Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie [1 ed.] 9783666402968, 9783525402962

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Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie [1 ed.]
 9783666402968, 9783525402962

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Eckhard Frick / Isgard Ohls /  Gabriele Stotz-Ingenlath / Michael Utsch (Hg.)

Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie

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Eckhard Frick/Isgard Ohls/ Gabriele Stotz-Ingenlath/Michael Utsch (Hg.)

Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40296-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Umschlagabbildung: Jaho92/photocase.com © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort von Iris Hauth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Spiritualität in der psychotherapeutischen Praxis – wozu ein Fallbuch gut ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Michael Utsch 1 »Der Herr Jesus spricht nicht mehr zu mir« . . . . . . . . . . . . . . 29 Stefan Roider Kommentar von Gabriele Stotz-Ingenlath 2  Out of Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Ulrike Anderssen-Reuster Kommentar von Norbert Mönter 3 Kann ich Gott verzeihen? Ein Gespräch mit dem Psychiater und Psychoanalytiker Harry A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Eckhard Frick Kommentar von Gabriele Stotz-Ingenlath 4  Weiße Königin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Michael Utsch 5 Ashramverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Norbert Mönter

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Inhalt

6  Nicht schuld, sondern krank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Samuel Pfeifer 7  Die Engeltapete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Peter Kaiser 8  Befreiung aus der Sekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Michael Utsch Kommentar von Henning Freund 9  Vom Sinn des Dschinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Ibrahim Rüschoff Kommentar von Peter Kaiser 10  Rituelle Reinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Peter Kaiser Kommentar von Isgard Ohls 11  Negative Gebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Peter Kaiser Kommentar von Hamid Peseschkian 12  Das Kind im Klinikmüll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Isgard Ohls Kommentar von Eckhard Frick 13  Berufen zu missionieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Isgard Ohls Kommentar von Eckhard Frick 14  Geheimdienstler entzündet Kerze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Eckhard Frick 15  Der schizophrene Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Eckhard Frick

Inhalt7

16 Herzensgebet als therapeutische Ressource . . . . . . . . . . . . 123 Esther Sühling Kommentar von Michael Utsch 17  Ätherische Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Eckhard Frick 18  Ein gläubiger Mensch hat keine Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Eckhard Frick 19  Japanische Bestattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Eckhard Frick 20  Krebs und Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Gabriele Stotz-Ingenlath Kommentar von Isgard Ohls Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Gabriele Stotz-Ingenlath, Michael Utsch, Isgard Ohls, Eckhard Frick Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Geleitwort

Psychische Erkrankungen werden zunehmend als Volkserkran­ kungen wahrgenommen, da jeder Dritte in unserem Land einmal pro Jahr zu den Betroffenen zählt. Ihre Erforschung, Diagnostik und neue Therapieansätze haben sich in den letzten zwanzig Jahren rasant entwickelt. Für alle wesentlichen Krankheitsbilder gibt es evidenzbasierte Leitlinien, die sich am sogenannten biopsychosozialen Konzept ausrichten, das sowohl die multifaktoriellen Ursachen einer psychischen Erkrankung benennt als auch die Grundlage der therapeutischen Ansätze bildet. In den letzten Jahren haben sich über die biologisch-naturwissenschaftlichen und psychologisch-sozialwissenschaftlichen Ausrichtungen hinaus, die im Sinne der Wissenschaft der Objektivität verpflichtet sind und in der Anschauung neutral sein müssen, neue, ergänzende Perspektiven und Ansätze entwickelt, die vielversprechend sind. Im Sinne des personalisierten, personenzentrierten Verständnisses erhält die subjektive Seite der Erkrankung, das Erleben der Erkrankten, der Menschen in Krisen eine immer größere Bedeutung. Die Betroffenen bemühen sich um das Verständnis des Befremdlichen in ihrer Erkrankung und um den tieferen Sinn der Krise. Die besondere, existenzielle Lebenserfahrung führt häufig zu der Frage nach dem Warum und nach dem Sinn des Lebens. Damit wird die spirituelle Dimension zu einem wichtigen Ansatzpunkt der Krankheitsbewältigung. So wurden achtsamkeitsbasierte Ansätze therapeutisch erfolgreich zur Stressreduktion bei Menschen mit Depressionen, Angst-

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Geleitwort

störungen, Borderline-Störungen eingesetzt. Der amerikanische Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn entwickelte eine Achtsamkeitsmeditation, die auf die Tradition der buddhistischen Mönche zurückgeht. Achtsamkeitsbasierte kognitive Psychotherapie hat in zahlreichen Studien in der Behandlung und als Rückfallprophylaxe bei depressiv erkrankten Menschen eine hohe W ­ irksamkeit belegt. Das bei psychischen Erkrankungen oft unrealistische und unklar definierte Behandlungsziel einer vollständigen Heilung wird in der Recovery-Bewegung im Sinne der Wiedergesundung modifiziert. Wege der Genesung entstehen, wenn es den Betroffenen gelingt, ihr Leben und ihre Erkrankung anzunehmen, Zuversicht und Hoffnung zu haben, und wenn sie davon ausgehend einen neuen Sinn für ihr Leben entwickeln können. In der Prävention psychischer Erkrankungen arbeiten die Neurowissenschaftler/-innen daran, dem Geheimnis der ­seelischen Widerstandskraft, der Resilienz, auf die Spur zu kommen, um daraus wirksame Präventionsstrategien zu entwickeln. Auch hier haben regelmäßige Meditation und Konzentrationsübungen aus dem Zen-Buddhismus eine positive Wirkung auf unsere innere Widerstandskraft bewiesen. Aber auch viele Menschen aus unserer Kultur erleben in ihrer psychischen Erkrankung tiefe spirituelle Erfahrungen, durch die sie sich einerseits aufgehoben fühlen in ihrem Glauben, in ihrem Bewusstsein erleuchtet oder mit einer transzendenten Macht verbunden wissen. Andererseits können im psychischen Erleben auch Bedrohung und Strafe erlebt werden. Deshalb ist zu unterscheiden, ob sich ein persönlicher Glaube hilfreich oder hinderlich auf die Genesung auswirkt. Auch die kulturelle Vielfalt, durch die wir zunehmend Menschen mit einem Migrationshintergrund behandeln, erfordert eine kultur-, aber auch eine religionssensible Sichtweise. Manchmal spielen religiöse oder spirituelle Faktoren bei einem psychisch erkrankten Menschen aus einer fremden Kultur eine wichtige Rolle, die zu berücksichtigen sind. Auch in der Krankheitsbewältigung kann der Glaube eine Halt gebende Kraft darstellen, die therapeutisch genutzt werden sollte. Eine ganzheitliche, individuelle, personenorientierte Diagnostik, Therapie und Beziehungsgestaltung bedarf daher neben den wissen-

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schaftlich fundierten Vorgehensweisen Einfühlen und Verstehen des subjektiven Erlebens psychischen Leidens, des Bemühens um den eigenen Seelenfrieden, der Suche nach dem tieferen Sinn. Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Leidens sind immer auch Fragen danach, was uns trägt, Halt und Hoffnung gibt. Im therapeutischen Kontext kann Spiritualität als befreiende Quelle der Kraft erlebt werden. Im vorliegenden Fallbuch haben die Mitglieder des ­Referats »Religiosität und Spiritualität« der DGPPN beeindruckende Erfah­ rungen aus dem Behandlungsalltag zusammengetragen. Wir erfah­ ren von Menschen mit unterschiedlichen psychischen Krisen und Erkrankungen, welche zentrale Bedeutung Spiritualität für sie hatte, sei es als bedrohliches Erleben oder als heilsame Kraft. Ich danke den Autorinnen und Autoren und vor allem den Menschen, die uns durch ihre Geschichten an ihrem Erleben teilhaben lassen, für ihre anregenden Impulse. Mögen sich die Leser und Leserinnen eingeladen fühlen, die spirituelle Dimension des Lebens einfühlsam wahrzunehmen und in den therapeutischen Kontext zu integrieren. Iris Hauth

Spiritualität in der psychotherapeutischen Praxis – wozu ein Fallbuch gut ist Michael Utsch

Wer eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung beginnt, möchte sich darauf verlassen können, dass die entsprechenden fachlichen Standards eingehalten werden. Aber wie sollen diese aussehen, wenn eine Störung mit Themen der Religion und Spiritualität zusammenhängt? Religiöse und spirituelle Phänomene, von denen Patienten und Patientinnen berichten, berühren das Geheimnisvolle und Schicksalhafte der menschlichen Existenz, bei der jede noch so differenzierte und verständnisvolle Psycho-­ Logik an ihre Grenzen stößt. Wie gehen Therapeutinnen und Therapeuten professionell mit religiösen oder spirituellen Deutungen ihrer Patienten um? Was ist behandlungstechnisch angezeigt, wenn sich eine Patientin von negativen Energien beeinflusst fühlt, die ihr alle Kräfte rauben; wenn ein autoritäres, streng kontrollierendes Gottesbild jegliches Selbstwertgefühl verhindert; wenn der Therapeut gefragt wird, ob er auch einen »bösen Geist wegmachen« könne? Darüber gibt es sehr konträre Auffassungen. In der deutschsprachigen Psychotherapie und Psychiatrie werden diese Fragen erst seit Kurzem intensiver diskutiert. Hilarion Petzold und Kolleginnen (2010) wenden sich vehement gegen eine Einbeziehung spiritueller Interventionen in die Psychotherapie, weil die möglichen Risiken eines ideologischen Machtmissbrauchs zu hoch seien. »Spiritualität ist keine Sache wissenschaftlicher Psychotherapie, sondern des persönlichen Glaubens« (S. 14). Mit der Privatangelegenheit der Religion begründen sie ihr Plädoyer für einen Ausschluss dieser Themen. Sie erinnern daran, dass

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Psychotherapie als rechtlich geregelte Dienstleistung des öffentlichen Gesundheitswesens unter dem Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität stehe. Das moderne Wissenschaftsverständnis beruhe auf einem materialistischen Weltbild, das auf der kategorialen Trennung von Wissenschaft und Glaube gründe. Deshalb sei für eine wissenschaftlich begründete Heilkunde »prinzipiell« nur eine materialistisch-monistische Position vertretbar. Allerdings ist auch bei Atheisten ein »unglaubliches Bedürfnis zu glauben« vorhanden (Kristeva, 2014). In vielen Menschen, »auch bei solchen, die keiner Kirche und Konfession angehören, gibt es offenbar ein tief verwurzeltes Gefühl, dass die sichtbare (›objektive‹) raumzeitliche Wirklichkeit nicht die einzige ist« (Boessmann u. Remmers, 2016, S. 350). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bei gemeinsamen Glaubensüberzeugungen von Therapeut/-in und Klient/-in ein religiöses oder spirituelles Ritual Ressourcen aktivieren kann, die durch herkömmliche Methoden nicht erreicht werden können (Brentrup u. Kupitz, 2015). Ärztliche und psychotherapeutische Behandlungen berühren häufig existenzielle Sinn- und Wertefragen. Damit kommen der persönliche Glaube und die Weltanschauung ins Spiel: Wie will ich leben, sterben, meine Kinder erziehen? Sowohl Klienten als auch Therapeuten befinden sich bei der Beantwortung solcher Fragen in einer verwirrenden Situation, in der biografische Prägungen, institutionelle Systeme, Familiensysteme und persönlicher Glaube miteinander verquickt sind (Baatz, 2017). Wenn eine Lebenskrise das gesamte Selbst- und Weltbild des Patienten infrage stellt und ein neues Orientierungs- und Wertesystem nötig wird, kommen häufiger seelische Störungen zum Vorschein. Deshalb ist der psychiatrische Krankheitsschlüssel mit dem Erscheinen des DSM-IV im Jahr 1994 um die Diagnose »religiöses oder spirituelles Problem« (V 62.89) ergänzt worden. Diese Kategorie soll verwendet werden, wenn im Vordergrund der klinischen Aufmerksamkeit ein religiöses oder spirituelles Problem steht. Dazu zählen belastende Erfahrungen, die den Verlust oder die Kritik von Glaubensvorstellungen nach sich ziehen, Probleme im Zusammenhang mit der Konversion zu einem anderen Glauben oder das Infragestellen spiritueller Werte, auch unabhängig von einer organisierten Kirche oder religiösen Institution. Auch in

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Deutschland wird das Konzept der spirituellen Krise mittlerweile genauer in den Blick genommen und in Behandlungen angewendet (Hofmann u. Heise, 2017).

Kultursensible Behandlungen Durch die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre hat eine kultursensible Vorgehensweise in der Therapie an Bedeutung gewonnen. Zwei deutsche Psychotherapeuten argumentieren, dass die Abstinenzverpflichtung in der Psychotherapie dem Ziel diene, den Patienten und Patientinnen Freiräume zu verschaffen, damit sie ohne Rücksicht auf die persönliche Einstellung des Therapeuten die eigenen Lebensprobleme darstellen können. Dabei erfahre das Abstinenzgebot bei hochreligiösen Patienten eine Uminterpretation: »Gerade bei sehr religiösen Patienten kann ein Abrücken von der Abstinenz bzgl. des Themas ›Religiosität‹ beziehungsförderlich sein« (Richard u. Freund, 2012, S. 206). Geläufige Vorteile gegenüber Psychotherapeuten, die jeglichen Glauben »wegtherapieren« würden, müssten richtiggestellt werden, damit ein Patient freimütig sein Erleben darstellen könne. Die Einbeziehung kultureller, also auch religiöser Ressourcen in eine Behandlung ist insbesondere bei muslimischen Migranten und Migrantinnen von hoher Relevanz (Kizilhan, 2015). Dafür ist ein offener Umgang mit religiösen und spirituellen Themen in der Psychotherapie nötig. Die aufmerksame Beachtung religiöser und spiritueller Hintergründe, Bedürfnisse und Erwartungen des Patienten entbindet den Behandler aber nicht von der Wahrung seiner berufsethischen Verpflichtungen. Im aktuellen Ethik-Kodex der APA (2010) verpflichten sich die Psychologen, dass sie die kulturellen Besonderheiten eines jeden Menschen respektieren. Ausdrücklich werden Alter, Geschlecht, geschlechtliche Identität, Rasse, Kultur, nationale Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung, Sprache und sozioökonomischer Status erwähnt. Angesichts von multikultureller Diversität bei Patienten und Therapeuten empfiehlt Plante (2009) die Beachtung der folgenden fünf ethischen Prinzipien: Respekt, Verantwortung, Integrität, Kompetenz und Behandlungsauftrag. Er weist darauf hin, dass Thera-

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peuten und Therapeutinnen, die religiös-spirituelle Interventionen einbeziehen, häufig auch in religiös-spirituellen Gruppen Verant­ wortung übernehmen. Allerdings könnte es zu einer konfliktreichen Rollenvermischung kommen, wenn ein Gemeindemitglied einen Therapeuten der eigenen Gemeinschaft konsultieren würde. Deshalb warnen auch Richard und Freund: »Wegen dieser fließenden Übergänge in die Rolle bzw. möglicher doppelter Rollen ist es wichtig, sich als Psychotherapeut seiner Haltung klar zu werden und diese dem Patienten transparent zu machen« (2012, S. 207). Im Hinblick auf die Kultur- und Religionssensibilität in Be­hand­ lungen besteht im deutschsprachigen Bereich noch ein großer Nachholbedarf. Psychiater und Psychotherapeuten sind auf diesen Gebieten auch deshalb unsicher, weil entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten bisher in der Aus- und Weiterbildung vernachlässigt wurden (Freund u. Gross, 2016; Freund, Böhringer, Utsch u. Hauth, 2017). Ein Expertenteam amerikanischer Religionspsychologen (Vieten et al., 2013) unterschiedlicher weltanschaulicher Traditionen hat folgende Kompetenzen zum Umgang mit diesen Fragen für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erarbeitet: Psychotherapeuten und Psychiater … ȤȤ sind in der Lage, empathische und effektive Beratungen und Therapien von Klienten mit unterschiedlichen weltanschaulichen Prägungen, Bindungen und Intensitätsgraden durchzuführen. ȤȤ explorieren den Hintergrund, die Erfahrungen, Praktiken, Haltungen und Überzeugungen standardmäßig als Bestandteil der Klienten-Anamnese. ȤȤ helfen ihren Klienten, ihre religiösen oder spirituellen Stärken und Ressourcen herauszufinden und einzusetzen. ȤȤ können religionsbedingte Störungen, Belastungen und Krisen erkennen und in Behandlungen benennen und bei Bedarf an religiöse Experten oder Seelsorger verweisen. ȤȤ informieren sich über den aktuellen religionspsychologischen Forschungsstand in Bezug auf ihre klinische Praxis, um dadurch ihre eigenen Kompetenzen in diesem Bereich zu verbessern. Hochreligiöse Personen mit psychischen Erkrankungen wenden sich wegen der Skepsis gegenüber vermeintlich religionsfeindlichen The-

