Federzeichnungen zur Schulgeschichte der letzten vier Jahrzenhnte im Rahmen einer pädagogischen Autobiographie 9783486743920, 9783486743906

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Federzeichnungen zur Schulgeschichte der letzten vier Jahrzenhnte im Rahmen einer pädagogischen Autobiographie
 9783486743920, 9783486743906

Table of contents :
Zum Geleit
Inhalt
I. Wie man vor bald 50 Jahren im Elternhaus für den Lehrerberuf vorbereitet wurde
II. Auf einer fränkischen Präparandenschule anfangs der 70er Jahre
III. Aus dem „Weiteren" ins „Engere" des Seminarinternats
IV. Am goldenen Baum des Lebens in der Praxis eines Schulverwesers
V. Vorwärts an der Hochschule
VI. Zurück zur Lehrerbildung
VII. Am Scheidewege
VIII. Nochmals weiter auf der alten Bahn!
IX. Umsatteln zur Realschule
X. Zwei Dezennien in der Werkstatt und im Strom des Lebens

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Federzeichnungen zur Gchulgeschichte der letzten vier Jahrzehnte im Rahmen einer pädagogischen Autobiographie von

Dr. Karl Küffner Kgl. Professor

München und Berlin 1914 Druck und Verlag von R. Glbenbourg

Meiner lieben Mutter

;um 9t Geburtstage

Zum Geleit. Das Lehrerleben führt in der Regel nicht auf die Höhen der Menschheit. An wichtigen Ereignissen in Staat und Ge­ sellschaft teilzuhaben, ist ihm in den Niederungen des Lebens meistens versagt. Und doch wird es keinem einzigen an be­ deutsamen Stimmungen, Eindrücken, Anschauungen, Ge­ danken und Erlebnissen fehlen, die ein Stück Zeitgeschichte in sich schließen. Vielleicht ist ihm auch das Glück zuteil ge­ worden mit Persönlichkeiten zusammenzutresfen, die aus die Entwicklungs- und Bildungsgeschichte Einfluß gewonnen haben. Dadurch ist die Existenz über den engen Rahmen des Berufes hinausgehoben und nach manch anderem Vorkommnis in der Welt orientiert worden. Kurz, auch der Kleine wird manches zu erzählen haben, dem allgemeines Interesse nicht abgesprechen werden kann. Von diesen Erwägungen ausgehend, habe ich auf der Mittagshöhe meines Lebens der Versuchung nicht widerstehen können, in rückschauender Betrachtung schriftlich sestzuhalten, was ich pädagogisch an mir selbst und durch andere erfahren habe. Als Rahmen habe ich dafür die Form einer pädagogischen Autobiographie gewählt, hauptsächlich aus stilistischen Gründen, v

um den Gedanken größeres Leben und mehr Anschaulichkeit zu geben. Ich gebe mich der stillen Hoffnung hin, damit der Schule und den jüngeren Kollegen zu nützen. Vielleicht ist aus diesen Erinnerungsblättern zu entnehmen, daß auch in der guten alten Zeit es nicht ganz so leicht war, ein bescheidenes Lebens­ ziel zu erreichen, vielleicht ist auch daraus zu lernen, in der gleichen Lage etwas besser und richtiger zu machen, Irr- und Umwege, die ich so reichlich gegangen, zu meiden und sich in dem Glauben zu stärken, daß die Vor- und Auswärts­ bewegung von Schule und Bildung durch Widrigkeiten zwar verzögert, aber nicht ausgehalten werden kann. München, im Juni 1914.

Dr. Küffner.

Inhalt. Sette

1. Wie man vor bald 50 Jahren im Elternhaus für den Lehrerberuf vorbereitet wurde ........

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2. Auf einer fränkischen Präparandenschule anfangs der 70 er Jahre........................................................................... 22

3. Aus dem „Weiteren" ins „Engere" des Seminarinternats ♦•♦♦♦♦♦♦♦•♦..♦♦♦.

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4. Am goldenen Baum des Lebens in der Praxis eines Schulverwesers...................................................................... 65

5. Vorwärts an der Hochschule!.........

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6. Zurück zur Lehrerbildung!..........................

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7. Am Scheidewege...........................................

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8. Nochmals weiter auf der alten Bahn ...... 139 9. Umsatteln zur Realschule! .................................................... 151 10. Zwei Dezennien in der Werkstatt und im Strom des Lebens . . ..........................................................................163

I. Wie man vor bald 50 Jahren im Elternhaus

für den Lehrerberuf vorbereitet wurde. ©oweit ich zurückdenken kann, stand es mir klar vor der Seele, daß ich Lehrer zu werden habe. Für meinen Vater kam, glaube ich, gar kein anderer Lebensberuf in Frage. Ob ich Talent, Lust und Liebe dafür besäße, wurde gar nicht weiter untersucht. Es war eben eine ausgemachte Sache, daß ich Lehrer werde. Der Vater selbst war mit ganzer Seele seinem Lehrberufe zugetan. Täglich pries er uns Kindern die Schönheit des Standes und malte aus, welches innere Behagen wir dereinst in diesem genießen würden. Es steckte darin ein gut Stück Idealität, die nach Umfang und Stärke dem heutigen Geschlecht vielleicht nicht mehr ganz verständlich ist, aber auch eine kräftige Dosis recht bescheidener praktischer Anschauung von der Nahrhaftigkeit des Lehrerberufes. Mein Vater war eigentlich immer zufrieden. In der Schule fühlte er sich als unumschränkter Monarch, als frisch und frei schaltender Führer einer frohen Kinderschar, in der Gemeinde­ schreiberei als hochmögender Berater und Leiter des kleinen Gemeinwesens von angesehener sozialer Stellung im Kreise der Landleute. Aus einem Filialdorse wirkend und deshalb von ziemlicher Bewegungsfreiheit gegenüber dem Klerus, von AberKüffner.

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fluß und Mangel gleich weit entfernt, hat er sich ganz dem Glück des Mittelstandes hingegeben. Dazu kam noch, daß damals ein lang gehegter Wunsch der Lehrerschaft, die Alterszulagen, erfüllt wurde, wodurch auf meinen Vater eine Gehalts­ mehrung von 360 M. pro Jahr traf. Viele Landlehrer glaubten das große Los gezogen zu haben und die Morgenröte einer besseren Zeit malte ihren Lebenshimmel in verlockendem Glanze. Unzweifelhaft war es auch die Freude am Land­ leben, die meinen Vater für seinen Beruf besonders einnahm. Zum mindesten gehörte der Landwirtschaft sein ganzes Herz. Er bestellte seinen Acker, hackte, pflanzte, pfropfte und okulierte, züchtete Groß- und Kleinvieh genau wie der Nachbar Huber oder Müller, wobei er das Behagen der Arbeit überhaupt mit dem Nutzen des Geschäftes für die Finanzen der Familie verband. Vielleicht war es auch der Ausfluß des Kastenbewuhtseins, wonach der Sohn gemäß alter Zunftordnung dem Berufe des Vaters zu folgen habe, was ihn bei seinen mich betreffenden Entschlüssen leitete. Die Billigkeit der Ausbildung mag eben­ falls in Erwägung gezogen worden sein, zumal ich als der Erstgeborene möglichst bald einem Verdienst zugesührt werden konnte. Übrigens war für den Lehrerstand wirklich eine neue Zeit herausgezogen. Der Liberalismus, seit den sechziger Jahren die politische Gesinnung aller Gebildeten und mit den Groß­ taten von 1870/71 aufs engste verknüpft, schien auch für den Schulmeister von Sadowa die letzten Schranken jahrzehnte-

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langer Hörigkeit niederreihen zu sollen und durch Steigerung der allgemeinen und beruflichen Bildung ihn aus eine bessere Stufe im Klassenstaate zu heben. Darüber hat uns aber der Vater keinen Tag im Zweifel gelassen, daß ein tüchtiger Lehrer ein wohl unterrichteter, gründlich gebildeter Mann sein müsse und daß vor dieses Ziel die Götter den Schweiß gestellt hätten. In der landläufigen Meinung waren aber tüchtiger Lehrer und tüchtiger Musiker damals noch gleichbedeutende Begriffe, wenn auch das Normativ von 1866 den wissenschaft­ lichen Fächern einen besseren Platz an der Sonne eingeräumt hatte. Ganz so streng war es auch in Musik nicht mehr wie früher, wo der Direktor der Würzburger Musikschule bei der Seminaraufnahmsprüfung jedem, der nicht mit allen rhyth­ mischen und harmonischen Schikanen vertraut war, die Pforten des Seminars vor der Nase zuwarf und sogar Unmutierte mit eherner Konsequenz als untauglich erklärte; aber noch war die Zeit nicht gekommen, wo das Seminar sich organisch aus dem Verbände des K. Musikinstitutes Würzburg loszulösen und nur freundnachbarliche Beziehungen zu demselben anzu­ bahnen anfing. Die Vorbereitung für den Lehrberuf be­ deutete also zunächst Unterweisung und gründliche Schulung in Klavier, Violine, Orgel, Generalbaß und Gesang. Der Reihe nach wurden nun diese Kunstübungen vorge­ nommen. Dabei sollte ich es besser haben wie der Vater in seiner Jugend, der auf einer stummen Klaviatur in die Geheimnisse r

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des Klavierspiels eingeführt wurde und das erste wirkliche Pianoforte erst im Seminar unter die Finger bekam. Auf meinen 8. Geburtstag wurde der Großvater zur hochherzigen Stiftung eines Voitschen Taselpianos vermocht und nicht lange dauerte es, so hatte der Vater auch einen biederen Bürger aus der benachbarten Pfarrgemeinde dahin gebracht, daß er zur Ehre Gottes in unserem armen Filialkirchlein eine neue Orgel um den Preis von 1700 fl. bauen ließ, wofür heute noch seiner und seiner Frau bei allen Gottesdiensten in 3 Vaterunsern von versammelter Gemeinde gedacht wird. Auch für eine bessere Geige von Widhalm scheute der Vater nicht einen erheblichen Geldbetrag auszuwenden. Aber die Musik war ihm eine wirkliche Lebensmacht geworden; die herzlichsten Beziehungen seines Gemüts ver­ banden ihn mit ihr. Deutsche Klassiker, Mal- und Bildwerke waren Begriffe, von denen er so gut wie gar nicht sprach. Ich glaube nicht, daß er ein Drama, einen Roman, eine lyrische Anthologie in seiner Bibliothek gehabt hat. Wohl aber besaß er 3 oder 4 säuberlich abgeschriebene Generalbahwerke von Vogler, Albrechtsberger, Knecht, Rinck, einen Stoß Violinduette von Mazas, Kreutzer, Viotti u. a. m. Die Namen Schiller und Goethe hörten wir nicht, dagegen waren uns Mozart, Haydn, Beethoven, Karl Maria v. Weber liebe Ver­ traute von Kindesbeinen an. Aus der Lebensgeschichte dieser großen Meister zu erfahren und von der Aufführung ihrer entzückenden Werke zu vernehmen, war uns das liebste Ver4

gnügen in Feierstunden. Mm ein neues Buch hat sich der Vater nie besondere Mühe gegeben, aber als die „Kloster­ glocken" aufkamen, ist er 14 Tage im Lande umhergelaufen und hat nicht eher gerastet, bis er uns Kindern dieses Ton­ stück wie einen kostbaren Schatz eines Abends nach Hause brachte. Die lieblichsten Bilder trauten Familienglücks knüpfen sich an die Abende, wo der Vater, die Gitarre aus den über­ schlagenen Beinen, mit der Mutter zusammensaß um sentimen­ tale oder launige Duette zu singen. So war Musik eine das ganze innere Dasein umschließende Lebensmacht geworden. Bei den meisten Lehrern der alten Schule wird es nicht anders gewesen sein. In der vormärzlichen Zeit und in den Jahren der Reaktion nach Olmütz im Internat klösterlich von der Welt abgeschlossen, vor dem Gifte der modernen Literatur sorglich behütet, schon bei Lesung der Klassiker mit Strafe bedroht, von allem Fortschrittlichen und Aufklärerischen als dem Verderben der Zeit zurückgehalten, war der Seminarist eigentlich nur aus die unverdächtige, weil „ideenlose" Musik angewiesen, und wie im Österreich Metternichs wurde diese

Kunst um so mehr gefördert, weil sie infolge der überwiegenden Funktion des Kantors, Organisten und Chorregenten auch noch hervorragende praktische Bedeutung hatte. So traten die jungen Lehrer zunächst als tüchtige Musiker ins Leben. Mancher von ihnen hat später den Weg zu den ihm vorenthaltenen Künsten und Wissenschaften gefunden.

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Andere haben sich einem praktischen Ideal in Familie und Gemeinde wie im öffentlichen Leben zugewendet. Allen ge­ meinsam war die hohe Wertschätzung der Musik, die überall im Männergesang, im Instrumentaltrio und -quartett, in kleinen Dilettantenorchestern und der instrumentalen Messe auf dem Kirchenchore mit mehr oder minder Erfolg, jedoch mit der gleichen Liebe und Hingabe gepflegt wurde. Meinem Vater, der sonst rein praktischen Idealen in seinem kurzen Leben nachhing, war die Musik die erste und wichtigste von allen Künsten, die berufen, das Erbenlos der Menschen zu veredeln und zu verschönern. Die Hauptzeit des Tages war deshalb auch der Unterweisung und Übung in dieser Kunst gewidmet. Je 2 Stunden Unterricht die Woche in Klavier und in Violine sollte das Mindestmaß sein. Unter einer Stunde Übung im Tag kamen wir nicht davon. Da­ zwischen sangen wir aus der Schule von Gualbert Wälder im Sopran- und Altschlüssel, lösten Harmonielehraufgaben und spielten wechselweise Orgel, sobald die Klavierfortschritte dies erlaubten. Kamen befreundete Kollegen oder Beamte und Geistliche zur Gesellschaft in unserem Dörfchen zusammen, mußten wir die Fiedel stimmen und zur Gitarrebegleitung Stücke aller Art spielen, meistens tanzmähige, welche der Vater eigenhändig als Trios gesetzt hatte. Dadurch lernten wir zwei für einen Musikanten außerordentlich wichtige Eigen­ schaften: wir verloren das Lampensieber und bekamen Ge­ wandtheit im Vom-Blattspielen. Im Alter von 10 y2 Jahren

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verdiente ich den ersten Taler mit der Musik, indem ich die „Klosterglocken" an einem Tage studierte und auswendig spielen lernte. Allmählich gelangte unser Schulhaus in den Rus eines recht emsigen Musiknestes und fast täglich kamen im Sommer Gäste, denen wir etwas vorspielen mutzten. Merkwürdigerweise gründete sich der Musikunterricht — Violine ausgenommen — nicht aus das Vorbild und das Vormachen, das in der Kunst soviel bedeutet. Ich habe meinen Vater nur ein einziges Mal Klavierspielen hören, ein leichtes Tanzstück, und auch auf der Orgel begleitete er nur den ©emeindegesang in improvisierten Akkorden und zeitgemäßen Zwischenspielen. Unsere Lehrmittel waren nichts weniger als erstklassig. Die ganz dilettantische Klavierschule von Albert ©reßler, Langensalza verfolgte beispielsweise sehr bescheidene Ziele. Aber wir machten doch recht gute Fortschritte; dec Vater bereitete sich gründlich aus jede Lektion vor, hielt streng auf Takt, den er nie unterließ mit der Hand oder dem Fuß zu markieren, sah uns scharf aus die Finger und lenkte unsern Ehrgeiz immer wieder aus die köstlichen Gaben dec Klassiker, die er einzeln, gewissermaßen zur Belohnung des Fleißes, anschaffte und uns zur Erprobung unserer Fortschritte, be­ sonders zum kursorischen Lesen, vorlegte. So wurde unsere jugendliche Weltausfassung auch voll­ ständig musikalisch. Wenn eine Sendung aus der Musikleihbibliothek von Würzburg in unser stilles Dörfchen kam, gab es einen Fest- und Feiertag wie an Weihnachten, Erstkom7

munion, und wenn der Bote von Langensalza mit seinem schweren Traggestell aus dem Rücken und der Last neuer Musikalien in unserm Hause einkehrte, ging er nicht ohne eine stattliche Bestellung auf Anthologien, Albums, Salonstücke wieder fort. Das Schöne in Wort und Bild, in Natur und Landschaft griff uns eigentlich wenig ans Herz. Einzig das musikalisch Schöne galt als die Offenbarung des Schönen schlechtweg. Erst viel später ist mir diese Einseitigkeit aus­ gefallen; ich habe aber zugleich hierin den Grund für die Stärke gesunden, womit mich die Musik immer und überall erfaßt hat. Ich weiß nicht, aus welchen anderen Quellen mir wertvolle dauernde Eindrücke vermittelt worden wären. In einigen alten Büchern lasen wir Märchen, wie Alibaba und die 40 Diebe, Alabins Wunderlampe oder naturgeschicht­ liche Fabeln, wie von der Seeschlange Rolf Krake. Unter dem Strich der Würzburger Abendzeitung verfolgten wir wohl auch Erzählungen und Dutzendgeschichten, wie sie eine kleine Tageszeitung der sechziger Jahre bringen konnte. Aber alle diese Eindrücke verschwinden doch vollständig neben der Fülle rein musikalischer Anregungen, die uns aus verschiedenen Quellen täglich zugeführt wurden. Wir gingen mit dem Vater auch in den Wäldern und auf den Höhen unseres schönen Steigerwaldee spazieren, unterhielten uns über das Leben der Pflanzen und Tiere, konnten uns nicht genug tun im Umgänge mit den Haustieren im Stalle, vor dem Pfluge, auf der Weide. Aber immer war es das Nütz-

