohl auch nach dem Selbstverständnis der meisten Autoren nicht eigentlich um „Wissenschaft“, auch wenn solche Aktivitäten teilweise unter dieser Überschrift abgehandelt werden (etwa Roxin, 455, 461). Praktische Kriminalpolitik ist keine Wissenschaft, auch wenn sie wissenschaftliche Erkenntnisse umsetzen mag, allgemeine Anforderungen an Systematik setzt oder deduktive Strukturen normativ formuliert. Erst Recht gilt das für die Tätigkeit von Ministerialbeamten bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen (vgl. 287 ff.). c) Allgemein auffallend ist, von den oben unter a) genannten Autoren abgesehen, das fast gänzliche Fehlen von Berichten über Fehlschläge oder Niederlagen vor den Anforderungen wissenschaftlicher Probleme. Zwar steht in autobiographischen Rückblicken regelmäßig nicht das Scheitern von Ambitionen im Vordergrund. In Wissenschaftler-Biographien wird man jedoch, wenn es in deren Wissenschaft mit rechten Dingen zugeht, unmöglich eine ununterbrochene Kette von gelungenen Entdeckungen und Erfolgen erwarten können. Kennzeichnend für den Gang wissenschaftlichen Fortschreitens sind gerade auch das Scheitern von Hypothesen, die Widerlegung durch Fachkollegen, das Lernen aus Fehlern, die methodische Strenge und Disziplin gegen sich selbst, das Veralten von Errungenem84; das gilt für Geisteswissenschaften nicht minder als für Fächer, die einem „härteren“, naturwissenschaftlicheren Wissenschaftsbild entsprechen. In der Mehrzahl der Selbstdarstellungen findet sich davon schlechterdings nichts: Von der Habilitation bis zur Emeritierung wird ohne Rückschlag eine Grenze nach der anderen überwunden, jede Herausforderung angenommen85, ein wissen83
Die Urheberschaft an der Idee des AE reklamiert Werner Maihofer für sich (Maihofer, 399; vgl. auch Roxin, 459); dagegen schreibt Ulrich Weber die „Initialzündung“ Jürgen Baumann zu (Weber, 647, Fn. 8). 84 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 10. Aufl. 1996, S. 15: „Die wissenschaftliche Arbeit ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts (…) Jeder von uns in der Wissenschaft weiß, dass das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja, das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft…“ 85 Erfreuliche Ausnahme etwa bei Stratenwerth (567): „Um internationale Kontakte habe ich mich nie bemüht. Das Bestreben, in zwei Fachgebieten … einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, erschien mir anspruchsvoll genug.“
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schaftlicher Erfolg nach dem anderen errungen (beeindruckende Ausnahme: Naucke; vgl. unten c) und stets Bleibendes geschaffen.86 Ein solches Resümee ist wissenschafts-immanent nur schwer erklärlich. Es könnte auf bloßer Selbstüberschätzung beruhen87; wahrscheinlicher ist aber, dass es sich aus dem Gegenstand der Tätigkeit ergibt. Wissenschaft ist, im allgemeinsten Ausdruck, eine methodische Suche nach Erkenntnis von Wahrheit. Der Begriff kann, auf welcher theoretischen Grundlage auch immer, hinter die Anforderungen der Rationalität nicht zurück genommen werden. Wissenschaft ist daher nicht ein Erahnen einer den Dingen und Verhältnissen der Welt innewohnenden materiellen Wahrheits-Qualität, sondern das Herstellen kommunikativer Einigung über Wirklichkeit. Wissenschaftliche Forschung ist eine systematische, nachvollziehbare, nach kommunikativen Standards und Regeln verlaufende Überprüfung von Hypothesen anhand methodischer Versuche der Falsifikation in der Wirklichkeit. Eine Wissenschaft vom Richtigen gibt es nicht; nur eine Wissenschaft von den Begriffen und der Geltung des Richtigen. Dies dürfte auch der Grund sein, warum die Systemtheorie so tiefe Verwirrung in der Rechtsdogmatik ausgelöst hat und ihr bis heute erscheint wie eine Ausgeburt manischen Irreseins: Eine mit mathematischer Gnadenlosigkeit operierende Abstrahierung von Normativierungsvorgängen, welche sich qua definitionem weigert, eigene Normativierungen vorzugeben, muss der Dogmatik schon im Ansatz fremd bleiben.88 So ist die schlimmste Verdammung, die ein Rechtsdogmatiker über die Systemtheorie aussprechen kann: Sie gelange nicht zu werthaltigen Urteilen, für diese pure Selbstverständlichkeit, da sie von Werten nicht mehr kennt als ein abstraktes Konstruktionsschema und einen Begriff, der sich seinerseits im selben Moment zur Kontingenz verflüchtigt, da sie seinen wirklichen Namen auszusprechen versucht. Und daher führt der Versuch, die Systemtheorie auf die wirklichen
86 Mit einer Selbstgewissheit, die bei Jüngeren wohl nicht mehr so ungebrochen formuliert würde, etwa Hirsch (131): „Ich begann das juristische Studium in Göttingen (…) Meine heutigen wissenschaftlichen Gegner werden die Entscheidung vielleicht bedauern; ich selbst habe sie nie bereut.“ 87 Vielleicht auch auf Furcht? Kristian Kühl schreibt über die kollegiale Kultur: „’Rückzieher’ macht niemand gern, auch wenn sie vom Publikum … beklatscht werden, denn im strafrechtlichen ‚Rechthaberbereich’ steckt hinter dem Beifall oft auch ein gutes Stück Häme“ (Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 289). Vom „Kampfsport“ berichtet auch Otto Lagodny (Rechtswissenschaft als „Kampfsport“, Festschrift für Volkmar Mehle, 2009, 339, 345): „Oft fehlt in unserer Wissenschaft eine kleine Spur der Demut im ursprünglichen Sinn, um die unfaire Seite zu verhindern oder wenigstens zu reduzieren.“ 88 Dazu auch: Lüderssen, „Systemtheorie“ und Wirtschaftsstrafrecht, Festschrift für Knut Amelung, 2009, S. 67 ff.
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Bedürfnisse des Rechtssystems „anzuwenden“, zu inhaltsleeren Abstraktionen oder zu inhaltsvollen Affirmationen von Macht.89
d) Einen besonderen Weg, auch in der Darstellung, gehen die Autobiographien von Lampe, Lüderssen und Naucke. Sie beschreiben aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln, die jeweils auf eigene Art faszinierend, spannend und aufschlussreich sind, Versuche, die Jurisprudenz als RechtsWissenschaft zu verstehen und Dogmatik entweder als Konsequenz wissenschaftlicher Forschung zu entwickeln oder an ihren Ergebnissen kritisch zu prüfen. Eine solche Sichtweise war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Minderheit und ist es geblieben: Dass „die Rechtssoziologie (…) die einzig mögliche Wissenschaft vom Recht (sei)“, hat Eugen Ehrlich 1913 geschrieben.90 Lampe (311 ff.) skizziert ein überaus ambitioniertes, in seiner Tiefe beeindruckendes wissenschaftliches Gesamtmodell der Forschung zur Entstehung eines als „geschichtlich“ verstandenen (Straf-)Rechts durch Integration biologischer (neurologischer), psychologischer, soziologischer und normativer Faktoren.91 Es kann dazu hier nicht adäquat Stellung genommen werden. Ganz oberflächlich mag man anmerken: Der Versuch, eine Hypothese der „Homologie zwischen biotischer und Rechtsevolution“ zu überprüfen (vgl. Lampe, 336 ff.), gleicht dem Unterfangen, den Gedächtnisinhalt eines menschlichen Gehirns mit den Mitteln aller betroffenen Wissenschaften zugleich gültig zu erforschen, um auf dieser Grundlage Vorhersagen über das zukünftige Erleben und Handeln des Individuums machen zu können. Das klingt wie science fiction und ist es auch: Eine solche Ambition ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – was nicht bedeutet, dass nicht der Weg das Ziel sein könnte, wenn ihm ein rationales Konzept der Integration von Faktizität und Normativität zugrunde liegt. Unvernünftig wäre etwa die Vorstellung, man müsse, um dies zu erreichen, alle Worte aller Sprachen dieser Welt miteinander und mit allen Bedeutungen zu einer Abbildung normativer Geltung verknüpfen und könne hieraus dann – normative – 89
Zutreffend der Hinweis von Hirsch, 147 f.; vgl. auch Naucke, 439 f. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, 3. Aufl. 1967, S. 198. Dezidiert anders etwa Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1 ff. 91 Beispielhaft hierfür erscheint mir auch der Abschnitt „Strafbegriff und Strafbegründung“ in: Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 21 ff. Zahlreiche, teils interessante Auseinandersetzungen dokumentiert die von Dieter Dölling herausgegebene Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, 2003, Teil I: Grundlagen des Rechts. 90
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Schlussfolgerungen mit hoher empirischer Richtigkeitsgewähr ableiten. Das ist Lampe selbstverständlich bekannt. Sein Ansatz ist gerade deshalb radikal, setzt aber eine hohe Enttäuschungsschwelle voraus. Eine „Neurologie des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes“ wird in menschlich absehbarer Zeit nicht geschrieben werden. Auch Lüderssen beschreibt ein sich über Jahrzehnte erstreckendes wissenschaftliches Bemühen um eine Integration empirischer und normativer Quellen (366 ff.), über einen soziologisch-psychoanalytischen Ansatz92 über rechtsphilosophische, literaturtheoretische, kriminologische Konzepte bis zu demokratie-theoretischen Begründungen neuer Zeit. Damit werden die notwendigen, ernsthaften, nicht allein auf Terminologie reduzierten Folgerungen daraus gezogen, dass sich Normen, erst recht: „richtige Normen“, aus Fakten schon deshalb nicht „ableiten“ lassen, weil deren Erkenntnis ihrerseits von Beginn an normativ geprägt ist.93 Die Erforschung des „Mischverhältnisses“ (Lüderssen, 372) ist der wissenschaftliche Kern der Strafrechtswissenschaft. Dogmatik muss sich hiervon nicht notwendig lösen, tut dies aber in bedauerlichem Maß. Eindrucksvoll schließlich ist auch die Beschreibung eines schon früh formulierten Erkenntnis- und Forschungsprogramms durch Naucke (415, 425 ff.), dessen Enttäuschung über das Nichterreichen mancher Ziele angesichts des weiten Umfangs, in welchem er zu substanziellen Präzisierungen der wissenschaftlichen Fragen gelangt ist, und angesichts seiner beispielhaft selbstkritischen Offenheit beinahe schmerzlich überrascht. Als einziger Autor des Sammelbands, hierauf mag hingewiesen sein, thematisiert Naucke auch die Probleme der spezifischen Materialisierung von Strafbegründungen seit den 70er Jahren des 20 Jahrhunderts, welche nach seiner Ansicht das Strafrecht zu einem „Teil des Präventionsbetriebs“ degradiert und einen (wissenschaftliche) Anspruch auf einen „wahren“ Begriff von Gerechtigkeit aufgegeben habe (Naucke, 439). e) Mit der Hervorhebung der genannten drei Autoren soll keine Herabsetzung der übrigen bewirkt sein. Eine Vielzahl von ihnen bietet Überblicke 92
Nicht der Strafrechts-Geltung, sondern des abweichenden Verhaltens. Auch die ausufernde Diskussion über die neuronalen Grenzen von Willensfreiheit und (strafrechtlicher) Verantwortung weist, neben anderen Schwächen (vgl. dazu auch Fischer StGB 58. Aufl. vor § 13 Rn. 9 ff. m. w. N.), eine Sichtweise typisch medizinischer Beschränkung auf individuelle Erkenntnisstrukturen auf. Es gibt aber entstehungsgeschichtlich kein „menschliches“ Denken oder Wollen ohne soziale Erkenntnisstrukturierung (vgl. dazu etwa Adolf Heschl, Darwins Traum. Die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2009, S. 190 ff.). 93
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über beeindruckende Lebenswerke. Es ist hier aber nicht der Ort, die dogmatischen oder wissenschafts-organisatorischen Leistungen der Autoren zusammenzufassen, zu vergleichen oder gar zu bewerten. Ohne Zweifel sind in der hier vertretenen Generation von Strafrechtslehrern bedeutende systematische und dogmatische Leistungen erbracht worden, von denen die Auswahl-Bibliographien Zeugnis ablegen. Als kriminal-politische Leistungen hervorzuheben sind namentlich die Reform des Sanktionen- und Vollzugssystems sowie die Ersetzung des alten „Sittlichkeits“-Konzepts durch eine rechtsgüterorientierte Strafverfolgung im Bereich der Sexualdelikte und der Störung der Öffentlichen Ordnung. Nicht alle im Sammelband Vertretenen haben diese Veränderungen seinerzeit begrüßt; manche waren eher ihren Gegnern zuzurechnen. Jeweils auf ihre Weise hatten aber alle Anteil daran. Soweit einzelne Autoren nicht allein das eigene Werk, sondern die Leistungen ihrer Generation im Überblick zusammenfassen, weichen die Ergebnisse und Bewertungen teilweise deutlich voneinander ab. Auch hierdurch entsteht ein facettenreiches und informatives Bild. Unter dem Blickwinkel des Werktitels bleiben aus den genannten Gründen gleichwohl Zweifel, ob sich aus den Selbstdarstellungen der Autoren auch schon eine solche „der Strafrechtswissenschaft“ entfaltet.
f) Nicht ganz überraschend, aber in der Nebeneinanderstellung der Beiträge auffällig ist, dass die Darstellung von 60 Jahren Strafrechtsdogmatik in den Biographien der Mehrzahl der Autoren, wenn man vom WissenschaftsPersonal absieht, praktisch ohne Menschen auskommt: Als gehe es ernstlich allein um den richtigen Handlungs-Begriff oder um die Frage, ob der Verbotsirrtum nur die Schuld oder auch den Vorsatz einer Straftat berühre, und nicht um soziale Konstruktionen abweichenden Verhaltens und um das Erleiden von Straftaten und Strafen; als könne der empirisch marginale, sozialpsychologisch weithin symbolische Bereich formeller Sozialkontrolle durch Androhung und Vollzug von Kriminalstrafe ohne Kenntnis seiner tatsächlichen Bedingungen und Wirkungen wissenschaftlich verstanden und ohne laufende Kontrolle seiner Wirkungen rational gestaltet werden. Ein solches Verständnis einer „Wissenschaft vom Strafen“ erscheint auf eine unvernünftige Weise abgeschnitten schon von der Möglichkeit sie tragender Erkenntnisse. Man wird nicht annehmen, dass die Mehrzahl der Autoren dies nicht weiß; gleichwohl bleibt ein beunruhigtes Gefühl angesichts des Umstands, dass ein Professorenleben in der Strafrechtswissenschaft zwar vielleicht nicht die Regel, aber doch ohne weiteres möglich ist,
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ohne jemals ein Gefängnis von innen oder einen wirklichen Straftäter von Nahem gesehen zu haben.94 Vor diesem Hintergrund mag die Gewissheit, mit welcher die hohe, auch internationale Bedeutung der deutschen Strafrechtswissenschaft von vielen Autoren auch für die Zukunft gewünscht und prognostiziert wird, in Zweifel gezogen werden. Dass deutsche Strafrechtsdogmatik den Prozess der europäischen Integration dort, wo es darauf ankommt, heil überstehen wird, erscheint nicht sicher.95 Die in Deutschland recht enge Bezugnahme von Strafrechtsdogmatik und Justizpraxis, die in anderen Rechtskulturen, auch in Europa, lange nicht so ausgeprägt ist, droht gerade in dem Moment abzureißen, in welchem angesichts von Internationalisierung und kriminalpolitischer Veränderung96 eine Wissenschaft vom (richtigen) Strafrecht erforderlich wäre. Dass diese nurmehr in Gestalt von „Orchideenfächern“ betrieben wird, die ohne Widerspruch als „praxisfern“ verspottet werden können97 und in dem mit hoher Umdrehungszahl laufenden Dogmatikbetrieb98 kaum eine Rolle spielen, gibt Anlass zu Sorge und Widerspruch.
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Interessante Schilderungen von Ausnahmen etwa bei Lüderssen, Naucke, Stratenwerth. Vgl. etwa im Referat von Björn Burkhardt: Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik, bei der Tagung der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 1999 (Tagungsband [Hrsg. Eser/Hassemer/ Burkhardt, 2000], S. 111): zwölf Klagen an die Strafrechtswissenschaft, etwa: „das aus den Fugen geratene Verhältnis von Aufwand und Ertrag“ (Ziff. 5); oder „die Praxisferne…, welche die deutsche Binnendogmatik in ihrem Faraday-Kafig erlitten hat“ (Ziff. 12; ebd. S. 129 f.; vgl. auch Ergänzung von Puppe, ebd. S. 229). Burkhardt fasste das zusammen: „Dogmatica se ipse alet“ (Übers.: „Die Dogmatik [er]nährt sich selbst“); so auch Lagodny, Festschrift für Amelung, 2009, S. 51). 96 Und nicht vordringlich, wie behauptet wird, wegen der „neuen Formen der Kriminalität“. Das Internet erfordert, wie früher die Eisenbahn und das Telefon, wohl einige neue Straftatbestände und allgemeine Regeln für deren Anwendung, trotz § 9 StGB aber nicht einen neuen Begriff vom Strafrecht. 97 Es ist eine gravierende Verkennung, Wissenschaften wie der Rechtssoziologie „Praxisferne“ vorzuhalten. In einer solchen Perspektive ist wohl die Kriminologie nur eine Art Polizeiwissenschaft, Strafprozessrecht ein Präventionshindernis und Kriminalstrafe ein Allgemeines Äquivalent rechtspolitischen guten Willens. 98 Kritisch zum „selbsttragenden“ Bedarf Arzt, Die deutsche Strafrechtswissenschaft zwischen Studentenberg und Publikationsflut, Festschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 839; ders., Wissenschaftsbedarf nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz, ZStW 111 (1999), S. 757; ders. in: Hilgendorf (Fn. 2), S. 3 f., 24 f. 95
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6. Ausblick: Richter und Gelehrte a) Richter sind, als solche, keine Wissenschaftler.99 Sie sollten dies auch nicht dadurch vorzutäuschen versuchen, dass sie die schriftlichen Gründe von Strafurteilen so abfassen, als handle es sich dabei um Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung.100 Freilich ist auch die terminologische Gegenüberstellung von Hochschullehrern als „Wissenschaftler“ und Richtern als „Praktiker“ etwas albern, denn sie täuscht einerseits nicht Vorhandenes vor und verkennt andererseits das Gegebene: Rechtsanwendung durch Strafjustiz ist nicht die Praxis der Wissenschaft vom Strafrecht, etwa wie das Brückenbauen die Praxis der Wissenschaft von der Statik ist. Sie ist auch nicht die Praxis der Rechts-Dogmatik. Rechtsprechung ist, in ihrem wirkmächtigen, dem lebensweltlichen Einblick verborgenen Kern, vielmehr Herstellung von Recht. Sie bringt Dogmatik hervor, aber auch Erwartungsnormativität, Geltung, Macht, Vertrauen. Dogmatische Figuren werden von der Rechtspraxis genutzt, nicht vor allem weil sie wissenschaftlich überzeugend sind, sondern wenn und soweit sie dem konkreten Bedürfnis entgegen kommen.101 Es ist ungerecht, die Begründungen und Erscheinungsformen dieses Bedürfnis allein als jeweilige Façon eines verachtungswürdigen common sense zu denunzieren, wie dies Rechtsgelehrte bisweilen tun. Um solche Herablassung praktisch zu widerlegen, bedarf es nur des Betrachtens eines Hochschullehrers beim Bearbeiten wirklicher Fälle durch Bestrafen wirklicher Menschen als (nebenamtlicher) Richter. 99 Sie werden dies auch nicht dadurch, dass sie an obersten Bundesgerichten über „wissenschaftliche Mitarbeiter“ verfügen. 100 Die Begründungs-Anforderungen von Fezer (HRRS 2010, S. 281 ff.) erscheinen jedenfalls in ihrer Pauschalität und im Ergebnis überzogen. Es kann etwa, wenn ein BGH-Senat an einer seit langem bestehenden Rechtsansicht festhalten will, nicht legitimatorisch unakzeptabel sein zu schreiben, man habe die in der Literatur vorgetragene Kritik gesehen und geprüft, halte sie aber im Ergebnis nicht für durchgreifend. Dass Fezer vor allem eigene kritische Äußerungen für nicht hinreichend erörtert hält, entwertet die Objektivität seines Anliegens ein wenig. 101 Beispiel: Die Lehre Roxins von der „mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft“. Sie ist, zum Verdruss Ihres Urhebers (Roxin, 458), ohne großes Federlesen von ihrer dogmatischen und rechtspolitischen Grundlegung (vgl. dazu auch Roxin, in: Horstmann/Litzinger (oben Fn. 33, S. 203, 208 ff.) gelöst und „angewendet“ worden, wo immer sie einem kriminalpolitischen Bedürfnis entsprach und ihre Übernahme sozusagen im fertigen Paket die Mühen einer Befassung mit den Schleifen der Theorien objektiver Zurechnung ersparte (vgl. dazu etwa Heinrich, Zur Frage der mittelbaren Täterschaft kraft Ausnutzung hierarchischer Organisationsstrukturen bei Wirtschaftsunternehmen, Festschrift für Volker Krey, 2010, S. 147 ff.). Wo die (herrschende) Dogmatik Entscheidungsergebnissen entgegen stehen würde, treten dogmatische Begründungen hingegen nicht selten zurück (vgl. auch Kubiciel JZ 2010, S. 422, 423 bei Fn. 19 [zu BGH NStZ 2010, 88]).
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Es wäre unzutreffend zu behaupten, die Rechtslehre habe ihren Einfluss auf die Justizpraxis bereits verloren.102 Wichtige Korrekturen der Rechtsprechung auch in den vergangenen Jahren beruhten auch auf Auseinandersetzungen mit dogmatischer Kritik.103 Diskussionen werden auch gegenwärtig zwischen BGH und Strafrechtslehre in intensivem Austausch geführt; gegenüber früheren Jahrzehnten dürfte dieser aus verschiedenen Gründen sogar zugenommen haben.104 Andererseits ist zu konstatieren, dass unter dem Druck der praktischen Kriminalpolitik und der Internationalisierung der Strafverfolgung die Strafrechtspraxis sich zunehmend einer von Generalklauseln und schwer überprüfbaren Gesamtabwägungen bestimmten „weichen“ Dogmatik zuwendet, die von der Kritik der universitären Strafrechtsdogmatik nurmehr schwer erreicht werden kann. Dieses Problem kann hier nicht vertieft erörtert werden; festzustellen bleibt: Man müsste, um das Auflösungs- und Ungenauigkeitsbedürfnis der Strafrechtspraxis in den Griff zu bekommen, dieses verstehen. Das ist aber nicht mit noch mehr Strafrechtsdogmatik zu erreichen, sondern nur mit Wissenschaft vom Strafrecht. Das Verhältnis von (universitärer) Strafrechtsdogmatik und Justizpraxis ist, psychologisch betrachtet, wohl auch von erheblichen gegenseitigen 102 Das wollte auch der Verf. nicht behaupten, als er – offenbar: missverständlich – davon sprach, die Straf(prozess)rechtswissenschaft habe „kein Instrumentarium und keine inhaltliche Autorität entwickelt, welche es ihr möglich machten, Entwicklungen des Prozessrechts mit zu gestalten…“ (Fischer, Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 65, 77; gemeint waren natürlich: „strukturelle“ Autorität, Einfluss). Fezer hat dies, in bis zum Überdruss langweiliger, tagungsüblicher Lager-Terminologie, als „anmaßend und bewusst (!) irreführend“ kritisiert (Anforderungen an die Begründung revisionsgerichtlicher Entscheidungen – Verfahrenswirklichkeit und normativer Anspruch, HRRS 2010, S. 281, 282). Er selbst wirft dem BGH vor, eine Vielzahl von durch Ignoranz, Argumentationsverweigerung und Widersprüchlichkeit geprägten Entscheidungen zu treffen, denen es (deshalb) an „demokratischer Legitimität“ fehle (ebd., S. 288). Für die Behauptung permanenter Missachtung der Prozess-Wissenschaft durch die Praxis beruft er sich (ebd. S. 283, Fn. 25) auch auf Roxin: Dieser hatte am zitierten Ort freilich ausgeführt (Die Strafrechtswissenschaft vor den Aufgaben der Zukunft, in: Eser/Hassemer/Burkhardt [oben Fn. 95], S. 369): „Wenn der Einfluss der Wissenschaft auf die Praxis im materiellen Recht stärker ist als im Prozessrecht, wo oft erst die Rechtsprechung die Wissenschaft zu vertiefter Forschung angeregt hat, so beruht das auf der schon geschilderten, etwas unterschiedlichen Entwicklung von materiellem Recht und Prozessrecht. Insgesamt stehen aber Wissenschaft und Rechtsprechung in einem sehr lebendigen, für beide Seiten wertvollen Meinungsaustausch“ (a.a.O. S. 384).– Das stützt die Argumentation Fezers nicht. 103 Etwa Änderungen der Rechtsprechung des BGH zu § 315b, § 316a, § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB. 104 Aus Sicht des Verf. nahe liegendes Beispiel: Diskussion über Einschränkungen des Anwendungsbereichs von § 266 StGB; etwa über den Vorschlag des 2. Strafsenats, die Figur des „Gefährdungsschadens“ mit einer (richterrechtlichen) „schwach überschießenden Innentendenz“ (Bernsmann) zu kombinieren (BGHSt 51, 100 [Kanther]; hierzu, umfassend und unter sorgfältiger Abwägung, zuletzt Hillenkamp, Zur Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand der Untreue, Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, 323 ff.).
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narzisstischen Kränkungen geprägt: Das Ausmaß praktischer Machtlosigkeit von Strafrechtsdogmatikern muss angesichts häufigen „BesserWissens“ immer wieder schmerzlich sein und auch als herabsetzend empfunden werden105; die Erkenntnis, bei der praktischen Arbeit das strafrechtsdogmatische Diskussionsniveau der Strafrechtslehre oft – vermeidbar oder unvermeidbar – hoffnungslos zu verfehlen, ist umgekehrt für das Selbst-Bewusstsein von Strafrichtern nicht immer leicht zu verdauen.106 Ein jeder erkennt im anderen nicht zuerst dessen, sondern vorwiegend die eigene Natur: Dogmatiker halten Strafrichter für schlechte Dogmatiker; Richter halten Dogmatiker für schlechte Richter. So lange es hierbei verbleibt, helfen noch so viele Tagungen nichts. Auch diese Wechselbeziehungen bedürften noch vertiefter Befassung. Hier jedenfalls scheinen mir Ansatzpunkte für einen vertieften und fruchtbringenderen Austausch zu liegen, der sich nicht in wechselseitigen Darstellungen erschöpft. Allzu oft wird die jeweils eigene Aufgabe beim Dialog als erfüllt angesehen, wenn der anderen Seite das ganze Ausmaß ihrer Schwäche enthüllt ist. Tatsächlich kann gemeinsames Bemühen aber erst entstehen, wo Stärken des anderen als mögliches Korrektiv eigener Schwächen ernst genommen werden. Dass die Strafjustiz mehr Dogmatik benötige, lässt sich mit Gründen bezweifeln.107 Dass sie mehr Wissenschaft benötigt, scheint mir hingegen gewiss. Hinweise hierauf werden bisher vom dogmatischen Lehrbetrieb manchmal mit Unverständnis aufgenommen108 oder mit noch mehr Dogmatik zugeschüttet; von Seiten der Justiz werden sie mit Argwohn, gelegentlich gar Feindseligkeit betrachtet, weil man sich kriminologische, soziologische und psychologische Wirklichkeiten lieber mit der (so genannten) Methode der Gesamtwürdigung vom Leibe hält, als ihnen allzu nah ins Auge zu blicken. Auflösungserscheinungen, welche das dogmatisch ausdifferenzierte Strafrecht und Strafprozessrecht heute allenthalben zeigen, werden sich aber in der Zukunft nicht aufhalten lassen, sondern vermutlich beschleunigen, wenn es nicht gelingt, eine Strafrechts-Wissenschaft zu implementieren, die Empirie und Normativität (wieder?) ernstlich zu integrieren versucht. Vorschläge und bemerkenswerte Ansätze hierzu hat es immer wieder gegeben; sie finden sich auch im Werk der hier vertretenen Autoren. Vom Mut dazu 105 Und könnte, spekulativ, eine Quelle von gelegentlich für Außenstehende etwas skurril erscheinenden kompensatorischen Bedeutsamkeits-Ritualen sein. 106 Und fördert, ebenfalls spekulativ, vielleicht eine unangenehme „Praktiker“Überheblichkeit, welche sich letztlich auf wenig mehr stützt als das Bewusstsein, die Macht zu haben, nach welcher der Anmerkungsschreiber, wie unterstellt wird, sich nur sehne. 107 Vgl. auch oben Fn. 95. 108 Vgl., beispielhaft, oben Fn. 62, 102.
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und vom Gelingen hängt, nicht zuletzt und gerade auch für die Rechtspraxis, viel ab. Denn in einem europäischen oder internationalen GesamtPräventionsrecht hätte die deutsche Rechtsdogmatik nurmehr den Platz einer versunkenen Professorenkultur. Man wird sehen, wie viel Verantwortung, Kreativität und Selbstkritik die nächste Generation sich am Ende wird bescheinigen können!
b) Dieser Beitrag ist, wie der Untertitel ankündigt, eine Leseempfehlung. Hilgendorfs Sammelwerk hat manche Stärken; es ist interessant aber auch gerade da, wo es schwach ist. Das Buch sollte von Strafrechtslehrern gelesen werden, weil es in der Zusammenstellung selbst-bewerteter Bedeutungen auch eine Verantwortung für den Beruf einer inhaltlich gehaltvollen Wissenschaft vom Strafrecht deutlich werden lässt. Richter sollten es mit dem Blick auf die eigene Verantwortung hierfür lesen. Den Verfassern sind der Stolz auf die eigene Berufskarriere zu gönnen, kleine Selbst-Erhebungen zu verzeihen und die Risikobereitschaft zur öffentlichen Selbstdarstellung zu danken. Denn sie teilen das Risiko aller Autobiographen: Neben das Bild, welches diese von sich selbst haben, und jenes, welches sie für die Welt von sich entwerfen, tritt als Drittes das Bild, welches diese sich von dem Entwurf macht. Auf dieses Bild verliert der Autor den Einfluss, wenn er seinen Text aus der Hand gibt; und je weniger er hiermit rechnet, desto mehr kann das Eigenleben, welches es führt, ihm als fremdes gegenübertreten und ihn enttäuschen oder gar verletzen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Risiko dort besonders groß ist, wo der Wille zur „Selbst-Darstellung“ im wörtlichen Sinn sich verwirklichen will. Wem die eigene Autobiographie als eine Art überdimensionaler Lexikon-Eintrag erscheint, wird vermutlich enttäuscht werden oder, noch schlimmer, die Vergeblichkeit solchen Bemühens gar nicht erkennen. Wer sie als Aufgabe der Reflexion versteht, kann für sich selbst und Dritte viel erreichen. Die Autoren des Sammelbands haben sich der Aufgabe mit unterschiedlicher Intention, unterschiedlichem Talent und unterschiedlichem Erfolg gestellt. Ob der Wunsch, Indianer zu werden, sie an Orte der Freiheit geführt hat, ihr Flug sie, gleich bereit, zu neuem Begreifen trug, oder, schief in der Luft, sich als stumpfer Traum erwies auf glattgemähter Heide: Dies haben sie uns freilich, jeder für sich, nicht verraten. Diese Frage bleibt uns.
§ 127 StGB - Aktuell oder noch im Dornröschenschlaf? GERD GEILEN
I. In einer der wenigen, bis jetzt vorliegenden Abhandlungen zur Neufassung des § 127 StGB1 spricht Lenckner2 von einem „zu neuem Leben erweckten“ Tatbestand, hält aber diesen Reanimierungsversuch des Reformgesetzgebers für weder wünschenswert noch optimal gelungen. Volkersen3 bezeichnet § 127 StGB als vorher „vergessene“, jetzt aber zum „Schwert des Damokles“ gewordene „Norm“, wobei Volkersen in so jedenfalls übertriebener Dramatik die Neufassung als „praktisch jedermann“ einbeziehende „Rundumkriminalisierung“ betrachtet. Im Rückblick war dagegen die Rede von einer (zu Recht?!) „vergessenen Norm“, von ihrem (wohl nur noch theoretisch existierenden) „Dornröschendasein“ und ihrem bis zur Neufassung sprichwörtlich antiquierten, weil noch mit dem Begriff des „bewaffneten Haufen“ operierenden Wortlaut, der kaum mehr als ein „Anlass zur Heiterkeit“ gewesen sei4. In diesem Zusammenhang hatte schon Rogall5 - ausdrücklich auch im Hinblick auf § 127 StGB a.F. - eine „Entrümpelung6 des strafrechtlichen Begriffarsenals“ gefordert. 1
Vgl. 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26.01.1998 (BGBl. I, S. 164). - Die vorauf gegangene, bis auf den Strafrahmen unverändert stehengebliebene Fassung lautete wie folgt: „Wer unbefugterweise einen bewaffneten Haufen bildet oder befehligt oder eine Mannschaft, von der er weiß, dass sie ohne gesetzliche Befugnis gesammelt ist, mit Waffen oder Kriegsbedürfnissen versieht, wird ... bestraft“ (Abs. 1). „Wer sich einem solchen bewaffneten Haufen anschließt, wird .... bestraft“ (Abs. 2). 2 Zur Strafgesetzgebung unserer Zeit ...; Gedächtnisschrift Keller, 2003, S. 151. 3 Vgl. § 127 StGB - Von der vergessenen Norm zum Schwert des Damokles in: Irrwege der Strafgesetzgebung, 1999, S. 285. 4 Zu diesem Meinungsbild vgl. (nur stellvertretend) von Bubnoff, LK-StGB, 11. Aufl., § 127; Ostendorf, NK-StGB, 3. Aufl., § 127 Rn. 5 und 3; Rudolphi/Stein, SK-StGB, § 127 Rn. 1. 5 ZRP 1982, 124, 125 N. 34. 6 Nebenbei bemerkt: Die Antiquiertheit der Ausdrucksweise wird im Schrifttum etwas übertrieben. „Haufen“ ist ein aus der Landsknechtssprache stammendes Synonym für „Schar“, was früher eine sogar militärtechnische Bedeutung hatte („verlorener, heller Haufen“; dazu Röh-
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II. Diese Bagatellisierungstendenz steht in einer bis auf die Anfänge des StGB zurücklaufenden Entwicklungslinie. In seltsamer Eintracht war sich der Reformgesetzgeber der NS- wie der Nachkriegszeit einig, dass der Tatbestand als überflüssig zu streichen war. Dabei ging es dem NSGesetzgeber natürlich darum, auch theoretisch eine strafrechtsfreie Zone7 für seine paramilitärischen Milizen, d.h. für SA und SS, zu öffnen, vielleicht auch darum zu zeigen, dass im totalitären NS-Staat gegnerische paramilitärische Gruppen überhaupt nicht aufkommen konnten und schon deshalb kein Schutzbedürfnis mehr bestand. Dagegen war das gleiche Streichungsvorhaben im E 19628 ein umgekehrt charakteristischer Ausdruck für die naive Harmlosigkeit der Bonner Republik9. Auch schon früher hatte § 127 StGB a.F. auf dem Prüfstand gestanden. Immerhin hatte bereits von Hippel in der Vorweltkriegszeit in VDB II S. 41 die „praktisch nur minimale“ Bedeutung des § 127 StGB und seinen materiell nur polizeirechtlichen Charakter betont, auch wenn er sich trotz dieser Bedenken im Ergebnis für die Beibehaltung des Tatbestandes aussprach. Auch sonst wird im früheren Schrifttum durchgängig die polizeirechtliche und deshalb letztlich untergeordnete Bedeutung der Vorschrift hervorgehoben. Die Auseinandersetzung kreiste schwerpunktmäßig um Randfragen wie das (auch heute noch diskutierte) Problem der Ausklammerung sozialadäquater Gruppen, etwa traditioneller Schützen oder Jagdgesellschaften; aber auch Notwehr(hilfe)problemen (heute im Zusammenhang mit sog. „Bürgerwehren“ und dem bewaffneten Kampf gegen Neonazismus thematisiert)10 wurde am Beispiel des (obrigkeitsstaatlich kontrollierten!) Partisanenkampfes nachgegangen. So heißt es zum Beispiel bei Binding11 - wohl im Rückblick auf Reminiszenzen aus der Zeit der Befreiungskriege und die Aktivitäten der schon damals sog. „Freikorps“: Die Strafbarkeit entfällt,
rich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. II, 1994). - Noch im letzten Krieg wurde von zurückgekehrten Fronturlaubern brieflich mitgeteilt, man sei jetzt wieder bei seinem „Haufen“. - „Gruppe“ als das jetzt eingeführte Surrogat ist jedenfalls sprachlich kaum schöner. 7 Praktisch bestand sie schon in der Weimarer Republik, weil § 127 StGB in dieser Richtung ebenso wenig wie gegen den kommunistischen RFB ausreichend aktiviert worden war. 8 Vgl. Begründung S. 462. 9 Das gilt trotz der propagandistischen Breitseiten gegen sog. Notstandsgesetze, politisches Strafrecht usw. durch die linke, trotz zeitweise dubioser Finanzquellen den Mainstream damals wie heute beherrschende Publizistik. 10 Vgl. Ostendorf in NK-StGB, 3. Aufl., § 127 Rn. 4. 11 Vgl. BT II 2 S. 902.
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wenn es darum geht, mit mutmaßlicher Zustimmung12 der Staatsgewalt „dem Vaterland in bedrängter Lage Hilfe zu leisten“. Es mag auch sein, dass Binding a.a.O. die Erinnerung an 1870/1871 und den französischen Widerstand durch die damals sog. „Franc-Tireurs“ vorgeschwebt hat.
III. Aber auch wenn § 127 StGB a.F. als im Grunde überflüssig galt13, so heißt es andererseits wesentlich realistischer, er sei „ein Tatbestand unruhiger Zeiten“14. Verfolgt man die Mitteilungen über die Kriminalstatistik, so ist in der Tat für die Zeit der Weimarer Republik, die bekanntlich besonders in ihren Anfängen und in ihrer Schlussphase ein politisch hochbrisanter Unruheherd gewesen ist, eine jedenfalls im relativen Sinn inflationäre Zunahme der Verurteiltenziffern festzustellen. Daraus hat der damalige Entwurfsgesetzgeber die dramatische, aber nicht unberechtigte Konsequenz gezogen, statt § 127 StGB den „Bandenkrieg“15 einer sonst gegen das Reich gerichteten Kriegsführung16 gleichzustellen, wobei allerdings die Einbeziehung auch bürgerkriegsartiger Kämpfe nach der Entwurfsbegründung17 zweifelhaft war. Dass man die schon für die alte Fassung einschlägigen Phänomene nicht immer harmlos sehen kann, zeigt sich auch im weiteren Kontext der Entstehungsgeschichte. Eine § 127 StGB a.F. im wesentlichen entsprechende Regelung enthielt schon § 97 PrStGB, der erklärtermaßen18 dem damaligen Artikel 92 des Code Pénal19 nachgebildet war. Trotz dieser formulierungstechnischen Berührungspunkte waren aber die Strafrahmen auch nicht ansatzweise vergleichbar. Der Code Pénal sah nicht nur eine weitaus höhere, sondern (damals) sogar die Todesstrafe vor, wobei der Preußische Gesetzgeber die konträre Regelung mit systematischen, so wohl kaum ausreichenden Erwägungen über die unterschiedliche Einordnung des Tatbestandes 12
Allerdings konnte damals, z.B. bei dem Aufstandsversuch von v. Schill, aber auch bei der Abspaltung der Armee durch York und seine Konvention von Tauroggen, beim König von Preußen wegen seines vorsichtigen Lavierens von „Zustimmung“ keine Rede sein. 13 Die Rede war von „Dornröschendasein“, „bloßer Signalwirkung“ usw.. 14 Vgl. von Bubnoff , LK-StGB, 11. Aufl., § 127 Rn. 1; mit Hinweisen auf die Aktualität der Vorschrift auch Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2, 8. Aufl., S. 120. 15 Vgl. § 97 E 1927; ebenso E 1925. 16 Vgl. §§ 95, 96 E 1927. 17 E 1927 S. 66. 18 Vgl. Goltdammers Materialien, Band II, S. 151. - Mit Recht verweist Ostendorf, a.a.O. Rn. 2 auch auf ALR II, 20, § 128. 19 Text bei Goehrs, Rechtsfrieden, 1900, S. 80 und von Hippel VDB II S. 43.
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begründet20. In Wahrheit dürfte dieser Diskrepanz ein radikal unterschiedlicher Erfahrungshorizont zugrunde liegen. „Bewaffnete Haufen oder Mannschaften“ entsprachen im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts einer geradezu alltäglichen, deshalb auch alles andere als unterschätzten, vielmehr als bedrohliches Risiko empfundenen Revolutionserfahrung21. Auch sind, wie sich damals gezeigt hat, Bürgerkriegswirren nicht immer reibungslos dem klassischen Tatbestandsarsenal des politischen Strafrechts, wie insbesondere dem Hochverrat, zuzuordnen. Man denke vergleichsweise an den in der Weimarer Zeit von Hitler im sog. „Ulmer Reichswehrprozess“ beschworenen Legalitätseid22, dessen Beurteilung aus dem damaligen Blickwinkel ambivalent war, so dass aus der Sicht naiver Zeitgenossen trotz SA und SS als der Privatarmeen Hitlers keine Möglichkeit des Zugriffs auf Hochverrat bestand. Ähnlich im damaligen Frankreich: Nicht nur der revolutionäre Umsturz, sondern auch die Konsolidierung der neuen Ordnung in Paris (und anderer Metropolen) ist nicht anders erfolgt als unter permanenter Mitwirkung „bewaffneter Haufen“, zum Teil sogar in Verbindung mit einer von der städtischen Kommune finanzierten Besoldung. Restaurative Kräfte, denen es nach ihrer Vorstellung nicht um Hochverrat, sondern umgekehrt um die Wiederherstellung der alten, legitimen Ordnung ging, sammelten sich zu Bürgerkriegsarmeen, sei es in der Vendée, sei es in der Emigration in Koblenz. Auch im weiteren Verlauf zeigte sich in ähnlicher Form das gleiche Phänomen. Erinnert sei nur an die wiederholten Putschversuche (Straßburg und in Bologne) des späteren Präsidenten und dann Kaisers Napoleon III23, an 1848 und den damals blutig niedergeschlagenen Aufstand der Arbeiter und an die Kämpfe um die Pariser Kommune 1871. Erinnert sei auch daran, dass 20
Vgl. Goltdammers Materialien a.a.O.. Vgl. dazu etwa Furet/Richet, Die Französische Revolution, 1968; Aubry, Die Französische Revolution, 2 Bd., 1942; vor allem die besonders farbige, klassische Darstellung von Michelet, Geschichte der Französischen Revolution, 2 Bd., Neuausgabe 2009. 22 Das in Ulm stationierte Regiment der Reichswehr (damals unter dem Kommando des später als Widerstandskämpfer bekannt gewordenen Generals Beck) war auf der Offiziersebene (zu der auch der spätere Attentäter des 20. Juli v. Stauffenberg gehörte) besonders stark durchsetzt mit zu dieser Zeit noch engagierten NS-Sympathisanten. Infolge des Einsatzes für die „Bewegung“ kam es 1930 gegen betroffene Offiziere, u.a. Scheringer und Ludin, zu einem Hochverratsverfahren, in dem Hitler in damals aufsehenerregender (und auch praktisch folgenschwerer) Weise vor dem Reichsgericht die Legalität seines politischen Programms beschwor, nicht ohne die gleichzeitige Versicherung, nach der „Machtergreifung“ würden „legal möglicherweise ....Köpfe rollen“! - Vgl. dazu Fest, Hitler, 1973, S. 406 f. und Kershaw, Hitler, 1998, S. 228. - Später - nach Dienstentlassung und während der Festungshaft - ging Scheringer ins Lager der Kommunisten über (vgl. Scheringer, Das große Los, 1959), während Ludin NSParteigänger blieb und als späterer deutscher Gesandter in der Slowakei 1947 hingerichtet wurde. 23 Vgl. Rieder, Napoleon III, 1989, S. 62 f. u. 96 f.. 21
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in Frankreich (ebenso in Russland 1812 wie nach 1941) Widerstandsakte durch Partisanen ein Stück der nationalen Tradition sind, während für Deutschland deren geradezu obrigkeitsstaatliche Konzessionierung typisch ist. So blieb 1809 der Versuch Österreichs, durch Flugblätter und sonst zeittypisch mediale Aktionen nach spanischem Vorbild Guerillakämpfe auch in Deutschland auszulösen, bis auf ganz vereinzelte und gescheiterte Unternehmen24 praktisch wirkungslos25. Napoleon konnte in einem Brief vom 02.12.1811 Befürchtungen wegen eines in Deutschland ebenfalls drohenden Guerillakrieges mit folgender, wohl nicht nur schmeichelhaft gemeinten Begründung zurückweisen26: „Urteilen Sie doch, was zu befürchten ist von einem so braven, so vernünftigen, so kalten, so geduldigen Volk, das von jeder Ausschreitung soweit entfernt ist, dass kein einziger Mann während des Krieges in Deutschland ermordet wurde“. Heinrich Heine fasst das Resümee über den deutschen Widerstandsgeist und seine Spontaneität wie folgt zusammen: „Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl, uns vom fremden Joche zu befreien, und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzu lang ertragenen Knechtschaft und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und die schlechten Verse der Körnerschen Lieder27, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird!“28 24
von Schill in Norddeutschland; von Dörnberg in Westfalen; Herzog von Braunschweig mit seiner „Schwarzen Freischar“; dazu Kleßmann, Napoleon und die Deutschen, 2007, S. 169 f.; Venohr, Napoleon in Deutschland, 2. Aufl., 1990, S. 209 f.. 25 Wiederum anders, weil relativ erfolgreicher, der damals geführte Partisanenkampf in Tirol. 26 Zitiert nach Venohr a.a.O. S. 261. 27 Körner, dessen Gedichte vor dem 1. Weltkrieg noch zum Kanon der deutschen Lesebücher gehörten, machte zur Behandlung französischer Kriegsgefangener den Vorschlag, man solle sich „an ihrem Blut sattsaufen“; „und wenn sie winselnd auf den Knien liegen/ und zitternd Gnade schreien/, lasst nicht des Mitleids feige Stimme siegen/, stoßt ohn Erbarmen drein“. Wenig anders, sollte es sich zwar um Deutsche, aber um Rheinbundsoldaten handeln: „Ha, welche Lust, wenn an dem Lanzenknopfe/ ein Schurkenherz zerbebt/ und das Gehirn aus dem gespaltnen Kopfe/ am blutgen Schwerte klebt“. - Um mit Heine zu sprechen, müssen die „Melodien“ dazu nicht nur „gut“, sondern schon geradezu Ohrwürmer gewesen sein, um bei solchen Texten zu „begeistern“! - Kaum weniger schlimm das von v. Kleist zusammengereimte Hetzgedicht „Germania an ihre Kinder“ („Alle Trifften, alle Stätten/Färbt mit ihren Knochen weiß ...“); genauere Nachweise bei Venohr a.a.O. S. 207 f.; Kleßmann a.a.O. S. 230 f.. - Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass in den schließlich mit „fürstlicher Erlaubnis“ geführten, sog. „Befreiungskriegen“ die im damals noch engeren Sinn „preußischen“ Truppen im Westen Deutschlands ebenso wie in Frankreich als besonders grausam galten, wie ja auch bekanntlich die sofortige standrechtliche Erschießung Napoleons ein von keinem der anderen Verbündeten mitverfolgtes Spezialanliegen der preußischen Führung war.
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IV. Insofern mag die andersartige, deutsche Tradition mit obrigkeitsstaatlichem Konformismus und Neigung zu initiativloser Passivität zusammenhängen. Trotzdem war mit dem Übergang zur Weimarer Republik ein Epochenwechsel eingetreten. An „bewaffneten Haufen“ bzw. „Mannschaften“ fehlte es jedenfalls jetzt nicht mehr. Die Rote Armee einschließlich ihrer stark diversifizierten Spezialgruppen rivalisierten (natürlich auch bewaffnet) mit rechten Freikorps, Femegesellschaften, „Stahlhelm“ und last not least mit SA und SS als den Hitler zur Verfügung stehenden paramilitärischen Milizen, wobei man auf Kuriosität gebliebene Einzelvorgänge wie das Treiben von Max Hölz29 im Vogtland nicht einmal einzugehen braucht. Zwar wurde im Hinblick auf die Kriminalstatistik für die Weimarer Zeit eine gewisse Aktualisierung des § 127 StGB registriert, aber ohne dass sich deshalb an der Bagatellisierung der Vorschrift etwas geändert hätte. Obwohl die Zuspitzung der Gegensätze jedenfalls in der Anfangs- und der Spätphase der Republik bürgerkriegsähnlich war, traten die sich ergebenden Konsequenzen für § 127 StGB kaum in den Blick. Dabei wäre gerade dieser einfache, von differenzierten und ex ante sehr kontroversen Prämissen losgelöste Tatbestand ein durchaus praktikables Instrument gegen die damals um sich greifende Paramilitarisierung gewesen (abgesehen davon, dass man angesichts der geradezu armeeartigen Größenordnung der Entwicklung den Strafrahmen hätte anheben müssen). Für diese Ausblendung exemplarisch ist die (nach dem Krieg von Kempner herausgegebene) Preußische Denkschrift von 1930, die später (1983) unter dem sehr berechtigten Titel „Der verpasste Nazistopp“ publiziert wurde. Diesem - damaligen - Verbotsplädoyer lagen Strafvorschriften des Republikschutzgesetzes, des § 129 StGB a.F. sowie des Hochverrats zugrunde, ohne dass der - z.B. für ein SA-Verbot besonders praktikable § 127 StGB einbezogen war. Heute liest man dieses Dokument nicht ohne Erschütterung, besonders über die unbegreifliche Blindheit der damals Verantwortlichen. Man kann das - und heute wiederum anderes -, wie von Max Frisch mit überzeitlicher Gültigkeit dargestellt, nur mit einer schon wahnhaften Verkennung von „Brandstiftern“ durch „Biedermänner“ erklären. Dabei ging es bei der SA - nebenbei bemerkt - nicht nur um waffentechnische Effekte. Propagandistisch noch wirksamer war das Auftreten „marschierender Kolonnen“. Wie es heißt: Der Anblick solcher „wohlgeordne28
Vgl. Heine in: Die Romantische Schule, Gesammelte Werke, 1890, Bd. 5, S. 237 f.! Später in die Sowjetunion emigriert und dort (vermutlich) als anarchistischer Abweichler ermordet; Einzelheiten bei R. Fischer, Stalin und der Deutsche Kommunismus, Bd. 1, 1991, S. 170 f.. - Dort auch (passim) Schilderung der verschiedenen, paramilitärischen Organisationsformen der KPD. 29
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ten, uniformierten, sich im Gleichschritt diszipliniert bewegenden Kolonnen mit ihren rassigen, energischen Männergesichtern“ „lässt das Herz jedes deutschen Mannes (und) jeder deutschen Frau ... höher schlagen. In ihnen beginnt das soldatische Blut der Germanenrasse zu sprechen30“.
V. Zu dieser praktischen Lahmlegung des § 127 StGB a.F. hat das Reichsgericht entscheidend beigetragen. Die so gut wie gar nicht diskutierte Schlüsselentscheidung findet sich in RGSt 56, 281, die (u.a.) § 127 StGB a.F. im Zusammenhang mit einem in Sachsen unternommenen Aufstandsversuch der Roten Armee betraf. Angeklagt war ein Kurier, der einem in einem Bergwerk agierenden „Aktionsausschuss“ eine auf einem zugeklebten Zettel enthaltene Information überbrachte und sich dann auf den Weg machte, um für den Aktionsausschuss einen Kraftwagen zurückzuholen. Das Reichsgericht kam zum Freispruch mit der (insoweit schon den Wortlaut nicht voll ausschöpfenden) Begründung, die damalige „Rote Armee“ sei über „einen Teil von Deutschland verbreitet“ gewesen und habe sich „aus verschiedenen einzelnen, militärisch organisierten, räumlich voneinander getrennten Teilen“ zusammengesetzt; anders als für den „bewaffneten Haufen“ im Sinne des damaligen § 127 StGB erforderlich, fehle es an einer „räumlich eng aneinander geschlossenen Menschenmenge (weshalb auch keine für den mitangeklagten Aufruhr notwendige „Zusammenrottung“ gegeben sei); außerdem habe sich der Angeklagte der Formation nicht „angeschlossen“ (§ 127 Abs. 2 StGB a.F.), weil dafür mehr als eine Unterstützung, nämlich „ein Eintreten in die Armee“ erforderlich sei. Damit war (abgesehen von der für Hilfsdienste geschaffenen Freizone der Strafbarkeit) § 127 StGB auf eine ausschließlich räumlich-kumulative Bedeutung festgelegt und die Erfassung differenzierterer Organisationsformen trotz ihrer auch im paramilitärischen Bereich besseren Effizienz konsequenterweise nicht mehr möglich. Auffallend ist, dass sich das RG mit dieser Begründung begnügt, aber nicht der Frage nachgeht, ob nicht der alternative Mannschaftsbegriff zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Zwar sprach Abs. 2 a.F. nur von „solchen bewaffneten Haufen“; trotzdem war nicht streitig, dass Abs. 2 eine Rückverweisung auf beide Alternativen des Abs .1, also auch auf die - im Vergleich zum „Haufen“ nicht bunt zusammengewürfelte, sondern straffer organisierte und disziplinierte - „Mannschaft“ bedeutete.
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Vgl. von Killinger, zitiert nach Longerich, Die Braunen Bataillone, 1989, S. 117 bei und in N. 97.
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Schon Binding31 hatte sich gegen eine zu weit gehende Differenzierung zwischen „Haufen und Mannschaft“ ausgesprochen. In einer sehr gründlichen Kommentierung der alten Fassung in der 9. Aufl. des LK stimmt Hübner32 Binding zu und stellt damit auch die für § 127 StGB a.F. praktisch entscheidende Frage: „Sollte denn, wer eine zwar nicht kasernierte oder sonst zusammengezogene, aber jederzeit milizartig griffbereite bewaffnete Mannschaft bildet oder sie befehligt, nicht (erst recht) strafbar sein? Sollte straflos ausgehen, wer den (schon oder noch nicht) bewaffneten Haufen mit anderen Kriegsbedürfnissen als Waffen versieht, z.B. Munition, Transportmitteln, Proviant u. dgl. m.?“ Aus diesem Grund seien auch in Abs. 1 „Haufen und Mannschaft“ begrifflich nicht als Gegensätze zu verstehen. - Wäre das RG a.a.O. davon ausgegangen, hätte es auch und gerade bei einem paramilitärischen Verband Organisationsstruktur und Logistik realitätsnäher beurteilen und sich dadurch den Weg in § 127 StGB öffnen können. Der einzige, dann noch neuralgische Punkte betraf die weitere, andere Frage, ob für den in Abs. 2 a.F. vorausgesetzten „Anschluss“ ein materielles Mitmachen, also im Sinne der Neufassung eine „Unterstützung“ genügt oder ob in einem wesentlich engeren Sinn eine mitgliedschaftliche Eingliederung zu fordern ist33. In dieser Hinsicht ist die Neufassung nicht mehr zweifelhaft, weil sie außer dem „Anschließen“ auch jede sonstige „Unterstützung“ als sogar gleichrangige Tatalternative ausdrücklich einbezieht. Bei dieser Marschroute des RG war klar, dass man dem paramilitärischen Unwesen zur Zeit der Weimarer Republik mit der a.F. des § 127 StGB nicht ausreichend effektiv beikommen konnte34. Das wurde aber im damaligen Schrifttum, wenn überhaupt bemerkt, dann jedenfalls nicht bedauert. Es blieb bei der Bagatellisierung des § 127 StGB als zweitrangiger, materiell dem Polizeirecht zuzuschlagenden Materie, bei der man trotz des höchst präsenten Anschauungsunterrichts durch Rote Armee, Rotfrontkämpferbund, SA und SS und trotz der sich zuletzt zuspitzenden und offen ausgetragenen Straßenkämpfe (mit vielen Todesopfern!) keinen aktuellen Bezugspunkt sah35. Stattdessen wurde in höchst wirkungsloser Weise in das 31
BT II, 2, S. 901. Rn. 3; von Bubnoff hat diese Kommentierung in den Neuauflagen im Wesentlichen übernommen. 33 Insoweit ebenfalls restriktiv Hübner a.a.O. Rn. 6. 34 Nebenbei bemerkt: An der Entscheidung zeigt sich auch die Fragwürdigkeit der heute gängigen These, das RG sei (nur und ausschließlich!) auf dem rechten Auge blind gewesen. Immerhin betraf der Freispruch den Beteiligten bei einem regionalen, aber auch als auslösendes „Fanal“ gedachten Aufstandsversuch der Roten Armee als des bewaffneten Arms der Linksextremisten. 35 Ebenso eindrucksvolle wie materialreiche Darstellung bei Striefler, Kampf um die Macht, 1993. 32
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politische Nebenstrafrecht, nicht zuletzt in Notverordnungen, ausgewichen36. Man wird lange suchen müssen, um im Strafrecht einen ähnlich unbegreiflichen Fall von Betriebsblindheit zu finden.
VI. Deshalb ist zu begrüßen, dass sich der Reformgesetzgeber für die Beibehaltung des § 127 StGB entschieden hat, mag man auch über Details der Neufassung streiten. Der Schwerpunkt der nach wie vor aktuellen Bedeutung der Vorschrift mag zwar nicht mehr auf den während der Weimarer Zeit gemachten Erfahrungen liegen. Trotzdem wäre es kurzsichtig, im StGB als einer für eine gewisse Permanenz gedachten Kodifikation die Möglichkeit der Wiederkehr solcher - zur Zeit nicht aktueller - Zustände auszuschließen. Wichtiger sind aber andere, heute in den Vordergrund gerückte Phänomene. Neu ist der inzwischen erreichte, hohe Verbreitungsgrad von Waffen. Inzwischen hat sich, um den überholten Ausdruck zu gebrauchen, das waffentechnische Potential für die „Bildung bewaffneter Haufen“ (angefangen vom Molotow-Cocktail bis hin zum knetbaren Sprengstoff und zur von „Heimwerkern“ gebastelten Bombe) erheblich vergrößert. Auch extremistische Gruppen - von rechts bis links einschließlich der neu hinzugekommenen Dimension ebenfalls radikaler Islamisten - sind als Kristallisationskerne für das Zustandekommen einer kollektiven Bewaffnung in ausreichender Zahl präsent. Historisch muten im Vergleich mit dem heutigen Bedrohungspotential die waffentechnischen Möglichkeiten der im 19. Jahrhundert geführten Barrikadenkämpfe geradezu idyllisch an. Hinzu kommt die jetzt anonymer gewordene Form der Waffenprivatisierung. Heute handelt es sich um im Dunkeln operierende, nur schwer überschaubare Kleingruppen, auf denen (und auf deren plötzlichem Zusammenschluss) das Gefährdungspotential beruht, während die aus der Weimarer Zeit bekannten Parteiarmeen schon äußerlich durch Uniformierung und/oder ihr massenhaftes Auftreten auffallen wollten und sollten. Neu (und für die praktische Bedeutung des § 127 StGB ebenso wenig folgenlos) ist der inzwischen unter dem Einfluss marktradikaler Ideologen um sich greifende Privatisierungswahn. Es ist unverkennbar, dass infolgedessen die Tendenz besteht, wirkliche oder vermeintliche Sicherheitslücken im 36
Überblick über Republikschutzgesetze und Notverordnungen bei Gusy, Weimar - Die wehrlose Republik, 1991, S. 128 ff.; dort auch (vgl. S. 219 ff.) - unter anderem, negativen Vorzeichen - Darstellung des Amnestieunwesens, das in der Weimarer Republik zur Lahmlegung der Justiz beigetragen hat.
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öffentlichen Sektor - sei es durch Bürgerwehren bzw. durch angestellte Kräfte wie Überwachungsdienste und sonstiges Sicherheitspersonal - zu kompensieren. Gegenüber diesem - nicht unbedenklichen, weil wenig kontrollierten - Kollektivierungsprozess im Sicherheitsbereich besitzt § 127 StGB eine präventiv zwar nicht unzweifelhafte, aber trotzdem zu begrüßende Signalfunktion. Auch in dem traditionellen, schon bei § 127 a.F. mit angeschnittenen Rechtsgutsaspekt der Neutralitätssicherung des Staates schlägt sich diese - nicht mehr zu übersehende - Entwicklung privater Sicherheitsdienste nieder. Kürzlich berichtete die Presse (wahrheitsgemäß oder auch nicht) über die Anwerbung deutscher Söldner für den Bürgerkrieg in Somalia. Auch in diesem Punkt wäre an § 127 StGB zu denken37, wobei nur zu ergänzen ist, dass der in diesem Zusammenhang traditionell herangezogene Rechtsgutsaspekt eines ausschließlich eigenstaatlichen Neutralitätsschutzes inzwischen zu kurz greift. Es geht nicht mehr nur um das durch eine Neutralitätsverletzung gefährdete, quasi diplomatische Staatsinteresse, sondern primär darum, die „unbefugte“ Beteiligung Deutscher an einem auswärtigen (Bürger)Krieg zu unterbinden - und damit um eine letztlich pazifistische Rechtsgutsdeutung38.
VII. Insofern gab es für den Reformgesetzgeber Gründe genug, den Tatbestand in anderer, zeitgemäßer Formulierung fortzuschreiben. Es handelt sich um ein (abstraktes) Gefährdungsdelikt, dessen Brisanz sich daraus ergibt, dass die technische wie untechnische Ausrüstung mit Waffen - insoweit in einer dem Massendelikt vergleichbaren Form - auf einen größeren, numerisch ins Gewicht fallenden Personenkreis verteilt ist. Das Risiko liegt in der Verbindung von personeller Massierung und der daraus resultierenden Ge37 Der zur Verfügung stehende Raum erlaubt es nicht, die sich hier zusätzlich stellende Problematik des internationalen Strafrechts anzuschneiden. Bekannter - in anderem, größerem Rahmen - ist die Privatisierung des Krieges durch Sicherheitsdienste bei Auslandseinsätzen der USA. 38 Das bei § 127 StGB zugrundeliegende Rechtsgut ist vielschichtig komplex und alles andere als eindimensional. Zunächst geht es um den inneren Rechtsfrieden durch Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols, um den Schutz der Wehrhoheit und die Verhinderung einer dem Neutralitätsinteresse zuwiderlaufenden Verstrickung der Bundesrepublik in einen auswärtigen Krieg, wobei dieser Aspekt, wie im Text ausgeführt, eine über die traditionelle Deutung hinausgehende, letztlich pazifistische Wurzel hat. Auf weitere Einzelfragen wird hier nicht eingegangen. Bei dem heute zur Mode gewordenen Streit um die Deutungshoheit beim jeweils zugrundeliegenden Rechtsgut wird von den Kontrahenten die praktische Bedeutung ihrer Kontroversen überschätzt.
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fahr der Streuung von Waffen über ein auf Anhieb nicht mehr überschaubares Kollektiv. Geht man unter diesem Blickwinkel an die Neufassung heran, so bestehen bei grundrechtskonformer Auslegung keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Abgesehen von der sprachlichen Bereinigung, der Streichung des als obsolet empfundenen „bewaffneten Haufens“, bezieht sich die erfolgte Ausweitung des Tatbestandes im wesentlichen auf zwei zentrale Punkte. Einmal ist die Tathandlung insofern erweitert, als neben dem „Anschließen“ (herkömmlich interpretiert als quasi mitgliedschaftliche Eingliederung) auch die „Unterstützung“, materiell also der Fall der Beihilfe, als Tatalternative einbezogen ist. Wie schon zu RGSt 56, 281 ausgeführt, hat sich die bisherige Handhabung des „Anschließens“ als zu eng erwiesen und zur Praktikabilität des Tatbestandes durch Erfassung auch der Helfershelfer nicht gerade beigetragen. Hinzu kommt, dass auch ohne diese Erweiterung der Möglichkeit der (allgemeinen) Beihilfe im Sinne von § 27 StGB (heute wie damals!) nachgegangen werden müsste, so dass sich aus der jetzt nur vorgenommenen tatbestandlichen Gleichstellung der Beihilfe auch keine (als inflationär bedenkliche) Überdehnung des Tatbestandes ergeben kann. In einem zweiten Punkt ist die Umgestaltung des Tatbestandes bedenklicher. Die Neufassung umschreibt den jetzt (nur noch) zu fordernden Zusammenschluss der Beteiligten als „Gruppe“. Deshalb soll man sich jetzt ausweislich der Begründung und der damit übereinstimmenden Auslegung durch die h.M.39, was die Größe der Gruppierung betrifft, mit dem rechnerisch absoluten Minimum von nicht mehr als drei Mitgliedern begnügen. Damit hätte der Gesetzgeber im Zuge der sprachlichen Modernisierung, dem terminologischen Verzicht auf den „bewaffneten Haufen“, auch das als Risikofaktor charakteristische Wesensmerkmal der Regelung, d.h. das Erfordernis einer gewissen personellen Massierung und der damit verbundenen breiten, den Verbleib intransparent machenden Streuung der Waffen aufgegeben. Zwar ist klar, dass bei einer anderen, die bisherige Tradition fortschreibenden Auslegung eine numerisch exakte Definition nicht möglich ist. In früheren Entscheidungen bewegte sich die geforderte Größenordnung zwischen 40-50 oder zwischen 20 und 30 Mann, aber auch „mindestens 10 Personen“ sollten noch genügen40. Dazu ist hier nicht Stellung zu nehmen. Wie immer, wenn man Tatbestandsmerkmale in Zahlen übersetzt, muss man sich in einem nach außen fließenden Grenzbereich bewegen. Trotzdem sollte man im Ergebnis berücksichtigen, dass trotz der sprachlichen Bereinigung der Gruppenbegriff tatbestandsspezifisch ausgelegt und deshalb 39 40
Vgl. dazu m.w.N. Fischer, StGB, 56. Aufl., Rn. 3. Vgl. von Bubnoff, LK-StGB, 11. Aufl., § 127 Rn. 4 m.Nachw.
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rechnerisch nicht minimalisiert werden sollte. Der „bewaffnete Haufen“ dürfte bei aller sprachlichen Obsoletheit als Leitbild und Orientierungsrahmen immer noch brauchbar sein.
VIII. Ein praktisch nicht ganz unwichtiger Ausblick auf eine durch die jetzige Fassung neu geöffnete Dimension des § 127 StGB sei noch angeschlossen. In einer Mitteilung vom 15.06.2010 berichtet die FAZ über einen anlässlich einer Demonstration verübten Bombenanschlag auf Polizisten in Berlin. Neben zahlreichen Leichtverletzten erlitten durch die „gezielt gezündeten Splitterbomben“ zwei Beamte schwere, d.h. lebensgefährliche Verletzungen, so dass die Berliner Staatsanwaltschaft von „versuchtem Totschlag“ sprach. Der Verlauf entsprach der inzwischen bekannten Taktik extremistischer Chaoten. Ein „schwarzer Block“ vermummter Gewalttäter hatte sich in den Demonstrationszug eingereiht und war so durch die mitmarschierenden Demonstrationsteilnehmer gegenüber dem polizeilichen Zugriff abgeschirmt. Aus dieser - nicht nur durch die Vermummung optischen, sondern durch die Marschformation auch physischen - Deckung heraus konnte praktisch folgenlos dieser tückische, zweifellos als Mordversuch einzustufende Sprengstoffanschlag gegen die diensttuenden „Bullen“ erfolgen. Weiter berichtet die FAZ, die Veranstalter hätten sich zwar nachträglich und verbal distanziert, hätten aber nicht erwähnt, dass seitens der Demonstrationsleitung bei und in der Demonstration der „Block untergehakt marschierender vermummter Gewalttäter“ „geduldet“, d.h. auch noch nach dem Anschlag durch die anderen Demonstranten abgeschirmt worden war. Obwohl man sich aus diesem Anlass von amtlicher Seite (wiederum) für eine Verschärfung des Strafrechts aussprach, sei auf die sich schon jetzt anbietenden Möglichkeiten der Neufassung des § 127 StGB hingewiesen. Der Block der vermummten Chaoten, um nicht sagen: Terroristen, war eine mit sogar technischen Waffen versehene „Gruppe“, was spätestens bei und nach dem Anschlag auch für die anderen Demonstranten ersichtlich war. Deshalb stellt sich die trotzdem fortgesetzte Abschirmung der Chaoten und die daraus resultierende Blockierung des polizeilichen Zugriffs als jedenfalls nach § 127 StGB tatbestandsmäßige „Unterstützung“ dar41. Hinzu 41 Strafbarkeitslücken, die nach der Neuregelung des Landfriedensbruchs bei § 125 StGB inzwischen offen sind, sind bei einem in diesem Sinn über rollenkonformes Mitmarschieren hinausgehenden Hilfsexzess der Demonstranten durch Rückgriff auf § 127 StGB n.F. zum Teil zu schließen; zum Auslegungsstand bei § 125 StGB vgl. Fischer, StGB, 56. Aufl., § 125 Rn. 13 m.w.Nachw.; vgl. auch Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl., § 125 Rn. 1; zur Problematik insbe-
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kommt noch, dass nach insgesamt „drei aufeinanderfolgenden Explosionen“ die Polizei über Megaphon aufgefordert wurde, ihre (wohl in ihrer bloßen Präsenz gesehene) „Provokation .... einzustellen und abzurücken“. Umso wichtiger ist es, einem solchen Fall einer - sämtliche Tatsachen auf den Kopf stellenden - Verhöhnung wenigstens dadurch beizukommen, dass man über § 127 StGB auch auf die „Unterstützer“ unter solchen Demonstranten zugreift.
IX. Der Vorsitzenden Richterin am BGH, Frau Professor Dr. Rissing-van Saan, der Adressatin der Festschrift, widme ich diese Skizze in dankbarer Erinnerung an frühe gemeinsame Jahre der Zusammenarbeit in Bochum. In der Aufbauphase der Ruhr-Universität war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin eine der tragenden Säulen des Lehrstuhls. Indem ich auf diese Zeit - nicht ganz ohne Wehmut - zurückblicke, spreche ich der Jubilarin meine besten und herzlichsten Wünsche aus.
sondere LK-Krauß, StGB, 12. Aufl., § 125 Rn. 75. - Leider reicht der Raum nicht, um hier dieser Konsequenz der Neufassung des § 127 StGB genauer nachzugehen.