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rapeuten häufig zunächst an den Leiter ihrer religiösen Gemeinschaft. Deshalb hat die American Psychiatric Association (APA, 2016) eine »Mental Health and Faith Community Partnership« ins Leben gerufen und eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese hat für die Leiter und Seelsorger religiöser Gemeinschaften einen Ratgeber verfasst, wie angemessen mit psychischen Erkrankungen umgegangen werden sollte. In der World Psychiatric Association (WPA) arbeitet die Sektion »Religion, Spiritualität und Psychiatrie« zu diesbezüglichen Fragen und veröffentlicht ihre Ergebnisse auf einer eigenen Internetseite und in einem regelmäßigen Rundbrief (WPA, 2015). 2015 hat die WPA ein Positionspapier zum Umgang mit Religion und Spiritualität veröffentlicht (Moreira-Almeida et al., 2015). Weil die empirische Evidenz zeigt, dass Religion und Spiritualität die Prävalenz (insbesondere bei Depressionen und Suchterkrankungen), die Diagnose (Unterscheidungen zwischen spirituellen Erfahrungen und psychischer Krankheit) und die Behandlung (Einbeziehung spiritueller Bedürfnisse) psychischer Erkrankungen beeinflussen, empfiehlt die WPA ihren Mitgliedern mehr Aufmerksamkeit für diese Themen. Für Großbritannien hat ein Expertengremium ein verbindliches Konsenspapier zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in der Psychotherapie vorgelegt (Cook, 2013). Darin werden die Fachmitglieder darauf verpflichtet, den religiösen oder spirituellen Bindungen ihrer Patientinnen und Patienten mit einfühlsamer Achtung und Respekt zu begegnen. Klinisch Tätige sollen zwar keine religiösen oder spirituellen Rituale als Ersatz für professionelle Behandlungsmethoden anbieten, andererseits wird aber auf die Bewältigungskraft positiver Spiritualität hingewiesen, durch die Hoffnung und Sinn vermittelt werden könne. In Großbritannien gibt es eine aktive, etwa 3000 Mitglieder starke Arbeitsgruppe »Spiritualität und Psychiatrie« im Royal College of Psychiatrists, die diesbezügliche Fachtagungen und Fortbildungen durchführt. Naturgemäß treffen gerade bei der Einschätzung von Religion unterschiedliche Weltbilder aufeinander. Exemplarisch zeigt sich das an der kontroversen Diskussion um die Einbeziehung eines Gebets in die psychiatrische Praxis (Poole u. Cook, 2011). Der eine Protagonist, ein bekennender Atheist, möchte derartige Praktiken von jeglicher fachärztlichen Behandlung fernhalten, um eine mög-

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liche Rollenkonfusion von Psychotherapeut und Seelsorger zu vermeiden. Sein Kontrahent ist anglikanischer Priester und argumentiert, dass auf Nachfrage des Patienten unter bestimmten Bedingungen evidenzbasierte spirituelle Interventionen wie ein Gebet sinnvoll sein können. Auch hierzulande gibt es seit Kurzem Ansätze einer religionspsychologischen Gebetsforschung (Zimmermann u. Möde, 2011; Meuthrath, 2014; Bucher, 2016; Heuft, 2016; Büssing, 2017). Bemerkenswert ist an dem britischen Fachartikel (Poole u. Cook, 2011): Nach der Zusammenfassung im Kopf des Aufsatzes ist die Rubrik »Declaration of Interest« eingefügt, in der die weltanschaulichen Grundannahmen  – beispielsweise Atheist oder Priester  – offengelegt werden. Auf dem häufig noch schambesetzten Gebiet des persönlichen Glaubens ist die Transparenz der jeweiligen Überzeugungen eine wichtige Voraussetzung dafür, dass spirituelle Interventionen zu einer Option werden können.

Argumente aus der Forschung Die fachliche Diskussion über die Einbeziehung von Spiritualität in eine psychotherapeutische Behandlung bewegt sich zwischen Extremen. Einerseits empfehlen manche Therapeuten und Wissenschaftler spirituelle Behandlungsmethoden, also die gezielte Einbeziehung von religiös-spirituellen Lehren und Praktiken, aufgrund ihrer Wirksamkeit. Die Fakten, die hauptsächlich aus Amerika stammen, können beeindrucken. Dabei muss allerdings die gänzlich andere amerikanische Religionskultur berücksichtigt werden – hierfür ein prägnantes Beispiel: Das renommierte »American Journal of Pastoral Counseling« wurde im Jahr 2006 umbenannt in »The Journal of Spirituality in Mental Health«, um besser die Absicht auszudrücken, Spiritualität als eine Ressource in Seelsorge, Beratung und Psychotherapie wissenschaftlich zu erforschen. Im deutschsprachigen Gesundheitswesen sind Seelsorgeangebote häufig viel weniger in das Behandlungsangebot integriert, haben einen viel geringeren Stellenwert als in den USA und werden auch weniger erforscht. Zwei neue Fachzeitschriften veröffentlichen seit Kurzem Studien zur Wirksamkeit spiritueller Therapiemethoden (USA: »Spirituality

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in Clinical Practice«, vgl. http://www.apa.org/pubs/journals/scp/; Türkei: »Spiritual Psychology and Counseling«, http://spiritualpc. net/). Systematische Metastudien weisen mit empirischer Evidenz auf die Wirksamkeit religionsangepasster Therapiemethoden hin (Anderson et al., 2015). Spirituelle Interventionen können offensichtlich bei bestimmten Störungen durchaus nachweisbare Effekte erzielen. Eine methodisch strenge Auswertung von elf Studien kommt zu dem Schluss, dass Psychotherapie mit integrierter Religiosität bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen mindestens so wirksam wie säkulare Formen der gleichen Psychotherapie ist. Allerdings stehe der Nachweis, sie sei langfristig effektiver als diese, noch aus. Darüber hinaus müssten die Wirkungsbedingungen noch genauer und auf der Grundlage von größeren Stichproben erforscht werden (Paukert, Phillips, Cully, Romero u. Stanley, 2011). In einer Metaanalyse haben amerikanische Forscher 46 durchgeführte Studien zu den Wirkungen religiös adaptierter Behandlungen und spiritueller Therapien (Worthington, Hook, Davis u. McDaniel, 2011) verglichen und ausgewertet. Als klinische Fallbeispiele werden dafür eine christlich adaptierte kognitive Therapie bei einer depressiven Störung, eine buddhistische Selbst-Schema-Therapie bei einer Suchterkrankung, eine christliche Vergebungstherapie und eine muslimische kognitive Therapie bei einer Angststörung dargestellt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass religiös-spirituelle Psychotherapie nachweislich sowohl psychologische als auch spirituelle Wirkungen zeige. Allerdings weisen sie darauf hin, dass ein einfaches Hinzufügen religiöser und spiritueller Elemente zu einer etablierten säkularen Psychotherapie keine überprüfbaren Verbesserungen zeigen würde. Die höchste Wirksamkeit religiöser und spiritueller Interventionen lässt sich bei hochreligiösen und spirituellen Patientinnen und Patienten nachweisen. In einem systematischen Review haben Forscher mit einer vergleichbaren Fragestellung die Effekte komplementärer religiöser und spiritueller Interventionen auf die körperliche Gesundheit und Lebensqualität untersucht. Über 7000 wissenschaftliche Studien wurden dazu ausgewertet und nach strengsten Kriterien aussortiert, übrig blieben dreißig Untersuchungen. Empirisch konnten geringe Vorteile religiös-spiritueller Interventionen im Vergleich

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zu anderen komplementären Heilbehandlungen festgestellt werden (Gonçalves et al., 2017). Um in ähnlicher Weise die Wirksamkeit spirituell orientierter Psychotherapien besser zu verstehen, werden zurzeit in einem dreijährigen Forschungsprojekt weltweit Therapien mit Spiritualität-integrierenden Behandlungen untersucht. Das Ziel des Projektes besteht darin, spiritualitätsangepasste Therapien in das Zentrum der Gesundheitsversorgung zu bringen (Richards, Sanders, Lea, McBridge u. Allen, 2015; vgl. www.bridgesconsortium.com).

Kontroverse Diskussionen im deutschsprachigen Bereich Die brisante Diskussion um Ausschluss oder Einbeziehung spiritueller Interventionen, die in den USA schon länger geführt wird, hat auch den deutschen Sprachraum erreicht. Jeschke (2012, S. 130 ff.) hat wesentliche Argumente der amerikanischen Diskussion zusammengefasst. Hauptsächlich sieht sie bei einer Integration von Spiritualität und Religion in die Psychotherapie eine ethische Herausforderung. Denn es sei kaum anzunehmen, dass die Haltung des Therapeuten zu Religion und Spiritualität deckungsgleich mit der des Klienten sei. In Europa im Allgemeinen und im deutschen Sprachraum im Besonderen ist man angesichts der aufklärerischen Tradition des Kontinents beim Thema Religion und Spiritualität in Psychotherapie und Psychotherapie eher zurückhaltend bis skeptisch. Deshalb hat im ­Sommer 2014 das österreichische Gesundheitsministerium vor Grenzverletzungen und dem Aufgeben wissenschaftlicher Standards gewarnt und esoterische Inhalte, spirituelle Rituale und religiöse Methoden in der Psychotherapie offiziell verboten (Österreichisches Bundesgesundheitsministerium, 2014). Aufgrund zahl­reicher Patientenberichte, die wegen übergriffigen Verhaltens ihrer behandelnden Therapeuten beim Berufsverband Beschwerde einlegten, hat das österreichische Bundesministerium eine Richtlinie zum Thema verabschiedet. Dort wird bestritten, dass »religiös, spirituell oder esoterisch begründete Handlungen zu einer umfassenden und stringenten psychotherapeutischen Methode, die eine geplante Krankenbehandlung ermöglicht, gehören können« (S. 6). Mit diesem Verbot soll die psychotherapeutische

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Beziehung unter Wahrung der Berufsethik und der Stärkung der Psychotherapie als eine wissenschaftlich fundierte Krankenbehandlung unter besonderen Schutz gestellt werden. Der Präsident der Schweizer Charta für Psychotherapie hat in einer Schweizer Fachzeitschrift für die Abgrenzung der Psychotherapie von der Transpersonalen Psychologie und Esoterik plädiert und unterstützt die Initiative aus Österreich, um die Heilslehren von Gurus vom Gesundheitssystem fernzuhalten (Schulthess, 2015). Das wiederum hat den bekannten Körpertherapeuten David Boadella (2016), den Begründer der Biosynthese, zu einer Erwiderung veranlasst. Obwohl er einigen Kritikpunkten der Richtlinie Recht gibt, versucht er aufzuzeigen, dass bestimmte transpersonale Methoden mittlerweile innerhalb der Hauptströmungen der Psychotherapie fest verankert sind. Er führt C. G. Jung als Begründer der Transpersonalen Psychologie an und fragt polemisch nach, ob nun eine Jung’sche Therapie nicht mehr vom Schweizer Staat anerkannt werden solle. Weiterhin führt er Nahtoderfahrungen und meditative Zustände an, die in manchen Behandlungen sehr bedeutsam seien. Daraufhin hat der Vorsitzende der Wissenschaftskommission der Schweizer Charta für Psychotherapie in einem differenzierten Artikel Kriterien wissenschaftlich begründeter Psychotherapie exemplarisch auf die analytische Psychologie Jungs und die Transpersonale Psychologie angewendet. Dabei kommt Schlegel (2017) zu dem Fazit, dass Jung nicht zu den Begründern der Transpersonalen Psychologie gehören könne. Weiterhin erfülle die Transpersonale Psychologie nicht die Kriterien von Wissenschaftlichkeit, weil sie auf einer transzendenten Wirklichkeit aufbaue. So wichtig der Schutz der therapeutischen Beziehung ist: Rigide Verbote und obrigkeitsstaatliche Richtlinien für Österreich tragen der aktuellen Forschungslage nicht Rechnung und übergehen die Ressource »Religiosität und Spiritualität« bei manchen Patientinnen und Patienten. Vorsichtiger und fundierter äußert sich der Religionspsychologe Kenneth Pargament (2013): Religion und Spiritualität können Teil des Problems oder Teil der Lösung sein. Die strikte österreichische Richtlinie hat auch viele Gegenstimmen provoziert. Sie wurde mittlerweile sogar ins Englische übersetzt und hat kontroverse Reaktionen im Rahmen von Fachdiskussionen der

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Europäischen Gesellschaft für Psychotherapie angestoßen (EAP). Young (2017) bemängelt, dass in der Richtlinie sowohl »Esoterik« als auch »Psychotherapie« zu unklar definiert worden seien. In jeder Behandlung würden Werte, Heiliges und existenzielle Grenz­ erfahrungen berührt, Transzendentes ereigne sich in der persönlichen Begegnung von Therapeut und Klient.

Positionspapier der DGPPN Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen hat das DGPPN-­Referat »Religiosität und Spiritualität« ein eigenes Positionspapier erarbeitet, das von der DGPPN publiziert wurde (Utsch et al., 2017). Die Stellungnahme geht von der Realität unserer multikulturellen Gesellschaft aus. Durch die Flüchtlingswelle steht Europa derzeit vor der großen Herausforderung, die Integration unterschiedlicher kultureller Prägungen und Weltbilder – insbesondere zwischen einer religiösen und säkularen Weltdeutung – zu bewältigen. Der konstruktive Dialog zwischen religiösen und säkularen Lebensformen ist dabei für eine pluralistische Gesellschaft zukunftsweisend. Hier sind kultur- und religionssensible Ärzte und Psychotherapeuten gefragt, vorhandene religiöse oder spirituelle Ressourcen der Patienten zur Verarbeitung ihrer Krisenerfahrungen oder Traumatisierungen zu aktivieren und in die Behandlung einzubeziehen. Weitere Einzelheiten des Positionspapiers werden am Ende des Buches in »Zusammenfassung und Ausblick« erläutert. Mit dem vorliegenden Fallbuch sollen die von der DGPPN-Taskforce erarbeiteten Empfehlungen mit Leben und konkreten Behandlungserfahrungen gefüllt werden.