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lichkeitsmoment, unter dem wir die vielgestaltige Welt außer uns betrachteten, oder das Ungewöhnliche, das Seltene, Ge­ fahrvolle und Abenteuerliche, das uns im Leben und Treiben rings herum interessierte. Der Wald war ein lieber trauter. Ort, weil er Beeren, Moos und Holz lieferte, weil wir darin dem munteren Eichhörnchen von Baum zu Baum nach­ stellen, Vogelnistplähe entdecken, Raubvögel scheuchen, Hasen und Rehe, Fuchs und Dachs darin aufspüren konnten. Am Stier gefiel uns die gedrungene Kraft, am Pferd die Schnellig­ keit und Gewandtheit, die Kuh schätzten wir nach ihren Bei­ trägen für den Haushalt in Form von Milch und Butter. In der Landschaft war uns ein solides Korn- und Kartoffel­ feld unendlich bemerkenswerter als ein schöner Baumschlag, eine liebliche Schneise, ein neu angeslogener Kahlhieb mit seinen Büschchen und Blumen. Kurz, für das Schöne in Form und Farbe, die Mannigfaltigkeit der Natur in Gestalten und Bildungen, für ihre wunderbaren Einrichtungen und Lebens­ vorgänge hatten wir nie viel übrig; auch wurden wir nie nachdrücklich darauf hingewiesen. Immer war es mehr der Nutzen, welcher unser Verhältnis zu einer Strecke Landes, zu einem Tier oder einer Pflanze bestimmte. Es hat lange gedauert, bis wir diesen mehr äußerlichen Standpunkt über­ wanden, um so mehr, als auch die Schule später lange Jahre hindurch diese eingeschlagenen Bahnen nicht verließ. Voll­ ständig fertig bin ich damit überhaupt nicht geworden. Ich schließe das daraus, daß ich für die beschreibenden Natur9

Wissenschaften niemals den geübten, sicheren Blick erhielt, der sich nur in der planmäßigen Schulung und Übung des Auges von frühester Jugend an und bei Einführung in die Formen- und Gestaltenwelt der Natur von Kindesbeinen aus ergibt. Mit der Ausdehnung der musikalischen Vorbereitung konnte sich die wissenschaftliche für den Lehrberuf nicht messen. Schon quantitativ ging sie kaum über den Gesichtskreis einer Lern­ schule der sechziger Jahre hinaus und qualitativ steigerte sie die herkömmlichen Schulkenntnisse nur bis zur sicheren Be­ herrschung der Elemente. Die alte Lernschule war auf das Trivium Rechnen, Lesen und Schreiben gegründet. Für einen Schulamts­ aspiranten stuften sich diese Fundamentalfächer wieder in Grammatik, Orthographie, Aussatz, Schönschreiben, Kops- und Tafelrechnen ab. Realien kamen kaum in Frage. Religions­ kenntnisse bewegten sich innerhalb der Grenzlinien des Volks­ schulkatechismus. Das Leichteste war noch Rechnen, wo wir uns im Ansatz von Gesellschasts-, Teilungs- und Kettenrech­ nungen nicht genug tun konnten. Da hierin ein gewisser Schematismus waltete, ließen sich bei hinlänglichem Ver­ ständnis des Musterbeispiels und Einhaltung der üblichen Schablone recht günstige und für uns erfreuliche Resultate erzielen. Meistens waren es Drescher, Maurer, Erdarbeiter, Zugtiere, deren Leistungen unter Bezug aus eine gegebene Arbeit ermittelt werden sollte.

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Im Kopfrechnen wurde die Fertigkeit in den Grund­ operationen, im Schließen und Folgern durch eine Fülle von Beispielen täglich gefördert. Anders der Sprachunterricht. Damals war die BeckerWurftsche Methode noch allgemein im Schwung. Der Sprach­ unterricht sollte eine Denklehre, eine logische Propädeutik sein, woran sich der Verstand im Unterscheiden, Trennen, Ver­ binden und Zusammensügen, im Urteilen und Schließen üben sollte. Die Kategorien der Wortarten und einzelnen Satzteile sowie die daraus erwachsenden Nebensätze mußten da scharf erkannt, richtig klassifiziert, die innewohnenden Sprachgesehe charakterisiert und deren Ausnahmen sestgestellt werden. Es war ein nüchterner, blutleerer Verbalismus, der da jahraus, jahrein getrieben wurde. Mit keinem Wort war dabei die Rede von eigentlichem Sprachleben, dem organischen Wachsen und Verändern des Wortschatzes nach psychologischen, histori­ schen, ethnographischen Gesichtspunkten. Darum konnte dieser Betrieb auch nicht das Erstarken und Wachstum des sprach­ lichen Gefühls, dec Gewandtheit und Fertigkeit im münd­ lichen und schriftlichen Gedankenausdruck zum Ziele haben. Es war reiner Formendienst und trug seinen Zweck in sich selbst; man hätte ihn die Anatomie des Satzes nennen können. Im Vordergrund des Interesses stand deshalb auch die Analyse. Riecke hatte in der Mitte des Jahrhunderts ein schönes Buch über die Entdeckung Amerikas, bzw. über den Helden Ko­ lumbus geschrieben. Es spukte in allen Vorbereitungsanstalten 11

nur unter dem persönlichen Titel „Der Kolumbus". Nicht als ob man die Schüler sachlich in den Inhalt eingesührt, die Fülle der geographisch-geschichtlichen, ethnographischen und ethischen Gedanken zu ihrem geistigen Eigentum gemacht, in dem Helden selbst ein Menschenideal vorgehalten hätte; sogar die zweifellos treffliche Schreibart Rieckes hat man nicht als Vorbild zur Nachahmung vorgestellt. Es handelte sich bei allem Mühen und Zergliedern nur um die regelrechte Sektion der Satz­ körper, um eine kunstgerechte Zerlegung ihrer Teile und um eine säuberliche Einordnung der gewonnenen Resultate in die aufgemachte Kategorientafel. Fast den ganzen dickleibigen „Kolumbus" haben wir so sprachlich präpariert, die schönsten Satzgebilde fühllos in Sub­ jekt, Prädikat, Objekt usw. zerrissen. In kritischen Fällen wurde der alte Heyse als Autorität befragt, dessen Regeln und Ausnahmen der Vater mit fabelhafter Sicherheit nach Seitenzahl und Standort im Text angeben kannte und die zu memorieren er auch von uns mit eiserner Energie er­ zwang. Riecke hätte ebensogut von den Eskimos oder den Hottentotten berichten können; das wäre für uns gleich ge­ wesen; denn sein Buch war lediglich grammatikalisches Äbungsmaterial. Wenn noch heute der ehrwürdige Name des Entdeckers einer neuen Welt in meinem Geiste aus­ taucht, ist damit immer das bittere Gefühl verbunden ob der harten Stunden,, die dieser Held mit seinem Leben und seinen Taten unserer Jugend bereitet hat. War die Musik

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eine grüne Weide, an der sich Herz und Sinn erlaben konnten, die Grammatik glich einer dürren Steppe oder einer Wüste mit Hinterhalten, Überfällen und Gefahren aller Art. Ein Gutes hatte dieses sprachliche Kollegium, wo der Geist in spanische Stiefeln geschnürt wurde: im Formalen wurde man sicher und daran gewöhnt, mit tunlicher Sorgfalt auf das Kleinste zu achten, nichts für unbedeutend oder gleichgültig anzusehen. Freilich, nachdem der Geist ausgetrieben und die ein­ zelnen Teile des Gebildes zuhanden waren, fehlte leider auch das geistige Band, ohne das alles Erkennen nur Stückwerk ist. Selbstverständlich konnte der Aussatzbetrieb bei diesem Schematismus auch keine höhere Stufe erklimmen. Wo sollten wir Eindrücke, Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken hernehmen, wenn der dingliche Unterricht nahezu ganz aus­ geschaltet war und nicht einmal das Stoffliche in der kargen Lektüre assimiliert wurde? Wenn weder Bücher noch die Natur in ihrer unerschöpflichen Fülle uns Realitäten vermit­ teln sollten? Die Themen unserer stilistischen Übungen waren allgemein schematische Schilderungen der gewohnten Haustiere, einzelner typischer Naturerscheinungen, wie Gewitter, Feuersbrunst, dann Berichte über hervorstechende Ereignisse im profanen und kirchlichen Leben, Briese mit Einladung zur Kommunion, Neujahrs- und Namenstagsgratulationen, Werbung von Firm­ paten, zuletzt die unvermeidlichen Geschäftsaufsätze, Zeugnisse, 13

Quittungen- Rechnungen u. a. m. Das Hauptgewicht wurde dabei aus den konventionellen Ausdruck, auf solide Grammatik und Orthographie sowie auf eine empfehlende Kalligraphie gelegt. Recht- und Schönschreiben machte uns im Grunde noch etwas mehr Spaß. Im Diktat hatten wir ganz komische gleichlautende Wörter zu schreiben, wie „Leider ist der Mann von der Leiter ge­ fallen" und „Der Schuhmacher verdient mit der Ahle nicht so viel, daß er alle Freitage Aal essen kann". Da die Haupt­ trümpfe gelegentlich immer wieder ausgespielt wurden, wir aber wohl merkten, woraus es ankam, so schnitten wir in diesen Abungen eigentlich stets gut ab. Auch in der Kalli­ graphie konnten wir uns von der abstrakten Tätigkeit gramma­ tischer Analyse gemächlich ausruhen; freilich kamen wir in den Erfolgen nicht an die Vorbilder heran, die uns von Zeit zu Zeit vor Augen gestellt wurden. Im Hause des Vaters verkehrten mehrere junge Lehrer, darunter einer mit ausnehmend schöner Schrift. So oft dieser vorsprach, pflegte er sich für die empfangene Gastfreundschaft durch Vorschriften in unsere Kalligraphiehefte erkenntlich zu zeigen und wir mußten dann, sobald sich die Herren ins Gast­ haus begaben, die wirklich mustergültigen Schriftzüge nach­ bilden. Zur Einleitung setzte uns der Vater den Wert einer schönen Handschrift auseinander, die ihren Mann im ganzen Leben empfehle, wobei er auf das schlagende Beispiel des wirklich überall wohl gelittenen jungen Kollegen hinwies. 14

Es ist selbstverständlich, daß sich diese Exerzitien alle außerhalb der Schulzeit abspielten, in der Sommerszeit zwischen 1 und 4 Uhr. Damit war unsere Tagesarbeit aber nicht erledigt. Denn jetzt ging es an die landwirtschaftlichen Geschäfte, die häuslichen Verrichtungen und sonst nützliche Ar­ beiten, die uns nach dem anstrengenden Lernen als erwünschte Erholung und Ausspannung vorkamen und sehr gerne an Stelle des Studiums den ganzen Tag verrichtet worden wären. Wir mußten heuen, binden, brachen, dreschen, Kartoffeln und Rüben ausnehmen, Futter heimschaffen, das Vieh im Stalle und auf der Weide besorgen. Aus der glücklichen Er­ ledigung einer Feldarbeit, aus der Gunst der Witterung für ein landwirtschaftliches Geschäft erwuchs uns hohe Freude; mit ernster Sorge und aufrichtiger Betrübnis verfolgten wir die elementaren Ereignisse, die der Erde Früchte bedrohten und den Fleiß des Landmanns zuschanden machten, und wenn wir eine Fuhr Heu noch vor dem niedergehenden Gewitter in die Scheune gebracht hatten und nun um den Tisch bei Brot und Käse und einem frischen Trunk Apfelwein beisammen sahen, genossen wir eines Glückes, das uns die gesamte sprach­ lich-arithmetisch-kalligraphische Arbeit niemals bereiten konnte. Schule, Musik, Privatstudium, häusliche und landwirt­ schaftliche Arbeit — der Tag mußte schon seine genaue Ein­ teilung haben um herumzukommen. Mehr als einmal lehnte sich unser jugendliches Selbst gegen diese, wie wir im kind­ lichen Unverstände meinten, unwürdige Knechtschaft auf, be15

sonders im Hinblicke aus so gewisse Dorssaulenzer, die den lieben langen Tag aus der Straße herumlungerten, sich in den Bauernhöfen umhertrieben, Wald und Feld durchstreiften und den Herrgott einen guten Mann sein ließen. In lapidarer Kürze hörten wir aus väterlichem Munde: Wollt ihr einmal Herren werden, müßt ihr euch harte Arbeit in der Jugend gefallen lassen. Die Faulenzer werden sich als Bauernknechte, als „Kuhschwänze" dereinst elend genug durchs Leben schlagen. Der Vater ging auch noch weiter, wenn ihm von der Mutter, der wir unser Herz oft ausschütteten, einmal ein unmutiges Wort oder der rabiate Entschluß, gewiß eines Tages durchzubrennen, gemeldet wurde. Unbedenklich erbot er sich, sofort für die Überfahrt nach Amerika nebst dem hüb­ schen Zehrgeld auf einige Wochen auszukommen, nur sollten wir uns nicht wieder in der Heimat sehen lassen. Es war und blieb für mich eine ausgemachte Sache, daß wir wohl den strengsten und despotischsten Vater in der ganzen Gegend und eine durchaus freudlose Jugend hätten. Freilich war das eine recht starke jugendliche Übertreibung. In Wirklichkeit fehlte es uns durchaus nicht an Zeit, den sommerlichen Wald nach Abenteuern mit dem Getier zu durch­ streifen, im Winter mit dem Holzschlitten vorzügliche Rodel­ partien zu machen, aus improvisierten Eisbahnen uns mehr als billig herumzutreiben, des Sonntags in oft blutigen Kamps­ und Kriegsspielen zu versuchen, um die Osterzeit mit großen und kleinen Klappern allmöglichen Unfug in Szene zu setzen 16

und gar manches zu tun, was sich vor dem Auge des Gesetzes nicht blicken lassen durfte. Die väterliche Strenge richtete sich nur gegen die Ungebundenheit in der Absicht, dem jugendlichen Menschen das Gefühl der Unterordnung unter die Pflicht mit eherner Energie einzuprägen, alle Freude und alles Ver­ gnügen als das Korrelativ vorausgegangener Anstrengung und Mühewaltung empfinden zu lehren. Er selbst gehörte zu den frohesten und vergnügtesten Menschen, wenn er die Arbeit hinter sich hatte. „Hast du deine Pflicht getan, Blickt dich die Freude segnend an“ war seine Losung. Er war ein Freund der Jugend und gönnte ihr Lebenslust und Bewegungsfreiheit in der Meinung, daß für den Ernst später noch genug Zeit sei. Alle Freudenquellen dürsten freilich nicht erschöpft werden oder versiegen, sonst stünde der Jüngling und Mann vor dem seelischen Zusammenbruch. Mit Dank habe ich später die tiefe Weisheit einer solchen Auffassung der erzieherischen Pflichten würdigen lernen. Daß ich es immer mit dem Satze halten mochte, die Arbeit ein Segen, des Lebens köstlichstes Gut und niemals verstehen lernte, wie die volkstümliche Meinung vielgeplagter Land­ bewohner tatenlose Ruhe als Ideal eines Menschendaseins preisen konnte, verdanke ich der zielbewußten Gewöhnung an Arbeit und Regsamkeit, an genaue Einteilung der Zeit in Stunden nützlicher Beschäftigung und Stunden der Erholung und Ausspannung, und wenn ich mich als reifer Mann mit 17 Küffner. 2

manchen Maßnahmen des Vaters nicht hätte einverstanden erklären können, in der beharrlichen Erziehung zu steter Aktivität mühte ich ihm höchste Anerkennung und Dankbar­ keit zollen. Wenn ich so in Umrissen gezeigt habe, wie von früher Jugend an Lehre und Erziehung den allergeradesten Weg zu dem künftigen Lehrberuf einschlug, so möchte ich nicht unausgeführt lassen, wie äußere Einflüsse außerhalb der Fa­ milie stetig im Sinne dieses Lebenszieles wirkten. Öfter noch ist der Mensch das Produkt seiner Umgebung als der in ihm wirksamen Naturkräfte, seiner Anlagen und Fähigkeiten. Wir wohnten in einer sprichwörtlich pädagogischen Pfarrei. Etwa 8 Jünglinge, Lehrers- und Bauernsöhne, hatten sich dem Schulfach zugewendet. Der einzige Gymnasiast wurde immer als Rarität angesehen, und als dieser später durch Krankheit nach Absolvierung seiner Studien Schiffbruch ge­ litten, während die Lehrer alle gesund an Körper und Geist ihren Weg machten, betrachtete man dies so gewissermaßen als einen Beweis für die Zuträglichkeit und Zweckmäßigkeit der pädagogischen Laufbahn. Die jungen Präparanden schlen­ derten in den Ferien in einer Art phäakischen Lebens herum. Sie wurden in die Gesellschaft der Herren zugezogen, machten sich angenehm als Sänger und Instrumentalisten. Man „ästimierte" sie, wie der Volksmund zu sagen pflegt. Was wunder, daß von feiten der älteren Kameraden mein Ent­ schluß neue Impulse, meine Vorsätze neue Kraft erhielten I