Die (Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge RAINER HAMM
Auf dem 13. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV 2010 kam es zu einer interessanten Diskussion um die Tendenzen der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung der letzten Jahre. Während mehrere Redner eine zunehmende Entformalisierung des Strafverfahrens durch Gesetzgebung und BGH-Rechtsprechung beklagten und als Beispiele die Rügeverkümmerung und die Fristenlösung im Beweisantragsrecht angeführt hatten, schaltete sich Nack mit der Empfehlung an die Strafverteidiger ein, diese Entscheidungen nicht ständig zu beklagen, sondern sie als die jetzt feststehende „Meinung des BGH“ hinzunehmen. Daraufhin meldete sich die verehrte Jubilarin dieser Festschrift zu Wort und wies darauf hin, dass es hinsichtlich der Fristsetzung für Beweisanträge zum Zwecke der erleichterten Annahme von Verschleppungsabsicht mit Blick auf die entgegenstehende Gesetzeslage (§ 246 Abs. 1 StPO) verfrüht sei, bereits von der Auffassung des Bundesgerichtshofs zu sprechen. Und sie begründete diese bei uns Verteidigern Hoffnung weckende Aussage mit dem Hinweis darauf, dass jedenfalls der 2. Strafsenat noch keine Gelegenheit hatte zu entscheiden, ob er sich der Auffassung des 1. Strafsenats anschließen werde. Und auch ihr Senatskollege Thomas Fischer machte deutlich, dass Bedenken gegen eine so weitgehende Entfernung des Richterrechts vom Gesetzesrecht bestehen. Das könnte dafür sprechen, dass bei dieser Variante des zunehmenden Abbaus der Justizförmigkeit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Aber diese Hoffnung besteht in all den Verfahrensfragen, über die der Große Senat bereits entschieden hat, nicht mehr. So blieb in dem Symposium letztlich der Befund unwidersprochen, dass der BGH in seiner neueren Rechtsprechung ganz allgemein die Erfolgschancen von Verfahrensrügen erheblich herabgesetzt hat. Am Ende wies aber Peter Rieß auf den statistischen Befund hin, dass diese Entwicklung nicht etwa zu einer Herabsetzung der Erfolgsquote der Gesamtheit aller Revisionen geführt habe,1 weil näm1 Vgl. dazu schon meinen Vortrag beim 1. Strafverteidiger-Symposium abgedruckt in: Band 3 der Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft des DAV 1986, 9 ff.; überarbeitete Fassung in StV 1987, 262 ff.
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lich im Ausgleich zur geringeren Erfolgsquote bei den Verfahrensrügen durch die Erweiterung der Revisibilität von Beweiswürdigung und Strafzumessung (Darstellungsrüge, Plausibilitätsrüge) die Statistik wieder ins Lot gebracht sei. Ähnlich, aber nicht so wertneutral sieht es auch die Mehrheit des 2. Senats des BVerfG, der über einen anderen Abbau strenger Justizförmigkeit zu befinden hatte. In der Entscheidung um die Vereinbarkeit der rügeverkümmernden nachträglichen Protokollberichtigung finden sich die bemerkenswerten Sätze: „Im Übrigen ergibt eine Gesamtbetrachtung der strafrechtlichen Revision, dass deren Koordinatensystem sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs einseitig zu Lasten des Beschuldigten verschoben hat. Zwar ist eine gewisse Tendenz in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte erkennbar, den Einfluss von Verfahrensrügen zu begrenzen. Im Gegenzug hat die Rechtsprechung indes insbesondere durch die Ausweitung der so genannten Darstellungsprüfung das revisionsrechtliche Prüfungsprogramm – im Wesentlichen zu Gunsten des Beschuldigten – erheblich ausgedehnt.“2 Ist das wirklich so etwas wie ein gerechter Ausgleich? Eine Kompensation für verlorengegangene Formenstrenge? Das wäre allenfalls dann so, wenn die hinzugewonnenen Revisionschancen „über die Sachrüge“ auch nur annähernd so kalkulierbar und voraussehbar wären, wie es die aus dem Prüfprogramm der Revisionsgerichte herausgenommenen Verfahrensrügen waren. Aber davon kann bisher keine Rede sein, weil in den Fällen, in denen der BGH „auf die Sachrüge“ hin wegen Mängeln in der Darstellung der Beweisergebnisse und der Beweiswürdigung in den Gründen Urteile aufhebt, dies so gut wie nie auf einer Verletzung allgemeiner Normen beruht, sondern auf der Nichterfüllung einer aus den Besonderheiten der konkreten Beweissituation entwickelten Begründungsanforderung. Zwar gibt es inzwischen allgemein normativ formulierte Anforderungen an die tatrichterliche Urteilsbegründung für einige typische Fallgruppen (z.B. bei Aussage gegen Aussage3), aber den Regelfall des revisiblen Beweiswürdigungsfehlers kennzeichnet doch eher die Kritik des Revisionsgerichts, die Überzeugung des Tatrichters sei solange nicht plausibel,4 als aus der Singularität der kon-
2 BVerfG NJW 2009, 1469 ff., Tz. 82; abweichend die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio Tz. 142. 3 Dazu Maul und Hamm StraFo 2000, 253ff.; Deckers in: FS Hamm, 2008, 53 ff. 4 Zur Ersetzung der bisher üblichen Bezeichnung „Darstellungsrüge“ durch „Plausibilitätsrüge“ vgl. Dahs in: FS Hamm, 2008, 41 ff.
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kret dargestellten Beweislage noch Lücken in der Erörterung naheliegender alternativer Sachverhaltsvarianten offen geblieben sind.5 Die viel diskutierte Frage nach der Berechtigung dieser „erweiterten Revision“ unter dem Aspekt des subjektiven Willens des historischen Gesetzgebers oder auch unter dem des gesetzlichen Richters,6 soll nicht Gegenstand dieses Beitrages sein. Mir kommt es vielmehr auf die Vorfrage an, auf welcher Rechtsgrundlage die Revisionsgerichte eigentlich ebenso routiniert wie bedenkenlos derartige Fehler stets als sachlichrechtliche Fehler bezeichnen. Genauer sollte man vielleicht sagen: Der BGH hebt, wenn er einen Darstellungsmängel ausgemacht hat, das Urteil „auf die Sachrüge“ hin auf, und zwar unabhängig davon, ob (auch) eine Verfahrensrüge erhoben ist und gegebenenfalls welche. Nach § 337 Abs. 1 StPO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Und in Abs. 2 heißt es ziemlich tautologisch: „Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.“ Also: Ein Gesetz ist eine Rechtsnorm und eine Rechtsnorm ist nur ein Gesetz. Und: Eine Rechtsnorm = ein Gesetz - ist (nur dann) verletzt, wenn sie = es - nicht richtig angewendet wurde. Und was das „Stützen“ der Revision auf eine solche Verletzung = nicht richtige Anwendung einer Rechtsnorm = eines Gesetzes angeht, so verlangt § 344 Abs. 2 S. 1 StPO, dass der Beschwerdeführer ausdrücklich sagt (in der Revisionsbegründung schreibt), „ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird“. Nur im erstgenannten Fall muss er nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO die seine rechtliche Beanstandung tragenden Verfahrenstatsachen vortragen. Soweit ihm dabei eine Auslassung unterläuft, kann er Glück haben, wenn er auch die Sachrüge erhoben hat und die im Rahmen seiner Verfahrensrüge fehlenden Tatsachen im Urteil stehen. Dann macht die Lücke im an sich nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO notwendigen Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BGH die Verfahrensrüge nicht unzulässig, weil ja das Revisionsgericht aufgrund der Sachrüge ohnehin verpflichtet ist, die Urteilsgründe zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb sind die Urteilsgründe bei einer zulässig erhobenen Sachrüge zur Ergänzung des (für sich genommen unvollständigen) Vortrags der Verfahrensrüge vom Revisionsgericht heranzuziehen7,
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Dazu auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., 429 ff., Rn. 32 und 35. Nur beispielhaft Foth NStZ 1992, 444; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., 429 ff. (Rn. 32 und 35) machen zudem verfassungsrechtliche Bedenken bei einer Anwendung der Darstellungsrüge in malem partem, also zur Aufhebung freisprechender Urteile geltend. 7 BGH NStZ 1993, 142; StV 1995, 564; BGH NStZ 1997, 478. 6
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ohne dass es dazu einer ausdrücklichen Bezugnahme innerhalb der Ausführungen zur Verfahrensrüge bedürfte.8 Fragt man nach den dogmatischen Grundlagen für diese im Einzelnen nie ausführlich und unter Benennung eines normativen Aufhängers begründete Rechtsprechung, so schwanken die möglichen Erklärungen zwischen rein pragmatischen Erwägungen (was wir ohnehin zur Kenntnis nehmen müssen, dürfen wir dem Beschwerdeführer nicht als Mangel seiner Verfahrensrüge anlasten) und einer bestimmten Vorstellung vom systematischen Verhältnis zwischen Sach- und Verfahrensrüge: Dass das materielle Recht richtig angewendet wird, schuldet die Strafjustiz als Ganze dem durch die Staatsanwaltschaft verkörperten Gemeinwesen, aber auch dem Angeklagtem, ohne dass davon Abstriche unter Beibringungsaspekten einer „Parteidisposition“ überlassen werden dürften. Demgemäß sind alle Straftatbestände im Besonderen Teil des StGB und im Nebenstrafrecht imperativ und absolut formuliert: „Wer … (sich wie beschrieben verhält), wird … bestraft“. Dagegen stehen in der StPO zahlreiche Gesetzesbefehle, die weniger hart formuliert sind (Kann- und Soll-Vorschriften9), und es gibt insbesondere auch positiv formulierte Rechtspositionen, auf die - mit der Folge der revisionsrechtlichen Irrelevanz - der Inhaber des Rechts auch verzichten kann. Wer keinen Beweisantrag stellt, ist, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, auf die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht angewiesen. Wer sich nicht ausdrücklich mit der Verlesung eines polizeilichen Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Zeugenerklärung nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO oder im Falle von richterlichen Vernehmungsprotokollen nach § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO einverstanden erklärt hat, kann in der Revision die Verletzung des § 250 StPO geltend machen, wenn keine der sonstigen Ersetzungsmöglichkeiten der §§ 251 ff. StPO vorliegt. Und wer in anderen Fällen einen Verstoß gegen das Ersetzungsverbot des § 250 StPO geltend machen will, muss dies in der Revisionsbegründung ausdrücklich ausführen, wobei die „Negativtatsache“, dass keine der Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 oder 2 StPO vorgelegen habe, nicht zum notwendigen Vorbringen gehören sollte,10 weil das Nichtvorliegen von gesetzlichen Ausnahmen auch bei der Auslegung der Revisionsbegründung als Regelfall zu unterstellen ist. Zu den disponiblen Verfahrensvorschriften, auf deren strenge Einhaltung der Angeklagte (konkludent) verzichten kann, gehören auch die meisten der 8
Meyer-Goßner StPO § 344 Rn. 22. Ob es daneben auch bloße „Ordnungsvorschriften“ gibt, ist umstritten; vgl. dazu Hamm Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl., 2010, Rn. 249 ff. 10 A.A. und als Empfehlung, auf „Nummer sicher“ zu gehen, sicherlich zutreffend Weider/Schlothauer Verteidigung im Revisionsverfahren, 2008, Rn. 1151. 9
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in § 267 Abs. 1 bis 3 StPO vorgeschriebenen Inhaltsanforderungen an ein Urteil, das im Tenor einen Schuldspruch enthält. Denn nach § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO reduzieren sich diese Anforderungen im Falle des (ausdrücklichen oder durch Verstreichenlassen der Frist „erklärten“) Verzichts auf Rechtsmittel auf die Angaben der den Tatbestand erfüllenden erwiesenen Tatsachen und die Angabe des angewendeten Strafgesetzes, was bei Verurteilungen zu Geldstrafe sogar durch eine Bezugnahme auf den zugelassenen Anklagesatz bzw. Strafbefehl ersetzt werden darf. Der Verzicht auf das Rechtsmittel wird also von Gesetzes wegen gleichzeitig als Einverständnis mit der Abfassung eines „abgekürzten Urteils“ und somit als Verzicht auf die ausführliche Begründung, wie sie in den Absätzen 1 – 3 des § 267 StPO für ein verurteilendes Erkenntnis gerade auch mit Blick auf die revisionsgerichtliche Überprüfung vorgeschrieben ist, gedeutet. Dies alles wären nun Selbstverständlichkeiten und ihre Hervorhebung in einer Festschrift für eine erfahrene und verdiente Revisionsrichterin geradezu eine Zumutung, wenn es da nicht auch noch die in § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht ausdrücklich und als zwingend vorgeschriebenen Anforderungen an ein „revisionssicheres“ tatrichterliches Urteil gäbe, die erst im Laufe der Zeit von der Rechtsprechung entwickelt und den Instanzgerichten aufgegeben wurden. Die genannte Vorschrift sagt nämlich nichts weiter, als dass die so genannten Indiztatsachen, jene Tatsachen also, aus denen der Beweis der den Schuld- (und Rechtsfolgen-) Ausspruch tragenden Umstände, „gefolgert“ wird, im Urteil ebenfalls „angegeben werden sollen“. Bekanntlich geht die revisionsrechtliche Rechtsprechung inzwischen weit darüber hinaus, indem sie nicht nur die Sollvorschrift als Mussvorschrift verstanden wissen will, sondern auch dem Tatrichter neben der bloßen „Angabe“ der (wesentlichen) Indiztatsachen bis zu einem gewissen Grad auch die Dokumentation der Schlussfolgerung abverlangt. Diesen richterrechtlich entwickelten Anforderungen kann der Tatrichter nur entsprechen, wenn er auch die Einlassung und das sonstige Verteidigungsvorbringen des für schuldig gehaltenen Angeklagten und die dem entgegenstehenden Ergebnisse der Beweisaufnahme unter Darlegung des jeweiligen Wertes der einzelnen belastenden Indiztatsachen auch in ihrer Beziehung zu anderen, sie verstärkenden oder abschwächenden Tatsachen erörtert. Dabei müssen die Verfasser der tatrichterlichen Urteilsgründe auch kenntlich machen, dass sie alle, sich nach Lage der Dinge aufdrängenden, dem Angeklagten günstigeren Sachverhaltsalternativen erkannt, und warum sie sie gedanklich wieder verworfen haben. Erst wenn alle diese Anforderungen erfüllt sind, gilt die in nahezu jeder einschlägigen BGH-Entscheidung hervorgehobene gesetzlich gewollte Arbeitsteilung zwischen Tat- und Revisionsrichter, dass die Überzeugung des Tatrichters selbst vom Revisionsgericht „hinzunehmen“ ist – was nichts anderes heißt, als dass dieser jenem die Verantwor-
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tung für die Richtigkeit (Wahrheit) des Ergebnisses seines Überzeugungsschöpfungsaktes i.S.d. § 261 StPO nicht abnehmen kann und darf. Man mag zu dieser Erweiterung des revisionsgerichtlichen Prüfungsprogramms stehen, wie man will. Einvernehmen sollte darin bestehen, dass es sich bei den durch die Rechtsprechung über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 StPO hinaus entwickelten Begründungsanforderungen um Verfahrensrecht und nicht etwa um materielles Strafrecht oder auch nur um die Aufstellung „anderer“ Rechtsnormen i.S.d. § 344 Abs. 2 Satz 1 StPO handelt. Ebenso wie die Verpflichtung, überhaupt schriftliche Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 StPO niederzulegen, sind alle Anforderungen an deren Inhalt, mögen sie sich unmittelbar aus der Verfahrensvorschrift des § 267 StPO oder auch ihrer Ausdehnung durch die Rechtsprechung ergeben, Gebote des Prozessrechts. Auch darüber sollte es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Anlass, diese Selbstverständlichkeit hier hervorzuheben, besteht auch nur deshalb, weil der Sprachgebrauch des BGH, wonach die Mängel in der Darstellung des festgestellten Sachverhalts oder auch das Fehlen einer Erörterung naheliegender Sachverhaltsalternativen in Ausführungen zur Beweiswürdigung „auf die Sachrüge hin“ zur Urteilsaufhebung führen, zu dem Missverständnis verleiten könnte, der die Revisionsentscheidung notwendig machende Rechtsfehler des Tatgerichts sei auch als Verletzung des sachlichen Rechts einzuordnen. Das hätte z.B. Auswirkungen auf § 357 StPO, weil, wer ernsthaft behaupten wollte, die Darstellungsrüge ziele auf eine Verletzung materiellen Rechts, verlangen müsste, dass die Urteilsaufhebung auch in diesen Fällen auf den Nichtrevidenten erstreckt wird. Das wird auch tatsächlich im Schrifttum vertreten,11 kann aber schon deshalb nicht richtig sein, weil für den Mitangeklagten, der sein Urteil überhaupt nicht anfechten wollte, schon hinsichtlich der gesetzlich ausdrücklich geregelten Mindestinhalte der Urteilsgründe die oben genannten und sich ohne weiteres aus § 267 Abs. 4 StPO ergebenden stark reduzierten Anforderungen gelten. Und dass die von der Rechtsprechung zusätzlich aufgestellten Begründungsgebote für abgekürzte Urteile nicht gelten können, sollte sich auch von selbst verstehen. Es kommt hinzu, dass das völlige Fehlen von Urteilsgründen, das als „Super-GAU“ unzureichender Gründe verstanden werden kann, in § 338 Nr. 7 StPO unter jenen Verfahrensverstößen aufgelistet ist, bei deren Vor11 KK-Kuckein StPO, § 357 Rn. 1 ohne Begründung unter Hinw. auf Meyer-Goßner StPO § 357 Rn. 9, dieser unter Hinw. auf Peters in: FS Karl Schäfer, 1979, 152, der aber sehr wohl erkannt hat, dass es bei der erweiterten Revision nicht um sachlichrechtliche Fehler geht, weshalb er eine gesetzliche Klarstellung und bis dahin die analoge Anwendung des § 357 StPO postuliert.
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liegen sogar eine konkrete Beruhensprüfung unterbleibt. In einem solchen Falle fehlt auch für das Revisionsgericht, das sich nur auf eine allgemeine Sachrüge hin mit dem Urteil zu befassen hat, jegliche Möglichkeit, das ordnungsgemäße Zustandekommen der (nicht vorhandenen) Feststellungen und die Subsumtion unter das Strafgesetz zu prüfen, sodass das Urteil auch ohne Verfahrensrüge aufzuheben ist.12 Ist aber die Pflicht zum Niederschreiben von Urteilsgründen überhaupt unzweifelhaft eine verfahrensrechtliche Pflicht und der Verstoß dagegen ein Verfahrensfehler, so kann für die abgeschwächte Form, nämlich das Niederschreiben unzulänglicher Urteilsgründe nichts anderes gelten. Nun mag die eine oder der andere Leser(in) dieser Zeilen sich wundern, dass ausgerechnet aus der Sicht der gewöhnlich interessegeleitet argumentierenden Anwaltschaft eine doch eigentlich beschwerdeführerfreundliche Rechtsprechung zum Anlass für die Forderung nach einer Korrektur zumindest des üblichen Sprachgebrauchs („auf die Sachrüge“) genommen wird. Mein Anliegen ist jedoch ein anderes: Die Formel, wonach es die Sachrüge sei, die in den genannten Fällen zur Aufhebung führt, ist dann zutreffend, wenn man darunter nur versteht, dass auch beim Fehlen einer (auf den Darstellungsmangel gerichteten) Verfahrensrüge und bei zulässig erhobener Sachbeschwerde die Urteilsgründe vom Revisionsgericht von Amts wegen zur Kenntnis genommen werden müssen. Um darin aber nicht nur ein pragmatisches Argument im Sinne der „Leistungsmethode“13 zu sehen, erscheint es durchaus sachgerecht, den durch die Sachbeschwerde ausgelösten Zwang zur Überprüfung der Urteilsgründe in jeder rechtlichen Hinsicht unmittelbar aus § 337 Abs. 1 StPO abzuleiten. Wer nämlich behauptet, das Urteil beruhe auf einer Verletzung sachlichen Rechts, kann damit auch meinen, dass die Subsumtion unter einen Straftatbestand über einem durch Fakten nicht hinreichend fundierten Sachverhalt „in der Luft hängt“ Ein Tatgericht, das beispielsweise sagt, der Angeklagte habe einen Diebstahl begangen, indem er eine vom Voreigentümer weggeworfene Sache „weggenommen“ hat, verstößt gegen das materielle Recht, weil es bei derelinquierten, also herrenlosen Sachen an dem Merkmal der „fremden Sache“ fehlt. Ein Tatgericht, das in den Rechtsausführungen richtigerweise ausführt, dass es im Falle der Herrenlosigkeit der weggenommenen Sache noch keine Tatbestandserfüllung sehen würde, ohne aber auch in der Beweiswürdigung auszuführen, ob und wie es die (als solche mitgeteilte) Einlassung 12 KK-Kuckein StPO § 338 Rn. 92. Anders ist dies bei der 2. Alternative des § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 StPO, wenn das Urteil mit Gründen nur zu spät zu den Akten gelangte. BGHSt 46, 204 = NJW 2001, 839 = StV 2001, 155. 13 Dazu näher LR-Franke 26. Aufl. 2010, § 333 Rn. 5 mwN.
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des Angeklagten als widerlegt ansieht, er habe eine vorausgegangene Handlung des Voreigentümers eindeutig als „Wegwerfen“ verstanden, kommt seiner verfahrensrechtlichen Pflicht zur vollständigen Darlegung seiner Beweiswürdigung nicht nach. Im letzteren Falle ist nicht einzusehen, weshalb es einer gesonderten Verfahrensrüge bedürfen soll, um das Revisionsgericht zu berechtigen und auch zu verpflichten, den Rechtsfehler, der gleichsam auf der Beweiswürdigungsebene dem materiellrechtlichen Subsumtionsfehler im ersteren Falle korrespondiert, mit der gleichen Verfahrenssanktion (Urteilsaufhebung) zu belegen wie bei allen anderen bereits aus den Urteilsgründen selbst heraus erkennbaren Rechtsfehlern. Bei wirklich allen? Hier schließt sich nämlich eine heikle Frage an, deren zutreffende Beantwortung noch einer Klärung in Dogmatik und Praxis bedarf: Was ist eigentlich mit sonstigen Verfahrensfehlern, deren Vorliegen und Auswirkung auf das Urteil sich vollständig aus dessen Gründen ergibt, die der Beschwerdeführer in der Begründungsschrift versäumt hat anzusprechen. Die Rechtsprechung sagt hier bisher, dass in solchen Fällen vom Revisionsführer wenigstens gesagt werden muss, was er beanstanden will (er müsse „den Finger auf die Wunde legen“)14. Erst dann könnten die nicht mitgeteilten Verfahrenstatsachen, so sie im Urteil enthalten sind, als über die Sachrüge vervollständigt verstanden werden.15 Aber warum sollte nicht in den Fällen die Sachrüge ausreichen, wenn sich sämtliche einen Verfahrensfehler belegenden Verfahrenstatsachen aus dem Urteil selbst geben? Wie oben schon erwähnt, wird wohl kein Revisionsgericht beim Fehlen jeglicher Urteilsgründe, auch wenn nur die allgemeine Sachrüge erhoben ist, das Rechtsmittel verwerfen, nur weil der bei fehlendem Tatsachenvortrag gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO meist unsinnige Satz fehlt: „Gerügt wird die Verletzung (sachlichen und) formellen Rechts.“ Und dass auch nicht ausdrücklich behauptet und beanstandet wird, das Urteil enthalte keine Gründe, sollte – wenn dies so ist und die Sachrüge erhoben wurde –der Aufhebung nicht entgegenstehen. Ist das Urteil aber formal mit Gründen versehen, die diesen Namen nicht verdienen, so sollte nichts anderes gelten. Man denke z.B. an ein Urteil, in dem im Einzelnen beschrieben ist, dass der Angeklagte bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei nicht belehrt worden war, dass die Verteidigung in der Hauptverhandlung der Verwertung jenes Protokolls auch wider14 G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl., Rn. 1771: „Er muss den von ihm beanstandeten Mangel auf den Punkt bringen und die ‚Angriffsrichtung’ seiner Rüge verdeutlichen.“ 15 BGHSt 36 385 mwN; BGH NJW 1992, 2305; 1998, 839; nach BGH StV 1996, 197 st. Rspr.
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sprochen hatte und dass das Gericht gleichwohl die Verwertung für zulässig hielt. Auch hier ist der Verfahrensfehler, der sich auf die unter den betreffenden Straftatbestand zu subsumierenden Sachverhalt unmittelbar ausgewirkt hat, evident. Ein anderes Beispiel, das nach der Änderung der §§ 59 ff. StPO in seiner praktischen Relevanz eher unterrepräsentativ ist, das aber als Denkmodell durchaus geeignet ist, das Anliegen nahezubringen, mag verdeutlichen, dass das „Warten“ auf die Verfahrensrüge bei erhobener Sachrüge unangebracht wäre: Angenommen, ein Tatgericht bewertet die Aussage eines kindlichen Zeugen deshalb als besonders glaubwürdig, „weil der Zeuge trotz seines Alters von nur 13 Jahren bereit war, seine Aussage zu beschwören.“ Oder ein aktuelleres Beispiel: Das Gericht lehnt im Urteil einen Hilfsbeweisantrag mit der Begründung ab, der Antrag sei erst nach Ablauf einer vom Gericht gesetzten Frist im Plädoyer gestellt worden und „deshalb“ sei er wegen Prozessverschleppung i.S.d. § 244 Abs. 3 StPO nur unter dem Aspekt zu beurteilen, ob die Aufklärungspflicht die Beweiserhebung gebiete, und dies sei nach der Bewertung der bisher durchgeführten Beweisaufnahme nicht der Fall. Wenn in einem solchen Fall der vollständige Inhalt des Hilfsbeweisantrages im Urteil ebenso wie die erstmals hier ausgeführten Zurückweisungsgründe dokumentiert sind, so fehlt für eine nach dem bisherigen Praxisbrauch zulässige Verfahrensrüge nur noch der Satz in der Revisionsbegründung: „Gerügt wird die mit den §§ 244, 246 StPO nicht vereinbare Zurückweisung des Hilfsbeweisantrages.“ Mein Vorschlag für eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung geht nun dahin, in allen Fällen, in denen sich der Verfahrensfehler vollständig aus den Urteilsgründen ergibt, auf die Behauptung, es läge (neben der gerügten Verletzung des materiellen Rechts auch) ein Verfahrensfehler vor, völlig zu verzichten und die Verfahrensrüge als in der Sachrüge konkludent mitgerügt zu behandeln – ebenso wie dies in den Fällen der (auch nicht ausdrücklich neben der allgemeinen Sachrüge erforderlichen) Darstellungsbzw. Plausibilitätsrüge ohne Weiteres praktiziert wird. Die derzeit in ständiger Rechtsprechung praktizierte unterschiedliche Behandlung der beiden Typen von Verfahrensfehlern wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn wirklich die Verstöße gegen die Begründungsanforderungen der Beweiswürdigung näher an (oder gar als Unterfall von) der Sachrüge einzuordnen wären als z.B. die Verletzung des Beweisantragsrechts. Das ist aber nicht der Fall, weil beide Verfahrensfehlertypen den Herstellungsprozess des unter das materielle Recht subsumierten Sachverhalts betreffen. Diese Notwendigkeit einer einheitlichen Behandlung der „(Verfahrens-)Rüge in der (Sach-)Rüge“ würde aber vielleicht erst dann in das Bewusstsein aller Rechtsanwender dringen, wenn der Gesetzgeber sich entschließen könnte, die von der Rechtsprechung entwickelten erweiterten
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Begründungsanforderungen für die Darstellung der tatrichterlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung in § 267 Abs. 1 StPO anstelle der inzwischen praktisch obsoleten „Sollvorschrift“ hinsichtlich der Indiztatsachen ausdrücklich zu normieren. Ein solcher Eingriff des Gesetzgebers könnte seine Legitimation aus einem ähnlichen Rechtsgedanken beziehen, wie er in dem Appell des Großen BGH-Senats für Strafsachen zum Tätigwerden des Gesetzgebers bei der Regelung der Urteilsabsprachen zum Tragen kam: Ebenso wie dort16 ist bei der (hier in der Sache vernünftigen) Korrektur der Gesetzeslage durch die Rechtsprechung die Grenze zulässiger richterrechtlichen Rechtsfortbildung tangiert, so dass ein gesetzgeberisches Eingreifen mehr als nur wünschenswert wäre. Damit könnte dreierlei erreicht werden: 1. wäre die Rechtsunsicherheit zur gesetzlichen Verankerung der erweiterten Revision und damit auch zur Kompetenzverteilung zwischen den Tat- und den Revisionsrichtern beseitigt, wobei auch versucht werden könnte, den Mindestinhalt der Urteilsgründe auf einer höheren Abstraktionsebene als der kasuistischen Einzelfallentscheidung zu normieren. 2. wäre damit auch hinreichend klargestellt, dass es sich bei allen Verstößen gegen diese dann gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Begründungsanforderungen um Verfahrensfehler handelt. Und schließlich sollte 3. eine solche Gesetzesänderung gleichzeitig mit einem kleinen Zusatz in § 344 Abs. 2 S. 2 StPO verbunden werden, der wie folgt lauten könnte: „Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden, soweit bei erhobener Sachrüge sie nicht vollständig im angefochtenen Urteil enthalten sind.“ Und um auch die Regelung über den revisionsgerichtlichen Prüfungsumfang damit konsistent zu gestalten, könnte § 352 Abs. 1 StPO folgende Fassung erhalten: „Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit Mängel des Verfahrens die Revision begründen, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge oder in den Gründen des angefochtenen Urteils bezeichnet worden sind.“ Dass ein solcher moderater Eingriff des Gesetzgebers dem in letzter Zeit vorherrschenden Trend zur Entformalisierung und zum Abbau verfahrensrechtlicher Garantien entgegenlaufen würde, sollte kein Gegenargument sein. Mehr Rechtssicherheit brächte er allemal. Und vielleicht könnte am Ende sogar das Argument, die Statistik der Erfolgsquote von Verfahrensrügen enthalte in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ein Element ausgleichender Gerechtigkeit, ein wenig an Plausibilität gewinnen.
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BGHSt 50, 40 ff., 64.
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I. Einleitung Das Spannungsverhältnis zwischen Privatsphäre und Datenverarbeitung1 gehört seit vielen Jahren zu den Standardthemen des Informationsrechts. Einerseits scheinen viele Nutzer sozialer Netze und anderer Kommunikationsplattformen des Internet auf den Schutz ihrer persönlichen Daten keinerlei Wert mehr zu legen,2 andererseits warnen Datenschützer immer häufiger und mit durchaus beträchtlicher öffentlicher Resonanz vor nicht genehmigter Offenlegung oder gar Nutzung privater Daten.3 Ähnlich zwiespältig verhält sich der Staat: Während einerseits Politiker öffentlichkeitswirksam den Datenschutz verteidigen, werden andererseits die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten auf private Daten fortwährend erweitert. Dabei gerät der Gesetzgeber bisweilen in ein Spannungsverhältnis zu älteren Normen, die den Schutz privater Daten bezwecken.4 Ein besonders bemerkenswertes Beispiel eines solchen Spannungsverhältnisses existiert derzeit im Steuerrecht, wo § 147 Abs. 6 AO5 in Form der „digitalen Außenprüfung“ den Zugriff des Finanzamtes auf die gesamte EDV-Buchführung, auch die von Anwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, zu erlauben scheint, während andererseits § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Herausgabe von Mandantendaten durch die genannten Berufsgruppen unter Strafe stellt. Hier stehen, abstrakt gesprochen, die fiskalischen Interessen des Staates gegen das durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung6 geschützte private Geheimhaltungsinteresse des Einzelnen an den Daten, wo1 Dazu schon Rissing-van Saan Privatsphäre und Datenverarbeitung. Ein strafrechtlicher Beitrag zum Datenschutz. Diss. Bochum 1978. 2 Dies zeigt sich u.a. an der Fülle höchst persönlicher Texte, Fotos und Videos unter Facebook und StudiVZ. 3 Schaar Das Ende der Privatsphäre: Der Weg in die Überwachungsgesellschaft, 2007, Taschenbuchausgabe 2009. 4 Aufschlussreich zur Zielsetzung des Datenschutzes in strafrechtlicher Perspektive Rissingvan Saan (Fn. 1), S. 23 ff. 5 Eingeführt durch das StSenkG vom 23.10.2000, in Kraft getreten am 1.1.2002. 6 BVerfGE 65 1 ff. (Volkszählungsurteil); dazu etwa Simitis NJW 1984, 398 ff.
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bei die hier in Frage stehenden Daten zusätzlich dem Schutz des § 203 StGB unterfallen. Das Problem lässt sich durch folgendes Fallbeispiel beleuchten: Eine interprofessionelle Kanzlei, bestehend aus Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Rechtsanwälten, befindet sich in einer Auseinandersetzung mit dem Finanzamt. Die Kanzlei soll einer steuerlichen Außenprüfung unterzogen werden. Dabei fordert das Finanzamt insbesondere die Fakturierungsdaten (wozu auch der Mandantenname und der Betreff der Rechnung gehören), um einen Abgleich mit der Finanzbuchhaltung vornehmen zu können. Die Kanzlei wehrt sich dagegen, wobei sie u.a. auf § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB verweist, da sie der beruflichen Verschwiegenheit unterliege. Ist der Argumentationsgang der Kanzlei stichhaltig?
II. Der Tatbestand des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB Der objektive Tatbestand des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt zunächst die Offenbarung eines fremden Geheimnisses voraus, welches dem Täter in seiner Funktion als Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer anvertraut wurde oder sonst bekannt geworden ist. Unter den Begriff des Geheimnisses fallen Tatsachen, die sich auf die Person des Betroffenen sowie auf seine vergangenen und bestehenden Lebensverhältnisse beziehen.7 Dabei kann bereits das Bestehen einer Vertragsbeziehung ein Geheimnis sein,8 so dass schon allein der Name des Mandanten dem Begriff des Geheimnisses unterliegt. Erst recht gilt dies für den Gegenstand des Mandats.9 Ein Geheimnis wird offenbart, wenn es an Dritte mitgeteilt wird und so den „Kreis der zum Wissen Berufenen“ verlässt.10 Durch die Herausgabe der Fakturierungsdaten wird das Geheimnis gegenüber den Mitarbeitern des Finanzamtes also offenbart i.S.d. § 203 StGB. Schon in der elektronischen Übermittlung ist ein „Offenbaren“ zu sehen.11 Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Weise die Informationen beim Berufsgeheimnisträger gespeichert waren. Das Tatbestandsmerkmal des Offenbarens scheitert insbesondere nicht daran, dass die Mitarbeiter des Finanzamts selbst der Geheimhal7
Fischer § 203 Rn. 4, ausf. LK/Schünemann § 203 Rn. 19 ff.. Fischer § 203 Rn. 6. 9 Ausf. Rotger van Lengerich, Das Verhältnis von steuerrechtlichen Mitwirkungspflichten und strafrechtlicher Schweigepflicht des § 203 StGB, 1999 (Diss. Kiel 1999), S. 13 ff. 10 A/W-Hilgendorf § 8 Rn. 32. 11 LK/Schünemann § 203 Rn. 41; ausf. Hilgendorf Strafrechtliche Probleme beim Outsourcing von Versicherungsdaten, in: ders. (Hg.) Informationsstrafrecht und Rechtsinformatik, 2004, S. 98 ff. 8
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tungspflicht nach § 30 AO unterliegen.12 Falls die Offenbarung vorsätzlich erfolgt, ist somit der Tatbestand der Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt, wenn der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer die Daten der Mandanten an die Finanzbehörde herausgibt.
III. Rechtswidrigkeit der Datenherausgabe Problematischer ist die Rechtswidrigkeit der Offenbarung der Daten. Es ist zu prüfen, ob eine – nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB tatbestandsmäßige Übergabe bzw. Übertragung von Mandantendaten von der Kanzlei an die Finanzbehörde von einem Rechtfertigungsgrund erfasst wird.
1. Rechtfertigung aufgrund einer Offenbarungspflicht Die Offenbarung könnte zunächst durch eine Offenbarungspflicht gerechtfertigt sein, wie sie sich aus § 147 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben könnte, wo dem Finanzamt das Recht gewährt wird, Einsicht in die Buchführungsunterlagen zu verlangen. Aus diesem Recht des Finanzamts folgt jedoch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, keine vollständige Offenbarungspflicht des Berufsgeheimnisträgers. Zwar darf die Finanzbehörde grundsätzlich Zugriff auf die gewünschten Daten nehmen. Dies wird im Rahmen einer Außenprüfung in aller Regel aber nur dann möglich sein, wenn der Steuerpflichtige mitwirkt und die in Frage stehenden Daten zur Verfügung stellt. Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sind bei Betriebsprüfungen verpflichtet, bei der Feststellung von Sachverhalten, die für die Besteuerung von Bedeutung sein können, mitzuwirken. Insbesondere haben sie Auskünfte zu erteilen, Aufzeichnungen, Bücher, Geschäftspapiere und andere Urkunden zur Einsicht und Prüfung vorzulegen, und die zum Verständnis der Aufzeichnungen erforderlichen Erläuterungen zu geben, § 200 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO. Dies hat der Ausschuss Steuerrecht der Bundesrechtsanwaltskammer in einer Stellungnahme vom Juli 2009 zu der Frage, ob bei steuerlichen Betriebsprüfungen in Rechtsanwaltskanzleien (und damit auch in interprofessionellen Sozietäten) die Namen von Mandanten offenbart werden dürfen, noch einmal bestätigt13 und entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH.14 12
Vgl. Fischer § 203 Rn. 30b. Vgl. auch unten III. 2. a.E. BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 2). 14 Vgl. nur BFH NJW 2008, 2366 mit Anm. Bilsdorfer NJW 2008, 2368. 13
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Sofern Aufzeichnungen mit Hilfe eines Datenverarbeitungssystems erstellt worden sind – was heute der Regelfall sein dürfte – darf die Finanzbehörde im Rahmen der „digitalen Außenprüfung“ Einsicht in die gespeicherten Daten nehmen und auch das Datenverarbeitungssystem zur Prüfung benutzen. Die Behörde darf verlangen, dass die Daten nach ihren Vorgaben maschinell ausgewertet oder ihr die gespeicherten Unterlagen und Aufzeichnungen auf einem maschinell verwendeten Datenträger zur Verfügung gestellt werden, § 147 Abs. 6 Satz 2 AO.15 Dieses Recht, umfassend Auskunft zu verlangen, führt aber nicht dazu, dass der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer verpflichtet wäre, sämtliche angeforderten Mandantendaten ohne Weiteres herauszugeben. Nach § 43 a Abs. 2 BRAO ist der Anwalt zur Verschwiegenheit verpflichtet, wobei sich diese Pflicht auf alles bezieht, was dem Anwalt in Ausübung seines Berufs bekannt geworden ist. Entsprechende Regelungen finden sich in § 43 Abs. 1 WPO für Wirtschaftsprüfer und in § 9 BOStB für Steuerberater. Diese Verschwiegenheitspflicht wird in § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafrechtlich gesichert. Hinzu tritt § 102 AO: Gemäß § 102 Abs. 3b AO darf der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer Auskünfte über das, was ihm in seiner jeweiligen Eigenschaft anvertraut oder bekannt wurde, verweigern. Auch die Vorlage von Urkunden darf nach Maßgabe des § 102 AO verweigert werden, § 104 Abs. 1 AO. Die skizzierten Auskunftsverweigerungsrechte werden auch in der Rechtsprechung unmissverständlich anerkannt: Nach der Rechtsprechung des BFH darf eine zur Berufsverschwiegenheit verpflichtete Person der Finanzbehörde die Einsicht in alle Daten verweigern, auf die sich ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach § 102 AO erstreckt.16 Dies muss auch im Fall des § 147 Abs. 6 AO gelten. Daraus ergibt sich, dass § 147 Abs. 6 AO keine vollständige Offenbarungspflicht des Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers begründet, sondern nur ein grundsätzliches Zugriffsrecht der Finanzbehörden. Wird die Mitwirkung des Berufsgeheimnisträgers erforderlich, so kann der Berufsgeheimnisträger die Auskunft nach § 102 AO verweigern.17 Dieses Ergebnis wird durch die bereits zitierte Stellungnahme des Ausschusses Steuerrecht der Bundesrechtsanwaltskammer vom Juli 2009 bestätigt: „Soweit … Namen von Mandanten wegen der beruflichen Verschwiegenheitspflicht, deren Verletzung unter Strafandrohung steht (§ 203 Abs. 1 15
BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 2) am Ende. Zuletzt BFH NJW 2008, 2366 (2367); BFH DStR 2010, 950 f. mit Anm. Mutschler; Brandt Die steuerliche Betriebsprüfung 2010, S. 118 (122); ebenso schon z.B. BFH NJW 1958, 646; vgl. auch Seer in: Tipke/Kruse, AO/F60 § 200 Rn. 30. 17 BFH NJW 2008, 2366 (2367). 16
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Nr. 3 StGB) auch gegenüber der Finanzverwaltung geheim gehalten werden müssen, greift das Auskunftsverweigerungsrecht für Rechtsanwälte gemäß § 102 Abs. 1 Nr. 3b AO ein. Dieses Auskunftsverweigerungsrecht ist Bestandteil der allgemeinen Verfahrensvorschriften für die Durchführung der Besteuerung. Diese Verfahrensvorschriften gelten auch im Falle einer Außenprüfung. Die in § 200 AO normierten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bei einer Außenprüfung schränken das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 102 AO nicht ein.“18 Der Vorrang des Auskunftsverweigerungsrechtes nach § 102 Abs. 1 Nr. 3b AO wurde für die Auskunftsverpflichtung Beteiligter gemäß § 93 Abs. 1 AO bereits vom BFH anerkannt.19 Diese Rechtsprechung wurde im Jahr 2009 für die Außenprüfung nach § 193 AO bekräftigt.20 Für die §§ 147 Abs. 6, 200 AO kann nichts anderes gelten. Dies bedeutet für die digitale Außenprüfung, dass der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer auf der Grundlage seiner gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht berechtigt ist, die Mandantennamen mit Hilfe einer geeigneten Software zu sperren und nur diejenigen Namen zu offenbaren, für die (etwa wegen einer Einwilligung, siehe sogleich unter 2) keine Verschwiegenheitspflicht besteht. Soweit Namen aus technischen Gründen nicht gesperrt werden können, sind die entsprechenden Unterlagen auszudrucken, der Anwalt hat die Namen, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, zu schwärzen, 21 und darf erst dann die Unterlagen der Finanzbehörde übergeben. Das Verweigerungsrecht erstreckt sich sowohl auf die Identität des Mandanten als auch auf die Tatsache und den Inhalt der Beratung.22 Es sind dieselben Tatsachen erfasst, die nach § 203 StGB der Geheimhaltung unterliegen. Damit wird die Schweigepflicht nach § 203 StGB umfassend berücksichtigt. Es besteht also keine Auskunftspflicht, die eine Offenbarung i.S.d. § 203 StGB rechtfertigen könnte. Wegen § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB darf der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer vielmehr nur solche Unterlagen vorlegen, aus denen Geheimnisse nach § 203 StGB nicht hervorgehen. Nur angemerkt sei, dass die Finanzbehörde die Absicht, Kontrollmitteilungen zu erstellen, die sich auf Mandanten beziehen, der Sozietät vorab bekannt geben muss.23 Hat der Anwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer versäumt, durch geeignete technische Maßnahmen eine Trennbarkeit von der Verschwiegen18
BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 7). BFH DStR 2002, 1300. 20 BFH DStR 2010, 326; 950 f. mit Anm. Mutschler; Brandt Die steuerliche Betriebsprüfung 2010, 118 (122). 21 Wünsch in: Pahlke/König, § 102 Rn. 14; BFH DStR 2010, 950 (951). 22 BFH NJW 2008, 2366 (2367); Wünsch in: Pahlke/König § 102 Rn. 13. 23 BFH NJW 2008, 2366 (2367); BRAK-Stellungnahme Nr. 21/2009 unter 6). 19
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heit unterliegenden und der Verschwiegenheit nicht unterliegenden Mandantendaten herzustellen, so kann dies – schon mit Blick auf den Verfassungsrang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – nicht ohne Weiteres gegen den Mandanten in Anschlag gebracht werden. Vielmehr ist auch in diesem Fall der Weg des „Papierverfahrens“ mit Schwärzung der bedenklichen Passagen zu wählen. In vorliegendem Beispielsfall braucht dieser Frage nicht weiter nachgegangen zu werden, da die Behörde ohnehin die Herausgabe auch solcher Daten verlangt hat, die der Verschwiegenheitspflicht des Anwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers unterliegen. Im Übrigen hat ein Fehlverhalten der Kanzlei bei der Datenverwaltung und Datenaufbewahrung keine Auswirkungen auf die Strafbarkeit einer unbefugten Herausgabe geschützter Mandantengeheimnisse, da daraus ein Rechtfertigungsgrund im Verhältnis zu den Mandanten nicht hergeleitet werden kann. Auf das Unterlassen einer technischen Vorrichtung zur Datentrennung kommt es also in vorliegendem Zusammenhang nicht an. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Offenbarung der Fakturierungsdaten nicht durch eine Offenbarungspflicht der Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer nach § 147 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 AO gerechtfertigt wäre.
2. Rechtfertigung durch Einwilligung der Mandanten Die Offenbarung wäre jedoch gerechtfertigt, wenn der jeweilige Mandant in die Offenlegung der Fakturierungsdaten eingewilligt hätte. Da eine ausdrückliche Einwilligung nicht vorliegt, kommt nur eine konkludente oder eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht. Die konkludente Einwilligung setzt voraus, dass einer Handlung ein bestimmter, den Schutz des jeweiligen Rechtsguts einschränkender Erklärungswert zukommt. In diesem Fall müsste das Aufsuchen der Anwaltskanzlei und die Mandatserteilung die schlüssige Erklärung beinhalten, der Mandant sei mit der Offenbarung seines Namens und auch des wesentlichen Inhalts des Mandats an die Mitarbeiter des Finanzamts im Rahmen des Steuerverfahrens einverstanden. Wegen des durch § 203 StGB geschützten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sind hohe Anforderungen an die konkludente Einwilligung zu stellen.24 Eine solche konkludente Einwilligung hat der BFH etwa im Fall der Bewirtung von Mandanten angenommen: Danach muss derjenige, der sich von einem Rechtsanwalt im Zusammenhang mit einem Mandatsverhältnis zum Essen einladen lässt, sozialadäquat damit rechnen, dass der Rechtsanwalt die Bewirtungsaufwendungen als Betriebsausgaben geltend macht und die 24
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zu diesem Zweck steuerlich erforderlichen Formalitäten eingehalten werden. Mit Annahme der Einladung willige der Mandant also konkludent in die Offenbarung gegenüber dem Finanzamt ein.25 Dieser Rechtsprechung lässt sich allerdings entgegenhalten, dass die konkludente Einwilligung voraussetzt, dass dem Mandanten zumindest bewusst war, dass seinem Handeln ein bestimmter Erklärungswert zukommt. Es ist jedoch fraglich, ob sich der in steuerrechtlichen Fragen nicht bewanderte Mandant über derartige Fragen überhaupt Gedanken macht, wenn er nicht explizit darauf hingewiesen wird.26 Allein aus der Tatsache, dass die Einwilligung sachgerecht wäre, kann die konkludente Einwilligung nicht hergeleitet werden.27 Weiterhin nimmt der BFH in einem neueren Urteil zur Rechtmäßigkeit der Außenprüfung bei Berufsgeheimnisträgern an, dass ein Verzicht auf Geheimhaltung der Identität des Mandanten in der Regel angenommen werden könne, wenn der Geheimnisträger (z.B. der Steuerberater) an der Steuererklärung mitwirkt und dies dem Finanzamt kenntlich gemacht wurde.28 In diesem Fall mag eine konkludente Einwilligung in der Tat vorliegen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Mandant in aller Regel die Einwilligung nur erteilen wird, soweit der Rechtsanwalt oder Steuerberater in seinem Interesse handelt. Mit der Mitteilung ihm ungünstiger Tatsachen an das Finanzamt wäre der Mandant wohl kaum einverstanden. Für diesen Fall kann ihm deshalb auch keine konkludente Einwilligung unterstellt werden. Unabhängig von den grundsätzlichen Bedenken gegen die skizzierten Urteile lässt sich diese Rechtsprechung jedenfalls nicht ohne Weiteres auf die vorliegende Problemsituation übertragen. Voraussetzung einer (konkludenten) Einwilligung ist stets, dass sie freiwillig und frei von Willensmängeln erklärt wird und dass nach den äußeren Umständen ein dahingehender Wille des Erklärenden anzunehmen ist. Sie kann deshalb nur angenommen werden, wenn die Offenbarung nach der Natur der Sache selbstverständlich oder zumindest nach allgemeinem Verständnis regelmäßig üblich ist.29 So hat der BGH im Fall des ärztlichen Behandlungsvertrags eine konkludente Einwilligung in ein Outsourcing der ärztlichen Verrechnung verneint.30 Noch weniger selbstverständlich ist es jedoch, dass ein Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer im Rahmen eines Steuerverfahrens geheime Daten an das Finanzamt weitergibt. Zwar ist jedem Mandanten 25
BFH NJW 2004, 1614 (1616). Hentschel NJW 2009, 810 (812). 27 Fischer § 203 Rn. 33a. 28 BFH NJW 2008, 2366 (2367). 29 Fischer § 203 Rn. 33a; Schönke/Schröder/Lenckner, § 203 Rn. 24b. 30 BGHZ 115, 123 (128). 26
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grundsätzlich klar, dass auch die interprofessionelle Sozietät den Vorschriften des Steuerrechts unterliegt und sich einem Besteuerungsverfahren unterziehen muss. Wie jedoch ein solches Verfahren im Einzelnen aussieht, ist weniger bekannt; eine nähere Kenntnis davon kann dem Durchschnittsmandanten nicht ohne Weiteres zugerechnet werden. Dagegen weiß der Mandant, dass der Rechtsanwalt, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer der beruflichen Geheimhaltungspflicht unterliegt, vielleicht weiß er auch, dass die betreffenden Berufsgruppen Auskünfte im Steuerverfahren verweigern dürfen. Daraus ergibt sich, dass die Mitteilung von Mandantendaten gegenüber dem Finanzamt gerade nicht selbstverständlich und sozialadäquat ist. Wie beim ärztlichen Behandlungsvertrag auch ist die Schweigepflicht des Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers grundlegende Voraussetzung einer erfolgreichen Beratung, man denke nur an ein Strafverfahren, in dem für den Mandanten sehr viel auf dem Spiel steht, von der Schädigung seines guten Rufes bis hin zu einer hohen Freiheitsstrafe. Dass vertrauliche Tatsachen hier nicht nach außen dringen dürfen, bedarf keiner näheren Begründung und ist für den Mandanten Grundlage dafür, dass er sich überhaupt dem Verteidiger anvertraut. Eine Einladung zum Essen wie im oben genannten Urteil des BFH31 kann der Mandant ohne weitere Folgen ausschlagen. Die für ihn notwendige juristische Beratung erlangt er jedoch nur dann, wenn er eine Vertragsbeziehung mit dem Rechtsanwalt eingeht. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Nähme man an, in jeder Mandatserteilung liege zugleich eine Einwilligung in die Weitergabe anvertrauter Informationen an das Finanzamt, so wäre der Mandant gezwungen, stets in die Offenbarung seiner Daten einzuwilligen, wenn er sich bei den genannten Berufsgruppen fachlichen Rat holt.32 Eine solche Konstruktion erscheint lebensfremd und wird dem Verfassungsrang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung33 nicht gerecht. Eine konkludente Einwilligung kann auch nicht mit dem Argument bejaht werden, die Mitarbeiter des Finanzamtes unterlägen gemäß § 30 AO selbst der Geheimhaltungspflicht, das Geheimnis des Mandanten sei also weiterhin geschützt. Zum einen wird der Mandant wohl trotz § 30 AO kaum damit einverstanden sein, dass dem Finanzamt Tatsachen bekannt werden, die ihn steuerlich belasten. Zum anderen erweitert sich durch die Offenlegung der Daten gegenüber dem Finanzamt der Kreis der Wissenden erheblich. Auch wenn diese selbst zur Geheimhaltung verpflichtet sind, erhöht eine solche 31
Vgl. oben Fn. 25. Zu Recht weist Rissing-van Saan (Fn. 1), S. 239 darauf hin, „dass der Betroffene den [in § 203 StGB, E.H.] aufgezählten Vertrauenspersonen mehr oder weniger gezwungen oder notwendigerweise Geheimnisse anvertrauen muss“. 33 Vgl. oben Fn. 6. 32
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Erweiterung immer die Gefahr, dass Inhalte des Geheimnisses nach außen dringen. Aus diesem Grund kann allein wegen der Verschwiegenheitspflicht nach § 30 AO eine konkludente Einwilligung nicht bejaht werden. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Offenbarung nicht durch eine konkludente Einwilligung des Mandanten gerechtfertigt wäre.34 Die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung setzte voraus, dass der Mandant nicht rechtzeitig befragt werden kann.35 Bloße Schwierigkeiten bei der Durchführung der Befragung oder ein hoher Kostenaufwand reichen dabei nicht aus.36 Schon wegen der Möglichkeit der Rückfrage scheidet daher die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung aus.37
3. Rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB Zu denken ist des Weiteren an eine Rechtfertigung des Daten übertragenden Anwalts nach § 34 StGB. Die Annahme eines rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB setzt zunächst eine Notstandslage, d.h. eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut voraus. Das Finanzamt verlangt die Herausgabe der Daten. Konkrete Rechtsfolgen für den Fall einer Weigerung sind bislang nicht angedroht worden; zu denken ist aber etwa an eine Steuerschätzung (§ 162 Abs. 2 AO), die im Zweifel für die Kanzlei finanzielle Nachteile bringen würde. Zu bedenken ist auch der Reputationsverlust für die Kanzlei, der sich leicht wirtschaftlich niederschlagen kann. Mittelbar dient die Herausgabe der Daten der Abwehr einer Gefahr für die Gleichmäßigkeit der Besteuerung als allgemeinem Rechtsgut mit Verfassungsrang (Art. 3 Abs. 1 GG, § 85 AO). Dabei ist anerkannt, wenn auch nicht unstreitig, dass § 34 StGB nicht nur Individualrechtsgüter, sondern auch allgemeine Rechtsgüter wie z.B. die Volksgesundheit38 oder die Sicherheit des Luftverkehrs39 schützt. Eine gegenwärtige Gefahr ist anzunehmen, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist.40 Auch dies kann bejaht werden. Es fehlt aber an einem wesentlichen Überwiegen der geschützten gegenüber den beeinträchtigten Interessen i.S.v. § 34 StGB. Es müssten die skizzierten Interessen der interprofessionellen Sozietät sowie das Interesse an der Gleichmäßigkeit der Besteuerung das Geheimhaltungsinteresse der Mandaten und damit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung we34
Göpfert DB 2006, 581 (584). Vgl. MK/Cierniak § 203, Rn. 83. 36 Otto wistra 1999, 201 (204); MK/Cierniak § 203 Rn. 83. 37 BGH NJW 1991, 2955; NJW 1995, 2026; MK/Cierniak § 203 Rn. 83. 38 BGH NStZ 1988, 558 f. 39 BGH NStZ 2006, 243 (244). 40 Fischer § 34 Rn. 4. 35
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sentlich überwiegen. Dabei ist einerseits zwischen dem abstrakten Rang der beteiligten Rechtsgüter abzuwägen, andererseits sind aber auch die konkreten Interessen der Beteiligten in den Blick zu nehmen.41 Angesichts der Tatsache, dass hier auf beiden Seiten Rechtsgüter von Verfassungsrang involviert sind, wird man von einem „wesentlichen Überwiegen“ einer Seite nicht ausgehen können. Das Schutzinteresse der Kanzlei ist zwar stark, überwiegt aber das grundrechtlich gestärkte Schutzinteresse der Mandanten nicht wesentlich. Eine Offenbarung der Mandanteninformationen wäre deshalb nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt.
4. Rechtfertigung aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen Möglicherweise könnte der Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, der die Daten an die Finanzbehörde weitergibt, aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 StGB, gerechtfertigt sein. Allerdings ist schon umstritten, ob sich aus § 193 StGB ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund ableiten lässt.42 Voraussetzung der Wahrnehmung berechtigter Interessen ist jedenfalls, dass der Handelnde eigene Interessen wahrnimmt oder allgemeine Interessen, die jeden Staatsbürger berühren und als berechtigtes Interesse nahe angehen.43 Auch hier ist eine Interessenabwägung durchzuführen. Ein Überwiegen der Kanzleiinteressen ist nicht anzunehmen (s.o. 3). Damit scheidet auch eine Rechtfertigung aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen aus. Als Zwischenergebnis lässt sich damit festhalten, dass eine Herausgabe der Mandanteninformationen rechtswidrig wäre. Sofern die sonstigen Voraussetzungen einer Strafbarkeit, insbesondere Verschulden, ebenfalls vorlägen, würde sich der Berufsgeheimnisträger der interprofessionellen Sozietät, der den Finanzbehörden die Fakturierungsdaten offenlegt, mangels Rechtfertigung nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar machen.
IV. Strafrisiken für den Finanzbeamten? Zu klären bleibt, ob im Falle einer Herausgabe von Daten durch die Kanzlei eine Strafbarkeit des handelnden Finanzbeamten wegen Anstiftung zur Verletzung von Privatgeheimnissen, §§ 203 Abs. 1 Nr. 3, 26 StGB zu befürchten ist. Eine dem Grundsatz der limitierten Akzessorietät genügende 41
Vgl. zur Durchführung der Interessenabwägung Wessels/Beulke Strafrecht AT, Rn. 310 ff. Vgl. dazu Nachweise bei LK/Rönnau Vor § 32 Rn. 304; LK/Schünemann § 203 Rn 131. 43 Fischer § 193 Rn. 13. 42
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tatbestandsmäßige und rechtswidrige Haupttat läge vor, vgl. oben II. - III. Erst durch die Aufforderung der Finanzbehörde wurde der Tatenschluss des Berufsgeheimnisträgers zur Offenbarung des Geheimnisses hervorgerufen. Er wird deshalb objektiv zur Begehung der Haupttat bestimmt, § 26 StGB. Problematisch ist hingegen der erforderliche Anstiftungsvorsatz, der sich sowohl auf die vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat, als auch auf das Hervorrufen des Tatentschlusses bei dem Geheimnisträger erstrecken muss.44 Letzteres ist jedenfalls gegeben, da der Finanzbeamte die Herausgabe mit seiner Aufforderung gerade bezweckt. Fraglich ist jedoch, ob der Finanzbeamte dabei damit rechnet und zumindest billigend in Kauf nimmt, dass der Geheimnisträger sich aufgrund dieser Aufforderung durch Herausgabe der Daten eine Haupttat nach § 203 Abs. 1 StGB begeht. Das hier in Frage stehende Verfahren ist gesetzlich so ausgestaltet, dass §147 Abs. 6 AO dem Mitarbeiter des Finanzamtes das Recht gewährt, Auskunft zu verlangen, andererseits dem Berufsgeheimnisträger nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 b AO das Recht zusteht, diese Auskunft zu verweigern, wenn er von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit nicht entbunden wurde, § 102 Abs. 3 AO. Die §§ 43 a Abs. 2 BRAO, 43 Abs. 1 WPO und 9 BOStB verpflichten die Berufsgeheimnisträger sogar zur Verschwiegenheit. Der Mitarbeiter des Finanzamtes kann deshalb ebenso wie auch der befragende Polizeibeamte, Staatsanwalt oder Richter im Strafverfahren davon ausgehen, dass der Berufsgeheimnisträger, der schließlich seine Schweigepflicht kennt und der allein weiß, ob der Mandant ihn von dieser Verpflichtung entbunden hat, sich gegebenenfalls auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen wird. Er nimmt dann aber nicht billigend in Kauf, dass sich der Berufsgeheimnisträger mit seiner Auskunft strafbar macht und handelt in diesem Fall somit ohne Vorsatz. Anders ist die Situation zu bewerten, wenn dem Mitarbeiter des Finanzamtes positiv bekannt ist, dass keine Einwilligung der Mandanten vorliegt45 und er auch nicht vom Vorliegen eines anderen Rechtfertigungsgrundes für den Berufsgeheimnisträger ausgeht. Der Mitarbeiter des Finanzamts weiß in diesem Fall, dass der Berufsgeheimnisträger zur Herausgabe der Daten nicht befugt ist. Er handelt mit Blick auf eine Tat nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB also vorsätzlich, wenn er den Berufsgeheimnisträger ernstlich zur Herausgabe von Daten auffordert, die dem Schutz des § 203 StGB unterliegen. Eine Rechtfertigung kann nicht schon aus einem etwaigen Versäumnis des Berufsgeheimnisträgers hergeleitet werden, i.S.d Geheimhaltungspflicht 44
Fischer § 26 Rn. 7. Eine solche Kenntnis kann sich etwa aus einer entsprechenden vorab erteilten Auskunft der Sozietät ergeben. 45
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des § 203 StGB bedenkliche von unbedenklichen Daten zu trennen. Im Strafrecht ist ein derartiges „Mitverschulden“ grundsätzlich bedeutungslos. Hinzu kommt, dass die Finanzbehörde im vorliegenden Beispielsfall (vgl. oben I) gerade auch Einsicht in die bedenklichen Daten begehrte. Eine Rechtfertigung des Herausgabeverlangens könnte sich aber aus § 147 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben. Durch diese Bestimmung wird ein Recht der Finanzbehörde festgelegt, eine Herausgabe der fraglichen Daten zu fordern. Ein solches Recht entfaltet nach dem Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ auch im Strafrecht Wirkung.46 § 147 Abs. 6 AO ist deshalb grundsätzlich als ein Rechtfertigungsgrund anzusehen.47 Fraglich ist aber, ob § 147 Abs. 6 AO auch dann eine rechtfertigende Wirkung entfalten kann, wenn das Finanzamt sicher weiß oder zumindest davon ausgehen muss, dass der Berufsgeheimnisträger durch die Herausgabe der Daten den § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllen würde. Wird in einem solchen Fall ein Herausgabebegehren in Form eines Verwaltungsaktes erlassen, so ist der Verwaltungsakt gem. § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nichtig. § 147 Abs. 6 AO bezieht sich nur auf ein rechtmäßiges Herausgabeverlangen. Gerade mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung erscheint es schwerlich vertretbar, dem § 147 Abs. 6 eine rechtfertigende Wirkung zuzuschreiben, wenn der Verwaltungsakt, welcher auf § 147 Abs. 6 AO gestützt wird, nicht bloß rechtswidrig, sondern wegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers sogar nach § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nichtig ist Es ist davon auszugehen, dass der Erlass eines nach § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nichtigen Verwaltungsakts, der eine Herausgabe von Daten i.S.v. § 147 Abs. 6 AO fordert, nur in seltensten Fällen vorkommen dürfte. Wird etwa der die Aufforderung zur Datenträgerüberlassung enthaltende Verwaltungsakt so formuliert, dass er sich nur auf solche Daten bezieht, deren Herausgabe rechtlich zulässig ist, liegt eine Nichtigkeit i.S.v. § 125 Abs. 2 Nr. 3 AO nicht vor. Würde eine Finanzbehörde jedoch sehenden Auges einen Verwaltungsakt nach § 147 Abs. 6 AO erlassen, der die Begehung einer strafrechtswidrigen Tat verlangt, so kann § 147 Abs. 6 AO keine rechtfertigende Wirkung entfalten. Dies gilt etwa dann, wenn die Behörde sicher weiß, dass keine Einwilligung der Betroffenen vorliegt. Das Herausgabeverlangen ist dann rechtswidrig. Dies betrifft nicht bloß diejenigen Fälle, in denen der Finanzbehörde von Anfang an die genauen Umstände des Falles bekannt waren, sondern auch solche Fälle, in denen die Umstände erst nachträglich (aber noch vor dem eigentlichen Herausgabeverlangen) offenkundig werden. Auf der Schuldebene kommt die Annahme eines Verbotsirr-
46 47
Jescheck/Weigend AT, S. 327. Dazu schon oben III.1.
Digitale Außenprüfung und Strafrecht
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tums, § 17 StGB, in Frage, der hier jedoch als vermeidbar einzustufen wäre, da die Finanzbehörde die Möglichkeit hat, sachkundigen Rat einzuholen. Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass sich ein Finanzbeamter strafbar machen kann, wenn er in Kenntnis der Tatsache, dass keine Einwilligung der Mandanten vorliegt, von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern oder Rechtsanwälten die Herausgabe der Mandantendaten fordert. Die digitale Außenprüfung ist nur in den durch § 203 StGB gesteckten Grenzen zulässig.
Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte HANS JOACHIM HIRSCH
I. Beim 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009 hat Ruth Rissing-van Saan, der dieser Beitrag mit vielen guten Wünschen für den bevorstehenden Ruhestand gewidmet ist, ein stark beachtetes Referat über „Das systematische Verhältnis von Mord und Totschlag und die Reform der Tötungsdelikte – Eine kritische Betrachtung aus der Perspektive der Rechtsprechung“ gehalten.1 Es gibt wohl keine zweite Frage, bei der sich in der deutschen strafrechtlichen Diskussion Theorie und Praxis bisher so geschlossen gegenüberstehen: Aus theoretischer Sicht bildet § 212 StGB den Grundtatbestand, der § 211 StGB einen qualifizierten Tatbestand.2 Die Rechtsprechung geht dagegen von eigenständigen Tatbeständen aus.3 In jüngster Zeit lassen sich in Teilen der höchstrichterlichen Judikatur Annäherungen an die Auffassung der Theorie beobachten.4
II. 1. Rissing-van Saan leitet ihre Ausführungen mit der Bemerkung ein, dass jeder, der sich mit diesem Thema als Autor oder Referent befasst, „durch sein Vorverständnis und eigenen Erfahrungen mit Auslegung und Anwendung der Strafnormen geprägt“ sei. Sie sieht sich daher zu dem Hinweis veranlasst, dass wie bei jeder Diskussion über Divergenzen in rechtlichen Fragen zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft trotz der gemein1 Rissing-van Saan in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, 2010, S. 26 ff. 2 Vgl. die umfangreichen Nachw. bei Sch/Sch-Eser 28. Aufl. 2010, Vor §§ 211 ff. Rn 2 ff. 3 Seit BGHSt. 1, 368, 370 ff., st. Rspr., bestätigt in BGHSt. 50, 1, 5 f.; BGH NStZ 2006, 288, 290. Weitere Nachw. bei Fischer 57. Aufl. 2010, § 211 Rn 89. 4 Siehe BGH NJW 2006, 1008, 1012 f.; BGH NStZ 2006, 34, 35; 288, 290.
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samen Grundlage in den jeweiligen Gesetzen die unterschiedliche Aufgabenstellung und der unterschiedliche Wirkungskreis beider mitbedacht werden müsse.5 De lege lata stehen Literatur und Rechtsprechung in der Tat vor einer unterschiedlichen Einordnung. Nach den Regeln der Strafrechtsdogmatik haben die Theoretiker recht, weil die Tatbestandsmerkmale des § 212 StGB in vollem Umfang in dem durch straferhöhende Merkmale ergänzten Mordtatbestand des § 211 StGB enthalten sind. Diese den Gesetzen der Logik folgende Auslegung führt jedoch zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass der Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung – und das bedeutet: der Normalfall vorsätzlicher Tötung – nur eine Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren vorsieht. Dass § 212 Abs. 2 StGB für besonders schwere Fälle lebenslange Freiheitsstrafe androht, ändert daran nichts. Ganz abgesehen davon, dass die Rechtsfigur der besonders schweren Fälle ohnehin fragwürdig ist und an dieser Stelle ihren bedenklichsten Punkt erreicht,6 ändert sich nichts an der Rechtsnatur des in Bezug genommenen Tatbestands. Auch hat der Begriff des Totschlags im allgemeinen Sprachverständnis eher eine gegenüber dem Mord privilegierende Bedeutung. Hinzu kommt, dass bei den in § 211 StGB enthaltenen besonderen persönlichen Merkmalen (d.h. den Merkmalen der 1. und der 3. Gruppe im Unterschied zu den tatbezogenen der 2. Gruppe) nach der zu den §§ 211 und 212 StGB vertretenen Schrifttumsmeinung unbefriedigende Ergebnisse in Teilnahmefällen gemäß der bei § 28 Abs. 2 StGB vorherrschend vertretenen Tatbestandslösung7 die Folge sind: Hat der Anstifter zwar Kenntnis von ihrem Vorliegen beim Täter, erfüllt er das Merkmal aber nicht selbst, kann er nur wegen Teilnahme am Totschlag bestraft werden. Weist dagegen der Täter ein solches Merkmal nicht auf, liegt es nur beim Anstifter vor, wird dieser wegen Anstiftung zum Mord bestraft, obwohl kein Mord gegeben ist. Es ist daher verständlich, dass die Rechtsprechung bemüht ist, angemessenere Ergebnisse, wenn auch auf dogmatisch-wissenschaftlichen Maßstäben nicht entsprechende Weise, zu erzielen. Das bedeutet allerdings nicht, dass für Wissenschaft und Rechtsprechung unterschiedliche Auslegungs5 (o. Fn. 1) S. 26. Anschließend heißt es dort: „Die Domäne der Rechtswissenschaft ist das Forschen und das Hinterfragen von Problemstellungen, die durch die Gesetze vorgegeben sind, sowie die freie wissenschaftliche Disputation mit Rede und Gegenrede. ... Die Rechtsprechung hat demgegenüber die Aufgabe, das Gesetz für alle ... Rechtsunterworfenen verbindlich auszulegen und so Rechtssicherheit zu schaffen. Zugleich hat sie das Gesetz auf die ihr unterbreiteten Sachverhalte anzuwenden und den jeweils konkreten Einzelfall einem rechtlich richtigen und möglichst gerechten Ergebnis zuzuführen“. 6 Dazu näher Hirsch Gössel-FS, 2002, S. 287, 300 f. mwN. 7 Zur Tatbestandslösung bei § 28 Abs. 2 StGB vgl. BGHSt. 6, 308; 8, 205, 208; 50, 1, 5; BGH StV 1994, 17; 1995, 84; st. Rspr.; Sch/Sch-Cramer/Heine § 28 Rn 28 mwN.