Die gesellschaftliche Bedeutung des interreligiösen Dialogs Im Grunde ist es erstaunlich, dass mit dem vorliegenden »Fallbuch Spiritualität« fachliches Neuland betreten wird – es ist das Erste seiner Art im deutschsprachigen Raum. Diese Lücke kann als Beleg dafür verstanden werden, dass religiöse und spirituelle Themen in der Psychotherapie viele Jahrzehnte übergangen wurden. Während die Psychoanalyse die Macht der Sexualität ans Licht brachte und

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salon- und sprachfähig machte, hinkt jetzt die Psychotherapie hierzulande gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher. Glaube, Religion und Spiritualität sind nämlich Themen, die gerade in einem säkularen Zeitalter an Bedeutung gewonnen haben (Taylor, 2009; Kühn, Schlimme u. Witte, 2010). Eine beängstigend zugenommene Polarisierung von unversöhnlichen Standpunkten, Feindbildern und fundamentalistische Gesinnungen im politischen und religiösen Gewand machen deutlich, wie nötig und anspruchsvoll eine interkulturelle und interreligiöse Verständigung auf Augenhöhe ist  – und wie dringend religionspsychologische Verständigungshilfen gebraucht werden. Die Religionspsychologie erleichtert die Reflexion der eigenen Weltanschauung und das Verstehen fremder Glaubenshaltungen. Der fundamentalistischen Versuchung der Abwehr des Fremden und der Kontrolle über das Unverfügbare kann sie zu mehr Toleranz und zum Aushalten von Zweifeln und Widersprüchen verhelfen (Utsch, 2017). Gerade Fachleute für seelische Gesundheit sind geeignet, Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Krisen zu machen und ihr Expertenwissen dazu einzusetzen, besser zu kommunizieren sowie Konflikte präzise wahrzunehmen und zu bewältigen. Der Leiter eines großen psychotherapeutischen Weiterbildungsinstituts und Mitglied des DGPPN-Referats »Religiosität und Spiritualität« hat einen engagierten Appell an die eigene Zunft gerichtet (Peseschkian, 2017). Besonders nötig sei für Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen die Aufklärung über komplexe Sachverhalte wie Globalisierung, Nationalismus und Integration. Psychologische Mechanismen wie Manipulation, die Auswirkungen von verschiedenen Werthaltungen, kulturellen Eigenarten und Menschenbildern sollten verständlich vermittelt werden, um Vorurteile abzubauen. Die Förderung einer transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie und Stärkung transkultureller Kompetenz seien dafür unverzichtbar. Dann könnte aus der derzeitigen gesellschaftlichen Umbruchsituation die Chance einer friedlichen transkulturellen Globalisierung erwachsen. Ausdrücklich weist Peseschkian auf die Bedeutung der Religion als »einer großen Kraft menschlichen Lebens« (S. 612) hin. Patientinnen und Patienten würden zunehmend Interesse an spirituellen Themen in der Behandlung mitbringen, andererseits würden viele

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Migrantinnen und Migranten die Integration religiöser Themen einfordern. In einer Zeit, in der Menschen »vom religiösen Fanatismus und von Institutionen als auch vom Materialismus häufig enttäuscht« seien (S. 612), könne die Psychologie zu einem besseren Verständnis beitragen, welche Rolle der Glaube in einer globalen Gesellschaft haben kann und vielleicht auch muss. Aus kulturpsychologischer Perspektive hat Jürgen Straub (2016) herausgearbeitet, dass die lebensweltlich bedeutsamste Konfliktlinie in unserer Zeit nicht mehr zwischen religiös Gläubigen und Ungläubigen verläuft. Straub unterscheidet zwischen Menschen, die in ihrem eigenen Selbstverständnis sowohl feste Überzeugungen besitzen als auch offen für fremde Lebensdeutungen sind, und denen, die totalitär strukturiert sind – gleichgültig, ob sie nun gläubig sind oder nicht. Die Dialogfähigkeit zwischen säkularen und religiösen Lebensdeutungen scheint eine wichtige Zukunftsaufgabe für eine friedliche pluralistische Gesellschaft zu sein. Auch psychotherapeutische Behandlungen können solche Lernorte sein, verschiedene weltanschauliche Standpunkte zu reflektieren und miteinander ins Gespräch zu bringen, das belegen die Fallerzählungen dieses Buches eindrücklich.

Fallbuch Spiritualität Dieses Buch geht nicht systematisch, sondern exemplarisch vor. Es war uns in Fortführung des DGPPN-Positionspapiers wichtiger, Denkanstöße zu geben und den wissenschaftlichen Diskurs in diesem heiß umkämpften Gebiet zu fördern, als Vollständigkeit zu erreichen, sei es in nosologischer, religionswissenschaftlicher oder theologischer Hinsicht. Es wurden zwanzig exemplarische Fälle ausgewählt, die von Kollegen und Kolleginnen kommentiert wurden. Die Fallerzählungen wurden sorgfältig anonymisiert und – wo möglich – den Patientinnen und Patienten zur Freigabe für die Veröffentlichung vorgelegt. Wenn wir nun dieses Fallbuch der Kollegenschaft und einer interessierten Öffentlichkeit übergeben, verbinden wir damit die Hoffnung, dass die auch im deutschen Sprachraum begonnene Diskussion um die Vielfalt religiöser und spiritueller Überzeugungen und Praktiken und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit weitere Früchte trägt.

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1 »Der Herr Jesus spricht nicht mehr zu mir« Stefan Roider

Zur Aufnahme auf die gerontopsychiatrische Station eines Bezirkskrankenhauses wird eine siebzigjährige russlanddeutsche Frau gebracht. Die Angehörigen schildern dem aufnehmenden Arzt eine ausgeprägte depressive Symptomatik: Seit Wochen komme die alte Dame kaum noch aus dem Bett, habe an nichts Interesse, sie esse kaum noch, weine viel. Sie selbst äußert gegenüber dem aufnehmenden Kollegen: »Der Herr Jesus spricht nicht mehr zu mir.« Als Diagnose wird eine schwere depressive Episode mit psychotischer Symptomatik eingetragen, dokumentiert werden »religiös wahnhafte Ideen«. Am Folgetag wird die Patientin vom Stationsarzt gesehen, der auch die Angehörigen kennenlernt. Es handelt sich um eine sehr traditionelle russlanddeutsche Familie, die in altertümlichem Dialekt die Patientin noch mit »Ist Euch wohl, Frau Mutter?« anspricht. Auch diesem Arzt gegenüber gibt die Patientin an: »Der Herr Jesus spricht nicht mehr zu mir!«, was sie sehr traurig mache. Bei Nachfragen erfährt er, dass die evangelische Frau zeit ihres Lebens täglich in der Bibel gelesen und ihr Leben nach ihrem Glauben ausgerichtet hat – wie übrigens auch die ganze Familie. Es wird sukzessive klar, dass die mit der schweren depressiven Episode verbundenen kognitiven Beeinträchtigungen dazu geführt hatten, dass die Patientin das Gelesene nicht mehr erfassen und behalten konnte. Dies bedrückte sie zusätzlich schwer und führte zum Gefühl der Gottverlassenheit, was wiederum die Depression verstärkte.

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In den Gesprächen mit dem Stationsarzt (wie die Patientin evangelisch-lutherisch) kann auch der Glaube zum Thema gemacht werden. Im Verlauf der Behandlung kann die Patientin – mit zunehmender Besserung der Depression – ihre Überzeugung zurückgewinnen, von Gott geliebt und nicht fallen gelassen zu sein. Eine psychotische Symptomatik bestand entgegen der Aufnahmediagnose zu keinem Zeitpunkt.

Kommentar Gabriele Stotz-Ingenlath

Psychiatrisch-diagnostisch liegt bei der Patientin eine schwere depressive Störung vor. Die Dokumentation von »religiös wahnhaften Ideen« ist verständlich; wie soll der aufnehmende Arzt die Symptomatik auch anders medizinisch beschreiben? In der medizinischen Bezeichnung »religiös wahnhaft« wird allerdings – das gehört zur Wahndefinition nach Jaspers dazu – die Realität Gottes und die Möglichkeit, er könne zur Patientin sprechen als Wahn, also als unverrückbare Überzeugung von etwas Irrealem, aufgefasst. Dem Stationsarzt, der wie die Patientin an die Existenz Gottes als Realität glaubt, erschließen sich Situation und Erkrankung der Patientin aus einer zusätzlichen Perspektive, aus der heraus er ihr in der Behandlung besser gerecht werden kann. Zwischen ihm und der Patientin besteht in religiöser Hinsicht eine »Passung«. Die Existenz Gottes wird von der Patientin nicht angezweifelt, sie meint nur, nicht mehr im Dialog mit Gott zu stehen, und zweifelt an ihrer Beziehung zu Gott, die ein Leben lang spürbar bestand und Halt gab. In dieser Ausrichtung nach dem Glauben war auch ihre ganze Familie verbunden. Wie die Frau in gesunden Tagen religiös empfand, empfanden fromme religiöse Menschen früher wohl ganz allgemein. Heute wirkt sie mit dieser religiösen Bindung »altertümlich«, »traditionell«, wie aus der Zeit gefallen, wobei eine lebendige Gottesbeziehung etwas Zeitloses ist und weder als altertümlich noch als modern und auch nicht als pathologisch bezeichnet werden sollte. Der selbst gläubige Stationsarzt versteht, dass die Frau in ihrer Depression unter einer Blockade im Glaubensvollzug leidet, unter

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dem Gefühl, von Gott verlassen zu sein und den Anschluss an Gott verloren zu haben. Er weiß um die Gebetspraxis und das Lebensgefühl tief religiöser Menschen; er weiß als Psychiater aber auch um die »endogene Koppelung« (Hole, 1989) zwischen dem Gefühl der Gottferne und der depressionsbedingten Störung des Neurotransmitterstoffwechsels. Biologische Veränderungen verursachten die kognitiven Beeinträchtigungen, die nun den emotionalen Verzweiflungszustand der Patientin mit bedingen. Die Patientin hat kein Krankheitsgefühl, sie rechnet sich das Schweigen Gottes wahrscheinlich als Schuld selbst an. In den 1950er Jahren wurde von Psychopathologen viel zu dieser Art Schuldgefühl geschrieben. Janzarik (1957) nennt es das »Resonanzloswerden« für die mitmenschliche Welt, das in der schweren Depression als ungeheure Schuld erlebt wird. Es ist nicht nur die mitmenschliche Welt, sondern auch der Gottesbezug, Gottes Anruf, das Gehaltenwerden durch Gott, wofür die Patientin »resonanzlos« geworden ist. Weitbrecht (1952) bezeichnet dieses Schuldgefühl als »primär«, als unableitbar und nicht zu verstehen. Das Werterleben, das zum Kern der Individualität gehört, schwindet in der Depression. Religiöse Menschen, die sich auf Gott als zentrale Instanz hin verorten und per se eine überdurchschnittlich starke Instanzenabhängigkeit in ihrem Wertgefüge aufweisen (Schulte, 1954), fühlen sich in der Depression verloren und von Gott verlassen. Mit diesem selten gewordenen Gefühl der G ­ ottverlassenheit ist die Patientin heute tatsächlich nicht mehr leicht zu ­verstehen. Bezugnehmend auf die drei von Schneider (1950) herausgearbeiteten Urängste, die in einer Depression aufgedeckt würden, hat von Orelli (1954) bereits in den 1950er Jahren eine Abnahme der Schuldideen, aber eine Zunahme von Verarmungs- und hypochondrischen Ideen bei wahnhaft depressiven Menschen beobachtet. An die Stelle eines »auf Gott hin entworfenen Lebens« trete eine eher »egoistische« Regression auf die eigene leibliche Existenz. Diese Entwicklung setzt sich fort bis heute (Stotz-Ingenlath u. Frick, 2006). Für die Patientin waren neben der leitliniengerechten Be­hand­ lung der Depressionskrankheit sicher auch die begleitenden verständnisvollen Gespräche mit dem Stationsarzt über den Glauben hilfreich.

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2  Out of Body Ulrike Anderssen-Reuster

Erster Kontakt Eine schlanke, feminin gekleidete etwa 35-jährige Patientin, Frau Z., meldet sich zur Sprechstunde und vermittelt etwas verlegen, dass sie lange gezögert habe, sich um professionelle therapeutische Hilfe zu bemühen. Sie kenne mich aber von einem Vortrag und wisse, dass ich für spirituelle Themen offen sei. Sie berichtet, dass es ihr psychisch sehr schlecht gehe. Sie habe sich in ihren Meditationslehrer verliebt und sei durch die Affäre mit ihm in eine ziemliche Krise geraten, die noch immer andauere. Persönliche und spirituelle Themen gingen durcheinander. Sie brauche eine externe Unterstützung dabei, dieses psycho-spirituelle Kuddelmuddel zu ordnen. Die Patientin ist mir sympathisch. Sie erscheint differenziert und sensibel, im Kontakt zugewandt und offen. Sie berichtet zu ihrer Lebenssituation, dass sie derzeit allein lebe, aber schon einige Partnerschaften hatte. Von ihrem letzten langjährigen Partner habe sie sich wegen der Liebe zu ihrem spirituellen Lehrer getrennt. Beruflich sei sie als Volkswirtschaftlerin in einer Versicherung tätig; am Arbeitsplatz gebe es zwar viel Stress, aber damit könne sie umgehen. Finanziell gehe es ihr gut. Sie habe einen großen Freundeskreis und vielfältige Interessen, aber keine Kinder und auch keinen Kinderwunsch.

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Problemschilderung Frau Z. berichtet, sie habe vor zwei Jahren einen Meditationskurs bei einem Yogalehrer besucht, der ihr sehr sympathisch gewesen sei und den sie bereits aus einem früheren Yogatraining kannte. Sie selbst praktiziere seit etwa fünf Jahren Yoga mit Schwerpunkt auf Hatha-Yoga, Pranayama und Meditation. Schon beim ersten Kontakt hatte ihr die offene und emotionale Art des Lehrers gut gefallen und ihr gutgetan. Sie selbst sei in der Tendenz eher schüchtern und zurückhaltend und er habe ihr Mut gemacht, ihre Emotionen zuzulassen und zu leben. Das habe sie sehr angesprochen. Sie habe gespürt, dass ihr der Mann gefallen könnte. Einige Monate später nahm sie an einem einwöchigen Meditationsretreat bei dem Meister teil. Dort habe sie es gewagt, ihren im Allgemeinen gut kontrollierten Bedürfnissen nach Liebe und Zärtlichkeit Raum zu geben und dabei auch intensive Sehnsüchte in Bezug auf den Meditationslehrer zuzulassen. Sie habe ihm ihre emotionalen und körperlichen Bedürfnisse mitgeteilt, obwohl ihr das furchtbar peinlich gewesen sei, da sie in sexueller Hinsicht stets sehr verklemmt gewesen sei. Nachdem sie sich entschlossen habe, ihre Triebwünsche nicht länger zu kontrollieren, sei sie von erotischen Bedürfnissen und sexuellen Phantasien förmlich überrollt worden. Sie habe kaum noch schlafen können, habe angefangen, komische Erfahrungen zu machen. Einmal habe sie sich zum Beispiel bei der Meditation von außen und oben gesehen und öfter habe sie das Empfinden gehabt, in die Zukunft blicken zu können. Auch nach dem Retreat blieb sie mit dem Lehrer im Mail-Kontakt. Die Verliebtheit nahm zu und der Lehrer schien davon nicht unberührt gewesen zu sein. Er meldete sich immer wieder und nährte somit ihre Wünsche und Hoffnungen auf eine Liebesbeziehung. Er vermittelte viel Privates und sprach auch von eigenen Sehnsüchten in Bezug auf sie. Ein Jahr nach dem Retreat besuchte er sie. Es kam zu sexuellen Kontakten, die ihr viel bedeuteten und die sie als Ausdruck seiner tieferen Zuneigung verstand. Er aber verlor nach der Annäherung sein Interesse an ihr und distanzierte sich. Dies stürzte sie in eine tiefe Krise. Zweifel an sich selbst, aber auch an ihm und an der Vermengung seiner Rollen als distanzierter Leh-

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rer und liebesbedürftiger Mann tauchten auf. Es brachen dann tiefe Verlassenheitsängste, Albträume, unklare Erinnerungen mit möglichen Grenzüberschreitungen durch den Vater und massive Schamgefühle auf. Die Lockerung ihrer Kontrolle hatte sie in Teufels Küche gebracht und zu einer Erfahrung von Ablehnung, Verwirrung und Scheitern geführt. Gern wollte sie diesen toxischen Gefühlsmix mit noch mehr kühler Kontrolle und distanzierter Vermeidung in den Griff bekommen, dies gelang aber nicht. Sie leidet unter der Kränkung und auch unter ihrer eigenen Unfähigkeit, ihre Gefühle auf eine stimmige Weise auszudrücken. Die Diagnose F41.3 (andere gemischte Angststörung) wird gestellt und eine ambulante psychodynamische Psychotherapie im 14-tägigen Rhythmus vereinbart.