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Einige von den Präparanden saßen nach ihren Iahressortschritten auf bevorzugten Plätzen, woraus sich ihre Väter mit Recht etwas zugute taten. Auch in der Gesellschaft wurden die glücklichen Ergebnisse rühmlich hervorgehoben, und wenn dann der Vater nach Hause kam, knüpfte er daran die Folge­ rung, es müsse noch mehr gearbeitet werden; denn hinter dem 9L und Z. könne und wolle er nicht zurückstehen. Übrigens waren auch die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse der Richtung unermüdlicher Vorbereitungsarbeit förderlich. So klein unsere Heimatgemeinde war, sie durste als Treffpunkt der besseren Gesellschaft am Fuße des Steiger­ walds gelten. An der Hauptstraße von Würzburg nach Bam­ berg gelegen, nicht weit von dem vielbesuchten Kloster Ebrach, waren hier zwei große Wirtschaften bei dem lebhaften Fuhr­ werksverkehr zu hoher Blüte gekommen. Richt bloß Geist­ liche, Lehrer und Forstleute, sondern auch die Offiziere der kleinen Garnison, Beamte und Angestellte der ausgedehnten Gefangenanstalt Ebrach sprachen hier vor. Wir Jungens dursten Kegel aufsehen, auf der Violine unsere Fertigkeiten zeigen, Gänge besorgen und erhielten manchen Leckerbissen und manchen guten Groschen für unsere kleinen Dienstleistungen. Der Verkehr mit solchen Herren und Damen war doch etwas anderes als der Umgang, den die befreundeten Nachbars­ kinder pflegen konnten. So erschien der väterliche Ausspruch vom Lohne der Jugendarbeit im späteren Leben den Beweis seiner Richtigkeit jetzt schon vorauszunehmen und die Kraft

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des Beispiels wirkte ermunternd auf den Willen, in der Vorbereitungsarbeit nicht zu erlahmen. Zwei geistliche Herren haben sich da der jugendlichen Erinnerung besonders eingeprägt: der milde Pfarrer Rost, eines Landrichters Sohn, eine irenische, herzensgute Natur, dessen liebe Worte im Kampfe mit uns selbst oft Wunder wirkten, und der früh verstorbene Kaplan Friedrich, unähnlich seinem streitbaren Bruder, ein auf das Künstlerische und Wissenschaftliche gerichteter, mehr beschaulicher Charakter, dazu ein ausgezeichneter Musiker, der mir, sobald er nach dem Filialgottesdienst das Frühstück bei uns eingenommen hatte, eine Klavierstunde und einen Groschen obendrein gab und mich mehr im Anschlag und Vortrag, also dem Kunstmäßigen, unter­ wies. Von diesen beiden Männern wie von Freunden der Familie wurde nicht selten die Anregung gegeben, mich auf der Akademie zu München ganz der Musik zu widmen. Aber der Vater blieb fest. Er verwies auf die Unsicherheit des Künstlerberufes, auf die hohen Kosten der Ausbildung wie auf die Tatsache, daß ich als Erstgeborener für den Fall seines vor­ zeitigen Todes (der Gute hatte richtig in die Zukunft gesehen) in der Lage sein müsse, der Familie Stab und Stütze zu sein. Übrigens konnte er sich auch darauf berufen, daß im Lehrberuf ebenfalls höhere Stufen zu erklimmen waren. Stadt, Präpa­ randenschule und Seminar boten erstrebenswerte Vorrückungs­ stellen und auch zur Prüfung für die Mittelschule, damals noch ohne Universitätsbesuch, konnte der Tüchtige zugelassen werden.

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Kurz, in der liberalen Ära eröffneten sich dem Lehrer, der nicht auf dem platten Lande absterben wollte, noch mancher­ lei Aussichten. Dadurch konnte er, woraus der Vater ein großes Gewicht legte, dem ost unbehaglichen Verhältnis zu seinem geistlichen Vorgesetzten in bester Manier aus dem Wege gehen. Solche Erwägungen drängten sich durch die Zeitverhältnisse mit besonderer Schärfe auf. In den Jahren des anhebenden Kulturkampfes platzten die Gegensätze ost heftig auseinander. Sogar wir Kinder merkten das. Man verlangte damals von jedem Kollegen ein offenes Bekenntnis zum liberalen Lehrer­ verein. Wer sich nicht unumwunden aussprach, wurde als Schnufenhöfer in die kollegiale Acht erklärt, wer aus Rücksicht aus seinen milden oder versöhnlichen Lokalschulinspektor nicht die allerschärsste Parteistellung einnahm, zum mindesten be­ fehdet. Etwaige Bedenken also gegen den Lehrerberus, die aus dem unerquicklichen Verhältnis zwischen dem fortschrittlich gesinnten Lehrer und dem konservativen geistlichen Obern abgeleitet werden wollten, ließen sich durch den Hinweis aus die mannigfachen Verwendungsmöglichkeiten eines tüchtigen Lehrers leicht widerlegen. Anterdessen war die Stunde der Entscheidung heran­ gerückt; sie konnte nichts anderes bringen als den unwider­ ruflichen väterlichen Beschluß: „Mein Ältester besucht die Präparandenschule Haßfurt."

II. Auf einer fränkischen Präparandenschule anfangs der 7V er Jahre. Abschied vom Elternhaus war ein Ereignis in dem kleinen Steigerwalddors. Ich mußte Besuch bei allen Freunden und Bekannten machen, d. h. in jedem Bauern­ hause. Vettern und Basen übertrafen sich an guten Lehren der Weisheit und Klugheit. Reichliche Tränen flössen auf allen Seiten. Doch im Grunde genommen, das konnte ich an mir beobachten, ging der Abschiedsschmerz nicht recht tief. Die Veränderung meines äußeren Menschen fing an mich gewaltig zu interessieren. Schon durfte ich Embleme eines Studenten am Leibe tragen: einen malerisch in Falten ge­ worfenen Schal, dessen Enden mir bis zu den Knien reichten, und eine kecke schwarze Mühe mit knappem Lederschild; damit hatte ich den Gipfel der Vornehmheit auf dem Lande er­ klommen. Wenn einmal die Bitterkeit des Abschieds mir tiefer ans Herz greifen wollte, schweiften meine Gedanken sofort aus dem trauervollen Kreis der Gegenwart in eine glanzvolle Zukunft und malten in bunten Bildern aus, was die kommenden Tage alles an Schönem und Ehrenvollem bringen konnten. So führte mich der leichte Sinn der Jugend, ihre wunderbare Anpassungsfähigkeit über die letzten Tage und Stunden glücklich hinweg. 22

Nach einer vorläufigen Unterkunft wurde ich in einer typischen Präparandenherberge bei einfachen, bescheidenen Bauersleuten untergebracht, wo noch mehrere Kameraden der oberen Klassen wohnten. Endlich verabschiedete sich auch der Vater; ernst waren seine letzten Worte, worin er mich — das höre ich heute noch ganz deutlich — vor dem Geschlecht­ lichen warnte, indem er andeutungsweise meinte, daß dem Menschen verschiedene Funktionen in der Ehe vorbehalten seien. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lebens­ lagen sind mir seine Worte vor die Seele getreten; ihr tiefer Sinn hat sich mir erst mit zunehmender geistiger Reife er­ schlossen, zugleich mit dem Gefühle der Bewunderung über den Takt, womit er diese heikle Frage anzurühren verstand. Die Präparandenschule war damals noch eine recht junge Gründung; aber sie bedeutete zweifellos einen Fortschritt gegen die bisherigen Zustände. Freilich ihre Ausgestaltung stand noch in den Kinderschuhen. Die Lehrkräfte waren nur gering bezahlt. 600 sl. für einen Hauptlehrer und 400 fl. für den Präparandenlehrer erreichten kaum die Besoldung der besser dotierten Landlehrer, Gemeindeschreiberei oder Kirchen­ dienst inbegriffen. Die bestqualifizierten Lehrkräfte drängten sich also schwerlich an die Präparandenschulen, um eine Ver­ antwortung zu übernehmen, die angesichts der im alten Seminar erhaltenen Vorbildung besonders groß erscheinen mußte. Schon in den Hauptfächern war es nicht leicht, aus dem Vollen zu schöpfen, wie es doch der Lehrer sollte; in den 23

realistischen Nebenfächern mußten die Kenntnisse, die das Seminar vermittelte, als höchst dürftig, ja als ungenügend bezeichnet werden. Wenn noch in den neunziger Jahren und bis in die letzte Zeit in den Fachkreisen die Forderung einer besseren. Vor­ bildung der Präparandenlehrer erhoben und neuerdings durch die Einführung des Universitätsstudiums und einer besonderen Seminarlehrerprüfung nach langem Harren erfüllt wurde, so läßt sich ermessen, was alles in dieser Beziehung während der Iugendperiode der Präparandenschule noch gefehlt haben mag. Diese allgemeinen Bemerkungen sollen nur erklären, warum man an die Präparandenschule der siebziger Jahre nicht den Maßstab von heute anlegen darf. Unsere Lehrer waren übrigens prächtige Männer, streb­ sam und unermüdlich fleißig, mild und menschenfreundlich zu uns Jungen, tadellos in ihrer öffentlichen Führung und imponierend in ihrem Auftreten. Der Hauptlehrer hatte die Begeisterungsfähigkeit und den Fortbildungseiser eines Jüng­ lings, die reife Weltanschauung eines bejahrten Mannes. In all den Fächern, wo sein Wissen hinter dem Lehrprogramm zurückblieb, entwickelte er einen Fleiß, der den Eifer selbst des Jüngsten in Schatten stellte. Bis tief in die Nacht hinein studierte er Zoologie und Mineralogie, sah hinter algebraischen Ausgaben, deren Lösung durch Schlüsse oft nicht geringe Schwierigkeiten bot, oder präparierte Geschichte, die er im

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Schillerschen Sinne als moralische Disziplin zur Gewinnung fester Lebensanschauungen betrachtete. Weit die Grenzen der Lehrordnung und des Mittelschulunterrichts überholend, er­ weiterte er den deutschen Unterricht zu einer Art philosophischer Propädeutik, worin er die Grundbegriffe der Logik, die Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen darzulegen bemüht war. Eine stehende Redensart wie das Catonische Ceterum censeo war der Satz: „Der gemeine Mann setzt sich darüber hinweg, dem Manne, der Geschichte und Philosophie studiert, will die Sache nicht recht passen." Sein Vertrauen zu uns war grenzenlos. Er betrachtete uns weniger als Schüler wie als junge Freunde, zu denen er fid> mit dem höchsten Freimut äußerte. Zu allen damals brennenden Zeitsragen, Unfehl­ barkeit, Kulturkampf, nahm der „Alte" Stellung und ent­ wickelte seine Ansichten. Unvergeßlich bleiben mir die ab­ wehrenden Gebärden, der plötzliche Abbruch der Verhand­ lungen, wenn der Religionslehrer, ein wegen seiner strammen Richtung bekannter Geistlicher, auf der Bildfläche erschien. Der „Alte" wäre zweifellos aus den Maßregelungen nicht herausgekommen, wenn all seine vertrauten Gespräche aus dem Unterrichte hinausgetragen oder gar in unserer politisch so empfindlichen Zeit vorgebracht worden wären. Leider haben wir sein großes Vertrauen nicht in allen Stücken gerechtfertigt. Oft genug öffneten wir den Katheder mit einem Dietrich und schrieben die Lösung mancher schwierigen Rechenaufgabe aus einem Schlüssel ab, uns am nächsten Tage

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an -er Verblüffung und dem ehrlichen Staunen des Haupt­ lehrers weidend, daß wir die Lösung so leicht und aus ver­ schiedenem Wege gefunden hätten, während sie ihm nur mit Aufgebot großer Mühe oder gar nicht gelungen war. An positiven Kenntnissen hätten wir gewiß mehr ge­ winnen können. Und doch nimmt der alte K o o b — so hieß der Gute — unter den Lehrern, zu dessen Füßen ich gesessen, eine der ersten Stellen ein. Vor allem erweckte er in uns die Liebe zur Weisheit und Wissenschaft, hielt das Ehrgefühl hoch und schätzte die werdende Persönlichkeit in uns, an deren Formung und Gestaltung er unablässig arbeitete. Wenn Kame­ raden von anderen Schulen müde und abgetrieben zur Prü­ fung kamen und nach dem Examen im bequemeren Betrieb des Seminars sich etwas „vertagen", gingen wir Haßfurter mit einer stattlichen Reserve unverbrauchter Kräfte an die neuen Verhältnisse heran und schnitten regelmäßig ziemlich günstig ab. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß auch in der Erinnerung der übrigen Schüler das Bild des alten K o o b in diesen Farben lebt, und daß sie gern dem Alten mit der goldenen Brille und dem bezeichnenden Nasen­ schorf, der mit dem Monde wuchs und absiel, ihren Gruß in das Geisterland senden werden. Von den Präparandenlehrern hatte der jüngere etwas Apollinisches. Von stattlicher Leiblichkeit, groß und eben­ mäßig gebaut, mit welligem Blondhaar, schönem, rotem Barte 26

und blühender Hautfarbe, stellte ec den zermanschen Typus in einer Art Vollendung dar. In seinem Auftreten war er die verkörperte Autorität. Als ehemaliger Hofmeister in einem vornehmen Hause wußte er in Miene und Geste, in der ganzen Aufmachung des äußeren Menschen sich mit großem Schick und einer ge­ wissen vornehmen Eleganz zu geben, was ihm etwas Unnah­ bares verlieh. Ich habe diesen Lehrer niemals zanken oder wettern hören, ja nicht einmal ein unschönes Wort kam über seine Lippen; auch eine Strafe hat er meines Wissens nicht ausgesprochen. Aber alle ohne Ausnahme, der Ernste wie der Leichtfertige, standen in seinem Banne und hätten sich nicht unterstanden, auch nur um des I-Punktes Wert bei der Be­ arbeitung ihrer häuslichen Ausgaben unter den Tisch fallen zu lassen. Ein Blick aus diesen großen Augen, eine gleich­ gültig konstatierende Frage, mit der ihm eigentümlichen vor­ nehmen Art vorgebracht, schleuderte jeden in seines Nichts durchbohrendes Gefühl zurück. Nach seinen natürlichen Gaben war er der geborene Schulmann und bewies unwiderleglich, daß das Geheimnis der pädagogischen Autorität in der Per­ sönlichkeit des Lehrers beschlossen liege, der infolgedessen durch ein Mindestmaß von Mitteln die allergrößten Wir­ kungen zu erzielen vermag. In merklichem Abstand hiervon kam der ältere Präparan­ denlehrer, in seiner hageren, hochaufgeschossenen Gestalt an den sinnreichen Ritter von der Mancha gemahnend.