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grundsätze gelten. Die Auslegung unterliegt vielmehr den durch die Interpretationsmöglichkeiten des Gesetzestextes gezogenen Grenzen, und jeder der auslegenden Akteure, sei er Wissenschaftler oder Richter, hat dieselbe Aufgabe: nach dem Ergebnis zu suchen, das als geltendes Recht anzusehen ist. Handelt es sich um einem misslungenen Gesetzestext, und so verhält es sich bei der Regelung der §§ 211 und 212 StGB, kann aber die Situation bestehen, dass sich kein zwingendes, in jeder Hinsicht schlüssiges Ergebnis aus dem Text entnehmen lässt. In solchem Fall findet statt, wovon Rissingvan Saan spricht: die Theoretiker richten den Blick vor allem auf die dogmatische Seite, die Praktiker vornehmlich auf das praktische Ergebnis. Dass eine solche Lage bei der Auslegung der §§ 211 und 212 StGB entstanden ist, dafür sind der NS-Gesetzgeber und seit 1949 wohl auch Unvermögen der bundesdeutschen Legislative verantwortlich. Zwar fand der Gesetzgeber bei der 1940 erfolgten Konzipierung der jetzigen Fassung bereits in dem ursprünglichen Text von 1871 eine Regelung vor, die zu Unklarheiten über das Verhältnis von § 211 a.F. StGB und § 212 a.F. StGB geführt hatte: War § 211 a.F. der die „mit Überlegung“ ausgeführte vorsätzliche Tötung regelte, oder § 212 a.F., der die „ohne Überlegung“ begangene betraf, der Grundtatbestand?8 Dafür, dass § 211 a.F. den Grundtatbestand enthielt, sprach immerhin: Er erfasste alle Fälle vorsätzlicher Tötung, soweit sie nicht, weil namentlich im Affekt begangen,9 unter den strafmildernden Tatbestand des § 212 a.F. fielen. Man ordnete die „Überlegung“ auch nicht den besonderen persönlichen Merkmalen zu, so dass der damalige § 50 (=heutiger § 28 Abs. 2) unberührt blieb.10 Bei der Reform von 1940 hat man dann § 211 StGB mit einem Katalog schärfender Merkmale von der einfachen vorsätzlichen Tötung nach § 212 StGB abgehoben und dadurch in dogmatisch-systematischer Sicht das Verhältnis von beiden Tötungsvorschriften vom Normal-Minus-Verhältnis in ein Normal-Plus-Verhältnis verändert und dabei auch noch durch Aufnahme besonderer persönlicher Merkmale Teilnahmeprobleme verursacht. Immerhin wurde gesehen, dass der Totschlagstatbestand, obgleich der Mordtatbestand durch schärfende Merkmale auf der vorsätzlichen Tötung aufbaut, eigentlich nicht im Sinne der sonst geübten Gesetzgebungstechnik materiell als Grundtatbestand passt. Man beließ den Mordtatbestand deshalb am Anfang des Abschnitts und regelte die Totschlagsstrafbestimmung hinter ihm. Auch sah der BGH bereits in seiner ersten einschlägigen Entscheidung, dass bei einer systematischen Einordnung des geltenden § 212 StGB als Grundtatbestand die hinsichtlich der in § 211 StGB aufgenommenen besonderen persönlichen 8
Vgl. Olshausen 11. Aufl. 1927, § 211 Anm. 5, § 212 Anm. 1, mwN. Vgl. Olshausen (o. Fn. 8) § 211 Anm. 5 u. 7. 10 Vgl. Olshausen (o. Fn. 8) § 211 Anm. 9 mwN. 9
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Merkmale zur Anwendung kommende Teilnahmeregelung (heute § 28 Abs. 2 StGB) – mit der bei ihr herkömmlich vertretenen Tatbestandsverschiebung – zu „sonderbaren Ergebnissen“ führen würde.11 Was die Rechtsprechung bei alledem in praktischer Hinsicht der Schrifttumsauffassung voraus hat, entbehrt sie an systematischer Folgerichtigkeit. Dies ist inzwischen auch an weiteren Problemen deutlich geworden: Die Interpretation, wonach §§ 211 und 212 StGB zwei eigenständige Tatbestände sind, lässt sich nur mit Hilfe angreifbarer Hilfskonstruktionen durchhalten.12 Der Meinungsstreit, der also seine Ursache in einem unzulänglichen Gesetzestext hat, zeigt, dass die tatbestandliche Anordnung reformbedürftig ist, wobei weder die eine noch die andere der beiden vorgenannten Meinungen die Lösung sein kann. Was de lege lata lediglich möglich erscheint, ist die Durchsetzung des Strafzumessungskonzepts bei § 28 Abs. 2 StGB. Damit würde wenigstens einer der gegen die Schrifttumsauffassung zu erhebenden Einwände entfallen.13
2. Es geht bei den Fragen der §§ 211 und 212 StGB nicht nur um die vorstehenden systematischen Einordnungsprobleme, sondern ebenso um fachspezifische Relikte der NS-Zeit. Die Vorschriften spiegeln zum Teil das Täterund Gesinnungsstrafrecht jener Jahre wider. Das wird einmal deutlich an den Formulierungen „Mörder ist…“ und „als Totschläger wird…“ Es gehört zu den Peinlichkeiten bundesdeutscher Gesetzgebung, dass man es nicht für nötig gehalten hat, diese Erinnerungen an die NS-Zeit zu beseitigen, obwohl eine an die Formulierungstechnik anderer Strafbestimmungen angepasste tatstrafrechtliche Neufassung ohne weiteres möglich gewesen wäre.14 Hier 11 BGHSt 1, 368, 371. Dass im übrigen keine der lege lata zum Verhältnis von § 211 und § 212 StGB vertretenen Auffassungen eine sachentsprechende Lösung de lege ferenda sein kann, wird offenbar in einem Arbeitspapier des BMJ, von dem Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 28 kritisch berichtet, übersehen, wenn dort der Totschlag als Grundtatbestand geregelt werden soll. 12 Vgl. die Nachw. und Erörterung der betreffenden Entscheidungen bei Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 36 ff., die aber die in der Literatur geäußerte Kritik als unberechtigt einschätzt. 13 Dazu Hirsch Tröndle-FS, 1989, S. 19, 35. 14 Das 3. StÄG (StrafrechtsbereinigungsG) von 1953 wäre eine naheliegende Möglichkeit gewesen. Die Formulierungsänderung hätte bei Wahrung des Tatbestandsinhalts bei § 211 StGB lauten können: „Wer aus ... einen Menschen tötet, wird wegen Mordes mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“. Parallel hätte sich § 212 Abs. 1 StGB leicht umformulieren lassen: „Wer einen Menschen tötet, ohne dass die Merkmale des Mordes vorliegen, wird wegen Totschlags mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ Gesetzliche Überschriften der Strafbestimmungen gab es zu der Zeit noch nicht.
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hat sich ereignet, was inzwischen allgemein bei der deutschen Strafgesetzgebung festzustellen ist: Wenn die Rechtsprechung eine fehlerhafte Gesetzesfassung korrigiert, fühlt sich der Gesetzgeber von der Verpflichtung befreit, für einen einwandfreien Gesetzestext zu sorgen.15 Es handelt sich bei der Neufassung des Mordtatbestands aber nicht nur um die vorgenannten Täterformulierungen, sondern mehr noch darum, gesinnungsstrafrechtliche Mordmerkmale des bisherigen Textes durch tatstrafrechtliche zu ersetzen.
3. Ein weiteres Hauptproblem bildet die lebenslange Freiheitsstrafe. Nach der Bejahung ihrer grundsätzlichen Zulässigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unter der Auflage, dass eine Restriktion der Anwendung bei den Mordmerkmalen „heimtückisch“ und „Verdeckungsabsicht“ stattfindet, hat der Große Senat des BGH bekanntlich eine Strafzumessungslösung eingeführt.16 Diese Konstruktion kam völlig überraschend. Ihr fehlt die Verankerung im Gesetzestext.17 In der Praxis läuft sie weitgehend leer.18
4. Es bestätigt sich also, dass eine Reform der §§ 211 ff. StGB sachlich geboten ist.19 Bei den de lege ferenda zu unterbreitenden Vorschlägen geht es folglich vor allem um das Verhältnis der Strafbestimmungen von Mord und Totschlag sowie die tatstrafrechtliche Ausrichtung der Inhalte und um die tatbestandlichen Voraussetzungen der lebenslangen Freiheitsstrafe als der höchsten Strafdrohung. Neben diesen zentralen Problemkreisen sind auch die Fälle der Tötung in der Geburt, der Tötung auf Verlangen und des Behandlungsabbruchs sowie der Todesfolge bei erfolgsqualifizierten Delikten in den Blick zu nehmen.
15
Zu dieser allgemeinen Beobachtung näher Hirsch Puppe-FS, 2011, S. 1, 17. BGHSt. (GrS) 30, 105, 119 ff. 17 Bruns Kleinknecht-FS, 1985, S. 49, 57 ff.; Sch/Sch-Eser § 211 Rn 10b mwN. 18 Vgl. BGH NJW 1983, 54; NStZ 1982, 69; 1983, 553; 1984, 20; dazu Heine LdR 8/1680, 3; Sch/Sch-Eser § 211 Rn 10b. Gesetzeskonform wäre eine restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals „heimtückisch“ gewesen, für die Vorschläge vorhanden waren und sind. 19 So schon die Forderung des 53. DJT 1980, vgl. Verhandlungen des 53. DJT, M 163 ff. Siehe auch Lackner/Kühl 26. Aufl. 2007, Vor § 211 Rn 25 und die dortigen umfangreichen Nachweise. Rissing-van Saan (o. Fn. 1) gelangt ebenfalls zu dem Ergebnis: „Vorrangig ist ... der Gesetzgeber gefordert“ (S. 43). 16
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III. 1. Der jüngste Reformvorschlag ist ein Alternativ-Entwurf von 2008 (AELeben).20 Er greift die vorgenannten Problempunkte auf. Zu Mord und Totschlag unterbreitet er folgende Neufassung: „§ 211 Mord“ (1) Wer einen anderen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Auf lebenslange Freiheitsstrafe darf nur erkannt werden, wenn besonders erhöhtes Unrecht verwirklicht wird, das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist. Dazu ist notwendig und in der Regel ausreichend, dass der Täter 1. durch eine oder mehrere Handlungen mehrere Menschen tötet oder zu töten versucht oder durch die Tat das Leben weiterer Menschen unmittelbar gefährdet, 2. in bandenmäßigem Zusammenschluss oder innerhalb eines organisierten Netzwerkes, deren Tätigkeit Gewalttaten zum Gegenstand hat, tötet, 3. einen Menschen wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen oder politischen Anschauung tötet. 4. Das Opfer nach Zufügung erheblicher körperlicher oder seelischer Qualen tötet. 5. Die Tat um des Tötens willen durchführt, 6. zum Zweck der sexuellen Erregung tötet, 7. zur Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat tötet oder 8. im Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen tötet. „§ 212 Totschlag“ (1) Wer einen anderen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er 1. aus Verzweiflung oder aus Mitleid mit dem Opfer handelt, um sich oder eine ihm nahe stehende Person aus einer ihm ausweglos erscheinenden und allgemein begreiflichen Konfliktlage zu befreien, 2. durch eine erhebliche Straftat des Getöteten, die gegen Leben, Leib oder Freiheit des Täters oder einer ihm nahe stehenden Person gerichtet war, unter dem bestimmenden Einfluss einer heftigen Gemütsbewegung, deren Beherrschung von ihm nicht erwartet werden konnte, zur Tat motiviert worden ist oder 3. durch eine vergleichbare Konfliktlage zur Tötung bestimmt worden ist. 20
Veröffentlicht in GA 2008, 193, 200 ff., vorgelegt von Heine u.a.
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(2) Treffen die Voraussetzungen von Absatz 1 und § 211 Abs. 2 zusammen, ist auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu erkennen. Der bisherige § 213 StGB entfällt nach dem Entwurf, weil er neben der vorgenannten Fassung des § 212 StGB überflüssig sein würde.21
2. a) An diesen Reform-Vorschlägen des AE-Leben ist positiv zu vermerken, dass sie bestrebt sind, den Mord als allgemeinen Tatbestand der vorsätzlichen Tötung zu regeln und den Totschlag als privilegierten Tatbestand davon abzustufen. Terminologische Einwände lassen sich hiergegen nicht erheben. Den Regelfall der vorsätzlichen Tötung als Mord zu bezeichnen, entspricht dem Herkommen. Wie schon erwähnt, war bis zur Reform von 1940 im StGB der Mord als Tötung mit Überlegung definiert, und der Totschlag war als Fall, bei dem es an der Überlegung fehlt – namentlich wenn der Täter im Affekt gehandelt hat22 – geregelt, also als Milderung eingestuft. Auch erfassen die Mordmerkmale der geltenden Fassung des § 211 StGB die im Vordergrund stehenden Fälle, während der Totschlagstatbestand in der Praxis Anwendung findet, wenn man vom Vorliegen einer geringer einzuschätzenden Tatbegehung ausgeht. Sachlich spricht für eine solche Lösung, dass sie ausgerichtet ist an der Einstufung des Lebens als höchstrangigem Rechtsgut und dass der Gesetzgeber vom Normalfall auszugehen hat. Auch § 75 österr. StGB von 1974 bezeichnet den Normalfall der vorsätzlichen Tötung als Mord und stuft in § 76 den Totschlag als privilegierten Fall davon ab. So verhält es sich außerdem im 2. Abschn. Kap. 3 §§ 1f. schwed. StGB von 1962. In diesem Sinne hat sich ebenfalls Rissingvan Saan ausgesprochen.23 Hinsichtlich der vom AE-Leben vorgeschlagenen übrigen Ausgestaltung erheben sich jedoch gewichtige Einwände:
b) Wenn man den Mord als vorsätzliche Tötung definiert und ihn damit als zentralen Tatbestand der vorsätzlichen Tötungsdelikte begreift, stellt sich vor allem die Frage der angemessenen Rechtsfolgenregelung. Ein Normal21
GA 2008, 201, 244 f. Man spricht in Bezug auf die damalige Auffassung auch vom Gegensatzpaar „Überlegung-Affekt bei Ausführung der Tat“; vgl. Olshausen (o. Fn. 8) § 211 Anm. 5 mwN. 23 Vgl. (o. Fn. 1) S. 41. 22
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strafrahmen, der bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe herunterreicht, wie ihn der AE-Leben vorsieht, steht in keiner Weise in Relation zu dem Gewicht des durch die Strafbestimmung geschützten Rechtsguts „Leben“. Zwar ist bei Vorliegen eines besonders schweren Falles i.S. von § 12 Abs. 3 StGB auch lebenslange Freiheitsstrafe möglich. Aber ein solcher Fall kommt nach dem Entwurf nur in Betracht, wenn „besonders erhöhtes Unrecht verwirklicht wird, das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist,“ und dazu im Entwurf genannte Mindesterfordernisse vorliegen. Der Blick richtet sich daher primär auf den Normalstrafrahmen der angedrohten zeitigen Freiheitsstrafe, wobei es nicht nur um die Untergrenze, sondern auch um die Obergrenze geht. Deren Höchstmaß beträgt gemäß § 38 Abs. 2 StGB fünfzehn Jahre. Da die lebenslange Freiheitsstrafe an erschwerende Umstände gebunden wird, rückt mithin die Strafdrohung „fünf bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe“ in den Mittelpunkt des § 211 AE-Leben, und nimmt man hinzu, dass die deutsche Gerichtspraxis allgemein dazu neigt, sich im unteren bis mittleren Bereich der Strafdrohungen zu bewegen, wird zusätzlich deutlich, dass der Strafrahmen unangemessen ist.24 Während das geltende Recht grundsätzlich lebenslange Freiheitsstrafe für Mord androht, meinen die Verfasser des Entwurfs jetzt, dass sich sogar im Normalfall mit einem Strafrahmen von fünf bis fünfzehn Jahren auskommen lässt. Woher stammen solche Wertvorstellungen? Jedenfalls nicht aus der Rechtsgemeinschaft, schon gar nicht aus dem Verfassungsrecht.
c) Es ist noch ein zweiter Punkt zu kritisieren: Die Verwendung der Rechtsfigur der besonders schweren Fälle mit Regelbeispielen. Die Verfasser lassen unberücksichtigt, dass diese wie ein Krebsgeschwür sich im StGB ausbreitende Rechtsfigur fragwürdig und umstritten ist. Wegen der Unbestimmtheit und Einladung zu Analogieschlüssen zu Ungunsten des Täters erheben sich ihr gegenüber straf- und verfassungsrechtliche Einwände.25 An der sensiblen Stelle der Anwendbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bedeutet sie hier die Eröffnung von zwei richterlichen Ermessensentscheidungen: der Annahme eines besonders schweren Falles und der Bejahung der Angemessenheit der fakultativ angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe. Will man innerhalb der Mordfälle eine Gruppe schwerstwiegender Taten 24
So schon Hirsch in: Jahn/Nack (o. Fn. 1), Diskussionsbericht (Pintaske/Sitzer), S. 62. Dass man auf sie im AE-Leben zurückgegriffen hat, kritisiert bereits Gössel in: Jahn/Nack (o. Fn. 1), Diskussionsbericht (Pintaske/Sitzer), S. 62. Eingehende Kritik dieser Rechtsfigur bei Calliess NJW 1998, 929 ff.; Hirsch Gössel-FS, S. 287, 292 ff., 296 ff. mwN. Zudem ist unklar, auf welche Sachgesichtspunkte sich der Gesetzgeber stützt, wenn er einerseits Tatbestandsqualifizierungen, andererseits der Strafzumessung zugeordnete besonders schwere Fälle vorsieht. 25
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herausheben und für sie die lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, stellt die Bildung eines qualifizierten Tatbestands mit klar umrissenen Tatbestandsmerkmalen – zu bezeichnen als „Besonders schwerwiegender Mord“ – die strafgesetzlich in Betracht kommende Lösung dar. Der Sache nach geht es daher um ein dreigliedriges und nicht, wie die Verfasser meinen, zweistufiges Konzept.26
d) Zu kritisieren sind ferner die inhaltlichen Voraussetzungen, an die der AE-Leben die Strafschärfungen knüpfen will. Steht bei den Merkmalen des geltenden § 211 StGB die erhöhte Verwerflichkeit der Motivation des Täters im Vordergrund und damit Gesinnungsstrafrecht,27 soll jetzt der leitende Gesichtspunkt im Anschluss an frühere Vorschläge von Arzt und Eser in der Gefährlichkeit bestehen.28 Der AE-Leben spricht von der Verwirklichung besonders erhöhten Unrechts, „das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist“. Dass die Verwirklichung eines Todeserfolgs objektiv die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen geeignet ist, wird sich indes nur in wenigen Fällen sagen lassen. In § 211 Abs.2 Nr. 1 AE-Leben ist der Fall genannt, dass jemand durch die Tat das Leben weiterer Menschen unmittelbar gefährdet. Ein Beispiel wäre, dass jemand einen Busfahrer erschießt und durch das führerlose Fahrzeug außer den Insassen auch andere Verkehrsteilnehmer in Lebensgefahr geraten. Man wird kaum behaupten wollen, dass nur solche Fälle den die Strafschärfung begründenden erhöhten Unrechtsgehalt aufweisen. In den weiteren Ziffern der Vorschrift sind denn auch Regelbeispiele aufgeführt, die genau besehen nicht Fälle betreffen, bei denen von dem verwirklichten Taterfolg eine Gefährdung der Allgemeinheit ausgeht, so u.a.: Tötung innerhalb eines bandenmäßigen Zusammenschlusses, dessen Tätigkeit Gewalttaten zum Gegenstand hat, Tötung wegen der Rasse oder des Glaubens des Opfers, Tötung um des Tötens willen, Tötung zum Zwecke der sexuellen Erregung. Hier lässt sich zwar ebenfalls davon sprechen, dass die Lebenssicherheit der Allgemeinheit bedroht ist. Die Bedrohung geht jedoch nicht von der begangenen Tat aus, 26 Dreigliedrig: Vorsätzliche Tötung (Mord), qualifizierte vorsätzliche Tötung (qualifizierter Mord), privilegierte vorsätzliche Tötung (Totschlag). Von bloßer Zweistufigkeit infolge der Verwendung der – fragwürdigen und hier ohnedies unpassenden – Rechtsfigur „Besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen“ ist in der Begründung GA 2008, 218 ff. die Rede. 27 Vgl. die Merkmale und Definitionen der 1. Gruppe (niedrige Beweggründe), auch die Einbeziehung von Gesinnungselementen in die Definitionen der übrigen Merkmale. 28 GA 2008, 200 (§ 211 Abs. 2), 220 ff. Siehe bereits Arzt ZStW 83 (1971), 1, 16 ff.; Eser Gutachten 53. DJT 1980, D 168 ff.; Sch/Sch-Eser Vor §§ 211 ff. Rn 4; auch Lackner in: 53. DJT 1980, Sitzungsbericht, M 41, 44 f.
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sondern von der Person des Täters hinsichtlich seines künftigen Verhaltens. Damit aber ist man wieder beim Täterstrafrecht angelangt, das eine Reform des geltenden § 211 StGB gerade zu beseitigen und durch eine tatstrafrechtliche Fassung, wie sie einem rechtsstaatlichen Strafrecht entspricht, zu ersetzen hat.29
e) Was die Strafbestimmung des Totschlags (§ 212 AE-Leben) betrifft, so ist, wie schon erwähnt, zu begrüßen, dass im AE-Leben der Privilegierungscharakter der Vorschrift deutlich wird und bei ihm auf seelische Konfliktlagen und Erregungszustände, damit auf schuldmindernde Gesichtspunkte abgestellt wird.30 Für diese passt auch der Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe, wie der bisherige § 213 StGB bestätigt. Da jedoch die Alternative zur Verurteilung nur wegen § 212 AE-Leben das Eingreifen des allgemeinen Tötungsdelikts des Mordes gem. § 211 AELeben ist, bedarf die gesetzliche Abgrenzung klarer Angaben. Wenn in § 212 Abs. 1 Nr. 3 von einer „vergleichbaren Konfliktlage“ zu Absatz 1 Nr. 1 und 2 gesprochen wird, bewirkt das in diesem schwierigen Bereich eine zu große Rechtsunsicherheit.
f) Zur Regelung der §§ 211 und 212 AE-Leben ist daher festzustellen, dass sie weiterführende Ansätze enthält, aber insgesamt noch keinen überzeugenden Reformvorschlag darstellt.
IV. Wie sollte eine sachentsprechende Aufteilung der Strafbestimmungen von Mord und Totschlag aussehen?
1. Den Grundtatbestand hat, wie schon vom AE-Leben und Rissing-van Saan31 angenommen, die als Mord zu bezeichnende vorsätzliche Tötung 29 So schon die Kritik bei Hirsch in: Jahn/Nack (o. Fn. 24), S. 62. Dass es um die „Gefährlichkeit des Täters“ geht, betont auch Arzt ZStW 83 (1971), 1, 16 ff. NK-Neumann 3. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn 139 sieht die Gegenüberstellung von Verwerflichkeit und Gefährlichkeit „schon als solche problematisch“. 30 Vgl. o. III 1. 31 Vgl. Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 41.
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eines anderen Menschen zu bilden (Neufassung von § 211 StGB). Nur eine solche Einordnung ist ausgerichtet am Gewicht der Rechtsgutsverletzung, wie oben schon aufgezeigt worden ist. Zur angesprochenen terminologischen Seite bleibt noch zu bemerken: Wer unter dem Einfluss der seit 1940 bei uns geltenden Gesetzesterminologie Bedenken dagegen hat, den in der vorsätzlichen Tötung bestehenden Grundtatbestand als „Mord“ zu bezeichnen, könnte vielleicht erwägen, ob nicht in Parallele zu den Körperverletzungsdelikten (§ 223 StGB „Körperverletzung“) hier die Bezeichnung „Tötung“ zu wählen wäre. So verfahren mehrere ausländische Strafgesetzbücher.32 Dagegen spricht jedoch aus deutscher Sicht, dass der Begriff des Mordes nach unserem Rechts- und Sprachverständnis die Normalfälle der vorsätzlichen Tötung umfasst und daher der Verzicht auf ihn kaum akzeptabel sein und zu Missverständnissen Anlass geben würde. Es wäre aber unangemessen, bereits an diesen Grundtatbestand die lebenslange Freiheitsstrafe als absolute Strafdrohung zu knüpfen. Vielmehr muss alternativ auch eine angemessene zeitige Freiheitsstrafe möglich sein. Zwar sieht § 38 Abs. 2 StGB allgemein als Obergrenze der zeitigen Freiheitsstrafe fünfzehn Jahre vor. Der Abstand zur lebenslangen ist jedoch deutlich zu groß (auch unter Berücksichtigung der gemäß § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB wenigstens bestehenden Möglichkeit der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung). Notwendig ist eine Strafdrohung, die alternativ zur lebenslangen Freiheitsstrafe eine über die Grenze von fünfzehn Jahren hinausgehende zeitige Freiheitsstrafe androht. Es gibt keinen zwingenden sachlichen Grund, der entgegensteht, in § 38 Abs. 2 StGB angemessene gesetzliche Ausnahmen vorzusehen. Die Vorschrift lässt sich ohne Schwierigkeit um den Zusatz ergänzen: „… soweit das Gesetz nichts anderes vorschreibt“. Für die in § 211 n.F. StGB alternativ zur lebenslangen Freiheitsstrafe androhende zeitige Freiheitsstrafe kämen zwanzig Jahre in Betracht. Diese Strafdrohungen entsprächen denen neuerer ausländischer Kodifikationen.33 Zu weit ginge es jedoch, auf die Möglichkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe hier zu verzichten oder sie nur dem im Folgenden behandelten qualifizierten Tatbestand „Besonders schwerer Mord“ vorzubehalten. Blickt man 32 Vgl. etwa Art. 148 § 1 poln. StGB von 1997; Art. 105 russ. StGB von 1996; Art. 448 türk. StGB i.d.F. von 1998. 33 Die alternativ zur lebenslangen Freiheitsstrafe angedrohten zeitigen Freiheitsstrafen gehen bis zu 20 Jahren (Österreich) oder 25 Jahren (Polen, Russland). Dort vorgesehene niedrigere Mindeststrafen erklären sich damit, dass die Abschichtung zu den bei uns dem Totschlag zuzuordnenden Fällen nicht in vergleichbarer Weise erfolgt. Eine Ausnahme von der vorherrschenden Tendenz bildet der franz. c.p. von 1994. Nach Art. 221-1 wird die vorsätzliche Tötung mit 30 Jahren Zuchthaus bedroht; und Art. 221-3 ordnet für die mit Vorbedacht begangene Tat lebenslanges Zuchthaus an.
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ins geltende StGB, finden sich etwa 20 Vorschriften, in denen alternativ zeitige und lebenslange Freiheitsstrafe angedroht sind. Zumeist handelt es sich um todeserfolgsqualifizierte Tatbestände, zu deren Verwirklichung Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesfolge genügt. Das Rechtsfolgensystem des StGB verlangt daher erst recht, dass bei vorsätzlicher Tötung (soweit es nicht um einen privilegierten Tötungstatbestand geht) die lebenslange Freiheitsstrafe möglich sein muss.34 Dies steht in Relation zu der das höchste Rechtsgut der Person vorsätzlich verletzenden Tat. Das Bundesverfassungsgericht hat die lebenslange Freiheitsstrafe dementsprechend bei § 211 StGB und § 212 Abs. 2 StGB grundsätzlich für verfassungsgemäß erklärt,35 d.h. in dem von dem obigen Vorschlag erfassten Fällen. Für ihre Beibehaltung bei dem den Mord als Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung regelnden Konzept spricht sich auch Rissing-van Saan aus.36 Wenn im Vorhergehenden vom in der vorsätzlichen Tötung bestehenden Grundtatbestand des Mordes die Rede war, deutete das bereits darauf hin, dass auch ein qualifizierter Tatbestand angezeigt ist. Eine vorsätzliche Tötung kann trotz der Absolutheit des Todeserfolgs einen erhöhten Unrechtsgehalt aufweisen. Davon gehen auch das geltende Recht und der AE-Leben aus. Erfasst man dieses erhöhte Unrecht in einem gegenüber dem allgemeinen Mordtatbestand qualifizierten Tatbestand, wie es die Gesetzesbestimmtheit verlangt, so bietet sich die Tatbestandsbezeichnung „Besonders schwerer Mord“ an.37 Als unrechtssteigernde Merkmale kommen dabei aber nur tatstrafrechtliche Merkmale in Betracht, also entgegen dem geltenden Recht und dem AE-Leben keine täterstrafrechtlichen. Der erhöhte Unrechtsgehalt muss rechtsgutsbezogen sein. Die Merkmale müssen in tatstrafrechtlicher Sicht eine zusätzliche Beeinträchtigung oder Gefährdung des Lebens der jeweiligen Opfer betreffen. Grausamkeit der Tatausführung, heimtückische Begehung, gemeinschaftliche Begehung, die Tötung mehrerer Personen oder die Tötung einer als Geisel genommenen Person bilden
34 Auch wenn bei todeserfolgsqualifizierten Delikten die bisherige Einbeziehung der Fälle vorsätzlicher Folgeverwirklichung in diese Tatbestände (von „wenigstens“ Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit ist im StGB die Rede) dahinter steht, wird durch die betreffenden Vorschriften jedenfalls unterstrichen, dass in Fällen vorsätzlicher Tötung die Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe grundsätzlich unserer Rechtsordnung konform ist. – Zur Einbeziehung vorsätzlicher Tötungen in jene Tatbestände auch noch unten Fn. 66. 35 BVerfGE 45, 187 (zu § 211) und BVerfG JR 1979, 28 (zu § 212 Abs. 2). 36 Rissing-van Saan (o. Fn. 1) S. 41. 37 Eine entsprechende Bezeichnung gab es bei § 225 („Besonders schwere Körperverletzung“) i.d.F. von 1994. Sie ist als Tatbestandsbezeichnung zu unterscheiden von den die Strafzumessung betreffenden „Besonders schweren Fällen“ i.S.v. § 12 Abs. 3 StGB. Gegen eine bloße Strafzumessungsvorschrift mit Regelbeispielen, wie sie in § 211 Abs. 2 AE-Leben vorgesehen wird, schon oben III 2 c.
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die typischen Fälle.38 Ob dagegen jemand aus Rachsucht, Rassenhass, um des Tötens willen oder als Zugehöriger eines terroristischen Netzwerks tötet,39 bedeutet für den Getöteten in Bezug auf die Tatausführung keinen Unterschied, es kann nur hinsichtlich des Tatmotivs sowie mit dem Blick auf zu befürchtendes künftiges Verhalten des Täters von Relevanz sein. Diese Befunde haben daher nichts mit der Tatbestandsebene zu tun, sondern können nur für die Rechtsfolgenseite des allgemeinen Mordtatbestands von Bedeutung sein, sei es für die Höhe der zu verhängenden Freiheitsstrafe (zeitige, lebenslängliche), sei es den späteren Zeitpunkt der Aussetzung des Strafrestes, sei es bei einschlägigem Befund die Sicherungsverwahrung. Als § 211a StGB lässt sich der qualifizierte Mordtatbestand „Besonders schwerer Mord“ in das StGB einordnen. Auf die von ihm erfassten außerordentlich schwerwiegenden Fälle passt die lebenslange Freiheitsstrafe als absolute Strafdrohung. Die Absolutheit stützt sich hier auf das den Normalfall des Mordes, d.h. die Verwirklichung des oben bezeichneten Grundtatbestands, deutlich übersteigende Unrecht.40 Wenn der Verwirklichung der qualifizierenden Merkmale privilegierende Umstände gegenüberstehen, kann die wie im AE-Leben als privilegierte Vorschrift auszugestaltende Totschlagsstrafbestimmung mildernd Berücksichtigung finden.
2. Zu dieser Strafbestimmung (künftiger § 212 StGB), für die ein Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren in Betracht kommt, ist schon im Vorhergehenden bei der Würdigung des AE-Vorschlags das Wesentliche ausgeführt worden. Aufzunehmen unter die privilegierenden Konfliktsituationen wäre auch noch die Kindstötung, d.h. die Tötung in oder gleich nach der Geburt. Der alte § 217 StGB, der die psychische Situation der unehelichen Mutter privilegierte, ist bekanntlich 1998 gestrichen worden. Da die 38 Hinsichtlich des Merkmals „heimtückisch“ sind de lege lata die Probleme (s.o. Fn. 18) dadurch entstanden, dass es von der Rspr. zu weit ausgelegt wird. Hier wäre dagegen eine engere Definition angezeigt, bei der man restriktiv auf die Gesichtspunkte des „schwerwiegenden Vertrauensbruchs“ und der „Tücke“ zurückgreifen kann. Wegen des bisherigen Auslegungsstreits wäre wohl eine gesetzliche Definition notwendig. – Was in Betracht kommende weitere tatstrafrechtliche Qualifikationsmerkmale betrifft, könnte sich vielleicht aus den darauf hin zu prüfenden umfangreichen Katalogen qualifizierender Merkmale in Art. 148 § 2 poln. StGB von 1997 und in Art. 105 Nr. 2 russ. StGB von 1996 noch der eine oder andere Hinweis ergeben. 39 Letztere genannt unter den schärfenden Merkmalen in § 211 AE-Leben (s.o. III 1). 40 Eine Relativierung der Vollzugsdauer unter den Voraussetzungen des § 57a Abs. 1 StGB bleibt unberührt, stellt die präventive Notwendigkeit der absoluten Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe aber nicht in Frage.
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Unehelichkeit heute nicht mehr stigmatisiert, erschien die Vorschrift als überholt. Anstatt nun aber eine allgemeine Privilegierung der unter seelischem Druck stehenden Gebärenden, sei sie unverheiratet oder verheiratet, vorzusehen, hat man alle diese Fälle dem Bereich der geltenden §§ 211, 212 StGB überlassen und eine niedrigere Bestrafung von einer den § 213 StGB anwendenden Ermessensentscheidung des Gerichts abhängig gemacht.41 Eine Privilegierung, die darauf abstellt, dass es sich um die besondere Situation des Gebärens handelt, gehört deshalb ebenfalls unter die in § 212 StGB ausdrücklich aufzunehmenden schuldmindernden Merkmale. Hinzu kommt: Es würde damit wieder gesetzlich klargestellt sein, dass das geschützte Rechtsgut der §§ 211 ff. StGB bereits von Beginn der Geburt an gegeben ist.42 Für die Teilnahmefälle hat der Charakter des vorgeschlagenen § 212 StGB als Schuldminderungsregelung die Konsequenz, dass die Milderung nur dem Teilnehmer zustattenkommt, der die Voraussetzungen selbst aufweist (§ 29 StGB).
V. Auch hinsichtlich anderer Probleme aus dem Bereich des strafrechtlichen Lebensschutzes stellen sich Reformfragen.
1. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lautete eine Forderung sog. progressiver Kreise: „§ 216 StGB muss weg“. Es ging dabei um die strafrechtliche Freigabe der direkten aktiven Euthanasie. Der Kampfruf war allerdings schief formuliert, weil § 216 StGB lex specialis ist und daher die Streichung die Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften, d.h. hier der geltenden §§ 211 und 212 StGB, bedeutet haben würde. Will man zur Straflosigkeit gelangen, müsste § 216 StGB vielmehr dahingehend erweitert werden, dass er die Zulässigkeit vorsieht. Inzwischen hat glücklicherweise die Einsicht zugenommen, dass eine Freigabe der Tötung auf Verlangen große Gefahren für den Schutz des Rechtsguts Leben, sei es dessen Achtung im Allgemeinen, sei es beim Einzelnen, mit sich bringen würde.43 Der AELeben lässt den § 216 StGB aus guten Gründen unverändert.44 41
Fischer (o. Fn. 3) § 213 Rn 16 mwN. Dazu Hirsch Eser-FS, 2005, S. 309 ff. 43 Nachdrücklich in dieser Richtung bereits Engisch H. Mayer-FS, 1966, S. 399, 415. Vgl. ferner Geilen Euthanasie und Selbstbestimmung, 1975; Hanack in: Hiersche (Hrsg.), Euthana42
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2. Einen weiteren Problembereich bildet der Behandlungsabbruch. In § 214 StGB AE-Leben wird eine ausdrückliche Regelung vorgesehen. Es geht um die viel diskutierten Fragen des Beendens lebenserhaltender Maßnahmen. Hier ist erst einmal zu beantworten, ob das StGB überhaupt der richtige Ort für eine derartige Regelung wäre oder ob sie nicht eher in ein die ärztliche Tätigkeit betreffendes Spezialgesetz gehört. Auch andere Berufsgruppen müssen ihre Verhaltensweisen gegenüber dem Strafrecht abgrenzen, so Architekten, Bauingenieure, Strafverteidiger (diese bzgl. Strafvereitelung), Apotheker, ohne dass sich dazu spezielle Vorschriften im StGB finden. Hinzu kommt, dass die Thematik nicht neu ist. Erst die Möglichkeiten moderner Apparatemedizin haben sie ins Blickfeld treten lasse. Schon immer standen Ärzte vor der Frage, ob eine Weiterbehandlung noch sinnvoll ist oder man den Patienten nicht besser in Ruhe sterben lassen soll. Das Treffen dieser Entscheidung war offenbar so selbstverständlich, dass niemand auf den Gedanken verfallen war, hier liege ein strafrechtsrelevantes Problem.45 Für eine Regelung innerhalb des StGB, und zwar im hier zur Erörterung stehenden 16. Abschnitt, spricht heute nun aber Folgendes: Durch nicht unbedingt zur Verdeutlichung der Rechtslage beitragende höchstrichterliche Rspr.,46 eine Flut von literarischen Äußerungen47 und die Befassung sogar des DJT mit dem Themenkreis48 sind die einschlägigen Fragen so ins Blickfeld getreten, dass Klarstellungen im StGB wünschenswert erscheinen. Auch ist zu bedenken, dass infolge der Entwicklung der Apparatemedizin es inzwischen nicht mehr nur um das Verhalten von Ärzten geht, sondern auch Handlungen Dritter in Betracht kommen. Vor allem aber hat man zu beachten: Wird eine zur Lebenserhaltung eingesetzte Apparatur abgeschaltet, weil lebenserhaltende Maßnahmen medizinisch nicht mehr indiziert sind, so geht es um aktives Tun und nicht um bloßes Unterlassen. Das wird sofort deutlich, sobald man sich den Fall vorstellt, das Gerät werde vorzeitig vom Arzt oder einem Außenstehenden abgeschaltet. Das Fehlen der Unrechtstatbesie, 1975, S. 121; Hirsch Welzel-FS, 1974, S. 775, 777 ff., 787 ff.; LK-Jähnke 11. Aufl. 2001 Vor § 211 Rn 14; Roxin in: Blaha/Gutjahr-Löser/Niebler (Hrsg.), Schutz des Lebens, Recht auf Tod, 1978, S. 85, 90 ff.; Schreiber Euthanasie, in: Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. 33 (1975), S. 37; Dölling NJW 1986, 1011. 44 GA 2008, 202. 45 Vgl. die Kommentierungen der Tötungsdelikte bei Frank, 18. Aufl. 1931, und Olshausen (o. Fn. 8). 46 Siehe insbesondere BGHSt. 32, 367 aus dem Jahre 1984, aber auch BGH NJW 1988, 1532; OLG München NJW 1987, 2940. 47 Siehe die Nachw. bei Sch/Sch-Eser Vor §§ 211 ff. Rn 27 ff. 48 53. DJT Berlin 1980.
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standsmäßigkeit bei Entfallen der Indikation der Maßnahme lässt sich daher nicht einfach damit erklären, dass die Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts nicht erfüllt seien. Die Erklärung ist vielmehr die, dass es bei der Handlung des Abschaltens um einen in die Kategorie der Handlungsfälle des Unterbrechens eines rettenden Kausalverlaufs geht und hier die Tatbestandsmäßigkeit ausscheidet, weil das Rettungsziel – d.h. die Lebenserhaltung – nicht mehr möglich ist,49 Aus allen diesen Gründen ist eine ausdrückliche strafgesetzliche Regelung, wie sie vom AE-Leben vorgeschlagen wird, eine sinnvolle Klarstellung. Das betrifft auch die dort genannten einwilligungsgebundenen Sachverhalte.50 Ob der von Papst Pius XII bereits moraltheologisch abgesegnete Fall, dass bei einem tödlich Kranken auf schmerzstillende Mittel zurückgegriffen werden muss, bei denen als unbeabsichtigte Nebenwirkung eine Beschleunigung des Todeseintritts in Rechnung zu stellen ist,51 einer ausdrücklichen Regelung im StGB bedarf, mag dagegen auf den ersten Blick zweifelhaft erscheinen. Für eine Vorschrift, wie sie in § 214a StGB des AE-Leben vorgeschlagen wird, spricht aber, dass es um ein mit Eventualvorsatz begangenes positives Tun handelt. Im Schrifttum wird bisher auf Rechtfertigung nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstands verwiesen.52 Da sich diese sachgemäße Lösung nicht unmittelbar dem § 34 StGB entnehmen lässt, ist eine klarstellende spezielle Notstandsvorschrift sinnvoll.
3. Zu den Besonderheiten des geltenden deutschen StGB gehört es, dass es im Unterschied zu vielen ausländischen Strafgesetzen keine Strafbarkeit der Teilnahme am freiverantwortlichen Selbstmord vorsieht. Die allgemeinen Teilnahmevorschriften sind nicht anwendbar, weil keine tatbestandliche Haupttat gegeben ist. Für Fälle der Beteiligung am nicht freiverantwortlichen Suizid kommt dagegen mittelbare Täterschaft mittels des Opfers als unfrei handelndem Werkzeug in Betracht und damit die allgemeine Vorschrift für mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1, 2. Altern. StGB).
49 Vgl. Hirsch Lackner-FS, 1987, S. 604 ff. Eingehend zu diesen Fragen auch MüKoSchneider 2003, Vor §§ 211 ff. Rn 108 ff. mwN. 50 Siehe § 213 Abs. 1 Nr. 1-3 StGB-AE-Leben. Zu einem solchen Fall auch neuestens BGH v. 25.6.10; vgl. FAZ v. 26.6.10, S. 1 f. 51 Die bereits aus dem Jahre 1957 stammende päpstliche Stellungnahme ist abgedruckt in: Herder-Korrespondenz 1956/57, 373. Wiedergabe der entscheidenden Stelle auch bei Hirsch Lackner-FS, S. 608. 52 Vgl. Rieger, Lexikon des Arztrechts, 1984, Rn 1722 mwN.
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In der Rechtsprechung hat sich das Bestreben gezeigt, das Nichtvorhandensein einer die Teilnahme am freiverantwortlichen Selbstmord regelnden Strafbestimmung dadurch auszugleichen, dass dem Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) hier ein Anwendungsbereich eröffnet worden ist.53 Zunächst ist sogar bei in Betracht kommender Garantenstellung eine Tötung durch Unterlassen bejaht worden.54 Ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB soll bereits dann vorliegen, wenn der Selbstmörder zur Tat schreitet, also beim Ansetzen zum Suizid.55 Aber ganz abgesehen davon, dass ein Unglücksfall als „plötzliches, unerwartetes Ereignis“ zu definieren ist, wovon hier keine Rede sein kann, steht die Bejahung einer strafrechtlichen Verpflichtung, den freiverantwortlichen Suizidenten vom Beginn der Selbstmordhandlung abzuhalten oder ihn jedenfalls aus der von ihm herbeigeführten lebensbedrohlichen Lage zu retten, in Widerspruch zu der grundsätzlichen Position des StGB, die freie Entscheidung des Einzelnen zu respektieren und deshalb die Teilnahme am Selbstmord nicht zu pönalisieren.56 Der AE-Leben will solchen Hilfskonstruktionen einen Riegel vorschieben, indem er in einem § 215 vorschreibt, dass in diesen Fällen keine Strafbarkeit gegeben ist. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob das eine befriedigende Lösung darstellt. Zwar wäre es zu weitgehend, die Unterscheidung von freiverantwortlichem und unfreiem Selbstmord überhaupt in Frage zu stellen und darauf eine allgemeine Strafbarkeit der Teilnahme am Selbstmord stützen zu wollen.57 Das entspräche weder der Realität noch respektierte es die autonome Entscheidung des Einzelnen. Eine befriedigende Lösung ergibt sich jedoch unter anderem Blickwinkel: Der Respekt vor dieser autonomen, wenngleich von der Gesellschaft bedauerten Entscheidung gebietet es, dass sich jeder andere von einer Mithilfe an der Selbsttötungshandlung fernhält. Während noch die Anstiftung die Autonomie der Entscheidung unberührt lässt, greift die Beihilfe bereits in die Ausführung ein und überschreitet damit die Grenze zu dem nur dem Suizidenten zugestandenen Handlungsbereich. Diese Lösung ermöglicht es auch, dass den Veranstaltern von Einrichtungen, welche die Anleitung zum Suizid kommerzialisiert haben, das Handwerk gelegt werden kann. Gleichzeitig würde sie die Aufgabe erfüllen, den Bereich der strafbaren Teilnahme am freiverantwortlichen Suizid deutlich zu markieren. 53
Vgl. BGHSt. St 6, 147; 7, 272; 32, 381. BGHSt. 2, 150. 55 BGHSt. 13, 162, 169. 56 Näher dazu Sch/Sch-Eser Vor §§ 211 ff. Rn 43 mwN.; anders Otto Gutachten 56. DJT 1986, D 71 f., 98 f.; NK-Neumann Vor § 211 Rn 79. 57 Vgl. die Kritik an solchen Vorschlägen bei Sch/Sch-Eser Vor § 211 ff. Rn 34 f. mwN. 54
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Im Übrigen steht der AE-Leben einer partiellen Pönalisierung der Teilnahme am freiverantwortlichen Selbstmord nicht gänzlich ablehnend gegenüber. Er schlägt einen § 215a StGB vor, nach dem bestraft werden soll, wer aus Gewinnsucht einen freiverantwortlichen Suizid unterstützt.58 Die Verfasser haben dabei wohl vor allem die kommerzielle Selbsttötungsberatung vor Augen. Die Vorschrift ist aber zu punktuell. Strafwürdige Beihilfe kann auch andere negative Motive haben, z.B. die Entledigung des Ehemanns der ehebrecherischen Ehefrau. Aber ohnedies ist nicht das Motiv für die Frage der Strafbarkeit entscheidend, sondern das Faktum, dass man eine nur dem freiverantwortlichen Suizidenten vorbehaltene Handlung unterstützt.
4. In den Blick zu nehmen sind auch noch die erfolgsqualifizierten Delikte mit Todesfolge. Erfolgsqualifzierte Delikte haben in der neueren Gesetzgebung geradezu Hochkonjunktur. Georg Küpper59 hat vor einem Jahrzehnt darauf hingewiesen, dass die Anzahl im StGB bereits auf rund 40 Tatbestände angewachsen war, wobei es sich um etwa 30 mit Todesfolge handelt. Der Expansion ist bisher kein Einhalt geboten. Der AE-Leben scheint in dieser Entwicklung kein Problem zu sehen.60 Die Ursache der Expansion liegt darin, dass man ausgesprochen oder unausgesprochen von einer Idealkonkurrenzfrage ausgeht und fälschlich meint, durch das Erfordernis einer leichtfertigen, also grob fahrlässigen Folge sei die Umgrenzung gewährleistet.61 Das überlieferte objektive Kriterium der sog. Unmittelbarkeit ist inzwischen so aufgeweicht worden, dass es praktisch keine eingrenzende Funktion mehr ausübt.62 Begreift man das erfolgsqualifizierte Delikt nur als qualifizierten Fall der Idealkonkurrenz, so erhebt sich die Frage: Wie soll eigentlich zu begründen sein, dass die mit einem vorsätzlichen Vergehenstatbestand (z.B. dem der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung) verbundene grob fahrlässige Tötung bewirkt, dass ein bloßes Vergehen deshalb, weil es mit einem derartigen Fahrlässigkeitsdelikt verknüpft ist, zu einem Verbrechen wird und mit höchsten Strafen bedroht ist? Das stünde nicht nur in Widerspruch zu der 58
GA 2008, 202. G. Küpper ZStW 111 (1999), 785, 804 ff. 60 Siehe GA 2008, 263 ff. 61 Vgl. auch AE-Leben, dessen Verfasser sich ausdrücklich auf die Konkurrenzlösung berufen und meinen, dass das Merkmal „leichtfertig“ am besten den besonderen Unrechts- und Schuldgehalt ausdrücke (GA 2008, 264 f.) 62 Siehe BGHSt. 14, 110, 112; 31, 96, 99 m. krit. Anm. Hirsch JR 1983, 78, BGH NStE § 226 Nr. 1; NStZ 1997, 341; st. Rspr. 59
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sonstigen Bewertung der Idealkonkurrenz durch den Gesetzgeber, sondern widerspräche allen strafrechtlichen Maßstäben.63 Die Verfasser des E 1962, denen man üblicherweise Strenge nachsagt, gingen so weit, dass sie meinten, es sei generell ausgeschlossen, dass eine (unvorsätzliche) Erfolgsqualifizierung ein Vergehen zu einem Verbrechen werden lasse.64 Soll dies weiterhin möglich sein, hat man sich an die früher allgemein anerkannte Rolle des sog. Unmittelbarkeitsgesichtspunkts zu erinnern. Danach kommt es darauf an, dass die schwere Folge daraus resultiert, dass der vorsätzlich herbeigeführte konkrete Erfolg des Grundtatbestandes typischerweise objektiv das Risiko birgt, die Folge zu bewirken.65 Nach dieser bei Todeserfolgsqualifizierungen als Letalitätstheorie bezeichneten Auffassung ist die starke Strafverschärfung einigermaßen erklärbar. Bei einer Reform des Tötungsstrafrechts wird mithin zu prüfen sein, welche der heutigen Strafbestimmungen mit qualifizierender Todesfolge den Voraussetzungen überhaupt genügt. Außerdem hätte man in § 18 StGB die objektiven Erfordernisse des erfolgsqualifizierten Delikts präziser anzugeben, ferner bei todeserfolgsqualifizierten Delikten die Erfassung einer Vorsätzlichkeit der Folge ganz den §§ 211 ff. zu überlassen.66
63 Unklar ist auch die Stellungnahme der Verfasser des AE-Leben. Sie geben zunächst an: „Bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten ist die Kombination eines vorsätzlichen Grunddelikts mit einer bloß fahrlässigen Tötung nicht geeignet, einen besonderen Unrechts- und Schuldgehalt auszudrücken.“ Wieso die Eignung gleichwohl schon zu bejahen sein soll, wenn die Fahrlässigkeit sich als grob (d.h. Leichtfertigkeit) darstellt, ist schwerlich erklärbar. 64 Vgl. § 149 Abs. 1 E 1962. 65 Näher zum sog. Unmittelbarkeitserfordernis, d.h. dem gefahrspezifischen Zusammenhang zwischen dem vorsätzlichen konkreten Erfolg des Grundtatbestands und der besonderen Folge, vgl. Geilen Welzel-FS, 1974, 655, 681; Hirsch Oehler-FS, 1985, S. 111, 129 ff.; LK-Hirsch 11. Aufl. 2008, § 227 Rn 5; G. Küpper Der „unmittelbare“ Zusammenhang, 1982; ders. Hirsch-FS, 1999, S. 615 ff.; ders. ZStW 111 (1999), 792 ff.; NK-Paeffgen 3. Aufl. 2010, § 226 Rn 11 ff.; Roxin Allg. Teil I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn 115; Sowada Jura 1994, 643; jeweils mwN. 66 Unglücklich ist es, bei todeserfolgsqualifizierten Delikten entsprechend der in § 18 StGB getroffenen allgemeinen Regelung auf wenigstens Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesfolge abzustellen. Dass das Gesetz bisher so verfährt, hängt damit zusammen, dass de lege lata andernfalls bei Tötungsvorsatz aus dem Kreis der Tötungsdelikte § 212 StGB in Betracht kommen kann, dieser aber einen niedrigeren Strafrahmen aufweist als manche todeserfolgsqualifizierte Tatbestände. Solche Strafrahmenverwerfungen, die mit den überhöhten Strafdrohungen von erfolgsqualifizierten Delikten zu tun haben, erledigen sich letztlich mit der oben vorgeschlagenen Neuregelung des Mordtatbestands, der in seiner Ausgestaltung als Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung einen angemessenen Strafrahmen zur Abdeckung der Tötungsseite aufweisen würde. Diese Lösung ermöglicht zugleich, dass de lege ferenda das todeserfolgsqualifizierte Delikt als durch den Unmittelbarkeitszusammenhang verbundene „Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination“ klar zur Geltung kommt und als solche zutreffend strafrechtlich eingeordnet und bewertet werden kann.
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VI. Wie sich im Vorhergehenden gezeigt hat, lässt sich ein in sich stimmiges Konzept der Tötungsstrafbestimmungen konzipieren. Wenn man dennoch bezweifeln muss, ob es in absehbarer Zeit zu einer Reform kommt oder nur kommen sollte, liegt dies am gegenwärtigen Zustand der bundesdeutschen Strafgesetzgebung. Nach allem, was sie in den letzten Jahren geboten hat, traut man ihr eine haltbare Reform kaum noch zu. Die Ursachen liegen nicht nur in der Selbstüberschätzung und der damit verbundenen Beratungsresistenz der Verantwortlichen, sondern mehr noch in politischen Einflussnahmen. Die lebenslange Freiheitsstrafe sowie die Fragen der Sterbehilfe bieten genügend Stoff für sachlich inkompetente politische Interventionen. Wahrscheinlich ist es deshalb doch besser, wenn der Gesetzgeber einstweilen den Dingen ihren Lauf lässt, anstatt neue Probleme zu schaffen. De lege lata könnte die Rechtsprechung aber ihren Spielraum ausnutzen und die bisherige Fassung des § 211 StGB tatstrafrechtlich auslegen, so dass die verbliebenen Spuren der gesinnungsstrafrechtlichen NS-Vergangenheit verringert werden. Das eingangs geschilderte Verständnis zulässiger richterlicher Auslegung erwies sich zwar als zu weitgehend, aber auch innerhalb berechtigter Grenzen ist eine strafrechts- und verfassungsrechtskonforme Auslegung des § 211 StGB möglich und angezeigt.
Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung TATJANA HÖRNLE
I. Einleitung Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), 5. Sektion, hat mit Kammerentscheidung vom 17.12.20091 (rechtskräftig seit dem 10.5.2010) über die Klage des Sicherungsverwahrten M. gegen die Bundesrepublik Deutschland entschieden. Gegenstand der Entscheidung war die Frage, ob der Beschwerdeführer, gegen den im Jahr 1986 gem. § 66 StGB Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, zu entlassen ist, weil zum Zeitpunkt der Tat § 67d Abs. 1 StGB a.F. vorschrieb, dass erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung nicht länger als zehn Jahre dauern dürfe. Das Gericht befand, dass die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung eine Verletzung von Art. 5 Abs. I und Art. 7 Abs. I EMRK bedeute, und es verurteilte Deutschland zur Zahlung von 50.000 Euro an M. Für diesen Beschwerdeführer hat das OLG Frankfurt am 24.6.2010 entschieden, dass er zu entlassen ist.2 Das Urteil des EGMR wirft weit über den entschiedenen Fall hinaus Folgefragen auf. Zum einen befinden sich Verwahrte in deutschen Haftanstalten, bei denen die rechtlichen Rahmenbedingungen vergleichbar sind,3 zum anderen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der EGMR auch bei anderer Rechtsgrundlage, nämlich bei nachträglich angeordneter Sicherungsverwah1 EGMR, Fifth Section, Case of M. v. Germany (Application no. 19359/04). Ich zitiere die §§ der englischen Urteilsfassung, abgerufen bei www.coe.int. Eine abgekürzte deutsche Fassung ist abgedruckt in NStZ 2010, 263. 2 3 Ws 485/10, abgerufen bei Juris. 3 Dies betrifft Täter, die in den Jahrzehnten vor 1998 die Anlasstat begangen haben. Wer z.B. 1980 zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe und erstmaliger Sicherungsverwahrung verurteilt wurde und 1998, als die Zehnjahresfrist in § 67d StGB a.F. aufgehoben wurde, noch nicht entlassen war, war von der Rückwirkung dieser Gesetzesänderung betroffen. Der EGMR gibt an, dass in deutschen Haftanstalten im Jahr 2008 noch 70 von der Abschaffung der Zehnjahresfrist Betroffene verwahrt wurden (§ 67).
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rung (§ 66b StGB) Verstöße gegen die EMRK beanstanden wird. Die angestoßene rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Diskussion wird unsere Jubilarin Ruth Rissing-van Saan, der dieser Beitrag mit herzlichen Glückwünschen gewidmet ist, spätestens bei der nächsten Auflage ihrer Kommentierung der §§ 66 ff. StGB im Leipziger Kommentar intensiv beschäftigen. In meinem Beitrag werde ich am Schluss (IV. und V.) auf die beiden Fragen eingehen: Was ist aus M. v. Germany für andere Fallkonstellationen abzuleiten? Und: Welcher Handlungsbedarf ergibt sich für Gerichte und den Gesetzgeber? Der Schwerpunkt liegt allerdings an anderer Stelle, nämlich bei einer Analyse der Urteilsgründe. Zum einen sind die wesentlichen Aussagen zusammenzufassen (II.), zum anderen die Qualität der Argumente zu untersuchen (III.). Die Bereitschaft, Letzteres zu tun, ist in der deutschen Diskussion schwach ausgeprägt. Politische, aber auch rechtswissenschaftliche Stellungnahmen4 neigen dazu, Beurteilungsmaßstäbe und Ergebnisse des EGMR als Faktum zu nehmen. Während unhinterfragte Akzeptanz des aus Straßburg Kommenden aus politischer Sicht erklärbar sein mag, gilt dies für die Rechtswissenschaft nicht, zu deren Aufgabe es gehört, alle Gerichtsentscheidungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
II. Zusammenfassung der wesentlichen Entscheidungsinhalte 1. Die Anordnung von Sicherungsverwahrung durch das Tatgericht gem. § 66 StGB kollidierte nicht mit Vorschriften der EMRK Eine Fundamentalkritik am Institut der Sicherungsverwahrung5 ist im Urteil des EGMR nicht enthalten. Ob genuin lebenslange Verwahrung möglicherweise eine in Art. 3 EMRK verbotene grausame Bestrafung sein könnte, war nicht Gegenstand der Entscheidung. In dieser wurde vielmehr darauf hingewiesen, dass die im Jahr 1986 vom LG Marburg wegen eines 1985 begangenen versuchten Mordes und Raubes neben der Freiheitsstrafe gemäß § 66 Abs. 1 StGB verhängte und seit 1991 vollzogene Sicherungsverwahrung zunächst (bis zum Jahr 2001) eine konventionsgemäße Freiheitsentziehung (nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 9 EMRK) war (§ 96).
4
S. die Besprechungen von Kinzig NStZ 2010, 233, 235 ff.; Laue JR 2010, 198 ff. S. für eine solche etwa Weichert StV 1989, 265 ff.; Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, S. 39 ff.; Krahl KritV 2009, 310 ff.; Böllinger/Pollähne NK, 3. Aufl. 2010, § 61 Rn. 20 ff. Dagegen Rissing-van Saan/Peglau LK, 12. Aufl. 2008, § 66 Rn. 21 ff.; Ullenbruch MK, 2005, § 66 Rn. 10. 5
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2. Die Vollziehung der gem. § 66 StGB erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren verstieß aber gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK Nach der Rechtsauffassung des EGMR hätte der Beschwerdeführer im Jahr 2001 entlassen werden müssen, weil zum Zeitpunkt der Tat § 67d Abs. 1 StGB a.F. vorsah, dass erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung nicht länger als zehn Jahre dauern dürfe. Mit dem zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.19986 war diese Bestimmung allerdings geändert worden. Seither ist in § 67d Abs. 3 StGB bestimmt, dass nach zehnjähriger Vollziehung die Maßregel nur dann für erledigt zu erklären ist, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. § 2 Abs. 6 StGB ordnet für Maßregeln der Besserung und Sicherung an, dass es nicht auf den Zeitpunkt der Tat ankommt, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung, und Art. 1a Abs. 3 EGStGB a.F. sah für die Neuregelung des § 67d StGB rückwirkende Kraft vor. Das BVerfG hat dies gebilligt.7 Es war auf der Grundlage des StGB die Sicherungsverwahrung gegen den Beschwerdeführer, bei dem ein fortbestehender Hang zu erheblichen Straftaten festgestellt wurde, auch nach 2001 weiter zu vollstrecken. Der EGMR geht dagegen davon aus, dass Sicherungsverwahrung eine „penalty“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 EMRK (No punishment without law) sei und deshalb das Rückwirkungsverbot gelte. Hinzu komme eine Kollision mit Art. 5 Abs. 1 EMRK (Right to liberty and security), wenn nachträglich, nach der Verurteilung, die Vollstreckungszeiten verlängert werden. Freiheitsentziehung sei nur dann nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK (lawful detention of a person after conviction by a competent court) legitimiert, wenn die Verantwortung für die Freiheitsentziehung bei dem Gericht liege, das den Schuldspruch gefällt hat (§ 87). Es bedürfe einer hinreichenden Kausalbeziehung („sufficient causal connection“) zwischen dem gerichtlichen Schuldspruch und der Freiheitsentziehung (§ 88). An dieser Kausalbeziehung fehle es im zu entscheidenden Sachverhalt, weil das 1986 urteilende Tatgericht davon ausgehen musste, dass die Sicherungsverwahrung gemäß der damals geltenden Fassung von § 67d Abs. 1 StGB nach zehn Jahren ein Ende finden würde (§ 100). Auch Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK 6
BGBl. I, S. 160, in Kraft seit dem 31.1.1998. BVerfGE 109, 133, 167 ff. Zust. Degenhart in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 103 Rn. 58; Schulze-Fielitz in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 103 II Rn. 21; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 67d Rn. 61. Krit. zur Änderung des § 67d StGB Kinzig StV 2000, 330; Ullenbruch NStZ 1998, 326; s. ferner die Nwe. in Fn. 11. 7
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(Var.: lawful arrest or detention …. when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence) sei nur einschlägig, wenn spezifische, konkrete Taten zu verhindern seien (§ 102).
III. Überzeugen die Argumente im Urteil M. v. Germany? 1. Die Argumente zu Art. 7 Abs. 1 EMRK Das Rückwirkungsverbot gilt nicht nur für die Beschreibung des strafbaren Handelns oder Unterlassens (Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK), sondern auch für die Rechtsfolgen (Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK): Nor shall a heavier penalty be imposed than the one that was applicable at the time the criminal offence was committed. Der Begriff, der auszulegen war, lautet: „penalty“. Handelt es sich bei Sicherungsverwahrung um eine penalty i.S.v. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK? Einleuchtend ist eine erste methodische Festlegung, die der EGMR trifft: Es bedarf einer autonomen Auslegung, für den die nationalen Bezeichnungen nur ein Anhaltspunkt neben anderen sind (§ 120). Nicht ausschlaggebend kann sein, ob sich eine Rechtsordnung verschleiernder Euphemismen bedient und Kriminalstrafe umetikettiert. Ebenso überzeugt die Festlegung des EGMR, dass es nicht allein auf die Schwere der Maßnahme ankomme (§ 120). Vor allem bei nicht-freiheitsentziehenden Sanktionen ist die Beschreibung der Eingriffsschwere (etwa: Verlust von Vermögen in bestimmter Höhe) nicht geeignet, „penalties“ von anderen staatlichen Eingriffen (etwa: Steuern) abzugrenzen. Zur Auslegung von „penalty“ gibt es zwei Wege. Der eine würde die Vorgabe des BVerfG analysieren,8 das zwischen Kriminalstrafe und Maßregeln der Besserung und Sicherung unterscheidet. Es wäre nicht überzeugend, den Begriff der Maßregel als bloßes Etikett des nationalen Rechts abzutun, da konzeptuell eine Unterscheidung gut zu begründen ist. Zentrales Element von Kriminalstrafe ist das damit verbundene missbilligende oder tadelnde Unwerturteil, während Maßregeln ausschließlich präventive Funktionen haben.9 Auch die Bedeutung der abzuurteilenden Tat ist für Kriminalstrafe einerseits, Maßregeln andererseits unterschiedlich: Im ersteren Fall ist sie Grund für die Strafe, im zweiten nur Beweisanzeichen für Gefährlichkeit (ein angesichts der Unsicherheiten von auf Persönlichkeitsbegutachtung gestützten Prognosen wichtiges Beweisanzeichen). Der zweite Weg, der Weg des EGMR, besteht darin, entgegen der Differenzierungs-
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BVerfGE 109, 133, 167 ff. m. Bspr. durch Kinzig NJW 2004, 911 ff. BVerfGE 109, 133, 172.
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these des BVerfG alle langen Freiheitsentziehungen nach einem Schuldspruch für strafbares Verhalten einheitlich als „penalty“ einzuordnen. Der EGMR stellt oberflächlich entwickelte Argumente nebeneinander, ohne in systematischer und gründlicher Weise Gründe, die für eine Differenzierungsthese vorgebracht werden könnten, zu erwägen. Die Kammer zitiert im deskriptiven Teil die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2004 ausführlich (§§ 26-40), wobei diese aber in den Überlegungen der Kammer nicht mehr als zu Widerlegendes fungiert. Wenig überzeugend ist die in § 129 vom EGMR angestellte Überlegung, dass Sicherungsverwahrung keine „richtige“ präventive Maßnahme sein könne, weil in der Vollzugsrealität zu wenig resozialisierende Behandlung stattfinde. Prävention von Straftaten kann, muss aber nicht durch resozialisierende Maßnahmen erstrebt werden. Auch Maßregeln der Sicherung wirken präventiv. Ferner wird auf das Überlappen von präventiven Funktionen und strafenden Reaktionen verwiesen: Sicherungsverwahrung enthalte ein eindeutig abschreckendes Element (§ 130). Aber das spricht nicht dagegen, Sicherungsverwahrung als rein präventive Freiheitsentziehung einzuordnen. Die Kombination „Sicherung der Allgemeinheit vor dem Täter“ plus „abschreckende Effekte bei anderen potentiellen Tätern“ wäre ebenfalls als „rein präventiv“ einzuordnen. Gegen die Differenzierungsthese führt der EGMR außerdem die äußerlichen Gemeinsamkeiten von Kriminalstrafe und Sicherungsverwahrung an, nämlich den Vollzug in denselben Anstalten, die (wenigen) einschlägigen Rechtsnormen im Strafvollzugsgesetz und die Tatsache, dass Strafgerichte für Entscheidungen zuständig sind (§§ 127, 131). Aber kann es wirklich auf die äußeren Erscheinungsformen ankommen? Würde das Gericht zu einem anderen Ergebnis kommen wollen, wenn separate Anstalten und von den Strafgerichten organisatorisch getrennte „Verwahrungsgerichte“ eingerichtet würden? Das ist zweifelhaft. Das relativ stärkste Argument gilt der Eingriffsintensität aus der Perspektive des Verwahrten. Dass dieser Sicherungsverwahrung als zusätzliche Strafe empfindet (darauf verweist die Kammer in § 130), ist nachvollziehbar,10 und zwar handelt es sich um eine empfundene zusätzliche Strafe, die wesentlich länger dauern kann (s. den Fall des Beschwerdeführers M.), in Hoffnungslosigkeit stürzt und aus der Sicht des Verwahrten schlimmer ist als die zuvor verbüßte, überschaubare Freiheitsstrafe. Auf diesen Gedanken aufbauend, kann man argumentieren, dass das reale Gewicht des Eingriffs für die davon Betroffenen wichtiger ist als objektiv zu beschreibende Unterschiede zwischen Kriminalstrafe und Maßregeln.
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S. Hassemer/Kargl NK, 3. Aufl. 2010, § 2 Rn. 61.
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Meine Kritik an den Ausführungen des EGMR zu Art. 7 Abs. 1 EMRK bezieht sich nicht primär auf das Ergebnis,11 sondern auf das flache Niveau der Begründung. Selbst wenn man der Bewertung aus einer Betroffenenperspektive den Vorzug gegenüber konzeptuell-theoretischen Differenzierungen gibt, hätten weitergehende Überlegungen angestellt werden müssen. So fehlt jegliche Auseinandersetzung damit, warum Art. 7 Abs. 1 EMRK ein wichtiges Grundrecht enthält. Eine Auslegung, die Hintergründe und Ziele einer Regelung nicht thematisiert, greift zu kurz und vermag bei grundsätzlichen, stark umstrittenen Fragen nicht zu überzeugen. Skizziert man mit Stichworten wie „Vertrauensschutz“ oder „Fairness“ das Anliegen, Personen vor nachträglich-ungünstigen, unvorhersehbaren Änderungen von Strafgesetzen zu bewahren, zeigen sich Unterschiede zwischen der Ratio des Art. 7 Abs. 1 S. 1 und der des Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK. Offensichtlich ist ein absolutes Rückwirkungsverbot unabdingbar, soweit es um Tatbestandsbeschreibungen geht, um zu verhindern, dass Personen für zum Handlungszeitpunkt legales Verhalten sanktioniert werden. Soweit die Verbotsnorm unverändert bleibt und nur Rechtsfolgen verschärft werden, kommt Vertrauensschutz und Fairness immer noch Gewicht zu – aber etwas weniger als bei dem evidenten Fairnessbruch, der in nachträglich verschobenen Grenzen zwischen Recht und Unrecht liegt, was die Befolgung von Verhaltensnormen unmöglich macht. Und vor allem: Bei der Bestimmung der Reichweite von Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK hätten weitere Aspekte einbezogen werden müssen. Vertrauensschutz für die von rückwirkenden Belastungen Betroffenen muss unter bestimmten Umständen gegen gegenläufige Interessen abgewogen werden, was dafür sprechen kann, den Bereich des absoluten Rückwirkungsverbotes eng zu fassen. Wenn man gegenläufige Interessen nicht völlig ausblendet, wie es der EGMR tut, wäre zu berücksichtigen, dass Sicherungsverwahrung potentielle Opfer vor sehr schwerwiegenden Straftaten schützt (hierauf weisen die Gerichte hin, die es ablehnen, nach dem EGMR-Urteil andere Sicherungsverwahrte zu entlassen).12 Es bedarf einer sorgfältigen, ausführlichen Beschäftigung mit dem Begriff „penalty“ in Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK, weil man einem Spannungsverhältnis gerecht werden muss. Einerseits ha11 Im deutschen Schrifttum ist die Ansicht, dass das Rückwirkungsverbot auch für Sicherungsverwahrung gelten müsse, weit verbreitet, s. Kinzig NJW 2001, 1455, 1456 f.; ders. NJW 2004, 911, 913; Best ZStW 114 (2002),88, 99 ff.; Rzepka R & P 2003, 191, 195 ff.; Gazeas StraFo 2005, 9, 13; Streng StV 2006, 92, 96; Krahl KritV 2009, 310, 313 ff.; Böllinger/Pollähne (Fn. 5), § 66b Rn. 7; Hassemer/Kargl (Fn. 10); Renzikowski in: Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 7 Rn. 32 (Stand Juni 2009); Ullenbruch NStZ 1998, 326, 330. A.A. Kadelbach in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 15 Rn. 16. 12 S. die Nwe. unten Fn. 27.
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ben, insoweit ist dem EGMR beizupflichten, Personen ein berechtigtes Interesse daran, nicht in unvorhersehbarer Weise gravierenden Freiheitseingriffen unterzogen zu werden. Andererseits kann die Errichtung der Barriere des absoluten Rückwirkungsverbotes zur Folge haben, dass andere (als Opfer schwerer Gewaltdelikte) dafür einen hohen Preis bezahlen müssen.13 Die Einsicht, dass diesem Spannungsverhältnis und damit einem genuinen Dilemma nicht zu entgehen ist und die Entscheidung sich zu beiden Polen verhalten müsste, ist beim EGMR zu vermissen.
2. Die Argumente zu Art. 5 Abs. 1 EMRK a) Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c, Nr. f Freiheitsentziehungen sind ferner an Art. 5 Abs. 1 EMRK zu messen. Die Überlegungen des EGMR sind insofern nachvollziehbar, als die Kammer davon ausgeht, dass Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK (Var.: lawful arrest or detention …. when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence) nicht Sicherungsverwahrung legitimieren kann.14 Zu Recht weist das Gericht (leider nur an dieser Stelle) darauf hin, dass Bestimmungen im Lichte des Gesamtkontextes von Art. 5 Abs. 1 EMRK zu sehen sind (§ 102). Eine systematische Auslegung zeigt, dass die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK angeführten Varianten sich auf Situationen der nur vorläufig sichernden Festnahme und Festhaltung beschränken. Aus Art. 5 Abs. 3 EMRK (shall be brought promptly before a judge) ergibt sich eindeutig, dass sich Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. c EMRK nur auf vorläufige Ingewahrsamsnahme bezieht, nicht auf Freiheitsentziehung nach Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens. Auch die Ablehnung einer Rechtfertigung aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. f EMRK (Var.: detention of persons of unsound mind) für den konkreten Fall (§ 103) ist überzeugend, wobei sich der EGMR auf die Einschätzung der deutschen Gerichte bezieht, dass M. zwar eine auffällige Persönlichkeitsstruktur aufweist (narzisstische Persönlichkeit, Mangel an Empathie), aber keine andere schwere seelische Abartigkeit vorliegt (§§ 18, 22).