Behandlungsverlauf Die biografische Anamnese vermittelt ein Familiensystem, das sehr distanziert und sehr rational erscheint. Die Eltern führten eine Ehe, die kalt und unverbunden wirkt. Der Vater war einerseits offenbar gewalttätig und schlug seine vier Kinder, aber andererseits suchte er immer wieder Zuwendung und Zärtlichkeit bei der Patientin. Die Frage taucht auf, ob es sexuelle Übergriffe gab, da von panischer Angst in ihrer Kindheit die Rede ist und auch von massivem Ekel in Bezug auf Berührungen des Vaters. Abschließend kann diese Frage nicht beantwortet werden, was sicher auch daran liegt, dass Frau Z. eine gut funktionierende interne Zensur in Bezug auf Erinnerungen und ihre kindliche Emotionalität zeigt. Die Patientin vermittelt, dass sie als Kind furchtbar gehemmt und unsicher gewesen sei und zum Rückzug und zur ängstlichen Vermeidung geneigt habe. Besonders geliebt habe sie ihre Großmutter, die sie als sehr gläubig schildert und die ihr immer wieder Trost vermittelte, als sie sich einsam und ungeliebt fühlte. Die Oma lehrte sie, dass es eine Dimension jenseits der trüben Wirklichkeit gebe, eine göttlich-transzendente Ebene, die Geborgenheit und Sicherheit vermitteln könne. Der Therapieauftrag an mich ist, ihr dabei zu helfen, die Angst »in den Griff« zu bekommen, ihre amnestischen Erinnerungen aufzudecken und den Liebeskummer zu heilen. Als ich dann deutlich

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mache, dass die Angst eine wichtige Signalfunktion habe und nicht »abgeschafft« werden könne, ist sie unzufrieden. Deutlich wird, dass sie einen emotional-indifferenten, coolen und souveränen Gemütszustand anstrebt und ihre eigene Bedürftigkeit im Grunde ablehnt. Es zeigt sich, dass sie im tiefsten Kern sehr unsicher, einsam und vulnerabel ist, aber es vermeidet, sich diesen bedürftigen Selbstanteilen zuzuwenden, da sie sich dann als kindisch, lächerlich und peinlich erlebt. Besonders schambesetzt ist die Auseinandersetzung mit dem Meditationslehrer, die Erinnerungen an einen Vater weckt, der sie verhöhnte, auslachte und zumindest emotional benutzt hat. Die Annäherung an Kindheitserinnerungen geht am besten über Träume, die der Zensur weniger unterliegen als die bewusstseinsnahen Erinnerungen. Im Rahmen dieser therapeutischen Arbeit kann verstanden werden, warum sie nähere Bindungen und Festlegungen vermieden hat. In nahen Beziehungen erwartet sie nichts Gutes. Einen Ausweg aus zu viel Nähe und Überforderung im Kontakt bietet die spirituelle Dimension, die eine Flucht in eine andere Ebene ermöglicht. Zudem ist sie darin geübt, in überfordernden Momenten zu dissoziieren. So hat sie schon als Kind gelernt, »neben sich zu stehen« oder »auszusteigen«. Sie sagt: »In Bedrängnis, Stress oder Angst schalte ich den Hebel um. Dann werde ich innerlich ganz ruhig und ausgeglichen.« Die Patientin findet diese Strategie hilfreich und praktisch, weil sie dann nichts mehr spürt. Ich sehe diese Tendenz allerdings kritisch und stufe sie als Vermeidungsstrategie ein, die das Erleben und die Integration schmerzlicher Emotionen verhindert. Über diese unterschiedliche Perspektive auf ihr Symptom können wir uns austauschen, und Frau Z. wagt es immer mehr, ihre Kontrolle zu lockern. Einmal fließen sogar ein paar Tränen.

Dimension Religion/Spiritualität Die Patientin ist reflektiert, introspektionsfähig und differenziert. Die spirituelle Dimension ist Teil ihres Lebens, das durchaus erfolgreich ist. Der psychische Befund ist, abgesehen von einer starken Ängstlichkeit und intermittierenden Angstattacken, unauffällig. Vorherrschend und stark ausgeprägt ist der Hang, sich in die offene

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Weite des Geistes zu flüchten und schmerzliche Emotionen dadurch zu umgehen. Psychoanalytisch könnte man einen philobatischen Typus beschreiben, der sich in den offenen Weiten geborgener fühlt als in einengenden, oknophilen Beziehungen (Balint, 1999). Ferner kann man die Vermeidungstendenz, die ja bei Angststörungen typisch ist, als spezifische spirituelle Vermeidung benennen. Im Sinne von Welwood (2010) praktiziert sie »spiritual avoidance« und kann sich damit recht gut stabilisieren. Der Preis, der dafür gezahlt werden muss, sind eine gewisse emotionale Indifferenz und die große Schwierigkeit, schmerzliche und kränkende Erfahrungen auszuhalten und zu integrieren.

Kommentar Norbert Mönter

Die hier geschilderte Situation der beruflich erfolgreichen, aber psychoemotional gehemmten 35-jährigen Volkswirtschaftlerin berührt Themen unterschiedlicher humanwissenschaftlicher Bereiche. Vor allem geht es um psychiatrisch-psychotherapeutische Fragestellungen des Beziehungsaufbaus und der Bearbeitung insbesondere affektbezogener Abwehrmechanismen einschließlich traumatisierender Kindheitserlebnisse und des Aufbaus eines stabilen Selbstbildes. In einer psychodynamisch als klassisch einzuschätzenden Versuchungs- und Versagungssituation war es bei Frau Z. zu einer Krise mit Affektdurchbrüchen und Reaktionsbildungen auf körperlich-vegetativer Ebene gekommen, die einhergingen mit dem Zusammenbruch eingeübter Abwehr- und Vermeidungsstrategien bis hin zu Verstörung und »komischen« Erfahrungen wie einem Out-of-Body-Erleben (außerkörperliche Erfahrung). Symptomatologisch und auch für die Entscheidung, sich therapeutische Hilfe zu suchen, spielten die dissoziativ anmutenden Erlebnisweisen im Kontext ihrer Yoga-Übungen eine besondere Rolle. Religionswissenschaftlich sind Out-of-Body-Experiences (OBE) in vielen Kulturkreisen und Religionen bekannt als Objekt vielfältiger spiritueller, transzendenter und metaphysischer Deutungs-

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systeme. Die dabei anklingende Frage nach der leibseelischen Einheit wie auch der personalen Identität des Menschen hat zudem seit der Antike auch philosophiegeschichtlich eine Relevanz und ist bis in die Neuzeit immer wieder Inhalt unterschiedlicher ideengeschichtlicher Konzepte und dazugehöriger Diskurse. In diesem Kommentar wird im engeren Sinne nur auf die klinisch-psychiatrische Dimension der Out-of-Body-Erfahrung und ihre Bedeutung für das Verständnis der Patientin und der daraus resultierenden Therapie näher eingegangen. Bis vor ca. zwanzig Jahren wurden Out-of-Body-Experiences als typischerweise an Nahtoderfahrungen geknüpft beschrieben. Es zeigte sich jedoch, dass derart autoskopische Erfahrungen (Erlebnis einer Sicht auf den eigenen Körper wie von außen oder als gedoppelten Körper) nicht unbedingt etwas mit Tod oder Todesnähe zu tun haben; sie können unter anderem auch experimentell erzeugt werden. Heute ist wissenschaftlich belegt, dass auch Umstände, die nicht lebensbedrohend sind, wie zum Beispiel Epilepsie oder bestimmte chemische Substanzen, aber auch Meditation, auslösend für »außerkörperliche Erfahrungen« sein können. Sie sind somit als spezifische Reaktion irritierter, gegebenenfalls in der einen oder anderen Weise manipulierter oder modifizierter Hirnaktivität zu verstehen. So stehen OBE nicht unmittelbar mit spirituellen oder religiösen Überzeugungen oder Betätigungen in Verbindung. Frau Z. praktiziert seit mehreren Jahren Yoga mit Schwerpunkt auf Hatha-­Yoga, Pranayama und Meditationen, ohne dass hier eine explizite religiöse Motivation vorliegt. Als Hinweis auf eine spirituelle Komponente findet sich eine Erinnerung an die »gläubige« Großmutter, die sie gelehrt habe, »dass es jenseits der trüben Wirklichkeit eine Dimension gebe, eine göttlich-transzendente Ebene, die Geborgenheit und Sicherheit vermitteln könne«. Die Anwendungspraxis verschiedenster Yoga-Schulen wie auch fernöstlich geprägter Meditationsrichtungen steht in westlichen Ländern zumeist nicht in direktem religiösen Bezug (beispielsweise zum Hinduismus oder zum Buddhismus). Auch in weitgehender Übereinstimmung der Yoga-Schulen wird Yoga eher als universelle, ausdrücklich religionsübergreifend und auch von

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Nichtgläubigen anzuwendende Praxis angesehen; eine Praxis, die allerdings Zugang zu einer inneren »spirituellen« Erfahrungswelt ermöglichen kann. Der Züricher Psychiater Christian Scharfetter, der sich in besonderer Weise mit den »Chancen und Gefahren auf dem spirituellen Weg« befasst hat, sieht allgemein in der Spiritualität die »Verbundenheit des Einzelnen mit dem umgreifenden Ganzen, das Bewusstsein der Teilhabe des Individuums am allgemeinsamen Einen«; dies ermögliche das »bescheidene Sicheinordnen des individuellen Ich in den übergreifenden Zusammenhang eines ideellen Ganzen, universale Verantwortlichkeit und die Kultur von Wohlwollen, Güte, Toleranz, Mitleiden, Mitfreude und Gelassenheit des Annehmens der Gegebenheiten des Lebens«, die sich allerdings »in den unausweichlichen Rauhigkeiten, Konflikten, Krisen des Alltagslebens und des Weges zur Reifung zu bewähren haben« (Scharfetter, 2005 S. 219 f.). Bei Frau Z. kam es im Zusammenhang mit ihren Yoga-Übungen und Meditationen zu den beschriebenen OBE. Außerkörperliche Erfahrungen sind bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Systematik von Krankheiten (ICD-10) zwar nicht als eigenständige Störung klassifiziert, sie gelten als Symptom einer Depersonalisationsstörung, die unter dem Depersonalisations- und Derealisationssyndrom (F48.1) klassifiziert ist. Zugleich stehen OBE phänomenologisch auch in Bezug zu anderen dissoziativen Störungen (F44.1), wie etwa Fugue- und Trancezuständen oder dissoziativen Identitätsstörungen. Der auch in der Beschreibung von Frau Z. benutzte Terminus der »Dissoziation« bedarf der Erläuterung, denn »Dissoziation kann man nicht sehen wie die Scherben eines zerbrochenen Kruges. Sondern: Dissoziation ist ein hypothetischer Vorgang, den wir supponieren« (Scharfetter, 1999, S. 66 f.). Gemeint ist mit dem psychiatrischen Begriff der Dissoziation das Auseinanderfallen von normalerweise zusammenhängenden Funktionen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität und der Motorik (nicht jedoch die Separierung von Seele/Geist und Körper!). So handelt es sich hier um ein dynamisches Konstrukt, welches Dissoziation vor allem im Kontext einer psychischen Abwehrstrategie sieht.

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Dieses Verständnis liegt offensichtlich auch dem dargestellten therapeutischen Ansatz bei Frau Z. zugrunde. So sollte sich für die Patientin auf dem Boden einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung nunmehr ein Weg öffnen, Affekte allgemein, insbesondere auch negative Affekte (Ängste, Hilflosigkeit, seelischer Schmerz usw.) zuzulassen, Gefühle und die damit assoziierten Wünsche und Handlungsabsichten zu benennen und diese angemessen auszudrücken. Wichtig dürfte perspektivisch unter anderem die Fortführung der therapeutischen Thematisierung der Abwehrstrategien, speziell des automatischen »Hebel-­Umschaltens« und »Aussteigens« zur Vermeidung von Gefühlen von »Bedrängnis, Stress und Angst« sein. Bei einem souveränen, freieren Umgang mit der eigenen Gefühls- und Erlebniswelt sollte die Patientin auch die das Selbstbewusstsein potenziell fördernden und gleichwohl Entspannung induzierenden Effekte der von ihr praktizierten unterschiedlichen Yoga- und Meditationstechniken gut nutzen können. Literatur Balint, M. (1999). Angstlust und Regression. Stuttgart: Klett-Cotta. Scharfetter, C. (1999). Dissoziation – Split – Fragmentation. Nachdenken über ein Modell. Bern u. a.: Huber. Scharfetter, C. (2005). Chancen und Gefahren auf dem spirituellen Weg. In S. Leutwyler, M. Nägeli (Hrsg.), Spiritualität und Wissenschaft. Zürich: vdf. Welwood, J. (2010). Psychotherapie und Buddhismus. Der Weg persönlicher und spiritueller Transformation. Freiburg: Arbor.

3 Kann ich Gott verzeihen? Ein Gespräch mit dem Psychiater und Psychoanalytiker Harry A. Eckhard Frick

A: Mein Sohn hat sich aus Liebeskummer das Leben genommen mit 19, und zwar auf eine Art, die mir einerseits Bewunderung abringt und mir andererseits einen entsetzlichen Schauer durch den Körper jagt: Er hat sich vor einen Zug gelegt. Dieser Zug hat den Kopf von seinem Körper abgetrennt. Ich werde immer noch, nach zwei Jahren, von Bildern verfolgt, wie wenn ich er wäre und auf dem Gleis liege und dieses tonnenschwere Ungetüm aus Stahl auf mich zudonnert. Die Schienen fangen an zu vibrieren. Der Zug macht einen Höllenlärm, er hupt und er bremst, und dadurch gibt es ein entsetzliches Quietschgeräusch, aber er ist nicht aufzuhalten und kommt immer näher und näher – und er lässt den Kopf auf den Schienen liegen. Und diese geradezu bildhafte Szene lässt mich nicht los. Ich stelle mir vor: Hat er dem Zug mit dem Kopf entgegengeschaut oder in die andere Richtung? Hat er die Augen zugekniffen, hat er sie aufgelassen? Hat er sich erst im letzten Moment hingelegt oder lag er schon länger dort? Er hat offensichtlich so gelegen, dass der Körper unversehrt war. Seine Beine wurden ihm nicht abgetrennt. Sein Körper wurde nicht in alle Teile zerfetzt, wie es oft bei Schienen-Suiziden passiert. Er lag entweder mit dem Hals oder mit dem Kopf auf der Schiene. Der Polizist, der mir die Nachricht überbracht hat, konnte nicht viel sagen. Unterschwellig stellte er die Gegenfrage: »Wollen Sie das jetzt wirklich so genau wissen?« Aber ich wollte es genau wissen.

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F: Sie wollten wissen, wie genau diese tödliche Verletzung, diese Enthauptung, geschehen ist. Würden Sie sagen, dass Sie unter einer Traumafolgestörung leiden, dass die Bilder Sie verfolgen? A: Ja. Ich gestehe es ungern ein, aber wenn ich es mir mal von dritter Perspektive anschaue, dann ist es wirklich so, dass mich diese Bilder anspringen wie Raubtiere. Es reichen kleine assoziative Momente als Trigger, und dann werde ich diese Szene eine gewisse Zeit nicht mehr los. Wenn es gut geht, kann ich mich mit irgendeiner anderen Tätigkeit wieder auf etwas anderes fokussieren. Wenn es schlecht geht, muss ich mich ins Bett legen, und dann beginnen Gedanken um Gott. Und die gehen aber dann ganz lang. Das geht dann oft die halbe Nacht oder auch mal die ganze Nacht, dann lese ich. Aber ich bleibe dann an dem Thema dran, weil, wenn ich merke, ich werde es nicht los, das Thema, dann ist das eben für mich ein Aufruf, dann bleibe ich eben dran. F: Sie sagen: Gedanken um Gott. Was für Gedanken sind das? A: Das Allererste ist: Warum hast du ihn für meine Schuld bestraft? Dieses Sich-vor-den-Zug-Werfen oder -Legen ist ein absolutes Schuldzeichen, ein Bild, eine Metapher für das, was ich mit ihm gemacht habe. Ich habe ihn als Kind häufig so geschlagen, dass er auf den Boden fiel. Also war ich dieser gewalttätige Zug, der über ihn hinweggerollt ist. Ich habe ihn geschlagen, er fiel zu Boden und er wollte sich aufrappeln und fliehen und ich habe ihn noch mit den Füßen getreten …Er war auch häufig deprimiert und resigniert und immer dann, wenn er deprimiert und resigniert war, dann warf er sich auf das Bett. Das war immer so eine Bewegung vom Stehen in die Horizontale. Er warf sich auf das Bett. Und so warf er sich offensichtlich auch vor den Zug, und dieses Sichhinwerfen ist ein Bild für meine Schuld und das Gespräch mit Gott ist: »Warum er, der unschuldig ist?« F: Damit ich Sie richtig verstehe: Einerseits haben Sie die Strafe verdient, weil Sie an dem Suizid Ihres Sohnes ursächlich zumindest mitbeteiligt sind. Andererseits erleben Sie die Ungerechtigkeit, dass Gott nicht Sie, sondern ihn bestraft. Und daran arbeiten Sie dann die Nacht über. Ist das ein Nachdenken über Gott und die Frage nach seiner Gerechtigkeit oder können Sie Gott auch ansprechen im Gebet?