Seine Stimme war weich und wenig zum Herrschen angetan, sein ganzes Wesen hatte etwas Versonnenes und Träumerisches, was uns damals um so mehr auffiel, als er in Eros' Banden lag. Als Kalligraph kam ihm keiner gleich; auf der Violine, wo er seine beschauliche Seelenstimmung in langgezogenen Portamentis, frei phantasierend, auszuleben pflegte, verfügte er über einen Ton von eindringlicher Gewalt und bedeutende Fertigkeiten. Trotz seiner natürlichen Gut­ mütigkeit und seines schönen Wohlwollens für die Jugend konnte er am wenigsten Fuß in der Schülerschaft fassen. Ihm mangelte das der Jugend kongeniale Lebensgefühl. Auch stand er infolge schwankender Gesundheit, die ihn vor der Zeit nötigte in den Ruhestand zu treten, sehr oft unter der Wirkuüg griesgrämiger Verdrossenheit und sauertöpfischen Wesens. Eine Ausnahmestellung nahm der Religionslehrer ein, ein jüngerer Kaplan von rotbackiger Gesundheit und sehr tüch­ tiger Bildung. Er war ein gewandter Lehrer und ein wir­ kungsvoller Kanzelredner. Für die meisten Schüler gab er sich zu süß, auch drang er sehr auf äußere Betätigung der Frömmigkeit. Er hatte seine Lieblinge und wußte besser Be­ scheid in der Tageschronik der Schule, als manchem lieb war. Vielleicht bewirkte die sichtliche Antipathie unseres verehrten Schulvorstandes gegen den geistlichen Kollegen, der politisch aus dem entgegengesetzten Standpunkte stand, daß viele Schüler ihm kein rechtes Vertrauen entgegenbrachten. 28

In die Hände dieser Lehrer war unsere dreijährige Vor­ bereitung für das Seminar gelegt. Den besten Unterricht genossen wir im Rechnen. Dieses hatte schon damals die am glücklichsten ausgebaute Methode, selbst die Schablone konnte keinen großen Schaden anrichten. Sehr viel Zeit und Kraft wurde mit dem Kopfrechnen verloren. Schon allein das Einprägen von Aufgaben mit 5, 6 und mehr Zahlenangaben war eine Leistung, zu welcher nur langdauernde, planmäßige Schulung erziehen konnte. Auch die kniffigen algebraischen Ausgaben, die durch eine Gleichung kinderleicht zu lösen ge­ wesen wären, machten uns mit ihren verwickelten Schlüssen viel Kopfzerbrechen. Doch weil schließlich die Resultate er­ freulich waren, unterzogen wir uns nicht ungern der Arbeit. Recht tief unter dem Durchschnitt stand der deutsche Unterricht aus Gründen, die schon im 1. Abschnitt dargelegt worden sind. Der alte Marschall-Gutmann war eine verflucht trockene, öde Weide. Das ewige Grammatisieren wurde einem allgemach zum Ekel. Sicherheit erlangten nur die, welche ent­ weder vom Lateinischen herkamen oder von zu Hause einen besonderen Drill mitgebracht hatten. Das größte Abel lag darin, daß kein Abungsstosf zuhanden war, an dem wir die erlernten und von Beispielen abgezogenen Gesetze hätten befestigen und einprägen können. Ein Buch mit sieben Siegeln blieb im Grunde genommen das Pensum des 2. Kurses, die historische Sprachbetrachtung. Was da über die Stellung des Hochdeutschen innerhalb der germanischen Sprachen und der

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deutschen Dialekte, über den Vokal- und Konsonantenbestand unserer Muttersprache, über Lautverschiebung, Umlaut, Ab­ laut, grammatischen Wechsel, Wurzel- und Stammbildung u. dgl. m. in Paragraphen und Anmerkungen vorgetragen war, bereitete uns nicht geringe Qual. Übrigens mag es dem Lehrer — das merkten wir deutlich — nicht viel anders ergangen sein; denn er mutzte sich als Autodidakt neu in diese Gedanken­ welt einleben, freilich nur mit dem Erfolge, datz er sich gerade den Schülern gegenüber in einem recht unsicheren Gleich­ gewicht behaupten konnte. Von Erklären, Vertiefen und weiterem Ausbauen durch Schöpfen aus dem Vollen natür­ lich keine Spur. Ein Kapitel wurde gelesen, zergliedert und dann abgehört. Die häuslichen Arbeiten bestanden darin, datz wir die im Lehrbuch enthaltenen Fragen schriftlich be­ antworteten, was in der Regel im Wortlaut des einschlägigen Paragraphen erfolgte, und dann auswendig lernten. Einige klügere Köpfe der Vorkurse hatten dies in säuberlich zusammen­ geschriebenen Heften nachgetragen, die sich von Klasse zu Klasse forterbten und die ganze Arbeit der späteren Geschlechter auf ein bloßes Abschreiben herabdrückten. Bei den Schul­ arbeiten kam es nur daraus an, die richtige Antwort rein gedächtnismätzig zu treffen oder gut aus dem Hefte oder dem Lehrbuch abzuschreiben. Wie lebensvoll und interessant lätzt sich gerade dieser sprachgeschichtliche Teil der deutschen Grammatik gestalten, wenn der Lehrer selbst in der Sprachvergleichung wissenschaft30

lich geschult ist, wenn er den Stofs geschickt zu gruppieren und daraus die Gesetze als das Schlußergebnis der Betrach­ tung abzuleiten vermag! Freilich mußten nahezu 4 Jahr­ zehnte ins Land ziehen, bis dieses Ideal ansing Wirklichkeit zu werden, indem auch die Lehrerbildner Gelegenheit be­ kamen, an den Universitäten den Bau der Muttersprache wissenschaftlich zu studieren. In der 3. Klasse konnte man die Leiden der zweiten getrost wieder vergessen; denn der ganze Unterricht drehte sich wieder um die Analyse, die als Paradepserd bei der Seminaraufnahmeprüfung besonders gedrillt wurde. Lek­ türe, prosaische wie poetische, wurde fast ausschließlich unter diesem Gesichtswinkel betrieben, indem das Gelesene, sobald die Lesefertigkeit nach mechanischen, logischen und euphonischen Gesichtspunkten einigermaßen festgestellt war, unbarmherzig zerpflückt, nach verbalen und syntaktischen Schwierigkeiten durchsucht, dekliniert, konjugiert und konstruiert, kurz alles getrieben wurde, was nach dem damaligen Stande des Unterrichtsbetriebs das Examen ins Seminar an abschließenden Grammatikkenntnissen von einem Schulamtskandidaten ver­ langen konnte. Nach feststehenden Überlieferungen vollzog sich die Aus­ satzfertigung. Eine Anweisung hierzu fehlte gänzlich. Eine Vorbereitung für den Wochen- oder Monatsaufsatz in der Klasse wurde weder in stofflicher noch in technischer Hin­ sicht beliebt. Den Anschauungs- und Vorstellungskreis der

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Schüler bei einem bestimmten Thema zu sondieren und in seiner Begrenzung genau festzustellen, galt für überflüssig. Es genügte schon das Thema zu bezeichnen. Das Weitere konnte man im „Sommer" nachsehen, wo all die landläufigen Aufgaben mit Musterbeispielen und Andeutungen zu lesen waren, wie „Regen nach lang anhaltender Dürre", „der Eisgang", „ein Sonnenaufgang irrt Winter", oder bei einem noch bequemeren, alphabetisch in Schlagwörtern angelegten Faulenzer, dem alten Weyh, wohl auch in einem Schüler­ heft aus früheren Jahren. Manches steuerten auch stilistisch besonders gewandte Kameraden bei, die um geringes Ent­ gelt sogar die unkenntlich machenden Variationen an den Sätzen anbrachten. Vielfach stellte der Aussatz auch das Er­ gebnis einer Gesellschaftsarbeit dar, wobei der eine die Ein­ leitung, der andere den Schluß und wieder andere einzelne besonders abgegrenzte Punkte zu fertigen hatten. Bei der Be­ wertung der Arbeiten waren in erster Linie Schrift, Gram­ matik, Orthographie und Interpunktion maßgebend. Ich frage mich noch heute, ob überhaupt einer in seinem Stil etwas durch diesen Betrieb gewonnen hat. Für mich waren diese Stunden und Übungen vollständig verloren. Nun konnte sich Rechnen und Deutsch noch auf eine ziem­ lich weit zurückreichende Überlieferung an Lehrerbildungsanstalten berufen. Ganz schlimm stand es dagegen mit den Naturwissenschaften, wozu ich auch Geographie rechne, und mit dem Zeichnen. Anschauung und Induktion fehlten fast 32

gänzlich oder waren nur durch schwache Ansätze vertreten. Auf Grund der eingepaukten Definitionen und Beschreibungen referierten wir über Pflanzen und Mineralien nicht anders wie der Blinde über Farben oder wie der Knabe Karl in „Götz von Berlichingen", der vor lauter buchmäßiger Gelehr­ samkeit bald seinen eigenen Vater nicht mehr kennt. Aber wir hatten alles säuberlich in Heften zusammengetragen, wo es z. B. anhub: Was ist ein Tier? was eine Pflanze, ein Mineral? und weiterhin lautete: Welches sind die Teile einer Blüte? Welche Arten von Wurzeln gibt es? Die Antworten hieraus gingen wie am Schnürchen, aber wenn uns das ein­ fachste Objekt unter die Hand kam, stürzte unsere Gelehrsam­ keit wie ein Kartenhaus zusammen und wir wußten nicht, wo ein und wo aus. Daß man alle diese schönen Dinge doch auch einmal am lebendigen Objekt kennen müsse, sagte uns eine dunkle Ahnung und der starke Wirklichkeitstrieb der Jugend. Wir brachten deshalb im Sommer häufig merkwürdige Pflanzen mit in die Klasse. Da wurde uns fast regelmäßig der Bescheid: Das scheint mir das und das zu sein. Der Lehrer ließ die Entscheidung offen und lange meinten wir, man könne trotz aller Stempel- und Staubgefäße des Linneschen Systems, das wir starmatzartig herunterleierten, schwierige Pflanzen überhaupt nicht sicher bestimmen. An gemeinsame Exkursionen mit wissenschaftlichem Endzweck hat bei uns damals überhaupt niemand gedacht. Küffner.

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Die Mineralien betrachteten wir mit emsigem Fleiß in den Schaukästen und die Tiere studierten wir auf großen Wandbildertaseln. Sobald aber etwas außer der gewohnten Ord­ nung und Reihenfolge genannt werden sollte, saßen wir in der Regel auf. In der Geographie hatten wir ein sog. Städte­ heft, worin in alphabetischer Reihenfolge nach verschiedenen Rubriken die großen Siedelungen vorgetragen und in ihren Merkwürdigkeiten gekennzeichnet waren. Einige Beispiele sind mir noch in deutlicher Erinnerung. So stand zu lesen bei Aachen, Preußen, Rheinprovinz, soundso viel Einwohner, warme Quellen. Basel, Schweiz, Rhein, soundso viel Einwohner. Künstliches Uhrwerk, reiten mittags 3 Reiter heraus. Ottobeuren, Bayern, Schwaben, Markt, Orgel mit soundso viel klingenden Registern. Fleißige Schüler sagten flüssig die Städte in alphabetischer Reihenfolge her, hintereinander 20 bis 30 Städte mit A, soundso viele mit B. Dabei fuhren sie mit dem Stabe an der Karte umher, daß es eine Freude war. In diesen topographischen Künsten und Fertigkeiten erschöpfte sich der ganze Unterricht. Terrain­ verhältnisse, Geländedarstellung, Betrachtung des Morpho­ logischen und Physikalischen und Rückschlüsse daraus aus das Ethnographische und Ethnologische, nicht einmal auf das so nahe liegende und durch Karl Ritter damals schon jedem Ge­ bildeten geläufige Historische blieben fromme Wünsche. Ich habe in der Folge diese Unterlassungssünden aufs tiefste be­ dauert, weil ich die vorhandenen Lücken meiner Bildung 34

entweder gar nicht habe aussüllen können oder nur unter Aufgebot von unverhältnismäßig viel Zeit und Kraft. Daß man an der Jugend auch intellektuell sündigen könne, fühle ich, wenn ich meine Erinnerung auf die Präparandenjahre zurückschweisen lasse. Der Staat lädt sich diese Sündenschuld auf, wenn er Lehrer in einem Fache zu unterrichten zwingt, wozu sie weder inneren noch äußeren Beruf haben, weil er ihnen keine ge­ nügende Vorbildung zuteil werden ließ. Da es unsern Lehrern nicht an hingebendem Fleiß und Fortbildungseiser fehlte, so hätten sie zweifellos manches wissenschaftliche Manko aus­ geglichen, wenn sie in einer größeren Stadt mit reichen Bil­ dungsgelegenheiten gelebt hätten. Aber wie sollte man in Haßfurt botanische, zoologische und mineralogische Studien treiben, wo in der Schule selbst noch alles in den Anfängen stand? Wo nimmt man Führer und Leiter, wo Unterweisung und Aufschluß in schwierigen Fällen her? Das ist auch ein Fluch der Präparandenschulen in kleinsten Städten, eine der Schattenseiten der Dezentralisation! Im Zeichnen war es etwas besser, obwohl wir planund verständnislos die Vorlagen einfach nur kopierten oder höchstens an einem Modell unsere Kräfte maßen. Hier wirkte aber die nicht geringe Kunstfertigkeit des Lehrers, welche uns die Überzeugung eingab, daß dieser wenigstens selbst nachbilden konnte, was er ohne weiteres von uns verlangte. Übrigens teilten wir das Mißgeschick eines unzulänglichen Zeichenunter35

richtes mit tausend anderen Schülern, die infolge unvernünf­ tigen Betriebs für das ganze Leben Lust und Freude an diesem eminenten Bildungsmittel verloren und auf die Fähigkeit verzichten mutzten, durch Strich und Linien graphisch zu veranschaulichen, was sie mit Worten nur sehr unzureichend vermochten. Der Musikunterricht war eigentlich das Beste an der ganzen Anstalt. Der Hauptlehrer hatte den Ruf eines aus­ gezeichneten Kontrabassisten und eines gründlich gebildeten, namentlich theoretisch wohl geschulten Musiklehrers, der neben der Harmonielehre geistreich über den Ausbau grötzerer Ton­ werke zu sprechen wußte. Die beiden Präparandenlehrer waren gewandte Violinisten, bzw. Pianisten. In Klavier, Orgel und Violine, im Spielen bezifferter Bässe leisteten beinahe alle Schüler ganz Erfreuliches, was sich auch bei der Aufnahmeprüfung zeigte. Das jugendlich feurige Bildungsstreben unseres verehrten Schulvorstandes bekundete sich auch in dem Eifer, womit er uns eine Fülle freiwilliger Bildungsgelegenheiten zu erschließen bemüht war. Für die damals kaum noch in weitere Kreise gedrungene Stenographie suchte er uns durch in Aussicht gestellte Sti­ pendien zu gewinnen. Um die Lehrstunde im Französischen zu bevölkern, wofür er unter ziemlich bedeutenden Kosten einen Sprachlehrer zweimal die Woche von Schweinfurt hatte kom­ men lassen, gewährte er Unterrichtszuschüsse, die er, weiß 36

Gott woher, für diesen Zweck zusammmengebracht hatte. Leider haben weder alle von den gebotenen Bildungsmitteln Gebrauch gemacht noch durch ihre Fortschritte die Hoffnungen des Unternehmers erfüllt. Es lag dies sowohl an der Methode wie auch an dem Prinzip der>Freiwilligkeit, das bei der jugend­ lichen Ungebundenheit und Unvernunft oft schlechte Früchte trägt. Doch erinnere ich mich, daß wenigstens ein ausgezeich­ neter Stenograph aus meiner Klasse hervorgegangen ist und daß einige den privaten Unterrichtsstunden an der Präpa­ randenschule nützliche Anregungen und schöne Vorkenntnisse in der französischen Sprache verdankten. Die Jahre in Haßfurt waren vielleicht die schönsten meiner Jugend. Die Arbeit war ein leichtes Joch. Vom Hause gut vorbereitet, konnten manche die Zügel schleifen lassen. Straffer ging es in den Ferien zu, wo der Vater fürchterliche Musterung über den Wissensstand hielt und uns mit eiserner Energie wieder in die tieferen Geleise brachte. Das Zusammenleben mit den Kameraden bot täglich Stoff zu Kurzweil und frohem Zeitvertreib, wobei oft auch die Schranken des Gesetzes über­ schritten wurden. Nicht selten wurde gekneipt und leider auch geschwindelt, wenn es galt, den auf der nächtlichen Straße kontrollierenden Lehrer häuslichen Fleiß durch eine rastlose Übung aus der Violine vorzutäuschen, währenddem sich drei oder vier durch Kartenspiel ergötzten. Manchem jungen Herzen war schon die Liebe aufgegangen und bei einigen hatte die sexuelle Aufklärung einen Grad 37

erreicht, der selbst vom freiesten Standpunkt aus nicht ver­ treten werden kann und zu verschiedenen Mißständen führte. Schuld an letzterem trug auch das Zusammenwohnen von älteren und jüngeren Schülern in den stadtbekannten Präparanden-Massenquartieren, wo die Nachteile des Internats durch die freie Bewegungsmbglichkeit nur noch gesteigert wurden, indem die in höheren Klassen sitzenden Kameraden ihre geistige Überlegenheit mitunter auch in sittlichem Zynis­ mus zu bekunden pflegten. Auf diesen Punkt hatte unsere Schule, wahrscheinlich mangels genügender Erfahrung, zu wenig Rücksicht genommen. Nicht immer sind die Älteren Führer und Leiter der Jüngeren! Eine Quelle häßlicher Gefühle lag in dem System der Lokation oder Platzzuweisung bei den Schulaufgaben und dem Iahressortgang. Es kann gar nicht genug hervorgehoben werden, wie diese Übung das Iugendleben und das Verhältnis der Schüler untereinander vergiftete. Zwar wurde der ein­ zelne gespornt, seine Kraft aufs äußerste anzuspannen, um seinen Kameraden Herunterzutun und zu überholen, aber dieses Streben war etwas rein Äußerliches, hatte seinen Beweg­ grund in einem außerhalb der Sache liegenden Punkte und führte zu fortgesetzter Beunruhigung, wenn nicht zu Ver­ stellung und Täuschung. Da es ganz gewaltig imponierte, die besten Leistungen scheinbar ohne Anstrengung zu erzielen, mußte die Arbeit, weil es ohne diese doch nicht ging, ungesehen und unkontrollierbar verrichtet werden, um bei den Mit?8

schillern den Anschein genialer Leichtigkeit zu erwecken. Da die Schüler den hinterhältigen Versicherungen größtmöglicher Faulheit doch nicht glaubten, so pflegte man sich gegenseitig zu überwachen und persönlich von der Richtigkeit der gemachten Beteuerungen zu überzeugen. Zufällige Besuche auf dem Zimmer, Abholen zu Spaziergängen, Aufforderung zu allerlei Allotrias führten letzten Endes auf solch unlautere Absichten zurück. Wer z. B. den Drang in sich fühlte, sich im Som­ mer Studien halber recht bald aus den Federn zu machen, konnte sich von dem üblen Rufe eines Boxers nur dadurch befreien, daß er in voller Öffentlichkeit, etwa an einem viel­ besuchten Brunnen, wo sich andere Kameraden einfanden, unter allerlei geringschätzigen Reden seiner Tätigkeit oblag, d. h. eigentlich nicht oblag, indem hier der größte Teil der Zeit mit Ulkereien und gegenseitigem Ausziehen vergeudet wurde. Es galt gewissermaßen als Schande fleißig zu fein; nur die Dummen hatten dies nötig. Pflichtgemäß hinter den Büchern sitzen und sich von Stunde zu Stunde gewissenhaft vorbereiten, war nach dem Urteil der Masse etwas Plebejisches. Fast täglich wurden Zusammenstellungen gemacht, aus welchen Fortgangsplatz der einzelne nach dem Ausfall der jeweiligen Schulausgabe rechnen dürfe. Er wurde damit gehänselt und kam, wenn er wider Erwarten einmal Gutes leistete, aus dem Verdruß nicht heraus. Ganz wird sich diese unheilvolle Quelle im Iugendunterricht kaum verstopfen lassen; daß ih aber durch Abschaffung 39