13 Wer behauptet, dass es keinen Bedarf etwa für nachträgliche Sicherungsverwahrung gebe, weil es sich nur um „absolute Ausnahmefälle“ handele (Krahl KritV 2009, 310, 314), bedient sich einer im Grunde zynischen Argumentation (man kann dies nur so verstehen, dass es auf einige wenige Opfer von Sexual- und Tötungsdelikten, die sich nicht in statistisch messbarer Form zeigen, nicht ankomme). 14 So auch Renzikowski JR 2004, 271, 273; Kinzig NStZ 2010, 233, 236; a.A. Peglau NJW 2001, 2436, 2438; Würtenberger/Sydow NVwZ 2001, 1201, 1204 (bezogen auf Landesgesetze zur Unterbringung).
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b) Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK Der EGMR befindet, dass die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des LG Marburg vom 10.4.2001 nicht ausreiche, um fortgesetzte Sicherungsverwahrung nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK (lawful detention of a person after conviction by a competent court) zu legitimieren. Dahinter stehen zwei Thesen: These 1: Die Verantwortung müsse bei dem Strafgericht liegen, das den Schuldspruch gefällt hat. Der letzte Satz in § 96 betont dies ausdrücklich: Die Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer sei nicht geeignet, die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK vorgeschriebene gerichtliche Legitimierung zu schaffen (§ 96). These 2: Es bedürfe einer hinreichenden Kausalbeziehung zwischen dem Schuldspruch und der nachfolgenden Freiheitsentziehung. Die Überlegungen zur angeblich unzureichenden Kausalbeziehung sind angreifbar. Natürlich war der Schuldspruch des LG Marburg vom 17.11.1986 kausal für die fortgesetzte Sicherungsverwahrung auch nach dem Jahr 2001 – denkt man ihn hinweg, wäre es nicht zum Aufenthalt in Sicherungsverwahrung gekommen. Ein Kausalzusammenhang besteht, oder er besteht nicht. Kausalität ist nicht quantitativ steigerbar und es ist die Annahme unzutreffend, dass Kausalverbindungen im Laufe der Zeit allmählich abnehmen (so § 88). Der Sache nach gemeint ist offensichtlich Zurechnung: Man muss den EGMR so verstehen, dass dem Strafgericht, das den Schuldspruch gefällt hat, auch die Entscheidung für fortgesetzte Freiheitsentziehung zurechenbar sein müsse. Die Kammer rekapituliert zunächst (§§ 86-89) die Vorgaben der EGMRRechtsprechung (relevant principles). Eine „gebrochene Kausalverbindung“ sei dann anzunehmen, wenn die Entscheidung für fortgesetzten Freiheitsentzug auf Gründe gestützt wird, die nicht mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung konsistent seien, oder auf eine Bewertung, die im Lichte dieser Ziele unvernünftig sei (§ 88). Wendet man diesen Maßstab an, fällt es schwer, eine „gebrochene Kausalverbindung“ zu erkennen: Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 10.4.2001 führte die Ziele des Urteils vom 17.11.1986 fort und stützte sich auf dieselben Bewertungsgrundlagen (die Notwendigkeit, die Allgemeinheit vor einem Täter zu schützen, bei dem der 1986 festgestellte Hang zu erheblichen Straftaten auch 2001 noch bestand). Trotzdem kommt der EGMR (in § 99) zu dem Ergebnis, dass die fortgesetzte Sicherungsverwahrung dem Tatgericht nicht mehr zugerechnet werden könne. Richtig ist, dass für die im Jahr 1986 urteilenden Richter nicht vorhersehbar war, dass der Gesetzgeber zwölf Jahre später § 67d StGB ändern würde. Hierauf abzustellen, wäre jedoch nur dann ein durchschlagendes Argument, wenn das Tatgericht die Verhän-
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gung von Sicherungsverwahrung vermutlich unterlassen hätte, hätte es vorhersehen können, dass der Täter möglicherweise, bei fortbestehendem Hang zu schweren Gewaltdelikten, nicht automatisch nach zehn Jahren entlassen werden wird. Diese Annahme ist jedoch wenig plausibel. Der EGMR unterlässt, was an anderer Stelle (§ 102) gefordert wird: die Einzelbestimmung im Lichte der Gesamtnorm des Art. 5 EMRK auszulegen. In Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK wurden Verfahren der Freiheitsentziehung aufgelistet, die in den Vertragsstaaten im Jahr 1950 üblich waren und die als konventionsgemäß eingeordnet wurden. Die am Anfang stehende Nr. a enthält die unproblematischste Rechtfertigung, die für eine Freiheitsentziehung möglich ist: Der zu Inhaftierende hat, in einem Schuldurteil festgestellt, eine Straftat begangen, und das Freiheitsentziehung anordnende Gremium war ein Gericht. Bei Vorliegen beider Bedingungen wird hohen Ansprüchen an die Legitimität der Freiheitsentziehung genügt. Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK enthält andere Modalitäten, die nach dem Wortlaut der Konvention ebenfalls genügen, um Freiheitsentziehung zu legitimieren. So dürfen Personen, die als „vagrants“ bezeichnet werden („Landstreicher“ in der deutschen Übersetzung), gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. e EMRK in Haft genommen werden, wofür nicht einmal die Entscheidung eines Gerichts erforderlich ist. Würde man eine Skala konstruieren, um den Grad der Legitimität einer Freiheitsentziehung nach Anlassgrund und Verfahren zu erfassen, wäre Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. e EMRK am unteren Ende anzusiedeln, Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK dagegen am oberen Ende. Das Gesamtbild des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK lässt es als fernliegend erscheinen, ausgerechnet bei dem Erlaubnissatz, der relativ hohe Legitimitätsmaßstäbe anlegt, per Auslegung durch Einführung einer im Text nicht vorgesehenen „besonderen Kausalbeziehung zum Schuldurteil“ noch strengere Maßstäbe einzufordern. Überhaupt nicht gewürdigt wird in M. v. Germany ein wichtiger Umstand, nämlich, dass mit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer eine zweite gerichtliche Entscheidung vorlag. Die vom EGMR geforderte „hinreichende Kausalbeziehung“ zum Schuldspruch des Tatgerichts müsste eigentlich genau dann von Bedeutung sein, wenn über die Dauer der Freiheitsentziehung nicht unabhängige Gremien entscheiden, etwa Strafvollzugspersonal. An dieser Stelle zeigen sich aber Unstimmigkeiten in der EGMR-Rechtsprechung. Das Gericht hat unter Umständen, die an der Rechtsstaatlichkeit der Freiheitsentziehung stärker als im Fall M. v. Germany zweifeln lassen (etwa im Fall Van Droogenbroeck gegen Belgien), einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verneint, weil Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK eingreife. Van Droogenbroeck war wegen Einbruchsdiebstahls zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden und zusätzlich dazu, auf zehn Jahre in der „Verfügungsgewalt der Regierung“ zu verbleiben. Damit wurde der Exekutive weites Ermessen dahingehend eingeräumt, was in diesen
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zehn Jahren mit dem Verurteilten geschehen sollte (Freiheitsentziehung unter unterschiedlichen Bedingungen, Aussetzung der Freiheitsentziehung).15 Ähnlich war die Sachlage im Fall Weeks gegen Vereinigtes Königreich. In diesen Fällen wurden die Freiheitsentziehungen vom EGMR gebilligt, weil das den Schuldspruch aussprechende Gericht eine Sanktion wählte, die der Exekutive in der Folge weites Ermessen zugestand.16 Überzeugend ist dies nicht. Anstatt bei der Auslegung des Merkmals „after conviction“ in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK ausschließlich auf die Verbindung zum Schuldurteil zu achten, sollte darauf abgestellt werden, ob es ein System engmaschiger gerichtlicher Kontrolle für die nach einem Schuldspruch anfallenden weiteren Entscheidungen gibt.
3. Fazit M. v. Germany ist nur dem äußeren Umfang nach kein dünnes Urteil. Der weitaus größere Teil des Texts besteht, wie auch in anderen Urteilen des EGMR, in einer Beschreibung des Vorverfahrens und der nationalen Rechtshintergründe, verbunden mit einigen Hinweisen zum Umgang mit gefährlichen Straftätern in anderen europäischen Staaten. Die entscheidenden, die EMRK auslegenden Teile sind im Umfang schmal und es bleibt die Argumentationstiefe flach, weil entscheidende Festlegungen nur postuliert oder mit dem Verweis auf Vorentscheidungen versehen werden. Die Vorstellung, dass Schlüsselstellen der Auslegung durch Zitatketten abgesichert werden könnten statt durch Argumente, die etwa Sinn und Zweck von Konventionsbestimmungen oder systematische Zusammenhänge analysieren, dürfte auf Einflüsse des Common-Law-Rechtskreises zurückzuführen sein. In der an verschiedenen Stellen festzustellenden Oberflächlichkeit der Argumentation zeigen sich vielleicht auch Schwierigkeiten, die entstehen, wenn innerhalb eines international besetzten Gerichts Richterpersönlichkeiten mit sehr unterschiedlichen Hintergründen sich verständigen müssen.
IV. Was ist auf der Basis der Auslegung des EGMR für die Frage der Konventionswidrigkeit in anderen Fällen abzuleiten? Für die Rechtspraxis ist es offensichtlich nicht mit Kritik an M. v. Germany getan, sondern es muss auf der Basis des vom EGMR Vorgegebenen untersucht werden, ob die Beurteilung als „konventionswidrig“ auch für 15
Van Droogenbroeck gegen Belgien, § 34, EGMR-E 2, 101. Van Droogenbroeck gegen Belgien, § 39; Weeks gegen Vereintes Königreich, § 50, EGMR-E 3, 393. 16
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andere Konstellationen zu erwarten ist. Es gibt zwei Fallgruppen, in denen sich dies aufdrängt, nämlich erstens bei den auf der Basis von § 66 StGB erstmalig Verwahrten, wenn die Rahmenbedingungen (Zeitpunkt von Tat und Urteil) denen des Falls M. ganz oder teilweise entsprechen, und zweitens bei Personen, gegen die gem. § 66b StGB nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.
1. Verurteilungen zu erstmaliger Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB a) Tat und Urteil oder Tat vor 1998 Ein der Lage in M. v. Germany entsprechender Altfall liegt vor, wenn sowohl die Tat vor dem 31.1.1998 geschah (dem Zeitpunkt, als die Änderung des § 67d StGB wirksam wurde) als auch die Verurteilung mit Anordnung der Sicherungsverwahrung vor diesem Zeitpunkt erfolgte. In diesen Fällen müsste der EGMR zum Ergebnis kommen, dass länger als zehn Jahre währende Sicherungsverwahrung gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK verstoße. Lag nur die Tat vor dem 31.1.1998, nicht aber das Sicherungsverwahrung anordnende Urteil, sind die Ausführungen zu Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht übertragbar. War zum Urteilszeitpunkt § 67d StGB bereits auf den heutigen Stand gebracht, bedeutete die Anordnung von Sicherungsverwahrung durch das Tatgericht bereits die Möglichkeit einer über zehn Jahre hinausreichenden Vollziehung. Eine „hinreichende Kausalbeziehung“ zwischen Urteil und Freiheitsentziehung müsste dann angenommen werden. Es bleibt aber dabei, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK nach der Auslegung des EGMR verletzt wäre, wenn Sicherungsverwahrung länger als zehn Jahre andauert.
b) Tat und Urteil nach 1998 Liegen sowohl Verurteilung als auch Tatzeitpunkt nach dem 31.1.1998, ist die Entscheidung des EGMR für Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB nicht von Bedeutung. Diese stellt, wie erwähnt, das Institut der Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich in Frage.
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2. Vorbehaltene Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB und nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB a) Tat vor 2002 bzw. 2004 Die Vorschrift über vorbehaltene Sicherungsverwahrung wurde mit Gesetz vom 21.8.2002, in Kraft seit dem 28.8.2002, eingeführt,17 nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Gesetz vom 23.7.2004, in Kraft getreten am 29.7.2004.18 Ist die jeweilige Anlasstat vor diesen Zeitpunkten begangen, so sind die Festlegungen des EGMR zu Art. 7 Abs. 1 EMRK anwendbar. Nach der Auslegung des EGMR ist Sicherungsverwahrung unter diesen Bedingungen als konventionswidrig zu kennzeichnen. Das BVerfG hat zwar mehrfach unter Bekräftigung der Unterscheidung von Kriminalstrafe und Maßregel festgestellt, dass auch bei vor dem Jahr 2004 begangenen Anlasstaten die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung gem. § 66b Abs. 2 StGB und gem. § 66b Abs. 3 StGB weder gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot noch gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße.19 Jedenfalls für das Erwachsenenstrafrecht führt jedoch kein Weg an der Folgerung vorbei, dass die Einstufung von Sicherungsverwahrung als „penalty“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 EMRK zur Folge hat, dass der EGMR Sicherungsverwahrung gem. § 66b StGB wegen Alttaten als Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK ansehen würde.20 Der 4. Strafsenat am BGH zieht in einer Entscheidung vom 12.5.2010 diesen Schluss für eine Anwendung von § 66b Abs. 3 StGB wegen einer Alttat.21
b) Tat nach 2002 bzw. 2004 Fraglich ist, ob auch dann Probleme im Hinblick auf die EMRK entstehen, wenn für eine Anlasstat, die nach dem 29.7.2004 begangen wurde, Unterbringung in Sicherungsverwahrung gem. § 66 b StGB nachträglich angeordnet wird. Unter diesen Umständen ist nicht Art. 7 Abs. 1 EMRK 17
BGBl. I, S. 3344. BGBl. I, S. 1838; dazu Braum ZRP 2004, 105 ff.; Kinzig NStZ 2004, 655 ff.; Poseck NJW 2004, 2559 ff.; Passek GA 2004, 96, 110 ff. 19 BVerfG, NJW 2006, 3483, 3484 m. Anm. Rau/Zschieschack JR 2006, 477; Ullenbruch NStZ 2007, 62; Foth NStZ 2007, 89; Rosenau/Peters JZ 2007, 584; BVerfG, NJW 2010, 1514, 1515. 20 Kinzig NStZ 2010, 233, 239; Laue JR 2010, 198, 203. So auch schon Trechsel FS für Burgstaller, 2004, S. 201, 208. 21 4 StR 577/09, zu finden bei juris.de. Der 1. Strafsenat meint (vielleicht zu optimistisch), dass die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach jugendstrafrechtlichen Verurteilungen (§ 7 Abs. 2 JGG) wegen der Besonderheiten des Jugendstrafrechts vom EGMR gebilligt werden würde: BGH, NStZ 2010, 381, 384. 18
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einschlägig, da es nicht darauf ankommt, ob der Täter mit einer zwingend eintretenden Rechtsfolge rechnen musste. Die Möglichkeit der Anwendung (s. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK: applicable) genügt, d.h., es genügt, dass die „penalty“ zum Tatzeitpunkt im gesetzlichen Arsenal der Reaktionsmöglichkeiten vorgesehen war. Im deutschen Schrifttum zu § 66b StGB wird schon seit längerem darüber debattiert, ob die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung mit Art. 5 Abs. 1 EMRK kompatibel ist.22 Verneint man dies, sind alle gem. § 66b StGB erfolgten Anordnungen konventionswidrig, auch die für Anlasstaten nach 2004. In M. v. Germany wurde betont, dass Entscheidungen von Strafvollstreckungskammern (courts responsible for the execution of sentences), die die Fortsetzung einer Freiheitsentziehung anordnen, nicht die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 a EMRK vorausgesetzten Gerichtsentscheidungen sein können (§ 96). Dieser Hinweis passt nicht direkt für § 66b StGB, da nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht eine Strafvollstreckungskammer, sondern regelmäßig dieselbe Strafkammer des Landgerichts anordnet, die schon wegen der Anlasstat verurteilt hat (§§ 74 Abs. 1, 74f Abs. 1 GVG). Aber es ist zu erwarten, dass die Identität des Spruchkörpers nicht ausreichen wird, um den EGMR dazu zu bewegen, eine hinreichende Kausalverbindung zum Schuldspruch zu bejahen. Dies ist zu bedauern, weil das Verfahren für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung durchaus hohen Ansprüchen an die Legitimierung von Freiheitsentziehung genügt (neue Hauptverhandlung, Einholung zweier Gutachten, § 275a Abs. 2 bis 4 StPO). Der Sache nach ist es nicht gerechtfertigt, die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung als illegitime Freiheitsentziehung zu brandmarken. Jedoch: Der EGMR hat sich darauf versteift, dass es auf die „sufficient causal connection“ zum Schuldspruch ankomme. Führt er diese Linie fort, dürfte er es für entscheidend ansehen, dass § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB die Feststellung neuer Tatsachen23 verlangen, also das Anknüpfen an einen Umstand, der in der Verurteilung wegen der Anlasstat nicht erwähnt wird. Es ist damit zu rechnen, dass der EGMR auch in Neu-
22 Von einem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 gehen aus Kinzig NJW 2001, 1455, 1458 f.; Renzikowski JR 2004, 271 ff.; ders. (Fn. 11), Art. 5 Rn. 132; Gazeas StraFo 2005, 9, 14 f.; Streng StV 2006, 92, 98; Römer JR 2006, 5 f.; Dörr in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 13 Rn. 161; Böllinger/Pollähne (Fn. 5), § 66b Rn. 7; Ullenbruch (Fn. 5), § 66b Rn. 53; a.A. Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 66b Rn. 47 ff., zusammenfassend Rn. 64. 23 Das Wort „neu“ taucht zwar in § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB nicht auf. Es ergibt sich aber aus dem Sachzusammenhang. S. dazu BGHSt. 50, 121, 125; 50, 275, 278; Rissing-van Saan FS für Nehm, 2006, 191, 196 ff.; Streng StV 2006, 92 ff.
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fällen Sicherungsverwahrung auf der Basis von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB als Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK einordnen wird.24 Vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB ist dagegen so konstruiert, dass das Tatgericht in diesem Urteil die Anordnung von Sicherungsverwahrung explizit vorbehält, wobei es für die später zu treffende Entscheidung nicht auf neue Tatsachen ankommt. Damit ist im schuldfeststellenden Urteil der „Haken“ gesetzt, an dem eine spätere Anordnung der Maßregel festzumachen wäre. Unter diesen Umständen liegt es nahe, ggf. eine „hinreichende Kausalbeziehung“ zu bejahen,25 so dass der EGMR wahrscheinlich insoweit den Legitimationsgrund in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK annehmen und Konventionswidrigkeit verneinen würde.
V. Welcher Handlungsbedarf ergibt sich für Gerichte und Gesetzgeber? 1. Die Situation der Gerichte a) Altfälle Gegenwärtig müssen Strafvollstreckungskammern und Oberlandesgerichte als Beschwerdegerichte darüber entscheiden, ob in Parallelfällen zum Fall M. die Betroffenen entlassen werden müssen.26 Hierzu besteht Uneinigkeit.27 Eine unkompliziert festzustellende Entlassungspflicht bestand lediglich gegenüber dem Beschwerdeführer im Verfahren vor dem EGMR, da 24 Meine abweichende Einschätzung in StV 2006, 383, 386 f. gebe ich auf. Wie hier Trechsel (Fn. 20), S. 217: Kinzig NStZ 2010, 233, 239; Laue JR 2010, 198, 203 f.; optimistischer Rosenau/Peters JZ 2007, 584, 586; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 66b Rn. 60 (Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 2 Nr. a EMRK). Geht es um nachträgliche Sicherungsverwahrung von Straftätern, die zunächst in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht waren (§ 66b Abs. 3 StGB), kommt es allerdings für die Entscheidungsfindung der Strafkammer nicht auf neue Tatsachen an, BGHSt. 52, 31, 33; BVerfG, NJW 2010, 1514, 1516. Unter diesen Umständen wäre es eher vorstellbar, dass der EGMR eine hinreichende Kausalverbindung zum tatgerichtlichen Schuldurteil bejaht. Da diese Formel aber von einiger Vagheit ist, fällt eine Prognose des Entscheidungsverhaltens des EGMR nicht leicht. 25 Böllinger/Pollähne (Fn. 5), § 66b Rn. 7; Dörr (Fn. 22), Kap. 13 Rn. 161; Renzikowski (Fn. 11), Art. 5 Rn. 131; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 5), § 66a Rn. 16; Ullenbruch (Fn. 5), § 66a Rn. 18; Laue JR 2010, 198, 203. Skeptischer Kinzig NStZ 2010, 233, 238 f. 26 Für eine Entlassungspflicht Kinzig NStZ 2010, 233, 238; Laue JR 2010, 198, 202. 27 Für die Entlassung in Parallelfällen OLG Frankfurt, 3 Ws 485/10; OLG Frankfurt, 3 Ws 539/10; dagegen OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. Der Gesetzgeber sah sich daraufhin veranlasst, in § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG n.F. im Falle der Abweichung von der Entscheidung eines anderen OLG oder des BGH, die nach dem 1.1.2010 erging, zur Vorlage an den BGH zu verpflichten.
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für den entschiedenen Einzelfall sich aus Art. 46 EMRKdie Pflicht ableiten lässt, einen konventionswidrigen Zustand zu beenden.28 Wurde nachträglich gem. § 66b StGB Sicherungsverwahrung wegen einer vor 2004 geschehenen Tat angeordnet, scheidet bei eingetretener Rechtskraft eine Entlassung durch die Strafvollstreckungskammer aus.29 Für Strafkammern wie die ggf. gegen deren Urteile angerufenen Revisionsgerichte stellt sich aber die Frage, ob nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf, wenn die Anlasstat vor 2004 geschah. Entscheidungsgrundlage für Gerichte ist das geltende Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Zu klären ist zunächst, ob ein unauflösbarer Widerspruch zwischen § 2 Abs. 6 StGB (es ist das zur Zeit der Entscheidung geltende Gesetz anzuwenden, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist) einerseits, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK in der Auslegung des EGMR andererseits besteht. Dies wäre ein Widerspruch innerhalb des deutschen Bundesrechts (wenn man mit dem BVerfG davon ausgeht, dass die EMRK im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht und dass sich in Entscheidungen des EGMR der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt)30. Statt der Feststellung eines Widerspruchs ist allerdings die Möglichkeit einer harmonisierenden Interpretation zu erwägen. In diesem Sinne gehen der 4. Strafsenat des BGH und das OLG Frankfurt davon aus, dass die Klausel in § 2 Abs. 6 StGB „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“ es erlaube, das vom deutschen Gesetzgeber geschaffene Recht und die Auslegung des EGMR von Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK zu harmonisieren.31 Ist es aber überzeugend, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK mit der Interpretation des Begriffs „penalty“ durch den EGMR als „andere gesetzliche Bestimmung“ i.S.v. § 2 Abs. 6 StGB einzuordnen? Die Mehrheit der Oberlandesgerichte sieht dies mit guten Gründen anders.32 Das BVerfG hat in der Görgülü-Entscheidung befunden, dass Entscheidungen des EGMR „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ berücksichtigt werden müssen.33 In den Fällen, in denen die Änderung von § 67d StGB im Zentrum steht, ist eine methodisch vertretbare Harmonisierungslösung schon deshalb nicht möglich, weil der Gesetzgeber eindeutig und unmissverständlich in 28
BVerfGE 111, 307, 320 f. OLG Frankfurt, 3 Ws 418/10. Insoweit, bei rechtskräftiger Anordnung von Sicherungsverwahrung, stellt sich die Frage, ob ein Wiederaufnahmegrund gem. § 359 Nr. 6 StPO auch für die nicht am Verfahren vor dem EGMR Beteiligten besteht. Dies deutet das OLG Frankfurt an; im Schrifttum ist dies allerdings umstritten, s. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 359 Rn. 52. 30 BVerfGE 111, 307, 317, 319. 31 BGH 4 StR 577/09; OLG Frankfurt, 3 Ws 485/10, abrufbar bei juris.de. 32 OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. 33 BVerfGE 111, 307, 323. 29
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Art. 1a Abs. 3 EGStGB festgelegt hat, dass es bei der Regel in § 2 Abs. 6 StGB bleiben sollte. Spielraum für die Ausnahmeklausel bestand insoweit nicht.34 In Bezug auf § 66b StGB ist eine harmonisierende Lösung ebenfalls wenig plausibel. Die Konsequenzen dessen, was der EGMR vorgezeichnet hat, laufen vielmehr auf eine dem Willen des deutschen Parlaments eindeutig zuwiderlaufende Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hinaus. Die vom BVerfG für Gerichte angenommene Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR ist keine Anweisung, im Kollisionsfalle die Regeln des StGB hintanzusetzen.35 Zu Recht weist das BVerfG darauf hin, dass bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen komplizierte Abwägungen erforderlich sind.36 Ein solches mehrpoliges Grundrechtsverhältnis liegt nach der zutreffenden Ansicht des 1. Strafsenats am BGH und mehrerer Oberlandesgerichte bei Entscheidungen in Sachen Sicherungsverwahrung vor,37 da im Falle der Freilassung Straftaten drohen, die Opfer schwer schädigen. Es handelt sich um ein ernst zu nehmendes Risiko. Zwar bedeutet eine ungünstige Prognose nicht zwangsläufig, dass es zu Rückfällen kommt,38 und infolge fortgeschrittenen Lebensalters kann dies auch für Entlassene gelten, bei denen die Vorgeschichte auf eine beträchtliche Gewaltneigung schließen lässt. Aber auch wenn die Entlassung in einigen Fällen nicht zu Gewaltverbrechen führt, wird es wahrscheinlich nicht gelingen, dies für alle Betroffene sicherzustellen.39 Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung sprechen gute Gründe dafür, dass die schwierige und hochpolitische Abwägung, ob die Erfüllung völker- und europarechtlicher Verpflichtungen oder ob Opferschutz als Verfassungsauftrag vorrangig ist, vom Parlament verantwortet werden sollte und Gerichte bis zur Entscheidung dieser Frage von den Regeln des StGB ausgehen müssen.
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OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. S. zu dieser Frage Schilling Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, 164 ff. 36 BVerfGE 111, 307, 324. 37 BGH, NStZ 2010, 381, 384; OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10; OLG Koblenz, 1 Ws 108/10. S. zur Mehrpoligkeit auch bei strafrechtlichen Fragen Hoffmann-Riem EuGRZ 2006, 492. 38 Dazu Kinzig Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2010, 48, 55 ff. 39 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob gegen zu Entlassende Führungsaufsicht angeordnet werden kann (dafür Kinzig NStZ 2010, 233, 238). Das OLG Frankfurt hat dies im Fall M. (oben Fn. 2) mit Verweis auf § 67d Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2 StGB getan. Dabei handelt es sich aber um eine Analogie zu Lasten des Betroffenen, da weder die in § 67 Abs. 3 S. 1 StGB beschriebene Situation noch die des § 67 Abs. 4 S. 1 StGB vorliegt. 35
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b) Neufälle Ferner kann auf Strafkammern und Revisionsgerichte die Frage zukommen, ob nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich ist, wenn zum Zeitpunkt der Anlasstat § 66b StGB bereits existierte. Solange der EGMR über Entscheidungen gem. § 66b StGB und deren Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 EMRK noch nicht explizit geurteilt hat, wird man dies bejahen können. Aber auch dann, wenn ein Urteil vorliegt, das einen Konventionsverstoß feststellt, hat aus den vorstehend skizzierten Gründen das Parlament die Verantwortung für schwierige Abwägungsentscheidung zu übernehmen.
2. Kriminalpolitische Überlegungen Erwogen wird, durch eine Umgestaltung der Verwahrungspraxis die Sicherungsverwahrung aus dem Bereich dessen herauszunehmen, was der EGMR als „penalty“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK einordnet. So haben Rechtspolitiker der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, ein neues System der „Sicherungsunterbringung“ mit anderen Anordnungs- und Vollzugsregeln, u.a. mit Ausweitung des Therapieangebots, zu schaffen.40 Damit wäre allerdings nicht zu bewirken, dass der EGMR keine Einwände gegen fortgesetzte Freiheitsentziehung bei Altfällen mehr hätte. Vielleicht würde (selbst das ist nicht genau prognostizierbar) das Gericht unter solchen Umständen nicht mehr einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK annehmen. Keinen Einfluss hätten Änderungen der Verwahrungspraxis jedoch auf die Beurteilung nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK. Solange der EGMR darauf besteht, dass die Verantwortung beim Gericht, das den Schuldspruch fällt, liegen muss, muss damit gerechnet werden, dass weitere Beschwerden von denjenigen, die von der Änderung des § 67d StGB betroffen sind, erfolgreich sind. Und dasselbe gilt für die nachträgliche Sicherungsverwahrung, sowohl in Alt- als auch in Neufällen. Besser vereinbar mit der Position des EGMR sind die im Juni 2010 von der Bundesjustizministerin vorgelegten Eckpunkte zur Reform der Sicherungsverwahrung, in denen die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und ein Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vorgeschlagen wird.
40
Positionspapier der Rechtspolitiker der CDU/CSU-Fraktion vom 8. 6. 2010.
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VI. Schlussbemerkungen Das Urteil M. v. Germany ruft heterogene Reaktionen vor. Vertreter des Völker- und Europarechts, die schon die Görgülü-Entscheidung des BVerfG als zu defensiv gegenüber völkerrechtlichen Vorgaben kritisiert haben,41 werden von einer Entscheidung angetan sein, die über die deutsche Verfassungsrechtsprechung hinwegfegt. Wer der EMRK übergesetzlichen Rang beimisst,42 hat ebenfalls keine grundsätzlichen Zweifel an der Legitimität einer weitgehenden Korrektur nationaler Kriminalpolitik. Der Anspruch des EGMR, dem Menschenrechtsschutz Geltung zu verschaffen, bedeutet in, aber auch jenseits der rechtswissenschaftlichen Diskussion Vorteile für den Grad der Anerkennung, die seine Urteile finden (im Hinblick auf die gesamte Medienöffentlichkeit wird sich das allerdings drastisch ändern, wenn ein aufgrund des Urteils Entlassener ein Gewaltverbrechen begeht). Grund zur uneingeschränkten Freude ist M. v. Germany und der sich in dieser Entscheidung zeigende wachsende Einfluss des EGMR aber nicht. Der für das Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft zentrale Bereich der Kriminalpolitik wird dadurch zunehmend demokratischen Entscheidungsstrukturen entzogen. In der Literatur steht das Verhältnis von BVerfG und EGMR im Zentrum der Aufmerksamkeit43 – das gravierendere Problem liegt jedoch in der Schwächung des Demokratieprinzips durch eine Entmachtung der Parlamente. Die breitere Diskussion über das angemessene Verhältnis von Legislative und Judikative kann hier nicht aufgenommen werden.44 Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der Diskussionsbedarf wächst, wenn weitere Faktoren hinzutreten: unzureichende Überzeugungskraft der Urteile des EGMR wegen des oberflächlichen Niveaus der Begründungen; Zweifel, ob die vom Gericht gestellten Ansprüche an die Rechtsstaatlichkeit von Freiheitsentziehungen auf einem in sich konsistenten Konzept beruhen; und die Tendenz in der EGMR-Rechtsprechung, bipolare Strukturen statt komplexer mehrpoliger Verhältnisse in den Vordergrund zu stellen.45 41 Klein JZ 2004, 1176, 1178; Cremer EuGRZ 2004, 683 ff.; Pernice EuZW 2004, 705; Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2005, 15, 19; Walther in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 31 Rn. 12; Heckötter Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 188 ff.; Schilling (Fn. 35), S. 189 ff. 42 Giegerich in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 2 Rn. 47 ff. 43 Heckötter (Fn. 41); Schilling (Fn. 35); Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, 2009. 44 S. dazu Schlaich VVDStRL 39 (1981), 99, 106 ff.; Möllers Die drei Gewalten, 2008, S. 136 ff., 209 ff. 45 Hoffmann-Riem EuGRZ 2006, 492, 497.
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Sollte der deutsche Gesetzgeber die nachträgliche Sicherungsverwahrung zugunsten einer Ausweitung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung abschaffen, wie dies die Bundesjustizministerin vorschlägt, würde dies vermutlich Kritiker der Sicherungsverwahrung erfreuen. Allerdings ist vor dem Plädoyer für diese Lösung zu bedenken: Eine wahrscheinliche Folge wäre, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten dadurch stark anwächst. Wissen Tatrichter, dass eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung unter keinen Umständen mehr möglich ist, und werden gleichzeitig die Anforderungen für vorbehaltene Sicherungsverwahrung gesenkt, ist mit einer deutlich höheren Zahl von „sicherheitshalber“ getroffenen Entscheidungen nach § 66a StGB zu rechnen. In der Folge wäre dann unvermeidbar, dass von diesem Vorbehalt tatsächlich auch öfter Gebrauch gemacht wird, weil der bereits formulierte Gefährlichkeitsverdacht nicht mehr auszuräumen ist.
„Freie“ und „unfreie“ Verfügungen über das Vermögen KRISTIAN HOHN
Unter der Leitung der Jubilarin hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zahlreiche wegweisende Entscheidungen gefällt, die unser Verständnis vom Strafgesetz maßgeblich geschärft haben. Zu diesen gehört auch das vielfach besprochene – und gescholtene – Urteil in Sachen „Siemens“.1 Den zahlreichen Anmerkungen und Besprechungen2 soll hier keine weitere hinzugefügt werden. Doch die Entscheidung führt zu einer interessanten rechtlichen Verwicklung, der bislang in der Diskussion keine so rechte Beachtung geschenkt worden ist: Die „Fronten“ im Streit um die Reichweite der Tatbestände der Untreue sind einigermaßen „verhärtet“.3 Da kann es schon einmal vorkommen, dass man aneinander vorbeiredet. Die Kritik an der Annahme des Senats in dem zitierten Urteil, das Einrichten bzw. Unterhalten einer schwarzen Kasse4 könne den Tatbestand der Untreue erfüllen, hat sich in der Hauptsache an dem Begriff der Dispositionsmöglichkeit entzündet, den das Gericht zur Begründung eines Vermögensnachteils heranzieht. Von hier ausgehend hat 1
BGHSt 52, 323 ff. Bernsmann, GA 2009, 296; Brammsen/Apel, WM 2010, 781; Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94; Jahn, JuS 2009, 173; Knauer, NStZ 2009, 151; Marxen/Taschner, EWIR 2009, 253; Otto, WuB IX. § 266 1.09; Ransiek, NJW 2009, 95; Reinhold, HRRS 2009, 107; Rönnau, StV 2009, 246; Satzger, NStZ 2009, 297; Schlösser, HRRS 2009, 19; Schünemann, StraFo 2010, 1, 7 ff.; Sünner, ZIP 2009, 937. 3 Die Literatur beklagt vor allem eine generelle Tendenz der Rechtsprechung zu ausweitender Anwendung des § 266 StGB sowie den Versuch, die Untreuetatbestände auch in Bereichen fruchtbar zu machen, in denen bereichsspezifische Strafvorschriften (wie etwa Korruptionstatbestände) wegen Beweisschwierigkeiten versagen, s. zur Diskussion etwa Beulke, in: FS Eisenberg, 2009, S. 245 ff., Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8 ff. (auch zu der unter den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs geführten Diskussion um den Begriff der Vermögensgefährdung) und Saliger, in: SSW, § 266 Rn. 8 u. 76 f. jeweils m. w. N. 4 Zu dem Begriff und den verschiedenen Spielarten der schwarzen Kasse s. näher Weimann, Die Strafbarkeit der Bildung sogenannter schwarzer Kassen gem. § 266 StGB (Untreue), Diss. Tübingen 1996, S. 12 f. und Strelczyk, Die Strafbarkeit der Bildung schwarzer Kassen, Diss. München 2008, S. 2 ff. Zu Einsatzzwecken schwarzer Kassen s. auch Bernsmann, GA 2009, 296, 300 f. 2
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sich die Diskussion um die Berechtigung dieses Standpunkts auf die bekannten Pfade begeben, die von Rechtsprechung und Literatur in der Diskussion um die Einordnung der sog. Haushaltsuntreue ausgetreten worden sind.5 Möglicherweise ist dabei übersehen worden, dass der 2. Strafsenat mit der „Möglichkeit zur Disposition über das Vermögen“ einen rechtlichen Sachverhalt bezeichnet, der mit dem, was von manchem Kritiker unter diesem Begriff verstanden wird, nicht identisch ist; Gericht und seine Kritiker also nicht um die richtige Deutung des Begriffs „Disposition“ und dessen Bedeutung für das Vermögen einer Person streiten, sondern Verschiedenes meinen, obwohl sie vordergründig von Demselben zu reden scheinen.
I. Die Positionen im Streit um die Bedeutung des Verlusts der Dispositionsmöglichkeit 1. Zweiter Strafsenat: Verlust der Dispositionsmöglichkeit als (endgültiger) Vermögensschaden Wenn im Folgenden nun die Überlegungen des Gerichts in diesem einen Punkt der Begründung eines Vermögensschadens nachgezeichnet werden, so muss gegenüber der Entscheidung, der dieser Gedankengang entnommen ist, vorab eine Vereinfachung vorgenommen werden: Der dem Senat vorgelegen habende Sachverhalt zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Angeklagten die schwarze Kasse nicht selbst angelegt, also selbst keine Mittel der Siemens AG abgezweigt und einem nur ihnen bekannten Konto zugeführt hatten. Vielmehr hatten sie eine schon bestehende – von einem Vorgänger mit anderweit nicht verbrauchten Geldern eingerichtete – schwarze Kasse übernommen. Mit dieser Besonderheit ist ein anderenorts hinlänglich erörtertes Problem des Unterlassungsdelikts verknüpft,6 das hier nicht weiter von Belang sein soll. Im Rahmen dieser Überlegungen geht es 5
Vgl. Saliger, in: SSW, § 266 Rn. 94 ff. m. zahlreichen N. S. dazu Rönnau, StV 2009, 246 f., Satzger, NStZ 2009, 297, 301 u. 302 und Schünemann, StraFo 2010, 1, 9 f., die annehmen, es fehle an einem durch das Unterlassen verursachten (gegenüber dem schon durch das Einrichten angerichteten weiteren) Schaden; anders Ransiek, NJW 2009, 95, 96: ein Vermögensnachteil entstehe auch dann, wenn der Treunehmer eine kontrafaktische, weil in ihrer Realisierung von der Willkür des Treunehmers selbst abhängige Chance seines Geschäftsherrn auf Rückerlangung der verborgenen Mittel vereitele. Interessanterweise dient dieselbe Begründung – lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen verwendet – den Kritikern der Siemens-Entscheidung zur Ablehnung eines Vermögensnachteils auch beim Einrichten der schwarzen Kasse, wenn verlangt wird, es müsse die Absicht des Kassenwarts zur Verwendung der Mittel zugunsten des Geschäftsherrn berücksichtigt werden, s. dazu unten 2. und II. 1. 6
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allein um die Frage, ob der Geschäftsführer durch das Einrichten oder (was rechtlich dasselbe bedeutet) das Aufstocken einer schwarzen Kasse einen Vermögensnachteil verursacht. Dabei sei unter einer schwarzen Kasse ein Konto verstanden, auf dem Gelder des Geschäftsherrn vor diesem verborgen gehalten werden (das diesem also unbekannt ist), um damit Tätigkeiten zu finanzieren, die im Zusammenhang mit dem Auftrag/den Aufgaben stehen, den/die der Verbergende für den Geschäftsherrn erbringt.7 Der Senat begründet – übersetzt man die auf das Unterlassen der ordnungsgemäßen Verbuchung gemünzten Ausführungen auf den Fall der Einrichtung einer außerhalb des gewöhnlichen Buchungs- und Kontensystems geführten Kontos – den Erfolg der § 266 StGB mit folgenden Überlegungen:8 Wer eine schwarze Kasse einrichtet, entziehe ihrem Inhaber9 auf Dauer die Verfügungsmöglichkeit über die vor ihm verborgenen Vermögenswerte, weil dieser darauf nicht Zugriff nehmen kann, und gefährde so nicht nur das betreute Vermögen, sondern verursache einen endgültigen Vermögensnachteil, so dass es auf die spätere Mittelverwendung nicht ankomme. Mehr noch: Auch der mit der Einrichtung der Kasse verfolgte Zweck spiele keine Rolle; irrelevant ist also, ob die Verwalter der schwarzen Kasse die gute Absicht hegen, das dort geparkte Geld für wirtschaftlich sinnvolle oder gar letztlich erfolgreiche Unternehmungen zugunsten des Geschäftsherrn zu verwenden. Der Senat hat versucht, vorhersehbare Kritik an seinem verwendungs- und verwendungszweckunabhängigen Standpunkt vorwegzunehmen und dem auf den ersten Blick naheliegenden Einwand vorab zu begegnen, er bestrafe bloße Einschränkungen der Dispositionsmöglichkeit als Vermögensschädigung und vermische so die Tatbestandsmerkmale Vermögensnachteil und Pflichtverletzung:10 Von der bloßen Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit könne dann keine Rede sein, „wenn der Vermögensinhaber infolge von Manipulationen des Treunehmers von Vermögenswerten keine Kenntnis und auf sie keinen Zugriff erlange [ ... ].“ „Denn“, so führt der Senat weiter aus, „die Möglichkeit zur Disposition über das eigene Vermögen gehört zum Kern der von § 266 StGB geschützten Rechtsposition.“11 Diese letzte Aussage muss im Zusammenhang mit einer weiteren interpretiert werden: Schon zuvor bemerkt das Gericht: 7 Vgl. Weimann (Fn. 4), S. 12 f. Ob der Verbergende dabei spezifische Pflichten gegenüber dem Geschäftsherrn verletzt (so etwa die Definitionen bei Saliger, NStZ 2007, 545, 547 oder Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713) spielt hier eine nur untergeordnete Rolle. 8 BGHSt 52, 323, 336 – Rn. 42 – 47. 9 Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 17 bezweifelt allerdings schon, dass der Treugeber Inhaber der in einer schwarzen Kasse enthaltenen Gelder ist. 10 So der von Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 70 gegenüber den Aussagen der Vorinstanz erhobene Vorwurf. 11 BGHSt 52, 323, 339 – Rn. 47.
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„Die Bestimmung über die Verwendung des eigenen Vermögens obliegt dem Vermögensinhaber, im Fall einer Kapitalgesellschaft dessen zuständigen Organen.“12
2. Kritik aus der Lehre Mit dem Satz über die Möglichkeit zur Disposition hat der Senat die Hauptstoßrichtung der Kritik aus der Lehre vorprogrammiert: Indem er es nicht bei dem schlichten Hinweis auf fehlende Kenntnis und mangelnden Zugriff des Vermögensinhabers belässt, stattdessen die Dispositionsmöglichkeit zum selbständigen Teil des Schutzgutes der Untreue zu erheben scheint, provoziert er geradezu jenen Widerspruch, den das Siemensurteil in der ganz überwiegenden Mehrheit der Anmerkungen und Besprechungen erfahren hat. Die Autoren bemängeln an der Annahme eines Vermögensnachteils in der vollen Höhe des Kasseninhalts vor allem drei Dinge: Der Bundesgerichtshof schließe unzulässigerweise von der durch Missachtung siemensinterner Verbote zum Führen schwarzer Kassen13 begangenen Pflichtverletzung auf den Vermögensnachteil, wenn das Gericht auf den Verlust der Dispositionsmöglichkeit abstelle – dadurch werde aus § 266 StGB ein Delikt gegen die Freiheit des Vermögensinhabers, autonom über die Zusammensetzung seines Vermögens und die mit seinem Einsatz verfolgten Zwecke zu entscheiden, obwohl es bei dieser Vorschrift wie bei allen anderen Vermögensdelikten i. e. S. doch eigentlich allein um den Schutz des Vermögensinhabers vor einem Ärmerwerden gehe.14 Insoweit sehen die Kritiker im Einrichten einer schwarzen Kasse die bloße Anmaßung der dem Rechtsgutinhaber vorbehaltenen Zwecksetzungsbefugnisse: Indem die Treunehmer die Vermögenswerte vor ihrem Inhaber verbergen, 12
BGHSt 52, 323, 337 Rn. 44. Dass es ein solches ernstgemeintes Verbot gegeben habe, wird vielfach bezweifelt – s. nur Schünemann, StraFo 2010, 1, 9 m. Fn. 47 und Sünner, ZIP 2009, 937, 938 f., beruht aber auf Erkenntnissen bzw. Vermutungen, von denen sich die Tatsacheninstanz nicht hat überzeugen können, so dass die Zweifel ohne Bedeutung sind. Bernsmann, GA 2009, 296, 308 ff. bezweifelt das Vorliegen einer Pflichtverletzung (für den Fall, dass der Vorstand selbst die schwarze Kasse eingerichtet hätte) hingegen schon deshalb, weil und soweit diese wirtschaftlich betrachtet im Unternehmensinteresse dauerhafter Rentabilität eingesetzt wird. Das ist konsequent, sofern man die hier dargestellte Kritik an der Annahme eines Vermögensnachteils teilt. 14 Bernsmann, GA 2009, 296, 303 f.; Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Jahn, JuS 2009, 173, 175; Knauer, NStZ 2009, 151, 153; Otto, WuB IX. § 266, StGB 1.09; Reinhold, HRRS 2009, 107, 109 f.; Satzger, NStZ 2009, 297, 303; Schlösser, HRRS 2009, 19, 23 f.; abschwächend, im Ergebnis aber ähnlich Rönnau, StV 2009, 246, 249; auch Brammsen/Apel, WM 2010, 781, 785, die allerdings unabhängig davon einen Vermögensnachteil – wie der Senat – schon in der Verschleierung der Schwarzgelder sehen. Anders Ransiek, NJW 2009, 95 f., der dem Senat uneingeschränkt zustimmt. 13
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schaffen sie sich einen Fonds, bei dem allein sie anstatt des Treugebers über die Verwendung der darin enthaltenen Mittel entscheiden. Es liegt in der Konsequenz dieser Kritik, dass erst die spätere tatsächliche Verwendung dieser Mittel den Vermögensinhaber endgültig ärmer macht, so dass der mit Einrichtung der Kasse einhergehende Kontrollverlust allenfalls eine Vermögensgefährdung sein könne, was allerdings voraussetzt, dass sich eine konkrete Gefahr des Verlusts feststellen lässt. Dabei soll es dann auf die von den Treunehmern verfolgten Zwecke oder etwa die Möglichkeit des ungehinderten Zugriffs Dritter auf die Kasse (etwa in Form der von einem Gläubiger des Treunehmers betriebenen Kontenpfändung, wenn das Konto auf dessen Namen lautet) ankommen. Nach dieser Lesart ist die Einrichtung der schwarzen Kasse also nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für einen Vermögensverlust und damit die typische Situation einer „bloßen“ Vermögensgefährdung.15 In der Sache vermuten die Kritiker, das Gericht habe aus dem Vermögensdelikt Untreue einen Korruptionsvorfeldtatbestand gemacht, mit dem sich Bestechungen (im geschäftlichen Verkehr) auch dort verfolgen lassen, wo die Unrechtsvereinbarung nicht nachweisbar oder der Bestechungstatbestand anderweit nicht erfüllt ist.16 Einen Teil der Kritiker treibt im Zusammenhang mit dieser Anmaßung von Dispositionsmacht gerade bei einer Kapitalgesellschaft als Vermögensinhaberin noch etwas anderes um:17 Wer als Angestellter einer Kapitalgesellschaft mit deren Vermögen18 ein geheimes Konto eröffnet oder solches Vermögen darauf „einzahlt“, tut äußerlich zunächst nichts Ungewöhnliches, also nichts, was gehorsame Angestellte nicht auch täten. Der einzige Unterschied zu einem treuen Angestellten besteht darin, dass dieser dabei buchhalterische Transparenz walten lässt. Allein dieser Umstand – gegebenenfalls flankiert dadurch, dass das Konto unter einem ande15
Schünemann, StraFo 2010, 1, 8 f. Bernsmann, GA 2009, 296, 304; Marxen/Taschner, EWIR 2009, 253, 254; Satzger, NStZ 2009, 297, 298 f. 17 S. zum Folgenden mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Satzger, NStZ 2009, 297, 303; Schünemann, StraFo 2010, 1, 8 f.; Sünner, ZIP 2009, 937, 939. 18 Es ist allerdings zweifelhaft, ob es sich bei den Geldern, die sich auf schwarzen Konten befanden, die schon ein Angestellter der auf die Siemens AG konsolidierten Kraftwerk Union AG angelegt hatte, überhaupt um Vermögen der Siemens AG gehandelt hat. Nimmt man wie der Senat an, durch Anlegen der schwarzen Kasse entstehe ein Verlust in Höhe des Kasseninhalts, scheiden die dort geparkten Mittel endgültig aus dem Vermögen des Geschäftsherrn aus. Da dies bereits zu Zeiten der Kraftwerk Union AG geschehen war, spricht einiges dafür, dass die Siemens AG nach den vom Senat gesetzten Maßstäben nie Inhaberin der Mittel geworden ist, so dass man anders als die in Fn. 6 Genannten nicht erst die Verursachung einer Vermögensschädigung durch Unterlassen, sondern bereits die Existenz eines zur Tatbestandsverwirklichung geeigneten Rechtsgutobjekts verneinen müsste. 16
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ren Namen als dem des Geschäftsherrn geführt wird – sorgt nach der Auffassung des 2. Strafsenats für den vollständigen Entzug der Dispositionsmöglichkeit. Dem entgegen die Kritiker, der Vermögensinhaber bzw. bei einer Aktiengesellschaft der Vorstand als das Organ, das die Dispositionsmacht für die Vermögensinhaberin ausübe,19 wisse ohnehin grundsätzlich nicht über das Schicksal jedes einzelnen Vermögenswerts Bescheid und habe vielfach auch kein Interesse daran. Gerade in Unternehmen von der Größe einer Siemens AG mit einem Umsatz von mehr als 70 Mrd. € sei es bereits aufgrund der schieren Menge an Vermögensbewegungen ausgeschlossen, dass die Mitglieder des Vorstands Kenntnis vom Verbleib oder Einsatz sämtlicher Mittel der Gesellschaft hätten. Die fehlende Kenntnis, die der Senat als Voraussetzung für den Entzug der Dispositionsmöglichkeit ausgemacht hat, sei danach als Folge arbeitsteiligen Wirtschaftens ein alltäglicher Zustand, bei dem niemand auf die abwegige Idee käme, den Entzug von Disposi-ionsmacht und einen Vermögensnachteil anzunehmen. Dieser Einwand zielt auf die faktischen Voraussetzungen von Dispositionsmacht: Ist Unkenntnis des Vermögensinhabers von den einzelnen Vermögensgegenständen der Regelfall, kann das Verbergen eines einzelnen solchen Vermögens-gegenstands durch Transfer in eine schwarze Kasse diesen Zustand nicht verschlechtern. Auf die Spitze getrieben ließe sich sagen, dass aus Sicht des Inhabers eines (großen) Vermögens, dessen Verwaltung er in andere Hände gelegt hat, alle bzw. zumindest die meisten im Zuge dieser Verwaltung angelegten Kassen schwarz sind, weil nur dem Verwalter bekannt. Teilweise wird noch weiter gegangen und werden leitenden Angestellten wie dem angeklagten Bereichsvorstand – im Fall der Siemens AG dem Bereichsvorstand der (rechtlich unselbständigen) Abteilung Power Generation, ein Geschäftsbereich mit einem Umsatz von damals 10 Mrd. € und 30.000 Mitarbeitern20 – selbst Dispositionsbefugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung zugestanden, sofern sie – etwa als kaufmännische Leiter – autorisiert sind, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen, also die Vermögensinhaberin unbegrenzt rechtsgeschäftlich verpflichten können.21 Dieser Einwand zielt nicht auf die faktische, sondern auf die rechtliche Dimension der Dispositionsbefugnisse: Wem schon vor der fraglichen Handlung Dispositionsbefugnisse vom Inhaber des betreuten Vermögens oder dem für diesen handelnden Organ eingeräumt worden sind, kann diese 19
So Schünemann, StraFo 2010, 1, 9. Vgl. BGHSt 52, 323, 325 – Rn. 8. 21 Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713, 734; Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 71, wobei die beiden zuletzt Genannten annehmen, mit der Einräumung solcher Befugnisse gehe eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Vermögensinhabers und damit eine ihm zurechenbare Kontrollaufgabe einher. 20
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dem Vermögensinhaber dann nicht nehmen, wenn er sich innerhalb der ihm eingeräumten Zuständigkeiten hält.22
II. Analyse der Einwände Es spricht viel dafür, dass die Einwände letztlich an den rechtlichen Feststellungen des Siemensurteils vorbeigehen. So unterschiedlich die Vorwürfe auch sind – sie fußen zu einem großen Teil auf einem Missverständnis oder zumindest auf dem Mangel an Übereinkunft darüber, was der Begriff „Disposition“ meint.
1. Erster Einwand: § 266 StGB schützt nicht vor isolierten Angriffen auf die Dispositionsfreiheit Es darf mittlerweile zu dem Schatz gesicherter Erkenntnisse zählen: Vermögensdelikte i. e. S. schützen den Rechtsgutinhaber allein vor Schmälerungen seines Vermögens, nicht aber vor reinen Beeinträchtigungen seiner Dispositionsbefugnis. Obwohl die Freiheit, über den Einsatz eigener Güter zu entscheiden, beim Vermögen ebenso wie bei anderen Individualrechtsgütern allein dem Rechtsgutinhaber zusteht, sind isolierte Verletzungen dieses Rechts lediglich als Nötigung oder Wucher verboten. Wer den Vermögensinhaber durch Täuschung über den Urheber eines Gemäldes dazu bringt, statt eines „Macke“ einen von dem Vermögensinhaber nicht sehr geschätzten „Marc“ zu erwerben, begeht unabhängig von Fragen zur Absicht rechtswidriger Bereicherung keinen Betrug, wenn der Erwerber für den „Marc“ nicht zu viel bezahlt. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geht im Grundsatz von dieser Regel aus, wie sich an den Entscheidungen zur Haushaltsuntreue ablesen lässt. Auch das Gericht hält reine Angriffe auf die Dispositionsbefugnis des Budgetverantwortlichen nicht für ein Vermögensdelikt; hinzutreten muss jeweils eine Vermögensminderung.23 Der Vorwurf wäre also berechtigt, ginge es dem 2. Strafsenat bei seiner Feststellung vom Entzug der Dispositionsmöglichkeit tatsächlich um die Dispositionsfreiheit in Sinne autonomer Zwecksetzungsmacht, wie sie allein dem Inhaber eines Individualrechtsguts zukommt. Doch das ist nicht der 22
Schünemann, StraFo 2010, 1, 9; so auch schon Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 70 f. BGHSt 43, 293, 297, BGH NJW 2003, 2179, 2180 jew. m. w. N.; dabei geht es in der Hauptsache um Einschränkungen der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit des Vermögensinhabers durch die Fehlleitung der Haushaltsmittel, wie eine Liquiditätskrise, die dazu zwingt, teure Kassenkredite aufzunehmen; s. dazu auch Schlösser, HRRS 2009, 19, 27. 23
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Fall: Zwar ist das Gericht an diesem Missverständnis nicht ganz unschuldig, wenn es zur Begründung, die Siemens AG sei durch das Verhalten der Angeklagten ärmer geworden, auf den Entzug der Dispositionsmöglichkeit abstellt, was von manchem Autor recht freimütig mit Dispositionsbefugnis24 oder Dispositionsfreiheit25 übersetzt wird. Auch ist der Begriff der Disposition im Strafrecht – vor allem im Zusammenhang mit der Einwilligungsdogmatik – bereits in dem oben genannten Sinne besetzt.26 Doch bei genauerer Besichtigung zeigt sich, dass im Urteil keineswegs diese allein dem Vermögensinhaber zustehende Rechtsmacht gemeint ist: Zwar heißt es auf S. 337 in Rn. 44, die Bestimmung über die Verwendung des eigenen Vermögens obliege dem Vermögensinhaber. Und es spricht Einiges dafür, dass an dieser Stelle tatsächlich echte Dispositionsfreiheit gemeint ist, auch wenn es dazu nicht so recht passen will, wenn „für den Fall einer Kapitalgesellschaft dessen zuständigen Organe[n]“ als diejenigen genannt werden, denen diese Verwendungsbestimmung obliege.27 Doch will der Senat mit dieser Feststellung allein den Einwand widerlegen, ein Vermögensnachteil sei ausgeschlossen, wenn der Kassenverwalter die Absicht hege, den Kasseninhalt ausschließlich im Sinne des Vermögensinhabers (nämlich zur Erlangung von Werkverträgen) zu verwenden. Mit anderen Worten: Der Kassenverwalter kann gegen den Vorwurf der Vermögensschädigung nicht einwenden, er habe nur zum Besten des Vermögensinhabers handeln wollen, weil es sich dabei um eine Bevormundung des Vermögensinhabers handelt. Was das Beste ist, bestimmt der Vermögensinhaber selbst. Entscheidend ist für den hier untersuchten Zusammenhang, dass es nicht um die Begründung eines Ärmerwerdens geht, sondern um die Überlegung, ob eine anderweit – nämlich durch Vorenthalten der Kenntnis über finanzielle Mittel und den Entzug der Zugriffsmöglichkeit auf diese – begründete Vermögensminderung wegen der Abwesenheit egoistischer Motive des Täters nicht zu einem Vermögensnachteil erstarkt. Kann die reine Missachtung fremder Zwecksetzungsmacht durch altruistischen, aber selbstherrlichen Umgang mit Vermögensgegenständen einen Vermögensnachteil nicht begründen, so wird diese Selbstherrlichkeit einen solchen auch nicht ausschließen können: Entzieht der Täter dem Vermögensinhaber in einem ersten (noch näher zu beleuchtenden) Schritt Mittel so, das diese zumindest bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht mehr dessen Vermögen zuzuordnen sind, weil sie für ihn wertlos geworden sind, entfällt die Vermögensbeschä24
So etwa Knauer, NStZ 2009, 151, 153; Satzger, NStZ 2009, 297, 303. So Bernsmann, GA 2009, 296, 303; Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98; Jahn, JuS 2009, 173, 175. 26 S. nur Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 178 m. w. N. 27 Zu den Besonderheiten bei der Wahrnehmung der Dispositionsfreiheit bei Kapitalgesellschaften sogleich unter 2. 25
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digung nicht dadurch, dass in einem zweiten Schritt jene entzogenen Mittel nun zugunsten des ehemaligen Vermögensinhabers eingesetzt werden (sollen). Denn der Täter hat den Schaden im ersten Schritt bereits angerichtet. Darin unterscheidet sich der Fall der schwarzen Kasse von dem aufgedrängten äquivalenten Geschäft.28 Bei letzterem entsteht im Zeitpunkt der Entziehung von Vermögenswerten ein Gegenwert im beanspruchten Vermögen, also mindestens eine werthaltige Forderung oder vermögenswerte Exspektanz. Die Kritiker des Senats setzen die bloße, wenn auch feste Absicht des Kassenwarts zum unternehmensnützlichen Einsatz der Mittel mit einem solchen Anspruch29 gleich und stellen damit eine Grundvoraussetzung jedes Vermögensgegenstands in Frage, wie sie besonders deutlich in der Definition der vermögenswerten Exspektanz hervortritt: Der Umgang mit dem Gegenstand bzw. die Erlangung des Vollrechts, auf den bzw. das sich die Exspektanz bezieht, muss vom Willen desjenigen, von dem es erlangt werden soll, im Grundsatz unabhängig sein, anderenfalls dem Inhaber die Herrschaft über den Gegenstand fehlt.30 Aus der zitierten Textstelle des Urteils lässt sich also nicht herleiten, der Senat habe mit dem an anderer Stelle (Rn. 47) festgestellten Entzug der Dispositionsmöglichkeit – ein Begriff, der im Übrigen in Rn. 44 auch nicht vorkommt – die Freiheit des Vermögensinhabers zu autonomer Interessendefinition in wirtschaftlichen Angelegenheiten gemeint. Entscheidend ist vielmehr, dass der 2. Strafsenat den Verlust der Dispositionsmöglichkeit damit begründet, der Treunehmer verhindere durch das Einrichten der schwarzen Kasse, dass der Vermögensinhaber Kenntnis und Zugriff auf die in der Kasse enthaltenen Vermögenswerte erhält.31 Es geht also nur in zweiter Linie um einen Verlust von Dispositionsfreiheit, der sich erst als Folge des Vorenthaltens von Kenntnis und Zugriff einstellt. In den Fällen der bloßen zweckverfehlenden Mittelverwendung, bei der der Treunehmer ihm anvertraute Vermögenswerte anders verwendet als er soll – 28
Anders Bernsmann, GA 2009, 296, 303 f. Auch der Vermögensinhaber hat natürlich gegenüber dem Einrichter einer schwarzen Kasse einen Anspruch auf „Rückschaffung“ der Mittel in den offiziellen Buchhaltungskreislauf. Doch dieser ist, weil es sich gerade um eine verdeckte Mittel„verwahrung“ handelt, genauso wenig werthaltig, wie es der Anspruch des Betrugsopfers gegenüber dem Täuschenden ist. 30 Vgl. Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, Diss. München 1993, S. 117 f.; Schünemann, in: LK, § 266 Rn. 135. Daher widerlegt der Einwand von Bernsmann, GA 2009, 296, 304, der Angeklagte im Siemensverfahren habe die Kasse für das Unternehmen eingesetzt, was er genauso gut auch schon in dem Zeitpunkt hätte tun können, als er die Kasse entdeckte (ihm von seinem Vorgänger von deren Existenz berichtet wurde), den Standpunkt des Gerichts nicht, auf den geplanten Einsatz könne es nicht ankommen. Ähnlich wie hier schon Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 18. 31 BGHSt 52, 323, 338 f. – Rn. 47. 29
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etwa entgegen haushaltsrechtlicher Vorgaben, beseitigt der Einrichter der schwarzen Kasse bereits die Grundlage von Dispositionsfreiheit: Wer von einem Vermögensgegenstand nicht weiß und davon auch nicht wissen kann, kann über diesen Gegenstand nicht verfügen.32 Das gilt in einem erhöhten Maße bei abstrakten Vermögensgegenständen wie Forderungen oder sonstigen Rechten.33 Die Voraussetzungen der Freiheit sind ersichtlich nicht mit der Freiheit selbst identisch. Das Verstecken von Buchgeld ist der klassischen Herbeiführung eines Vermögensschadens durch Verschwenden sehr viel ähnlicher als der selbstherrlichen Mittelverwendung, weil der Treunehmer beim Verstecken und Verschwenden die Basis der Dispositionsfreiheit verkleinert, während sie bei der nur zweckverfehlenden Mittelverwendung unverändert bleibt. Dem Vermögensinhaber wird in diesem letzten Fall lediglich ein Vermögensgegenstand aufgezwungen, den er nicht haben will, aber jederzeit in etwas tauschen könnte, das ihm zusagt.34 Dies ist ihm nach einem Verstecken und einem Verschwenden gleichermaßen nicht möglich. Jemanden „ärmer Machen“ als Voraussetzung der zum Vermögen aufgestellten Verbote i. e. S. heißt nicht weniger, als dem Vermögensinhaber die Basis seiner Freiheit in wirtschaftlichen Dingen zu entziehen. Aber eben auch nicht mehr. Danach ist das Einrichten einer schwarzen Kasse mit Mitteln einer Aktiengesellschaft kein isolierter Entzug der Dispositionsbefugnis im Sinne autonomer Zwecksetzungsmacht. Es betrifft vielmehr einen Aspekt der Geschäftsführungsbefugnis, die das AktG den Organen der Aktiengesellschaft in Form einer Kompetenzverteilungsordnung einräumt, damit die Gesellschaft überhaupt handlungsfähig ist: Eine juristische Person kann nur durch ihre Organe handeln – das gilt auch dann, wenn man dieses Organhandeln als ein Handeln des Verbands selbst ansieht.35 Dieser Befund trifft natürlich auch zu auf Kenntnisse als Voraussetzung solcher Handlungsfähigkeit. Wer die Existenz von Vermögenswerten der Gesellschaft verbirgt, macht es dem Vorstand unmöglich, insoweit die Geschäfte der Gesellschaft zu führen und nimmt dadurch der Gesellschaft ihre Handlungsfähigkeit. Der 2. Strafsenat macht aus § 266 StGB nach alledem kein Entscheidungsfrei-
32
Vgl. Rönnau, StV 2009, 246, 249. S. dazu Bublitz/Gehrmann, wistra 2004, 126, 130 f.. 34 Dagegen wende man nicht ein, der aufgezwungene Vermögensgegenstand lasse sich häufig nicht so ohne weiteres (zurück-)tauschen. In einem solchen Fall liegt schon deshalb ein Vermögensnachteil vor, weil der Marktpreis des aufgezwungenen Gegenstands niedriger sein muss als der des dafür hingegebenen Vermögensstücks, denn „Marktpreis“ und „Tauschbarkeit“ sind Synonyme. 35 Vgl. zum Streit um Verbandshandeln oder zugerechnetem Fremdhandeln zusammenfassend K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 I m. w. N. 33
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heitsgefährdungsdelikt,36 sondern lastet dem Einrichter einer schwarzen Kasse an, dem Vermögensinhaber die Entscheidungsfähigkeit genommen zu haben, soweit es den Inhalt der Kasse betrifft. Weil es sich dabei um einen Aspekt der Geschäftsführung handelt, kann von Freiheit keine Rede sein: Wenn Organmitglieder im Rahmen ihrer Geschäftsführungsbefugnisse handeln oder Kenntnisse erwerben, sind sie gerade nicht frei von den zum Schutz des fremden Vermögens aufgestellten Verboten (anderenfalls das Verhalten der Organe einer Kapitalgesellschaft von den in § 266 StGB enthaltenen Vorschriften ausgenommen wäre). Nichts anderes gilt für Personen, die ohne Organmitglied zu sein, ihnen – letztlich vom Vorstand kraft seiner Geschäftsführungsbefugnisse – angetragene Aufgaben wahrnehmen. Ist aber das Verhalten aller dieser Personen kein Ausdruck der Dispositionsfreiheit des Rechtsgutinhabers, ist es auch die dabei erfolgende Zurechnung von Handlungen und Kenntnissen nicht. Es betrifft allein deren Voraussetzungen.
2. Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit trotz fehlender Kenntnis Allerdings wird mit dem zweiten aus den Reihen der Lehre erhobenen Einwand bezweifelt, dass es beim Einrichten einer schwarzen Kasse überhaupt zu einem Verlust der Kontrolle und damit der Handlungsfähigkeit kommt. Der Einwand läuft darauf hinaus, dass man jemandem nicht nehmen kann, was dieser ohnehin nicht hat und auch nicht haben muss: An der Kenntnis des Vorstands als dem Organ, das „in letzter Instanz“ für die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft sorgt, ändert sich durch das Verbergen der Vermögenswerte nichts. Wenn die Zurechnung von Kenntnissen regelmäßig keine aktuelle Kenntnis des Vorstands erfordert, muss sie, so lässt sich der Gedanke zu Ende führen, auch dann stattfinden, wenn sich ein Angestellter entschließt, die Vermögenswerte zu verbergen. Zugegeben: Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Vermögensinhabers oder des Vorstands verlangt keine aktuelle Kenntnis von allen Vorgängen. Die Kritiker verschweigen allerdings, dass immerhin Kenntnisnahmemöglichkeit vonnöten ist. Und hierin unterscheidet sich das in einer schwarzen Kasse angelegte Geld von sonstigen dem Vermögensinhaber/Vorstand nicht bekannten Wertgegenständen: Jeder nachgeordnete Mitarbeiter oder Auftragnehmer ist dem Geschäftsherrn oder dem diesen vertretenden Vorstand gegenüber zur Auskunft über das Schicksal der Vermögensgegenstände verpflichtet. Während nun der redliche Mitarbeiter bereit ist, dieser Verpflichtung nachzukommen, so dass nicht nur eine kon36 So aber Jahn, JuS 2009, 173, 175, der damit die hier widerlegte Kritik der Lehre prägnant zusammenfasst.
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trafaktische, sondern eine tatsächliche Chance besteht, über alle Vorgänge Bescheid zu erhalten, fehlt dem Errichter einer schwarzen Kasse37 eine derartige Auskunftswilligkeit, anderenfalls er die Mittel nicht vor der Geschäftsleitung verborgen hätte. Der Fall Siemens zeigt, dass solche Kassensysteme mitunter jahrelang parallel zu der offiziellen Buchhaltung geführt und im Fall des Ausscheidens eines Kassenwarts dem Nachfolger persönlich – und niemandem sonst – übergeben werden.38 Teilweise wird in Bezug auf das Fehlen einer Kenntnisnahmemöglichkeit ergänzend eingewandt, es liege solange eine bloß abstrakte Gefahr des Verlusts von Kontroll- bzw. Dispositionsmöglichkeiten vor, wie der Vorstand nicht konkret „Verwaltungsmacht für den betreffenden Vermögensgegenstand in Anspruch nehmen will“.39 Doch das geht zu weit. Sieht man einmal davon ab, dass unklar bleibt, wie Vorstandsmitglieder konkrete Verwaltungsmacht für einen Vermögensgegenstand beanspruchen sollen können, von dem sie nicht nur nicht wissen, sondern auch nicht wissen können, führen grundsätzlich Durchsetzungshindernisse bei Forderungen zu einer bilanziellen Abwertung auch dann, wenn die Durchsetzung nicht konkret ansteht. Ist das Durchsetzungshindernis wie hier total, muss das zu einer vollständigen Abwertung führen.40 Auch eine Kontrollüberlegung zum Marktpreis dieser Forderung bestätigt das: Einen Marktpreis erhält man immer dann, wenn der betreffende Vermögensgegenstand die Hände wechselt. Ein Teil der schwarzen Kasse bestand schon zu Zeiten der Kraftwerk Union AG, einer hundertprozentigen Tochter der Siemens AG. Außer dem damaligen Kassenwart wusste niemand von deren Existenz.41 Nimmt man einmal an, die Kraftwerk Union AG wäre nicht auf die Siemens AG konsolidiert worden, sondern die Siemens AG hätte die Kraftwerk Union AG von einem Dritten erworben, lässt sich recht sicher sagen, welchen anteiligen Betrag die Siemens AG bzw. die für diese handelnden Personen für diese schwarze Kasse bezahlt hätte. Damit die Organe der Siemens AG überhaupt einen Anlass hätten, darüber nachzusinnen, wie viel die Siemens AG für die in einer schwarzen Kasse zusammengefassten Mittel auszugeben bereit ist, 37 Anderes gilt, wenn es ein unternehmensweites System solcher Kassen und ein entsprechendes Einvernehmen gibt, in das auch der Vorstand einbezogen ist, und die Gelder allein vor den Augen der Strafverfolgungsorgane oder des Steuerfiskus verborgen werden. Doch davon hatte sich die Tatsacheninstanz nicht überzeugen und der 2. Strafsenat in dieser Annahme keine Denkfehler entdecken können (vgl. BGHSt 52, 323, 325 – Rn. 9), was ihn zu einer Aufhebung der Tatsachenfeststellungen befugt hätte. 38 BGHSt 52, 323, 326 – Rn. 11. 39 Schünemann, StraFo 2010, 1, 9; zuvor schon Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713, 735 f., s.a. ders., StV 2009, 246, 249. 40 Ähnlich wie hier schon Ransiek, NJW 2007, 1727, 1728; Brammsen/Apel, WM 2010, 781, 785. 41 BGHSt 52, 323, 326 – Rn. 11.
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müsste man den Sachverhalt so bilden, dass ihnen von den Verantwortlichen der Kraftwerk Union AG Folgendes mitgeteilt wird: Man wisse, dass in der Vergangenheit 12 Millionen Schweizer Franken aus der offiziellen Buchhaltung verschwunden seien. Das Geld sei nirgends wieder aufgetaucht, es bestehe der dringende Verdacht, dass es den Weg in eine schwarze Kasse gefunden hat. Man habe aber keine Kenntnis, wo sich diese Kasse befindet, noch kenne man die Person des Kassenwarts. Man mag das als eine abenteuerlich konstruierte Situation abtun, die sich so selbstverständlich nie abspielen würde. Da es sich jedoch lediglich um eine hypothetische Kontrollüberlegung handelt, ist der Einwand nicht von Belang. Fragt man nun noch einmal, was die Verantwortlichen der Siemens AG für eine Kasse mit 12 Millionen Schweizer Franken auszugeben bereit wären, lautet die Antwort mit ziemlich großer Sicherheit: Nichts!