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A: Bei unserem letzten Gespräch haben Sie gesagt: Jedes innere Gespräch, das sich an Gott wendet, ist ein Gebet. Und wenn man es so fasst, dann bete ich mehr oder weniger die ganze Nacht. Aber ich bete nicht zu einem liebevollen Gott, das nicht. Ich schreie, ich schimpfe, ich sage: »Ich kann dich nicht spüren. Wo bist du? Und warum hast du mir das angetan? Du hättest mich auch anders zur Umkehr bringen können. Mag sein, dass im Jenseits die Erlösung kommt, wenn ich mit meinem Sohn wieder vereint bin und ich dann verstehen werde, warum das da alles passiert ist und ich jetzt hier so leiden muss. Aber jetzt bin ich hier und ich leide. Du tust mir so weh!« F:  Sie wenden sich nicht an einen liebenden Gott, sondern an einen strafenden, aber auch sich entziehenden. A: Vor allem an einen sich entziehenden. F:  Sie erwarten dann schon so etwas wie eine Sühne. Dass es Ihren Sohn getroffen hat, darin besteht die Ungerechtigkeit. A: Ja, Gerechtigkeit mir gegenüber kann ich finden. Ich erleide jetzt die Sühne dafür, was ich im Bösen meinem Sohn getan habe. Also klassisch katholisch die Sündenstrafe. Das ist okay. Also, deswegen bin ich jetzt nicht unversöhnt mit Gott. Das ist in Ordnung. Mir geht es darum, dass mir der Maximilian so leidtut, dass er es ertragen musste, das ist das eine. Und das andere ist eigentlich noch das viel Schlimmere: dass Gott sich entzieht. Das Allerschlimmste und wirklich das Aller-, Allerhöllischste sind Glaubenszweifel. F: Das Schlimmste an den Glaubenszweifeln ist wohl, es könnte nach dem Tod gar nichts sein. Irgendwie haben Sie aber die Hoffnung, dass nach dem Tod etwas kommt, was anders ist. A: Was ich jetzt leide, ist eine Strafe, der ich nicht entkomme und der ich auch nicht entkommen will, weil ich sie verdiene. Die Frage wird sein, ob mit meinem Tod tatsächlich meine Schuld schon abgebüßt ist oder ob es im Jenseits noch zusätzlich etwas gibt, was ich zu erleiden habe, damit diese Schuld getilgt wird und auch andere Arten von Schuld, die ich auf mich geladen habe. Schon jetzt, im Moment, bin ich im Fegefeuer. Vielleicht geht es drüben noch weiter, vielleicht ist es dann auch schon getilgt. Ich empfange vielleicht die Gnade: So, jetzt ist es gut. Wenn ich

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den christlichen Glauben nicht hätte, dann würde es auch nicht weitergehen. Christ sein bedeutet, und das ist eine unglaubliche Tröstung für mich, das Personale, das personale Weiterleben, nicht das Aufgehen im Ganzen, nicht wie im Buddhismus ein Tropfen im Meer sein. Nein, das personale Weiterleben und die leibliche Auferstehung. Ich will körperlich und jetzt auch ganz konkret, auch körperlich meinen Sohn wieder vor mir haben und ihn in die Arme nehmen, ihn spüren, meine Haut auf seiner Haut. Das wäre dann die Erlösung. F: Diesem unmittelbaren Kontakt hat er sich in seiner Depression entzogen. Sie sagen: Fegefeuer schon jetzt in diesem Leben, um Ihre Schuld abzutragen, weil Sie ihn misshandelt haben. Wenn wir kausal denken, dann ist es wohl ein Gemisch aus dem, was Ihr Anteil ist und was möglicherweise bei Maximilian eine psychische Erkrankung war, die auch … A: … Das ist jetzt Gottes Anteil. Jetzt kommen wir zu Gottes Anteil, den ich natürlich nicht zu verantworten habe. Er hatte eine psychische Erkrankung, er hatte eine bipolare Störung, und seine Gene habe ich ihm nicht gemacht. Das ist Gottes Beitrag. Die Bipolarität in seinen Genen habe ich ihm nicht gemacht. Ich habe sie vielleicht im Sinne der Epigenetik angeschaltet, das wohl, aber die Genetik hat ihm Gott gegeben. F: Das werfen Sie Gott vor und sich selbst den anderen Anteil. Im Grunde sind es zwei Schuldige, Gott und Sie. A: Ja, Gott und ich. Wir zwei. F: Und was haben Sie jetzt für Möglichkeiten, um mit dieser Situation fertigzuwerden? A: In dem Buch »Die Hütte«, das auch verfilmt worden ist, treten drei Personen auf, die sich als die drei Personen des dreieinigen Gottes herausstellen: Der Vater erscheint als fürsorgliche Afroamerikanerin, Jesus Christus als indisch wirkender Handwerker, der Geist als asiatische Frau mit Namen Sarayu (»Wind«). Aus diesem Film ist mir der Satz hängen geblieben, ein göttlicher Satz: »Versuche einfach nur, zunächst einmal das Wort zu sagen: ›Ich verzeihe‹!« F: Verzeihung. A: Nur dieses Wort. Das ist der erste Schritt.

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F: Solch ein erster Schritt ist die Vaterunser-Bitte: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!« Sie sehen es so: Es gibt die Schuld Gottes und Ihre eigene Schuld. Nun ist in den meisten religiösen Traditionen Gott derjenige, der verzeiht, und dann können auch wir uns selbst und den Mitmenschen verzeihen. Jetzt sagen Sie: Ich habe Schuld auf mich geladen. Die Sühne ist angemessen und das durchleide ich jetzt, aber andererseits ist Gott ja auch schuldig. Wenn ich diesen Gedanken weiterdenke, dann braucht Gott auch eine Verzeihung. A: Spontan kann ich nur sagen: »Hättest du mich nicht auch anders auf den rechten Weg bringen können? Musste das so sein? Es war sicherlich nötig, mich auf den rechten Weg zu bringen, das war richtig und gut, aber muss das ausgerechnet so sein zu seinen Lasten?« F: Sie haben ja auch die feste Überzeugung, dass Gott eine pädagogische Strategie verfolgt, eine bekehrende Strategie. A: Ja. F: An diesem Suizid ist so vieles dunkel und unerklärlich. Die Schuld quält Sie einerseits, andererseits hilft Sie Ihnen vielleicht auch im Sinne der »Just World«-Theorie (Lerner u. Miller, 1978), dass Sie sich das Schreckliche irgendwie erklären. Sie sagen sich: Okay, ich habe Schuld an Maximilians Tod, deshalb muss ich büßen. Aber Gott hat das auch nicht so prima gemacht, er hat einen riesigen Kollateralschaden verursacht. A: Ja, genau. F: Was so schwer auszuhalten ist: dass es bei diesem Tod durch Suizid etwas gibt, was wir nicht erklären können, weder durch die Transmitter noch durch den Liebeskummer noch durch die Psychodynamik. Aufgrund Ihres christlichen Hintergrundes und der Art, wie Sie Gott sehen, kommt eine neue Dimension hinzu, über die wir jetzt sprechen. Was Ihnen zu denken gibt, ist jetzt: Vielleicht braucht Gott ja auch eine Verzeihung, meine Verzeihung. A: Das ist ein revolutionärer Gedanke, den Sie da ansprechen. Der ist so gewaltig, weil es ja eine totale Verkehrung ist, dass das Kind dem Vater verzeiht. Es ist verrückt: Maximilian sah sich als der barmherzige Vater des Evangeliums (Lk 15, 11–32). Ich

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wollte nicht, dass er meine Ex-Frau zu seiner Abiturfeier einlädt, ich wollte nicht mit ihr am Tisch sitzen. Wie der ältere Sohn im Evangelium habe ich ihm gesagt: Ich habe mich ein Leben lang für dich eingesetzt. Ich war Tag und Nacht da. Ich habe all mein Leben, jede Faser von mir für dich gegeben und eingesetzt, und deine Mutter hat nichts getan. Und die soll jetzt mit am Tisch sitzen … F: … In dieser biblischen Geschichte geht es ja schon um Verzeihung, Versöhnung usw. Dass der Vater den »verlorenen« Sohn in die Arme schließt, aber auch zum zornigen älteren Sohn hinausgeht. Maximilian weist Ihnen diese Rolle des älteren Sohnes zu, und Sie finden das ja auch irgendwie stimmig. A: Ja. F: Durch seinen Suizid ist diese Versöhnung nicht geglückt, und Sie stecken in diesem Prozess von – wie Sie sagen – Reue, Umkehr, Läuterung. Welche Möglichkeiten sehen Sie für Ihre eigene Entwicklung? A: Ich sehe vor allem meinen Beruf. Ich versuche, meinen Beruf seriös, gut auszuüben mit den Möglichkeiten, die sich jetzt heute ergeben. Ich bin Psychoanalytiker, ich kann meinen Beruf und von daher bin ich dazu in der Lage, Gutes zu tun. F: In der Psychoanalyse ist ja über weite Strecken der Begriff »Schuld« durch »Schuldgefühle« ersetzt worden. A: Das teile ich nicht, auch in meinen Therapien nicht. Bei der Negierung von Schuld kann ich nicht mitmachen Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Es gibt Schuld und es gibt Schuldgefühle. Es gibt beides.

Kommentar Gabriele Stotz-Ingenlath

Beim Gespräch zwischen F und A liegen mehrfache Verschrän­ kungen vor: Ein Psychiater und Psychoanalytiker reflektiert eine eigene Symptomatik mit Fachmannsblick und doch in Betroffenheit mit einem Gesprächspartner, der ebenfalls Psychiater und Psychoanalytiker ist. Beide Dialogpartner sind gläubig und theo-

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logisch versiert, zwischen Klient und Therapeut besteht also eine gute »Passung«. Sie können die medizinisch-psychiatrische und die psychotherapeutische Ebene deshalb gemeinsam verlassen und die psychopathologischen Symptome auch noch aus theologischer Perspektive, also von einer metaphysischen Metaebene aus betrachten. Es bleibt zu hoffen, dass diese intellektuelle Annäherung auch in die Sphäre der Emotionen sickert und bei der Bewältigung des ausgeprägten Schuldgefühls therapeutisch hilfreich ist. Aus psychiatrischer Perspektive liegt bei A eine Traumafolgestörung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsbzw. Anpassungsstörung vor. Er leidet nach dem harten Eisenbahn-Suizid seines Sohnes unter Flashbacks, Grübelneigung, ausgeprägten Schuldgefühlen, Schlafstörungen, Antriebs- und Energieverlust, also auch an Symptomen einer depressiven Störung. Aus psychotherapeutischer Perspektive lässt sich im aufge­ zeichneten Gespräch eine Psychodynamik der Schuldgefühle eruieren. A schildert an sich Jähzorn, Aggressivität, Sturheit in der Durchsetzung von Zielen, also eine eher rigide Persönlichkeitsstruktur, die ihn beruflich erfolgreich werden ließ. Gegenüber Schwächeren, wie seinem jungen Sohn, wollte er seine eigene Kraft beweisen. So schlug er sein Kind mehrfach, bis es zu Boden fiel oder sich wie ein Opfer hinwarf. Seine Ehe scheiterte und er erzog seinen Sohn allein, wie er sagt. Der Sohn, schwächer und weicher als er, resignierter, nachgiebiger und mit einer Veranlagung zur Depressivität, unterwarf sich, es blieb ihm nichts anderes übrig. Aber dann legte just dieser Sohn sich auf grausam-mutige Art vor einen Zug, was ihm, dem Vater, neben dem Schauer auch Bewunderung abnötigte. Ein derartiger Mut, den Zug anrollen zu hören und zu spüren und auszuhalten, sich dem Tod zu stellen! Der Sohn starb einen selbst gewählten Opfertod. Da war Liebeskummer (durch Zurückweisung?), die Krankheit Depression, da war aber auch seine Werdensgeschichte: die Demütigungen, die Schläge, die Ablehnung seiner Wesensart durch den Vater und nun auch noch durch die geliebte Person, was ihn zum alten Muster des Sichhinwerfens und Sichunterwerfens verleitete.

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A fühlt sich an dieser Reaktionsweise seines Sohnes schuldig; wegen der früheren Misshandlungen durch ihn, den Vater, habe dieser sich vom Zug überrollen lassen. Damit maßt er sich eine große Macht über den Sohn und einen großen Einfluss auf dessen Lebensentscheidungen an, als wäre der Suizid des Sohnes sein Werk! Er leidet unter Schuldgefühlen, in denen er aber doch eine Dominanz über den Sohn und dessen Leben voraussetzt. In der Schuld und im »stolzen« Schuldgefühl wird die eigene Urheberschaft bewusst (Nicolai Hartmann, Ethik, 1925). Dieser Macht muss er, der Durchsetzungs-Obsessive, der Karriere gemacht hat, sich vergewissern in dem Moment, in dem er sich seines Scheiterns in Ehe, Familie, Erziehung und Nächstenliebe bewusst wird. Aus theologischer Perspektive geht es um das menschheitliche Problem der Theodizee, also um die Frage, wie Gott so viel Leid zulassen kann; um das Leid als »Fels des Atheismus« – wie Georg Büchner es formuliert (in »Dantons Tod, III. Akt, 1. Szene)«. A wurde hart getroffen durch den Suizid seines Sohnes; er fällt in radikale Glaubenszweifel: Gott entziehe sich ihm, sei nicht mehr spürbar, vielleicht sei nach dem Tod alles aus. Andererseits empfindet er diese »Fegefeuerqualen«, die er im Gefühl der Schuld am Tod des Sohnes erleidet, als gerechte Strafe eines existierenden Gottes, mit dem er sprechen, hadern, ringen kann. Warum musste der Sohn sterben? Dass es zwei Schuldige gibt, Gott und A, formuliert der Theologe F wohl provokativ. Kann Gott überhaupt schuldig sein? Die intellektuelle Erklärung, sein Sohn habe unschuldig sterben müssen, damit er, A, bestraft und aufgerüttelt würde, reicht sicher nicht hin. In ihrer hybriden Selbstbezogenheit führt sie letztlich zum verzweifelten Gefühl der Gottferne. Gott entzieht sich menschlich rationaler Deutung. Aber es geht A letztlich um die Bewältigung seines tiefen Schuldgefühls vor der vertikalen Beurteilungsinstanz Gottes, dessen Existenz er in all seiner Zerknirschung doch spürt. A ist sich durchaus einer Schuld als Entität, als einer Größe, bewusst, die mit seinem Schuldgefühl korreliert. Kann man Gott verzeihen? Ein »gewaltiger Gedanke« – wie A ja auch anmerkt. Wer verzeiht, steht durch das Verzeihen über oder zumindest auf einer Ebene mit demjenigen, der ein Unrecht getan

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hat. Dass Gott A’s Sohn sterben ließ, um A zu strafen, erscheint A als Unrecht, als Schuld Gottes an seinem Sohn. Die von F nahegelegte Idee, A könne versuchen, Gott zu verzeihen, hebt A auf einmal wieder in eine Ebene, in der er sich wohlfühlt, die Ebene der Macht – sogar Gott gegenüber. Kein Wunder, dass sie ihm gefällt, ihm interessant erscheint. Aber ob sie eine heilsame und adäquate Form der Verarbeitung seines Schuldgefühls ist? Letztlich war das Machtmuster (Wer ist wie Gott?) in seinem Leben dysfunktional. Seine Schuld will A allzu beredt auf sich nehmen, was bei all seiner selbstanklagenden Schuldanerkenntnis eine gewisse Demut Gott gegenüber vermissen lässt. In der Identifikation mit dem Sohn wird er selbst zum Opfer seiner Schuldgefühle, da wird Gott zum rächenden, strafenden Täter an ihm. Die Vater-Sohn-Beziehung und der Opfertod des Sohnes führen theologisch zu vielen Assoziationen. Gottvater gab den eigenen Sohn dahin. Der barmherzige Vater des Evangeliums verzeiht dem verlorenen Sohn. Bei A geht es darum, dass das Kind dem Vater verzeiht. Wie A Gott »verzeiht«, könnte auch der Sohn A verzeihen, wonach sich A im tiefsten Inneren sehnt. Die tiefe Schuld, die A in sich fühlt, in seinem helfenden Beruf wiedergutzumachen, reicht für ihn nicht hin. Der spirituelle Gedanke der Verzeihung und Versöhnung auf den verschiedenen Vater-Sohn-Achsen mag für A essenziell hilfreich sein, um weiterleben zu können. So wird in diesem Fall eine theologische Annäherung im Dialog therapeutisch wirksam.