der Lokation das Haupteinzugsgebiet abgeschnitten wurde, unterliegt keinem Zweifel und dürste, was auch von manchem zu ihren Gunsten angeführt werden mag, als ein sehr bedeut­ samer Fortschritt der neueren Pädagogik zu bezeichnen sein. Einem Freunde der Jugenderziehung mußte der gänz­ liche Mangel aller Leibespslege im Unterrichte vor 50 Jahren auffallen. Einer Art Turnen oblagen wir im Sommer in einigen Stunden unter der Leitung eines Stadtsergeanten, der in voller Polizeiausrüstung Aufmärsche kommandierte, wobei er oft genug seinen Tschako verlor oder Gefahr lief, von den in geschlossener Wucht vordringenden Zügen in den vorüberfließenden Bach manövriert zu werden. Es war mehr ein fortgesetzter Unfug als auch nur die primitivste Pflege von Frei- und Ordnungsübungen. Wanderungen, Spazier­ gänge, Ausflüge, Sportsübungen fehlten ganz. Nur Baden und Schwimmen im Main wurde gepflegt, natürlich ohne Anleitung und System, ohne Grundsätze und hygienische Rück­ sichten. Wenn wir trotzdem körperlich aufs beste gediehen, so verdankten wir dies außer der guten, gewissermaßen bäuer­ lichen Gesundheit, die uns als preiswürdiges Erbteil von den Eltern überkommen war, der Selbsthilfe der Natur, dank welcher wir uns im Ringen und Raufen, im Wettkämpfen und Wettlaufen nicht genug tun konnten. Täglich ging dem Unterricht, zu dem wir sehr früh im 1. Stock des städtischen Rathauses erschienen, als Vorspiel ein gymnastischer Wett­ bewerb, allerdings in Form einer elementaren Rauferei, 40

voraus. Eine höhere Klasse erschien im Lehrsaal der unteren und forderte durch allerhand Neckereien einen bekannten Kampfhahn heraus. Alsbald entspann sich ein wilder Tumult, Püffe flogen, Bänke krachten, Körper stürzten; oft verbissen sich die jugendlichen Athleten so ineinander, daß sie nicht selten den hereintretenden Lehrer übersahen und mit Gewalt auseinander gebracht werden mußten. Andere Zeiten — andere Menschen — andere Anschauungen. Unsere Vor­ gesetzten haben derartige Ausschreitungen nicht so schlimm beurteilt. Waren diese doch zweifellos eine Art Ventil, durch das sich das überschüssige Kraftgefühl in allerdings ganz un­ kommentmäßigen Formen entlud. Die schönen Präparandenjahre, die uns bei mäßiger Arbeit viel Freiheit ließen, hatten sich leider nur zu rasch erfüllt. Die Aufnahmsprüfung ins Seminar warf ihre Schatten voraus. Manchem schlug das Herz in Erwartung der kom­ menden Dinge. Schwerer, als es sich ahnen ließ, fiel ihm aufs Gewissen, daß er doch nicht in allem seine Schuldigkeit getan, in seinem Wissen und Können manche Lücke unausgesüllt gelassen hatte. Die Schule aber konnte mit Recht verlangen, daß die abgehenden Zöglinge den guten Ruf ihrer Anstalt erhielten und erhöhten, indem sie sich in der Konkurrenz mit den Schülern anderer Präparandenanstalten ehrenvoll behaupteten. Die Arnsteiner und Neustädter brauchten wir nach der Fama nicht zu fürchten, dagegen hatten die Lohrer den wohl 41

berechtigten Rus der bestgedrillten Kandidaten. Der alte Hammer, der Präparandenhauptlehrer, war wegen seiner Hingabe und Aufopferung für die Schule nicht minder be­ rühmt wie wegen der drastischen Mittel, die er anwendete, um auch die Schwächsten in Rechnen, Geschichte, Geographie und Harmonielehre auf eine erfreuliche Examenhöhe zu heben. Einem Drill nun waren wir ganz und gar nicht unterworfen worden. Unsere Kenntnisse standen nicht aus der sichersten Grundlage; besonders die gedächtnismäßigen Fächer ließen an durchgängiger Sicherheit und Genauigkeit zu wünschen übrig. Wir mußten uns eben auf unsere Allgemeinschulung und unsere durch keinerlei Übermaß erschütterten natürlichen Kräfte und Fähigkeiten verlassen. Mit dem dumpfen Gefühl, daß wir einen für die Schule, die Eltern und uns selbst gleich wichtigen Gang anzutreten hatten, verließen wir unter den Segenswünschen der Lehrer und Hausleute, wohl auch unter manchen stillen Tränen aus schönem Auge, unsere bisherige alma mater und dampften nach der Kreishauptstadt, dem schönen Würzburg, das wir uns in stillen Träumen gar statt­ lich ausgemalt hatten. Es ist mir noch heute unvergeßlich, wie ich in etwas großtuerischer Absicht den Katechismus hervvrzog und kon­ statierte, daß ich in der Wiederholung gerade beim fünften Gebot angekommen sei. Andere wollten das und jenes Fach noch gar nicht angesehen haben. Das hätte alle recht traurig stimmen müssen. Doch die leichtbeschwingte Hoffnung einer 42

glücklichen Zukunft überwand den Druck der Gegenwart. Nach wenigen Stationen entwickelte sich eine ungezwungene Lust und Fröhlichkeit. Die Bücher wurden zugeklappt, Witze erzählt, frohe Lieder angestimmt, Pläne einer solennen Knei­ perei in der oder jener durch die Fama berühmten haupt­ städtischen Wirtschaft beschäftigten angelegentlich unsere Geister. Wie Rauhreif legte es sich aus diese frohgemute Stim­ mung, als wir in die düsterkalten Klostergänge und Hallen des alten Seminars einzogen, das uns zunächst für die Prüsungstage in die strenge Pflicht seines Internates nahm und aller überschwenglichen Gemütsstimmung einen recht nüch­ ternen Dämpfer aussetzte.

III. Aus dem „Weiteren" ins „Engere" des Seminarinternats. und Charybdis der Prüfung lagen glücklich hinter @zy!la uns. Das Examen war besser ausgefallen, als wir uns in unseren kühnsten Träumen beikommen ließen. Das Seminar, in das ich nach wundervollen Ferien im Oktober eintrat, hatte seine Umbildung zu einer neuzeitlichen Anstalt noch nicht ganz vollzogen. Aber die geistig bewegte, liberal gerichtete Epoche hatte schon lange mit ihren Forderungen auch an dem Gefüge dieser Pflanzschule für die Volksbildung mächtig gerüttelt. Beseitigung der geistlichen Anstaltsleitung, Zurückdrängung des Musikunterrichts, gesteigerte wissenschaftliche Bildung, zweckmäßigere praktische Vorbereitung für den Lehrberuf, freiheitliche Erziehung der Seminaristen in den Internaten, am besten gänzliche Aufhebung derselben war die Losung dieser Jahre. Aach des Theologen Saffenreuter Tod wurde in Würzburg der Mathematiker Ioh. Nep. Huber zum An­ staltsleiterbestellt, in Bamberg war der Altphilologe Hock, in Kaiserslautern der treffliche Pädagoge vr. Andreas berufen worden. Andere Seminare folgten in der Laisierung der Vorstandschaft. Nur an protestantischen Anstalten blieben Theologen noch längere Zeit am Ruder, um schließlich auch weltlichen Inspektoren Platz zu machen.

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Die Einführung der Kreisschulinspektoren wurde mittel­ bar bedeutsam für die Lehrerbildungsanstalten, insofern ihre praktisch-pädagogische Richtung durch den Beirat dieser Fach­ männer am Sitze der Kceisregierungen energisch in sichere Bahnen gelenkt wurde. In Unterfranken kann man diesen Einsluh in der Lebensarbeit Gregor Fischers, des ersten bayerischen Kreisschulinspektors, Schritt für Schritt nachweisen. Aber die Um- und Fortbildung vollzog sich selbstverständ­ lich nicht von heute auf morgen, auch nicht in 1 oder 2 Jahren. Im Gegenteil, der allem staatlichen Leben eigentümliche kon­ servative Zug bewahrte auch die Lehrerbildung vor Über­ stürzung und schob manches so lange hinaus, bis bereits wieder ein Umschlag der allgemeinen politischen Lage eingetreten war. Wie wir ins Seminar eintraten, gärte und rumorte alles und verheißungsvolle Ansätze einer freieren Entwicklung waren überall wahrzunehmen. Reue bessere Lehrmittel traten an Stelle der überlebten alten. Es gab reichlich Stadtgänge und Erlaubnis an Sonn- und Feiertagen auszugehen; an Fastnacht wurde Theater gespielt und manch vergnügte Sitzung abgehalten; Bierstunden wurden bewilligt und bereits ge­ nehmigte verlängert. Der Verkehr mit der Außenwelt vollzog sich in den liberalsten Formen. Theater und Konzerte zu be­ suchen, gehörte zu den gerne und oft bewilligten Vergnügen. Auf größeren Spaziergängen und Maiausflügen, welch letztere mehrere Tage währten, lernten wir ein gut Stück Natur und Geschichte kennen. Sogar die Presse, allerdings in den 45

stark verdünnten journalistischen Aufgüssen des Stadt- und Landboten, und periodische Zeitschriften, wie Hausschatz, Alte und Neue Welt, durften in den Studiersälen des Internats gehalten werden. Neben diesen zweifellos erfreulichen Neuerungen erhielten sich Überreste altfränkischer Art mit großer Hartnäckigkeit. An den Sonn- und Feiertagen ging es im ehrwürdigen Zylinder zur Kirche. Am Fronleichnamsfeste marschierte das Seminar wie ein Gesellenverein mit seiner eigenen Blechmusik aus. Der Briefwechsel wurde scharf überwacht; auf Wunsch mußten verdächtige Korrespondenzen auf der Inspektion geöffnet und durch Vorzeigen der Unterschrist und einzelner Stellen als harmlos ausgewiesen werden. In den freien Stunden trom­ petete, posaunte, sidelte, trommelte und paukte es in den Räumen der Anstalt, da jeder im Ernst oder im Scherz mit einem Blas- oder Streichinstrument hantierte, daß einem Hören und Sehen verging und mancher vorübergehende Fremde erstaunt nach der Bestimmung des Hauses fragte. So baumelte noch gar mancher artige Zopf hintenherab, den man mit keckem Griff nicht abzuschneiden wagte. Aber es ging vorwärts und in den siebziger und achtziger Jahren war es recht wohl in dem sonst gefürchteten Internat aus­ zuhalten, wenn auch die größere Freiheit der Präparanden­ schule vermißt wurde. In mancher Hinsicht hatte das gesell­ schaftliche Beisammensein sogar seine unbestreitbaren Vorzüge, die später viele Kameraden aus einsamen Dörfern wieder 46

zurückgewünscht haben mochten. Im Studier- und Musik­ saal, im Schlafsaal und Krankenzimmer, aus dem Boden bei den Schränken oder im Wichsraum, bei „Koburgern" und „Lumpesbergern", wie sich scherzweise die Erst- und Zweitklässer nannten, hat sich manche sangeswerte Tat abgespielt, die der Nachwelt leider nicht erhalten geblieben, weil ihr der gestaltende Rhapsode fehlte. Ein Janusgesicht wie die Verfassung hatte auch das Lehrerkollegium des Seminars. Gegenwart und Vergangen­ heit, Neues und Altes waren darin vereinigt. Sein Chef war ein junger Mann anfangs der Dreißiger — man hatte das später verlassene Verjüngungssystem bei den Vorstands­ stellen damals drastisch in die Praxis umgesetzt —, ein San­ guiniker durch und durch, quecksilberig, zappelig in seinen Bewegungen, sprudelnd in seinen Reden, ost verblüffend grotesk in seinen Gesten, dabei ein leidenschaftlicher Raucher, dem die schwersten Virginias nichts anhaben konnten. Natür­ liches Wohlwollen und ein gewisses Naturburschentum ver­ stärkten den Eindruck seines Wesens auf die Jugend. Voll Eifer und Pflichtgefühl widmete er sich seiner verantwortungs­ vollen Aufgabe, für welche er im Grunde genommen recht wenig mitbrachte. Er hatte ein bayerisches Mathematiker­ examen bestanden und war dann längere Zeit Vorstand einer hessischen Bürgerschule gewesen. Den Betrieb eines Seminars mußte er erst kennen lernen. Mit Pädagogik in ihrer psycho­ logischen und historischen Seite wie mit Methodik hatte er 47

sich vorher nie zu besassen gehabt. Dagegen war er ein guter Zeichner und in Verwaltungsfragen ein praktischer Kops. Daß er sich recht schwer tat, in dem neuen Fahrwasser die richtige Orientierung zu gewinnen, erscheint kaum auf­ fallend,' daß er sich mit allem Eifer bemühte, die Lücken seiner rein humanistischen Bildung im Sinne einer Lehrerbildungs­ anstalt auszufüllen, merkten wir Schüler auf Schritt und Tritt; daß er aber aller Schwierigkeiten Herr geworden wäre, um als ein vorbildlicher Seminarleiter zu gelten, dazu fehlte ihm sowohl in den Anfängen wie auch in den späteren Jahren, wo ich ihm persönlich näher treten durste, noch manches. Ultra posse nemo obligatur. Der wirkliche Fachmann wird sich in der Regel von unten heraus dienen müssen. Die Lehrer­ bildung zudem ist von so besonderer Art, daß sich ein Außen­ seiter kaum vollständig vertraut mit allen Fragen derselben machen kann. Ausnahmen, wenn sie vorkommen, bestätigen eben die Regel. Trotz so mancher Blößen, die sich der junge Direktor im Unterricht gegeben, und trotz der Unsicherheit, die er in vielen Dingen bewies, uns war er ein lieber Vorgesetzter, weil wir ihn als guten, braven, wohlwollenden Menschen schätzten, dessen Jovialität und gleichmäßige Fröhlichkeit auch aus uns anspornend wirkte. Ihm zur Seite stand der Präfekt und 1. Seminarlehrer Andreas Blank, ein geistlicher Herr, aber seines Zeichens mehr Physiker und Chemiker. Da er der Vorstand der Taub48

stummenanstalt war, hieß er bloß der Inspektor, während wir­ den wirklichen Inspektor unter der Hand zum Direktor, dem heutigen Amtstitel der Seminarvorstände, beförderten. Blank war ein stadtbekanntes Original und stand im Ruse eines großen Gelehrten, da er seinerzeit die physikalische Preis­ frage der Universität Würzburg gelöst und sich dadurch das Recht unentgeltlicher Promotion erworben hatte. Zur Zeit, wo wir ihn kennen lernten, zehrte er nur noch von dem Ruhme früherer Tage. Weniger das Alter als die unregelmäßige und wohl auch unvernünftige Lebensweise des Junggesellen hatte seine Gesundheit erschüttert. Sehr oft konnte er weder zur Feier des Meßopfers noch zum Unterricht kommen. Seine Vorträge über religiöse und physikalische Themata las er aus säuberlich geschriebenen Heften vor. Durch eingestreute Fragen aus den Kreisen der Schüler veranlaßt, ging er aus alles Mög­ liche ein, wobei er sich besonders in heiligen Zorn über die Weinschmierer und Lebensmittelsälscher reden konnte. Aufmerksame Hörer sand er in den seltensten Fällen, teils weil seine Ausführungen in umfangreichen, von Jahr zu Jahr fortgeerbten Heften vorlagen, teils weil sie vielfach zu hoch gingen. Wenn er aber zufällig einen erwischte, der sich mit einer anderen Arbeit beschäftigte, lieh er eine hane­ büchene Philippika aus ihn niedersausen, wobei Ausdrücke wie Esel, Einfaltspinsel nicht zu den schlimmsten Titulaturen gehörten, besonders dann, wenn sich der Betroffene nicht über die erforderlichen Kenntnisse ausweisen konnte. Abfragen 49 Küfsner. 4

und Repetitionen gab es nur selten; dann ging es aber höchst summarisch her und die Vierer flogen nur so. Freilich konnte man sich nach dem Alphabet darauf vorbereiten und durch Einsagenlassen die eigene Unkenntnis bemänteln. Was aber bei ihm in den Akten, d. h. in seinem Büchlein stand, das war unabänderliche Tatsache, wenn es auch vorkam, daß bei umgekehrter Reihenfolge, wenn er etwa im Alphabet von hinten begann, eine Eins oder eine Vier einem Unschuldigen ausgekreidet wurde, was oft genug zu ergötzlichen Szenen, in der Prüfung auch zu peinlichen Konsequenzen führte. Besonders lustige Stunden gab es, wenn Blank am Ex­ perimentiertisch hantierte, wobei er nicht immer von den ernstesten Schülern unterstützt wurde. Die Versuche mit der Leidener Flasche, der Elektrisiermaschine und dem Isolierschemel, der Windbüchse usw. waren Ereignisse, aus die man sich schon Wochen vorher freute, die aber meistens mit irgendeinem Verdruß, ja sogar mit Stadtgangentzug endigten. Neben Blank, diesem ost recht komisch wirkenden Original, war der Seminarlehrer Schmidt die geborene Autorität. Ein würdiger Herr mit starkem Leibesumfang und bedeutendem Schädel, über den einige Trauerweiden gekämmt waren, von langsam bedächtigem Schritt und feierlich formvollendeter Rede erweckte er überall, wo er sich zeigte, in der Klasse wie in der Gesellschaft, ungeheuchelte Ehrerbietung. Voll Wohlwollen für die Schüler und Teilnahme an ihren kleinen Leiden und 50