3. Dritter Einwand: Dispositionsmöglichkeiten lassen sich nur dem entziehen, der sie innehat Der dritte und letzte Haupteinwand ist zweideutig. Soweit er die Annahme betrifft, eine selbstherrliche Anmaßung von Dispositionsmacht müsse ausscheiden, weil der Kassenwart selbst Dispositionsbefugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung der Vermögensangelegenheiten der Gesellschaft innehabe, beruht die Kritik auf einer ungenauen Verwendung des Begriffs „Disposition“, bei dem die Grenzen zwischen der freien Entscheidung eines Vermögensinhabers und der zwar mit einem weiten unternehmensleitenden Ermessen ausgestatteten, aber doch an das fremde Vermögenswohl gebundenen und damit unfreien Geschäftsbesorgung durch den Treunehmer verwischt werden. Soweit mit „Disposition“ die Rechtsmacht des Vermögensinhabers gemeint sein sollte, frei über das Vermögen zu bestimmen,42 kann der Aussage schon deshalb nicht näher getreten werden, weil – bei allem Streit über die Frage, ob bei der AG überhaupt ein Einverständnis in Vermögensschädigungen erklärt werden kann und bejahenden42 So wohl Brüning/Wimmer, ZJS 2009, 94, 98, die annehmen, leitende Angestellte entschieden nach selbstgesetzten Zweckmäßigkeitserwägungen. Ähnlich Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 71, die davon ausgehen, die Befugnisse eines Bereichsvorstands umfassten die Bestimmung dessen, was das Unternehmenswohl sei. Doch derart weitgehende Rechte kommen nicht einmal dem Vorstand als („nur“) geschäftsführendem Organ zu. Der Vorstand hat bei seinen Entscheidungen zwar einen weiten Ermessensspielraum. Doch das bedeutet nicht, er gäbe die Zwecke seines Handelns vor oder legte den Zuschnitt des Unternehmenswohls fest. Seinem Handeln ist das Unternehmenswohl bzw. sog. Unternehmensinteresse vielmehr vorgegeben; das ist im Gesellschaftsrecht allgemein anerkannt, s. nur Spindler, in: MünchKomm AktG, Vor § 76 Rn. 43 u. § 76 Rn. 30 m. w. N., Hüffer, AktG, § 82 Rn. 9, und wird von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG auch vorausgesetzt.
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falls: wer dies statt der handlungsunfähigen Vermögensinhaberin tun kann43 – jedenfalls der Vorstand oder gar leitende Angestellte ohne Organzugehörigkeit dafür sicher nicht in Betracht kommen, wenn man nicht möchte, dass diese sich selbst bei Bedarf ein Einverständnis erteilen und so von dem Verbot des § 266 StGB befreien können. Sollte hingegen mit „Disposition“ lediglich die Befugnis zum Umgang mit dem fremden Vermögen im Rahmen der dem Organ eingeräumten Geschäftsführungskompetenz angesprochen sein, wäre der Einwand ad absurdum geführt, weil sich jedenfalls solche Kassenwarte gerade nicht an die Grenzen ihrer Kompetenzen halten, die entgegen entsprechender Compliancevorschriften eine schwarze Kasse anlegen.44 Auch muss jeden der Versuch überraschen, den Vermögensnachteil damit zu widerlegen, dass sich der Kassenwart pflichtgemäß weil kompetenzwahrend verhält, dem noch die oben wiedergegebene Mahnung in Erinnerung ist, der Vermögensnachteil dürfe nicht schon deshalb bejaht werden, weil sich der Kassenwart (unter Verstoß gegen Compliancevorschriften) pflichtwidrig verhalten hat. Bernsmann und Schünemann haben den auf die normative Dimension der Dispositionsfreiheit zielenden Einwand allerdings noch verfeinert. Sie nehmen an, das Einrichten einer schwarzen Kasse gehe dann nicht mit dem vom 2. Strafsenat angenommenen Verlust der Dispositionsmöglichkeit einher, wenn die Vorstandsmitglieder selbst die Kassenwarte sind bzw. das Ganze auf ihre Veranlassung oder mit ihrem Wissen geschieht.45 Beide unterstellen dem Senat, es gehe bei dem Untreuevorwurf darum, dass gerade der organschaftliche Zugriff auf Vermögenswerte (durch einen nicht organangehörigen Mitarbeiter)46 beseitigt werde. Schünemann ergänzt, Mitglieder des Vorstands könnten eine Untreue durch Einrichten schwarzer Kassen schon per definitionem nicht begehen, weil ihr Handeln und Wollen nach der maßgeblichen gesellschaftsrechtlichen Sichtweise immer das des von ihnen vertretenen Verbands sei.47 Gegen diese Differenzierung zwischen Vorstandsmitgliedern einerseits und sonstigen (leitenden) Angestellten andererseits spricht aber zum einen, dass auch dann, wenn man von einem Verbandswillen und -handeln ausgeht, diese erst das Ergebnis eines Zurechnungsakts sind.48 Dies bei der Frage nach strafrechtlicher Haftung zu überspielen, führte in letzter Konsequenz dazu, dass Vorstandsmitglieder nie Untreue begehen könnten, wäre ihr Verhalten doch gesetzmäßig von 43 S. zu dieser Diskussion statt vieler Rönnau, in: FS Amelung, 2009, S. 247, 250 ff. sowie Hohn, in: FS Samson, 2010, S. 315, 322 ff., jew. m. w. N. 44 Vgl. zur Pflichtwidrigkeit Rönnau, in: FS Tiedemann, 2008, S. 713, 721 m. w. N. 45 Bernsmann, GA 2009, 296, 305 f.; Schünemann, StraFo 2010, 1, 8. 46 Unter Berufung auf die Textstelle BGHSt 52, 323, 337 – Rn. 44. 47 Schünemann, StraFo 2010, 1, 8. 48 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 I 2 c.
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dem Verbandswillen und damit von einem Einverständnis gedeckt. Zum anderen ist trotz der vom AktG herausgehobenen Rolle des Vorstands als Leitungsorgan gar nicht ausgemacht, dass der Bundesgerichtshof allein den Ungehorsam gegenüber Organen für schadensbegründend hält oder halten sollte. Im Gegenteil liegt es viel näher anzunehmen, es gehe bei der Zugriffs- und Kenntnisnahmemöglichkeit von Vermögenswerten letztlich um die des Verbands selbst. Denn er ist es als Vermögensinhaber letztlich, dem diese Voraussetzungen von Freiheitsbetätigung in wirtschaftlichen Angelegenheiten durch das Verhalten des Vorstands vermittelt werden sollen. Bedient sich der Vorstand anderer Personen zur Aufgabenerledigung im Wege der Arbeitsteilung, so entsteht ein hierarchisches Gebilde, in dem Zurechnungsketten entstehen, die mit jeder weiteren Spezialisierung und Aufgabenaufgliederung länger werden. Jedes Glied der Kette trägt seinen Teil dazu bei, dass dem Verband die angesprochene Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit vermittelt wird, so dass es diese Zurechnung auch dadurch unterbrechen kann, dass es dem nächsthöheren Kettenglied die Zugriffsmöglichkeit nimmt. Besteht aber der Zweck dieser Vermittlung von Kenntnis- und Zugriffsmöglichkeit von unten nach oben allein darin, letztlich dem Verband die Voraussetzungen individueller Freiheit zu gewährleisten, kommt es nicht mehr darauf an, ob man es wegen Besonderheiten in der Position des Vorstands mit Bernsmann und Schünemann für ausgeschlossen hält, seine Mitglieder könnten Vermögensnachteile dadurch bewirken, dass sie sich vom Geschäftsführer zum Geschäftsherrn aufschwingen.49 Auch wenn man meint, das Zurechnungsband zwischen Organmitglied und Gesellschaft lasse sich in einer Rechtsordnung, dem der Gedanke der „ultra vires“ weitgehend fremd ist, auch durch gesteigert rechtswidriges Verhalten nicht zerschneiden, gilt das doch nicht, solange es um das Verhalten nicht organangehöriger Personen geht. Denn in derlei Konstellationen kappt der nicht Organangehörige das Zurechnungsband und nimmt dem Vorstand, der sich hier gleichsam auf die Rolle einer „Zurechnungsvermittlungsstelle“ beschränkt, auf diese Weise schon die Voraussetzungen dieser Rolle.
49 Dieser interessanten Frage kann im Rahmen dieses bescheidenen Beitrags nicht nachgegangen werden; sie muss einer eigenständigen Untersuchung vorbehalten bleiben.
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III. Schlussbemerkung Man muss die vom Senat oder die hier ergänzend angestellten Überlegungen nicht für richtig halten. Doch sie machen deutlich, dass man die Annahme eines (endgültigen) Vermögensnachteils durch das Anlegen einer schwarzen Kasse nicht pauschal als bloße Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit des Vermögensinhabers abtun kann, weil man zwischen der Freiheit selbst und ihren Voraussetzungen unterscheiden muss. Das gilt vor allem dann, wenn der Begriff der Dispositionsfreiheit in wechselnden Bedeutungen verwendet wird. Unter Dispositionsfreiheit, -befugnis, -macht und -möglichkeit sollte ausschließlich die Rechtsmacht des Rechtsgutinhabers zum autonomen Umgang mit seinen Gütern verstanden werden. Wer demgegenüber als Fremder mit Vermögen umgeht, disponiert nicht, sondern geht mit ihm im Rahmen der allgemeinen Schädigungsverbote um, wie sie durch die Grenzen des erlaubten Risikos näher festgelegt werden; und fremd ist in dieser Hinsicht auch das Vorstandsmitglied. Solches Verhalten sollte zur Vermeidung von Missverständnissen nicht mehr als Gebrauchmachen von Dispositionsmöglichkeiten oder Dispositionsbefugnissen bezeichnet werden. Die Überlegungen haben noch ein Weiteres gezeigt: Wenn es um den Umgang mit Vermögen geht, das in Form von Forderungen oder Rechten vorliegt, richtet sich die Verursachung von Vermögensnachteilen nach etwas anderen Regeln als bei Sachen. Der wirtschaftliche Wert einer Forderung ist anders als der eines körperlichen Gegenstands äußerst empfindlich gegenüber Angriffen auf die Realisierbarkeit des darin liegenden Werts. Da diese wiederum ganz wesentlich von der Kenntnis oder Kenntnisnahmemöglichkeit ihres Inhabers von Bestehen, Umfang usw. abhängt, können Handlungen, die dem Vermögensinhaber diese entziehen, durchaus dazu führen, dass der Anspruchsinhaber ärmer wird. Insoweit ließe sich die Untreue durchaus als Bilanzdelikt beschreiben. Aber es bestehen ernsthafte Zweifel daran, die jüngste Rechtsprechung des 2. Strafsenats habe die Untreue wirklich erst zu einem solchen umgeformt,50 zumal dasselbe auch für den Betrug oder die Erpressung gilt. Wer mehr verlangt für die Annahme eines Vermögensnachteils oder –schadens als eine bilanzielle Abwertung, nähert diese Tatbestände den Eigentumsdelikten an.
50
So aber kritisch Saliger, in: SSW, § 266 Rn. 77.
Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts* MATTHIAS JAHN
I. Einführung Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts wird schon seit mehr als einem Jahr auf die Praxis gewirkt haben,1 wenn Ruth Rissing-van Saan nach 22 Jahren als Richterin am Bundesgerichtshof Ende Januar 2011, kurz nach Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, in den Ruhestand treten wird. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich bislang noch nicht eingehender zur U-Haft-Reform in ihren Auswirkungen auf den 11. Abschnitt des Ersten Buches der Strafprozessordnung äußern können.2 Ob der 2. Strafsenat unter ihrem seit 2002 bewährten Vorsitz noch Gelegenheit haben wird, zu den das Recht der Strafverteidigung betreffenden Vorschriften dieser Novelle Stellung zu nehmen, ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen naturgemäß offen.3 Der unter reger Beteiligung der Praxis stattfindenden Debatte wäre das zu wünschen. Die Judikatur des 2. Senats verdeutlicht vielfach die fundamentale Bedeutung des Rechts der Strafverteidigung für die Geschicke eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Herausgegriffen sei der Beschluss4 über die zu Recht erfolglose sofortige Beschwerde einer (Ex-) Verteidigerin wegen ihres Ver* Für wichtige Vorarbeiten und Anregungen danke ich meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Richterin Dr. Dana Reichart und Rechtsreferendarin Anja Schaller. 1 Es ist zum 1.1.2010 in Kraft getreten (Art. 8 des Gesetzes, BGBl. I 2009, S. 2274 [2279] v. 31.7.2009). 2 Zum Pflichtverteidigerwechsel nach einer Bestellung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO siehe jedoch die Dokumentation zum Verfahren des BGH-Ermittlungsrichters 2 BGs 73/10 bei Weider, StV 2010, 390. Genauer dazu unten III.1.c. 3 Der Text und die im Apparat nachgewiesenen Links auf Internetquellen befinden sich sämtlich auf dem Stand vom 30.6.2010, in den Fußnoten konnten noch Ergänzungen bis zum 31.8.2010 berücksichtigt werden. 4 BGH, NJW 2006, 2421 m. Anm. Jahn, JZ 2006, 1134 f.
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fahrensausschlusses nach § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO im Mannheimer Revisionistenfall Zündel. Dort heißt es, die Achtung der rechtsstaatlich notwendigen effektiven Strafverteidigung gebiete erhebliche Zurückhaltung bei der gerichtlichen Fremdkontrolle von Verteidigerverhalten, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG. Diesem Grundsatz kann man rückhaltlos zustimmen.5 Der Einfluss des U-Haft-Änderungsgesetzes für die Bedeutung der Strafverteidigung in der Kräftebalance der Strafprozessordnung kann dabei kaum überschätzt werden. Mit der Regelung der frühen Pflichtverteidigung in Haftsachen wurde immerhin eines der Desiderate einer seit Jahrzehnten währenden Reformdiskussion verwirklicht.6 Gleichzeitig liegt mit den Vorschriften der §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO n.F. eine für den Alltag des Strafverfahrens vom Amtsgericht bis zum BGH besonders bedeutsame Neuregelung vor. Deren bisherige Diskussion hat allerdings noch keine klaren oder gar allseitig konsentierten Ergebnisse erbracht. Das ist Anlass genug, die bisherige Debatte darzustellen, den erreichten Meinungsstand zu den neuralgischen Fragen der Reform zu würdigen und im Nachfolgenden durch eigene Vorschläge zu fördern.
II. Überblick über die Neuregelung der Pflichtverteidigerbeiordnung nach den §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO
1. Zur Genese des Kompromisses im geltenden Recht Nach der bis zum 1.1.2010 gültigen Rechtslage war dem inhaftierten Beschuldigten erst nach Vollzug von drei Monaten Untersuchungshaft auf Antrag ein Pflichtverteidiger zwingend beizuordnen (§ 117 Abs. 4 S. 1 StPO a.F.). Diese Regelung wurde nicht nur aus der Verteidigerschaft, sondern auch in Wissenschaft und Rechtspolitik seit langem kritisiert.7 Sowohl 5
Siehe dazu Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, Vor § 137 Rn. 115a und § 138a Rn. 64a. 6 Siehe statt vieler Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010, Rn. 282; Schlothauer, FS Samson, 2010, S. 709 (710 f.); Deckers, StraFo 2009, 441 (444); Tsambikakis, ZIS 2009, 503 (509); Paeffgen, in: SK-StPO, Stand: September 2007, 54. Lieferung, Vor § 112 Rn. 3; zu indistinkt Kotz, NJW 2010, 2028. Zur – ebenfalls – neuen Rechtslage und voraufgegangenen Reformdiskussion in der Schweiz Ruckstuhl, ZStrR 128 (2010), 132 (137 ff.). 7 Für eine möglichst frühe Verteidigerbestellung – mit weiteren Nachweisen – Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 24a. Vgl. auch die Forderungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) aus seinem Bericht an die deutsche Regierung vom 28.7.2006 (dazu Tsambikakis, ZIS 2009, 503 [506 f.]) sowie zur älteren Diskussion Beschlüsse des 65.
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der Strafrechtsausschuss der BRAK8 als auch der DAV9 und Stimmen aus der Wissenschaft10 hatten schon vor dem und im Gesetzgebungsverfahren die Verteidigerbestellung bereits für den Zeitpunkt befürwortet, in dem die Staatsanwaltschaft in der Vorführungsverhandlung Antrag auf Erlass eines Haftbefehls zu stellen beabsichtigt (vgl. §§ 125, 128 Abs. 2 S. 2 StPO). Dennoch haben entsprechende Änderungen zunächst keine Rolle gespielt.11 Erst in seiner Beschlussempfehlung vom 20.5.200912 hatte sich der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages für eine Streichung der Absätze 4 und 5 in § 117 StPO und Modifizierungen der §§ 140, 141 StPO ausgesprochen. Dagegen hielt der Rechtsausschuss des Bundesrates in seiner Beschlussempfehlung vom 26.6.200913 eine Änderung im Hinblick auf die bestehenden Regelungen und – natürlich – die von den Ländern letztlich zu tragenden fiskalischen Lasten nicht für erforderlich. Zur Begründung wurde angeführt, es existierten keinerlei weit reichende und repräsentative Untersuchungen, welche belegten, dass eine derartige Neuregelung zu einer nachhaltigen Vermeidung von Untersuchungshaft und deren Kosten führen könne – eine angesichts des Standes der bundesdeutschen Rechtstatsachenforschung zur U-Haft recht gewagte Behauptung.14 Eine vom Bundesrat angeregte Anrufung des Vermittlungsausschusses gemäß Art. 77 Abs. 2 GG hätte jedoch das gesamte Vorhaben wegen des Diskontinuitätsgrundsatzes kurz vor dem Ende der 16. Legislaturperiode gefährdet. Der Bundesgesetz-
DJT, NJW 2004, 3241 (3245); Schöch, StV 1997, 323; Gebauer, StV 1994, 622; Schäfer/Rühl, StV 1986, 456; zusf. Püschel, StraFo 2009, 134 (138). 8 Strauda, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren – Thesen mit Begründung, 2004, S. 12, 13. 9 Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht im Deutschen Anwaltverein, Entwurf für eine Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Stellungnahme Nr. 51/2005, www.anwaltverein.de/downloads/stellungnahmen/2005-51.pdf. 10 Vgl. Schlothauer/Weider, StV 2004, 504 (516); Weider, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts zur Öffentlichen Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses am 22.4.2009, Prot.-Nr. 136, S. 4 (s. dazu BT-Ds. 16/13097, S. 16); zusf. R. Michalke, NJW 2010, 17. 11 Weder der erste Regierungsentwurf (RegE) v. 7.11.2008 (BR-Ds. 829/08, dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2008/0829-08.pdf) noch der durch die Föderalismusreform veranlasste zweite RegE v. 21.1.2009 (BT-Ds. 16/11644, dip21.bundestag.de/dip21/ btd/16/116/1611644.pdf) sahen Derartiges vor. 12 BT-Ds. 16/13097, dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/130/1613097.pdf. Mit Superlativen für die Bewertung dieser – ähnlich wie beim Verständigungsgesetz (siehe Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 [2526]) – besonders selbstbewussten Haltung des 16. Bundestags-Rechtsausschusses wird deshalb von Seiten der berufsständischen Vereinigungen nicht gespart: Ignor, BRAK-Mag. 6/2009, S. 3, spricht von einer „kleine(n) Sensation“ und Stefan König, AnwBl. 2010, 50, bezeichnet den Vorgang als „Sternstunde des Parlaments“. 13 BR-Ds. 587/1/09, dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2009/0587-1-09.pdf. 14 Siehe sogleich unter II.2.b.
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geber15 hat sich deshalb mit §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO zu einem Kompromiss entschlossen, der aus der Sicht praktischer Rechtspolitik nachvollziehbar ist. Die Bestellung des Pflichtverteidigers geht danach seit dem 1.1.2010 erst mit dem Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO oder der einstweiligen Unterbringung nach den §§ 126a, 275a Abs. 5 StPO einher. Sicherlich wäre ein noch früher einsetzender Bestellungsmechanismus nach dem Modell der BRAK/DAV-Forderungen wünschenswert gewesen. Der Pflichtverteidiger wäre so in den Stand gesetzt worden, schon in der Vorführungsverhandlung auf die Entscheidung des Ermittlungsrichters zugunsten seines Mandanten einzuwirken. Dass sich diese Position nicht hat durchsetzen können, ist vom Standpunkt der Beschuldigtenrechte aus bedauerlich, aber als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers angesichts der Gefahr des Scheiterns des Gesamtvorhabens hinzunehmen. 2. Die Notwendigkeit frühzeitiger Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren Im Folgenden sollen das Ensemble der Argumente, die für eine möglichst frühzeitige Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren sprechen, zunächst noch einmal knapp umrissen werden. Erst vor diesem Hintergrund können die geänderten Vorschriften einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. a) Subjektiv-rechtliche Ebene Der von der Unschuldsvermutung umhegte Beschuldigte ist der öffentlichen Gewalt bei Anordnung und Vollzug von Untersuchungshaft wie sonst nirgends ausgeliefert.16 Neben dem offensichtlichen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG kann die Haftsituation schwerwiegende berufliche, familiäre und soziale Konsequenzen haben, wenn der Verhaftete unvorbereitet aus seinem sozialen Kontext gerissen wird. Der Beschuldigte hat zudem selbst nun kaum noch die Möglichkeit, sich um das Erforderliche zu kümmern und seine Ansprüche auf Partizipation am Ver-
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BT-Ds. 16/13097, S. 14. Dieses Argument ist auch der Ausgangspunkt der im hiesigen Umfeld besonders durchsetzungskräftigen Rechtsprechung des BVerfG, vgl. nur Güntge, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen (erscheint demnächst), Rn. 718 ff.; Jahn, NStZ 2007, 255 (257). 16
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fahren wirksam durchzusetzen.17 Da aber gerade im Ermittlungsverfahren bekanntermaßen die Weichen für den Ausgang des Verfahrens gestellt werden, ist die Dringlichkeit effektiver Verteidigung offensichtlich.18 Der Grundsatz fairen Verfahrens des Art. 6 Abs. 1 EMRK, das Gebot der Waffengleichheit und nicht zuletzt die von Verfassungs wegen gebotene Chancengleichheit für wohlhabende und mittellose Inhaftierte gebieten daher die alsbaldige Bereitstellung fachkundiger Unterstützung.19 Die dem an sich Rechnung tragende Vorschrift des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO, der zufolge die Staatsanwaltschaft schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen kann, wenn nach ihrer Auffassung dessen Mitwirkung notwendig sein wird, begründete für den Beschuldigten nach – freilich zu undifferenzierter20 – h.M.21 keinen Rechtsanspruch; die Ablehnung der Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft wird konsequent, aber wiederum nicht überzeugend, als nie anfechtbar angesehen.22 Wohl auch deshalb wird von der Regelung ohne ausreichende Rezeption der rechtstaatlich aufgeladenen Rechtsprechung des EGMR für die Fälle konfrontativer Zeugenbefragungen immer noch zu wenig Gebrauch gemacht.23
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So z.B. die Suche nach Zeugen, die Durchführung von Reisen, die notwendig sind, um Beweismittel aufzufinden oder Zeugen zur Aussage zu bewegen usw.; dazu Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 140 Rn. 32. 18 Zu dem von Karl Peters (Fehlerquellen im Strafprozess II, 1972, S. 299) inspirierten Bild des Ermittlungsverfahrens als „Rutschbahn“ Jahn, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, 2008, Kap. I Rn. 42 ff. m.w.N. 19 Nach zutreffender Einschätzung von Danckert, 205. BT-Sitzung v. 12.2.2009, BT-Prot. 16/22201, gab es unter der alten Gesetzeslage „den Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt und ihn möglicherweise von der Untersuchungshaft bewahrt; andererseits (…) den nichtverteidigten Beschuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungshaft wandert und nach drei Monaten (… ) möglicherweise einen Anspruch auf einen Verteidiger hat“. 20 Siehe im Einzelnen Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 24a. 21 OLG Karlsruhe, NStZ 1998, 315 (316); LG Cottbus, StV 2002, 414 mit abl. Anm. Klemke; Meier, GA 2004, 441 (452); Laufhütte, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. 2008, § 141 Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 141 Rn. 5; Krekeler/Werner in: Anwaltkommentar StPO, 2. Aufl. 2010, § 141 Rn. 4. 22 Dazu mit Nachweisen Meyer-Goßner (o. Fn. 21), § 141 Rn. 5. Siehe demgegenüber wiederum (o. Fn. 20) Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 24. 23 So auch Wohlers, StV 2010, 151. Zur EGMR-Rspr. zusf. BGHSt 46, 93 (94 ff.); BGH, StV 2010, 342 (343 Tz. 16); zur weiterführenden Kritik an Konzeption und Rezeption Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 624 ff. und passim.
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b) Objektiv-rechtliche Ebene Dass die frühzeitige Verteidigerbestellung aber nicht nur aus rechtsstaatlichen, sondern auch aus verfahrensökonomischen und damit letztlich fiskalischen Gründen angezeigt sein kann, wurde auch empirisch vielfach belegt.24 Insbesondere kann – entgegen der Befürchtung einiger Bundesländer im Gesetzgebungsverfahren zur U-Haft-Reform – die rechtzeitige Einschaltung des Pflichtverteidigers zu Einsparungen führen, wenn überflüssige Kosten in Bagatellfällen vermieden werden, bei denen nur der Haftgrund der Fluchtgefahr im Raum steht. Soweit ein Teil des Schrifttums und der ihm folgende Rechtsausschuss des Bundesrates demgegenüber die der Gerichtshilfe eingegliederte Haftentscheidungshilfe (§ 160 Abs. 3 StPO) als Mittel zur Haftvermeidung bzw.- beendigung aktivieren wollten, hätte sich dies als nicht in gleichem Maße zweckdienlich erwiesen. Wie das Landesrecht zeigt,25 spielt die Haftentscheidungshilfe bislang dort nur im Jugendstrafrecht und bei erwachsenen Beschuldigten bei den Haftgründen der Flucht oder Fluchtgefahr eine gewisse Rolle. Jede weitere Aufgabenübertragung würde schon deshalb zu einer deutlichen finanziellen Mehrbelastung führen, weil nicht bei allen Staatsanwaltschaften bereits Gerichtshilfestellen existieren. Darüber hinaus zählt die Gerichtshilfe zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltungen mit einer Vielfalt an Organisationsmodellen (Art. 294 S. 1 EGStGB). Wollte man die Rolle der Haftentscheidungshilfe stärken, müsste zunächst die Frage geklärt werden, ob nicht unter Gleichheitsaspekten die Befassung mit den Forderungen nach Vernetzung der ambulanten Straffälligenhilfe und bundeseinheitlicher Neustrukturierung der sozialen Dienste vorgreiflich ist.26 Auch würde die dogmatische Folgefrage aufgeworfen, ob die Anrufung der Haftentscheidungshilfe obligatorisch sein oder weiterhin im Ermessen der Staatsanwaltschaft stehen solle. Darüber hinaus ist auf den Zusammenhang mit der kontroversen Diskussion um die Privatisierung der 24 Siehe Schöch, Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft, 1997, S. 68 f.; ders. StV 1997, 323 ff.; Jehle/Bossow, BewHi 2002, 73; Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, 2008, S. 95 ff., 316 ff.; Busse/Hohmann, in: Sicherheit durch Strafe?, (Hrsg.) Strafverteidigervereinigungen, 2003, S. 157 ff.; Gebauer, StV 1994, 622 ff. Derzeit läuft ein EU-weites Forschungsprojekt zu den „Verteidigungsrechten im Vorverfahren - bewährte Praxis und effektive anwaltliche Journal (Not-) Dienste/Pre-trial Emergency Defence“, vgl. den Nachweis bei ÖBWMF, Forschungsförderungen und Forschungsaufträge 2009, III-154 Beil. XXIV. GP – Bericht (Hauptdok. Teil 3), S. 34. 25 Vfg. des saarländischen JuMi Nr. 4/1987 v. 9.3.1987, geänd. d. Vfg. Nr. 6/1998 v. 4.3.1998 (4205-3); Erl. des schleswig-holsteinischen JuMi v. 6.4.1990 (Amtsbl. Schl.-H. 1990, 317); Vfg. des brandenburgischen JuMi v. 26.10.1994 (4420-IV.2) und 26.4.2001 (4210III.24). 26 I.d.S. Dünkel, NK 2003, 2 (4).
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sozialen Strafrechtspflege hingewiesen worden.27 Und nicht zuletzt haben empirische Untersuchungen wichtige Indizien dafür geliefert, dass der Einsatz der Haftentscheidungshilfe kaum die erhofften finanziellen Einsparungen zu erbringen vermag.28 Mit Recht hat sich der Bundesgesetzgeber also bei der Frage des „Ob“ für das Modell der frühzeitigen Verteidigerbestellung und gegen den Ausbau der Haftentscheidungshilfe entschieden. Der Frage, ob er das „Wie“ richtig gelöst hat, soll im Folgenden nachgegangen werden. 3. Überblick über die Änderungen im Bereich der Pflichtverteidigerbeiordnung a) Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO Die frühe Pflichtverteidigerbeiordnung beschränkt sich auf die Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO und die vom Gesetzgeber in ihrer Gewichtigkeit mit Recht gleichgestellten Fälle der einstweiligen Unterbringung nach den §§ 126a und 275a Abs. 5 StPO. Die Neuregelung gilt damit e contrario weder für die Hauptverhandlungshaft nach §§ 127b Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 StPO noch die Sicherungshaft gemäß § 453c Abs. 1 StPO29 und auch nicht in einigen weiteren Fällen.30 Die Verteidigung ist nur dann notwendig, wenn und solange die Untersuchungshaft vollstreckt wird. Voraussetzung ist also, dass der Haftbefehl bereits erlassen und in Vollzug ist. Demnach muss nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO kein Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn der Haftbefehl zugleich mit seiner Verkündung oder später (§ 116 StPO) außer Vollzug gesetzt wird.31 Gleiches gilt für den Fall der Haftunfähigkeit. Legt man die Vorschrift streng nach ihrem Wortlaut („vollstreckt“) aus, schadet jede auch nur kurzfristige Haftunterbrechung. Dies entspricht sowohl dem Sinn und
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Ostendorf, BewHi 2006, 26 ff. Jehle, BewHi 1994, 373 ff. 29 A.A. – ohne Begründung und wegen des unverändert fortgeltenden § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO contra legem – AG Aschersleben, StV 2010, 493. Siehe dazu sogleich II.3.b. 30 Vgl. BT-Ds. 16/13097, S. 19; dazu R. Michalke, NJW 2010, 17. Ausgenommen sind auch sonstige freiheitsentziehende Sanktionen (Jugendstrafe, § 17 JGG, oder Jugendarrest, § 16 JGG, sowie Strafarrest, § 9 WStG), Abschiebe- und Auslieferungshaft (§§ 15, 16 IRG), die freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 Nr. 1 bis 3 StGB) sowie die Fürsorgeerziehung und die Unterbringung in einem Erziehungsheim. 31 Wessing, in: BeckOK-StPO, Ed. 7 (Stand: 1.8.2010), § 140 Rn. 5a. Die Auffassung von Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 285, die zeitliche Beschränkung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gelte entsprechend, ist daher missverständlich: Es kommt nicht auf eine starre Frist, sondern stets auf die Umstände der Vollstreckung im Einzelfall an. 28
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Zweck der Ziffer 4, weil das auf der Haft beruhende Autonomiedefizit nunmehr beseitigt ist, als auch der Systematik des § 140 Abs. 1 StPO. Anders als Nr. 5 stellt § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO nicht auf einen bezifferten Zeitraum ab, obgleich der Beschuldigte hier wie dort gehindert ist, sich selbst um das für das Verfahren Erforderliche zu kümmern. b) Abgrenzung zu § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO und Kumulationsfälle (Haft und/oder Unterbringung in anderer Sache) Auch nach Inkrafttreten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bleibt damit für § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch ein sinnvoller Restregelungsbereich bei Strafoder Abschiebehaft, die Unterbringung nach den §§ 63 ff. StGB, sowie für die Hauptverhandlungshaft nach §§ 127b Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 StPO, die Sicherungshaft nach § 453c Abs. 1 StPO und in weiteren, hier nicht interessierenden Verfahrenssituationen.32 Für die Fälle der Anstaltsunterbringung hätte sich damit im Vergleich zur früheren Gesetzeslage im Grunde nichts geändert. Freilich stellt sich für den bereits in einer Anstalt Untergebrachten, der vor Ablauf der Drei-Monats-Frist in einem neuen Verfahren beschuldigt wird, das Problem, nicht die erforderliche Freiheit zu haben, das für eine effektive Verteidigungsvorbereitung Nötige selbst tun zu können. Auch die nicht ganz seltene Konstellation der vollstreckten Straf- und U-Haft in anderer Sache ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Man kann daraus aber nicht den Schluss ziehen, der Gesetzgeber habe diese Kumulationsfälle von der Neuregelung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO unberührt gesehen, auch wenn dies sachlich nach dem beschuldigtenschützenden Sinn und Zweck der Vorschrift nicht unbedingt einzuleuchten vermöge.33 Gemeinsamer Grund für die Bestellung des Pflichtverteidigers in beiden Fällen des § 140 Abs. 1 StPO ist, dass der Beschuldigte nicht die Freiheit hat, sich selbst um das Erforderliche zu kümmern . Das Schweigen der Materialien indiziert deshalb, dass der Gesetzgeber die zu der Nachbarvorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO seit langem anerkannte Rechtsprechung stillschweigend rezipiert hat. Dort ist der Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte sich richterlich angeordnet oder genehmigt mindestens drei Monate in einer Anstalt befunden hat und nicht zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Die drei Monate Verwahrung können verschiedene 32 Siehe zum Anwendungsbereich der Nr. 4 soeben II.3.a., dort (o. Fn. 29) auch mit Nachw. zu abw. Auffassungen; zu Nr. 5 siehe Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 140 Rn. 34 ff. 33 So aber LG Saarbrücken, Beschl. v. 16.6.2010 – 3 Qs 28/10; Wohlers, StV 2010, 151 (152). A.A. mit Recht LG Itzehoe, StV 2010, 562 (563) m. Anm. Tachau.
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Sachen betreffen; eine Beziehung zu der zur Aburteilung anstehenden Tat wird nicht verlangt. 34 Die – sogleich genauer darzustellende – Zuständigkeitszuweisung in § 141 Abs. 4 Hs. 2 StPO ist in diesen Fällen also teleologisch zu reduzieren, soweit die Notwendigkeit der Verteidigung in dem anderen Verfahren außerhalb des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in Frage steht.35 c) Zuständigkeit für die Beiordnung nach § 141 Abs. 4 StPO Nach § 141 Abs. 4 Hs. 2 StPO entscheidet damit nur in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO das nach § 126 bzw. § 275a Abs. 5 StPO zuständige Gericht36, d.h. im Falle der Vollstreckung von Untersuchungshaft der Haftrichter und in den Fällen einstweiliger Unterbringung die Strafkammer. Dieses Gericht ist, so die zutreffende Begründung des Rechtsausschusses, am besten mit der Sache vertraut, und zwar insbesondere auch dann, wenn der Haft- oder Unterbringungsbefehl durch das „nächste“ Amtsgericht (§ 115a StPO) verkündet worden ist. Daneben bleibt für die anderen Fälle der Pflichtverteidigerbestellung (also z.B. Kammersachen, Verbrechen, Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO) weiterhin das erkennende Gericht zuständig. Dies führt zu der allgemeinen Frage,37 wie zu verfahren ist, wenn in derselben Sache nicht nur § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO einschlägig ist, sondern auch einer der anderen Katalogfälle des Absatzes 1, es also z.B. um eine Schwurgerichtssache geht (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Richtigerweise ist die mit dem 1.1.2010 geschaffene Rechtslage nicht so auszudeuten, dass die Pflichtverteidigerbestellung bei nur kumulativer Einschlägigkeit des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO allein durch den Ermittlungsrichter erfolgen könnte. Das entspricht weder der Systematik des § 141 Abs. 4 StPO, dem zum Zweck der frühen Verteidigerbestellung nur ein weiterer Halbsatz beigegeben wurde, noch dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Durch die Notwendigkeit der Bestellung des Pflichtverteidigers wegen eines der Fälle außerhalb des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO kann sich der Vorsitzende des für die Hauptsache zuständigen Gerichts vielmehr – wie bisher – in den in Kürze bei ihm zur Verhandlung anstehenden Sachverhalt einarbeiten und unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots seine
34
Vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 140 Rn. 32 m.w.N. Zutr. Tachau, StV 2010, 563. Wegen der – zufälligen – Doppelzuständigkeit des LG Itzehoe, StV 2010, 562 hat sich der Kammer dieses Problem im konkreten Fall nicht gestellt, so dass sich der Beschluss zu dieser Frage auch nicht verhält. 36 Wegen des Ziels einer geschlechtsneutralen Gesetzessprache ist in § 126 StPO seit 1.1.2010 als zuständiges Organ nicht mehr „der Richter“ sondern nunmehr „das Gericht“ zuständig, vgl. BT-Ds. 16/11644, S. 33 (dort auch zu den weiteren Änderungen in § 126 StPO). 37 Zur Kumulation der Bestellungsgründe in verschiedenen Verfahren bereits soeben II.3.b. 35
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Terminbelastung abschätzen. Hier bleibt es also bei der Grundregel des § 141 Abs. 4 Hs. 1 StPO.
III. Hauptprobleme der Neuregelung bei Bestellung eines vom Beschuldigten bezeichneten Verteidigers Trotz der insgesamt erfreulichen Änderungen im Bereich der Pflichtverteidigerbeiordnung bei U-Haft werfen die Neuregelungen nicht wenige komplexe Fragen auf. Es ist insbesondere zu prüfen, ob und – bejahendenfalls – wie der Beschuldigte den Anspruch auf Beiordnung des Verteidigers seines Vertrauens durchsetzen kann, ohne an anderer Stelle untragbare Rechtsverluste hinnehmen zu müssen. 1. Zum Streit um die Beiordnung eines Verteidigers nach Wahl des inhaftierten Beschuldigten gemäß § 142 Abs. 1 S. 2 StPO Es ist zunächst schon in Streit geraten, ob die Regel des § 142 Abs. 1 S. 2 StPO auch für die Pflichtverteidigerbestellung in U-Haft-Fällen gilt. Die Beantwortung dieser Frage hat erhebliche Auswirkungen auf die Praxis. So ist bereits weniger als zwei Monate nach Inkrafttreten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf dem 34. Strafverteidigertag 201038 beanstandet worden, den Beschuldigten würde in vielen Fällen nicht in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt, sondern vielmehr unmittelbar ein vom Richter ausgewählter Pflichtverteidiger beigeordnet. a) Zur Anwendbarkeit von § 142 Abs. 1 S. 2 StPO in U-Haft-Fällen Nach zutreffender Ansicht, die auch in der Rechtsprechung39 geteilt wird, ändert das Erfordernis der „unverzüglichen“ Verteidigerbestellung gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO nichts am Anhörungs- und Bestimmungsrecht des Inhaftierten. Die am elaboriertesten von Reinhold Schlothauer40 ausgearbeitete Gegenauffassung überzeugt nicht. Hiernach soll es für die Einräumung einer Frist zur Bezeichnung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 38
Siehe die Resolution des 34. Strafverteidigertages, abrufbar unter www strafverteidigertag.de/ Strafverteidigertage/ Material/ Strafverteidigertage/ Resolution. pdf. Die nahe liegende Frage, welche Aussagekraft eine kurz nach Inkrafttreten eines Gesetzes stattfindende Evaluation auf Basis von nicht systematisch erhobenen Berichten aus der Praxis sein kann, kann hier dahinstehen. 39 So LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236). 40 Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (711 ff.). A.A. aber ders./Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 289.
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1 Nr. 4 StPO an einer gesetzlichen Gestattung mangeln. Die Vorschrift des § 142 Abs. 1 S. 2 StPO werde vielmehr durch die Spezialregelung in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO aus sachbezogenen Gründen verdrängt. Dieses Rangverhältnis ergebe sich daraus, dass § 141 Abs. 3 S. 4 StPO die „unverzügliche“ Beiordnung ausdrücklich gebiete, während es sich bei § 142 Abs. 1 S. 2 StPO nur um eine „Soll-Vorschrift“ handelt. Bei dieser Auslegung werden jedoch zugunsten des systematischen Vorrangs der §§ 140, 141 StPO vor § 142 StPO sowohl der Wortlaut als auch die Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck des § 142 StPO gering geachtet. § 142 Abs. 1 Sätze 1 und 2 StPO erfassen unterschiedlos alle Fälle „der“ Bestellung eines Verteidigers, also auch den U-Haft-Fall und die ihm gleichgestellten Konstellationen.41 Der Gesetzgeber des StVÄG 1987 wollte mit diesem Wortlaut gerade die einschlägige Judikatur des BVerfG42 positivieren, nach der den Wünschen des Beschuldigten bei der Auswahl der Person des Pflichtverteidigers möglichst Rechnung zu tragen ist.43 Die Vorschrift solle nach dem erklärten Willen ihrer Verfasser „von der Praxis in dem Sinne ernst genommen werden, daß sie dem auf einen bestellten Verteidiger angewiesenen Beschuldigten wenigstens hinsichtlich der personellen Auswahl ähnliche Chancen bietet wie demjenigen, der selbst einen Verteidiger mandatieren kann“44. Schon diese Historie muss ein Verständnis zweifelhaft erscheinen lassen, das die Regelung für einen ganz besonders praxisbedeutsamen Fall gänzlich leerlaufen lässt. Dass § 142 StPO im Ganzen auch für den U-Haft-Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO anwendbar ist, unterstreicht in systematischer Perspektive Absatz 2 der Vorschrift. Er nimmt explizit – wenn auch wegen der Kürze des juristischen Vorbereitungsdienstes heute weitgehend bedeutungslos geworden45 – auf die Vorschrift des § 140 StPO Bezug. Bereits nach alter Rechtslage vor dem 1.1.2010 wurde § 142 Abs. 1 S. 2 StPO zuletzt trotz seines insoweit missverständlichen Wortlauts („soll“) nach seinem erkennbaren Sinn und Zweck so ausgelegt, dass die Anhörung des Beschuldigten keinesfalls im Ermessen des Vorsitzenden liegt, sondern eine Anhörungspflicht besteht („intendiertes
41
Oben II.3.a. Insbesondere BVerfGE 39, 238 (243) – Croissant. Siehe zuletzt OLG München, NJW 2010, 1766 m.w.N. 43 Laufhütte, in: KK-StPO (o. Fn. 21), § 141 Rn. 7; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 142 Rn. 12, je m.w.N. 44 Rieß/Hilger, NStZ 1987, 145 (147). 45 Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2007, § 4 Rn. 43; s. auch Jahn, JuS 2006, 660 (661) zum vergleichbaren Problem bei § 139 StPO. Das mag, neben anderen Motiven, erklären, warum § 142 Abs. 2 StPO auch nach dem 1.1.2010 nicht auf § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO verweist. 42
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Ermessen“).46 Dieses Verständnis resultiert aus dem verfassungsrechtlich anerkannten Recht des Beschuldigten, sein Interesse an der Bestellung des Verteidigers seines Vertrauens grundsätzlich selbst definieren zu können. Dazu tritt die grundrechtsgleiche Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, in deren Lichte § 142 Abs. 1 S. 2 StPO stets zu interpretieren ist. Nicht die Einräumung der Möglichkeit der Verteidigerbezeichnung bedarf im U-Haft-Fall entgegen Schlothauer also einer einfachgesetzlichen Grundlage, sondern deren Einschränkung. Eine verfassungsimmanente Beschränkung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten aus Art. 103 Abs. 1 GG zugunsten des Grundsatzes der Verfahrensbeschleunigung ist aber – wie nun zu zeigen sein wird – in der Praxis regelmäßig schon nicht erforderlich, darüber hinaus aber auch nicht angemessen.
b) Praktische Umsetzung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten bei U- Haft Im Ganzen kann von § 142 Abs. 1 S. 2 StPO damit auch bei U-Haft nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden. Dies setzt voraus, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs eine erhebliche Verfahrensverzögerung zur Folge hätte und die konkrete Verfahrenslage ausnahmsweise die sofortige Bestellung eines Pflichtverteidigers gebietet.47 Bereits das normative Erfordernis „erheblicher“ Verfahrensverzögerung wird angesichts der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten in praxi kaum einmal einschlägig sein. Schon bisher war, wenn die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit eine schriftliche Erklärung des Beschuldigten nicht zulässt, die Anhörung fernmündlich (z.B. in der JVA) durchzuführen.48 Dass angesichts der flächendeckenden Verbreitung moderner Kommunikationstechnik in Untersuchungshaftanstalten und Justizbehörden eine solche fernmündliche Anhörung „erhebliche“ Verfahrensdauer in Anspruch nehmen könnte, ist praktisch auszuschließen.49 Vor der 46 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 3695 (3697); BGH, StV 2003, 210 (211); OLG Frankfurt, NStZRR 1996, 271; LG Cottbus, StV 2006, 687; Wohlers, in: Systematischer Kommentar, StPO, Stand: Juni 2004, 39. Lieferung, § 142 Rn. 3; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 142 Rn. 14 a.E. A.A. OLG Karlsruhe, StV 2001, 557 (558) m. abl. Anm. Braum. 47 I.d.S. auch LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236). S. erg. unten V. 48 OLG Düsseldorf, StV 2004, 62 (63); Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 142 Rn. 14a. 49 Zum Folgeproblem des (Eil-) Falles der Ermöglichung eines telefonischen Anbahnungsgespräches zwischen Mandant und dem bezeichneten Verteidiger in der U-Haft nach § 148 StPO siehe bereits Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (27) sowie Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 293 a.E.
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Bestellung des Verteidigers muss allerdings noch der Staatsanwaltschaft rechtliches Gehör gewährt werden (§ 33 Abs. 2 StPO); auch das ist fernmündlich, per Telefax oder E-Mail möglich und häufig geboten. Einer Anhörung des im Falle einer Anklageerhebung zuständigen Gerichts bedarf es entgegen einer aus der Praxis empfohlenen Handhabung mangels Rechtsgrundlage nicht; sie ist auch unter Beschleunigungsaspekten untunlich.
c) Folgen einer unterbliebenen Anhörung des Beschuldigten gemäß § 143 StPO Ein Verteidigerwechsel auf Initiative des Beschuldigten ist über den Wortlaut hinaus analog § 143 StPO dann möglich, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Die an solche Gründe zu stellenden inhaltlichen Anforderungen sind aber umstritten. Akzeptiert werden nach noch vorherrschender Auslegung insbesondere die erhebliche Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem oder eine besondere Pflichtwidrigkeit bei der Führung der Verteidigungsgeschäfte. Das war in dieser Allgemeinheit schon bislang zweifelhaft.50 Im neuen Recht seit dem 1.1.2010 ist diese (zu) enge Auslegung des § 143 StPO für den vom Beschuldigten gewollten Austausch des Pflichtverteidigers mit dem Gesetz schlechthin nicht mehr vereinbar. Es will die Verteidigungsbelange und damit die Autonomie des Beschuldigten stärken, nicht schwächen. Es steht daher zu erwarten, dass infolge der Anerkennung dieses Zusammenhanges durch die bislang vorliegende Rechtsprechung zum U-Haft-Reformgesetz auch die bisherige Auslegung des § 143 StPO im Ganzen auf den Prüfstand gestellt wird – ein längst überfälliger Vorgang. Sofern die erforderliche Anhörung gänzlich unterblieben ist, ist der vom Gericht bestellte Verteidiger also auf Antrag des Beschuldigten nach § 143 StPO zu entpflichten und der vom Beschuldigten benannte Rechtsanwalt beizuordnen, sofern dem seinerseits keine (anderen) wichtigen Gründe entgegenstehen.51 Ebenso ist zu verfahren, wenn ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bereits vor dem ungenutzten Verstreichen der dem 50 Siehe zu den notwendigen Differenzierungen aufgrund der unangefochtenen Prämisse der Gleichstellung von Pflicht- und Wahlverteidigung nur Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 143 Rn. 9 und § 140 Rn. 6 (extensive Auslegung bei Artikulation der Autonomie des Beschuldigten); sich dem jetzt erfreulicherweise annähernd Bittmann, JuS 2010, 501 (513). A.A. Kett-Straub, NStZ 2006, 361 (363) und zuletzt OLG München, NJW 2010, 1766 f., je m.w.N. 51 Vgl. OLG Düsseldorf, StV 2010, 350 m. zust. Anm. Burhoff, StRR 2010, 223; OLG Karlsruhe, StV 2010, 179; LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236); LG Bonn, StV 2010, 180 (181); LG Landshut, Beschl. v. 1.7.2010 – 4 Qs 172/10.
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Beschuldigten zu setzenden angemessenen Frist bestellt wird bzw. dem Beschuldigten keine der U-Haft-Situation angemessene Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich über die zur Verfügung stehenden Verteidiger zu informieren.52 Die Bundesanwaltschaft hat diese Rechtsprechung in einem von ihr geführten Ermittlungsverfahren unlängst in zutreffender Weise und unter Billigung des BGH-Ermittlungsrichters fortgeführt. So ist eine Auswechselung eines Pflichtverteidigers im Falle einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auch ohne ein gestörtes Vertrauensverhältnis dann zulässig, wenn es sich bei dem beigeordneten Verteidiger lediglich um eine „Verlegenheitswahl“ handelte, der Beschuldigte nun selbst einen Wechsel ausdrücklich wünscht, der bisher beigeordnete Verteidiger damit einverstanden ist und dadurch keine Verfahrensverzögerungen und – wie regelmäßig – nennenswerten Mehrkosten entstehen.53 Dem ist ohne Einschränkungen zuzustimmen. 2. Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „unverzüglich“ in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO Die Freiheit, eine autonome Entscheidung treffen zu können, kann auch zur Last werden. Der Druck, die Auswahl nach § 142 Abs. 1 S. 2 StPO treffen zu „sollen“, bekommt durch das in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO enthaltene Zeitmoment nunmehr eine neue Qualität für den Beschuldigten. Insofern kann sich die Neuregelung bei unzweckmäßiger Auslegung negativ auf seine Lage auswirken. Insbesondere ist an Fälle zu denken, in denen die Entscheidung über die Person des zu bestellenden Verteidigers mangels ausreichender Zeit für die Formulierung eines Vorschlags durch den Beschuldigten letztlich beim Gericht verbleibt. Hier besteht die – abstrakte – Gefahr, dass Verteidiger beigeordnet werden, die nicht das Vertrauen des Beschuldigten, sondern des Gerichts genießen. Mangels Transparenz kann 52
Wohlers, StV 2010, 151 (157); Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn.
326. 53
Stellungnahme des GBA vom 1.3.2010 im Verfahren 2 BGs 73/10, dokumentiert bei Weider, StV 2010, 390 (391). Kommt es während des Ermittlungsverfahrens zum Pflichtverteidigerwechsel, entstehen durch die Beiordnung des neuen Pflichtverteidigers eine weitere Grundgebühr (VV RVG Nr. 4100, 4101) und eine Verfahrensgebühr (VV RVG Nr. 4104, 4105). Die Zusatzkosten belaufen sich also auf € 299,--. Dem neu bestellten Verteidiger einen (rechtlich zulässigen: Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg [o. Fn. 5], § 143 Rn. 9 Fn. 46) Verzicht auf die Geltendmachung dieser Gebühren anzusinnen, muss angesichts der besonderen Anforderungen, die mit der Verteidigung von nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten verbunden sind, ausscheiden (so auch Strafrechtsausschuss der BRAK, Thesen zur Praxis der Verteidigerbestellung nach §§ 140 Abs. 1 Ziff. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 StPO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, BRAK-Stellungnahme Nr. 16/2010 [Juli 2010], S. 15, auch abgedr. in StV 2010, 544 f.).
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damit im Einzelfall der böse Anschein entstehen, für die Auswahl seien in erster Linie Routine, persönliche Bekanntschaft und die Erwartung geschmeidiger Zusammenarbeit mit dem Gericht verantwortlich.54 Zuspitzungen wie das böse Wort vom „Geständnishelfer“, der „verurteilungsbegleitende Rechtsanwalt“ sowie das Berufsbild „Beiordnungsprostitution“ stehen in ihrem sachlichen Kerngehalt für in Einzelfällen nicht a limine von der Hand zu weisende Bedenken. Vieles hängt also am Zeitmoment – und damit an einer besonders interessensensiblen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ in § § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. a) „Unverzüglich“ ist nicht „sofort“ Mit dem Begriff „unverzüglich“ wird dem Gericht – und damit mittelbar dem Beschuldigten – ein gewisser zeitlicher Spielraum für die Bestellung des Pflichtverteidigers bei Vollzug der U-Haft eröffnet. Der Gesetzgeber hat sich mit dieser Formulierung bewusst von den zeitlichen Anforderungen an den Bestellungsakt in anderen Fällen des § 140 StPO abgesetzt. Meist „wird“ der Verteidiger nach § 141 Abs. 1 StPO „bestellt“, im Falle des § 141 Abs. 2 StPO ist die Bestellung sogar ausdrücklich per „sofort“ angeordnet. Gemeint ist in beiden Situationen aber der Sache nach die sofortige Bestellung.55 Ausweislich der Begründung in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages56 soll die Formulierung „unverzüglich“ in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO demgegenüber den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragen, z.B. wenn die Verkündung auf ein Wochenende fällt oder ein vom Beschuldigten gewünschter Verteidiger nicht unmittelbar erreichbar oder hic et nunc bereit ist, die Verteidigung zu übernehmen. Diese vernünftige, an der Autonomie des Beschuldigten orientierte gesetzgeberische Zielbestimmung lässt eine Auslegung des Gesetzesbegriffes angezeigt sein, die dem Beschuldigten einen zweckmäßigen Zeitraum zugesteht, in dem er 54
Vgl. Stefan König, AnwBl. 2010, 50 (51: „Danaergeschenk“); Wohlers, StV 2010, 151 (153); Heydenreich, StRR 2009, 444 (446); Strafverteidigervereinigungen, Gemeinsame Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 1.1.2010, StV 2010, 109; Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht DAV, Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidigern nach Inkrafttreten der Neuregelungen in §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 StPO, Stellungnahme Nr. 55/2009, S. 4 f. (www.anwaltverein.de/downloads/Stellungnahmen-09/SN55-09.pdf). Zur grundsätzlichen Diskussion Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71); Thielmann, HRRS 2009, 452 (454). 55 Die Wendung „… sobald … ist“ in Abs. 1 könnte auf den ersten Blick im Gegenschluss zu Abs. 2 („sofort“) so verstanden werden, als gebe es noch einen zeitlichen Ermessensspielraum. Das ist nicht der Fall. Vielmehr ist auch in Abs. 1 die Gleichzeitigkeit der Aufforderung gemäß § 201 StPO und der Bestellung des Pflichtverteidigers gemeint, vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 19 m.w.N. 56 BT-Ds. 16/13097, S. 19.
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sich wegen der Auswahl eines geeigneten Verteidigers selbst informieren und entscheiden kann. Die wiederum von Reinhold Schlothauer57 entwickelte Gegenauffassung vermag auch hier nicht zu überzeugen. Danach konterkariere dieses Verständnis des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO den Sinn und Zweck der Neuregelung. Er liege (allein) darin, dem inhaftierten Beschuldigten nach Beginn der Vollstreckung schnellstmöglich einen Verteidiger zu sichern. Dieser gesetzliche Auftrag sei für das Gericht bindend; auch der Beschuldigte könne keinen Dispens erteilen. Zur Widerlegung dieser monothematischen Interpretation der Norm mag man darüber streiten, ob die hier zugrundegelegte Lesart des Beschleunigungsgrundsatzes als wesensmäßig objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip sakrosankt sein muss. Sie ist, was zuzugestehen ist, jedenfalls aber derzeit so absolut vorherrschend,58 dass die grundsätzliche Frage der (Grenze der) Disponibilität des Beschleunigungsprinzips für den Beschuldigten hier auf sich beruhen muss. Jedenfalls ist es der Sinn des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO nicht, dem Beschuldigten schnellstmöglich einen Verteidiger zu verschaffen, sondern den Verteidiger seines Vertrauens (arg. ex § 142 Abs. 1 S. 2 StPO). In Anlehnung an die gängige Auslegung des Gesetzesbegriffes „unverzüglich“ im Zivilrecht ist darunter also weder „sofort“ noch „zeitgleich“ zu verstehen.59 Es verstößt damit gegen den erklärten gesetzgeberischen Willen, wenn dem Inhaftierten „sogleich“ ein Pflichtverteidiger bestellt werden soll.60 b) Wochenfrist entsprechend der Interessenlage bei wichtigen Rechtsbehelfsfristen Im Zivilrecht wird die Wendung „unverzüglich“ häufig verwendet, nicht nur in § 121 BGB, sondern auch in den §§ 355, 510, 536c, 625, 650 und 703 BGB und in § 377 HGB. In allen Fällen besteht für den Adressaten der Erklärung eine unklare Situation, die erst durch die Mitteilung aufgeklärt wird. In Ansehung der beiderseitigen Interessenlage muss diese Klärung aber möglichst bald erfolgen, d.h. ohne eine durch die Sachlage nicht be57
Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (714 f.); ders., in: Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 296 ff.; siehe bereits oben III.1.a. Dass sich der Mitautor Weider, aaO. Rn. 300 ff. im Gemeinschaftswerk dezidiert gegen diese Ansicht ausspricht, belegt die Bedeutung der Streitfrage. 58 Statt vieler Kudlich, Gutachten C für den 68. DJT 2010, S. C 16 f.; Trüg, StV 2010, 528 f. m.w.N. 59 Siehe nochmals BT-Ds. 16/13097, S. 19. 60 A.A. Bittmann, JuS 2010, 501 (513), der allerdings im Gegenzug – insoweit bei isolierter Betrachtung wieder zutreffend (oben III.1.c) – die Entpflichtung nach § 143 StPO erleichtern will.
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gründete Verzögerung, damit der Schwebezustand oder der Zustand der Ungewissheit beseitigt werden kann.61 Das entspricht der Situation zwischen dem Beschuldigten und dem Gericht im Falle des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. Entscheidend ist also, dass die Erklärung des Beschuldigten „ohne schuldhaftes Zögern“62 erfolgt, technischer: ohne eine Obliegenheit in eigenen Angelegenheiten durch zurechenbar zu langes Zuwarten zu verletzen. Eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer Woche (§ 43 Abs. 1 StPO) erscheint daher geboten, aber auch ausreichend. Wenn schon für die regelmäßig noch gewichtigere Frage, ob ein Rechtsmittel wie Berufung oder Revision eingelegt (§§ 314, 341 StPO) oder ein sonstiger Rechtsbehelf weiterverfolgt (§§ 45 Abs. 1 S. 1, 311 Abs. 2, 356a S. 2 StPO) werden soll, die Wochenfrist hinreichen muss, kann für die Pflichtverteidigerbestellung auch in Ansehung der Erschwernisse der U-Haft keine großzügigere Regelung gelten.63 Aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit ist diese Höchstfrist zur Beendigung des Schwebezustandes ohne Rückausnahmen starr zu bemessen. Die vielfach aus der Praxis der Strafverteidigung64, der Staatsanwaltschaften (so der weit verbreitete „Praktische Leitfaden zur Umsetzung des Untersuchungshaftrechts ab 1.1.2010“ der Staatsanwaltschaft bei dem LG München I65) und im Schrifttum66 vorgeschlagene (re61
Siehe BGHZ 76, 81 (84 f.); BGHR BGB § 121 Abs. 1 Anfechtungsfrist 1. BT-Ds. 16/13097, S. 19; JuMi Thüringen, LT-Ds. 5/617 v. 12.3.2010, S. 1. 63 Siehe zur früheren Gesetzeslage bereits OLG Düsseldorf, StV 2004, 62 (63) m. – insoweit ergebnisoffener – Anm. Bockemühl; Stern, in: AK-StPO, Bd. II/1, 1992, § 141 Rn. 26; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 141 Rn. 14a a.E. Im Ergebnis ebenso, wenn auch ohne nähere Begründung Stefan König, AnwBl. 2010, 50 (51); Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht DAV, Stellungnahme Nr. 55/2009, S. 6; Strafrechtsausschuss der BRAK (o. Fn. 53), S. 6. Sich dem annähernd (mindestens fünf Arbeitstage), aber gegen eine starre Frist Weider, in: Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 301 ff. Eine Frist von zwei Tagen ist in jedem Fall zu kurz bemessen (unverständlicherweise offengelassen von OLG Düsseldorf, StV 2010, 350 [351]: „Die Frage, ob eine Frist von zwei Tagen, wie sie nach Ansicht des LG Kleve gesetzt wurde, für einen in Haft befindlichen Beschuldigten überhaupt ausreichend ist, um das rechtliche Gehör in qualifizierter Form wahrnehmen zu können, bedarf demnach keiner Entscheidung“). 64 Strafverteidigervereinigungen, StV 2010, 109 und bereits Strafverteidigervereinigung NRW, (strafverteidigervereinigung-nrw.de/files/beiordnung_von_notwendigen_verteidigern.pd f), S. 3. Unentschieden JuMi Thüringen, LT-Ds. 5/617 v. 12.3.2010, S. 2. 65 Mir lag die Fassung vom 1.3.2010 (ohne Gz.) vor; das als solches bezeichnete „Skript“ solle „die mit Haftsachen befaßten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte auf das neue Untersuchungshaftrecht vorbereiten und ihnen praktische Anleitungen zum Umgang mit (...) ‚neuen‘ Haftsachen geben“ (aaO., S. 2). Danach sei folgendermaßen vorzugehen: Wolle sich der Beschuldigte einen Wahlverteidiger suchen, so sei ihm Gelegenheit zur Suche einzuräumen. Sollte „nach ca. 10 bis 14 Tagen“ noch kein Verteidiger benannt werden, so solle durch die Staatsanwaltschaft nochmals eine schriftliche Anhörung des Beschuldigten mit dem Ziel erfolgen, „dass er nunmehr die Auswahl in das Ermessen des Gerichts stellt. Nach Ablauf der dem Beschuldigten einzuräumenden Frist (z.B. eine Woche) kann dann die Pflichtverteidiger62
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gelmäßige oder zumindest optionale) Zwei-Wochen-Frist ist daher zu lang bemessen und mit dem Wortlaut des Erfordernisses „unverzüglicher“ Bestellung nicht mehr in Einklang zu bringen. Auch das denkbare Gegenargument einer Analogie zur Zwei-Wochen-Einspruchsfrist beim Strafbefehl würde nicht zu überzeugen vermögen. Die durch das StVÄG 1987 gegenüber den sonstigen Rechtsmittelfristen verlängerte Sonderfrist des § 410 Abs. 1 S. 1 StPO soll nur eine Einschränkung von Wiedereinsetzungsanträgen sowie Verfassungsbeschwerden wegen angeblicher Verletzungen des rechtlichen Gehörs bewirken, die gerade bei Strafbefehlen besonders häufig sind.67 3. Korrespondierende Belehrungspflichten Gem. § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO ist der Beschuldigte über sein Recht zu belehren, einen von ihm gewählten Verteidiger seines Vertrauens befragen zu können. Dies soll ihm eine i.S. der Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 EMRK angemessene Vorbereitung auf die erste Vernehmung ermöglichen.68 a) Effektive „erste Hilfe“ durch Belehrung Das Recht des Beschuldigten, jederzeit einen von ihm zu wählenden Verteidiger konsultieren zu können, findet sich seit langem ausdrücklich für die erste richterliche (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) sowie die staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Vernehmung im Gesetz (§ 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2 StPO). Darin erschöpft sich aber § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO nicht.69 Seit bestellung beim zuständigen Gericht veranlasst werden.“ Wolle der Beschuldigte einen (Wahl) Pflichtverteidiger, sei ihm auf Wunsch eine Frist „(z.B. drei Tage oder eine Woche)“ einzuräumen. Andernfalls solle er die Auswahl in das Ermessen des Gerichts stellen. Die Staatsanwaltschaft habe dann die Pflichtverteidigerbestellung durch das zuständige Gericht herbeizuführen (aaO., S. 11). 66 Heydenreich, StRR 2009, 444 (446). Im Grundsatz ebenso Wohlers, StV 2010, 151 (153), jedenfalls soweit absehbar sei, dass der Beschuldigte an der umgehenden Aufnahme der Bemühungen um einen Verteidiger seines Vertrauens gehindert ist; die Frist sei so anzusetzen, dass der Beschuldigte effektiv zwei Wochen zur Verfügung habe, um den Verteidiger seines Vertrauens zu finden. 67 Fischer, in: KK-StPO (o. Fn. 21), § 410 Rn. 3; Gössel, in: Löwe/Rosenberg, 26. Aufl. 2009, § 410 Rn. 6. 68 Vgl. BT-Ds. 16/11644, S. 17; LG Frankfurt (Oder), StV 2010, 235 (236); Kazele, NJ 2010, 1 (3); Wankel, in: KMR-StPO, Stand: Januar 2010, 57. Lieferung, § 114b Rn. 4. Das BMJ hat hierzu Belehrungsformulare erstellt, die das Gesetz bundeseinheitlich umsetzen sollen und unter www.bmj.bund.de/ enid/ 693a6f82d65d024364404b879bfd16b7,0/ Fachinformationen/ Belehrungsformulare_1mi.html einsehbar sind. 69 Anders wohl Wankel, in: KMR-StPO (o. Fn. 68), § 114b Rn. 4. Mit anderem Schwerpunkt (Unentgeltlichkeit, Dolmetscher) auch Paeffgen, in: SK-StPO (o. Fn. 6), 114b Rn. 9 f.
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mehr als einem Jahrzehnt ist vielmehr anerkannt, dass die Angebote an „erster Hilfe“ für den Beschuldigten in der Festnahmesituation eine gewisse inhaltliche Qualität aufweisen müssen.70 Dem Beschuldigten muss über den Gesetzeswortlaut des § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO hinaus deshalb auch die notwendige Hilfestellung zuteil werden, die er benötigt, um die für die effektive Ausübung seines Auswahlrechts unverzichtbaren Informationen einzuholen. So ist er über die Existenz anwaltlicher Notdienste, welche auch außerhalb der Bürozeiten und an Wochenenden zu erreichen sind, sowie über Informationsangebote der Rechtsanwaltskammern, Anwaltsvereine und Strafverteidigervereinigungen zu informieren. Es handelt sich nicht (mehr nur) um ein nobile officium.71 Bleibt die Belehrung über das Recht auf Anwaltskonsultation aus, ist in der U-Haft-Situation der Wesensgehalt des Grundrechts auf Verteidigung betroffen.72 Dies bewirkt ein Verwertungsverbot für die ohne Verteidigerbeistand erfolgte Einlassung des Beschuldigten.73 b) Weitergehende Belehrungspflicht zum Anwendungsbereich der Pflichtverteidigung? Der weitergehenden Forderung,74 den Beschuldigten in § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO n.F. auf den gesetzlichen Anwendungsbereich der Pflichtverteidigerbestellung hinweisen zu müssen, hat sich der Gesetzgeber verschlossen. Ist damit das letzte Wort gesprochen? Die Möglichkeit, in der Praxis über das vom Gesetz gewährte (Konventions-) Minimum hinausgehen zu können, dürfte damit nicht zwingend ausgeschlossen sein. Das Bedürfnis hierfür ist mit Händen zu greifen. Es ist immer wieder zu beobachten, dass gerade mittellose Festgenommene das 70
BGHSt 42, 15 (19); Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 137 Rn. 66a; Jahn, JuS 2006, 272 (273) m. zahlr. weit. Nachw. aus der Rspr. des BGH. 71 Ebenso Deckers, StraFo 2009, 441 (444); Weider, StV 2010, 102 (103). Ferner ist es dem Beschuldigten zu ermöglichen, mit dem in Aussicht genommenen Verteidiger nach § 148 StPO telefonisch Kontakt aufzunehmen und ein unüberwachtes fernmündliches Anbahnungsgespräch durchzuführen. Es muss dem Beschuldigten dabei auch gestattet sein, gegebenenfalls mit unterschiedlichen Verteidigern in Kontakt zu treten, vgl. Wohlers, StV 2010, 151 (154) unter Hinweis auf Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (27). 72 Siehe zur näheren Begründung aus Sicht der Beweisbefugnislehre Jahn, Gutachten C zum 67. DJT 2008, S. C 73. 73 So auch Bittmann, JuS 2010, 501 (512 f.) (anders wohl noch ders., NStZ 2010, 13 [14]: „grundsätzlich kein Beweisverwertungsverbot“); Weider, StV 2010, 102 (103); D. Herrmann, StRR 2010, 4 (6) und bereits Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 137 Rn. 78. 74 Stellungnahme BRAK Nr. 10/2009, S. 5 f., www.german-bar.de/seiten/ pdf/Stellungnahmen/2009/Stn10.pdf. In diese Richtung auch Paeffgen, GA 2009, 451 (452); Weider, StV 2010, 102 (103) und Neuhaus, StV 2010, 45 (47).
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Recht auf Hinzuziehung eines (bestimmten) Verteidigers nicht in Anspruch nehmen, weil sie der Ansicht sind, dessen Dienste nicht sofort honorieren zu können und sie das Institut der Pflichtverteidigung einschließlich der in § 142 Abs. 1 S. 2 StPO enthaltenen Regelung nicht kennen. Gerade diese Fehlvorstellung könnte jedoch vielfach durch einen einfachen Hinweis auf die geltende Rechtslage korrigiert werden. Der Inhaftierte ist aber grundsätzlich über alle Möglichkeiten zu orientieren, sich gegen den Freiheitsentzug zur Wehr zu setzen – auch das meint „Parität des Wissens“75. Die Rechtsprechung des BGH76 erkennt eine derartige Belehrungspflicht bislang nur in Fällen an, in denen der Beschuldigte bei seiner polizeilichen Vernehmung äußert, dass er sich aufgrund seiner Mittellosigkeit gehindert sehe, einen Rechtsanwalt zu kontaktieren, und dadurch inzident zu verstehen gibt, grundsätzlich eine Verteidigerkonsultation zu wünschen. Jedoch wird es häufig dem Zufall überlassen bleiben, ob ein Beschuldigter sich im Rahmen seiner Vernehmung gerade so äußert oder vielmehr aus Resignation angesichts der eigenen Mittellosigkeit zum Thema Verteidigerbestellung gänzlich schweigt. Angesichts der mit weitreichenden Grundrechtseingriffen verbundenen Untersuchungshaft und unter Berücksichtigung der besonderen Situation des inhaftierten Beschuldigten wäre ein Überdenken der bisherigen Position der Rechtsprechung sinnvoll. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie über das vom Gesetzgeber gewährte Minimum auf der Primärebene hinausginge, zumal nach Lage der Dinge eine Änderung der Rechtsprechung zum unselbstständigen Beweisverwertungsverbot auf Sekundärebene zu dieser Frage kaum zu erwarten ist. 4. Flankierung durch Führung von „Haftpflichtverteidigerlisten“ In diesem Zusammenhang empfiehlt sich die Führung von mindestens jährlich zu aktualisierenden Listen, auf denen zur Übernahme der Pflichtverteidigung in Haftsachen (in den Grenzen der § 49 Abs. 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO) bereite Rechtsanwälte verzeichnet sind. Sie sind dazu bestimmt - und müssen dazu auch geeignet sein –, dem unentschlossenen und unsicheren Beschuldigten als effektive Auswahlhilfe zu dienen.77 Diesen Anforderungen genügende Fotokopien sind dem Beschuldigten physisch auszuhändigen, da ein Zugang über das Internet aus vollzuglichen Gründen regelmäßig nicht umsetzbar sein wird. Angesichts des Ziels möglichst ef75
Zum Topos „Parität des Wissens“ BGHSt 36, 305 (309); Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (26); Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), § 147 Rn. 4. 76 BGH, NStZ 2006, 236 (mit unzutreffender Konsequenz für die Verwertungsfrage); angedeutet schon in BGHSt 47, 233 (234 f.). 77 Zu den Vorschlägen im Einzelnen Strafverteidigervereinigung NRW (o Fn. 64), S. 3 ff.; Thielmann, HRRS 2009, 452 (454 f.).