Dank für den Kommentar Eckhard Frick

Es ist hilfreich, dass der Kommentar die verschiedenen Ebenen des Dialogs aufzeigt (psychiatrisch, psychoanalytisch, theologisch-seelsorglich  …) und die Passung zwischen den Gesprächspartnern hervorhebt. Durch diese Passung kommen Dimensionen ins Spiel, die in der üblichen Psychotherapie-Routine meist ausgeblendet bleiben. Andererseits beinhaltet die theologisch-metaphysische Diskussion mit Herrn A auch die Gefahr einer gemeinsamen Abwehr,

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insbesondere durch Intellektualisierung. Traumatische Erfahrungen und die Not mit der Schuld werden in theologischen Begriffen »schonungslos« thematisiert, wobei möglicherweise leisere Gefühle wie Scham und Unsicherheit übersprungen werden. Einfühlsam wird die Hoffnung formuliert, »dass diese intellektuelle Annäherung auch in die Sphäre der Emotionen sickert und bei der Bewältigung des ausgeprägten Schuldgefühls therapeutisch hilfreich ist«, und damit der Wunsch ausgedrückt, der Dialog mit Herrn A möge für ihn selbst fruchtbar werden. Literatur Hartmann, N. (1925). Ethik, Berlin u. Leipzig: de Gruyer. Lerner, M. J., Miller, D. T. (1978). Just world research and the attribution process: Looking back and ahead. Psychological Bulletin, 85, 1030–1051.

4  Weiße Königin Gabriele Stotz-Ingenlath

Unsicher wirkt ihr Blick immer noch, wenn sie aufsieht im Aufenthaltsraum der Klinik. Die 22-jährige Frau sitzt neben einer jungen Mitpatientin und sieht sich in einem Katalog Wohnzimmermöbel an, plant sie doch, bald in eine WG einzuziehen. Es ist Sommer, aber sie trägt ein langärmliges schwarzes T-Shirt, um die unzähligen Male der Selbstverletzung an den Unterarmen zu verdecken. Die kurzen Haare sind fast weiß wie Schnee, die Kleidung, das Piercing, die Stiefel schwarz wie Ebenholz. Gedankenverloren betrachtet sie den Verband am Handgelenk, durch den rotes Blut sickert. Sie ist bereits das vierte Mal wegen ihrer »Borderline-Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus« in stationärer psychiatrischer Behandlung, weil das selbstverletzende Verhalten zu stark wurde und nicht mehr ambulant zu behandeln war. Sie kommt aus einem gut situierten Elternhaus. Als sie zwei Jahre alt war, starben ihr älterer Bruder und ihr Vater im gleichen Jahr. Ihre Mutter wurde depressiv und konnte sich emotional nur schwer um das Kind kümmern, zudem musste sie bald darauf wieder ganztags arbeiten, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. So kam die Patientin mit zwei Jahren in eine Kindertagesstätte. Schon früh begann sie, sich selbst zu verletzen, etwa in die Arme zu beißen. Wenn sie in einem Spiel verlor, konnte sie aus Wut das ganze Zimmer verwüsten. Im Alter von 16 Jahren schnitt sie sich nahezu täglich an Oberschenkeln und Unterarmen, weil sich nur so die unerträgliche Spannung, die sie in sich spürte, für kurze Zeit löste. Sie gibt im Gespräch an, unter sich selbst zu leiden, seit sie denken könne. Schon in der Kindheit war sie von Schuldgefühlen geplagt,

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ihrer Mutter das Leben durch ihr Verhalten schwer zu machen. Aber sie könne einfach nicht anders, sie gebe diesen grässlichen, selbstzerstörerischen Impulsen so oft kampflos nach. Sie könne sich der Spirale der Anspannung einfach nicht entziehen, das Böse ziehe sie an wie ein Sog. Seit einigen Jahren hat sie Kontakte zur Gothic-Szene. Sie schätze die Dunkelheit und das Dunkle, Satanische und seine Einflüsse. Wir Menschen seien seelenlose Schattenwesen, die von der Dunkelheit geboren wurden, nicht von Menschen. Glück und Liebe seien nur eine Illusion, die eine andere Macht in uns eingepflanzt habe. In ihr wirke eine dunkle Frau, eine Königin der Dunkelheit, die ihre Seele ergriffen habe und beschütze. Sie führe sie zum Schmerz, zur Selbstverletzung, um sie zur wahren Natur zurückzuführen. Als Gegenmacht trete immer eine »weiße Königin« auf, die ihr eingebe, sie sei psychisch krank, die ihr bei den Selbstverletzungsimpulsen immer entgegenhalte: »Wende Skills an! Laufe, dusche kalt, rauche, aber schneide dich nicht!« Meist lasse sie sich aber von ihrer wahren dunklen Natur und den Forderungen der dunklen Königin leiten. Die Patientin befindet sich bereits drei Monate teilstationär in einem intensiven verhaltenstherapeutischen Programm (DBT  – Dialektisch-Behaviorale Therapie) und lernt allmählich, Selbstverletzungsimpulsen nicht nachzugeben. Differenzialdiagnostisch wurde immer wieder der Verdacht auf eine psychotische Störung geäußert, die sich jedoch nie klar bestätigen ließ. Die Vorstellungen aus der Gothic-Szene bestehen weiterhin auch unter hoch dosierter antipsychotischer Therapie, obwohl die Patientin mit immer größerem inneren Abstand davon erzählt. Sie bezeichnet diese »dunklen Überzeugungen« als ihren Glauben, als ihre »Bibel«. In der Psychotherapie werden die fraglichen Wahnvorstellungen oder dunklen Glaubensideologien nicht mehr thematisiert, der Realitätsbezug wird durch die Klärung der Ausbildungssituation und die Organisation einer eigenen Wohnung immer wieder hergestellt, was für die Patientin eine Bestätigung ihrer Alltagsfähigkeit bedeutet. Durch die Kontakte mit jungen Mitpatientinnen und gemeinsame Unternehmungen übt sie einen »normalen« Alltag ein. Kontakte zur Gothic-Szene hat sie derzeit abgebrochen. Die anderen Bewohner der WG haben sie akzeptiert; es sind Studenten verschiedener Fachrichtungen, die alle nicht der Gothic-Szene angehören. Die Patientin

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wartet nun darauf, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Am liebsten würde sie – wenn sie ihr Abitur nachgeholt hat – Innenarchitektur studieren, denn das Einrichten von Wohnungen mache ihr viel Freude. Den neuen Mitbewohnern hat sie schon vorgeschlagen, die Wände in zarten Pastellfarben zu streichen und das gemeinsame Wohnzimmer für alle wohnlich zu gestalten. Die anderen lassen sie gewähren und freuen sich schon auf das Ergebnis. Ein Feng-Shui-Buch mit Einrichtungstipps haben sie ihr schon gekauft.

Kommentar Michael Utsch

Die junge Patientin hat ein schweres Schicksal zu meistern. Im frühen Alter von zwei Jahren starben ihr älterer Bruder und ihr Vater. Ihre Mutter reagierte auf diese existenzielle Lebenskrise mit schweren Depressionen und konnte den mütterlichen Versorgungsaufgaben nicht mehr nachkommen. Anstelle eines stabilen Familiensystems steht der Patientin nur eine Kindertagesstätte als emotionaler Bezugsrahmen zu Verfügung. Die Mutter erscheint vor allem mit sich selbst, ihrer Trauer und dem Broterwerb beschäftigt zu sein, ohne ihr Kleinkind angemessen versorgen zu können. Das Kind kann in dieser emotionalen Mangellage vermutliche keine Halt gebenden und tröstenden Beziehungserfahrungen machen und damit kein stabiles Selbst entwickeln. Die Patientin berichtet von Schuldgefühlen seit Kindheitstagen – sie leide unter sich selbst. Was genau sie an sich ablehnt, was es ihr so schwer macht, sich wohl in ihrer Haut zu fühlen, ob es auch Momente der Entspannung, Zufriedenheit und des Glücks in ihrem Alltag gebe und wie sie beschaffen sein müssten oder herbeigeführt werden können, wäre wichtig zu wissen und könnte schon ein Weg weisen in die einzuschlagende Richtung der therapeutischen Behandlung. In der psychoanalytischen Theorie wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) mit einem mangelnden Aufbau innerer Objektbeziehungen erklärt. Die vielen frühkindlichen Mangelerfahrungen der Patientin von nicht erfüllten Versorgungs- und

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Beziehungserwartungen haben den Aufbau eines stabilen Selbstbildes verhindert. Auf der Grundlage dieses fragilen Selbst ist die Patientin nicht in der Lage, berechtigte Wünsche nach Zuwendung einzufordern und ihre mangelnde emotionale Versorgung in ihrer Kindheit zu beklagen. Anstelle dieser natürlichen Protestreaktion sucht sie die Schuld bei sich selbst. Sie wird von Schuldgefühlen geplagt aufgrund der irrigen Überzeugung, ihre Familie würde durch ihr Dasein schwer belastet. Mangels innerer Stabilität kann sie nicht für die eigene Versorgung kämpfen, sondern wendet alle Enttäuschung und Aggression gegen sich selbst. Mit Abwehrmechanismen der Spaltung baut sie sich ein polares Weltbild auf, um in dieser schlechten emotionalen Versorgungslage überleben zu können. In der Gothic-Szene findet sie ein Lebensgefühl, das ihrer Gefühlslage von Dunkelheit, Bedrückung und Schmerz gut entspricht. Sie erlebt sich im Einflussbereich einer machtvollen »dunklen Königin«, von der selbstzerstörerische Impulse ausgehen. Die destruktive Energie entlädt sich regelmäßig in aggressivem Verhalten (Zerstörung von Gegenständen) und Ritzen der Oberschenkel und Unterarme. Allerdings taucht immer wieder eine »weiße Königin« als Symbol des Realitätsprinzips auf, die jedoch im Kampf mit der dunklen Macht meistens unterliege. Völlig angemessen erscheint die Behandlung mit dem verhaltenstherapeutischen Programm der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), das sich in der Behandlung von Borderline-­ Persönlichkeitsstörungen etabliert hat (Linehan, 1996; ­Stiglmayr, 2017). Inzwischen haben auch manualisierte Methoden mit psychodynamischem Hintergrund ihre Wirksamkeit bei der BPS erwiesen (Boessmann u. Remmers, 2016, S. 47 ff.). In der DBT werden die Patientinnen und Patienten in Achtsamkeit, Emotionsregulation, Stresstoleranz und interpersonellen Fähigkeiten unterwiesen. Bei der Patientin kommt unterstützend hinzu, dass in der Psychotherapie konkrete Alltagsfragen der Ausbildungssituation und Lebensorganisation – etwa der Umzug in eine Wohngemeinschaft – thematisiert werden. Im praktischen Realitätsbezug können konkrete Fähigkeiten des Umgangs mit negativen Gefühlen und Ängsten sowie Kommunikationsfertigkeiten reflektiert und eingeübt werden.

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Das Positionspapier der DGPPN-Taskforce zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität führt in seiner vierten Empfehlung aus, dass differenzierende Interventionen nötig sind, wenn Grenzverletzungen aus religiösen bzw. spirituellen Motiven vorliegen (Utsch et al., 2017, S. 144). Fanatischen oder fundamentalistischen Formen des Glaubens ist zu widersprechen, wenn sie missbräuchlich die Grenzen einer Anhängerin des Glaubens überschreiten. Im vorliegenden Fall erscheint es aus therapeutischer Sicht klug, in der Behandlung die dunklen Glaubensideologien der Gothic-­ Szene nicht weiter zu thematisieren, von der sich die Patientin angezogen fühlt. Solange sie sich im »Strudel des Bösen« erlebt und unbewussten Spaltungsprozessen unterliegt, ist eine rationale Aufarbeitung nicht möglich. Viel zielführender sind die Stärkung des Realitätskontakts und konkrete Pläne der Lebensgestaltung wie etwa die Einrichtung der neuen Wohnung. Damit verflüchtigen sich die Probleme mit einer angeblich bösen Macht. Die düstere Lebensperspektive der Gothic-Szene wird durch praktische Lebensklugheit ersetzt, wodurch die Herausforderungen des Alltags konstruktiv und zielführend gemeistert werden können. Literatur Boessmann, U., Remmers, A. (2016). Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten Richtlinientherapie. Berlin: Deutscher Psychologen Verlag. Linehan, M. (1996). Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. Stiglmayr, C. (2017). Die Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-­ Persönlichkeitsstörung. PSYCH up2date, 11 (2), 151–164. Utsch, M., Anderssen-Reuster, U., Frick, E., Murken, S., Schouler-Ocak, M., Stotz-Ingenlath, G. (2017). Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in der Psychotherapie. Spiritual Care, 6 (1), 141–146.

5 Ashramverbot Gabriele Stotz-Ingenlath

Ratlos sitzt der augenärztliche Kollege in der psychiatrischen Ambulanz und berichtet von seiner 19-jährigen Tochter. Es sei ihm klar, dass die Jugendliche akut aufgenommen werden müsse, wahrscheinlich auf eine geschlossene Station. Sie weigere sich jedoch heftig und habe keinerlei Krankheitseinsicht. Am Vortag seien sie beide wieder in Deutschland gelandet: Er habe seine Tochter aus Indien zurückgeholt, heim, zur Familie, nach Deutschland. Gleich nach dem sehr gut bestandenen Abitur sei sie mit dem Rucksack nach Indien aufgebrochen, »um zu sich zu kommen« und nachzudenken, was sie später studieren wolle. Sie reiste allein, habe in den ersten vier Wochen noch ab und zu eine Nachricht an die Eltern gesandt, in der letzten Mail vor etwa fünf Monaten habe sie dann mitgeteilt, dass sie in einem Ashram angekommen sei, dort von einem jungen Mönch angeleitet werde und spirituelle Erfahrungen mache. Sie wolle die Bande nach zu Hause nun lösen und sich ganz dem Gebet und der Meditation in der Gemeinschaft hingeben. Nach Europa wolle sie nicht mehr zurückkehren. Etwa zwei Wochen vor der Aufnahme erhielten die Eltern einen Anruf eines gebrochen Englisch sprechenden »geistlichen Führers«, sie mögen ihre Tochter abholen, da sie nicht mehr tragbar für die Gemeinschaft sei. Sie halluziniere, rede wirr, verlaufe sich, wasche sich nicht mehr, schreie, weine oder lache oft verstört. Der Vater flog sofort nach Indien zur angegebenen Adresse. Er bekam seine floride psychotische Tochter, die außer sich war und sich mit Händen und Füßen wehrte, nur ins Flugzeug, nachdem er ihr Beruhigungsmittel unter die Zunge