Freuden, hatte er bei seinem hohen Lebensalter eine Art väterlicher Stellung allen gegenüber; sie wandten sich um so lieber an ihn, weil sie wußten, daß er sich aus eigener Kraft aus den Kreisen der Lehrerschaft zu seiner angesehenen Stellung emporgearbeitet hatte. Als Lehrer und Erzieher leistete er Ausgezeichnetes. Seine Lektionen waren gründlichst vorbereitet, sein Vortrag in Geschichte und Pädagogik form­ vollendet, wenn er auch, was von einzelnen festgestellt worden war, sich sehr an bekannte Lehrbücher hielt. Faulheit und Ungezogenheit schmetterte er im Wiederholungsfälle durch vernichtende Strafreden zu Boden, angesichts deren man bei etwas Ehrgefühl schleunigst nach einer Gelegenheit suchte, sich wieder Vertrauen und Wohlwollen zu erwerben. Die Schüler pflegen oft ihre vielgestaltigen Eindrücke von einer Lehrerpersönlichkeit in einem glücklichen Wort zusammen­ zufassen, das sich dann als Zunamen auf die folgenden Gene­ rationen forterbt. Den alten Schmidt hieß man nach dem Namen eines altassyrischen Königs Tonoskonkoleros und für­ wahr, besser konnte sich sein feierliches, würdevolles, achtung­ heischendes Wesen nicht symbolisieren, als wenn er die 5 OLaute dieses Namens mit etwas seitlich verschobener Mund­ öffnung von seinen Lippen gleiten ließ. Er war der zweite Lehrer, welcher auf mich wie auf meine Mitschüler einen tief­ greifenden Einfluß gewann. Ein liebenswürdig treuherziger Mann war der Seminar­ lehrer Eduard Kuhn, unser „Jambus", wie er von der

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Poetikstunde her genannt wurde. Er hatte sich durch akade­ mische Studien ein sehr solides naturgeschichtliches Wissen er­ worben, war ein guter Orgel- und Harmonielehrer und stand in der Behandlung des Deutschen in Aussatz, Literatur und Lektüre auf erfreulich fortgeschrittenem Standpunkt. Nur hatte er immer ein Wenn und Aber, griff bei seinen Darlegungen aus die letzten Wurzeln der Dinge zurück, kam wohl auch zu spät in die Klasse, wenn er sich mit einem Kollegen verplaudert hatte, und wurde deshalb nur selten fertig, weder in der Kor­ rektur schriftlicher Aufgaben noch in seinem Pensum. Auch verwendete er wenig Zeit aufs Examinieren, so daß die Se­ minaristen trotz seines tüchtigen Unterrichts selten lückenlose Fortschritte machten. Kam er aber nach längerer Zeit doch einmal zum Abhören, dann setzte es meistens unangenehme Austritte ab, die damit eingeleitet wurden, daß er, seine Manschetten zurückstauend, konstatierte, er sei aus Sumpf geraten und müsse nun „den Kameraden" besser auf die Finger sehen. Hochersreulich empfanden wir alle die Tatsache, daß er in den Naturwissenschaften, in den beschreibenden wie in Chemie, auf die Anschauung und das Experiment drang und mit uns viele lehrreiche Exkursionen unternahm, denen leider nicht alle mit ihrem schablonenhaften Bücherwissen folgen konnten. Weniger Einfluß gewann der Seminarschullehrer Eschen­ bach, der damals fast ganz allein die praktische Ausbildung der Zöglinge in Händen hatte. Vom Standpunkt einer guten 52

Schule bedauerte er öfter lebhaft, daß durch das fortwährende Hospitieren der Seminaristen und die Abkommandierung ein­ zelner Jahrgänge zu den Lehrproben im Seminarunterricht die gleichmäßige Durchbildung seiner Schüler Schaden litte. Dienstlich rangierte er in beträchtlichem Abstand hinter den pragmatisch angestellten Hauptlehrkräften, was seine Freudig­ keit am Zusammenarbeiten mit den Seminarlehrern auch nicht erhöhte. Im allgemeinen war zu unserer Zeit die Seminar­ übungsschule nicht Mittelpunkt, sondern mehr ein äußerer, lose verknüpfter Beobachtungsposten im praktischen Vor­ bereitungsdienst. Unter den Nebenlehrern war der Zeichner Dr. Hügel ein gelehrter Kunsthistoriker und Ästhetiker, aber ein höchst mittelmäßiger Pädagoge. Seine Lehrstunden umrankte schon damals eine vielverzweigte Legende von Eulenspiegeleien und Allotrias. Der Turner nahm seine Aufgabe sehr ernst und gab sich sehr viele Mühe; nur schade, daß ihm aus der Vildungssphäre, aus der er sich durch eigene Kraft emporge­ schwungen hatte, noch manches Menschliche anhaftete, was bei aller praktischen Tüchtigkeit seine Wirksamkeit hemmte. Der Lehrer für Landwirtschaft interessierte als Persönlichkeit sehr, der Gemeindeschreiber, ein zeremonieller subalterner Regie­ rungsbeamter, galt allgemein als lustige Person, welcher der Zunamen Parägraphos ausnehmend gut zu Gesicht stand. Gelernt wurde in der Landwirtschaft wunderwenig, in Ge­ meindeschreiberei gar nichts.

Von den zahlreichen Instrumentallehrern erfreute sich der alte Wirth einer zweifellosen Beliebtheit als Künstler wie wegen seiner ost drolligen Reden und Gesten. Unter den Seminarhilfslehrern, Präzeptoren genannt, welche als Polizeiorgane an und für sich keine beneidenswerte Stellung hatten, wußte nur der ältere ohne größere Kon­ flikte mit uns hauszuhalten, während der jüngere durch starke Betonung seiner dienstlichen Obliegenheiten und ein gewisses groteskes Auftreten dauernd von uns befehdet wurde. Der Unterricht des Seminars war in einzelnen Fächern nur dem Grade nach von dem der Präparandenschule ver­ schieden. So in der Geschichte, welche bei den alten orientali­ schen Völkern einsetzte und die Griechen und Römer aus­ führlicher behandelte. Sie hat uns besonders interessiert durch die packenden rhetorisch und stilistisch abgerundeten Vorträge des alten Schmidt und die vorwiegend biographische Behand­ lung. Was man auch immer gegen das Lehrbuch von Welter eingewendet, vorzüglich zu erzählen und Liebe und Begeiste­ rung für das Fach einzuflößen wußte es. Daß im Deutschen jetzt der grammatische Drill und die leidige Analyse wegfielen und in der Lektüre der Blick auf die besten Produkte der Lyrik, Epik und Dramatik gerichtet wurde, gab uns neuen Lerneifer in der Muttersprache. Das Lesebuch von Kehrein war für die damalige Zeit ein vorzüg­ liches Buch und ist in der Erklärung und in seinem metrischen Teile heute noch nicht überholt. Der „Reuter" war Wegweiser 54

in der Literaturgeschichte; aber wir hätten weniger die fertigen Urteile daraus memorieren und mehr die Originalwerke lesen sollen. Die Wißbegierigen konnten sich leicht aus poetischen Anthologien der Handbibliothek charakteristische Proben zu den einzelnen Literaturabschnitten holen. Im Vordergründe unseres Interesses standen natürlich die neuen Disziplinen des Seminarprogramms. Vor der Algebra und Geometrie hatte man uns auf der Präparandenschule ein leichtes Gruseln beigebracht, als ob sich hier Scharfsinn und Denkkraft in unzweifelhafter Weise bewähren müßten. Als der Direktor in der ersten Stunde uns durch ein auch im Lehrbuch von Lübsen enthaltenes Beispiel augenfällig dar­ legte, wie einfach sich durch Buchstaben die Vorgänge ge­ stalten, wieviel Rechnerei und Zahlenschinderei sich dadurch vermeiden lasse, fanden wir die Sache sehr lehrreich und ver­ wendeten daraus um so mehr Zeit, als das Fach vom An­ staltsvorstand unterrichtet wurde. Die Grundlegung ließ indessen ziemlich zu wünschen übrig. Auch in der Geometrie zeigte sich dieser Adelstand. Lag das zunächst an dem sum­ marischen Betrieb und dem Lehrbuch, so hatten wir doch auch nicht selten die Empfindung, daß sich der Herr Direktor hätte besser vorbereiten sollen; ost war ihm das im Drange der Verwaltungsgeschäfte, durch Inanspruchnahme vom Hausarzt, Geschäftsleuten und Kollegen im letzten Augenblicke gar nicht möglich. So kam es dann, daß bei Behandlung neuen Stoffes manches nicht klappte oder der Vortragende vollständig auf55

saß, was ja bei berühmten Dozenten dieses Faches auch vor­ kommen soll, aber bei uns Schülern einen peinlichen Eindruck hinterließ. Nicht selten meldete sich dann ein Pythagoras oder Archimedes zum Wort und ließ sein Licht als tüchtiger Mathematikus in den Augen der Klasse recht hell leuchten. Zn der Folge taten wir uns nicht wenig auf unsere algebraischen und geometrischen Kenntnisse zugute und haben im Wett­ bewerb mit Gymnasiasten dies mehr, als recht war, zur Schau getragen. Die Pädagogik sprach uns hauptsächlich in ihrem geschicht­ lichen Teile an, wofür sich unser Lehrer ein eigenes Manuskript ausgearbeitet hatte, dem aber auch eine Reihe vorzüglicher Handbücher der Schülerbibliothek ergänzend zur Seite standen. Die pädagogischen Klassiker Comenius, Pestalozzi zogen uns weniger an. Ihre Gedanken waren bei aller Größe doch zu einfach und zu schlicht ausgedrückt. Mehr interessierten Des­ cartes und John Locke; vor allen liebten wir Z. I. Rousseau mit seinen glänzenden Antithesen und seinen so ganz abseits liegenden Gedankengängen. Die Lebensbeschreibung des großen Genfers und seinen Emil ganz ausführlich zu lesen, ließ sich wohl keiner entgehen, wie sehr wir auch vor dem Gift seiner Lehren und den Widersprüchen in seiner Logik, vom positiven Standpunkt aus beurteilt, gewarnt worden waren. Nicht minder sprach uns Basedow an, ein Beweis, wie das Op­ positionelle, das Polemische bei der Jugend noch immer den stärksten Widerhall gefunden hat. 56

Von der Psychologie fühlten wir uns im allgemeinen abgestoßen. Sie wurde ganz nach dem alten Schema der Grundkräste der menschlichen Seele ohne experimentelle Grund­ lagen aus dem Lehrbuch von Safsenreuter gelernt und wim­ melte von Gemeinplätzen, unverstandenen Abstraktionen und bis zum Überdruß wiederholten Krimskrams. Vor allem fehlte

es da an der anschaulichen Induktion, weshalb das, was uns da geboten wurde, weniger eine Physik der Seelenvorgänge als eine dürre Dogmatik der psychischen Erscheinungen in scholastischer Zurüstung genannt werden konnte. Noch langweiliger erschien die Methodik in dec Auf­ zählung und Charakteristik der einzelnen Lehrverfahren ohne die lebensvolle Praxis. Das Hospitieren in der Seminarübungsschule wurde von vielen vom Standpunkt eines unterrichtsfreien Tages bewertet. In der Regel hörten wir auch nicht gar zu viel Neues und Schönes, sondern mußten Gehilfendienste leisten, um einer Klasse das Durchgenommene einzupauken oder die Lücken auszubessern, die durch ihre oftmalige Verwendung zu Musterlektionen ent­ standen waren. Von Schulordnung, Stoffverteilung, Lektions­ manual, Absentenwesen, kurz von den hundert kleinen Dingen, die man im Schulbetrieb genauestens kennen muß, hörten wir nur wenig und ganz nebenbei, was freilich auch damit zusammenhing, daß die Zeit viel zu knapp bemessen war. Die tägliche Arbeit im Seminar vollzog sich im Rahmen einer Hausordnung, die den Schüler von morgens 5, bzw.

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y26 Uhr bis abends 9 Uhr in Pflicht nahm, am ausgiebigsten von morgens y26 bis 7 Uhr, obwohl das Aufstehen im Winter zu den schwierigsten Willensakten gehörte. Recht wenig zweck­ mäßig erwies sich dagegen das frühzeitige Schlafengehen im Sommer, wo unter dem heißen Dach, in den sonnendurch­ glühten Schlafsälen, an ein Ausruhen nicht zu denken war und in der Regel noch lange allerlei Unfug und Schabernack getrieben wurde, besonders wenn die aufsichtführenden Semi­ narhilfslehrer sich einmal einen Ausgang genehmigt hatten. Am wenigsten bedeutete die Studierstunde von 8 bis 9 Uhr wegen der vorausgegangenen Bierzeit; sie sollte auch mehr leichter Lektüre und mechanischer Schreibarbeit dienen. Doch auch die Stunden von 5 bis 7 Uhr abends konnten wegen der darauf treffenden Orgel- und Klavierübungen oftmals nur halb ausgenutzt werden und forderten zudem noch einen festen Willen, wenn sie in den Abschnitten, während welcher man als Kalkant die Orgel bedienen mußte, noch ein winziges Ergebnis haben sollten. Die Wichtigkeit des Seminarortes für die Vor- und Aus­ bildung der angehenden Lehrer erkennt man schon als Schüler. Eine große Stadt mit ihren Bildungsgelegenheiten hat un­ vergleichliche Vorzüge vor Kleinstädten oder entlegenen Orten. Ein gutes Stadttheater hat uns unvergeßliche künstlerische Eindrücke in dieser Zeit vermittelt. Daß das Seminar eng mit der K. Musikschule zusammenhing und, von Orgel und Harmonielehre abgesehen, den ganzen Musikunterricht dort 58

empfing, war ein weiterer einzig dastehender Vorteil, dessen sich keine andere bayerische Anstalt rühmen konnte. Trotzdem die Musikschule unter dem genialen Schumannianer Theodor Kirchner, der ein wenig praktischer Leiter und ein noch weniger geeigneter Organisator war, nicht auf der Höhe ihrer späteren Leistungen unter dem trefflichen Dr. Kliebert stand, bot sie doch interessante Konzerte und kleinere Ausführungen, die in die Musikliteratur und die hohe Kunst wie sonst nir­ gends einsührten. Auch an gesellschaftlichen Freuden war unsere Seminar­ zeit reich. Ich möchte das der viel verbreiteten Anschauung gegenüberstellen, als wären diese Jahre recht eintönig, gemütearm und freudlos gewesen. Die Seminarkirchweih, Direktors Namenstag, die Namensfeste des Inspektors Blank und des Seminarlehrers Schmidt, auch Weihnachten, das wir damals noch im Internat verleben mutzten, boten neben Fastnacht und anderen offiziellen Gelegenheiten Veranlassung genug, unter Quartettgesang, Gläserklang, Scherz- und Witz­ reden einige Stunden zusammenzusitzen. Im Sommer zogen wir an Sonn- und Festtagen unter Vorantritt unserer Musik­ kapelle, geführt von ihrem trefflichen Stabstrompeter, in den schönen Seminargarten, wo das Faktotum des Hauses, der gewandte Valentin, bei einem stattlichen Pansen den schäu­ menden Gerstensaft kredenzte. Um die Gartentische gruppiert, lauschte die Schülerschaft manch gelungenem Militärmarsch, manch wohlgesehtem Potpourri und manch beliebtem, von 59

früheren Schülern komponierten Tonstück, wobei die typischen Eigentümlichkeiten der Bläser, des stattlichen Bombardonisten, des eleganten Pistonisten oder eine verunglückte Stelle der Partitur viel Stoff zur Heiterkeit boten. Der Herr Direktor war bei seiner Virginia kreuzvergnügt, unser Freund „Iambus" mußte regelmäßig vor Aufbruch schnell noch eine Halbe nach­ holen; denn als episch breiter Herr hatte er beim Plaudern vergessen sein Deputat zu trinken. Die Herren Präzeptoren aber, die uns pflichtschuldigst auf dem Nacken zu sitzen hatten, zeigten ihre besten Feiermienen und kamen uns nie so mensch­ lich vor wie an diesen Abenden. Mit Spannung sahen wir den großen Maiausflügen entgegen. Es lag in der Naturfreude unseres Schulvorstandes überhaupt wie in seiner Lust und Liebe fürs Reisen insbeson­ dere begründet, daß er zu einer Zeit, wo man Wanderungen noch nicht unter die Zahl der Bildungsmittel an Schulen ausgenommen hatte, uns schon recht weit in die Welt führte und so manche köstliche Erinnerung dauernd unseren Seelen vermittelte. Kamen wir damals auch noch nicht nach Thü­ ringen oder mainabwärts bis nach Wertheim und Mergent­ heim, so trafen wir doch einmal mit dem Nachbarseminar Bamberg in unserer alma mater Haßfurt zusammen, wo im Wildbad große Reunion und Seminaristenverbrüderung ge­ feiert wurde. Wie der Stolz damals uns Haßfurtern das Herz schwellte, als wir unter Vorantritt unserer Blechmusik die altvertrauten Straßen der Stadt durchzogen, von manchem