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fektiver Verteidigung sollten dabei insbesondere am Ort der Untersuchungshaftanstalt ansässige oder ortsnahe Fachanwälte für Strafrecht, zumindest aber Rechtsanwälte mit einschlägigen Tätigkeitsschwerpunkten und möglichst Fortbildungsnachweisen im Haftrecht unter Hervorhebung ihrer einschlägigen Zusatzqualifikation(en) (z.B. Steuerberater, vereidigter Buchprüfer), ihrer Sprachkenntnisse, der Dauer ihrer Zulassung und der Erreichbarkeit auch an Wochenenden sowie Sonn- und Feiertagen (Handynummer) in derartige Listen aufgenommen werden.78 Neben diesen praktischen Problemen werfen die Verteidigerlisten allerdings auch Wettbewerbsfragen auf, wenn beispielsweise dem bestellungswilligen und nach § 142 Abs. 1 StPO seit dem 2. ORRG auch grundsätzlich bestellungsfähigen auswärtigen Junganwalt die Aufnahme in eine solche Liste verweigert wird. Diese Fragen haben vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Gehalt und mögen in Zukunft eine Anpassung der BRAO erforderlich machen. Den Einzelheiten kann im Rahmen dieses Beitrages allerdings nicht nachgegangen werden.79
IV. Hauptprobleme bei Beiordnung des Pflichtverteidigers nach Auswahl durch das Gericht Bezeichnet der Beschuldigte innerhalb der ihm gesetzten Frist keinen Verteidiger – was in der Praxis keinen Einzelfall darstellt –80, obliegt es dem Haftrichter bzw. der nach § 275a Abs. 5 StPO zuständigen Strafkammer, einen Verteidiger von Amts wegen zu bestellen.81 Welche Kriterien dabei die richterliche Auswahl begünstigen und ob sie stets sachlicher und fachlicher Natur sind, bleibt dabei nach dem Gesetz im Dunkeln. 1. Sachliche Kriterien der Pflichtverteidigerauswahl Eine richterliche Verteidigerbestellung ohne die Heranziehung generalisierender Auswahlkriterien kann den Vorwurf einer Konterkarierung des mit dem U-Haft-Änderungsgesetz verfolgten Regelungsziels der Stärkung der Verteidigungsrechte im Vorverfahren erwecken und mit dem Recht des
78 Vgl. Wohlers, StV 2010, 151 (154). Die von Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 317, aufgeführten weiteren Kriterien wie Publikationen, Vorträge und Falllisten sind zweifelhaft. 79 Dazu Huff, Pflichtverteidigerlisten – eine Aufgabe der Rechtsanwaltskammer? Unveröff. Referat auf der 209. der Strafrechtsausschusses der BRAK in Hamburg am 17.10.2009, S. 4 ff. 80 Siehe nur Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (716). 81 Vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5), §142 Rn. 27.
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Beschuldigten auf ein faires Verfahren in Konflikt geraten.82 Die gesteigerten Verteidigungsbedürfnisse des inhaftierten Beschuldigten gebieten es also, ihm unter Heranziehung generalisierender Entscheidungskriterien einen geeigneten Verteidiger zur Seite zu stellen. Daher steht dem Gericht, entgegen einer teilweise anders verfahrenden Praxis, kein freies Ermessen bei der Auswahl zu.83 Entscheidungsleitend sind vielmehr zumindest84 die nachfolgend aufgeführten Faktoren: Zunächst kommt die Bestellung eines Verteidigers ungeachtet der berufsrechtlichen Verpflichtung zur Übernahme des Mandats sinnvollerweise nur dann in Betracht, wenn er tatsächlich in der Lage ist, den Beschuldigten zu verteidigen. Dabei kann auch dem Kriterium der Ortsferne eines Verteidigers trotz der Neufassung des § 142 Abs. 1 StPO durch das 2. ORRG noch eine gewisse Rolle zukommen. Dies muss aber beschränkt auf solche Einzelfälle bleiben, in denen die Kontaktmöglichkeiten zu dem in der JVA einsitzenden Mandanten konkret beeinträchtigt erscheinen.85 Der stereotype Hinweis auf das staatliche Kosteninteresse mit dem Ziel der Bestellung eines ortsansässigen Verteidigers genügt jedenfalls nicht. 2. „Schematische“ Bestellung und richterliche Unabhängigkeit Aus der Anwaltschaft wird gefordert,86 neben fachlichen Aspekten eine gleichmäßige Verteilung bei der Bestellung von Pflichtverteidigern sicherzustellen, da die Wahrnehmung solcher Mandate mindestens für solche Rechtsanwälte, deren beruflicher Schwerpunkt das Strafrecht ist, vielfach einen erheblichen Anteil an der wirtschaftlichen Grundlage ihrer Tätigkeit hat. Es wird deshalb angeregt,87 den Ermittlungsrichtern von den regionalen Rechtsanwaltskammern erstellte Pflichtverteidigerlisten an die Hand zu geben, die diese nach schematisierten Verfahren (Abarbeitung von „A bis Z“, Bestellung nach dem Zufallsprinzip o.ä.) zu erschöpfen hätten. So könne auch den turnusmäßigen Eilrichtern im Nacht-, Feiertags- und Wochenenddienst die Auswahl erleichtert werden, da diesen mit ihrem (häufig zivil-
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Zur Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung durch die Vorschriften über die notwendige Verteidigung vgl. nur Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5),Vor § 137 Rn. 73 m.w.N. 83 Zutr. Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. S. 709 (717). 84 Eine abschließende Aufzählung soll hier nicht vorgelegt werden. Ob sie überhaupt zu leisten ist, mag offenbleiben. 85 So auch Wohlers, StV 2010, 151 (155) unter Hinweis auf Jahn, NJW-Sonderheft f. Tepperwien, 2010, 25 (27). 86 Vgl. nur Thielmann, StraFo 2006, 358 (359). 87 Siehe Latz, DRiZ 2010, 16; Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71).
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rechtlichen) Regeldezernat nicht immer aktuelle und breite Kenntnisse übernahmebereiter Pflichtverteidiger zur Verfügung stehen werden. Diesen Vorschlägen sollte nicht näher getreten werden. Es wird übersehen, dass eine rein schematische Bestellung von Pflichtverteidigern den Interessen des Beschuldigten jedenfalls in solchen Fällen nicht ausreichend Rechnung tragen kann, in denen dieser an Hand der Aktenlage nachvollziehbare Wünsche – etwa bestimmte Sprach- oder Rechtskenntnisse – zur Qualifikation seines Verteidigers äußert. Dann liegt ein Ermessensausfall vor, der zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt.88 Eine Auswahl nach einem ohne inhaltlichen Spielraum vorgegebenen Muster ohne die ergänzende Heranziehung sachlicher Kriterien im Einzelfall dürfte zudem nur schwerlich mit der richterlichen Unabhängigkeit zu vereinbaren sein.89 Legt man die für den Bereich der Insolvenzverwaltung durch das BVerfG90 entwickelten Kriterien zum Rechtsprechungsbegriff i.S.d. Art. 92 GG an, wird man nicht umhin können, die Pflichtverteidigerbestellung als letztverbindliche Klärung der Rechtslage im Rahmen eines besonders geregelten Verfahrens anzusehen.91 Auch hier hat nochmals Schlothauer92 eine Gegenposition zu entwickeln versucht: Die Pflichtverteidigerbeiordnung sei zwar dem Beschuldigten gegenüber Akt der Rechtsprechung, dem Rechtsanwalt gegenüber jedoch Justizverwaltungsakt gem. § 23 EGGVG auf Grundlage von § 49 BRAO. Diese – nicht weiter begründete – „Theorie von der Bestellungsaktsrelativität“ kann schon deshalb nicht überzeugen, weil jeder Akt der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG schon aus Gründen der Rechtssicherheit in seiner Rechtsnatur grundsätzlich unteilbar ist.93 Es muss damit in letzter Konsequenz dem Richter selbst überlassen bleiben, den nach seiner Einschätzung geeignete(re)n Verteidiger zu bestellen.
88 So auch Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (720); Strafrechtsausschuss der BRAK (o. Fn. 53), S. 13 f. 89 So auch Wohlers, StV 2010, 151 (156); Fühling, DRiZ 2010,17. A.A. Thielmann, StraFo 2006, 358 (362); Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71). 90 BVerfGK 4, 1 (6) = NJW 2004, 2725 (2726) unter Hinweis auf BVerfGE 103, 111 (137 f.). 91 So auch Wohlers, StV 2010, 151 (155) und bereits Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (o. Fn. 5),Vor § 137 Rn. 72. 92 Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (713 f.) sowie ders./Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 290. Siehe bereits oben III.1.a. und III.2.a. 93 Siehe für den Verwaltungsakt gegen die „Lehre vom relativen VA“ nur Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 23 m. zahlr. Nachw.
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V. Durchführung dringlicher Ermittlungshandlungen mit einem Notverteidiger entsprechend § 118a Abs. 2 S. 3 StPO Es dürfte keinen ganz seltenen Einzelfall darstellen, dass aufgrund ermittlungstaktischer Überlegungen der Staatsanwaltschaft Untersuchungshandlungen bereits zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden sollen, in dem der Beschuldigte innerhalb der ihm gem. § 142 Abs. 1 S. 1 StPO gesetzten Wochenfrist noch keinen Verteidiger seiner Wahl benannt bzw. das Gericht ihm noch keinen Verteidiger beigeordnet hat. Im doppelten Sinne besonders dringlich wird dies etwa bei der geplanten richterlichen Vernehmung eines zentralen, aber moribunden oder nur auf der Durchreise befindlichen Belastungszeugen, bei der der Verteidiger anwesend sein muss (§ 168c Abs. 2 StPO, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK)94, weil ansonsten die Ergebnisse jener Ermittlungshandlung unverwertbar sein werden.95 Nichts anderes gilt in den Fällen, in denen der Beschuldigte aufgrund eines bestehenden Haftbefehls ergriffen wird und unverzüglich, spätestens aber am nächsten Tag dem zuständigen Gericht vorzuführen und durch dieses verantwortlich zu vernehmen ist (§ 115 Abs. 1 und 2 StPO). Zur Lösung der Eilfallproblematik wird zu Recht vorgeschlagen,96 auch dann, wenn der Beschuldigte selbst an der Vernehmung teilnimmt, in analoger Anwendung des § 118a Abs. 2 S. 3 StPO einen Verteidiger nur für die konkret in Frage stehende Vernehmung zu bestellen. Dieses Verteidigungsverhältnis kann gegebenenfalls auf Wunsch des Beschuldigten fortgesetzt, ansonsten nach Maßgabe des § 143 StPO gelöst werden. 97
VI. Gesamtbewertung Für das Recht der Strafverteidigung hat das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts begrüßenswerte inhaltliche Neuregelungen gebracht, auch wenn im Detail den legitimen Verteidigungs- und Informationsinteressen des inhaftierten Beschuldigten nicht immer ausdrücklich Rechnung getragen wurde. Dadurch entstandene Regelungslücken und Unklarheiten sind im Wege der Auslegung zu beseitigen. Es ist darüber hinaus anzuer94 Die richterliche Vernehmung des Beschuldigten außerhalb von Terminen im Zusammenhang mit Haftentscheidungen nach § 168c Abs. 1 StPO hat in der Praxis keine große Bedeutung, vgl. Jahn, in: HbStrVf, (Hrsg.) Heghmanns/Scheffler, 2008, Kap. II Rn. 73. 95 Vgl. Erb, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2008, § 168c Rn. 53 f.; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft (o. Fn. 6), Rn. 320 ff.; Jahn, in: HbStrVf (o. Fn. 94), Kap. II Rn. 232, 238, 253 ff.; ders., Gutachten C zum 67. DJT 2008, S. C 73 f. 96 Wohlers, StV 2010, 151 (156). Die Bedenken von Schlothauer, FS Samson (o. Fn. 6), S. 709 (712 ff.) dürften damit (weitgehend) ausgeräumt sein. 97 Oben III.1.c.
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kennen, dass sich der Gesetzgeber um einen weiteren Ausbau der Garantien einer rechtsstaatlichen Verteidigung bemüht und – nicht zuletzt im Hinblick auf das ein Vierteljahr vorher in Kraft getretene 2. Opferrechtsreformgesetz – versucht hat, die Balance mit den weiter ausgebauten Rechten des Verletzten im Strafverfahren nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren.
Vollzugslockerungen und Reststrafenaussetzung CHRISTOPH KREHL
I. Die Verschränkung von Vollzugslockerungen und Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung Vollzugslockerungen sind zwar von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung,1 sie gehen aber – das hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Vollzug lebenslanger Freiheitsstrafen klargestellt – als „Erprobung in Freiheit“ einer Entscheidung über die Aussetzung des Strafrests regelmäßig voraus.2 Der Grund hierfür liegt auf der Hand. Bei langem Freiheitsentzug erweist es sich in besonderer Weise als notwendig, den Gefangenen schrittweise wieder auf die Freiheit vorzubereiten und ihm dabei Gelegenheit zu geben, wenigstens ansatzweise Orientierung für und in einem normalen Leben zu finden. Die dauerhafte, vollständige Vorenthaltung der Freiheit kann nicht schlagartig von einer totalen Wiedereinräumung dieses Fundamentalrechts abgelöst werden, die Gefahr des Scheiterns scheint zu groß, damit einher ginge bei einer unvorbereiteten Entlassung in die Freiheit ein zu hohes Risiko für die erneute Verletzung von Rechtsgütern, die der Staat zu schützen verpflichtet ist. Aber nicht nur aus der Sicht des schützenden Staates, auch aus der Perspektive des einzelnen Strafgefangenen ist es – sogar mit verfassungsrechtlicher Implikation – grundsätzlich geboten, der Entlassung in die Freiheit gestufte Erprobungsschritte vorangehen zu lassen. Der Anspruch eines Gefangenen auf Resozialisierung wird sich regelmäßig nur dann mit wirklicher Aussicht auf Erfolg realisieren lassen, wenn er vor Haftentlassung Gelegenheit erhält, sich an die verantwortungsvolle Ausübung seines Freiheitsrechts in Schritten heranzutasten, und zudem die Möglichkeit hat, im Vorfeld resozialisierungsfördernde Maßnahmen zum Aufbau oder zur Verbesserung späterer Lebensbedingungen in Freiheit in die Wege zu leiten.3 1
Vgl .in diesem Sinn BVerfG StV 2002, 677. BVerfGE 117, 71 . 3 Davon unberührt bleibt die menschenrechtliche Dimension von Vollzugslockerungen, die um der Person des lange Inhaftierten willen fordert, dass dieser – ohne dass es auf die Frage einer sich darauf aufbauenden Prognose ankäme – Gelegenheit zu Außenkontakten hat. Dazu BVerfGE 117,71 2
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Die rechtlichen Regelungen im Umgang mit dem Strafgefangenen während der Freiheitsentziehung einerseits und im Zusammenhang mit einer (vorzeitigen) Entlassung andererseits tragen diesem dem Achtungsanspruch eines Inhaftierten geschuldeten Konzept vollständig Rechnung. Das Strafvollzugsgesetz räumt die Möglichkeit gestufter Vollzugslockerungen ein, das Strafgesetzbuch knüpft mit der Notwendigkeit einer positiven Sozialprognose für eine (vorzeitige) Entlassung inhaltlich daran an: mit der Gewährung von Vollzugslockerungen und dem Verhalten des Strafgefangenen während dieser Erprobung verbreitert sich die Basis für die zu beantwortende Frage, ob eine Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Das Verhalten eines Gefangenen während solcher Erprobungen stellt einen wichtigen Indikator für die künftige Legalbewährung dar.4 Ob dieses auf den ersten Blick einleuchtende Konzept der Lockerungserprobung als Vorstufe einer bedingten Entlassung wirklich zu einer belastbareren Prognose hinführt, mag allerdings zweifelhaft sein. Rückfälle bei Ausgängen und Urlauben sind eher selten, der Erprobungseffekt bei Lockerungen scheint schon mit Blick auf den sich auf das System einstellenden Gefangenen überschätzt zu werden. Und auch ohne Erprobung kann – wie Studien belegen5 – hinreichend Aussicht auf ein Leben ohne Rückfall bestehen. Diese Zweifel ändern freilich nichts daran, dass ein anderes System bedingter Entlassung, ohne die Verschränkung mit Vollzugslockerungen, gegenwärtig nicht einmal diskutiert wird.
II. Vollzugslockerungen in der Praxis Der Umgang mit dem Recht der Vollzugslockerungen stellt damit wichtige Weichen für eine spätere Aussetzungsentscheidung. Die Chancen, zu einer zutreffenden Prognoseentscheidung zu gelangen, verbessern sich mit der Gewährung von Vollzugslockerungen, ihre Versagung führt zu einer auf schmalerer Tatsachengrundlage zu treffenden Entscheidung und stellt tendenziell ihre Richtigkeitsgewähr in Frage.6 Könnte man nun davon ausgehen, dass ohnehin nur in den Fällen Vollzugslockerungen verweigert werden, in denen später eine negative Aussetzungsentscheidung zu erwarten ist, 4
Vgl. BVerfGE 117, 71 . Vgl. dazu P.-A. Albrecht, Zur sozialen Situation entlassener „Lebenslänglicher“, Göttingen 1977, der im Hinblick auf die in den70-iger Jahren ohne jegliche Vorbereitung erfolgte Entlassung Lebenslänglicher in Niedersachsen feststellt, dass nahezu keine gravierenden Rückfälle auftraten. 6 BVerfGE 117, 71 ; BVerfG NJW 1998, 2202, 2203; NJW 2000, 501, 502. 5
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käme den von der Justizvollzugsanstalt zu treffenden Entscheidungen über Vollzugslockerungen allerdings kein maßgeblicher Einfluss auf die Aussetzungspraxis der Vollstreckungsgerichte zu. Die Realität sieht freilich anders aus. Im Zuge einer seit Jahren zunehmenden Betonung von Sicherheitsinteressen, die nicht nur die allgemeinpolitische Diskussion bestimmt und den Gesetzgeber immer wieder zur Verschärfung von Strafvorschriften veranlasst, sondern auch den Rechtsanwender, auch denjenigen im Strafvollzug, erfasst, lässt sich ein allgemeiner Rückgang von positiven Lockerungsentscheidungen feststellen. Unter dem maßgeblichen Einfluss der Exekutive verstärkt sich damit der Trend der Vollzugsanstalten, immer weniger und immer später Lockerungen einzuräumen. Begünstigt dadurch, dass die Gerichte den Anstalten bei der Überprüfung dieser Entscheidungen einen weitgehenden Beurteilungsspielraum einräumen,7 kommt es auch in gerichtlichen Verfahren eher selten zu einer Korrektur negativer Lockerungsentscheidungen. Der Trend zu einer mehr als restriktiven Lockerungspraxis kann sich so ungebremst durchsetzen.
III. Die Antworten des Bundesverfassungsgerichts 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Lockerungsentscheidung Die möglichen Auswirkungen auf die Aussetzungsentscheidungen sind konkret und greifbar. Es besteht die Gefahr, ihr Inhalt und Ergebnis könnten durch die vorangehenden Lockerungsentscheidungen maßgeblich präjudiziert sein. Dies hat das Bundesverfassungsgericht früh erkannt und mit Blick auf den möglichen Einfluss der Lockerungsentscheidungen auf freiheitsentziehende Maßnahmen klargestellt, dass auch insoweit schon – gewissermaßen im Wege der Vorwirkung – das Freiheitsgrundrecht betroffen ist und Bedeutung für die Anwendung und Auslegung der Vorschriften über die Gewährung von Vollzugslockerungen gewinnt. Die prognostische Entscheidung, die der Anstalt dabei zukommt, darf nicht ohne zwingenden Grund die prognostische Basis der Richterentscheidung schmälern, indem sie an die Gewährung von Vollzugslockerungen einen unverhältnismäßig strengen Maßstab anlegt. Dies hat – insbesondere bei langfristig Inhaftierten – Konsequenzen bei der Auslegung der Flucht- und Missbrauchsgefahr (§ 11 Abs. 2 StVollzG), die regelmäßig über die Gewährung oder Versagung von Lockerungen entscheidet. Die Vollzugsanstalt muss danach bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten, dessen Entlassung dem7
Vgl. BGHSt 30, 320 . S. dazu unten V. 3.
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nächst nur noch von einer positiven Kriminalprognose abhängt, beachten, dass sie dem Gefangenen, soweit vertretbar, eine Bewährung zu ermöglichen und ihn auf die Entlassung vorzubereiten hat. Andernfalls ist sie gehalten, nähere Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, das Vorliegen einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr zu konkretisieren. Dabei bleibt ihr freilich der bisher zugestandene Beurteilungsspielraum mit der eingegrenzten gerichtlichen Überprüfbarkeit erhalten. Die eine Versagung im Verfahren nach dem StVollzG überprüfende Strafvollstreckungskammer muss bei ihrer gerichtlichen Entscheidung auch diese auf das Freiheitsgrundrecht zurückzuführende Vorgabe auf ihre Einhaltung im Blick behalten und zugleich bei eigener umfassender Aufklärung des Sachverhalts feststellen, ob der Entscheidung der Vollzugsbehörde ein umfänglich ermittelter, zutreffender Sachverhalt zugrunde gelegt ist.8 Wer nun meint, damit sei für die gerichtliche Aussetzungsentscheidung das Problem einer (zu) restriktiven Lockerungspraxis aus dem Weg geräumt und so eine Entscheidung auf einer breiten Tatsachenbasis gewährleistet, sieht sich getäuscht. Das Beharrungsvermögen der Vollzugsbehörde einerseits und die Neigung der Gerichte andererseits, den Beurteilungsspielraum bei der Prognoseerstellung weiter anzuerkennen und an den Grenzen ihrer Überprüfbarkeit nichts entscheidend zu ändern, sorgen dafür, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf die Lockerungsentscheidung nahezu wirkungslos bleiben.
2. Die Überprüfbarkeit der Lockerungsentscheidung Die Antwort des Bundesverfassungsgerichts blieb nicht lange aus. Es legte dem Vollstreckungsgericht im Aussetzungsverfahren nach den §§ 57, 57a StGB eine besondere Prüfungspflicht auf, indem es diesem aufgab, sich im Falle verweigerter Vollzugslockerungen nicht mit dem Umstand einer – von der Vollzugsbehörde verantworteten – begrenzten Tatsachengrundlage abzufinden, sondern die Rechtmäßigkeit der bisherigen Versagung von Lockerungen eigenständig zu prüfen, selbst dann, wenn sie ihrerseits schon Gegenstand gerichtlicher Überprüfung im Verfahren nach dem StVollzG gewesen ist.9 Schon in der nicht erfolgten oder nicht hinreichenden Überprüfung der Nichtgewährung von Lockerungen sah das Bundesverfassungsgericht einen verfassungsrechtlichen Mangel der Aussetzungsentscheidung, die insoweit auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage beruht. Aber auch mit dieser Überprüfung einer ablehnenden Lockerungsentscheidung im Aussetzungsverfahren und der Feststellung ihrer unberechtig8 9
BVerfG NJW 1998, 1133, 1134. BVerfGE 107, 71 ; BVerfG NJW 1998, 2202, 2204; NJW 2000, 502, 504.
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ten Versagung war noch nichts erreicht. Es zeigte sich, dass sich weder die Justizvollzugsanstalten noch die deren Entscheidung überprüfenden Gerichte von einer solchen in einem anderen Verfahren getroffenen, sie nicht bindenden Feststellung wirklich beeindrucken ließen. Häufig genug blieb (und bleibt) es nach einer negativen Aussetzungsentscheidung, die Vollzugslockerungen anmahnte, bei der Verweigerung durch die Vollzugsanstalten, deren Entscheidungen auch im gerichtlichen Verfahren unbeanstandet blieben. Da sich auch die über die vorzeitige Entlassung entscheidenden Strafvollstreckungskammern angesichts des durch Fehlen von Lockerungen bestehenden Prognosedefizits regelmäßig außer Stande sahen, zu einer positiven Sozialprognose zu gelangen, schied eine Freilassung des Gefangenen regelmäßig aus. Auch Drohungen der Aussetzungsgerichte, den Inhaftierten ggf. auch ohne Lockerungen freizulassen, halfen nichts; die Justizvollzugsanstalten scheuten die Verantwortung für Lockerungen, von denen sie aus welchen Gründen auch immer nicht überzeugt waren; die Vollstreckungsgerichte waren letztlich auch nicht bereit, einen über viele Jahre inhaftierten Gefangenen ohne jede Erprobung auf freien Fuß zu setzen. Eine verfassungswidrige Lockerungspraxis drohte damit, generell folgenlos zu bleiben.
3. Vorgehen nach § 454a StPO Angesichts dieser Ausgangslage sah sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst, ein noch weitergehendes Instrumentarium zu entwickeln, das dieser mit der Freiheitsgarantie nicht in Einklang zu bringenden Folgenlosigkeit, die sich auch nicht formell mit dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Nebeneinander von zwei Rechtszügen rechtfertigen lässt,10 entgegenwirkt. Es ist geprägt von dem Bestreben, den Vollstreckungsgerichten eine effektive Einwirkungsmöglichkeit auf die Vollzugsanstalten zu geben, die ansonsten mit ihrer Verweigerungshaltung den Freiheitsanspruch des Gefangenen dauerhaft in Frage stellen könnten. Mit anderen Worten: einen Gefangenen, dessen bedingte Entlassung nur noch von einer günstigen Prognose des Richters abhängt, ohne greifbare Konsequenzen, ggf. auch wiederkehrend, auf künftige Aussetzungsverfahren zu verweisen, in denen sich eine unverändert fortbestehende Prognoseunsicherheit immer wieder aufs Neue zu seinem Nachteil auswirkt, ist von Verfassungs wegen nicht hinnehmbar. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht, das zwar (nicht bindende) Hinweise an die Vollzugsanstalten nicht von vornherein als ungeeignet angesehen hat, als zusätzliche prozessuale Handlungsoption der 10
So u.a. aber OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311, 312 ff; OLG Hamm NStZ 2006, 64.
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Vollstreckungsgerichte ein Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO in Betracht gezogen. Besonders in den Fällen, in denen ohnehin eine positive Entwicklung des Gefangenen festzustellen ist und ansonsten lediglich das Fehlen einer Bewährung in Vollzugslockerungen das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit berührt, kann eine Strafaussetzung zur Bewährung, die die Entlassung nicht sofort, sondern erst für einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt anordnet, die nachteiligen Folgen einer unberechtigten Verweigerung von Lockerungen wirksam begrenzen. Mit einer angeordneten Entlassung ist nicht nur sichergestellt, dass der Freiheitsentzug allenfalls bis zum Entlassungszeitpunkt auf einer rechtswidrigen Schmälerung der Prognosebasis beruht. Es besteht zudem bei einer entsprechend in der Zukunft liegenden Strafaussetzung genügend zeitlicher Spielraum, der den Vollzugsbehörden eine angemessene Erprobung des Verurteilten in Lockerungen ermöglicht.11
IV. Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2009 An diese Überlegungen knüpft nun – mehr als 10 Jahre nach der ersten Entscheidung hierzu – das Bundesverfassungsgericht mit seinem neuesten Beschluss vom 30. April 2009 an.12 Dies zeigt nicht nur, dass sich das Problem (zu Unrecht) verweigerter Vollzugslockerungen auch angesichts der bisherigen Rechtsprechung nicht erledigt hat; es belegt auch die Ernsthaftigkeit, mit der das Bundesverfassungsgericht trotz der gegen seinen Lösungsansatz in Literatur13 und Rechtsprechung14 erhobenen Einwänden seinen Weg zur Durchsetzung des Freiheitsanspruchs eines Strafgefangenen weiter verfolgt.
1. Zur praktischen Anwendbarkeit des § 454a Abs. 1 StPO Dabei füllt das Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung, allerdings gestützt auf Senatsrechtsprechung,15 die Option eines Vorgehens nach § 454a StPO mit praktischem Leben. Es legt überzeugend dar, dass die einfach-gesetzliche Ausgestaltung eine Strafaussetzung – etwa unter Berücksichtigung eines von einem Sachverständigen für erforderlich gehalte11
Vgl. zuerst BVerfG NJW 1998, 2202, 2204. Dazu auch BVerfGE 117, 71 . NJW 2009, 1941 ff. 13 S. etwa Fischer StGB, 57. Aufl., § 57, Rdn. 17; neuerdings Reichenbach NStZ 2010, 424ff. 14 Vgl. z.B. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311; OLG Jena NStZ-RR 2006, 354; OLG Oldenburg NdsRPfl 2009, 191 15 BVerfGE 117, 71 . 12
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nen entlassungsvorbereitenden Erprobungszeitraums - auch erst in ferner Zukunft zulässt. Und es macht auch deutlich, dass mit einem solchen Vorgehen eine unverantwortbare Risikoverlagerung zu Lasten der Allgemeinheit nicht verbunden ist. In der gesamten Zeit bis zur Entlassung des Gefangenen ist eine Korrektur der Entscheidung unter den erleichterten Voraussetzungen des § 454a Abs. 2 StPO möglich. Ein engmaschiges Netz von Auflagen und Weisungen und die Unterstützung durch einen Bewährungshelfer können zudem schon in der Phase bis zur Entlassung helfen, die Voraussetzungen für ein späteres straffreies Leben in Freiheit zu schaffen. Das Werben für ein solches Vorgehen im Einzelfall bekräftigt das Bundesverfassungsgericht mit seinem nicht zu unterschätzenden Hinweis, Vollstreckungsgerichte hätten ihre prozessualen Möglichkeiten auszuschöpfen, wenn es darum ginge, den Vollzugsbehörden das Gebotensein von Vollzugslockerungen deutlich zu machen. Damit ist der Weg nach § 454a Abs. 1 StPO nicht nur eine Handlungsoption für die Vollstreckungsgerichte; er kann je nach der tatsächlichen Fallgestaltung – was der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt – verfassungsrechtlich geboten der einzige sein, der das Freiheitsrecht des Gefangenen praktisch wirksam werden lässt.
2. Die sofortige Entlassung Bemerkenswerterweise belässt es das Bundesverfassungsgericht nicht bei diesen Bemerkungen zu § 454a Abs. 1 StPO, sondern versäumt nicht, auch darauf hinzuweisen, dass auch eine sofortige Entlassung eines Inhaftierten (verfassungsrechtlich) geboten sein kann. Dies soll in Betracht kommen, wenn etwa ein enges Netz von Auflagen und Weisungen und die Betreuung durch einen Bewährungshelfer das von der Vollzugsbehörde zu verantwortende Prognosedefizit so zu kompensieren verspricht, dass das schwer einschätzbare Risiko einer Rückfalltat effektiv begrenzt wird und dadurch dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung getragen ist. Freilich sieht das Bundesverfassungsgericht eine unvorbereitete Entlassung bei langen Haftzeiten offenbar nur als seltene Ausnahme, während sie bei kurzen bis mittleren Haftzeiten - bei längerer rechtswidriger Versagung von Lockerungen und zeitlicher Nähe zum Endstrafentermin, angesichts derer andere Maßnahmen (Erteilung eines Hinweises oder nach Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO) nicht erfolgversprechend sind – durchaus praktisch werden kann. So sehr dieser Hinweis letztlich auch zu begrüßen ist, so sehr ist zu bedauern, dass das Bundesverfassungsgericht – allein mit dem Hinweis auf gegenüber einem Vorgehen nach § 454a Abs. 1 StPO begrenzte Widerrufsmöglichkeiten – eine sofortige Freilassung wohl nahezu ausschließen will. Zumindest wäre es an dieser Stelle hilfreich gewesen, hätte
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sich das Gericht einmal mit dem tatsächlichen Rückfallrisiko etwa von Inhaftierten, die ein Tötungsdelikt begangen haben und typischerweise lange Freiheitsstrafen zu verbüßen haben, auseinandergesetzt. Häufig steht in diesen Fällen einem langen Freiheitsentzug ein doch eher geringes Rückfallrisiko gegenüber, dem womöglich auch durch im Rahmen einer Aussetzungsentscheidung anzuordnende Auflagen und Weisungen wirksam zu begegnen ist.
3. Rezeption der Entscheidung Es erscheint auf den ersten Blick zweifelhaft, ob durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Problem rechtswidrig verweigerter Vollzugslockerungen und dessen Auswirkungen auf zu treffende Aussetzungsentscheidungen endlich gelöst werden kann. Zu lange schon besteht die Zwangslage, in der sich die Vollstreckungsgerichte angesichts einer mitunter notorischen Verweigerungshaltung der Vollzugsbehörden befinden; und zu groß war schon in der Vergangenheit der Widerstand gegen die jetzt noch einmal mit Leben gefüllte Lösung des Problems über § 454a StPO,16 der sich zudem (wenn auch weitgehend mit alten Argumenten) neu formiert.17 Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass das Verfassungsgericht mit seinen grundlegenden, aber auch zugleich praktischen Ausführungen zur Durchsetzung der berechtigten Freiheitsinteressen inhaftierter Gefangener vielleicht doch Erfolg haben könnte. Erste Entscheidungen weisen in diese Richtung. a. So hat das OLG Köln bereits in einem Beschluss vom 19. Juni 200918 in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung eine es bindende verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung des § 454a StPO gesehen, die das bisher in Literatur und Rechtsprechung19 als gleichwertig angesehene Vollstreckungsinteresse der Rechtsgemeinschaft bei Prognoseunsicherheiten ggf. hinter das Resozialisierungsinteresse des Verurteilten zurückstehen lasse. Kennzeichnend für diese Entscheidung war, dass nach sachverständi16 Dazu schon oben Fn. 13/14. Eine Ausnahme bildet insoweit in der Vergangenheit die Entscheidung des OLG Karlsruhe StraFo 2008, 129ff. 17 S. hierzu typisch Reichenbach NStZ 2010, 424ff, der die Interpretation des § 454a StPO durch das Bundesverfassungsgericht, das damit verbundene Aufbrechen des gesetzlichen Rechtsschutzkonzepts im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung von Vollzugslockerungen und damit einhergehend eine Rechtsfindung contra legem beanstandet, ohne sich auch nur einmal mit dem Freiheitsanspruch eines Inhaftierten auseinander zu setzen, der eine generelle Folgenlosigkeit einer verfassungswidrigen Lockerungspraxis verbietet. 18 OLGSt StPO § 454a Nr. 3. 19 Vgl. z.B. Appl in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. § 454a, Rdn. 2; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311.
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ger Einschätzung die Erprobung des Verurteilten in Vollzugslockerungen für eine positive Sozialprognose unverzichtbar und ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Lockerungsverweigerung ohne absehbares Ende bereits seit fast einem Jahr anhängig war. Gleichwohl hat das OLG eine durch die Vorinstanz angeordnete vorzeitige Haftentlassung (aus einer zeitigen Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 8 Monaten) aufgehoben, um der Strafvollstreckungskammer durch Einholung eines Lockerungsgutachtens die Möglichkeit zur Prüfung zu geben, ob dem Verurteilten die Überweisung in den offenen Vollzug zu Unrecht verwehrt worden ist. Warum nicht bereits auf der vorliegenden, im Verfahren nach § 454 StPO eingeholten gutachterlichen Stellungnahme zur Entscheidung nach § 57 StGB eine endgültige Entscheidung (ggf. nach § 454a StPO) getroffen werden konnte, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Womöglich hat sich das OLG Köln noch vor einer konsequenten Umsetzung der erst kurz zuvor ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgericht gescheut. b. Diesen Schritt ist es dann mit einer weiteren Entscheidung vom 11. Dezember 200920 - bemerkenswerterweise in einem Fall von Sicherungsverwahrung – gegangen und hat trotz im Entscheidungszeitpunkt an sich ungünstiger Prognose eine langjährige Unterbringung selbst zur Bewährung ausgesetzt. Hintergrund war die Verweigerung von Vollzugslockerungen durch die Vollzugsanstalt, obwohl zwei Gerichte diese angeregt bzw. sogar – gestützt auf sachverständige Äußerungen – ausdrücklich befürwortet hatten. Hinzu kam ein hinhaltendes Taktieren; der erste gerichtliche Hinweis war fast 4 Jahre zuvor gegeben worden. Zudem gab die Anstalt hinsichtlich der zuletzt beantragten Lockerung zu verstehen, dass angesichts eines Zustimmungsvorbehalts des Justizministeriums mit Bearbeitungszeiten von ca. einem Jahr gerechnet werden müsse. Mit Blick darauf, dass es sich bei der beantragten Lockerung wohl zunächst lediglich um die Durchführung eines begleiteten Ausgangs gehandelt hat, schien dem Senat – durchaus nachvollziehbar – der bürokratische Aufwand unter Berücksichtigung des Freiheitsinteresses nicht hinnehmbar. Dass er dies zum Anlass genommen hat, die wegen Vermögensdelikten angeordnete Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen, ist wohl der fallspezifischen Besonderheit geschuldet, dass es nach der gutachterlichen Einschätzung allein von der Willensentscheidung des Untergebrachten abhängen werde, ob er wieder rückfällig werde. Bei dieser Ausgangslage kommt Vollzugslockerungen, durch die der Verurteilte die Chance hat zu beweisen, dass er es mit seinen guten Vorsätzen ernst meint und auch das erforderliche Durchhaltevermögen aufweist, eine besondere Bedeutung zu. Angesichts eines fast fünfmonatigen Zeitraums bis zum Entlassungszeitpunkt bestand für die 20
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Anstalt auch noch hinreichend Möglichkeit, Vollzugslockerungen zu gewähren, an deren Ende entweder der durch Taten untermauerte Wille des Verurteilten, keine Straftaten mehr zu begehen, oder die durch Unregelmäßigkeiten oder gar Rückfall begründete Enttäuschung der Erwartung eines Lebens ohne Straftaten stehen konnte. c. Am 11. Februar 2010 schloss sich ein Beschluss des OLG Hamm an, der eine seit 21 Jahren vollzogene lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzte und den Zeitpunkt der Entlassung auf ein Jahr später festsetzte.21 Zugleich wurde die Vollzugsbehörde angewiesen, den Verurteilten in den offenen Vollzug zu überweisen. Dabei legte das OLG ohne Einschränkungen die vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 30. April 2009 dargelegten Maßstäbe zugrunde und kam deshalb zu einer Strafaussetzung, obwohl im jetzigen Zeitpunkt eine positive Prognose nicht gestellt werden konnte. Auch dieser Fall war gekennzeichnet von der durch gutachterliche Stellungnahmen festgestellten Notwendigkeit einer (weiteren) Erprobung in Vollzugslockerungen. Die Besonderheit des Falles lag darin, dass der Verurteilte sich zwischen 2004 und 2007 bereits dreieinhalb Jahre beanstandungsfrei im offenen Vollzug bewährt hatte, nach einer im Aussetzungsverfahren überraschenden Neubewertung seiner Gefährlichkeit durch eine bisher nicht mit seinem Fall befasste Gutachterin rechtswidrig in den geschlossenen Vollzug zurück verlegt worden und sein nach erneut positiven psychologischen und psychiatrischen Stellungnahmen im März 2009 gestellter Antrag auf Rücküberweisung in den offenen Vollzug infolge zögerlicher Sachbehandlung durch Justizvollzugsanstalt, Aufsichtsbehörde und wohl auch Gericht (noch) ohne Erfolg geblieben war. Der bis zur angeordneten Entlassung verbleibende Zeitraum gab nach Ansicht des Senats genügend Zeit zur weiteren Erprobung im offenen Vollzug, den er gleich selbst anordnete. Ob dies freilich, wie er meint, so von ihm anzuordnen war, erscheint doch eher fraglich. Die vom Senat angesprochene verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der Entscheidung mit seiner sich daraus ergebenden Verlegung in den offenen Vollzug berechtigt wohl nicht zur Anordnung einer entsprechenden Verlegung. Es bleibt Angelegenheit der Anstalt, dieser verfassungsrechtlich festgestellten Pflicht zu genügen oder nicht: mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben können, bis hin zu. einer Entlassung ohne Erprobung.22 d. Schließlich folgte am 23. Februar 2010 ein Beschluss des OLG Frankfurt.23 Auch er betraf einen Fall (zeitiger Freiheitsstrafe), in dem auf der 21
1 Ws (L) 479/09 – juris. Dies - ungeachtet einer verfassungsrechtlichen Argumentation - wohl schon deshalb, weil für diesen Fall die Aufhebung der Entscheidung gesetzlich nicht vorgesehen wäre. 23 3 Ws 142/10 – BeckRS 2010, 07316. 22
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Grundlage sachverständiger Äußerungen eine günstige Sozialprognose nur noch von der Bewährung in gestuften, im Einzelnen bezeichneten Vollzugslockerungen über drei Monate abhing und diese in der Vergangenheit ohne zureichenden Grund versagt worden waren. Das OLG gab in dieser Entscheidung seine entgegenstehende Ansicht zur Unanwendbarkeit des § 454a StPO auf, weil es – wie das OLG Köln – in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung eine bindende verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift sah. Es ordnete deshalb – in Orientierung an der vom Sachverständigen für notwendig gehaltenen Zeit der Bewährung in Lockerungen – eine Entlassung in drei Monaten an. Hinsichtlich der Versagung dieser Lockerungen durch die Vollzugsanstalt sah der Senat trotz einer dahingehenden Äußerung eines weiteren Sachverständigen eine Ermessensreduzierung auf Null, weshalb dem Senat im Ergebnis nur noch die Gewährung von Lockerungen vertretbar erschien: dies vor allem mit Blick auf zwei anderslautende Gutachten und darüber hinaus einen zu strengen Maßstab der Justizvollzugsanstalt bei der Flucht- und Missbrauchsgefahr nach § 11 Abs. 2 StVollzG, die sich an der Gefahrenprognose nach § 57 StGB orientiert hatte.
V. Ausblick 1. Begrenzter Anwendungsbereich des § 454 a StPO Die genannten Entscheidungen dürfen trotz zurzeit fehlender entgegenstehender Rechtsprechung nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Problem zu Unrecht verweigerter Vollzugslockerungen damit nicht als gelöst angesehen werden kann. Zu bedenken ist zum einen, dass alle Entscheidungen nur Konstellationen erfassen, in denen es für die Bejahung einer an sich günstigen Prognose allein noch auf eine Bewährung in Vollzugslockerungen ankommt. Nicht erfasst sind damit alle diejenigen Fälle, in denen eine solche, in Richtung einer positiven Prognose laufende Einschätzung (noch) gar nicht möglich ist und in denen der Verurteilte auch keine Chance erhält, sich diese jedenfalls auch über eine Bewährung bei Lockerungen zu erarbeiten. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung hilft also nur dann weiter, wenn eine weitgehend positive Entlassungsprognose – gestützt auf gutachterliche Einschätzungen - schon gestellt werden kann, nur als letzte Hürde gewissermaßen die Lockerungsbewährung zu durchlaufen ist.24
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Vgl. hierzu BVerfG NJW 2009, 1941, 1945.
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2. Entlassung auch ohne Mitwirkung der JVA Es verwundert, dass schon angesichts dieses begrenzten Anwendungsbereichs für § 454a StPO jedenfalls in der Literatur der Widerstand nicht aufgegeben zu werden scheint.25 Dabei wird nicht nur übersehen, dass die Kammerentscheidung aus dem Jahre 2009 auf ausdrückliche Senatsrechtsprechung zurückzuführen ist26, insoweit nichts wirklich Neues bringt und die darin enthaltene verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift über ihre verfassungsprozessuale Bindungswirkung (§ 31 BVerfGG) die Fachgerichte schon länger bindet. Es ist auffällig, dass eine das Freiheitsgrundrecht beachtende Betrachtung des Problems nicht vorgenommen wird, stattdessen über eine rein formale Betrachtungsweise Gesichtspunkte vorgebracht werden, die dafür sprechen sollen, an dem bestehenden Zustand einer Lockerungsverweigerung ohne Konsequenzen (der offenbar als hinnehmbar akzeptiert wird, allenfalls den Gesetzgeber zum Handeln veranlassen könnte) nichts zu ändern. Diese Ansicht mag einem Zeitgeist entsprechen, der bereit ist, den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit jederzeit den Vorrang vor den Freiheitsrechten auch von Straftätern einzuräumen; in diesem Fall sollte dies aber auch klar zum ausdrücklichen Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden. Es ist – trotz des bestehenden Nebeneinanders zweier Rechtswege nach §§ 109 ff StVollzG und § 454 StPO, trotz der im Kern beschränkten Überprüfbarkeit von Lockerungsentscheidungen und trotz einer fehlenden gesetzlichen Regelung zur Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen nach dem StVollzG – selbstverständlich nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen, den Justizvollzugsanstalten mit ihren Entscheidungsbefugnissen zur Gewährung von Vollzugslockerungen einen (womöglich noch gerichtsfesten) Freiraum zuzugestehen, in dem sie maßgeblich nach eigenem Gutdünken (oder nach den Weisungen und verfahrensverzögernden prozeduralen Vorgaben der Aufsichtsbehörden und Justizministerien) tiefgreifende, auch die Freiheit des Einzelnen berührende Entscheidungen treffen können. Wer wie das Bundesverfassungsgericht nach effektiven Wegen sucht, den so nicht vorgesehenen Einfluss von Justizvollzugsanstalten zu begrenzen, der bricht weder „gesetzliche Rechtsschutzkonzepte“ auf noch findet er im Hinblick auf mangelnde Vollstreckungsmöglichkeiten Recht „contra legem“.27 Natürlich verbleibt es bei den Entscheidungsmöglichkeiten der Justizvollzugsanstalt auch nach einer Entscheidung gemäß § 454a StPO. Diese muss allerdings damit rechnen, dass es im Falle einer fortdauernden 25
So besonders in jüngerer Zeit: Reichenbach NStZ 2010, 424 ff; s. dagegen aber auch Groß jurisPR-StrafR 12/2009 Anm. 1. 26 BVerfGE 117, 71 . 27 So aber Heinrich NStZ 2010, 424, 428.
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Versagung gleichwohl zu einer Entlassung kommt.28 Nur dies entspricht der Wirkkraft des Freiheitsrechts, das die generelle Folgenlosigkeit einer verfassungswidrigen Lockerungspraxis im Aussetzungsverfahren verbietet.29 Käme es nicht zur Entlassung, liefe ein Vorgehen nach § 454a StPO genauso ins Leere wie die früher an die Vollzugsanstalten von Seiten der Gerichte erteilten Hinweise. In ihrer ansonsten gern in den Vordergrund gerückten Verantwortung für Sicherheitsbelange der Allgemeinheit wird die Vollzugsanstalt in dieser Situation eigenverantwortlich zu erwägen haben, ob sie auf Lockerungen verzichtet und eine aus ihrer Sicht nicht zu verantwortende Entlassung ohne Bewährung in Lockerungen mit all ihren möglichen Konsequenzen in Kauf nimmt oder stattdessen den Weg der Lockerungen beschreitet und damit den Gefangenen entweder auf seine - ihm von einem Gericht in Aussicht gestellte – Freiheit vorbereitet oder auch den Gerichten im Falle von Lockerungsversagen die Möglichkeit zu einem Widerruf ihrer Entscheidung gibt.
3. Umfassende Kontrolle im Verfahren nach GG 109 ff. StVollzG Das Problem verfassungswidrig verweigerter Lockerungen wird sich - über den Anwendungsbereich hinaus, der jetzt § 454a StPO nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeräumt ist - grundsätzlich nur lösen lassen, wenn man bereits im Verfahren nach § 109 StVollzG zu einer umfassenderen Kontrolle von Entscheidungen der Vollzugsanstalten gelangt. Die maßgebliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 198130 ist längst überholt. Sie kann nicht berücksichtigen, dass unter dem Blickwinkel des Freiheitsgrundrechts, das das Bundesverfassungsgericht erst später auch für Lockerungsentscheidungen als maßgeblich bezeichnet, eine weitgehend der Vollzugsanstalt überlassene und allein auf Ermessensmissbrauch überprüfbare Entscheidung nach altem Stil verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar ist. Dagegen könnte zwar sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht in der Folgezeit nahezu keine fachgerichtliche Entscheidung im Verfahren nach § 109 StVollzG verfassungsrechtlich beanstandet, vielmehr immer wieder den Spielraum der Justizvollzugsanstalten und die den Fachgerichten und auch dem Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen bei der Überprüfung deren Entscheidungen betont hat.31 Nimmt man allerdings den in der Entschei28
Andere Ansicht Heinrich NStZ 2010, 424, 427f. Dazu: BVerfG NJW 2009, 1941, 1943. 30 BGHSt 30, 324 ff. 31 Als Ausnahmen: BVerfG NStZ 1998, 430; StV 1998, 434 Vgl. im Übrigen: BVerfG NJW 1998, 1133; NStZ 2002, 222; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2003 – 2 BvR 24/03 – juris; Beschluss der 3. Kammer des 29
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dung des Bundesgerichtshofs nicht erwähnten Einfluss einer Lockerungsentscheidung auf die spätere Aussetzung einer Strafvollstreckung und damit - neben dem betroffenen, grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Resozialisierungsinteresse32 - das Freiheitsgrundrecht im Lockerungsverfahren ernsthaft in den Blick, muss sich das sowohl auf die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt als solche als auch auf ihre Überprüfbarkeit auswirken. Es bleibt zwar dabei, dass die Vollzugsanstalt mit ihrer Lockerungsentscheidung (auch) ihrer Aufgabe der Gestaltung des Vollzugsalltags nachkommt, sie schafft aber auch Grundlagen für eine später zu treffende Aussetzungsentscheidung. Damit erweitert sich der Zweck der ihr übertragenen Befugnisse, was sich auch im Rahmen der Kontrolle ihrer Entscheidung auswirken muss. Die Nähe der Anstalt zu dem Gefangenen vermittelt ihr, worauf der Bundesgerichtshof zutreffend hingewiesen hat, unmittelbare Eindrücke von dem Gefangenen, die sie im Rahmen ihrer Befugnisse in den Entscheidungsprozess weiter einbringen kann und soll. Mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht dürfen diese Eindrücke aber nicht als bloße subjektivierte Zweifel in die Lockerungsentscheidung eingebracht werden, sie müssen im Rahmen einer auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG richtig verstandenen Missbrauchs- und Fluchtgefahr (§ 11 Abs. 2 StVollzG)33 und unter Berücksichtigung des Gewichts der jeweils beantragten Lockerung34 hinreichend konkretisiert und objektiviert sein. Bloße Vermutungen, subjektive Einschätzungen und Zweifel allein können trotz eines anzuerkennenden Beurteilungsspielraums der Vollzugsanstalten eine Lockerungsversagung nicht rechtfertigen. Damit erhöht sich die Darlegungslast der Anstalt, die sich nicht allein auf ihre geäußerten Zweifel zurückziehen kann, sondern nachvollziehbar konkrete Anhaltspunkte darzulegen hat, aus denen auf das Vorliegen der Flucht- oder Missbrauchsgefahr geschlossen werden kann.35 Dass dabei – wie es der Bundesgerichtshof noch im Jahre 1981 für möglich gehalten hat36 – mehrere Entscheidungen vertretbar sein können, erscheint
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. September 2008 – 2 BvR 719/08 – juris. 32 Vgl. BVerfG NStZ 1998, 430. 33 Anders noch BGHSt 30, 324, 325: ermessensähnlich zu bestimmen. 34 So wie sich grundsätzlich der Maßstab bei einer Prognose nach §§ 57, 57a StGB und einer solchen nach § 11 Abs. 2 StVollzG im Hinblick auf die Konsequenz der zu treffenden Entscheidung unterscheidet, müssen auch die Begriffe der Missbrauchs- und Fluchtgefahr im Hinblick auf die jeweils im Raum stehende Lockerung durchaus differenziert verwandt werden. Für die Annahme einer Flucht- und Missbrauchsgefahr bei einem überwachten Ausgang bedarf es wesentlich konkreterer Anhaltspunkte als etwa bei der Frage des offenen Vollzugs. 35 BVerfG NJW 1998, 1133, 1134. 36 BGHSt 30, 324, 325.
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mit Blick auf die grundrechtsbezogen37 zu treffende Entscheidung fernliegend. Vielmehr wird es neben nicht zu beanstandender Versagung von Lockerungen – ähnlich wie es die Fachgerichte jetzt schon im Rahmen ihrer Prüfung nach §§ 57, 57a StGB angenommen haben – häufiger zu einer Reduzierung des Beurteilungsspielraums auf Null und damit zu einer Verpflichtung kommen, Lockerungen zu gewähren. Die Rationalisierung der Lockerungsentscheidung mit ihren sich auch auf den Maßstab auswirkenden Folgen muss auch für ihre Überprüfbarkeit im fach- und verfassungsgerichtlichen Verfahren Konsequenzen haben. Ohne dass an dieser Stelle ein umfassendes Rechtsschutzkonzept entwickelt werden kann, liegt es auf der Hand, dass schon die erwähnte Erweiterung des Zwecks bei den den Vollzugsanstalten übertragenen Befugnissen im Rahmen der Lockerungsgewährung zu einer höheren Kontrolldichte führen muss. Lockerungsversagungen etwa, die erst gar nicht in den Blick nehmen, dass durch sie auch die Grundlagen einer späteren Aussetzungsentscheidung berührt sind, können ebenso wenig Bestand haben wie solche, die ohne hinreichend konkrete und nachvollziehbare Darlegung vom Vorliegen einer Missbrauchs- und Fluchtgefahr ausgehen. Schließlich werden auch solche Entscheidungen zu beanstanden sein, die bei ihrer Gefahrenprognose, z. B. im Hinblick auf das Gewicht der beantragten Lockerung, einen zu strengen Maßstab, womöglich orientiert an sachverständigen Äußerungen zur Aussetzungsfrage nach §§ 57, 57a StGB, zugrunde legen.
37
Also im Sinne einer Auslegung, die die Wirkkraft eines Grundrechts am stärksten entfaltet: vgl. BVerfGE 51, 97 .
Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht CLAUS KREß
Einleitung Zurückhaltung und Bescheidenheit, so wie sie der von mir sehr verehrten Jubilarin eigen sind, werden Ruth Rissing-van Saan zögern lassen, sich als Völkerstrafrechtlerin zu bezeichnen. Doch es ist unbestreitbar, dass sie mit dem Völkerstrafrecht während ihrer langen und so erfolgreichen richterlichen Tätigkeit für vergleichsweise kurze Zeit intensiv in Berührung gekommen ist. Denn am 30. April 1999 bzw. am 21. Februar 2001 erließ der 3. Strafsenat, dem die Jubilarin seinerzeit angehörte, insgesamt drei Grundsatzentscheidungen zum Völkerstrafrecht1, und Rissing-van Saan war in sämtlichen Fällen Berichterstatterin. Tatsächlicher Hintergrund dieser Entscheidungen waren die fürchterlichen Kampagnen sogenannter „ethnischer Säuberungen”, die Milosevic, Karadzic et al. in den 1990er Jahren in Bosnien-Herzegowina zu Lasten der bosnischen Muslime orchestrierten. Strafrechtlich ergaben sich vor allem die beiden Fragen, ob die Mitwirkung an diesen Kampagnen als Völkermord einzustufen und ob die Anwendung von § 220a StGB a. F.2 auf die entsprechenden Auslandstaten von Ausländern gestützt auf § 6 Nr. 1 StGB a. F.3 völkerrechtskonform war.4 Um die Herausforderung anzudeuten, die diese Fragen darstellten, sei an die Rahmenbedingungen des Jahres 1999 erinnert. Rechtsprechung zum deutschen 1 BGHSt 45, 64; BGHSt 46, 292; BGH NJW 2001, 1848; auch letztere Entscheidung hätte die Aufnahme in die amtliche Sammlung verdient (s. unten in Fn. 70). 2 § 220a StGB a. F. ist mit Wirkung vom 30.6.2002 durch § 6 VStGB ersetzt worden; Claus Kreß in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch (MünchKomm), Band 6/2: Nebenstrafrecht III. Völkerstrafgesetzbuch, 2009, § 6 VStGB, Rn. 27. 3 6 Nr. 1 a.F. ist mit Wirkung vom 30.6.2002 in § 1 VStGB aufgegangen; MünchKommKreß § 6 VStGB, Rn. 112 f. 4 BGHSt 46, 292, 297 - 306 behandelt im Übrigen die schwierige Abgrenzung zwischen internationalem und nicht-internationalem bewaffneten Konflikt, die Auslegung des Begriffs der geschützten Person i.S.d. Art. 4 des IV. Genfer Übereinkommens zum Humanitären Völkerrecht und den konfliktsvölkerrechtlichen Begriff der Folter.
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Völkermordtatbestand gab es nicht. Tiefer in die Dogmatik eindringendes Schrifttum fehlte ebenso. Schließlich hatte die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (RStGH) zum (gleichlautenden) völkerrechtlichen Völkermordtatbestand zwar soeben eingesetzt.5 Doch stellten sich dem RStGH nicht diejenigen Rechtsfragen, auf die es zur Entscheidung der deutschen Fälle ankam. Über diese hatte der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) zu befinden. Indessen war dieser 1999 noch nicht bis zur Beantwortung dieser Fragen vorgedrungen. In dieser wenig geselligen Lage gelang es dem 3. Senat, einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, die Dogmatik des Völkermordtatbestands zu entfalten, und man wird annehmen dürfen, dass die Berichterstatterin hierbei eine mehr als nur randständige Rolle gespielt hat. Die Judikatur des 3. Senats hat international größte Beachtung gefunden und zu einem faszinierenden Dialog hoher Gerichte beigetragen, an dem neben dem BGH (in dieser Folge) das BVerfG, der JStGH, der (zwischenstaatliche) Internationale Gerichtshof (IGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beteiligt sein sollten. Inzwischen hat sich auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in die Debatte eingeschaltet. Mit dem folgenden Beitrag möchte ich die Jubilarin an ihre so folgenreiche Begegnung mit dem Völkerstrafrecht erinnern und dabei vier Aspekte „ihrer” Rechtsprechung im Licht der nachfolgenden Entwicklung ein wenig näher betrachten. Im Wissen um das intellektuelle Vergnügen der zu Ehrenden am argumentativen Ringen um die beste Lösung greife ich bewusst auch zwei Punkte auf, bei denen sich unsere Positionen bislang nicht decken.
1. Völkermord und Weltrechtspflege Die Völkerrechtskonformität der Weltrechtspflege6 deutscher Strafgerichte bei Völkermord nach § 6 Nr. 1 StGB a. F. war vor allem deshalb zweifelhaft, weil Art. VI der Völkermordkonvention vom 9. Dezember 19487 allein die Aburteilung durch ein Gericht des Tatortstaats oder durch einen internationalen Gerichtshof vorsieht. Der 3. Strafsenat lehnte es indessen zu Recht ab, in diese Bestimmung ein Verbot der Weltrechtspflege hineinzulesen.8 Zugleich wurde, so darf man den Senat wohl verstehen, eine entsprechende
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RStGH v. 2.9.1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR-96-4-T. Zur Dogmatik der Weltrechtspflege (Universalitätsprinzip; Universal Jurisdiction) im Einzelnen Claus Kreß Universal Jurisdiction over International Crimes and the Institut de Droit International, Journal of International Criminal Justice 4 (2006), 561. 7 Zu ihr MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 23. 8 BGHSt 45, 64, 65 - 68. 6
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Befugnis nach Völkergewohnheitsrecht angenommen.9 Hervorzuheben ist die Klarheit, mit der der Senat einen Grundgedanken dieser Befugnis bereits ganz zu Beginn der intensiven internationalen Diskussion über die Weltrechtspflege auf den Punkt gebracht hat: „Da die besonders schweren Fälle des Völkermords häufig durch den Heimatstaat der Opfer oder wenigstens mit dessen Duldung begangen werden, ist in der Regel eine effektive Strafverfolgung im Tatortstaat nicht zu erwarten.”10 Die Position des Senats ist nachfolgend vom BVerfG und vom EGMR gebilligt worden.11 Damit hat der Senat deutsche Staatenpraxis zu der vom IGH12 bislang unentschieden gelassenen, aber von der deutlich herrschenden Völkerrechtslehre13 bejahten Frage beigesteuert, ob die Völkerstraftat des Völkermords der Weltrechtspflege unterliegt. Allerdings hat der Senat die überkommene Einschränkung des Weltrechtspflegegrundsatzes durch das Erfordernis eines hinreichenden Inlandsbezugs auch im Hinblick auf den Völkermordtatbestand zunächst nicht in Frage gestellt.14 Dann aber verlieh der Senat in einem überzeugenden obiter dictum seiner „Neigung“ Ausdruck, „jedenfalls bei § 6 Nr. 9 StGB (.) solche zusätzlichen Anknüpfungspunkte für nicht erforderlich zu halten“.15 Durch den Zusatz „jedenfalls“ hat der Senat auch im Hinblick auf § 6 Nr. 1 StGB die Bereitschaft in Aussicht gestellt, über einen Rechtsprechungswandel nachzudenken und so das seinerzeitige janusköpfige Bild der deutschen Staatspraxis16 zum Weltrechtspflegeprinzip zu korrigieren. Hierzu wäre es aller Voraussicht nach bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auch gekommen. Doch machte 9
BGHSt 45, 64, 68 unter I. a) cc), wo dem Völkermordtatbestand “internationaler Charakter kraft Völkergewohnheitsrechts” bescheinigt wird. Zu der vom Senat nachvollziehbarerweise nicht vertieften Methode der Herleitung dieser Befugnis näher Kreß (Fn. 6) 569 - 579. 10 BGHSt 45, 64, 67. 11 BVerfG NJW 2001, 1848, 1852 f.; EGMR v. 12.10.2007, Jorgic v. Germany, Application no. 74613/01, Ziff. 67 - 70. 12 Hierzu im Einzelnen Claus Kreß Völkerstrafrecht und Weltrechtspflegeprinzip im Blickfeld des Internationalen Gerichtshofs, ZStW 114 (2002), 818. 13 S. hierzu stellvertretend für viele individuelle Stellungnahmen die Entschließung des ehrwürdigen Institut de Droit International von 2005 “Universal Criminal Jurisdiction with regard to the Crime of Genocide, Crimes against Humanity and War Crimes”, http://www.idiiil.org/idiE/resolutionsE/2005_kra_03_en.pdf (zuletzt besucht am 26. 8. 2010), Ziff. 3 a). 14 BGHSt 45, 64, 68 f. 15 BGHSt 46, 292, 306 f. 16 Hiervon hatte ich in “Völkerstrafrecht in Deutschland”, NStZ 2000, 625 (Fn. 97), im Hinblick darauf gesprochen, dass sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen zum IStGHStatut konsequent für den Weltrechtspflegegrundsatz im Völkerstrafrecht ausgesprochen hatte; s. Hans-Peter Kaul/Claus Kreß Jurisdiction and Cooperation in the Rome Statute of the International Criminal Court: Principles and Compromises, Yearbook of International Humanitarian Law 2 (1999), 145 ff.
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der Gesetzgeber eine solche Entscheidung mit Wirkung vom 30.6.2002 entbehrlich, indem er dem Erfordernis eines hinreichenden Inlandsbezugs in § 1 VStGB eine Absage erteilte. Dabei hat der Gesetzgeber nicht übersehen, dass bei der vorherigen Zurückhaltung der Rechtsprechung auch vernünftige pragmatische Erwägungen eine Rolle spielten. Diesen Erwägungen soll seit dem 30.6.2002 in differenzierterer Form durch die prozedurale Flankierung des Weltrechtspflegegrundsatzes in § 153 f StPO Rechnung getragen werden. Mit der anspruchsvollen Aufgabe der Konkretisierung letzterer Norm ist seither der Generalbundsanwalt befasst.17
2. Strukturfragen des Völkermordtatbestands Die Darlegungen des 3. Senats in dem ersten seiner drei Urteile zum Völkermordtatbestand beginnen ungewöhnlich. Denn es finden sich Feststellungen zum „geschichtlichen und politischen Hintergrund der dem Angeklagten zur Last gelegten Straftaten”.18 Damit lässt bereits der Duktus der Gründe ein waches Gespür für die völkerstrafrechtliche Dimension des Geschehens erkennen. In Rede stand, so wie es beim Völkermord typischerweise und bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit notwendigerweise der Fall ist, die individuelle Mitwirkung an einem „Gesamtunrechtsgeschehen“. Bei dieser Erkenntnis blieb der Senat freilich nicht stehen. Vielmehr machte er einen ersten beherzten Schritt zur Klärung der besonderen Struktur des Völkermordtatbestands. Zu Recht stellte der Senat fest: „Damit liegt das Wesentliche des Verbrechens des Völkermordes (…) weniger in den einzelnen Verletzungshandlungen, denn in der die völkerrechtliche Wertordnung missachtenden Absicht des Täters, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. (…) Eine solche Absicht verbindet (…) die zur Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Absicht begangenen Handlungen zu einer Tat im Rechtssinne. Hinzu kommt hier im objektiven Bereich, dass die Zerstörung einer Gruppe typischerweise ein durch wiederholte Einzelakte begangenes Verbrechen darstellt (…), dem ein gewisses Dauer- und Wiederholungselement aufgrund der tatbestandlichen Unrechtsumschreibung zu eigen ist.“19 Ausgehend von diesen Einsichten verwandte der Senat große Mühe darauf, die bei Völkermord besonders verwickelten Konkurrenzfragen einer 17 Hierzu Claus Kreß Nationale Umsetzung des Völkerstrafgesetzbuches. Öffentliche Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages Kurzstellungnahme, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2007, 515. 18 BGHSt 45, 64, 73. 19 BGHSt 45, 64, 86.
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stimmigen Lösung zuzuführen.20 Dass ihm das - insbesondere unter Verwendung der Figur der tatbestandlichen Handlungseinheit - gelungen ist21, wird in Anbetracht der souveränen Meisterschaft der Berichterstatterin gerade auch im Bereich der so diffizilen strafrechtlichen Konkurrenzlehre niemanden verwundern. Hervorzuheben ist jedoch, dass der Senat auch bereits die Möglichkeit „überdimensionierter oder zeitlich uferloser Handlungseinheiten“ klar erkannt hat22, die bei Hintermännern vom Schlage eines Milosevic in voller Schärfe praktisch wird. Die sich dann stellenden Konkurrenzprobleme, vor allem aber auch die hier auftretenden strafprozessualen Fragen bedürfen unverändert gründlicher Reflexion.23 Während der Senat vor allem darum bemüht war, eine Mehrzahl von Mitwirkungsakten derselben Person dogmatisch zu erfassen, ist in der Folgezeit verstärkt über das beim Völkermord typische systemische Zusammenwirken einer Vielzahl von Personen diskutiert worden. Dabei ist im Ausgangspunkt bemerkenswert, dass der Völkermordtatbestand - anders als der in Art. 7 IStGH-Statut kodifizierte Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit - äußerlich nicht ohne weiteres erkennen lässt, dass er auf die Erfassung typischerweise systemischen Unrechts zielt. Ein bedeutsamer Versuch, diese Stoßrichtung klarzustellen, findet sich inzwischen in den Verbrechenselementen24 zum Völkermordtatbestand des IStGH-Statuts. Das dortige jeweils gleichlautende letzte Element ergänzt die fünf Tatmodalitäten wie folgt: „The conduct took place in the context of a manifest pattern of similar conduct directed against that group or was conduct that could itself effect such destruction“. Dieses „Kontextelement“ ist rasch zum Gegenstand des Streits geworden. Die Rechtsmittelkammer des JStGH vertritt - leider recht apodiktisch - die Auffassung, es handele sich nicht um eine Klarstellung des Tatbestands, sondern um dessen Einschränkung.25 Die zur Entscheidung im Fall Bashir berufene Vorverfahrenskammer des IStGH ist mehrheitlich - und erfreulicherweise mit Begründung - anderer Ansicht.26 Dieser Position, die mit der Regelungsvorstellung der Verfasser des Kontextelements im Einklang 20
BGHSt 45, 64, 85-91. MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 108. 22 BGHSt 45, 64, 88. 23 Für lediglich vorsichtige Andeutungen zur Rechtskraftproblematik s. MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 109. 24 ICC-ASP/1/3; s. hierzu im Allgemeinen Art. 9 IStGH-Statut und MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 24. 25 JStGH v. 19.4.2004, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-A, Ziff. 223 f. 26 IStGH v. 4.3.2009, Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Oman Hassan Ahmad Al Bashir, ICC-02/05-01/09, Ziff. 124, 133. 21
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steht27 und die es erlaubt, den Völkermordtatbestand seiner Entwicklungsgeschichte entsprechend als besondere Ausprägung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit28 zu konzipieren, gebührt der Vorzug. Dabei sollte das Kontextelement freilich nicht als ungeschriebenes Merkmal des objektiven Tatbestands verstanden werden, so wie die Verbrechenselemente es nahelegen, und so wie es in der Folge wohl auch der Vorverfahrenskammer des IStGH im Fall Bashir vorschwebt. Stattdessen ist im subjektiven Tatbestand des Völkermords eine realistische Zerstörungsabsicht zu fordern. Eine solche Auslegung des Absichtsmerkmals führt zwanglos zu der Erkenntnis, dass der Täter - von eher theoretischen Ausnahmefällen29 abgesehen - wissen muss, dass sein Handeln, die Einzeltat, in einen kollektiven Aktionszusammenhang, die völkermörderische Gesamttat, eingebettet ist.30
3. Der Begriff der Zerstörung im objektiven und subjektiven Tatbestand des Völkermords Die Frage, ob die vor dem BGH zu verhandelnden Formen der Mitwirkung an der „ethnischen Säuberung“ von Teilen Bosnien-Herzegowinas dem Völkermordtatbestand zu subsumieren waren, hing entscheidend von der Auslegung des Zerstörungsbegriffs ab, der an zwei Stellen des Tatbestands anzutreffen ist. Zunächst war zu entscheiden, ob die Angeklagten den objektiven Tatbestand dadurch verwirklicht hatten, dass sie die Gruppe unter Lebensbedingungen gestellt hatten, die geeignet waren, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. Darüber hinaus war im Rahmen des subjektiven Tatbestands zu prüfen, ob die Angeklagten in der Absicht gehandelt hatten, die Gruppe der bosnischen Muslime31 als solche teilweise zu zerstören. Insbesondere zu letzterem Punkt entwickelte sich ein 27
Valerie Oosterveld The Context of Genocide, in: Roy Lee (Hrsg.) The International Criminal Court: Elements of Crimes and Rules of Procedure and Evidence, 2001, S. 45. 28 Hierzu treffend BGHSt 45, 64, 80. 29 Für diese hat William Schabas die passende Formulierung “little more than a sophomoric hypothese d’ecole and a distraction for judicial institutions” gefunden; in “Darfur and the ‘Odious Scorge’: The Commission of Inquiry’s Findings on Genocide”, Leiden Journal of International Law 18 (2005), 877. 30 MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 13, 78.; vertiefend ders. in “The Crime of Genocide and Contextual Elements”, Journal of International Criminal Justice 7 (2009), 297. 31 Die Einordnung der bosnischen Muslime als vom Völkermordtatbestand geschützte Gruppe ist unumstritten; der BGH hat deshalb verständlicherweise auf vertiefte Darlegungen etwa zu der Frage, ob und ggf. wie zwischen nationalen und ethnischen Gruppen zu unterscheiden ist (dazu MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 36 - 40 m. w. Nachw.), verzichtet; stattdessen wird in BGHSt 45, 64, 80 schlicht von der “durch Religion und Volkstum bestimmten Gruppe der Muslime in Nordbosnien” gesprochen; ganz richtig dürfte sein, die Muslime in ganz Bosnien-Herzegowina als die maßgebliche Gruppe anzusehen.