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gedrückt hatte, was ihm emotional sehr naheging. Vor Ort habe er sich noch kurz ein Bild machen können von der Gemeinschaft, in der seine Tochter einige Monate gelebt hatte: Es wurden dort wohl täglich Drogen konsumiert, vor allem geraucht, die Mitglieder kultivierten ein promiskuitives Verhalten, wobei seine Tochter vor allem mit einem jungen Mann zusammengelebt habe, der insgesamt einen noch realitätsnahen, vernünftigen Eindruck machte und ihren Zustand auch als krankhaft erkannt habe. Beim Erstgespräch auf der Station sahen wir eine abgemagerte, misstrauische, halluzinierende junge Frau, die von Engeln und Satan, aber auch von einem verlorengegangenen Ich sprach, das sie dem »All-Einen« hingegeben habe. Sie sei beeinflusst von Geistern und von Shiwa, der sie zerstören wolle, um sie zu retten. Es bestanden psychopathologische Symptome wie Gedankenlautwerden, Verfolgungsideen und eine ausgeprägte Affektlabilität mit Angstzuständen. Cannabinoide waren im Urin in hoher Konzentration noch nachweisbar. Unter antipsychotischer und angstlösender medikamentöser Behandlung wurde die Patientin deutlich ruhiger, begann auch wieder zu essen und bemühte sich, einen neuen Bezug zur Realität zu erlangen. Es bestanden noch große Erinnerungslücken, sie konnte aber nach und nach wieder Alltagsfähigkeiten entwickeln. Ausgeprägt vorhanden blieben eine metaphysische Verunsicherung und Unruhe. Sie konnte erzählen, dass sie bereits einige Monate vor dem Abitur »einen Sog« empfunden habe hin zu einer Allmacht, einer Geborgenheit in einem Gott oder dem Nichts. Sie habe überlegt, in einen Orden einzutreten, weil sie in der Nähe ihrer Schule in einem Kloster eine so friedvolle Atmosphäre erlebt habe. Zudem habe sie sich damals schon vermehrt mit Religion beschäftigt, auch mit anderen Religionen, wovon der Buddhismus sie besonders angezogen habe wegen seiner »Achtung vor allem Lebendigen«. Um neben ihrer eigenen christlichen »Hintergrund-Religiosität« buddhistische, vielleicht auch hinduistische Glaubensformen zu erleben, sei sie nach Indien gereist. Die Patientin berichtete, sie habe sich in Indien in einen »Mönch« verliebt, der in einer Art Kloster lebte. Er habe sie dorthin mitgenommen, man habe täglich geraucht und meditiert in der heißen Atmosphäre Südindiens, habe getrommelt und getanzt,

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Shiwa gehuldigt und sich eng aneinander geschmiegt, anfangs habe sie sich glücklich und »wie in einer anderen Welt« gefühlt, dann sei dieses Gefühl aber umgeschlagen in furchtbare Angst, sie habe die anderen nicht mehr ertragen, Shiwa sei groß und feuerlodernd auf sie zugegangen, sie sei weggelaufen, er verfolge sie immer noch – gleichzeitig kämpften Engel um sie und sie gehöre beiden, Shiwa und Gott, zittere innerlich und habe eigentlich kein Ich, denn das habe sich in Indien aufgelöst. Bei dieser Patientin wird erst der Verlauf zeigen, wie die Be­schäf­ tigung mit spirituellen Themen einzuordnen ist: als Bestandteil einer wahnhaften, möglicherweise drogeninduzierten oder aber auch schizophrenen Störung oder als religiöse Suche eines jungen Menschen, die gestört wurde durch die Wirkung psychoaktiver Drogen. Im Moment ist sie Patientin einer psychiatrischen Klinik und wird ausschließlich mit psychiatrischen Methoden behandelt – und bis zur weiteren Stabilisierung sogar vor einer erneuten Exposition/ Begegnung mit religiösen Einflüssen bewahrt. Vorgegeben ist: kein Kontakt mit der indischen religiösen Gemeinschaft, keine Bücher spirituell-esoterischen Inhalts, keine Meditationsübungen, keine Räucherkerzen.

Kommentar Norbert Mönter

Vorgeschichte, Entstehungsdynamik und klinisches Bild der 19-jährigen Patientin stehen geradezu prototypisch für zahlreiche junge Patientinnen und Patienten der 1980er und 1990er Jahre, deren Erkrankung sich im Kontext der New-Age-Kultur wiederfindet, die sich – ausgehend von Kalifornien Ende der 1960er Jahre – auch in Europa und in Berlin vorrangig in studentischem Milieu etablieren konnte. Diese mittlerweile deutlich abgeklungene Bewegung war/ist zum Teil innerhalb der sogenannten neuen sozialen bzw. alternativen Bewegungen integriert und somit Folge der 68er-Studentenbewegung. Stark verkürzt gesagt, wird von ihr als Grundidee ein »neues Zeitalter« der Menschheitsentwicklung postuliert, als

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deren wesentliche Basis Gewaltlosigkeit und eine Bewusstseinsveränderung anzusehen sind. Es geht um ein neues Verständnis der kosmischen Ordnung, was für sogenannte Heilsreligionen typisch ist. Für die Ordnung und Veränderung des Bewusstseins dienten/dienen stark spirituell-meditativ ausgerichtete Religionen als besonders geeignete Lebensorientierung. Hinduismus und Buddhismus sowie neu entworfene Mischkonzepte, die beispielsweise auch christliches Gedankengut mit aufnehmen, sind hier an erster Stelle zu nennen. Diese Misch- oder auch Patchworkkonzepte variieren je nach persönlicher Ausgestaltung durch den jeweiligen Guru. Und welcher speziellen Orientierung bzw. Gruppe sich jemand anschloss, war eher zufälligen persönlichen Gegebenheiten geschuldet. Die für die Patientin angeschnittene differenzialdiagnostische Überlegung, inwieweit Drogen-, hier speziell Cannabiskonsum, auslösend oder auch als subjektiver Heilungsversuch zu werten ist, gehört seit vielen Jahrzehnten in großstädtischer Situation bei der Diagnostik vieler junger Menschen, die erstmals eine psychotische Episode durchleben, zu den typischen Fragestellungen; sie kann hier aber nicht weiter vertieft werden. Bei einer Fallbesprechung unter Psychiatern oder Psychotherapeuten wären an dieser Stelle schon viele Fragen an die Referentin unterwegs: Fragen nach weiteren Informationen zur frühkindlichen Entwicklung, zur Persönlichkeit des Vaters sowie der Mutter und deren Verhalten, auch zur Schulzeit der Patientin und was konkret passierte im Ashram in Indien. Zugunsten einer Fokussierung auf die religiösen Aspekte werden sie aber hier bewusst zurückgestellt. So ist bei der Patientin eine besondere, bereits prämorbide bestehende Affinität zu spirituellen Themen und Glaubensfragen zu konstatieren, und dies ist therapeutisch und prognostisch von besonderer Relevanz. Hilfreich bei der Frage, warum ein einzelner Mensch sich religiösem Glauben zuwendet, ist eine Unterscheidung, wie sie Wolfram Kurz – ein führender Vertreter der Frankl’schen Logotherapie und Existenzanalyse – formuliert hat: Danach sind im Prinzip eine existenzielle und eine schicksalsorientierte Ebene zu unterscheiden.

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Die existenzielle Problematik berührt die Zielorientiertheit, die Absichtsorientierung, die Intentionalität der menschlichen Psyche. Verkürzt gesagt: Der Mensch ist ein ziel- und sinnorientiertes Wesen, und der zentrale Beweggrund seines Lebens ist der Wille zum Sinn: Sinngeben angesichts der Endlichkeit unseres Lebens, der Unendlichkeit von Raum und Zeit, Sinngeben angesichts offener Fragen nach dem Woher und Wohin, angesichts des Elends in der Welt und des Bewusstseins vom Ausgeliefertsein menschlichen Daseins. Dass die Menschen in ihren vielfältigen Kulturen und Traditionen unterschiedliche Sinndeutungen formulieren, dass es religiöse und nichtreligiöse Antworten, vor allem aber keine absolute Antwort gibt, ist offenkundig. Im Gegensatz zu der existenziellen Problematik, mit der jeder Mensch konfrontiert ist, hat die schicksalsbezogene Problematik in der Unterscheidung von Wolfram Kurz (2005) einen exklusiven Charakter. Hier geht es um Krankheit, Behinderung, um Heimatlosigkeit und ungewollte Einsamkeit, um Kriegsfolgen, tragische Schuldverstrickungen und anderes mehr. Die Biografie der geschilderten Patientin führt psychiatrisch gesehen vor Augen, dass auch bei ihr eine schicksalsorientierte Problematik im geschilderten Sinne ihrer Reise, um »zu sich zu kommen«, und ihrer Frage nach ihrem Glauben zugrunde liegen könnte. Wir wissen heute, dass einer akuten schizophrenen Psychose – also ihrer ersten Manifestation!  – nicht nur Monate, sondern fünf bis sieben Jahre vorausgehen können, in denen sich bereits gravierende Persönlichkeitsveränderungen einstellen. Zu diesen prodromal genannten Persönlichkeitsveränderungen gehören: depressive Symptome, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnismängel und mehr oder weniger rasch fortschreitende Leistungsminderungen in Schule und Beruf. Und, was für unsere Betrachtung besonders wichtig ist: Betroffene Menschen versuchen, diesen sich einstellenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken, versuchen natürlich auch, Erklärungen und Orientierung zu finden für das, was sich so unerklärlich in das eigene Leben einschiebt. Nur wenige finden in dieser Phase den Weg zum Psychiater, viele experimentieren mit Drogen … und ein verstärktes religiöses Interesse kann uns in dieser Situation

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überhaupt nicht verwundern, nach psychiatrischer Erfahrung ist es häufig. Was bedeuten diese Überlegungen für prognostische Überlegungen und für die Behandlung? Bei einer erstmaligen psychotischen Episode ist die Prognose – wie auch die behandelnde Psychiaterin schreibt – offen. Angestrebt ist eine Genesung, verstanden als Recovery, bei der es unter anderem um den persönlichen Prozess der Selbstbestimmung (Empowerment) und Erlangung von Problemlösungskompetenz, soziale Integration und die Formulierung des subjektiven Lebenssinns geht. Die Spannweite bezüglich des weiteren Umgangs mit Religion und Spiritualität ist dabei beachtlich. Einige geraten bei der Zuwendung zu spezifischen Fragen nach Gott oder auch religiösen Betätigungen immer wieder in Zustände der Verstörung oder gar in Rezidivpsychosen; als notwendigen Schutz vor der eigenen hohen religiös-spirituellen Sensibilität praktizieren manche dann in der Folge bewusst eine komplette Abschottung. Diesem Aspekt entspricht auch das therapeutische Verbot hinsichtlich spiritueller Betätigungen und Accessoires, welches – das Einverständnis der Patientin voraussetzend – sich auf den weiteren Verlauf positiv auswirken sollte. Den Gegenpol bildet die »inneren Frieden« stiftende Hinwendung zur Religion, zu religiöser Betätigung und entsprechender sozialer Gemeinschaft/Gemeinde, die gleichfalls als subjektiv erfolgreiche Bewältigungsstrategie anzusehen ist. Dass in aller Regel eine langzeitige psychiatrische, zumeist auch psychopharmakologische Behandlung erforderlich ist, bleibt von diesem unterschiedlichen Umgang mit der eigenen Religion unbenommen. Wichtig für den Therapeuten, für die Therapeutin ist allerdings, das persönliche religiöse Thema und die damit verbundene Gedanken- und Gefühlswelt ernst zu nehmen. Nur so erfährt der Patient, die Patientin die angemessene Hilfestellung bei der Suche nach dem individuellen Lebensweg mit der Erkrankung – mit oder auch ohne religiöse Orientierung oder spirituelle Betätigung.

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Literatur Klosinski, G. (1985). Warum Bhagwan? Auf der Suche nach Heimat, Geborgenheit und Liebe. München: Kösel. Kurz, W. (2005). Philosophie für helfende Berufe. Tübingen: Verlag Lebenskunst. Zinser, H. (2009). Esoterik. Eine Einführung. München: Fink.

6  Nicht schuld, sondern krank Gabriele Stotz-Ingenlath

Sie kommt aus einer kinderreichen italienischen Familie, war gern Lehrerin in ihrer italienischen Heimatstadt bis zu ihrer Heirat. Ihr Mann wurde nach Deutschland versetzt und so zogen sie vor vier Jahren nach Deutschland. Mittlerweile haben sie fünf Kinder, die im Abstand von jeweils etwa eineinhalb Jahren geboren wurden. Sie gehört zu einer streng katholischen Gemeinde. Man geht nicht zum Psychiater, sondern man betet oder tauscht sich in der Gemeinde über Verstimmungen aus. Psychiater redeten einem den Glauben aus. Die Idee, sich psychiatrisch-ärztlichen Rat zu holen, kam dann aber doch, und zwar von einem befreundeten Arzt, der zur Gemeinde gehört. Sie solle allerdings nur zu der Ärztin gehen, die er persönlich kenne und von der er wisse, dass sie auch religiös sei. Nur sie könne helfen, nur auf ihren Rat solle sie hören, auf keinen Psychologen und auch auf keinen anderen Doktor. So kommt die 32-Jährige in die Ambulanz, ziemlich verspätet, etwas nachlässig gekleidet, die dunklen Locken in der Stirn: Es gehe zu Hause drunter und drüber, die Kinder seien in der Schule und im Kindergarten bzw. noch bei ihr zu Hause. Sie spreche noch nicht gut Deutsch, habe kaum Freunde in Deutschland, nur in ihrer religiösen Gemeinschaft. Mit den Kindern helfe ihr niemand, ihre Familie sei weit weg. Ihr Mann mache ihr ständig Vorhaltungen, die Kinder nicht richtig zu erziehen, den Haushalt nicht ordentlich genug zu führen, sich gehen zu lassen. Dabei habe sie den ganzen Tag über Kopf- und Magenschmerzen, sei müde und erschöpft. Sie sei sich ja bewusst, an allem selbst schuld zu sein, in allem zu

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versagen. Sie habe ihrem Ehemann nichts zu ihrer Rechtfertigung zu entgegnen. Manchmal schaffe sie es nicht einmal, ein Mittagessen für die Kinder zu kochen und dafür einzukaufen. Jede Nacht wache sie mehrfach auf und habe quälende Gedanken, was sie alles nicht geschafft habe und für die Kinder noch organisieren müsse. Jetzt, da ihr Mann auch noch berufliche Schwierigkeiten habe und eine Versetzung angedacht sei, wisse sie überhaupt nicht mehr, was sie eigentlich wolle, ob sie wieder als Lehrerin arbeiten, ob man wieder nach Italien ziehen solle. In der Gemeinschaft mahne man immer, mehr zu beten, die momentanen Belastungen anzunehmen und mit Freude die täglichen Aufgaben zu bewältigen. Sie fühle manchmal geradezu eine Gottferne, könne einfach nicht mehr. Ihr Mann verstehe das nicht, es komme deshalb immer wieder zu zermürbendem Streit. Der Patientin wird erklärt, dass sie unter einer Erschöpfungsdepression leide und objektiv derzeit wirklich einer Überbelastung ausgesetzt sei, vielleicht eine Hilfe im Haushalt brauche und dass sie an ihrem Zustand nicht selbst schuld sei, sondern dass dies eine depressive Erkrankung sei, die sich aus der dauernden Erschöpfung entwickelt habe. Sie kann diese Erklärung nicht annehmen. Einer antidepressiven Medikation steht sie anfangs zwar skeptisch gegenüber, dann willigt sie jedoch achselzuckend ein. Die Stimmung bessert sich tatsächlich etwas, sie erscheint dann aber nur noch selten in der Ambulanz, bittet um Telefontermine, um bei den Kindern zu Hause bleiben zu können, sie habe keine Betreuung für die Zeit ihrer Abwesenheit. Nach etwa sechs Wochen Einnahme der Tabletten berichtet sie am Telefon, diese nun abgesetzt zu haben, da sie nicht ausschließen könne, wieder schwanger zu sein. Von der Überzeugung, es sei ihre Aufgabe, ununterbrochen an der Seite ihres Mannes den Haushalt zu führen und die Kinder zu versorgen, ist sie nicht abzubringen, sie kann sich keine Erholungspause gönnen. Psychotherapie lehnt sie weiterhin ab. Hilfreich allerdings ist für sie das Krankheitskonzept ihrer Probleme: Nicht selbst schuld an ihrem Versagen zu sein, sondern eine Krankheit zu haben, tröste sie und bewahre sie geradezu vor Verzweiflung. Vielleicht sei ihr Zustand nicht die Strafe für Gottferne, sondern Gott sei da und habe ihr eine Krankheit geschickt,

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die sie nun bewältigen müsse, die aber heilbar sei – was ihr in der Sprechstunde versichert wird und was sie auch gespürt habe durch die Einnahme der Tabletten. Eine leitliniengerechte Depressionsbehandlung ist bei den vorliegenden religiös bedingten Widerständen gegenüber Psychotherapie und Pharmakotherapie schwierig. Zudem sei Empfängnisverhütung für sie nie infrage gekommen und sie wolle nun, sollte sie tatsächlich wieder schwanger sein, durch die Einnahme von Medikamenten keine Gefährdung für ein ungeborenes Kind riskieren. Es wurden mehrere Angehörigengespräche mit dem Ehemann geführt. Er konnte akzeptieren, dass seine Frau an einer depressiven Störung leidet, die durch Überlastung ausgelöst wurde. Einer medizinischen Erklärung der Symptome ganz unabhängig von der Religiosität war er zugänglich. Nicht selbst schuld, sondern krank sei seine Frau, allerdings mit guter Prognose, sofern sie jetzt Ruhe, eine Hilfe im Haushalt und medikamentöse Therapie erhalte. Ein Schwangerschaftstest bei der Patientin war negativ, sodass die medikamentöse Behandlung wiederaufgenommen werden konnte. Eine Schwester zog zu ihr nach Deutschland und half in der Familie mit, sodass die Patientin mehr Freiräume für sich erhielt. Sie besuchte Deutschkurse und nahm mit Nachbarn Kontakt auf. Letztlich zog die ganze Familie wieder nach Italien zurück, die Patientin konnte ihre alte Stelle als Lehrerin in Teilzeit wiederbekommen, ihre Eltern und Schwiegereltern kümmern sich mit um die Kinder. Die Patientin und ihr Mann sind »Gott für diese Entwicklung und Wendung in ihrem Leben zutiefst dankbar«.