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schönen Gesichte begrüßt, bei den bekannten Präparanden­ herbergen angestaunt, mit unseren ehemaligen Lehrern Gruß und Handschlag tauschend und liebe jüngere Kameraden zum Stelldichein einladend, das kann nicht sowohl beschrieben als nur gefühlt werden. Als Überrest vergangener Zeiten bestand am Seminar noch das Institut der Monitoren. Es war nämlich Brauch, die beiden besten Schüler des Oberkurses, den Primus und Sekundus, zur Aufsicht und Verwaltung der Klassen mit heranzuziehen. In allen Studierstunden thronte der Sekundus auf dem Katheder der 1. Klasse. Da ec Fleiß und Betragen mit beurteilte, war seine Stellung sehr autoritativ, aber auch schwierig. Waltete er pflichtgemäß seines Amtes, so konnte er selbst nur wenig arbeiten; er muhte auch großen Takt und schon einen ziemlich gefestigten Charakter besitzen, wollte er zwischen Szylla und Charybdis von Pflicht und Neigung, Sympathie und Antipathie hindurchsteuern, Angeberei und Protektionswirtschaft weit von sich weisen und doch für Ruhe und Ordnung in ausreichendem Maße sorgen. Der Primus hatte an und für sich eine Stellung ganz über dem Gesetz. Er war überlieferungsgemäß der Musikwart, leitete die Morgen- und Abendgesänge, brachte als Sprecher die Wünsche und Angelegenheiten der Gesamtheit an die vor­ gesetzte Stelle, besorgte den Verkehr mit der Musikschule, indem er Stundenverlegungen, Konzertproben u. dgl. ver­ einbarte, und leitete viele Wochen vor Fastnacht alle die zahl­

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reichen Vorbereitungsarbeiten in und außer dem Hause, die notwendig waren, um den verwickelten Mechanismus einer zweitägigen theatralischen Veranstaltung in den richtigen Gang zu sehen. Er gab sich selbst Stadtgang, blieb von den allge­ meinen täglichen Spaziergängen weg, abonnierte die Musikalien in der Leihanstalt, sorgte für Verteilung und Ausschreibung der Rollen — kurz er war so eine Art König im kleinen. Wenn sich bei ihm im Hochgefühl seiner ausgedehnten Befugnisse nicht absolutistische Neigungen herausbildeten, wenn er sich im Trubel der Tagesgeschäfte nicht völlig bei seiner wissen­ schaftlichen Weiterbildung vertag und schlecht bei Schulauf­ gaben und Prüfungen abschnitt, so durfte er von Glück sagen. Die Fama wußte Fälle, daß der Primus auch von einem zielbewußt arbeitenden und auf die Geschäftsüberhäufung spekulierenden Hintermann bei der Schlußprüsung regelrecht „heruntergetan" und von seinem Ehrenplatz gestürzt wurde. So löblich die Erziehung zur Selbständigkeit in jugendlichem Alter ist, in der angedeuteten Ausdehnung wird man kaum dem Institut der Monitoren das Wort reden können, schon um deswillen nicht, weil man keinen Schüler in die Gefahr bringen soll, sich den guten Ruf bei seinen Kameraden viel­ leicht auf Lebenszeit zu verwirken. Schneller, als wir es gedacht, stand das Abgangsexamen vor der Türe. Diesmal galt es einer Entscheidung fürs Leben, wenigstens für die nächsten Jahre. Es war keine gewöhnliche Prüfung. Ein Regierungskommissär und als 62

-essen Beirat der gefürchtete Kreisschulinspektor Fischer sollten zugegen sein. Die Erinnerung an das Schriftliche ist bei mir vollständig verblaßt. Es scheint sich also nicht sonderlich über das Niveau einer Schulausgabe erhoben zu haben. Dagegen sehe ich mich noch heute an einer geometrischen Ausgabe aus der großen Schultasel herumhantieren und von kniffigen Fragen des Examinators bedrängt. Beim Religionsexamen standen wir mit dem Katechismus und den Skripten vor der Türe des Prüfungssaals, erwägend und abschätzend, welcher Glaubens­ artikel oder welches Gebot den oder jenen treffen konnte; in Physik konnte man fast darauf schwören, daß es der Reihen­ folge nach ging, nur mußte genau beachtet werden, ob mit -em Buchstaben A oder Z begonnen wurde. Der alte „Andres", wie der Inspektor Blank im Schülermund genannt wurde, wich um keines Haares Breite von der traditionellen Ordnung ab. In manchen Fächern konnte man von seinem in einjähriger Arbeit erlangten guten Rus zehren und bei nicht allzu großem Pech diesen in die Wagschale werfen; andere Gegenstände waren von entschiedenem Glück begünstigt und erzielten bessere Resultate, als kleinmütige Seelen erhofft. Kurz, die Prüfung ging ohne besondere Katastrophen vorüber und die Entlassung wurde anberaumt. Ich sollte die Abschiedsrede halten. Jubel und Selbstgefühl erschütterten das Gleichgewicht meiner Seele, so daß ich unfähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. Mitten im Disponieren und Konzipieren, beim besten Fluß 63

der Ideen, sprang der Geist aus ein ganz anderes Gebiet. Wo sollte auch angesichts so wichtiger Dinge, wie Abschieds­ festlichkeiten, Ball, Chaisenfahrt, Empfang in der Familie, Ausblick in die Zukunft, wobei die Gedanken aufeinandertrafen, sich kreuzten und durcheinander wogten, die Ruhe und Samm­ lung zur schriftlichen Fixierung Herkommen? Nun hatte sich, ich weiß nicht aus welcher Zeit, so ein altes Schema einer Abschiedsrede im Seminar fvrtgeerbt. Darin fand ich einen Stützpunkt und feste Richtlinien, auch manche wohl brauch­ bare dröhnende Phrase. Indem ich in den alten Schlauch etwas jungen Most füllte, bekam das Ganze allmählich sein Gesicht und ich konnte eine Rede vom Stapel lassen, die, wörtlich auswendig gelernt und wirkungsvoll vorgetragen, zur allgemeinen Zufriedenheit ausfiel oder wenigstens die Aufmerksamkeit des Regierungskommissäre in dem Maße er­ regte, daß er mich von da an unter seinen besonderen Schutz nahm und mich später auch zur Fortsetzung meiner Studien aufmunterte, wobei es von Wichtigkeit war zu erfahren, daß ich auf Förderung der Kgl. Regierung rechnen durste. Bevor ich mich aber in dem wogenden Meer der Hoffnungen und Entwürfe weiter tragen ließ, suchte ich den sichern Port einer wohlbegründeten Lehrerexistenz zu gewinnen.

IV. Am goldenen Baum des Lebens in der Praxis eines Schulverwesers. tationen der Lebenspilgerschaft erreicht der Mensch gar viele. Jede hat ihre eigenartigen Freuden; aber gegen das Glücksgefühl, welches das erste gewonnene Lebensziel auslöst, sind alle späteren Freuden klein und unscheinbar. Es ist eine Art Trunkenheit, ein Wonnetaumel, der das Herz er­ faßt. Schlimm stände es, wenn es anders wäre. Zu keiner Zeit ist ja die Menschenbrust mit größeren Hoffnungen er­ füllt. Das Lebensgefühl, der Drang optimistischer Welt­ betrachtung — wann sollten sie stärker sein als zu Beginn der Zwanziger, im Frührotschein des Iugendmaientages? Was ist man schon, was kann man alles werden? Bis -u welcher Höhe können die Glücksumstünde uns empor­ tragen? Noch tanzt vor des Lebens Wagen die lustige Be­ gleitung her: „Die Liebe mit dem süßen Lohne, das Glück mit seinem goldnen Kranz, der Ruhm mit seiner Sternen­ krone, die Wahrheit in der Sonne Glanz!" Noch liegt das Dasein im geheimnisvollen Zauber vor dem durstigen Blick ausgebreitet und dem Mutigen gehört die Welt. Die Sprache versagte den Dienst, wollte ich in sarbensatten Strichen dar­ legen, wie sich das unbeschreibliche Gefühl des Fertigseins beim Übertritte aus der Schule ins Leben in den rein äußer­ lichen Freuden beim Tanz, auf Kirchweihen, Gastereien, ge65 Küffner. 5

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sellschaftlichen Zusammenkünften aller Art entlud und sich ge­ wissermaßen erst dann beruhigte, als körperliche Abspannung den Überschwang der Seele lähmte. Übrigens gewannen infolge eines schweren Familien­ schicksals sehr bald ernste Erwägungen bei mir die Oberhand. Mein Vater war im besten Mannesalter von ungefähr 46 Jahren gestorben und mir als dem Ältesten oblag ee nun, das leck gewordene Haushaltungsschisflein, das einstweilen bei Verwandten gelandet hatte, weiter durch die Fährlichkeiten des Lebens zu steuern, insbesondere für Erziehung und Unter­ richt der beiden jüngsten Geschwister so lange zu sorgen, bis der Bruder, der seine Aufnahme ins Seminar bestanden hatte, auf eigenen Füßen stehen konnte. Von diesen Gesichtspunkten aus erfolgte auch die Wahl meiner ersten Stelle als Schul­ verweser in dem Marktflecken Thüngen, welche mir die Kgl. Regierung neben drei anderen angeboten hatte. In der Theorie sah sich die Domizilsveränderung leichter an als in der Praxis, und als ich eines Tages — es war Mitte Oktober — den Rehbacher Berg Hinaufstieg und die Hoch­ ebene zwischen dem Main- und Werntal überquerte, wurde es mir bei allem mutigen Vertrauen doch recht weh ums Herz. Ich suchte die freundlichen Weinberge, den reizenden Aussichtsberg, die weite Ebene meiner trauten Heimat am Fuße des Schwanberges und wurde ganz niedergedrückt, als ich Thüngen in einem engen Tale vor mir liegen sah. Und doch war dieser Ort die beste Wahl, die ich hatte treffen können:

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ein bequemes, neu gebautes Schulhaus, ein verhältnismäßig gutes Einkommen, eine nach Lage der Dinge erlesene Ge­ sellschaft von herrschaftlichen Beamten, Lehrern, gebildeten Bürgern, in der sich oft und gerne die Barone von Thüngen zeigten, die zentrale Lage des Ortes als Sammelpunkt des Verkehrs im unteren Werntal, die Möglichkeit Würzburg, unsere Kreishauptstadt, in wenigen Stunden zu erreichen und die Aussicht durch die Bahn Weigolshausen—Gemünden noch enger mit der Welt verbunden zu werden; all diese Dinge zeigten vollständig deutlich erst in der Folge, wie glücklich ich, mehr instinktiv als denkend und überlegend, gewählt hatte. Schwere Stunden für meinen jugendlichen Sinn brachten die Tage des Umzugs selbst, wo, aus Leiterwagen verstaut, unsere Habseligkeiten überführt wurden. Verabredetermaßen sollten die Möbel bei unserer Ankunft bereits an Ort und Stelle gebracht sein. Aber die Fuhrleute hatten sich zu lange in den Gasthäusern aufgehalten und auch einige Glas über Durst hinter die Binde gegossen, so daß sie manches gar nicht mehr abluden, anderes wähl- und ziellos in Gängen und Zimmern niedersetzten. Die sorgende Mutter hatte in ihrem Tragkorb für alle Fälle Zucker und Kaffee, Brot und Butter mitgenommen, und als wir uns ftüh von provisorischen Lagerstätten erhoben, setzten wir uns in echt türkischer Weise mit unterschlagenen Beinen aus dem Boden zusammen und die Mutter, die Kaffeemühle zwischen den Knien, bereitete den Mokka, den wir in großer Gemütsbewegung tranken. Indessen aus dem herzbeklemmenden Chaos schuf die 67

yimmelsrocyrer Ordnung in dem freundlichen Schulhause an der kath. Kirche, gegenüber dem herrschaftlichen Schloß, rasch ein recht wohnliches Nest, in dem unsere neubegründete Familie vergnügte Stunden in guter Gesundheit erlebte. In erster Linie mußte ich mich natürlich dem Dienste widmen, der für einen Anfänger immerhin manch aufregende Stunde brachte. Die ungeteilte kath. Schule in Thüngen umfaßte in 7 Jahrgängen etwa 24 Schüler, meistens Kinder herrschaftlicher Arbeiter, kleiner zugezogener Geschäftsleute, im Gegensatz zur Protest. Schule, welche von der boden­ ständigen Bevölkerung besucht wurde. Die durchschnittliche Lebenshaltung der eingeschulten Familien war sehr knapp und stand unter normal. Geistige Gaben und Anlagen waren sehr verschieden aus die einzelnen Jahrgänge verteilt. So erinnere ich mich, daß von den 24 Schülern nicht weniger als 7 einer einzigen, recht schlecht talentierten Familie ent­ stammten, 3 einer zweiten nicht viel mehr gesegneten. Es konnte also vorkommen, daß eine ganze Klasse nur aus geistig Schwachen bestand. Mitwirkung von feiten des Hauses war in den seltensten Fällen zu erwarten; manche Väter, welche ihre Kinder gerne-zur Arbeit gebraucht hätten, nahmen sogar eine feindselige Haltung gegen den Lehrer ein, wenn er über den Unfleißigen Arrest verhängte. Aus diesen ungünstigen Verhältnissen ließ sich auch der häufige Lehrerwechsel auf der kath. Schulstelle erklären, in dessen Folge ich im Jahre meines Amtsantrittes der 4. Schulverweser war, während meine

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aus seine chronometrische Rarität wirkten wie eine captatio benevolentiae und versetzten ihn in eine heitere, mitteilsame Stimmung. Übrigens war er ein wohlwollender und ge­ rechter Mann, dem man trotz mancher Sonderlichkeiten in Kleidung und Manieren nicht gram sein konnte. Abgesehen von der Schule wurde der Aufenthalt in Thüngen für mich in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll. Der Marktflecken Thüngen hatte immerhin eine anregende gehobene Geselligkeit. Die freiherrliche Familie unterhielt mancherlei Beziehungen zu der Bürgerschaft des Ortes. Die Herren des Hauses gingen fast täglich aus, der Senior der Familie, der alte Oberstleutnant, ein Junggeselle, erschien mit dem Glockenschlag an seinem Stammtisch und wußte manches aus seiner Osfizierslaufbahn in österreichischen Diensten zu erzählen. Sein Bruder, als bayerischer Ministerresident an einem kleinen deutschen Fürstenhose mit dem Exzellenztitel ausgezeichnet, war in Haltung und ümgangssormen ein wirklicher Grand­ seigneur. Die jüngeren Herren, die in Bonn und Heidelberg studierten, hatten wenigstens ein gut Stück Welt gesehen, von dem sie recht unterhaltlich zu plaudern verstanden. Bei den weitverzweigten verwandtschaftlichen Beziehungen des Hauses Thüngen fehlte es zu keiner Zeit an Besuchen, die natürlich ebenfalls in das herrschaftliche Gasthaus geschleppt wurden. Wie im täglichen Verkehr, so kamen Beamte und Lehrer auch bei den mancherlei Familienfestlichkeiten mit der freiherrlichen Familie in Berührung, wobei mir meine Ver73

wendbarkeit in musikalischen Dingen sehr zustatten kam. Ich durste als Pianist und Cellist mit Damen der höchsten Gesell­ schaft musizieren und hätte Beziehungen für das Leben an­ knüpfen können, die mir von großem Vorteil für mein späteres Weiterkommen hätten werden können. Vorläufig hatte der Verkehr mit feingebildeten Menschen nur die Wirkung besserer Kultivierung meines äußeren Menschen, die bei dem Mangel jeglicher Beeinflussung in dieser Richtung auf Präparanden­ schule und Seminar dringend not tat. Ich wünschte nur, daß durch den Umgang auch jene radikale Weltanschauung mit Stumps und Stiel ausgerottet worden wäre, die einen Baron, wie man zu sagen pflegt, auf dem Kraute verspeist, eine Ex­ zellenz für einen titulierten Popanz und möglichst hanebüchenes Verhalten dem gesellschaftlich Höherstehenden gegenüber für ein Zeichen genialer Urwüchsigkeit und demokratischer Charakter­ stärke hält. Im späteren Leben hätte ich sehr ost die zu Stel­ lung und hohem Einfluß gelangten Mitglieder der Familie als Fürsprecher, zum mindesten als Schrittmacher anrufen mögen, die natürliche Scham über mein jugendliches Kraftmeiertum hielt mich ab, eine Hilfe anzurufen, die ich durch mich selbst als verwirkt erachtete. Für meine intellektuelle Entwicklung wurde der tägliche gesellschaftliche Verkehr ungemein fruchtbar. Die Freiherren v. Thüngen hatten eine glänzende Bibliothek, auf deren wert­ vollste Werke sie meine Aufmerksamkeit lenkten. So bekam ich von ihnen, nicht lange nach dem Erscheinen, Gregorovius'