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inhaltlich nicht spannungsfreier und gerade deshalb ungemein spannender Dialog zwischen BGH und JStGH. Die Position des 3. Senats zum Zerstörungsbegriff im objektiven Tatbestand ist in einem wichtigen Punkt nicht ganz eindeutig. In der ersten Grundsatzentscheidung gewinnt man zunächst den Eindruck, dass die Mitwirkung bei systematischer Vertreibung einer Gruppe die dritte Tatbestandsvariante für sich genommen erfüllen kann.32 Allerdings stellt der Senat kurze Zeit später folgendes fest: „Das Tatbestandsmerkmal der Lebensbedingungen, die geeignet sind, die körperliche Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen, wird allerdings durch die insgesamt vom Angeklagten oder unter seiner Beteiligung begangenen Zerstörungen der Häuser und Dörfer in der Region Doboj, die Vertreibung und Inhaftierung der muslimischen Bewohner und die an ihnen bei diesen Gelegenheiten begangenen Misshandlungen und Körperverletzungen erfüllt. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen ist geeignet, die körperliche Existenz der Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, weil ihr das Lebensnotwendigste durch unmenschliche Lebensbedingungen - etwa in Gefangenenlagern - genommen und ihr die Lebensgrundlage durch Zerstörung der Häuser, durch Einbehalt von Hab und Gut und durch systematische Vertreibung entzogen wurde (…)“.33 In einer der beiden nachfolgenden Entscheidungen wird etwas kurioserweise die erste der beiden Passagen durch Zitat in Bezug genommen, jedoch gleichzeitig allein im Einklang mit der zweiten festgestellt, dass „die bloße Vertreibung der Muslime aus ihren Häusern und ihrem Heimatort für sich genommen noch keine (…) Völkermordhandlung darstell(en)“ und dass die Voraussetzungen der dritten Tatbestandsvariante in concreto „erst durch die Gesamtheit der gegen die muslimische Bevölkerung gerichteten Terror- und Vernichtungsmaßnahmen erreicht“ worden seien.34 Man wird den 3. Senat trotz dieser Unklarheit in der Formulierung dahin verstehen müssen, dass er in der systematischen Vertreibung für sich genommen keinen Fall der dritten Völkermordvariante sieht. Ob er stattdessen verlangt, dass mindestens einem Teil der betroffenen Gruppe solche Lebensbedingungen auferlegt worden sind, die geeignet sind, den Tod oder die schwere körperliche oder seelische Schädigung derjenigen Menschen herbeizuführen, die diesen Gruppenteil ausmachen, bleibt indessen Zweifeln unterworfen. Denn zum einen stellt er den Eintritt eines solchen Zustandes in der oben wörtlich 32
BGHSt 45, 64, 82; wie im Text die Lesart dieser Passage von Kai Ambos/Steffen Wirth Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Horst Fischer/Claus Kreß/Sascha R. Lüder (Hrsg.) International and National Prosecution of Crimes under International Law: Recent Developments, 2001, S. 787. 33 BGHSt 45, 64, 85. 34 BGH NJW 2001, 2732, 2733 (mit Zitat von “BGHSt 45, 64 (81 f.)”).
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zitierten Passage nicht unmissverständlich fest. Zum anderen hätte es bei einer solchen Feststellung nicht der folgenden weiten Auslegung des Zerstörungsbegriffs im subjektiven Tatbestand bedurft: „Entgegen dem vom Begriff des Völkermordes vorgespiegelten Sinngehalt setzt der Tatbestand des § 220 a StGB nicht zwingend voraus, dass der Täter die körperliche Vernichtung, die physische Zerstörung der Gruppe anstrebt. Es reicht aus, dass er handelt, um die Gruppe in ihrer sozialen Existenz (‘als solche’), als soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl zu zerstören.“35 Auf der Grundlage dieser Auslegung hat der 3. Senat den Völkermordtatbestand in vergleichsweise weitem Umfang auf Formen der Mitwirkung an den brutalen „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina zur Anwendung bringen können. Die nachfolgende internationale Rechtsprechung hat sich mit dieser Judikatur intensiv auseinandergesetzt und ist inzwischen wohl im Begriff, insgesamt zu einem engeren Verständnis des Völkermordtatbestands zu finden. Dementsprechend sind die Massenverbrechen zu Lasten der bosnischen Muslime von der internationalen Rechtsprechung nur insoweit als völkermörderisch eingestuft worden, als sie im Juli 1995 nach dem Angriff auf die „Schutzzone“ Srebrenica in besonders abscheulicher Form kulminierten.36 Die internationale Judikatur geht inzwischen - soweit ersichtlich - übereinstimmend davon aus, dass die dritte Variante des objektiven Völkermordtatbestands nicht bereits dann erfüllt ist, wenn die Auflösung der Gruppe droht, sondern dass jedenfalls für einen Teil37 der Mitglieder der Gruppe die Gefahr der physischen Zerstörung38 heraufbeschworen werden muss. Hiernach unterfällt die Mitwirkung an einer Vertreibungskampagne dem objektiven Völkermordtatbestand für sich genommen selbst dann nicht, wenn in der Folge die Auflösung der Gruppe als soziale Einheit zu befürchten ist. Der JStGH steht seit dem Fall Stakic auf diesem Standpunkt39 und der IGH hat sich diese Position in seinem Völkermordurteil im Streitfall zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien/Montenegro zu eigen ge35
BGHSt 45, 64, 81. Im Übrigen ordnet die internationale Rechtsprechung die Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Die Anwendung dieses Tatbestands stand dem 3. Senat seinerzeit noch nicht zu Gebote. 37 Zu der für den Anwendungsbereich des Völkermordtatbestands sehr bedeutsamen Frage, was unter einem Teil einer geschützten Gruppe zu verstehen ist, MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 73 - 77 (m. w. Nachw.). 38 Unter “physischer Zerstörung” kann man entweder allein den Tod der betroffenen Menschen oder auch noch deren schwere körperliche oder seelische Schädigung verstehen; ich habe mich in MünchKomm § 6 VStGB, Rn. 55, für Letzteres ausgesprochen. 39 JStGH v. 31.7.2003, Prosecutor v. Stakic, IT-97-24-T, Ziff. 519; bestätigt in JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 33. 36
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macht40. Diese Rechtsprechung ist im Hinblick auf den Zusatz „körperlich“ aus systematischen Gründen und im Hinblick auf die bewusste Entscheidung, den kulturellen Völkermord auszuklammern, auch aus entstehungsgeschichtlichen Gründen richtig.41 Deshalb ist es ein wenig bedauerlich, dass eine Fußnote zu den Verbrechenselementen wieder für etwas Unsicherheit gesorgt hat, indem sie „systematic expulsion from homes“ als mögliches Anwendungsbeispiel der dritten Völkermordvariante nennt.42 Die Auseinandersetzung der internationalen Rechtsprechung mit dem „sozialen Zerstörungsbegriff“ des BGH im Rahmen des subjektiven Völkermordtatbestands begann im ersten großen Völkermordurteil des JStGH im Fall Krstic. Hierin setzte die Hauptverhandlungskammer der deutschen Judikatur den folgenden „physisch-biologischen Zerstörungsbegriff“ entgegen: „The Trial Chamber is aware that it must interpret the Convention with due regard for the principle of nullum crimen sine lege. It therefore recognises that, despite recent developments, customary international law limits the definition of genocide to those acts seeking the physical or biological destruction of all or part of the group. Hence, an enterprise attacking only the cultural or sociological characteristics of a human group in order to annihilate these elements which give to that group its own identity distinct from the rest of the community would not fall under the definition of genocide. (Hervorh. im Original)“43 Zwar bestätigte die Rechtsmittelkammer diese Auslegung44, doch Richter Shahabuddeen argumentierte in seiner abweichenden Meinung ganz auf der Linie des BGH:
40 IGH v. 26.2.2007, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Hercegovina v. Serbia and Montenegro), http://www.icj-cij.org/docket/files/91/13685.pdf, Ziff. 190. 41 Ich hatte mich deshalb bereits in der 1. Auflage meiner Erläuterung des Völkermordtatbestands im MünchKomm für diese enge Auslegung ausgesprochen; diese Stellungnahme hatte die Hauptverfahrenskammer in der ersten Stakic-Entscheidung (Fn. 39) rezipiert. 42 Fn. 24, dort Fn. 4 zu den Verbrechenselementen zu “Article 6 (c)”. Die Verbrechenselemente zu dieser Tatbestandsvariante sind im Übrigen insoweit unglücklich gefasst, als sie den Eindruck erwecken, es reiche zur Tatbestandserfüllung aus, dass ein einzelner Täter einem einzelnen Opfer zerstörungsgeeignete Lebensbedingungen auferlegt. Das entspricht nicht der besonderen Struktur dieser Tatbestandsvariante, die - anders als die vier übrigen - eine Betroffenheit der (Teil-)Gruppe voraussetzt und damit das systemische Element bereits auf der Ebene des objektiven Tatbestands thematisiert; das wird in BGHSt 45, 64, 85 präzise herausgearbeitet. In diesem Punkt sind die Verbrechenselemente wegen ihres Widerspruchs zum Text des IStGH-Statuts unberücksichtigt zu lassen. 43 JStGH v. 2.8.2001, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-T, Ziff. 580. 44 JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 25.
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„It is the group which is protected. A group is constituted by characteristics - often intangible - binding together a collection of people as a social unit. If those characteristics have been destroyed in pursuance of the intent with which a listed act of a physical or biological nature was done, it is not convincing to say that the destruction, though effectively obliterating the group, is not genocide because the obliteration was not physical or biological.“45 Die Rechtsmittelkammer im Fall Blagojevic und Jokic zeigte sich von diesem Dissent unbeeindruckt und zurrte den im Fall Krstic eingeschlagenen Kurs fest.46 Die Anklage des sudanesischen Staatsoberhaupts Bashir wegen Völkermords zu Lasten dreier ethnischer Gruppen in der Region Darfur gab inzwischen auch einer Vorverfahrenskammer des IStGH die Gelegenheit zu einer Stellungnahme zum Zerstörungsbegriff des subjektiven Völkermordtatbestands. Die Kammer folgte mehrheitlich der internationalen Rechtsprechungslinie seit Krstic, wenn auch die Präzision der Formulierung zu wünschen übrig lässt.47 Demgegenüber plädierte Richterin Usacka unter Berufung auf die Stellungnahme von Richter Shahabuddeen dafür, die Rechtsfrage im Vorverfahren offen zu halten, um der Hauptverhandlungskammer eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Streit um den Zerstörungsbegriff zu ermöglichen.48 Damit hat der IStGH sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Doch ist es wenig wahrscheinlich, dass er sich dem sozialen Zerstörungsbegriff öffnen wird. Zwar hat der IStGH in seiner frühen Rechtsprechung eine begrüßenswerte Bereitschaft gezeigt, Positionen kritisch zu überprüfen, die internationale oder hybride Strafgerichtshöfe bezogen haben, doch kommt in dieser Streitfrage der Umstand hinzu, dass sich zwischenzeitlich auch der IGH auf den - auch die zwischenstaatliche Dimension des Völkermordverbots wesentlich prägenden - physisch-biologischen Zerstörungsbegriff festgelegt hat. Denn im Völkermordurteil des IGH heißt es zusammenfassend, wenn auch ein wenig zwischen der objektiven und subjektiven Tatbestandsebene oszillierend: „The term ‘ethnic cleansing’ has frequently been employed to refer to the events in Bosnia and Hercegovina which are the subject of this case (…). It 45 JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Partial dissenting opinion of Judge Shahabuddeen, Ziff. 48; auf derselben Linie - obiter - JStGH v. 27.9.2006, Prosecutor v. Krajisnik, IT-00-39-T, Ziff. 854 (mit Fn. 1701), allerdings ohne den Widerspruch zu Krstic deutlich zu machen. 46 JStGH v. 9.5.2007, Prosecutor v. Blagojevic/Jokic, IT-02-60-A, Ziff. 123. 47 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Ziff. 140 -146; 162 - 201; da die Formulierungen in abstracto (Ziff. 140 - 146) die gebotene Trennschärfe vermissen lassen, wird der restriktive Maßstab der Mehrheit am verlässlichsten bei der Subsumtion in concreto deutlich, s. insbes. Ziff. 194, 196 f. 48 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Separate and Partly Dissenting Opinion, Ziff. 62.
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(ethnic cleansing) can only be a form of genocide within the meaning of the Convention, if it corresponds to or falls within one of the categories of acts prohibited by Article II of the Convention. Neither the intent, as a matter of policy, to render an area „ethnically homogeneous, nor the operations that may be carried out to implement such policy, can as such be designated as genocide: the intent that characterizes genocide is „to destroy in whole or in part” a particular group, and deportation and displacement of the members of the group, even if effected by force, is not necessarily equivalent to destruction of that group, nor is such destruction an automatic consequence of the displacement. This is not to say that acts described as ‘ethnic cleansing’ may never constitute genocide, if they are such as to be characterized as, for example, deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part’, contrary to Article II (c), of the Convention, provided such action is carried out with the necessary specific intent (dolus specialis), that is to say with a view to the destruction of the group, as distinct from its removal from the region. As the ICTY has observed, while ‘there are obvious similarities between a genocidal policy and the policy commonly known as ‘ethnic cleansing’ (…), yet (a) clear distinction must be drawn between physical destruction and mere dissolution of a group.“49 Dass die Vorverfahrenskammer des IStGH im Fall Bashir mehrheitlich gerade diese Passage in Bezug nimmt50, überrascht nicht. Die internationale Rechtsprechung ist also im Begriff, sich einheitlich auf den physischbiologischen Zerstörungsbegriff einzupendeln.51 Dennoch behalten die Gründe ihr Gewicht, die der 3. Senat des BGH für den - mit dem Wortlaut ohne weiteres zu vereinbarenden - sozialen Zerstörungsbegriff formuliert hat, und die auf der internationalen Ebene zuletzt im kraftvollen Dissent Richter Shahabuddeens nachhallten. Denn - so die zentrale Erwägung - wenn der Völkermordtatbestand dazu beitragen soll, der Weltzivilisation eine Vielfalt von Gruppen zu erhalten52, so ist es eigentlich 49 IGH v. 26.2.2007 (Fn. 40), Ziff. 190; hierzu näher Claus Kreß, The International Court of Justice and the Elements of the Crime of Genocide, European Journal of International Law 18 (20007), 625-627. 50 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Ziff. 144. 51 Das sollte für die deutsche Rechtsprechung bereits für sich genommen ein Grund sein, das bisherige Bekenntnis zum sozialen Zerstörungsbegriff zu überdenken; doch kommt es auf die von Gerhard Werle Die deutsche Rechtsprechung zur Zerstörungsabsicht beim Völkermord und die Europäische Menschenrechtskonvention, FS Küper, 2007, S. 690, in diesem Zusammenhang gestellte Frage, ab wann sich ein Gebot zur “völkerstrafrechtspraxiskongruenten” Auslegung ergibt, aus den nachfolgend im Text genannten Gründen nicht an. 52 S. die klassische Formulierung in der Entschließung 96 (I) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, wonach der Völkermord die Gefahr von “great losses to humanity in the form of cultural and other contributions” heraufbeschwöre; UN Doc. A/96 (I), 11.12.1946.
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konsequent, im subjektiven Tatbestand auf die Absicht der Zerstörung der Gruppe qua Gruppe abzustellen.53 Deshalb haben BVerfG54 und EMRK55 auch zu Recht entschieden, dass die Judikatur des BGH mit dem Gesetzlichkeitsprinzip vereinbar ist56; das anderslautende Begründungselement in Krstic57 geht fehl. Auch im Übrigen ist die Begründung, die der JStGH für den physischbiologischen Zerstörungsbegriff angeführt hat, nicht besonders eindrucksvoll.58 Dennoch halte ich diesen Zerstörungsbegriff - entgegen der in Deutschland wohl h. L.59 - für vorzugswürdig. Dem liegt im Kern60 die Einschätzung zugrunde, dass die Strafbarkeit wegen Völkermords nach Binnensystematik und Entstehungsgeschichte auf die Mitwirkung an einem Gesamtgeschehen beschränkt bleiben sollte, dass zumindest einer der fünf im objektiven Tatbestand abschließend aufgeführten Angriffsmodalitäten zugeordnet werden kann. Es erschiene mir deshalb nicht richtig, die Tötung eines Gruppenmitglieds bereits dann als Völkermord zu bewerten, wenn sie in der (zutreffenden) Vorstellung durchgeführt wird, hiermit einen Beitrag zu einem Gesamtgeschehen zu leisten, das sich im Übrigen in der Form des sogenannten kulturellen Völkermords61 vollzieht. Eine solche Bewertung läge indessen nahe, wenn man den sozialen Zerstörungsbegriff zugrunde legte. Vielleicht lässt sich die Kritik am sozialen Zerstörungsbegriff auch in das folgende Kompliment kleiden: Der 3. Senat und die h. L. in Deutschland legen den Völkermordtatbestand „sinnvoller“ aus, als die Schöpfer der Völkermordkonvention es 1948 mit ihrer - sicher auch wenig hehren politischen Rücksichten geschuldeten - Fixierung auf einen Numerus Clausus von Angriffsmodalitäten zulassen wollten.
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Darauf weist Gerhard Werle (Fn. 51), S. 684, zutreffend hin. BVerfG NJW 2001, 1848, 1850 f. 55 EGMR v. 12.10.2007 (Fn. 11), Ziff. 89 ff., insbes. Ziff. 105 - 108. Die spannendste Frage hat der EGMR in seinem ansonsten sehr sorgfältigen Urteil allerdings nicht gestellt: Folgt aus dem Gebot der völkerrechtskonformen Zuständigkeit des Gerichts nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (hierzu EGMR ebda., Ziff. 66) speziell im Fall der Weltrechtspflege vielleicht das Gebot zur völkerrechtlich richtigen - statt lediglich vertretbaren (so EGMR ebda., Ziff. 66) - Auslegung des jeweiligen Völkerstraftatbestands? Aber auch hiergegen spricht die kompetentielle Überlegung, dass sich der EGMR dann bei einem Auslegungsdissens zwischen “Fach”gerichten zur “letzten Instanz” erheben müsste. 56 Auch insoweit richtig Werle (Fn. 51), S. 687, der die Bundesregierung in diesem Verfahren beraten hat. 57 S. das Zitat oben bei Fn. 43. 58 Nochmals zutreffend Werle (Fn. 51), S. 686 f. 59 S. die Nachw. bei Werle (Fn. 51), S. 684 (Fn. 35) 60 Etwas ausführlicher MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 72. 61 Hierzu näher MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 22. 54
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Nicht verschwiegen sei schließlich, wie schwierig es ist, auf der Grundlage des physisch-biologischen Zerstörungsbegriffs selbst „Srebrenica“ als Völkermord einzustufen. Denn die bosnischen Muslime, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs auf Srebrenica ebendort aufhielten - und diese machen den vom JStGH als Bezugspunkt der Zerstörungsabsicht identifizierten Teil der Gruppe der bosnischen Muslime aus62 - sollten nicht sämtlich physisch zerstört werden. Vielmehr sollten „nur” die Männer im wehrfähigen Alter63 getötet werden; den Rest der Teilgruppe wollte man - unter denkbar schrecklichen Begleitumständen - vertreiben. Die Zerstörungsabsicht wurde von den Kammern in Krstic vor allem mit der Feststellung begründet, die Maßnahmen würden zusammengenommen „inevitably result in the physical disappearance of the Bosnian Muslim population at Srebrenica“.64 Diese Begründung geht indessen trotz des Zusatzes „physical“ genau genommen nicht über die Beschreibung des Vertreibungserfolgs hinaus, der dem physisch-biologischen Zerstörungsbegriff zufolge als Bezugspunkt der völkermörderischen Zerstörungsabsicht nicht genügt.65 Allerdings bemerkt die Rechtsmittelkammer in Krstic auch, dass „die physical destruction of the men (…) had severe procreative implications for the Sebrenica Muslim community, potentially consigning the community to extinction.“66 Dieser Passus weist in die Richtung einer Absicht zur „biologischen“ Zerstörung der maßgeblichen Teilgruppe, bleibt jedoch im Kontext der Gesamtbegründung vor allem deshalb unterbelichtet, weil auf der Ebene des objektiven Tatbestands ein Fall der „biologischen“ vierten Tatmodalität nicht festgestellt worden war. Einen bemerkenswerten weiteren Schritt in die Richtung der Feststellung eines auf „biologische“ Zerstörung gerichteten Gesamtplans machte kurze Zeit später die Hauptverhandlungskammer im Fall Prosecutor v. Blagojevic/Jokic: „The Trial Chamber finds that the physical or biological destruction of the group is the likely outcome of a forcible transfer of the population when this transfer is conducted in such a way that the group can no longer reconstitute itself - particularly when it involves the separation of its members. In such 62
JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 15. Tatsächlich schlossen die Massentötungen auch Jungen und ältere Männer ein; JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 27. 64 JStGH v. 2.8.2001 (Fn. 43), Ziff. 595; bestätigt in JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 28; s. auch die Feststellung, dass “(t)he transfer completed the removal of all Bosnian Muslims from Srebrenica, thereby eliminating even the residual possibility that the Muslim community in the are could reconstitute itself; JStGH v. 2.8.2001 (Fn. 43), Ziff. 595; bestätigt in JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 31. 65 Dies wird in JStGH v. 17.1.2005, Prosecutor v. Blagojevic/Jokic, IT-02-60-T, Ziff. 661, zu Recht (implizit) kritisiert. 66 JStGH v. 19.4.2004 (Fn. 25), Ziff. 28. 63
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cases the Trial Chamber finds that the forcible transfer of individuals could lead to the material destruction of the group, since the group ceases to exist as a group, or at least as the group it was. The Chamber emphasises that its reasoning and conclusion are not an argument for the recognition of cultural genocide, but rather an attempt to clarify the meaning of physical or biological destruction.“67 In dem Urteil vom 10. Juni 2010, mit dem das „Srebrenica“- Großverfahren Prosecutor v. Popovic et al. erstinstanzlich zum Abschluss gekommen ist, hat die Hauptverhandlungskammer den nach alldem naheliegenden Schluss gezogen, dass die Angeklagten mit der Absicht zu „biologischer” Zerstörung gehandelt haben.68 Damit ist das Ringen des JStGH um die zutreffende Bewertung der schrecklichen Ereignisse in Bosnien-Herzegowina unter dem Gesichtspunkt des Völkermords wohl zu einem im Wesentlichen vernünftigen69 Schlusspunkt gelangt.
4. Absicht i.S.d. Völkermordtatbestands Der 3. Senat versteht den Begriff der Absicht im Völkermordtatbestand eng: „Diese den Tatbestand des Völkermords erst begründende Absicht setzt voraus, dass es dem Täter im Sinne des zielgerichteten Wollens auf die Zerstörung der (…) geschützten Gruppe ankommt.“70 Hiervon ausgehend sind diejenigen, die mindestens ein Gruppenmitglied töten oder schwer verletzen, ohne dabei die Zerstörung der betreffenden (Teil-)Gruppe zu erstreben, auch dann lediglich Völkermordgehilfen, wenn sie ihre jeweilige(n) Tat(en) im Wissen darum durchführen, damit einen Beitrag zu einer Gesamttat zu leisten, die nach Lage der Dinge zur Zerstö67
JStGH v. 17.1.2005, Prosecutor v. Blagojevic/Jokic, IT-02-60-T, Ziff. 666; die Begründung liest sich im Ganzen deshalb ein wenig verwirrend, weil zugleich (ebenda. Ziff. 659 f., 664 f.) Stellungnahmen zum sozialen Zerstörungsbegriff (darunter die Judikatur des BGH) zustimmend zitiert werden. 68 JStGH v. 10.6.2010, Prosecutor v. Popovic et al., IT-05-88-T, Ziff. 866; ich hatte das in “The Crime of Genocide under International Law”, International Criminal Law Review 6 (2006), 492, vorgeschlagen. 69 Nicht recht einsichtig bleibt allein, warum das Gesamtgeschehen von Srebrenica nicht auch in objektiver Hinsicht der “biologischen” Angriffsmodalität zugeordnet worden ist; die insoweit ablehnende Position in IGH v. 26.2.2007 (Fn. 40), Ziff. 355 deutet auf ein Missverständnis hin; dazu Kreß (Fn. 49), 624 f.; in der Entscheidung des JStGH v. 10.6.2010 liegt der Grund dafür, dass ein solcher Fall nicht angenommen worden ist, möglicherweise nur daran, dass es die Anklage versäumt hat, insoweit auf das Zusammenwirken von Massentötung und Massenvertreibung abzustellen; ibid. Ziff. 854 i.V.m. 849. 70 BGH NJW 2732, 2733; allein dieser Feststellung wegen hätte auch diese Entscheidung den Abdruck in der amtlichen Sammlung verdient.
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rung der (Teil-)Gruppe führen kann.71 Dieser Absichtsbegriff steht im Einklang mit der internationalen Rechtsprechung seit der ersten großen Völkermordentscheidung des RStGH im Fall Akayesu. Die etwas holprig formulierte maßgebliche Passage dieses Urteils lautet: „Genocide is distinct from other crimes inasmuch as it embodies a special intent or dolus specialis. Special intent of a crime is the specific intention, required as a constitutive element of the crime, which demands that the perpetrator clearly seeks to produce the act charged.“72 Die internationale und nationale Rechtsprechung zum Absichtsbegriff des Völkermordtatbestands besticht hiernach durch ihre Übereinstimmung73, bereits bei etwas näherer Betrachtung sticht aber auch ihre Begründungsarmut ins Auge74. Letztere ist deshalb seltsam, weil sich der enge Absichtsbegriff, wie inzwischen mehrfach eingehend und unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Erkenntnisse dargetan worden ist75, nicht einfach aus dem gewöhnlichen Wortsinn von „Absicht” bzw. - und vor allem76 - „intent“ ergibt. Da die Entstehungsgeschichte zu dieser diffizilen strafrechtsdogmatischen Frage - und das überrascht wenig - ebenso unergiebig ist77 wie die Staatenpraxis78 seit 1948, müssen systematische und teleologische Gründe den Ausschlag geben. Diese sprechen für die Erweiterung des Absichtsbegriffs um die folgende, im Wesentlichen kognitive Variante. Eine Zerstörungsabsicht i. S. d. Völkermordtatbestands sollte entgegen der Rechtsprechung bereits dann angenommen werden, wenn der Täter weiß, dass das Kollektiv, in dessen Zusammenhang er tätig wird, das realistische Ziel der (Teil-) Gruppenzerstörung verfolgt.79
71 Eine neben § 27 i.V.m. § 49 StGB (mögliche) weitere Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 StGB mangels fehlender eigener Absicht soll solchen Gehilfen nach BGHSt 46, 292, 295, verwehrt sein, wogegen nichts zu erinnern ist. 72 RStGH v. 2.9.1998 (Fn. 5), Ziff. 498. 73 Einen guten Überblick über die Rechtsprechungsentwicklung gibt Kai Ambos What does ‘intent to destroy’ in genocide mean?, International Review of the Red Cross 91 (2009), 836839. 74 Hierzu bereits Claus Kreß The Darfur Report and Genocidal Intent, Journal of International Criminal Justice 3 (20005), 567-571. 75 S. hierzu zuletzt die minutiöse Darstellung von Ambos (Fn. 73), 842-845. 76 Zur Bestimmung der Wortlautgrenze bei Völkerstraftatbeständen BVerfG NJW 2001, 1848, 1850. 77 Das ist - soweit ersichtlich - erstmals von Alexander Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a Knowledge-Based Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), 2270, dargetan worden. 78 Bislang ist die internationale Rechtsprechung zu unserer Frage von den Staaten nicht derart rezipiert worden, dass sich sagen ließe, die spätere Übung zur Völkermordkonvention ließe einen entsprechenden Auslegungskonsens erkennen; MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 81. 79 MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 82.
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Der so erweiterte Absichtsbegriff ergibt sich zunächst einmal aus der Struktur des Völkermordtatbestands. Letzterer ist im Hinblick auf die Verletzung des geschützten Rechtsguts „Gruppe“ erfolgskupiert und das Absichtsmerkmal nimmt - im Kern unrechtsbezogen - das geschützte Rechtsgut in Bezug.80 Für die dem Rechtsgut drohende Gefahr kommt es im typischen Fall aber entscheidend auf das kollektive und nicht auf das individuelle Zerstörungsziel an. Eine Reihe weiterer Argumente seien an dieser Stelle immerhin kurz81 benannt: Der erweiterte Absichtsbegriff gewährleistet, dass der Völkermord seiner Entwicklungsgeschichte entsprechend als spezielle Ausprägung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erscheint, bei dem einzelne Täter den Angriff auf eine Zivilbevölkerung auch lediglich kennen und nicht erstreben muss. Weiterhin trägt das hier befürwortete Absichtsverständnis dem Umstand Rechnung, dass der Völkermordtatbestand aus der Perspektive des auf der Ausführungsebene Handelnden formuliert worden ist, von dem sich nicht sagen lässt, dass er typischerweise mit Absicht i. e. S. handelt. Hinzu kommt noch, dass über den weiten Absichtsbegriff Friktionen im Teilnahmebereich auch dann verlässlich vermieden werden, wenn der jeweils anwendbare Allgemeine Teil hierzu einem Akzessorietätsmodell folgt. Ein schöner Begleiteffekt des erweiterten Absichtsbegriffs wäre schließlich, dass sich die internationale Rechtsprechung nicht länger der Versuchung ausgesetzt sähe, eine prozessuale Hintertür zum gewünschten Ergebnis zu öffnen und aus der Kenntnis des Handelnden von der völkermörderischen Gesamttat künstliche Schlüsse auf seine Absicht i. e. S. zu ziehen. Es spricht schließlich sicher nicht gegen den erweiterten Absichtsbegriff, dass er im anglo-amerikanischen und im kontinentalen Schrifttum auf wachsenden Zuspruch stößt.82 Es ist sehr zu wünschen, dass sich die internationale Rechtsprechung bald einmal mit den Gründen befasst, die von der h. L.83 zur Begründung des erweiterten Absichtsbegriffs formuliert worden sind. Der Blick richtet sich dabei zuerst auf den IStGH. Dessen erstes einschlägiges obiter dictum hat die Erwartungen allerdings enttäuscht. Denn zwar vermerkt die Vorverfah-
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Das wird in BGHSt 46, 292, 295, präzise herausgearbeitet; insbesondere der zutreffende dortige Hinweis etwa auf § 267 StGB hätte es nahelegen können, auch einen erweiterten Absichtsbegriff in Betracht zu ziehen. 81 Eingehender und m. w. Nachw. MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 83-88; ders. (Fn. 74), 571-576. 82 S. hierzu zuletzt die minutiöse Darstellung von Ambos (Fn. 73), 839-842, der sich im Hinblick auf die Ausführungstäter ebenfalls für diese Lösung ausspricht (ebenda. 845 ff.). 83 Jedenfalls nachdem der erweiterte Absichtsbegriff in die zweite Auflage der international führenden Monografie von William Schabas, Genocide in International Law, 2009, S. 259, 262, 264 ff., Einzug gehalten hat, ist er h. L.
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renskammer im Fall Bashir den erweiterten Absichtsbegriff.84 Doch sieht sie von einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den ihn tragenden Gründen unter Hinweis auf den vermeintlich eindeutigen Wortlaut ab. Man kann nur hoffen, dass dieses kurze erste nicht zugleich das letzte Wort des IStGH zum Absichtsbegriff war. Einstweilen fragt es sich, ob die nationalen Strafgerichte einen Wandel der internationalen Rechtsprechung anregen sollten. Hiergegen könnte der von Gerhard Werle - in anderem Zusammenhang85 in die Debatte eingeführte Gesichtspunkt der „Völkerstrafrechtspraxiskongruenz“ sprechen.86 Doch sollte dieser Gesichtspunkt nur im Fall einer plausibel begründeten internationalen Rechtsprechung Beachtung beanspruchen. Andernfalls würde die Möglichkeit, im transnationalen justitiellen Dialog Erkenntnisfortschritte zu erzielen, unangemessen beschnitten.87 Beim Absichtsbegriff des Völkermordtatbestands ist überdies zu bedenken, dass sich der Streit über seine Auslegung in der Praxis typischerweise auf der Ausführungsebene auswirkt und dass über die hier Handelnden die nationalen Strafgerichte werden zu urteilen haben, während der IStGH sich auf die für das Völkermordgesamtgeschehen mutmaßlich Hauptverantwortlichen konzentrieren wird. Nach alldem wähnt der Verfasser die der rechtswissenschaftlichen Diskussion so aufgeschlossene Jubilarin immerhin insoweit auf seiner Seite, als er ihre Nachfolger im 3. Senat dazu animieren möchte, bei erster sich bietender Gelegenheit vertieft über die bisherige Rechtsprechung zum Begriff der Völkermordabsicht nachzudenken. Dabei wird der Senat sicher berücksichtigen, dass der Völkermord in seiner Ausprägung als Tötungsdelikt nach deutschem Recht in § 6 Abs. 1 VStGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist und dass die in § 6 Abs. 2 VStGB geregelte Strafrahmenverschiebung für minder schwere Fälle insoweit nicht gilt. Im Hinblick auf Personen, die auf der Ausführungsebene eines völkermörderischen Unrechtssystems handeln, mag sich unter Um84 IStGH v. 4.3.2009 (Fn. 26), Ziff. 139 (dort Fn. 154) unter Hinweis auf Kreß (Fn. 74) und Schabas (Fn. 83); die dortige Bezeichnung des erweiterten Absichtsbegriffs als “innovativ” ist nicht wirklich richtig und ein wenig tendenziös. 85 S. den Text oben in Fn. 51. 86 Möglicherweise hat dieser Gesichtspunkt den 3. Senat sogar unausgesprochen dazu bewogen, seiner Rechtsprechung den engen Absichtsbegriff zugrundezulegen. Denn das Akayesu-Urteil war dem Senat bekannt (s. schon BGHSt 45, 64, 81). 87 Auch der Gesetzlichkeitsgrundsatz hindert nationale Strafgerichte recht verstanden nicht daran, die bislang problemunbewusste internationale Rechtsprechung in Frage zu stellen. Denn schon im Hinblick auf die soeben im Text erwähnte h. L. ginge es zu weit zu sagen, die bisherige internationale Rechtsprechung zum engen Absichtsbegriff begründe über das Gesetzlichkeitsprinzip menschenrechtlich verfestigten Vertrauensschutz. Auch die Passage in EGMR v. 12.10.2007 (Fn. 11), Ziff. 112, möchte ich nicht in einem solchen Sinn verstehen. S. im Übrigen die Überlegung oben in Fn. 55 zum Gesichtspunkt des zur Weltrechtspflege zuständigen Gerichts.
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ständen durchaus die Frage stellen, ob diese Rechtsfolgenregelung gerecht ist.88 Deshalb fragt es sich, ob der enge Absichtsbegriff nicht vielleicht speziell bei § 6 Abs. 1 VStGB im Wege strafrahmenkonformer Auslegung zu begründen ist. An dieser Stelle schlägt dem Exegeten der Atem der juristischen Zeitgeschichte entgegen. Denn der enge Absichtsbegriff erlaubt beim Völkermord letztlich dieselbe Abgrenzung zwischen Tätern und Gehilfen wie die (inzwischen überholte) sehr subjektive Beteiligungslehre beim Mordtatbestand. Deren jahrzehntelange Anwendung auf unter dem Nationalsozialismus begangene Völkermordhandlungen kann letztlich auch als der Versuch der deutschen Rechtsprechung verstanden werden, bloße „Mitläufer des Systems” strafrahmenkonform lediglich als Gehilfen abzuurteilen.89 Doch hier wie dort gilt, dass es vornehmlich dem Gesetzgeber obliegt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die innerhalb von Unrechtssystemen möglichen Neutralisierungswirkungen auf der Rechtsfolgenseite zu Gunsten der Täter zu Buche schlagen können.90
Schluss Allein mit dem vorstehenden Versuch, vier zentrale Bausteine der von Rissing-van Saan mitgeprägten deutschen Völkermordjudikatur nachzuzeichnen und kritisch zu beleuchten, ist der Bedeutung dieser Judikatur nicht gerecht zu werden. Nichts anderes würde gelten, nähme man auch noch den bedeutsamen Beitrag des 3. Senats zur Dogmatik der Kriegsverbrechen91 in den Blick, der ohne weiteres einen eigenen Festschriftbeitrag lohnte. Die ganze Bedeutung der ersten drei Grundsatzentscheidungen des 3. Senats zum Völkerstrafrecht erschließt sich erst, wenn man über die strafrechtsdogmatischen Finessen hinausblickt und die Rechtsprechung in ihrem zeithistorischen Zusammenhang betrachtet.92 Dann erscheint diese als der zentrale Beitrag der Judikative zur Öffnung Deutschlands für die Entwicklung des Völkerstrafrechts, mit dessen Ursprüngen unser Land in so trübseliger Weise verknüpft ist. Kurz nachdem die Bundesregierung ihren 88
MünchKomm-Kreß § 6 VStGB, Rn. 114. Hierzu zusammenfassend Claus Kreß Versailles - Nürnberg - Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Fakultätsspiegel Sommersemester 2006, S. 30 f. (insow. nicht abgedr. in ders. JZ 2006, 981). 90 Eine Entscheidung des Gesetzgebers, den Strafrahmen zu flexibilisieren, wäre auf das Menschlichkeitsverbrechen der Tötung nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB zu erstrecken. 91 S. den Text oben in Fn. 4. 92 Hierzu Claus Kreß Versailles - Nürnberg - Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, JZ 2006, 981 ff. und insbes. 988. 89
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Beitrag zur Gründung des IStGH geleistet hatte, und kurz bevor der Gesetzgeber auf verschiedenen Ebenen und insbesondere durch das VStGB auf die gewandelte Völkerrechtslandschaft reagieren sollte, fand sich das höchste deutsche Strafgericht bereitwillig in die neuartige Rolle der internationalarbeitsteiligen Konkretisierung völkerstrafrechtlicher Normen. Ruth Rissing-van Saan hat diese Rolle selbst auf den Punkt gebracht. Ihr gebührt in diesem Beitrag auch deshalb das letzte Wort: „(…) German courts assume their driving role, strengthening international humanitarian law and contributing to the effectiveness of international criminal jurisdiction, not in competition, but in cooperation with international courts.“93
93 Ruth Rissing-van Saan The German Federal Supreme Court and the Prosecution of International Crimes Committed in the Former Yugoslavia, Journal of International Criminal Justice 3 (2005), 399.
Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und das Verbot der Tötung auf Verlangen KLAUS KUTZER
Vorbemerkung Als ich das Thema meines Festschriftbeitrags wählte, war mir noch nicht bekannt, dass der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter dem Vorsitz der Jubilarin zu eben diesem Thema ein maßgebendes Grundsatzurteil in der Strafsache gegen den Rechtsanwalt Putz fällen würde (Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09). Die Jubilarin hatte auch die Berichterstattung in diesem schwierigen Fall übernommen. Es freut mich daher, ein Thema gewählt zu haben, mit dem sich die Jubilarin intensiv und verdienstvoll beschäftigt hat. Das Urteil vom 25. Juni 2010 macht den Weg frei für eine nach materiellen Wertungen vorzunehmende Grenzziehung zwischen erlaubt und verboten. Seine Bedeutung für die betreuungsrechtliche und ärztliche Praxis kann nicht hoch genug eingeschätzt werden1, obwohl auch jetzt noch einige Fragen ungeklärt bleiben und weiterer Diskussion bedürfen.
I. Zum Verbot der aktiven Sterbehilfe (Euthanasie) trotz Verlangens des Patienten Menschen fürchten oft nicht so sehr den Tod, sondern das Sterben, weil es sich qualvoll und schmerzhaft hinziehen kann. Deshalb - und manchmal auch aus ökonomischen Gründen - wurde schon in frühester Zeit die Frage diskutiert, ob man Euthanasie, also einen „guten Tod“ durch menschliches Eingreifen ermöglichen soll, wenn ein gutes Sterben sonst infolge Gebrechlichkeit, Siechtum, schwerer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen erschwert oder unmöglich gemacht würde. Bei bestimmten Naturvölkern, z. B. des Eskimos und Papuas, war die Euthanasie insofern in Gebrauch, als 1
So mit Recht Mehle NJW-aktuell 28/2010 S. 12.
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unheilbar Kranke, lebensunfähige Kinder und auch alte Menschen ausgesetzt oder auf andere Weise getötet wurden2. Aber auch im aufgeklärten Griechenland des 4. Jahrhunderts vor Christus sagt Platon in seiner Politeia3:„Wer siech am Körper ist, den sollen sie sterben lassen. Wer an der Seele missraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten.“ Demgegenüber heißt es in dem etwa im 5. bis 4. vorchristlichen Jahrhundert verfassten und später in weiten Teilen der Welt als allgemeines ärztliches Ethos akzeptierten Eid des Hippokrates4: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen.“ Der 1535 enthauptete, später heilig gesprochene englische Staatsmann Thomas Morus postuliert in seiner Utopia5: „Bei schwerer, schmerzhafter Krankheit sollen Priester und Ärzte zum Selbstmord raten und helfen.“ Im 17. Jahrhundert empfiehlt der Philosoph Francis Bacon6 Euthanasie mit dem Ziel, dass der Kranke leichter und schmerzlos aus dem Leben gehen kann. Seit Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstanden vor allem in England und in den USA verschiedene Euthanasiegesellschaften, die sich für Gesetze einsetzten, die das Töten von Schwerkranken auf deren Wunsch hin erlauben. Auch heute gibt es in den meisten europäischen Staaten solche Gesellschaften, denen der Erfolg jedoch weitgehend versagt blieb. Anders verlief die Entwicklung in den Benelux-Staaten. Die Niederlänger haben durch das im April 2001 verabschiedete und ein Jahr später in Kraft getretene Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung ebenso wie die Belgier durch das im Mai 2002 verabschiedete Euthanasiegesetz und die Luxemburger durch das im März 2009 in Kraft getretene Sterbehilfegesetz die aktive Sterbehilfe unter bestimmten engen Voraussetzungen legalisiert. So heißt es etwa in Art. 3 § 1 des belgischen Gesetzes zur Sterbehilfe7:
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Ratschow, Wenn Sterbehilfe töten darf, 1992, S. 6. Zitiert nach Benzenhöfer, Der gute Tod? 1999, S. 30. S. 31: „Die Empfehlung des Sterbenlassens bezieht sich auf die Heilkunde, die Tötungsempfehlung aber gilt der Rechtspflege: Sie soll die Verbrecher töten.“ 4 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl. 2003 Rdnr. 1299. 5 Ratschow (Fn. 2) S. 7. 6 Ratschow (Fn. 2) S. 7; Benzenhöfer (Fn. 3) S. 66 ff. 7 Übersetzung: Katharina Haubold/Hans-Georg Koch/Juliette Lelieur. 3
Vorausverfügter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen
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„Ein Arzt, der die Sterbehilfe vornimmt, begeht keine Straftat, wenn er sich vergewissert hat, -
dass der Patient volljährig ist oder für volljährig erklärt wurde, zurechnungsfähig und im Zeitpunkt des Verlangens bei Bewusstsein ist;
-
das Verlangen freiwillig, gut durchdacht und wiederholt zum Ausdruck gebracht worden ist und nicht auf Druck von außen beruht;
-
der Patient sich in einer medizinisch aussichtslosen Lage und in einem Zustand von dauernden, körperlich oder seelisch unerträglichen Qualen befindet, welcher nicht gelindert werden kann und auf einem schweren und unheilbaren, unfall- oder krankheitsbedingten Leiden beruht,
und er die in diesem Gesetz vorgeschriebenen Voraussetzungen und Verfahrensvorschriften beachtet.“ Diese Entwicklung in den Deutschland benachbarten Benelux-Staaten hat auch die hiesige Diskussion über die Umstände eines würdigen Sterbens und eine Novellierung des – bisher uneingeschränkt geltenden - strafrechtlichen Verbots der aktiven Sterbehilfe in § 216 StGB beeinflusst.8 Unter aktiver Sterbehilfe oder Euthanasie wird die gezielte Tötung eines Schwerkranken, in der Regel mittels einer ärztlich verordneten tödlichen Medikation, verstanden. Aktive Sterbehilfe bedeutet nicht die vorsätzliche Zulassung des krankheitsbedingten Sterbens durch Verzicht auf eine medizinische Substitution der versagenden Lebensfunktionen, sondern den von außen kommenden gezielten tödlichen Eingriff durch die Tat eines Dritten. Da aktive Sterbehilfe eine Straftat ist, kann sie von einem Patienten weder aktuell noch in einer antizipativen Verfügung verlangt werden. Insoweit scheitert das Selbstbestimmungsrecht des Kranken an § 216 StGB, der eine Krankentötung generell, also auch auf Wunsch des Schwerstleidenden verbietet. Eine Änderung dieser Vorschrift, um aktive Sterbehilfe zuzulassen, wird in Deutschland nach wie vor von den gesellschaftlich relevanten Gruppen, insbesondere den Vertretern der Kirchen, der Ärzteschaft, der Sozialverbände und der Juristen abgelehnt9. Dem ist zuzustimmen, weil ein 8 Nach einer Allensbach-Umfrage unter 527 Ärzten im Auftrag der Bundesärztekammer könnten sich 25 % vorstellen, selbst aktive Sterbehilfe zu leisten, wenn der Patient sie darum bittet, Spiegel 29/2010 v. 19.7.2010. 9 Vgl. das einhellige Votum der Repräsentanten dieser Gruppen in der vom Verfasser geleiteten interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums, Bericht v. 10.6.2004 S. 50, abgedruckt in Vormundschaftsgerichtstag e.V., Betreuungsrecht in Bedrängnis 2004 S. 158 ff., www.bmj.bund.de/media/archive/695.pdf;
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Recht des Einzelnen, seine Tötung zu verlangen, den generellen Lebensschutz relativieren, die Achtung vor dem Leben untergraben und Nützlichkeitserwägungen Raum geben kann; auch könnte der Gefahr des Missbrauchs nicht wirksam begegnet werden10. Bei Zulassung der aktiven Sterbehilfe müsste zwischen lebenswertem Leben, das durch § 216 StGB geschützt, und schutzunwürdigem Leben am Lebensende unterschieden werden. Im Übrigen könnte sich jeder Kranke, der ohne Aussicht auf Besserung eine aufopfernde und hohe Kosten verursachende Pflege benötigt, zumindest dem indirekten Druck oder der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartung ausgesetzt sehen, seine Angehörigen oder die Allgemeinheit oder beide durch die Bitte um die todbringende Medikation zu entlasten11.
II. Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten bei Vorausverfügungen für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit Die Ablehnung einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und damit der Möglichkeit, sie aktuell oder durch eine Patientenverfügung zur Beendigung eines körperlichen oder seelischen Martyriums zu verlangen, lässt sich aus humanen Gründen aber nur rechtfertigen, wenn aktive Sterbehilfe nicht erforderlich ist, um extremes Leiden in der finalen oder präfinalen Phase zu vermeiden. Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben sich bemüht, den rechtlichen Rahmen für ein würdiges Sterben ohne Euthanasie durch restriktive Auslegung des § 216 StGB und den Rückgriff auf seinen durch teleologische Reduktion zu ermittelnden Normzweck12 zur Verfügung zu stellen. Schon in seiner Entscheidung vom 4. Juli 1984 hat der 3. Strafsenat hervorgehoben, dass es keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt13. Maßnahmen zur Lebensverlängerung seien nicht schon deswegen unerlässlich, weil sie technisch möglich seien. Derselbe Senat hat in dem Urteil vom 8. Mai 1991 auf die Bedeutung des erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillens bei passiver Sterbehilfe Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestags BT-Drucks. 15/3700 S. 15; Beschluss der Abteilung StrafR des 66. Dt. Juristentags, Band II/1 der Verhandlungen N 80 Nr. 1. 10 Kutzer MedR 2001, 77, 78; ders. ZRP 2003, 209, 212; ders. FPR 2004, 683, 684; ders. DRiZ 2005, 257, 258; ders. FPR 2007, 59, 60/61. 11 Kutzer MedR 2001 (Fn.10), zustimmend zitiert von der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages a.a.O. (Fn.9). 12 Vgl. Kutzer NStZ 1994, 110, 114. 13 BGHSt 32, 367, 379/380.
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hingewiesen und den Leitsatz aufgestellt14: „Auch bei aussichtsloser Prognose darf Sterbehilfe nicht durch gezieltes Töten, sondern nur entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen geleistet werden, um dem Sterben – ggf. unter wirksamer Schmerzmedikation – seinen natürlichen, der Würde des Menschen gemäßen Verlauf zu lassen.“ Damit war strafrechtlich klargestellt, dass der aktuelle oder mutmaßliche, also auch der zuvor erklärte Patientenwille maßgebend dafür ist, wann auf ärztliche, insbesondere intensivmedizinische Maßnahmen verzichtet werden darf, und dass Arzt, Pflegepersonal und Patientenvertreter, die einem solchen Wunsch des todkranken Patienten folgen, nicht wegen Tötung auf Verlangen verfolgt werden dürfen. Für die Umstände des Sterbens bedeutsam ist eine weitere Entscheidung des 3. Strafsenats zur sog. indirekten Sterbehilfe15. In dem Urteil vom 15. November 1996 hält er eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen bei einem Sterbenden auch dann nicht für unzulässig, wenn sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann. Denn die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit sei ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen. Diese Rechtfertigung geht über die sonst in der Medizin geltenden Grenzen des erlaubten Risikos hinaus. Denn wer weiß oder billigend in Kauf nimmt, dass sich in concreto das Risiko einer riskanten Behandlung verwirklichen werde, muss von der riskanten Handlung Abstand nehmen. Handelt er trotzdem, so ist die von ihm verursachte Tötung rechtswidrig. Klarzustellen, dass diese Beurteilung bei der terminalen Schmerzbekämpfung nicht greift, ist das Anliegen der genannten BGH-Rechtsprechung. Künftig sollte allerdings auf die Kriterien des nur bedingten Vorsatzes (billigende Inkaufnahme) und der Unvermeidbarkeit der tödlichen Nebenwirkung verzichtet werden16. Denn die medizinische Indikation der leidmindernden Maßnahme und die Unvermeidbarkeit der Lebensverkürzung dürften sich bei dem heutigen Stand der Palliativmedizin in den meisten Fällen ausschließen. Als ein Sonderfall der erlaubten indirekten Sterbehilfe stellt sich die immer häufiger angewandte Sedierung im Terminalstadium dar. Die sog. terminale Sedierung meint eine das Bewusstsein des Patienten weithin oder vollständig 14
BGHSt 37, 376. BGHSt 42, 301, 305; ebenso BGHSt 46, 279, 284/285. 16 Vgl. dazu im Einzelnen Kutzer Referat zur Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006 Verlag C.H. Beck München 2006 Band II/1 N 9, N 25 ff. 15
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ausschließende medikamentöse Schmerzlinderung, die äußerstenfalls eingesetzt wird, wenn andere palliative Optionen sich als nicht hinreichend erweisen.17 Rechtsprechung dazu gibt es noch nicht.18 Der 1. Strafsenat des BGH hat den mutmaßlichen, auch den in einer Patientenverfügung erklärten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen nicht nur in der präfinalen Phase, sondern auch schon dann zugelassen, wenn der schwerstgeschädigte (Wachkoma-)Patient bei Fortsetzung der künstlichen Ernährung noch unbestimmt lange Zeit leben könnte. Allerdings sind seine Prämissen weitgehend unklar geblieben. Er hat in dem Urteil vom 13. September 1994 (Kemptener Fall) u.a. folgende Leitsätze aufgestellt19: „Bei einem unheilbar erkrankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten kann der Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme ausnahmsweise auch dann zulässig sein, wenn die Voraussetzungen der von der Bundesärztekammer verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe nicht vorliegen, weil der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat20. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Kranken. An die Voraussetzungen für die Annahme eines mutmaßlichen Einverständnisses sind strenge Anforderungen zu stellen. Hierbei kommt es vor allem auf frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen an.“ Der Fall betraf eine 73jährige irreversibel schwerst zerebralgeschädigte Frau, die auf Grund ihrer Schluckunfähigkeit auf eine künstliche Sondenernährung durch eine Magensonde angewiesen war. Sie war nicht mehr ansprechbar und konnte weder gehen noch stehen. Ihr vegetativer Zustand war aber stabil, so dass sie bei Fortsetzung der künstlichen Ernährung wie bisher hätte weiter leben können. Der 1. Strafsenat vertrat die Auffassung, dass „angesichts der besonderen Umstände des hier gegebenen Grenzfalles“ „ausnahmsweise“ ein zulässiges Sterbenlassen durch Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme „nicht von vornherein“ ausgeschlossen
17
Duttge, Preis der Freiheit, 2. Aufl. 2006 S. 86 ff.; ausführlich zur rechtlichen Einordnung: Geißendörfer, Die Selbstbestimmung des Entscheidungsunfähigen an den Grenzen des Rechts, Berlin 2009 S. 94 ff. 18 Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums (Rn. 9 a.a.O. S. 13) hat hierzu folgenden Beschluss gefasst: „Bei Versagen aller sonstigen palliativmedizinischen Möglichkeiten ist – jedenfalls in der terminalen Krankheitsphase – mit Einwilligung des Patienten eine Sedierung (gezielte Dämpfung bis hin zur Ausschaltung des Bewusstseins) zulässig.“ 19 BGHSt 40, 257. 20 also ein Fall der sog. passiven Sterbehilfe nicht vorliegt, den BGHSt 37, 376 betrifft.
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sei, sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden sei21. Dieses Urteil konnte keine Rechtssicherheit schaffen, weil unklar blieb, welche besonderen Umstände hier einen Grenzfall konstituierten und ausnahmsweise den Behandlungsabbruch zuließen. Dies zu klären, ist von enormer praktischer Bedeutung. Nach Expertenschätzungen gibt es in Europa etwa 230.000 Koma-Patienten pro Jahr, knapp 30.000 befinden sich im ständigen Wachkoma22. Grund für ansteigende Fallzahlen sind die verbesserten Möglichkeiten der modernen Unfall- und Intensivmedizin, dank derer immer mehr Menschen mit schweren Hirnverletzungen überleben, allerdings vielfach mit bleibenden Schäden. Oft sind sie wie viele andere Kranke auf künstliche Ernährung angewiesen. In Deutschland werden pro Jahr etwa 140.000 PEG-Sonden (künstliche Sonden-Ernährung durch die Bauchdecke) gelegt, davon etwa 65 % bei älteren Menschen, insbesondere in Pflegeheimen23. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen die lebenserhaltende künstliche Ernährung auf antizipierten Wunsch des entscheidungsunfähig gewordenen Patienten eingestellt werden darf, auch wenn sie weiterhin medizinisch indiziert24 ist, hat der 1. Strafsenat also nicht eindeutig beantwortet. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass der XII. Zivilsenat in seinem Grundsatzbeschluss v. 17. März 200325 den vorgenannten Beschluss des 1. Strafsenats vom 13. September 1994 dahin (miss)verstanden hat, dass ein vorausverfügtes Verbot lebenserhaltender Maßnahmen nur dann nicht gegen das Verbot der Tötung auf Verlangen verstößt, wenn die Grunderkrankung bereits einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat und 21
BGHSt (Fn. 19) S. 262. www.aerztezeitung.de 23.6.2010. Nach einem Bericht des Rheinischen Merkurs, online 12.8.2010, schätzt der Selbsthilfeverband „Schädel-Hirnpatienten in Not“, dass in Deutschland mindestens 13.000 Menschen im Wachkoma leben; Fortschritte in der Medizin sorgten dafür, dass die Zahl der Patienten weiter steigt: Reanimationen glückten häufiger; doch 3.000 bis 4.000 Menschen pro Jahr blieben danach Apalliker; über ihre durchschnittliche Lebenserwartung gebe es keine genauen statistischen Aussagen. Der Bundesvorsitzende des Verbandes spreche von durchschnittlich zweieinhalb Jahren nach Eintritt des Wachkomas. Einzelne Patienten lebten aber bereits 15 bis 20 Jahre im Wachkoma. 23 Synofzik /Marckmann DÄrztebl. v. 7.12.2007 S. A-3390. 24 Vgl. dazu III. der Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, DÄrztebl. v. 7.5.2004 S. B-1076 f.: „Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewusstlosigkeit (apallisches Syndrom; auch so genanntes Wachkoma) haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Lebenserhaltende Therapie einschl. – ggf. künstlicher – Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten…Die Dauer der Bewusstlosigkeit darf kein alleiniges Kriterium für den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen sein.“ Einzelheiten zur Künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung im Leitfaden des Bayerischen Landespflegeausschusses, Mai 2009, www.stmas.bayern.de/pflege. 25 BGHZ 154, 205. 22
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hierüber eine „letzte Sicherheit“ bestehe. Die Entscheidungsmacht des Betreuers eines entscheidungsunfähigen Patienten sei mit der aus dem Selbstbestimmungsrecht folgenden Entscheidungsmacht eines einwilligungsfähigen Patienten nicht deckungsgleich, sondern als gesetzliche Vertretungsmacht an rechtliche Vorgaben gebunden; nur soweit sie sich im Rahmen dieser Bindung halte, könne sie sich gegenüber der Verpflichtung des Arztes, das Leben des Patienten zu erhalten, durchsetzen. Die durch das Strafrecht vorgegebene objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe sei auch für das Zivilrecht verbindlich. Aus ihr folge, dass für das Verlangen des Betreuers, eine medizinische Behandlung einzustellen, kein Raum sei, wenn das Grundleiden des Betroffenen noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe und durch die Maßnahme das Leben des Betroffenen verlängert oder erhalten werde.26 Diese vom Bundesgerichtshof postulierte „Reichweitenbeschränkung“ einer Vorausverfügung ist zum Teil auf heftige Kritik gestoßen, weil sie das Selbstbestimmungsrecht des Kranken unverhältnismäßig einschränke und ungeklärt bleibe, ab welchem Stadium eine „Grunderkrankung“ einen irreversiblen tödlichen Verlauf annehme27. So trug diese Entscheidung des XII. Zivilsenats dazu bei, den Ruf nach einer gesetzlichen Regelung lauter werden zu lassen. Zu deren Vorbereitung hat die damalige Bundesjustizministerin Zypries im September 2003 unter Leitung des Verfassers eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ eingesetzt. Ihr gehörten Vertreter der Ärzteschaft, der Patienten, der Wohlfahrtspflege, der Hospizbewegung, der Kirchen und der Justiz- und Gesundheitsministerien der Länder an. Die Arbeitsgruppe hat ungeachtet teilweise unterschiedlicher Grundauffassungen ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielen können. Knappe Mehrheitsentscheidungen wurden nicht getroffen.28 Ihr Gesetzentwurf zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht des BGB (AGE-BMJ)29 wurde Grundlage des Referentenentwurfs des Bundesjustizministeriums30 und dieser wiederum Grundlage des Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts (sog. Patientenverfügungsgesetz) vom 29. Juli 200931, das mit nicht unerheblichen Änderungen im Detail 26
BGHZ (Fn. 25) S. 215. Nachw. bei Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Gutachten C zum 66. Deutschen Juristentag Stuttgart 2006, C 43 Fn. 175, München 2006. 28 Einleitung zu dem Bericht v. 10.06.2004 (Fn. 9). 29 Bericht (Fn. 9, 28) S. 42 ff. 30 Dazu: v. Dewitz/ Kirchner, Der Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts vom 1. November 2004 und das Grundgesetz, MedR 2005, 134 ff.; Wagenitz. Finale Selbstbestimmung? Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Patientenverfügung im geltenden und künftigen Recht, FamRZ 2005, 669, 673 ff. 31 BGBl. I 2286. 27
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unter Federführung des Abgeordneten Stünker32 unmittelbar in den Bundestag eingebracht worden war33.
III. Zur Verbindlichkeit einer Vorausverfügung nach dem Patientenverfügungsgesetz (PatVfgG)34 1. Reichweitenbeschränkung der Patientenverfügung Im Patientenverfügungsgesetz war zunächst zu entscheiden, ob die vorausverfügte Ablehnung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen nur verbindlich ist, wenn die Erkrankung bereits einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat, wie es u.a. der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs35, die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages36 und Konkurrenzentwürfe37 gefordert hatten. Der AGE-BMJ und das neue PatVfgG stimmen darin überein, dass es eine solche Reichweitenbeschränkung nicht geben dürfe. Denn ebenso wie der in der aktuellen Situation entscheidungsfähige Patient ohne Rücksicht auf die Art und den Verlauf seiner Krankheit selbst darüber befinden könne, ob und ggf. welche ärztliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden dürfen, sei es Ausfluss seines verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts, eine solche Entscheidung auch im Voraus für den Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit treffen und von seinem Vertreter die Durchsetzung seines Willens erwarten zu können. Deshalb heißt es in § 1901a Abs. 3 BGB i.d.F. des PatVfgG (künftig: n.F.): „Die Absätze 1 und 2 (über die Bindung an Patientenwünsche) gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.“ Bei dem Verzicht des AGE-BMJ und des PatVfgG auf eine solche Reichweitenbeschränkung handelt es sich aber nur um eine unvollständige Konkordanz. Denn nach dem PatVfgG bleibt unklar, welche Grenzen die 32
Rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. BT-Drucks. 16/8442. 34 Vgl. dazu auch Kutzer MedR 2010, 531 ff.; Kutzer, Das Patientenverfügungsgesetz – Ein Vergleich mit den Vorschlägen der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2010 (im Druck); Reus JZ 2010, 80; Diehn/Rebhan NJW 2010, 326; Höfling NJW 2009, 2849; Borasio/Heßler/Wiesing DÄrztebl. 2.10.2009 S. A-1952; Vetter/Marckmann ÄBl.BW 09-2009 S. 370. 35 BGHZ 154, 205. 36 Zwischenbericht Patientenverfügungen v. 13.09.2004 Bundestags-Drucks. 15/3700. 37 Z.B. sog. Bosbach-Entwurf, BT-Drucks. 16/11360, für nicht qualifizierte Patientenverfügungen. 33
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Strafvorschrift des § 216 StGB über die Tötung auf Verlangen dem Betreuer bei der Ausführung einer Patientenverfügung setzt. Der AGE-BMJ dagegen wollte Klarheit und Rechtssicherheit dadurch schaffen, dass § 216 StGB um einen dritten Absatz ergänzt wird, der lauten soll38: „Nicht strafbar ist … 2. das Unterlassen oder Beenden einer lebenserhaltenden medizinischen Maßnahme, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht.“39 Nur durch eine solche Ergänzung wäre strafrechtlich gesichert, dass j e d e vom Patienten für den Fall seiner späteren Entscheidungsunfähigkeit gewünschte Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen ohne Rücksicht auf Art und Stadium einer Erkrankung, wie es in § 1901a Abs. 3 BGB n.F. heißt, strafrechtlich erlaubt ist. Das PatVfgG lässt dagegen die Vorschrift des § 216 StGB unverändert mit der Folge, dass auch ihr bisheriger Inhalt unverändert bleibt, da sie keine durch das Zivilrecht ausfüllungsbedürftige Vorschrift ist.40 Die neuen Regelungen des BGB sind daher so auszulegen, dass sie nicht mit dem Strafbarkeitsbereich des § 216 StGB kollidieren. In der Begründung des PatVfgG heißt es dazu: „Die strafrechtliche Rechtsprechung zieht die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und den zulässigen Formen der Sterbehilfe unter Wahrung des Lebensschutzes wie des Selbstbestimmungsrechts des Patienten… Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung verschiebt diese Grenze nicht, sondern klärt die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts bei solchen Verfügungen.“41 Wo die vom PatVfgG angenommene Grenze im Einzelnen verläuft, war bisher in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH nicht abschließend entschie38
Bericht v. 10.06.2004 S. 50 (Rn 9). Ähnlich der Beschluss II 1 der Abteilung Strafrecht des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006, Verhandlungen Bd. II/1 N 73/74: „Es ist im StGB klarzustellen, dass das Unterlassen, Begrenzen oder Beenden lebenserhaltender Maßnahmen straflose Behandlungsbegrenzung ist (bisher sog. passive Sterbehilfe), a) wenn für solche Maßnahmen keine medizinische Indikation (mehr) besteht, b) wenn dies vom Betroffenen ausdrücklich und ernstlich verlangt wird, c) wenn dies vom (einwilligungsunfähigen) Betroffenen in einer Patientenverfügung für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit angeordnet wurde, d) wenn dies von einem Vertreter des Patienten (Betreuer, sonstiger gesetzlicher Vertreter oder Vorsorgebevollmächtigter) – erforderlichenfalls mit der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts - verlangt wird und der erklärte oder mutmaßliche Wille des Betroffenen nicht erkennbar entgegensteht, e) wenn der Patient einwilligungsunfähig ist und aufgrund verlässlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass er diese Behandlung ablehnen würde (mutmaßlicher Wille).“ 40 Vgl. BGHZ 154, 205, 215: „Die objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe ist auch für das Zivilrecht verbindlich; denn die Zivilrechtsordnung kann nicht erlauben, was das Strafrecht verbietet.“ In diesem Sinn jetzt auch BGH – Urteil v. 25.06.2010 – 2 StR 494/09 – S. 13/14: „Wo die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, ist …eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist.“ 41 BT-Drucks. 16/8442 S. 9. 39
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den, wie der XII. Zivilsenat in seinem Beschluss vom 8. Juni 200542 zutreffend festgestellt hat. Weitere Differenzierungen ergeben sich aus dem neuen Beschluss des 2. Strafsenats vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 –, der eine lebensbedrohliche Krankheit als Voraussetzung eines strafrechtlich zulässigen Behandlungsabbruchs durch den Patientenvertreter verlangt. Dies soll näher unter IV behandelt werden. Nach dem jetzigen Stand der strafrechtlichen Rechtsprechung kann daher keine Rede davon sein, dass strafrechtlich j e d e vom Patienten vorab verfügte Einstellung medizinisch indizierter lebenserhaltender Maßnahmen aus dem Strafbarkeitsbereich des § 216 StGB für Betreuer herausfällt. § 216 StGB erklärt die vom Betroffenen ausdrücklich und ernstlich verlangte Tötung für strafbar. Tötung auf Verlangen kann ebenso wie andere Tötungsdelikte auch durch Unterlassen lebensrettender Maßnahmen begangen werden.43 Deshalb liegt es nahe, darin eine Beschränkung der Reichweite des Verbots lebenserhaltender Maßnahmen in Patientenverfügungen zu sehen, wenn anderenfalls gegen den vom Staat zu gewährleistenden Lebensschutz verstoßen würde, den § 216 StGB auch und gerade gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen sichern will.44 Eine solche durch § 216 StGB gebotene Reichweitenbeschränkung könnte etwa dann vorliegen, wenn der Patient in seiner der Umsetzung durch den Betreuer bedürftigen Patientenverfügung auch eine ärztliche Behandlung ausgeschlossen hat - z.B. bestimmte hochwirksame Medikamente, eine Reanimation, eine Operation, eine kurzfristig erforderlich werdende künstliche Ernährung oder Beatmung -, die angesichts seines Krankheitsbildes mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Genesung führen würde45. Weiß dies ein Patient bei Abfassung seiner Patientenverfügung oder nimmt er dies billigend in Kauf, so handelt es sich um ein suizidales Behandlungsverbot und nicht einen Fall rechtlich anzuerkennender Sterbehilfe. Macht sich der Patientenvertreter zum Vollstrecker eines solchen (suizidalen) Behandlungsverbots, tötet er den Patienten auf dessen Verlangen durch Unterlassen der gebotenen Lebensrettung (§ 216 StGB). In einem solchen Fall wäre trotz der in § 1901a Abs. 3 BGB n.F. angeordneten Verbindlichkeit einer Patientenverfügung „unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung“ das in der Patientenverfügung 42
BGHZ 163, 195, 200/201. BGHSt 13, 162; 32, 367; Urt. v. 25.06.2010 – 2 StR 454/09 - S. 16 ; vgl. auch BGH v. 6.3.2007 – 2 StR 497/06, auszugsweise abgedruckt in NStZ– RR 2007 S. 333: Totschlag durch das Unterlassen, ärztliche Hilfe herbeizuholen. 44 Vgl. dazu Kutzer, Das Patientenverfügungsgesetz. Ein Vergleich mit den Vorschlägen der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums unter II, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2010 im Druck. 45 A.A. Verrel in Verrel/Simon, Patientenverfügungen, Rechtliche und Ethische Aspekte, Freiburg i.B. 2010 S. 32 oben. 43
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enthaltene und der Umsetzung durch den Betreuer bedürftige Verbot unwirksam.46 Ist unklar, ob der Patient bei Abfassung der Patientenverfügung das Behandlungsverbot auch für den Fall einer sonst möglichen Genesung aufrechterhalten wollte, wird besonders sorgfältig zu prüfen sein, ob das antizipativ geschriebene Verbot auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation wirklich zutrifft (§ 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB n.F.). Abgesehen davon bleibt der Betreuer auch nach § 1901 Abs. 2 u. 3 BGB dem Wohl des Betreuten verpflichtet. Es ist ihm grundsätzlich nicht zuzumuten, auf eine zur Genesung führende, den Betreuten nicht wesentlich belastende ärztliche Maßnahme zu verzichten, nur weil der Betreute deren Anwendung in seiner Patientenverfügung vorweg ausgeschlossen hat. Die Vollzugspflicht des Betreuers entfällt jedenfalls, wenn er offensichtlich dem auch subjektiv verstandenen Wohl des Betreuten zuwiderhandeln und ihn durch die unterlassene Rettung töten müsste. Der AGE-BMJ hat die Vollzugspflicht des Betreuers in Anlehnung an § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB ausdrücklich an der Zumutbarkeitsgrenze enden lassen wollen47. Die Rechtslage entspricht der Rechtslage, die bei einwilligungsfähigen Patienten unstreitig ist: Der Patient darf straflos sich selbst töten und eine Lebensrettung ablehnen, aber nicht verlangen, dass andere ihn töten; letzteres auch dann nicht, wenn er sich infolge Handlungsunfähigkeit nicht mehr selbst töten kann.
2. Vorrang der ärztlichen Indikation vor der Patientenverfügung Der AGE-BE enthielt keinen der Regelung des § 1901b Abs. 1 BGB n.F. entsprechenden Vorschlag. § 1901b Abs. 1 BGB n.F., der erst unmittelbar vor der 3. Lesung im Bundestag aus dem konkurrierenden „ZöllerEntwurf“48 in den verabschiedeten „Stünker-Entwurf“ übernommen worden ist49, lautet: „Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a zu treffende Entscheidung.“ Diese Vorschrift enthält einerseits die Selbstverständlichkeit, dass der Arzt die ärztliche Indikation seines Behandlungsvorschlags zu 46
BT-Drucks. 16/8442 (Begründung des Gesetz gewordenen Stünker-Entwurfs) S. 3: „Festlegungen in einer Patientenverfügung, die auf eine verbotene Tötung auf Verlangen gerichtet sind, bleiben unwirksam.“ 47 § 1901b Abs. 1 S. 3 BGB i.d.F. des Entwurfs des AGE-BMJ lautete: „Dem Betreuer obliegt es, diese (in der Patientenverfügung getroffene) Entscheidung durchzusetzen, soweit ihm dies zumutbar ist.“ 48 BT-Drucks. 16/11493. 49 Vgl. BT-Drucks. 16/13314 S. 20.