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herrliche „Geschichte der Stadt Rom" zu lesen, ein Standard­ werk in Forschung und Stil, das mir eine ganz neue Welt erschloß; ich studierte Jak. Burckhardts „Kultur der Renaissance", Viktor Hehn, „Italien" und „Kulturpflanzen und Haustiere", um nur einige Werke von nachhaltiger Wirkung zu nennen. Die praktischen Ärzte des Ortes, die einander ablösten, waren geistig angeregte Männer, die mich in den Anfangsgründen des Lateinischen und Französischen unterstützten, deren Not­ wendigkeit ich schon damals empfand. Alle diese Bestrebungen und Strömungen übertraf jedoch, an System wie an Nachhaltigkeit, das amtliche Fortbildungs­ programm, das erste größeren Stils, das damals erschien und die Fortsetzung und Vertiefung des Seminarunterrichts in vorbildlicher Weise zu lösen versuchte. Die Kreisregierung hatte das Epos „Hermann und Dorothea" den jungen Lehrern zum Studium ausgegeben. An dieser Aufgabe war weder etwas Auffälliges noch Sensationelles, wenigstens vom heutigen Standpunkte aus. Die Fortbildungspflichtigen sollten eben zu einer literarischen Studie angehalten werden. Aber die Art und Weise, wie das geschah, erregte Aussehen weit über die Lehrerkreise hinaus und Kreisschulinspektor Gregor Fischer hätte nichts weiter als die Zurichtung dieses epischen Kleinods von Goethe für das Studium gebraucht, um den Befähigungsnachweis ausgedehnter Bildung, erlesenen Ge­ schmackes und tief eindringenden Kunstverstandes zu liefern. Zu diesem reizenden Poem mit etwas über 2500 Versen hatte 75

nämlich Fischer etliche hundert Fragen entworfen, welche zu dem Verständnis des Werkes in stofflicher, technisch-ästhetischer, literarischer und historischer Hinsicht führten, seinen rein menschlichen und künstlerischen Gehalt ausdeckten und seine Wertschätzung im Urteil der Zeitgenossen und späteren Ge­ schlechter eingehend begründeten. Es war jedenfalls eine Meisterleistung literarischer Analyse und Exegese, die man wohl von einem geschulten Fachmann, nicht aber von einem Inspektor des Volksschulwesens erwartet hätte. In Lehrer­ kreisen wie in der Gesellschaft war nun von nichts anderem mehr die Rede als von Hermann und Dorothea. An Ein­ wendungen, zum Teil berechtigten, fehlte es nicht. Die kon­ servative Presse spöttelte über die neumodische Gelehrsamkeit, womit man jetzt den Schulmeister beglücke. Auch Wohl­ meinende stellten fest, daß eine Reihe von Fragen sich allzu hoch verstiegen, andere in ihrer erdrückenden Fülle den schönen Leib der Dichtung förmlich anatomisierten, so daß man vor lauter Einzelheiten den Zusammenhang verliere. Weiterhin konnte hervorgehoben werden, daß viel zu wenig literarische Hilfsmittel zum Studium angegeben waren oder bereitstanden, um die großen Richtlinien beim Eindringen in das Ganze nicht zu verlieren, wie anderseits Lösungen zugemutet wurden, die man mit den im Seminar erworbenen Kenntnissen un­ möglich zuwege bringen konnte. Auch die in den Bezirks­ hauptlehrern bestellten Konserenzvorstände, Herren aus der alten Schule, waren kaum alle imstande, sowohl die Be76

Vorgänger, meist ältere Herren, schleunigst wieder das Weite gesucht hatten, sobald sie die Sachlage erkannten. Aus diesem Grunde stand die Schule auch auf einer sehr tiefen Stufe, für einen tatendurstigen Jüngling, der sich seine Sporen verdienen will, freilich ein weites, wenn auch schwieriges Feld, seine Ge­ duld zu üben, Fleiß und pädagogisches Geschick zu zeigen. Die gekennzeichneten Mängel der praktischen Ausbildung erschwerten die Anfänge nach jeder Richtung. Wohl wußte ich einigermaßen Bescheid mit Lehrplan, Lektionsmanual, Absentenliste,' was aber eine Lokalschulbehörde sei, wer in den Schulsitzungen Sih und Stimme und welche Stellung darin der Lehrer zu beanspruchen habe, wie ein Protokoll zu verabfassen sei, war mir ziemlich schleierhaft. Leider benutzte der unfreundliche Lokalschulinspektor meine Unerfahrenheit, um mir recht peinliche Bloßstellungen zu bereiten. Ebenso unsicher fühlte ich mich im Kirchendienst, der mich in der Filialgemeinde Thüngen alle Monate einige Male in Pflicht nahm; denn in die Geheimnisse der Mesnerei waren in des seligen „Andres" Kirchendienststunden nur ganz wenige eingedrungen, die näm­ lich, welche täglich in der Sakristei beschäftigt waren. Besser stand es mit den Organistenfunktionen, obwohl mir natür­ lich mangels täglicher Übung Responsorien, Präfation und Paternoster, Kirchentöne bei der Vesper auch viele Aufregung bereiteten. Niemals habe ich mich ohne die peinlichen Ge­ fühle der Furcht, es könnte ein Mißgeschick passieren, in die Sakristei und auf den Orgelstuhl begeben.

Bereitwillige und herzliche Unterstützung fand ich in all diesen Fragen bei älteren Kollegen, besonders bei dem Pfarr­ lehrer. Dagegen entwickelte sich das Verhältnis zu dem Pfarrer und Lokalschulinspektor zu einem ganz unerträglichen. Nicht daß es an Uberhebung, leidenschaftlichem Iugendmute oder gar an Unehrerbietung meinerseits gelegen wäre; auch der würdige Kollege am Sitz der Pfarrei, ein charaktervoller alter Herr von korrekten Formen, stand mit dem Parochus aus dem Kriegsfuß und hatte Woche für Woche von peinlichen Zusammenstößen in Kirche und Schule zu berichten, die schließ­ lich zum disziplinären Austrag führen mußten. Ich habe amtlich und gesellschaftlich viel mit kath. Geistlichen verkehrt und viele liebenswürdige freundliche Herren und wohlwollende Vorgesetzte unter ihnen getroffen, aber der Lokalschulinspektor, den mir das Schicksal aus der ersten Stelle beschieden hatte, war ein ruppiger Geselle, dem weder in Predigt noch in Gesellschaft und geschäftlichem Umgang eine höhere und noch dazu humanistische Bildung anzumerken war. Schon seine mißtönige, kratzige Stimme machte einen ungünstigen Eindruck, gänzliche Unmusikalität verstärkte diesen. Heftiges Poltern und Schreien bei jeder sachlichen Auseinandersetzung, Ironie und Spott erregten auch in dem frömmsten Gemüt den Widerspruch und den energischen Vorsatz der Selbst­ behauptung. Die tieferen Ursachen dieser durch nichts gerecht­ fertigten barsch abweisenden Haltung uns Lehrern gegenüber lagen in der Verbitterung und Feindseligkeit gegen den ganzen

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Stand, Gefühle, die in den Zeiten des Kulturkampfes durch die unerquicklichen politischen Verhältnisse noch genährt wur­ den. Der liberale Lehrer war dem geistlichen Inspektor gleich­ bedeutend mit dem freimaurerischen, halbgebildeten, alles besser wissen wollenden und deshalb in seines Nichts durchbohrendes Gefühl zurückzuweisenden Nörgler, dem geborenen Gegner von Kirche und Geistlichkeit. Bei öffentlichem Gottesdienste warf er vom Altare aus meinem ergrauten Kollegen auf der Orgel vor, daß er den liturgischen Gesang des Priesters nicht richtig begleiten könne, und mir machte er einmal unter vier Augen das Ver­ gnügen, meine beiden Vorgänger als höchst windige Gesellen -zu bezeichnen, worauf ich unwillkürlich mit dem rechten Arm ausholte und ihm in drohender Haltung gegenübertrat. Daß es nicht zu Tätlichkeiten kam, war nur dem Erscheinen dec rasch eintretenden Köchin zu verdanken. Eines Tages wurde ich selbdritt aus die Distriktsschulinspektion zitiert und uns Lehrern der Pfarrei ein Regierungsbescheid bekanntgegeben, worin die von der Lokalschulinspektion, also unserem Pfarrer, beantragte Betragensnote IV aus III heruntergesetzt, aber die sichere Erwartung ausgesprochen wurde, daß meinerseits bei zunehmendem Alter die Unbescheidenheit gegen den Kgl. Lokal­ schulinspektor schwinden werde. Nur die begütigenden Worte des Distriktsschulinspektors sowie der bereits feststehende Plan, mit nächstem der Verweserei in Thüngen den Rücken zu kehren, brachten mich dieser niedrigen, gehässigen Handlungs71

weise gegenüber einigermaßen zur Vernunft, so daß ich das Regierungsreskript durch Unterschrift zur Kenntnis nahm. Mit meiner pädagogischen Tätigkeit war man zufrieden. Auch ich konnte mir das Zeugnis rastloser, wenn auch nicht immer zweckmäßiger, ruhiger und leidenschaftsloser Arbeit ausstellen, und die Eltern, welche erst der angeschlagenen strammen Tonart gegenüber Schwierigkeiten gemacht hatten, waren allmählich Freunde des Lehrers und seines Betriebes geworden. Die Prüfungen freilich, die der alte Barthelmes von Laudenbach abhielt, stellten keine hohen Anforderungen und waren schablonenhaft. Der Herr Inspektor hatte seine Steckenpferde im Aufsatz, im Rechnen, in den Realien. Wenn man diese kannte, konnte es schwerlich schief gehen. Als ich ihm einmal bei einer Zeitrechnung einwars, der gewünschte Ansatz sei doch kaum logisch zu nennen, machte er große Augen und fragte mich verdutzt, ob ich denn in der Volksschule Logik lehren wolle. Eine wichtige Rolle bei dem ganzen Prüfungs­ geschäft spielte seine Repetier- und Spieluhr, die wirklich für die damalige Zeit ein höchst kunstvolles Werk bedeutete und von ihm nur bei ganz feierlichen Anlässen getragen wurde. Wer die Aufmerksamkeit des Inspizienten von den Antworten der Schüler ablenken wollte, durfte nur einen der anwesenden Herren Kollegen oder eines der Gemeindemitglieder veran­ lassen, ihn nach seiner merkwürdigen Uhr zu fragen, worauf er das Kunstwerk erklärte, die Geschichte ihres Erbgangs er­ zählte und ihre artigen Stücklein spielen lieh. Die Lobsprüche 72

sprechungen über das entzückende dichterische Kunstwerk wie die Korrektur der schriftlichen Arbeiten darüber mit genügender Autorität und dem erhofften Erfolg zu leiten. Aber was man auch immer dagegen einwenden mag, der ganze Arbeitsplan zu „Hermann und Dorothea" war eine Meisterleistung, wozu Fischer tief eindringende Studien machen und sich das ganze ästhetisch-literarhistorische Material des Tages verschafft haben mußte. Wie er vorbildlich für das Studium eines Kunstwerkes wirkte, so entzündete er auch bei uns einen ganz neuen Geist, das unermüdliche Streben, in Erfassung und Durchdringung des Epos hinter keinem Kollegen und besonders nicht hinter dem Hauptlehrer zurückzubleiben. Nicht alle Fragen waren zu bearbeiten, sondern nur die mit einem Sternchen versehenen. Aber wer etwas auf sich hielt, beant­ wortete alle, wenn auch nur, wie z. B. bei der bekannten Brunnenszene, mit einem einzigen Worte („nichts") oder bei der Frage nach der Größe der Liebenden mit den Versen über ihren Gang durch das wallende Korn oder über ihren Eintritt in das Wohnzimmer des Löwenwirtshauses. Multum, non multa war als Motto dieser Arbeit vorgesetzt, die recht wohl zu Gemüt führte, um wieviel besser und nützlicher es sei, eine Sache gründlich zu kennen als von vielen Dingen immer nur einiges wenige zu wissen. Daß wir alle von dem Thema ganz durchdrungen waren, bewies die Gewohnheit, im gesellschaftlichen Leben möglichst mit Sentenzen aus dem Epos zu antworten, flirten zu gehen mit seinen geflügelten 77

Worten und das schöne Geschlecht aus die trefflichen Geistes­ und Herzenseigenschaften zu prüfen, womit Goethe seine Dorothea geschmückt. Die älteren Kollegen schüttelten ihre Köpfe; solch wunder­ same Kost war ihnen in jungen Jahren nicht gereicht worden. Würdige Konserenzvorstände — ich verweise auf so treffliche Männer wie Münz-Gauaschach, und Wols-Bergrheinseld — wurden wieder jung, als sie mit den Jungen Hermann und Dorothea studierten. Es war eine schöne Zeit, deren Stunden zwischen be­ geisterter Arbeit und freudigem Genuß aus dem vollen Becher der Jugend, zwischen Hingabe an die fföhliche Wissenschaft und den goldenen Reigentanz des Lebens verrannen, geschmückt durch edle Geselligkeit, Freundschaft und Liebe, wolkenlos rein und ungetrübt infolge Gesundheit des Leibes und des Geistes, durch würdige Lebensziele aber, die Sorge für Mutter und Geschwister, doch wieder aus das Ernste gerichtet. Mittlerweile — es waren 2 Jahre verflossen — hatte mein jüngerer Bruder das Seminar durchlaufen und konnte in meine Stelle zu Thüngen einrücken. Der unerquicklichen Verhältnisse mit meinem Lokalschulinspektor überdrüssig und alte lieb gewordene Pläne wieder ausnehmend, trat ich eines Tages an meine Mutter mit der Absicht heran, mehrere Fahre Urlaub zu nehmen und auf der Technischen Hochschule München mich für das Mittelschulexamen in Realien vorzubereiten. Ein Dekret, das mich als Hilfslehrer an die Volksschule nach Würz78

bürg berief, hatte ich zurücklausen lassen; so waren meine Schisse hinter mir verbrannt; ich mußte vorwärts zu kommen suchen. Ich weiß heute noch nicht, wie ich den Mut zu einem solchen Entschluß gefunden habe. Hätte ich die Schwierig­ keiten alle übersehen und die finanziellen Voraussetzungen zuverlässig überschauen können, ich wäre nicht allzu leicht und blindlings meinem Dämonium gefolgt. Die Mutter ver­ schanzte sich sofort hinter den Geldbeutel, den für eine solch gewagte Sache zu öffnen immerhin ein Risiko gewesen wäre. Einzelne Freunde versprachen zwar gelegentlich einzuspringen, wollten aber später ihr Wort gar nicht oder nur unter Bedin­ gungen einlösen, die direkt beschämend waren. An die Mög­ lichkeit, durch eine Lebensversicherung Geld für Studien­ zwecke flüssig zu machen, haben damals, glaube ich, auch Ältere und Erfahrenere noch nicht gedacht. Dagegen rechnete ich damit, durch Privatstunden Nebenverdienste zu erlangen, was mir als einem geprüften und praktisch schon geschulten Lehrer nicht schwer fallen konnte. Dies war fast der einzige sichere Faktor, den ich in meine Wahrscheinlichkeitsrechnung einsetzen durste. Vielleicht, daß ich noch aus Stipendien hoffen konnte. Aber es trieb mich mit unwiderstehlicher Macht vor­ wärts; ein wahrer Bildungsheißhunger hatte mich erfaßt. Mochte kommen, was da immer wollte, meinen heißen Drang zu zügeln erschien für den Augenblick unmöglich. Weder im Seminar noch aus der Präparandenschule hatte ich jemals ähnliches Sehnen verspürt. Vielleicht erwuchs es gerade erst 79

im Leben aus dem Gefühle der Unzulänglichkeit meiner Kenntnisse. Vielleicht auch hatte die gründliche, aus einen Punkt gerichtete Arbeit an Hermann und Dorothea im Gegen­ satz zu der mehr enzyklopädischen Art des Seminars die Schön­ heit ernsten wissenschaftlichen Strebens mir erst wie in einem Zauberspiegel gezeigt. Kurz, ohne lange Erwägungen und Vorbereitungen, ohne Kenntnis des Orts und der Hochschul­ verhältnisse, nur oberflächlich von einem Freunde der Nach­ barschaft beraten, der bereits 2 Jahre Zeichnens halber auf der Hochschule weilte, machte ich mich eines Tages auf den Weg nach der Hauptstadt. 300 M., womit doch noch meine Mutter das Unternehmen zu unterstützen sich entschloß, nebst geringen Ersparnissen dünkten mir ausreichend, mich in der ersten Zeit über Wasser zu halten, die Verhältnisse an Ort und Stelle zu studieren und neue Erwerbsquellen ausfindig zu machen. Es war an einem Novemberabend, als mich mein Freund in München am Bahnhof in Empfang nahm und mich in ein Brauhaus geleitete, wo er mir einen gebackenen Kalbskopf als Nachtmahl zu bestellen riet. Vor den riesigen Dimensionen dieses Gerichts und der Wucht seiner fleischigen Materie schwanden auch die letzten Beklemmungen meines Herzens. Wo das Schicksal solche Portionen verabreiche, könne es auch mir nicht fehlen. Noch am selben Abend bezog ich mit meinem Freunde eine gemeinsame Wohnung im Dianabad des Englischen Gartens.

V. Vorwärts an der Hochschule.