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prüfen hat. Andererseits lässt sie Raum für Fehldeutungen hinsichtlich des bei der Erarbeitung der Indikation zu berücksichtigenden Patientenwillens. Borasio50, Heßler51 und Wiesing52 ziehen daraus, dass § 1901b Abs. 1 BGB n.F. die Ermittlung der ärztlichen Indikation von der Berücksichtigung des Patientenwillens bei der Behandlungsentscheidung abhebt, folgenden Schluss53: „Erst wenn die Indikation bejaht oder zumindest mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, wird der Patient oder sein Vertreter darüber informiert und der Patientenwille ermittelt. Bei fehlender Indikation ist die Überprüfung des Patientenwillens – und damit auch die Einrichtung einer Betreuung – entbehrlich.“ Diese Folgerung aus dem missverständlich gefassten § 1901b Abs. 1 BGB n.F. verkennt, dass die Zweistufigkeit der Entscheidungsfindung – Ermittlung erst der Indikation, dann des Patientenwillens – sich in der Praxis nicht immer durchhalten lässt. Für die medizinische Indikation ist entscheidend, ob die in Frage kommende Maßnahme oder deren Unterlassung aus ärztlicher Sicht einen Netto-Nutzen für den Patienten bringen kann, also die Chancen die Risiken überwiegen. Dies lässt sich bei ein und demselben Krankheitsbild unterschiedlich beurteilen. Deshalb muss in Zweifelsfällen schon bei der ersten Stufe der Entscheidungsfindung, der Indikationsprüfung, das Gespräch mit dem Patientenvertreter und, soweit möglich, mit dem Behandlungsteam sowie den nächsten Angehörigen und Vertrauenspersonen des Patienten gesucht werden.54 Sonst könnte § 1901b Abs. 1 BGB n.F. zum Einfallstor für neuen ärztlichen Paternalismus werden. Das wäre etwa der Fall, wenn der Arzt weitere lebenserhaltende Maßnahmen bei einem Todkranken als nicht mehr indiziert ansieht und sie deshalb einstellt, ohne den Patientenwillen hierzu zu erfragen. Dieser könnte z. B. dahin gehen, mit den lebenserhaltenden Maßnahmen bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses, das er noch erleben möchte, fortzufahren. Jedenfalls bei unklarer oder streitiger ärztlicher Indikation kann eine der Persönlichkeit des Patienten gerecht werdende Antwort nicht ohne Ermittlung und Berücksichtigung seines Willens gefunden werden. Dies zu negieren und dem Arzt über den Weg 50 Lehrstuhl für Palliativmedizin der LMU München, Sachverständiger des Deutschen Bundestags im Gesetzgebungsverfahren zum PatVfgG. 51 Vizepräsident des Oberlandesgerichts München, Sachverständiger des Deutschen Bundestages im Gesetzgebungsverfahren zum PatVfgG. 52 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Uni Tübingen; Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. 53 Deutsches Ärzteblatt v. 2.10. 2009 S. A-1952, 1956. 54 So jetzt auch Nr. 10.1 Satz 3 u. 4 der Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis (Stand: 16.04.2010), DÄrztebl. v. 7. Mai 2010 S. A-877 ff. = S. B-769 ff.
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der von ihm allein zu verantwortenden Indikation insoweit ein Entscheidungsrecht ohne Anhörung der Patientenseite einzuräumen, widerspräche der Patientenautonomie am Lebensende, wie sie der AGE-BMJ und das PatVfgG verstehen.
IV. Der neue Beschluss des 2. Strafsenats v. 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 – zum Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens 1. Sachverhalt Das Landgericht hat den Angeklagten Putz, einen renommierten Medizinrechtsanwalt, wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Nach den Feststellungen des Landgerichts beriet der Angeklagte die beiden Kinder der 1931 geborenen Frau K. Frau K. lag seit Oktober 2002 in einem Wachkoma. Sie wurde in einem Pflegeheim über einen Zugang in der Bauchdecke, eine sog. PEG-Sonde, künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Gesundheitszustandes war nicht mehr zu erwarten. Frau K. hatte im September 2002 gegenüber ihrer Tochter geäußert, sie wolle keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form künstlicher Ernährung und Beatmung und nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden, falls sie bewusstlos werde und sich nicht mehr äußern können. Der Bitte der Tochter, den Wunsch schriftlich zu fixieren, war sie jedoch nicht nachgekommen. Entsprechend dem mündlich geäußerten Wunsch ihrer Mutter bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu deren Betreuern bestellt worden waren, um die Einstellung der künstlichen Ernährung, um ihrer Mutter ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten. Nachdem die Tochter der Patientin am 20.12.2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens am 21.12.2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Frau K. wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte der Angeklagte der Tochter von Frau K. am selben Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen. Diese
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schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen. Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten als einen gemeinschaftlich mit der Tochter begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun – im Gegensatz zum bloßen Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung durch Unterlassen – gewürdigt, der auch nicht durch eine mutmaßliche Einwilligung der Patientin gerechtfertigt werden konnte.
2. Urteilsgründe Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben, ihn freigesprochen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Das Landgericht sei im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die durch den Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig gewesen sei und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme einen rechtswidrigen Angriff gegen die körperliche Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin dargestellt hätte. Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die künstliche Ernährung zu unterlassenen, elle sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gelte jetzt, wie § 1901 a Abs. 3 BGB i.d.F. des Patientenverfügungsgesetzes nunmehr ausdrücklich bestimme, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Dabei sei es hier nicht auf einen – im Einzelfall möglicherweise schwer feststellbaren – mutmaßlichen Willen angekommen, da ihr wirklicher, vor Eintritt ihrer Einwilligungsunfähigkeit geäußerter Wille zweifelsfrei festgestellt worden sei. Allerdings dürfe die Frage, wo die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verlaufe und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginne, nicht nur als zivilrechtsakzessorisches Problem gesehen werden. Es handele sich vielmehr um eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden sei. Danach setze Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder –abbruch voraus, dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt sei und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des
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Lebens geeignet sei. Nur in diesem Zusammenhang habe der Begriff „Sterbehilfe“ einen systematischen und strafrechtlich legitimierenden Sinn. Eine Rechtsfertigung durch Einwilligung komme nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränke, einen Zustand (wieder-)herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lasse, indem zwar – auch im Wege der indirekten Sterbehilfe - Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht mehr behandelt werde, so dass der Patient letztlich dem Sterben überlassen werde. Die Rechtfertigung gelte für den behandelnden Arzt, den Patientenvertreter und deren Hilfspersonen. Dabei sei es unerheblich, ob der Behandlungsabbruch – naturalistisch gesehen - durch Tun oder Unterlassen vorgenommen werde.
3. Stellungnahme Dem Urteil stimme ich, auch in der Begründung, zu. Allerdings sind einige Klarstellungen angebracht. a) Auch wenn das Handeln des Angeklagten im Zusammenwirken mit den Betreuern der Durchsetzung des Patientenwillens und der Beendigung rechtswidriger Zwangsernährung diente, verstieß m. E. die Eigenmächtigkeit des Eingriffs in den organisatorischen Ablauf der Pflege – Durchtrennen des Ernährungsschlauches während der Abwesenheit des Pflegepersonals – gegen die im Pflegevertrag von der Patientin anerkannten Zuständigkeiten von behandelndem Arzt und Pflegepersonal. Der Betreuer und sein Rechtsanwalt sind nicht befugt, sich ohne Not darüber hinwegzusetzen. Mit Recht weist der Bundesgerichtshof darauf hin, dass es an einer Notwehr- bzw. Nothilfelage schon deswegen fehlte, weil die Abwehrhandlung gegen die drohende Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung zugleich die Gefährdung des Lebens der Patientin zur Folge hatte, was einer eigenen Legitimation bedarf. Auch im Übrigen lag ein Eilfall nicht vor, da die Patientin sich bereits seit 5 Jahren in einem stabilen Wachkoma befand und daher bis zur Herbeiführung einer betreuungsgerichtlichen (Eil-)Entscheidung ohne weiteres gewartet werden konnte. Dies wäre sachgemäß gewesen, weil der Heimleitung auch nicht die Möglichkeit genommen werden durfte, das Handeln der Betreuer durch das Vormundschaftsgericht (jetzt: Betreuungsgericht) überprüfen zu lassen. In der amtlichen Begründung des PatVfgG55 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jederzeit die in den Behandlungsdialog (§ 1901b Abs. 1 u. 2 BGB n.F.) einbezogenen Personen, aber auch jeder Dritte, beim Betreuungsgericht eine Überprüfung des Betreuerhandelns anregen können, wenn sie befürchten, das der Vertreter bei seiner Entscheidung nicht alle relevanten Gesichts55
BT-Drucks. 16/8442 S. 11(unten) u. 19.
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punkte berücksichtigt hat. Darauf hätte der Angeklagte die Heimleitung hinweisen sollen, bevor er den Betreuern zur vertragswidrigen Eigenmacht riet. Eine gerichtliche Überprüfung des von den Betreuern angenommenen Sterbewillens wäre hier schon deswegen nicht aussichtslos gewesen, weil die Patientin gerade keine Patientenverfügung errichtet hatte, in der sie lebenserhaltende Maßnahmen untersagt hatte. Dies ist hier von besonderer Bedeutung, weil ihre Tochter sie ausdrücklich gebeten hatte, ihre Äußerung, bei Bewusstlosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit nicht künstlich ernährt oder beatmet oder an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden zu wollen, mit ihrem Ehemann zu besprechen und sodann schriftlich zu fixieren. Es geht nicht an, nur mündlich geäußerten Wünschen auf Behandlungsbegrenzung ohne weiteres denselben Verbindlichkeitsgrad zuzumessen wie den in einer schriftlichen formgerechten Patientenverfügung niedergelegten Verboten. Sonst macht es keinen Sinn, dass § 1901a Abs. 1 BGB n.F. nach kontroverser rechtspolitischer Diskussion für die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung Schriftlichkeit voraussetzt. Deshalb binden lediglich mündlich vor Eintritt der Krise ausgesprochene allgemeine Behandlungswünsche den Betreuer nach § 1901a Abs. 2 BGB n.F. nicht unmittelbar, sondern sind in seine Würdigung der Gesamtsituation mit einzubeziehen. Der Betreuer hat dann „auf der Grundlage“ der Behandlungswünsche eine eigene, der Überprüfung durch das Betreuungsgericht zugängliche Entscheidung zu treffen.56 Das gilt insbesondere dann, wenn sich – wie hier – der nur mündlich geäußerte Wunsch nicht auf ein erwartetes konkretes Krankheitsbild bezog, sondern lediglich auf einen allgemeinen Zustand der Bewusstlosigkeit, der nicht ohne weiteres das Wachkoma in all seinen unterschiedlichen Stadien einschließen muss.57 Der früher geäußerte mündliche Wunsch war also nicht unmittelbar verbindlich, sondern lediglich Indiz für einen entsprechenden individuell-mutmaßlichen Willen zur Tatzeit. Hätte das Pflegeheim um gerichtliche Überprüfung der Betreuerentscheidung nachgesucht, hätte auch berücksichtigt werden können, dass es fraglich erscheint, ob eine medizinische Indikation zur Einstellung der künstlichen Ernährung vorlag. Davon scheint der behandelnde Arzt ausgegangen 56 Vgl. BT-Drucks. 16/8442 S. 11: „Als zusätzliches Erfordernis für eine solche unmittelbare Bindungswirkung des in einer Patientenverfügung geäußerten Behandlungswillens fordert der Entwurf, dass die Willensbekundung schriftlich vorliegt. Liegen nicht sämtliche dieser Voraussetzungen vor, hat die Patientenverfügung keine unmittelbare Bindungswirkung. Dann bedarf es immer einer Entscheidung des Betreuers über die Einwilligung in die anstehende ärztliche Maßnahme, die unter Berücksichtigung des individuell-mutmaßlichen Willens des Betreuten zu treffen ist [Hervorhebung nicht im Original].“ 57 Vgl. dazu Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin, BT-Drucks. 15/3700 S. 14 und Fn. 34.
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zu sein, obwohl die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung von Mai 199458 dagegen sprechen. Sie lauten insoweit: „Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewusstlosigkeit (apallisches Syndrom; auch so genanntes Wachkoma) haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Lebenserhaltende Therapie einschl. – ggf. künstlicher – Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten…Die Dauer der Bewusstlosigkeit darf kein alleiniges Kriterium für den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen sein.“ In Übereinstimmung hiermit hat der Vorsitzende des Marburger Bunds59 nach der Urteilsverkündung – m. E. zutreffend - erklärt: Aus dem Zustand des Wachkomas dürfe nicht abgeleitet werden, dass solche Menschen per se nicht mehr leben wollen. Wachkomapatienten seien keine Sterbenden, und ihr Leben sei nicht sinn- oder wertlos60. Es bedurfte also, da eine einschlägige Patientenverfügung fehlte, überzeugender konkreter Anhaltspunkte für einen jetzt vorhandenen Sterbewillen, wobei hier offen bleiben mag, warum die Tochter erst im März 2006, nachdem die Patientin bereits seit November 2002 im Wachkoma lag, von der Berufsbetreuerin die Einstellung der Ernährung verlangte und dies nicht bereits nach der Diagnose „Wachkoma“ tat61. Dies hätte nahe gelegen, wenn die Patientin von vornherein und unter allen Umständen eine künstliche Ernährung ausgeschlossen hätte. Es ist nicht unproblematisch, wenn derart schwerwiegende Entscheidungen auf mündliche, Jahre zurückliegende und schwer überprüfbare Äußerungen von Patienten gestützt werden. Jedenfalls sind im Interesse des Lebensschutzes Schwerstbehinderter, die keine schriftliche Patientenverfügung erstellt haben und sich nicht im Sterbeprozess befinden, strengste Anforderungen an die Annahme eines mutmaßlichen Sterbewillens zu stellen. Das sieht der Senat im Grundsatz ebenso, wenn er allgemein darauf hinweist, dass für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens beweismäßig strenge Maßstäbe gelten, die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben; dies insbesondere dann, wenn eine schriftliche Patientenverfügung fehle. Den oben im Einzelnen aufgeworfenen Fragen brauchte der Bundesgerichtshof jedoch nicht nachzugehen, da ihn revisionsrechtlich die Feststellung des Tatrichters gebunden hat, dass die Patientin die Fortsetzung der künstlichen PEG-Ernährung nie gewollt hat und dass Patientenvertreter und 58
Vgl. Fn. 24. Verband der angestellten und verbeamteten Ärzte Deutschlands. 60 DÄrztebl. v. 2. 7. 2010 S. B-1137 (unten); vgl. auch Fn. 22. 61 Vgl. die Stellungnahmen der Deutschen Hospizstiftung im Sonder Hospiz Info Brief 1/2010 v. 1.06.2010 und 2/2010 v. 2.07.2010, www.hospize.de. 59
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Arzt übereinstimmend einen solchen mutmaßlichen Patientenwillen auch für die Tatzeit angenommen haben. Es handelte sich daher ungeachtet der oben dargelegten Bedenken – jedenfalls aus der Sicht des Revisionsgerichts - um einen strafrechtlich zulässigen Behandlungsabbruch. Dennoch erscheinen mir die aufgeworfenen Fragen nicht ohne Bedeutung; auch, weil dem Eindruck entgegengewirkt werden sollte, dass in Pflegeheimen tödliche Eigenmacht der Betreuer zulässig sei, anstatt die Entscheidung des zuständigen Betreuungsgerichts herbeizuführen.62 b) Die epochemachende Bedeutung des Urteils liegt jedoch nicht in erster Linie in dem Freispruch des angeklagten Rechtsanwalts, der in gewisser Hinsicht ordnungswidrig gehandelt haben mag, aber schon deshalb keinen Totschlagsversuch begangen hat, weil der Behandlungsabbruch zulässige Sterbehilfe war. Die herausragende Bedeutung des Urteils liegt vielmehr in der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts Schwerkranker in zigtausenden künftigen Fällen. Darauf, ob man dem Wille des lebensbedrohlich erkrankten Patienten durch Tun oder Unterlassen Rechnung trägt, kommt es nicht mehr an. Der 2. Strafsenat des BGH unter Leitung der Jubilarin hat die Transformation der liberalen Vorschriften des zivilrechtlichen Patientenverfügungsgesetzes in das Strafrecht überzeugend geleistet, ohne der Versuchung zu unterliegen, diese Vorschriften einschränkungslos zur Eingrenzung des Anwendungsbereichs des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) heranzuziehen. Zu Recht nimmt der Senat an, dass die Frage der strafrechtlichen Rechtfertigung von Tötungshandlungen nicht nur als zivilrechtsakzessorisches Problem behandelt werden kann, sondern autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu beantworten ist. Als solche sieht der Senat neben den betreuungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen der §§ 1901a ff. BGB n.F. die weitere Voraussetzung an, dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und der von ihr oder ihrem Vertreter verlangte Behandlungsabbruch eine (medizinisch indizierte) Maßnahme betrifft, die zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist. Allerdings kann es im Einzelfall zweifelhaft sein, wann eine lebensbedrohende Erkrankung vorliegt. Das Erfordernis einer lebensbedrohenden Erkrankung bleibt sowohl hinter der vom XII. Zivilsenat postulierten Bedingung zurück, wonach die Grunderkrankung (bereits) einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen haben müsse63, als auch hinter der von der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ postulier62
Nach Berichten der NRZ v. 14. und 16.7.2010, www.derwesten.de/nrz, hat in einem Gelderner Hospiz die Ehefrau den lebenserhaltenden Ernährungsschlauch ihres seit 23 Jahren an der unheilbaren Erbkrankheit Chorea Huntington leidenden Ehemanns unter Berufung auf seine Patientenverfügung und das BGH-Urteil v. 25. Juni 2010 gegen den Willen der Heimleitung eigenmächtig durchgeschnitten. Der Patient konnte gerettet werden. 63 BGHZ 154, 205.
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ten Bedingung, wonach das Grundleiden irreversibel sein müsse und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen werde64. Eine lebensbedrohliche Erkrankung ist nicht eine tödliche Krankheit, wie diese beiden Vorschläge voraussetzen. Eine tödliche Krankheit verkürzt das Leben, eine lebensbedrohliche Erkrankung kann das Leben verkürzen, muss es aber nicht. Die Bedrohung des Lebens des Erkrankten kann durch ärztliche Kunst abgewendet werden, was bei einem irreversiblen tödlichen Verlauf nicht der Fall ist. Der 2. Strafsenat erweitert also den Bereich straflosen Verzichts auf medizinisch indizierte lebenserhaltende Maßnahmen deutlich und sachgerecht. Er hält aber daran fest, dass das Selbstbestimmungsrecht nur rechtfertigt, einer lebensbedrohlichen Krankheit ohne hemmende ärztliche Intervention ihren tödlichen Lauf zu lassen, nicht aber den Tod durch vom Krankheitsverlauf losgelöste neue Eingriffe herbeizuführen. Ich persönlich möchte sogar noch weiter gehen, indem ich, wie oben unter III 1 dargelegt, auch suizidale Behandlungsverbote, also solche, die eine Genesung verhindern sollen, von § 216 StGB erfasst sehe. Der vorliegende Fall bot jedoch keinen Anlass, sich zu einer derartigen Fallkonstellation zu äußern. Künftig wird jedenfalls kein Arzt oder Patientenvertreter strafrechtliche Verfolgung zu befürchten haben, wenn sie die lebenserhaltende Behandlung eines lebensbedrohlich Erkrankten entsprechend dessen vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen einstellen und dabei die Vorschriften der § 1901a ff. BGB beachten.
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BT-Drucks. 15/3700 S. 45.
Zur Zukunft der Widerspruchslösung Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf ANDREAS MOSBACHER
1. Bestandsaufnahme: Widersprüchliches zum Widerspruch Die vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der Entscheidung BGHSt 38, 214 entwickelte „Widerspruchslösung“ bei Beweisverwertungsverboten weckt wenig Begeisterung. Zwar hat die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung die Widerspruchslösung inzwischen auf immer mehr Fälle gesetzlich nicht geregelter relativer Beweisverwertungsverbote im Strafverfahren1 und im Bußgeldverfahren2 erweitert. Mit dieser Erweiterung des Anwendungsbereichs ging allerdings keine Vertiefung des dogmatischen Fundaments einher. Im Gegenteil: Ganz unterschiedliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zum Widerspruchserfordernis aus den letzten Jahren zeigen grundlegende Differenzen im Verständnis des Widerspruchs und seiner dogmatischen Begründung auf.3 Deshalb gilt die Widerspruchslösung vielen in der Literatur als ein Hauptbeispiel für dogmatische „Begründungsdefizite“ höchstrichterlicher Rechtsprechung.4 Die Kritik an der Widerspruchslösung trifft in weiten Teilen zu. Der Rechtsprechung ist es bislang nicht gelungen, eine überzeugende Begründung der Widerspruchslösung zu formulieren.5 Mit der Erstreckung der Widerspruchslösung auf immer mehr Fallgruppen werden die Begründungsmängel zunehmend prekärer.6 Gleichwohl finden viele das Anliegen der Widerspruchslösung, den Streit um Beweisverwertungsverbote schon in der Hauptverhandlung und nicht erst in der Revision zu führen, nachvollziehbar
1 Vgl. zusammenfassend Gössel in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. L Rdn. 28 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 136 Rdn. 25 2 OLG Rostock StRR 2010, 38 m. Anm. Burhoff. 3 Hierzu näher Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 342 ff. m.w.N. 4 Fezer HRRS 2010, 281, 282 ff. m.w.N. 5 Vgl. Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 342 ff. m.w.N. 6 Vgl. Fezer HRRS 2010, 281, 283; ders. JZ 2006, 474.
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und praktisch sinnvoll.7 Auch mir scheint die Widerspruchslösung im Grundsatz ein berechtigtes Anliegen zu verfolgen. Ein Beispiel ist die fehlerhafte oder fehlende Beschuldigtenbelehrung, an der die Widerspruchslösung entwickelt wurde. Schweigt der rechtskundige oder von einem Rechtskundigen verteidigte Angeklagte hierzu in der Hauptverhandlung, hat das Gericht u. U. keinerlei Anlass, von sich aus die Frage der Belehrung zu thematisieren, wenn sich der Belehrungsfehler nicht aus den Akten ergibt.8 Trägt der Angeklagte seine Bedenken gegen die Beweisverwertung und die diesbezüglichen Tatsachen erstmals mit der Revision vor, muss die Frage erlaubt sein, weshalb er sein Recht nicht schon in der Hauptverhandlung gesucht und dort – mit unmittelbarer Abhilfemöglichkeit – die Verwertbarkeit des Beweises bemängelt hat, wenn ihm dies möglich und zumutbar war.9 Das sinnvolle Anliegen der Widerspruchslösung muss indes auch sinnvoll dogmatisch begründet werden können, sonst lässt sich die Widerspruchslösung nicht halten.10 Ich werde im Folgenden versuchen, eine dogmatische Begründung zu formulieren, die eine Neuausrichtung der Widerspruchslösung bedingt. Ergebnis meiner Überlegungen ist, dass sich der Widerspruch konsistent als eine besondere Form des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO verstehen lässt, der sich in erster Linie gegen die Beweiserhebung durch den Vorsitzenden in der Hauptverhandlung richtet.
2. Neues Verständnis: Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf Welchen Sinn hat eigentlich die Widerspruchslösung? Die bisherigen Begründungsversuche der Widerspruchslösung überzeugen – ohne dies hier vertiefen zu können – nicht.11 Einen neuen Ansatz zum Verständnis des Widerspruchs bietet die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zum Verstoß gegen Belehrungspflichten nach dem Wiener Übereinkommen bei Festnahme eines ausländischen Beschuldigten. Danach soll der Widerspruch dem Tatgericht die Möglichkeit und Veranlassung geben, dem gerügten Verfahrensfehler freibeweislich im Einzelnen nachzugehen. Der befristet zu erhebende Widerspruch diene der gebotenen Verfahrens7
Vgl. Basdorf StV 2010, 414, 416 ff. Vgl. hierzu auch Hamm StV 2010, 418, 421. 9 Hierzu näher Basdorf StV 2010, 414, 416. 10 Zutreffend kritisch deshalb Fezer HRRS 2010, 281, 283. 11 Näher hierzu nur aus jüngerer Zeit Fezer HRRS 2010, 281 ff.; Gaede wistra 2010, 210, 212; Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 347, je m.w.N.; intuitiv am überzeugendsten noch der jüngste Begründungsansatz von Basdorf StV 2010, 414, 416 ff, der in einigen Teilen der hiesigen Lösung nahe steht. 8
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förderung, ohne dem verteidigten Angeklagten unzumutbare Anforderungen aufzuerlegen.12 Damit wird der Widerspruch in der Sache als eine Art Zwischenrechtsbehelf verstanden, der eine Überprüfung der Voraussetzungen von Verwertungsverboten in der Tatsacheninstanz ermöglicht und notwendig macht.13 In diese Richtung geht auch der neuere Ansatz von Basdorf, wonach die Widerspruchslösung dem verteidigten Angeklagten im Interesse der Schonung von Justizressourcen – orientiert am Subsidiaritätsgedanken – die frühest mögliche zumutbare Geltendmachung einer Rechtsverletzung abverlangt, um in der Instanz die Frage des Verwertungsverbots eingehend prüfen und Abhilfe schaffen zu können. Ein solches Verständnis scheint mir die einzig sinnvolle Interpretation der Widerspruchslösung: Inhalt des Widerspruchs bei Beweisverwertungsverboten ist im Kern, dass der Verfahrensbeteiligte Einwände gegen eine beabsichtigte Beweiserhebung oder die Verwertung eines solchen Beweises geltend macht. Weil das Beweisverwertungsverbot die Ausnahme von der Regel darstellt, erscheint es erwägenswert, dass sich derjenige ausdrücklich auf das Verbot zu berufen hat, der es geltend machen will.14 Es liegt nahe, dass sich der Betroffene mit seinem Widerspruch zunächst an dasjenige Gericht wendet, das den Beweis erheben und verwerten will; denn damit kann er unmittelbar in der Hauptverhandlung sein Ziel – Unterlassen der Beweiserhebung oder Beweisverwertung – erreichen. Folge des Widerspruchs muss zum einen sein, dass sich das Gericht um die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Beweisverwertungsverbots kümmert (wenn es bis dahin noch keinen Anlass dazu hatte, einer solche Ausnahmemöglichkeit nachzugehen), zum anderen, dass es den Widerspruchsführer bescheidet, über seinen Einwand also eine begründete Entscheidung trifft. Nach bisherigem Verständnis ist das Gericht zu einem Zwischenbescheid über die Begründetheit des Widerspruchs nicht verpflichtet.15 Dies erscheint unbefriedigend und dem Bild des „Dialogs der Verfahrensbeteiligten“, wenn nicht gar den Grundsätzen des fairen, offenen Verfahrens zu widersprechen. Denn dem Verfahrensbeteiligten bleibt beim Schweigen des Gerichts keine Möglichkeit, sich in seinem Verhalten auf die Entscheidung einzustellen. Ein berechtigtes Bedürfnis, über die Verwertbarkeit erst in der abschließenden Urteilsberatung zu entscheiden, ist nur in seltenen Fällen ersichtlich; regelmäßig ist die Frage des Verwertungsverbots vor der beabsichtigten Beweiserhebung zu klären. 12 BGHSt 52, 38; hierzu auch Gaede HRRS 2007, 402; Junker StRR 2008, 22; Mosbacher JuS 2008, 688, 691 f. 13 Vgl. Mosbacher JR 2007, 387 (389); ders. NJW 2007, 3686, 3688; ders. FS Widmaier, S. 339, 344; dem folgend OLG Hamburg NJW 2008, 2597. 14 Vgl. auch Basdorf StV 2010, 414, 416. 15 BGH NStZ 2007, 719; Meyer-Goßner § 136 Rdn. 26 m.w.N.
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Mit dem Erfordernis eines „Widerspruchs“ wird der Streit um die Voraussetzungen von Beweisverwertungsverbote dort verortet, wo er hingehört, nämlich in die Tatsacheninstanz. Insoweit greift der (als Aspekt fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses zu verstehende)16 Subsidiaritätsgedanke.17 Dieser spricht dafür, dass eine Verfahrensrüge dann mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig ist, wenn der Betreffende sein Recht in der Instanz durch einen Rechtsbehelf wie den Widerspruch wirksam hätte erlangen können.18 Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Widerspruch auch als wirksamer Zwischenrechtsbehelf verstanden und dogmatisch begründet werden kann. Dies ist – wie sogleich zu zeigen sein wird – nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll.
3. Neue Grundlage: Die Verankerung der Widerspruchslösung in § 238 Abs. 2 StPO Die Widerspruchslösung lässt sich dogmatisch stringent als Unterfall der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO konstruieren. Mit der Anbindung an ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Präklusionssystem19 und dem Verständnis des Widerspruchs als gesetzlich ausdrücklich vorgesehener Zwischenrechtsbehelf erhält die Widerspruchslösung eine Grundlage, die mit den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers wie auch der Rechtsprechung von Reichsgericht und Bundesgerichtshof übereinstimmt. Im Einzelnen:
a) Der Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf Der Widerspruch gegen die Beweisverwertung kann als Unterfall des Zwischenrechtsbehelfs aus § 238 Abs. 2 StPO verstanden werden. Die Beweiserhebung ist gemäß § 238 Abs. 1 StPO Sache des Vorsitzenden. Der Vorsitzende ordnet in eigener Kompetenz die Beweiserhebung an und führt sie durch20. Im Rahmen der Beweiserhebung entscheidet der Vorsitzende in eigener Wertung auch darüber, ob ein Beweisverwertungsverbot greift.21 Will sich ein Verfahrensbeteiligter gegen die vom Vorsitzenden beabsichtigte Beweiserhebung wenden, kann er nach § 238 Abs. 2 StPO das Gericht 16
Vgl. kritisch hierzu Lindemann StV 2010, 379, 384 m.w.N. Näher Basdorf StV 2010, 414, 416 f. 18 Vgl. zur Revision als bei hauptverhandlungsinternem Rechtsweg gleichsam „subsidiärem Rechtsmittel“ auch Mosbacher FS Widmaier, S. 339, 349 m.w.N. 19 BVerfG JR 2007, 390 20 BGH NStZ 1982, 432; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2009, § 238 Rn. 11. 21 BGHSt 51, 1, 4; LR/Becker § 238 Rdn. 11. 17
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anrufen. Das Gericht muss, sofern der Vorsitzende der Beanstandung nicht abhilft, durch Beschluss entscheiden, ob die vom Vorsitzenden beabsichtigte Beweiserhebung zulässig oder nicht, ob also etwa eine Urkunde verlesen werden darf oder nicht.22 In diesem Rahmen muss sich das Gericht bereits nach geltendem Recht mit der Frage des Beweisverwertungsverbots begründet auseinandersetzen. Einen ersten Schritt hin zur Gleichausrichtung des Widerspruchserfordernisses mit der Dogmatik zu § 238 Abs. 2 StPO enthält die Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit eines Zwischenrechtsbehelfs bei der Feststellung eines Verlöbnisses als Voraussetzung der Rüge des Verstoßes gegen § 252 StPO.23 Nach Ansicht des 4. Strafsenats muss ein Verfahrensbeteiligter das Gericht dann nach § 238 Abs. 2 StPO anrufen, wenn der Vorsitzende eine Art „Zwischenfeststellung“ zu den tatsächlichen Grundlagen eines Beweisverwertungsverbots trifft. Dies gilt auch, wenn das Beweisverwertungsverbot (wie bei § 252 StPO) zwingend ist. Begründet wird dies mit Sinn und Zweck des Zwischenrechtsbehelfs: Damit werde die Gesamtverantwortung des Spruchkörpers für die Rechtsförmigkeit der Verhandlung aktiviert, wodurch die Möglichkeit eröffnet sei, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden, durch die ein Fehler des Vorsitzenden nur auf Kosten einer mehr oder weniger langen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ausgeräumt werden könnte.24 Ganz ähnlich hatte schon das Reichsgericht einen Fall entschieden, in dem der Vorsitzende vor der Vernehmung eines Arztes festgestellt hatte, dass dieser von der Schweigepflicht entbunden sei.25 Diese Feststellung war zwar „rechtsirrig“; der hierauf gestützten Revisionsrüge blieb aber der Erfolg versagt, weil der Angeklagte und sein Verteidiger es anlässlich dieser „Feststellung“ unterlassen hatten, „sich gegen die Vernehmung zu verwahren und die Entscheidung des Gerichts anzurufen (§ 238 Abs. 2 StPO).“26 In diesem Sinne erscheint ein „Zwischenfeststellungsverfahren“ über die tatsächlichen Voraussetzungen von Beweisverwertungsverboten in vielen Fällen angebracht und sinnvoll.27 Gegen eine Zwischenfeststellung ist dann der Rechtsschutz des § 238 Abs. 2 StPO eröffnet, denn eine derartige Zwischenfeststellung kann auch als „Anordnung“ des Vorsitzenden im Sinne von § 238 Abs. 2 StPO verstanden werden. Hierzu zählen alle Maßnahmen, mit denen der Vorsitzende auf den 22
LR/Becker § 238 Rdn. 33. BGH NJW 2010, 1824. 24 BGH NJW 2010, 1824 = StRR 2010, 262 f. m. Anm. Arnoldi; vgl. auch LR/Becker § 238 Rdn. 46. 25 RGSt 71, 21. 26 RGSt 71, 21, 23. 27 Vgl. auch Arnoldi StRR 2010, 262, 263. 23
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Ablauf des Verfahrens und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten einwirkt, also auch die Erteilung von Hinweisen.28
b) Rügepräklusion beim Unterlassen des Widerspruchs mangels Rechtsschutzbedürfnis Unterlässt der Verfahrensbeteiligte die Anrufung des Gerichts mittels „Widerspruchs“ gegen die Beweiserhebung, ist er mit einer entsprechenden Verfahrensrüge in der Revision präkludiert. Dies ergibt sich aus der verfassungskonformen29 Rechtsprechung zu § 238 Abs. 2 StPO, die mit Vorstellungen des historischen Gesetzgebers korrespondiert. Schon das Reichsgericht hatte den Grundsatz aufgestellt, dass Voraussetzung einer erfolgreichen Verfahrenrüge die vorherige Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO ist.30 Begründet wurde dies mit dem Gedanken, dass ein Urteil nicht auf dem Verfahrensfehler „beruhe“, wenn der Beschwerdeführer es unterlassen habe, den ihm bekannten Rechtsverstoß in der Hauptverhandlung zu rügen oder aus Anlass desselben Anträge zu stellen.31 Grundlage dieser Argumentation war die Auffassung des historischen Gesetzgebers, einer Präklusionsvorschrift bedürfe es aufgrund der Gesetzesfassung des § 337 StPO (früher § 376 StPO, im Entwurf § 300 StPO) nicht. In den Materialien heißt es hierzu: „Der Entwurf brauchte, vermöge der von ihm in § 300 aufgestellten Regel, nicht besonders vorzuschreiben, daß der Beschwerdeführer die Revision nicht auf die Beschränkung einer prozessualischen Befugnis gründen könne, wenn er durch sein eigenes Verhalten zu erkennen gegeben habe, dass er die Beschränkung für eine ihm nachtheilige nicht erachte“.32 Auf ein derartiges Verhalten des Beschwerdeführers wurde insbesondere geschlossen, wenn er von der ihm bekannten Möglichkeit der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO (bis 1924: § 237 StPO) keinen Gebrauch gemacht hatte.33 Heutigem Revisionsdenken ist zwar die 28
LR/Becker § 238 Rn. 17 m. w.N. BVerfG JR 2007, 390. 30 Vgl. RG GA 46 [1898/99], 337; RGSt 71, 21, 23; RG JW 1930, 760; 1933, 520; HRR 1938, Nr. 793; hierzu näher auch He. Schneider JuS 2003, 176 f. 31 Vgl. RGSt 4, 364; 10, 56; RGRspr. 5 [1883], 583: „Er hat von seinen Rechten keinen Gebrauch gemacht und kann deshalb eine Verletzung seines Vertheidigungsrechts nicht rügen.“; RGRspr. 6 [1884], 644; GA 42 [1894], 243. 32 Vgl. Hahn (Hrsg.), Die gesammelten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz, Bd. I (1880), S. 252; hierzu näher Löwe Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 14. Aufl. 1914, § 376 Ziff. 7 c m.w.N. 33 Vgl. RG GA [1898/99] 46, 337: „Eine Revisionsbeschwerde kann der Angeklagte daraus nicht ableiten, weil er gegen einen seine Vertheidigungsrechte verletzenden Eingriff des Vorsitzenden gemäß § 237 Abs. 2 StPO die Entscheidung des Gerichts anrufen konnte, dies jedoch unterlassen hat.“ 29
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Vorstellung fremd, durch das Unterlassen der Anrufung des Gerichts könne der Beruhenszusammenhang entfallen.34 Dem historischen Gesetzgeber war es aber ein besonderes Anliegen, Verfahrensrügen dann den Erfolg zu versagen, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung den Schluss zuließ, er erachte den Verfahrenslauf nicht als nachteilig. Auf eine besondere Präklusionsvorschrift glaubte der Gesetzgeber nur aufgrund der damaligen Beruhensdogmatik verzichten zu können. Demgemäß hatte auch schon das Reichsgericht die Möglichkeit einer Rügepräklusion bei Beweisverwertungsverboten erwogen, wenn der verteidigte Angeklagte in der tatrichterlichen Verhandlung der Verwertung und der ihr vorangehenden Beweiserhebung nicht widersprochen hatte.35 Der Bundesgerichtshof hat diese Ansätze des Reichsgerichts und des historischen Gesetzgebers von Beginn seiner Rechtsprechung an übernommen und ausgebaut. In der ersten Entscheidung zu § 238 Abs. 2 StPO heißt es ähnlich wie beim Reichsgericht, der Beschwerdeführer bringe mit dem Unterlassen der Beanstandung zum Ausdruck, dass er sich durch die Anordnung des Vorsitzenden nicht beschwert fühle.36 Weitere in der Rechtsprechung genannte Gesichtspunkte waren der stillschwiegende Verzicht auf eine spätere Revisionsrüge oder deren Verwirkung.37 Dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs gebührt der Verdienst, die Diskussion um den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO neu belebt zu haben. In der zweiten Entscheidung in Sachen Motassadeq wird der Grund für die Rügepräklusion beim Unterlassen des Zwischenrechtsbehelfs aus Sinn und Zweck von § 238 Abs. 2 StPO abgeleitet: Zweck des § 238 Abs. 2 StPO sei es, die Gesamtverantwortung des Spruchkörpers für die Rechtsförmigkeit der Verhandlung zu aktivieren, hierdurch die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden, durch die ein Fehler des Vorsitzenden nur auf Kosten einer mehr oder weniger langen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ausgeräumt werden könnte. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn es im unbeschränkten Belieben des um die Möglichkeit des § 238 Abs. 2 StPO wissenden Verfahrensbeteiligten stünde, ob er eine für unzulässig erachtete verhandlungsleitende Maßnahme des Vorsitzenden über den Rechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO zu beseitigen suche oder statt dessen hierauf im Falle 34 Vgl. LR/Becker § 238 Rdn. 45; Lindemann StV 2010, 379, 381; Mosbacher JR 2007, 387; in diese Richtung noch Schlüchter in: SK-StPO § 238 Rn. 29: „normative Zerschlagung des normativen Zusammenhangs“. 35 Vgl. RGSt 50, 364, 365; 58, 100, 101: „aber die Beschwerdeführer hätten etwaige, die Unzulässigkeit der Verlesung begründende Beanstandungen in der Hauptverhandlung zur Sprache bringen müssen.“ 36 BGHSt 1, 322, 325. 37 Umfassend LR/Becker § 238 Rdn. 43 m.w.N.
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eines ihm nachteiligen Urteils in der Revision eine Verfahrensrüge stützen wolle. Der Verfahrensbeteiligte habe daher grundsätzlich auf Entscheidung des Gerichts anzutragen; unterlasse er dies, könne er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setze würde, nicht mehr gehört werden.38 Diese Auslegung des § 238 Abs. 2 StPO kann sich zwar nicht unmittelbar auf die Gesetzesmaterialien zu § 238 StPO stützen.39 Sie entspricht aber der Vorstellung des historischen Gesetzgebers, der glaubte, auf eine Präklusionsvorschrift nur auf der Grundlage einer völlig anderen Beruhensdogmatik verzichten zu können.40 Die Entstehungsgeschichte des § 238 StPO spricht jedenfalls nicht gegen eine Rügepräklusion.41 Zur Rügepräklusion führt das Unterlassen des Widerspruchs (verstanden als Unterfall von § 238 Abs. 2 StPO) demnach, weil dem Verfahrensbeteiligten mit dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem er sein Recht in der Instanz erreichen kann. Ergreift er diese wirksame Rechtsschutzmöglichkeit nicht, kann er mit der entsprechenden Rüge (erst) in der Revision nicht mehr gehört, werden; ihm fehlt insoweit das Rechtsschutzbedürfnis.42
c) Einwände gegen die Rügepräklusion mangels Rechtsschutzbedürfnis Gegen dieses neue Verständnis, die Rügepräklusion beim Unterlassen von Widerspruch und Zwischenrechtsbehelf auf das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses für die Geltendmachung des Fehlers erst in der Revisionsinstanz zu stützen, sind eine Reihe von Einwänden erhoben worden. Die Einwände richten sich gegen die Grundlagen und Folgen der hier vertretenen Auffassung und lauten – verkürzt – im Kern wie folgt: Zu den Grundlagen: Im Strafverfahren spiele das Prinzip „Fehlen eines Rechtschutzbedürfnisses“ keine Rolle oder wenigstens keine solche, wie von den Befürwortern behauptet; der Ansatz lasse sich auf eine „fehlgeleitete Rezeption verfassungsrechtlicher Judikate“ zurückführen.43 Die Behaup38 BGHSt 51, 144, 147 f. = JR 2007, 382 m. Anm. Mosbacher; zustimmend LR-Becker § 238 Rdn. 46; dem folgend BGH NJW 2010, 1824. 39 Vgl. He. Schneider JuS 2003, 176, 179 f.; Gaede wistra 2010, 210, 214, je m.w.N. 40 LR/Becker § 238 Rdn. 43. 41 Bischoff NStZ 2010, 77, 79. 42 Näher zu diesem Ansatz Mosbacher JR 2007, 387; ders., Festschrift Widmaier (2008), S. 339, 342 ff.; Schneider in: KK-StPO, 6. Aufl. (2008), § 238 Rdn. 33 ff.; dagegen mit unterschiedlichen Argumenten Bischoff NStZ 2010, 77, 78 f.; Gaede wistra 2010, 210; Lindemann StV 2010, 379. 43 Lindemann StV 2010, 379, 383; ähnlich Gaede wistra 2010, 210, 214.
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tung, eine gesetzlich vorgesehene gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit schließe eine spätere, anderweitige Geltendmachung aus, sei nicht haltbar.44 Es gebe durchaus berechtigte Gründe, einen Verfahrensfehler nicht sogleich in der Hauptverhandlung, sondern erst später mit der Revision geltend zu machen.45 Zu den Folgen: Mit einer Ausweitung der Rügepräklusion gerate man „in ein Fahrwasser, das sich schnell in einen reißenden Bach der Beliebigkeit von Beschränkungen selbst zwingenden Rechts zu Lasten des Angeklagten“ entwickeln könne.46 Es sei dem Betroffenen nicht zumutbar, in der Hauptverhandlung ständig von einem Zwischenrechtsbehelf Gebrauch zu machen.47 Zudem belaste dies die Hauptverhandlung durch extensiv handzuhabende Widerspruchsnotwendigkeiten. Schließlich verschärfe eine Ausweitung der Rügepräklusion als Konsequenz des Ansatzes das Problem der Schlechtverteidigung.48
d) Verteidigung des Ansatzes der Rügepräklusuion mangels Rechtsschutzbedürfnis aa) Zum dogmatischen Argument des Fehlens eines Rechtsschutzbedürfnisses Die oben genannten Einwände überzeugen letztlich nicht. Das Unbehagen der Rechtsprechung und des historischen Gesetzgebers, eine Verfahrensrüge auch dann zuzulassen, wenn der Verfahrensbeteiligte von einem ihm zustehenden Zwischenrechtsbehelf in der Hauptverhandlung keinen Gebrauch gemacht hat, ist nachvollziehbar. Entscheidend hierfür ist, dass der Betroffene von einem ihm zustehenden Rechtsbehelf keinen Gebrauch macht, obwohl er damit unmittelbar sein Recht einfordern könnte. Dieses berechtigte Unbehagen wird von dem dogmatischen Gesichtspunkt „Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses“ besser erfasst als durch die Gedanken des konkludenten Verzichts, der Verwirkung oder gar fehlenden Beruhens.49 Es ist anerkannt, dass ein Rechtsschutzbedürfnis oder Rechtsschutzinteresse dann fehlen kann, wenn dem Betroffenen eine einfachere und sachnähere Möglichkeit des Rechtsschutzes zur Verfügung steht und er diese nicht ergreift, obgleich sie vergleichbar sicher und wirkungsvoll alle erforderlichen 44
Bischoff NStZ 2010, 77, 79. Lindemann StV 2010, 379, 384. 46 Bischoff NStZ 2010, 77, 79; ähnlich Gaede wistra 2010, 210, 214: „unbegrenzte Weiterungsoptionen“. 47 Gaede wistra 2010, 210, 214 f. 48 Gaede wistra 2010, 210, 215. 49 Vgl. näher Mosbacher JR 2007, 387; ders., Festschrift Widmaier, S. 339, 342 ff.; KKStPO/Schneider § 238 Rdn. 33. 45
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Rechtsschutzziele herbeiführen kann.50 Der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO ist eine solche einfachere Möglichkeit, sein Recht unmittelbar zu erlangen. Diese Rechtsschutzmöglichkeit ist jedenfalls in denjenigen Fällen auch effektiv, in denen nicht nur der Vorsitzende, sondern ein größerer Spruchkörper über die Zulässigkeit des Vorsitzendenhandelns entscheidet. Unabhängig von der Frage, ob der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO auch beim Verfahren vor dem Strafrichter Anwendung findet,51 liegt in derartigen Fällen von Personenidentität jedenfalls keine gleich effektive Rechtsschutzmöglichkeit vor, denn niemand kann gut „Richter in eigener Sache“ sein. Im Verfahren vor dem Strafrichter hat die Rügepräklusion deshalb keinen berechtigten Anwendungsbereich (zumal ohnehin dafür auch kaum ein praktisches Bedürfnis besteht). Anders verhält es sich bei größeren Spruchkörpern: Der Zwischenrechtsbehelf zwingt das Gericht dazu, sich mit den Einwänden des Verfahrensbeteiligten auseinander zu setzen; der Vorsitzende, dessen Maßnahme beanstandet wird, ist jenseits des Strafrichters bei der Entscheidung über die Beanstandung stets in der Minderheit. Die Entscheidung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO ist für den Vorsitzenden bindend.52 Wer eine solche sachnähere Beanstandungsmöglichkeit nicht ergreift, obgleich er auf diesem Wege sein Recht bekommen kann, dem fehlt aus meiner Sicht regelmäßig das Rechtsschutzbedürfnis, den Verfahrensfehler erst mit einem späteren sachferneren Rechtsmittel angreifen zu können. Dass dieser Rechtsgedanke auch im Strafverfahren gilt, ist eigentlich eine – vom Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang bestätigte – Selbstverständlichkeit.53 Natürlich betrifft die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsschutzbedürfnis im Strafverfahren einen völlig anderen Fall als die Rügepräklusion im Rahmen von § 238 Abs. 2 StPO;54 sie erkennt aber an, dass es sich beim Rechtsschutzbedürfnis um einen Grundsatz handelt, dessen Fehlen – wie in allen anderen Rechtsgebieten – eben auch im Strafverfahren zur Unzulässigkeit von Rechtsmitteln führen kann. Dass die neuere Rechtsprechung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Rügepräklusion beim Unterlassen des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StGB, auf der hiesige Überlegungen aufbauen, verfas-
50 Vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 145; BVerfG NStZ 2009, 166; vgl. auch BGH NJW 1994, 1351 m.w.N. 51 Hierzu KK-StPO/Schneider § 238 Rdn. 15; LR/Becker § 238 Rdn. 38, je m.w.N. 52 LR/Becker § 238 Rdn. 37. 53 Vgl. BVerfG NJW 2003, 1514, 1515; NStZ 2009, 166; ebenso KK-StPO/Schneider § 238 Rdn. 38. 54 Insoweit zutreffend Lindemann StV 2010, 379, 383.
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sungsgemäß ist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt.55 Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rügepräklusion in Zusammenhang mit § 238 Abs. 2 StGB (oder auch nur die neue dogmatische Ausrichtung dieses Rechtsinstituts) sind deshalb aus meiner Sicht nicht angebracht.
bb) Kein berechtigtes Interesse am „Aufsparen“ von Verfahrensfehlern Hat ein Prozessbeteiligter möglicherweise ein berechtigtes Interesse daran, sich diese Überprüfungsmöglichkeit gleichsam für die Revisionsinstanz „aufzusparen“? Vorgebracht wird, vor dem Hintergrund vielfältiger Verteidigungsstrategien könne es durchaus „vernünftig“ sein, auf konfrontative Maßnahmen wie die Beanstandung der Verhandlungsleitung einstweilen zu verzichten und eher auf einen kooperativen Verhandlungsstil zu setzen; wenn der „Ertrag“ dieser Bemühungen hinter den Erwartungen zurückbleibe, könne dies Anlass zur Beanstandung in Wege der Revision geben.56 Selbstverständlich soll nicht bestritten werden, dass der Angeklagte und sein Verteidiger ein erhebliches Interesse daran haben können, bestimmte Verfahrensfehler erst später zu thematisieren, wenn ihnen das Ergebnis der Hauptverhandlung nicht gefällt. Aber dieses Interesse ist kein berechtigtes. Denn dem Angeklagten geht es in diesem Fall überhaupt nicht um den Verfahrensfehler als solchen. Nicht dadurch fühlt er sich beschwert, sondern durch den Schuld- und Strafausspruch. Nicht gegen das unfaire Verfahren will er sich wenden, sondern gegen das aus anderen Gründen als ungerecht empfundene Ergebnis. Der Zweck von Präklusionsvorschriften ist aber gerade, den Verfahrensbeteiligten zur Geltendmachung seines Einwandes in der Instanz anzuhalten, um zu unterbinden, dass er die Verfahrenrüge als bloßes Mittel zu einer aus anderen Gründen für wünschenswert gehaltenen Urteilsaufhebung benutzt.57 Ein berechtigtes Interesse, sich Verfahrensfehler gleichsam für die Revision „aufzusparen“, um damit die Aufhebung aus anderen Gründen für falsch gehaltener Urteile zu erreichen, kann die Strafjustiz nicht anerkennen.58 Im Gegenteil gibt es ein berechtigtes Interesse des Rechtsstaates daran, dass sachnaher Rechtsschutz in der Instanz gesucht wird: Angesichts der knappen Ressource Justiz und unter dem Zügigkeitsgebot der Europäischen Menschenrechtskonvention sind im Interesse gleichmäßiger und gerechter 55
BVerfG JR 2007, 390. Lindemann StV 2010, 379, 384. 57 BGHSt 48, 290. 58 Vgl. BGHSt 48, 290. 56
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Strafverfolgung „Luxusrechtsbehelfe und Instanzenseligkeit“ fehl am Platz, sofern jedem Betroffenen eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht.59 Für die Vorrangigkeit des Rechtsschutzes in der Instanz streitet auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,60 wonach die Aufhebung und Zurückverweisung einer Sache aufgrund eines Verfahrensfehlers zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führt.61
cc) Keine Überfrachtung der Hauptverhandlung mit ständigen Zwischenrechtsbehelfen Zu den Folgeeinwänden: Nach Ansicht der Kritiker ist eine Überfrachtung der Hauptverhandlung mit ständigen Zwischenrechtsbehelfen zu besorgen. Der Verteidiger müsse nun sofort „in der Hitze des Gefechts der Hauptverhandlung“ jede Vorsitzendenanordnung auf Revisionschancen überdenken und jede zweifelhafte Anordnung angreifen oder jedenfalls Gelegenheit zur Überprüfung einfordern, weil er prinzipiell keine Rüge ohne Rücksprache mit dem Mandanten verloren geben dürfe.62 Diese Vorstellung des ständig intervenierenden Verteidigers, der sich mit der Rügeobliegenheit dem Verdacht unziemlicher Konfliktverteidigung aussetzt, weist auf ein zwar verbreitetes, aber normativ wenig überzeugendes Bild der Verteidigung in der Hauptverhandlung hin. Ist es wirklich Aufgabe des Verteidigers, gleichsam möglichst viele „Fehlerpunkte“ in der Hauptverhandlung zu sammeln, um für eine mögliche Revision ausreichend Munition in Form zur Urteilsaufhebung führender Verfahrensrügen zu haben, wenn das Ergebnis nicht passt? Normativ überzeugender scheint mir – ohne dies hier im Einzelnen näher ausführen zu können – ein anderes Bild: Der Verteidiger ist in der Hauptverhandlung normativ „auf Posten gestellt“, im Interesse seines Mandanten auf die Einhaltung der Verfahrensregeln achten und diese einfordern,63 nicht zur Fehlersammlung. Verfährt der Vorsitzende vielfach rechtsfehlerhaft, ist es natürlich wünschenswert, wenn ihn Verfahrensbeteiligte – hier ist auch die Staatsanwaltschaft in der Pflicht – durch den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO zu korrigieren suchen. Hierzu besteht indes kein Anlass, wenn das Verfahren den Regeln der Strafprozessordnung folgt. Beide Fälle voneinander – auch in der Situation der Hauptverhandlung – schnell und klar unterscheiden zu können, muss dem Verteidiger wie den anderen Voll59
Basdorf StV 2010, 414, 415. Vgl. BVerfG NJW 2005, 3485; NJW 2006, 672. 61 LR/Becker § 238 Rdn. 46; a.A. Lindemann StV 2010, 379, 382. 62 Gaede wistra 2010, 210, 215. 63 Zutreffend Hamm StV 2010, 418, 419 f. 60
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juristen normativ zugemutet werden. Wer Rechtsfehler am Verfahren nicht begründet benennen kann, der hat auch keinen Grund, vom Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch zu machen.64
dd) Zumutbarkeit des Zwischenrechtsbehelfs Gegen die Zumutbarkeit kann auch nicht eingewandt werden, dass der Verteidiger mit der Geltendmachung von Zwischenrechtsbehelfen strukturell überfordert wäre.65 In der Hauptverhandlung müssen alle Beteiligten situativ unmittelbar agieren und reagieren. Dies macht die Besonderheit und auch den Reiz der strafgerichtlichen Hauptverhandlung ganz wesentlich aus. Berufsrichter, Staatsanwälte und Verteidiger gelten dabei normativ gesehen als gleichermaßen rechtskundig, denn gemeinsame Voraussetzung der Berufsausübung ist regelmäßig die durch zwei Staatsexamen nachgewiesene Befähigung zum Richteramt. Dem normativen Idealbild entspricht der rechtskundige Verteidiger, der sich durch Studium der Verfahrensakten und Besprechung mit dem Mandanten auf die Hauptverhandlung sorgfältig vorbereitet. Weshalb ein solcher Verteidiger nicht in der Lage sein soll, Verfahrensvorgänge sogleich auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, wenn sie nicht ganz außergewöhnlich oder überraschend sind, erschließt sich nicht.66 Im Gegenteil: Strafverteidigung wird heute nach Jahrzehnten der Professionalisierung vielfach auf hohem Niveau betrieben; auch dies lässt das Einfordern einer aktiven Rolle der Verteidigung – etwa im Rahmen der Widerspruchslösung – berechtigt erscheinen.67 Damit ist letztlich auch der normative Erwartungshorizont normaler Kommunikation in sozialen Situationen erreicht: Wem etwas am Verfahren nicht passt, der soll sich melden, damit man prüfen kann, ob das Anliegen berechtigt ist. Eine wirksame Abhilfechance im Verfahren muss ergriffen werden. Wer hierzu schweigt und sich erst nach Abschluss der Hauptverhandlung über die fehlerhafte Verfahrensweise beschwert, muss sich zu Recht fragen lassen, weshalb er sich nicht schon früher beschwert hat, obwohl hierfür ausdrücklich eine gesetzlich vorgesehene wirksame Möglich64 Vgl. auch zutreffend Gaede wistra 2010, 210, 215 m. Fn. 62: eine Beanstandung ohne Grund wirke bestenfalls lächerlich, oft aber als bloße Obstruktion; vgl. zum Begründungserfordernis auch BGHSt 52, 38. 65 Zutreffend Hamm NJW 1996, 2187 und StV 2010, 418, 421: eine professionelle Verteidigung müsse mit der Widerspruchslösung umzugehen lernen; vgl. demgegenüber Gaede wistra 2010, 210, 215. 66 Nicht nachvollziehbar ist deshalb auch der Ansatz Gaedes, wonach die Begründungspflicht zur ständigen Unterbrechung der Hauptverhandlung führen muss; vgl. Gaede, wistra 2010, 210, 215. 67 König StV 2010, 410, 413.
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keit zur Verfügung stand, die unmittelbar zur Überprüfung der Verfahrensweise geführt hätte.
ee) Kein Ausschluss der Rügepräklusion wegen der Gefahr von „Schlechtverteidigung“ Bemängelt wird, dass jedenfalls die Ausweitung der Rügepräklusion zur Verschärfung des Problems der „Schlechtverteidigung“ führt; dies widerspreche der differenzierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Notwendigkeit tatsächlich konkreter und wirksamer Verteidigung.68 Mit diesem Argument wird indes die Axt an das wohl austarierte System der Verantwortungsteilung zwischen Gericht und Verteidigung gelegt. Denn wenn Justiz die Qualität von Strafverteidigung beurteilen sollte und dürfte, stünde zum einen die Unabhängigkeit der Strafverteidigung auf dem Spiel. Zum anderen wäre dies auch eine normative Überforderung der Justiz. Denn die Frage, welche Verteidigung im Strafverfahren sinnvoll ist oder nicht, lässt sich je nach Standort im Verfahren höchst unterschiedlich beantworten.69 Es gibt keinen anderen Weg, als die Qualitätssicherung der autonomen Selbstorganisation der Strafverteidiger und Anwälte in gesetzlichem Rahmen notwendiger Mindeststandards zu überlassen.70 Das deutsche Recht bietet über die Zulassungsschranken für die Anwaltschaft und deren Selbstorganisation hinreichend Mittel, eine ordnungsgemäße Verteidigung sicherzustellen. Zudem wählt in aller Regel nicht das Gericht, sondern der Beschuldigte seinen Verteidiger aus, was das Gericht – von extremen Ausnahmen abgesehen – zu respektieren hat; leider ergeben sich gerade hieraus aus Praxissicht die meisten problematischen Fälle von „Schlechtverteidigung“.71 Das Gericht muss sich bei seiner Auswahl eines Pflichtverteidigers von dem Gedanken leiten lassen, eine vernünftige und sachgerechte Verteidigung im Interesse des Angeklagten und einer geordneten Strafrechtspflege sicherzustellen.72 Liegen hier Versäumnisse vor, ist dies zu Recht zu beanstanden. Aus Einzelfällen von „Schlechtverteidigung“ aber zu schließen, man dürfe dem Verteidiger generell nicht zu viel an Rechtskenntnissen und an hiervon abgeleiteter Initiative
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Gaede wistra 2010, 210, 215 m.w.N. Vgl. hierzu auch Graf StV 2010, 407, 410. 70 Basdorf StV 2010, 414, 417. 71 Vgl. auch Graf StV 2010, 407, 409. 72 Vgl. Föhrig Kleines Strafrichterbrevier, aus dem Nachlass hrsg. von Basdorf/Harms/ Mosbacher, S. 12 f. 69
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in der Hauptverhandlung zumuten, erscheint mir wenig überzeugend.73 Ein mögliches Korrektiv brächte etwa der Ansatz, ab der (ggfs. erstinstanzlichen) Instanz des Landgerichts die Verteidigung Fachanwälten für Strafrecht zu übertragen. Dies müssten allerdings die Strafverteidiger selbst wollen und organisieren.74 Gegen das Problem der angeblichen „Schlechtverteidigung“ ist mithin kein Kraut gewachsen, das die Justiz effektiv anwenden könnte.75
ff) Zwischenrechtsbehelf und Anwendung zwingenden Rechts Ist mit der Begründung der Rügepräklusion durch das Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses der Weg zu uferloser Inpflichtnahme des Verteidigers für die Rechtsförmigkeit des Verfahrens76 eröffnet? Dem steht schon entgegen, dass die Präklusionswirkung nur soweit reicht, wie der Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO wirksamen Rechtsschutz in der Hauptverhandlung garantiert. Neben den von der Rechtsprechung zur Rügepräklusion schon formulierten Einschränkungen – der Verfahrensbeteiligte muss rechtskundig oder von einem Rechtskundigen vertreten sein, der Fehler darf sich nicht erst aus der Zusammenschau mit den Urteilsgründen ergeben, das Unterlassen einer Anordnung ist nicht Gegenstand von § 238 Abs. 2 StPO77 – ist eine weitere Einschränkung für das Verfahren vor dem Strafrichter anzuerkennen, denn hier ist mit der Anrufung nach § 238 Abs. 2 StPO wirksamer Rechtsschutz kaum zu erlangen (Stichwort: „Richter in eigener Sache“). Eine andere von der bisherigen Rechtsprechung aufgestellte Einschränkung überzeugt nach dem hier vertretenen Ansatz aber nicht, nämlich die Unterscheidung zwischen Normen, die einen Beurteilungsoder Ermessensspielraum des Vorsitzenden zulassen, und zwingendem Recht. Schon der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der zweiten Entscheidung in Sachen Motassadeq offen gelassen, ob er diese Unterscheidung weiterhin aufrecht erhalten will; konsequent wäre nach seinem dogmatischen Ansatz zur Rügepräklusion die Aufgabe dieser Unterscheidung.78 Weitgehend aufgegeben hat nunmehr in der Sache der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs diese Unterscheidung, indem er nämlich bei der Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen zwingenden Verfahrensrechts 73 Im Gegenteil wird zu Recht auf die steigende Qualität von Verteidigung durch jahrzehntelange Professionalisierung und die Einführung des Fachanwalts für Strafrecht hingewiesen, vgl. König StV 2010, 410, 413. 74 Basdorf StV 2010, 414, 417. 75 Basdorf StV 2010, 414, 417. 76 Vgl. Basdorf StV 2010, 414, 417. 77 Vgl. Bischoff NStZ 2010, 77, 78; Mosbacher FS Widmaier S. 339, 342. 78 Vgl. KK-StPO/Schneider § 238 Rn. 34; Mosbacher FS Widmaier S. 339, 353 f.
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dem hierzu vorrangig berufenen Vorsitzenden einen tatsächlichen Beurteilungsspielraum zugesteht.79 Gibt der Vorsitzende in der Hauptverhandlung in einer Art „Zwischenfeststellung“ bekannt, wie er die tatsächlichen Grundlagen eines (zwingenden) Beweisverwertungsverbots einschätzt, muss der Verteidiger schon gegen diese „Zwischenfeststellung“ das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO anrufen.80 Dies ist auch richtig und konsequent. Jede Beweiswürdigung, die zur Feststellung von Tatsachen führt, enthält notwendig einen höchstpersönlichen Überzeugungsakt des Feststellenden, der sich innerhalb eines gewissen Spielraums von Richtigkeit bewegt.81 Bei gleicher Tatsachengrundlage ist der eine von einem bestimmten Geschehen überzeugt, der andere nicht; beides kann gleichermaßen vertretbar sein.82 Jeder Rechtsanwendung geht die Feststellung von Tatsachen zum Zwecke der Subsumtion voraus. Dem Vorsitzenden kommt bei der Feststellung der zu subsumierenden Tatsachen demnach grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu, weil die Feststellung auf seiner Würdigung der im Streng- oder Freibeweisverfahren erlangten Erkenntnisse beruht und diese Würdigung stets einen höchstpersönlichen Akt des Überzeugtseins im Rahmen eines gewissen Spielraums von Richtigkeit voraussetzt. Erklärt der Vorsitzende etwa nach Einvernahme eines Polizisten als Vernehmungsbeamten über eine im Ermittlungsverfahren getätigte Aussage des Beschuldigten, er halte den vom Angeklagten vorgebrachten Verstoß gegen die Belehrungspflicht nicht für erwiesen, ist es sinnvoll, hiergegen den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO zu ergreifen, damit die Verantwortung des gesamten Spruchkörpers für diese Frage aktiviert werden kann. Es wäre doch mehr als unbefriedigend, wenn sich der Vorsitzende zunächst in diesem Sinne äußert, später das Gericht aber gleichwohl nach Beratung ein Beweisverwertungsverbot annimmt, nachdem das Strafverfahren in der Zwischenzeit aufgrund notwendig veränderter Verteidigungsstrategie unnötig aufgebläht werden musste.
c) Positive Folgen des Verständnisses vom Widerspruch als Zwischenrechtsbehelf Was ist mit dem Verständnis des Widerspruchs als Unterfall der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO gewonnen? Zum einen erfährt die Widerspruchslösung damit eine gesetzliche Anbindung, deren bisheriges
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NJW 2010, 1824. Vgl. auch Arnoldi StRR 2010, 262, 263. 81 Näher hierzu Mosbacher FS Seebode S. 241 82 Vgl. BGHSt 35, 39, 41. 80
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Fehlen von vielen bemängelt wird.83 Mit der Einstufung des Widerspruchs als Unterfall von § 238 Abs. 2 StPO wird die Widerspruchslösung in ein (verfassungsrechtlich unbedenkliches) dogmatisches Konzept der Rügepräklusion eingebunden, das mit dem Willen des historischen Gesetzgebers korrespondiert und von Reichsgericht wie Bundesgerichtshof in über 100 Jahren ständiger Rechtsprechung fortentwickelt wurde. Der Widerspruch als Unterfall des Zwischenrechtsbehelfs ist nicht nur – wie bislang – einseitige (Unmuts-) Äußerung eines Verfahrensbeteiligten zu einem bestimmten Vorgehen des Vorsitzenden, sondern leitet den Dialog in der Hauptverhandlung über das Beweisverwertungsverbot ein. Zu dem Widerspruch kann sich erklärt werden, das gesamte Gericht muss in Beschlussform zu den Einwänden des Widerspruchsführers Stellung nehmen, der sein anschließendes Prozessverhalten an den Gründen ausrichten kann. Wird der Beweis erhoben, bleibt der Widerspruchsführer zudem – anders als derzeit in manchen Fällen – nicht im Unklaren darüber, ob das Gericht zu einer Beweisverwertung in den Urteilsgründen neigt oder nicht. Das Neuverständnis des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf löst auch viele Einzelprobleme der Widerspruchslösung in ihrer derzeitigen Gestalt auf, die zu Recht von vielen in der Literatur bemängelt werden. Die Einzelheiten hierzu ergeben sich aus den Konsequenzen, die aus der hier vertretenen dogmatischen Neuausrichtung der Widerspruchslösung für die praktische Rechtsanwendung zu ziehen sind.
4. Neuausrichtung: Die Ausgestaltung des Widerspruchs als Zwischenrechtsbehelf Natürlich kann die dogmatische Neubegründung der Widerspruchslösung nicht ohne Folgen bleiben.84 Konkret hat die dogmatische Neuausrichtung der Widerspruchslösung als Zwischenrechtsbehelf folgende Auswirkungen:
a) Berücksichtigung von Beweisverwertungsverboten von Amts wegen Zunächst ist nach hiesigem Verständnis die Berücksichtigung von relativen Beweisverwertungsverboten nicht vom Widerspruch des Betroffenen abhängig, sondern nur ihre Geltendmachung in der Revision. Das Unterlassen des Widerspruchs führt nur zur Rügepräklusion, nicht zum „Verlust“ des Beweisverwertungsverbots über alle Instanzen hinweg. Dies öffnet den 83 84
Vgl. Jahn NJW-Beilage 2008, 13, 16. Zutreffend Gaede wistra 2010, 210, 212 m. Fn. 20.
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(ohne dies hier vertiefen zu können meines Erachtens richtigen) Weg, Beweisverwertungsverbote in jedem Verfahrensstadium von Amts wegen berücksichtigen zu können. Liegt nach Aktenlage etwa ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 136 StPO vor, hindert dies den hinreichenden Tatverdacht und damit die Anklageerhebung, wenn es sich um das zentrale Beweismittel handelt. Es muss nicht abgewartet werden, ob der Betroffene in der Hauptverhandlung (vorher soll ihm dies nach bisheriger Rechtsprechung nicht wirksam möglich sein)85 der Verwertung widerspricht. Das Verwertungsverbot wird nicht erst durch den Widerspruch ausgelöst oder aktiviert, es „entsteht“ nicht erst mit dem Widerspruch, sondern es ist grundsätzlich stets von den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten von Amts wegen zu beachten.86 Beweisverwertungsverbote hindern nach zutreffender Ansicht nicht, die davon betroffenen Tastsachen ganz unabhängig vom Verhalten des Angeklagten zu seinen Gunsten zu verwerten („Mühlenteichtheorie“).87 Zudem kann auch der Wille des Betroffenen relevant werden. Dem vom Beweisverwertungsverbot Betroffenen bleibt es selbstverständlich auch nach dem hier vertretenen Ansatz unbenommen, die Einführung ihm günstig erscheinender Beweise zu erreichen, auch wenn eigentlich die Voraussetzungen eines Verwertungsverbots vorliegen. Dies ist auch sinnvoll.88 Beweisverwertungsverbote sind ja kein Selbstzweck. Vielmehr wird das ausdrückliche Einverständnis mit einer Beweisverwertung beim Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften, die den Schutz des Betroffenen bezwecken, in aller Regel schon (im Rahmen der üblichen Abwägung) die Annahme eines Beweisverwertungsverbots hindern. Das ausdrückliche Einverständnis mit der Verwertung – im Sinne der auch vom 67. Deutschen Juristentag diskutierten „Zustimmungslösung“89 – ist also nur für die Frage von Relevanz, ob überhaupt ein Beweisverwertungsverbot vorliegt; der Widerspruch im hier verstandenen Sinne betrifft hingegen ausschließlich die Frage, wie ein Beweisverwertungsverbot in der Revision geltend gemacht werden kann. Mir scheint es jedenfalls sinnvoller, beide Fragestellungen systematisch zu unterscheiden, anstatt dem Unterlassen des Widerspruchs – wie bisher – eine Art Doppelfunktion für die Entstehung des Beweisverwertungsverbots und gleichzeitig für die Geltendmachung in der Revision zuzuschreiben.
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Hierzu zuletzt OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 148 m.w.N. Vgl. auch Singelnstein FS Eisenberg S. 643 ff. 87 Vgl. Roxin/Schäfer/Widmaier Strauda-FS, S. 435 (= StV 2006, 655); vgl. auch Roxin NStZ 2007, 616, 618; Mosbacher FS Widmaier S. 339, 347. 88 Basdorf StV 2010, 414, 416; Hamm StV 2010, 418, 421. 89 NJW-Spezial 2008, 698. 86
Zur Zukunft der Widerspruchslösung
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b) Widerspruch gegen die Beweiserhebung Der Verfahrensbeteiligte, der ein Beweisverwertungsverbot geltend machen will, hat regelmäßig schon der Erhebung des Beweises durch den Vorsitzenden