Kommentar Samuel Pfeifer

Was zuerst einmal aussieht wie eine normale Erschöpfungsdepression, erhält seine besondere Note durch die tiefe Religiosität der Patientin. Aufgewachsen in der italienischen Kultur ist der katholische Glaube für sie ein prägendes Element, in guten Zeiten sicher Quelle vieler tiefer Erfahrungen und guter Gefühle. Doch in der aktuellen Not scheint die Religion nicht zu tragen. Es kommt

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zu einer unheilvollen Amalgamierung von depressiven Schuldgefühlen mit religiösen Erwartungen, an denen sie zu scheitern droht. Allerdings  – ist dies ein Grund, Religion in der Therapie außen vor zu lassen? In der Fremdheitserfahrung der deutschen Umgebung ist die katholische Gemeinde für die Patientin der Ort, wo sie sich »daheim« fühlt. Religion wird damit viel mehr als ein Regelkanon, sondern ein soziokultureller Rahmen, der Geborgenheit und Gemeinschaft mit anderen Menschen gibt. Heimat sucht sie auch in der Behandlung – sie sucht bewusst eine Therapeutin auf, die ihre Werte und ihre Kultur respektiert. Dieses Phänomen ist aus der interkulturellen Psychotherapieforschung bekannt als »pathways to care« (Salize, Voß, Werner, ­Falkai u. Hauth, 2015). Die Menschen suchen Hilfe für psychische Probleme bei Anlaufstellen, die ihre Werte teilen. Dies bedeutet nicht, dass da nicht eine Offenheit für neue Perspektiven der Betrachtung der eigenen Probleme wäre. Aber sie erwarten Respekt für ihre Traditionen und für das Prägende ihres Lebens. Die hintergründige Angst, man könnte in der Psychotherapie »ihnen den Glauben ausreden«, hindert viele daran, Hilfe anzunehmen – nicht nur im christlichen Kontext, sondern beispielsweise auch bei islamischen Patientinnen und Patienten (Laabdallaoui u. Rüschoff, 2010; Stephan u. Utsch, 2017). Das Leiden der 32-jährigen Mutter von fünf Kindern ist erheblich: körperliche Beschwerden, Müdigkeit, Schlafstörungen, ständiges Grübeln, Reizbarkeit sowie die Unfähigkeit, den Kindern und dem Ehemann gerecht zu werden, verursachen zunehmend Schuldgefühle. In ihrem Umfeld, der Gemeinde, sieht man zwar das Leiden, doch die Bewältigungsmöglichkeiten scheinen begrenzt: »mehr beten, die Situation akzeptieren, mit Freude die Aufgaben bewältigen«. Diese Ratschläge greifen eindeutig zu kurz. Und sie wird deshalb auch ermutigt, ärztliche Hilfe zu suchen. Betrachtet man nun das Zustandsbild ganz unvoreingenommen, so stellt sich nach psychiatrischer Diagnostik deutlich ein depressives Syndrom dar. Das tiefe Gefühl der Wertlosigkeit und des Versagens ist Teil des depressiven Syndroms, ganz unabhängig von den religiösen Werten. In manchen religiösen Subkulturen

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wird die Tatsache einer depressiven Verstimmung als Niederlage erlebt, die man möglichst verheimlichen muss, um im religiösen Umfeld nicht als Versager zu gelten (Spinney, 1991). Schuldgefühle gehören mit zu den diagnostischen Kriterien von ICD und DSM. Das ist insofern interessant, als hier ein traditionell religiös anmutendes Symptom zum schlichten beschreibenden Kriterium wird. Wird das Symptom »Schuldgefühl« damit seiner religiösen Bedeutung enthoben? Der spirituell orientierte Mensch erlebt in der Depression eine bedrohliche und erstickende Auswirkung seiner seelischen Empfindungen auf seine Gotteserfahrung – das wird auch bei der Patientin deutlich. In der Psychoedukation ist es deshalb wichtig, diese Deutung zu erweitern (und sie nicht a priori als »infantil« – Freud – bzw. »schädlich« abzuwerten), zu erweitern durch eine andere Sichtweise, die sich in die Lage der Betroffenen versetzt: »Jede Mutter in Ihrer Situation würde gleich empfinden!« In diesem Mitfühlen wird die Selbstverurteilung unter religiösem Vorzeichen von ihrer theologischen Last entkoppelt, um eine weitere Perspektive auf die dahinterliegende Konstellation zu erhalten. Die Verfasserin der Fallstudie wählt dabei einige wichtige Strategien, die sich in den Leitlinien der Behandlung von Depressionen bei religiösen Menschen bewährt haben (Pfeifer, 2014a): a) Phänomenologie der Depression unter Berücksichtigung der Spiritualität in einen diagnostischen Kontext stellen. Dabei wäre es verfehlt, die religiöse Wahrnehmung des Patienten unkritisch zu übernehmen. Eine leitliniengerechte Diagnostik und eine einfühlsame Psychoedukation sind wichtige Elemente für die weitere Therapie. b) Themen wie Selbstwert, Schuld, Zweifel, Hoffnungslosigkeit in der Psychotherapie besprechen, aber im Kontext der schwierigen psychosozialen Umstände neu bewerten (Reframing): »Nicht selbst schuld, sondern krank.« c) Spirituelle Ressourcen wertschätzen, aber auch konsequente Behandlung der Krankheit Depression unter Einschluss von Medikamenten, wo dies sinnvoll ist. d) Einbezug der Angehörigen: Depression hat nicht selten psychosoziale Komponenten. Die Therapeutin erläutert dem Ehe-

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mann die Situation und fördert sein Verständnis für die Überforderung der Ehefrau. e) Behutsamer Umgang mit religiösen Widerständen. Religion kann neben tiefen sinnstiftenden Anteilen auch dysfunktionale Aspekte haben. Dies anzusprechen erfordert Verhandlungsgeschick und Geduld. Manchmal muss man gewisse Tabuthemen bei hochreligiösen Patienten unterschiedlichster Religionen einfach stehen lassen, obwohl eine Modifikation hilfreich sein könnte (­Pfeifer, 2014b). Die Beschreibung der Depression als »Krankheit« erlaubt aber auch religiösen Menschen, Ausnahmen von starren Regeln und Geboten zu machen, um wieder zu genesen. Das Outcome der vorliegenden Fallvignette zeigt, dass es der Patientin und ihrer Familie gelungen ist, praktische Wege zur Bewältigung der Depression zu gehen, durch die Krise zu wachsen und sich gleichzeitig die Ressource der persönlichen Spiritualität in einer funktionellen und tragenden Form zu erhalten. Literatur Laabdallaoui, M., Rüschoff, I. (2010). Umgang mit muslimischen Patienten. Bonn: Psychiatrie Verlag. Pfeifer, S. (2014a). Seelenfinsternis und dunkle Nacht der Seele – Depression und Spiritualität. In M. Utsch, R. M. Bonelli, S. Pfeifer, Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen (S. 123–132). Berlin: Springer. Pfeifer, S. (2014b). Hochreligiöse Patienten in der Psychotherapie. In M. Utsch, R. M. Bonelli, S. Pfeifer, Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen (S. 95–102). Berlin: Springer. Salize, H. J., Voß, E., Werner, A., Falkai, P., Hauth, I. (2015). Behandlungspfade in der Versorgung von Patienten mit Schizophrenie und Depression. Der Nervenarzt, 86 (11), 1358–1370. Spinney, D. H. (1991). How do fundamental Christians deal with depression? Counseling and Values, 35, 114–127. Stephan, V., Utsch, M. (2017). Der Einfluss von Religiosität auf die Bereitschaft, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Spiritual Care, 6, 57–68. Stotz-Ingenlath, G., Frick, E. (2006). Depressives Schulderleben: Symptomatologie und Diagnostik. Schweizerisches Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 157, 94–102.

7  Die Engeltapete Gabriele Stotz-Ingenlath

Geldsorgen hat sie nicht, zudem ist sie gesund, schlank, immer modisch gekleidet, immer aktiv. Aber nachdem sie den Betrieb, den sie mit ihrem geschiedenen Mann aufgebaut und nach der Trennung viele Jahre allein geleitet hatte, in die Hände ihrer Kinder übergeben hatte, fiel es der sechzigjährigen Frau auf einmal schwer, eine Tagesstruktur aufrechtzuerhalten. Sie wurde zunehmend traurig, antriebslos, vergesslich und entscheidungsunsicher. Auf Anraten ihres Sohnes und ihrer Tochter kam sie in die psychiatrische Klinik. Eine mittelgradige depressive Störung wurde festgestellt und es erfolgte eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva, auf die sie sehr gut ansprach. Zusätzlich erhielt sie nach der Entlassung eine verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie, in der ihre neue Lebenssituation besprochen wurde. Ganz ohne Arbeit konnte sie nicht sein, so gründete sie eine kleine Beratungsfirma in der Immobilien- und Einrichtungsbranche, kaufte sich einen Hund und begann, für sich ein neues Haus im Umland zu bauen. Als sie sich nach vier Jahren wieder in der Ambulanz vorstellt, geht es ihr nach wie vor gut. Sie ist aktiv, hat viel zu organisieren, Handwerker zu bestellen, umzubauen, aber sie empfindet es als problematisch, dass sich ihr Befinden, wann immer sie die Antidepressiva abzusetzen versucht, verschlechtert und dass dann Traurigkeit, Entscheidungsunsicherheit und Verlorenheitsgefühle hochkämen. Deshalb wolle sie die Medikation unbedingt beibehalten, fühle sich aber andererseits unter der Medikation irgendwie gefühllos, »nivelliert« und eingebunden im Empfinden. Sie sei

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ausgeglichen, habe Energie und Kraft, meint aber, keine tiefer spürbare Bindung zu Menschen oder zu Tieren eingehen zu können. Als ihr kleiner Hund krank wurde und eingeschläfert werden musste, habe sie kaum Traurigkeit gespürt. Zudem falle ihr auf, dass sie ständig aktiv sein müsse, am Haus ständig etwas verändern wolle. Gerade plant sie, in ihr jetziges Haus ein zusätzliches Fenster im Wohnzimmer einbauen zu lassen und den Garten erneut umzugestalten. Sie finde einfach keine Ruhe und wolle diese Ruhelosigkeit loswerden. Zudem fehle ihr »so etwas wie Geborgenheit«, sie leide fast unter ihrem Aktivismus. Sie ist in der DDR groß geworden. Für sie ergab sich damals der Eindruck, alles sei vorbestimmt, wenn man fleißig war. Sie ging morgens aus dem Haus zur Arbeit und kam abends wieder. Die Zukunft schien sicher und wenn man nicht gerade gegen das Regime opponierte, verlief das Leben friedlich in berechenbaren Bahnen. Dann kam die Wende. Durch ihren Fleiß konnte sie sich in der neuen Gesellschaft nach außen hin gut behaupten, fühlte sich aber trotzdem innerlich irgendwie verloren und verunsichert. Im Gespräch wird die Patientin nach ihren spirituellen Vorstellungen gefragt. Sie sei nie auf Spirituelles hingewiesen worden, wisse gar nicht, was das Wort bedeute. Auf ihren späteren Schiffsreisen im Urlaub sah sie manches Mal an der Reling einen Pastor im Gespräch mit anderen Passagieren, aber sie sei nicht »hereingeholt« worden in eine Gemeinschaft, nach der sie sich letztlich immer sehr gesehnt habe. Sie sei neugierig auf die Dimension des Glaubens, denn das rein Materielle genüge ihr nicht und es sei auch nicht das Ziel ihrer ständigen Aktivität; was aber sonst? Als spirituelles Element habe sie für sich die Engel entdeckt. Sie wisse nicht genau, was sie für sie bedeuteten, welche Art Sein sie hätten; aber in ihrem Garten habe sie viele Engelfiguren aufgestellt und auf der Tapete ihres Schlafzimmers habe sie zarte Engelsgestalten gewählt, als könnten diese Engelwesen »auf sie aufpassen«. Mit ihren Enkeln setze sie sich ab und zu in eine Kirche. Sie sage ihnen dann: »Hier fühlten sich Menschen früher geborgen.« »Warum nur früher?«, fragt die Psychiaterin, die – selbst gläubig – eine spirituelle Bedürftigkeit, eine metaphysische Verlorenheit und eine Sehnsucht nach innerem Frieden und Ruhe bei der stets aktiven Patientin spürt.

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Sie verlässt die Rolle der Psychiaterin und erzählt ihr die Ge­schichte von Jesus bei Maria und Martha. Martha umsorgt ihn geschäftig und unruhig, Maria sitzt einfach da und hört zu. Sie hat den besseren Teil erwählt; auch, wenn es ohne aktive Menschen nicht geht in unserer Welt, sollten kontemplative Momente gelebt werden können. »Wie kann ich an meine eigene Spiritualität, an meine kontemplativen Fähigkeiten herangeführt werden?«, will die Patientin wissen. Ohne Medikamente stellten sich ihr existenzielle Fragen, denen sie nicht standhalten könne, die sie derart belasten, dass sie es nicht wage, die Medikamente abzusetzen. So wird die Medikation zunächst als Prophylaxe beibehalten, damit die Patientin nicht in sich selbst in einer Art Sinnkrise einbreche. Es wird ihr geraten, einmal ein spirituelles Buch über Engel oder die Bibel selbst zu lesen, mit einer Freundin in eine Kirchengemeinde zu gehen, ihre Aktivitäten von den Immobilien etwas in den Sozialbereich, beispielsweise auf Ehrenämter, zu verlagern. Ohne eine neu gefundene, wie auch immer geartete spirituelle Geborgenheit wird die Patientin es wohl nicht wagen, die Halt gebenden Antidepressiva abzusetzen.

Kommentar Peter Kaiser

Die sechzigjährige Patientin hatte sich über Jahre eine eigene Existenz aufgebaut und die Früchte ihrer Arbeit sukzessive in die Hände ihrer Kinder übergeben. Nach Wegfall dieser Aufgabe entwickelte sie depressionstypische Symptome, wie Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Unfähigkeit zu entscheiden, Schwierigkeiten mit der Tagesstruktur, Befürchtung, dement zu werden (im Sinne einer Pseudodemenz). In tagesklinischer Behandlung erhielt die Patientin antidepressive Medikamente, welche rasch zu einer Besserung ihres psychischen Zustands führten, bei fachgerecht langsamer Reduktion der Medikamente kam es zu einem erneuten Auftreten der oben genannten Symptomatik, einschließlich existenzieller Ängste sowie eines Gefühls des Verlorenseins.

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Unter mehrmaliger antidepressiver Medikation wurde die Patientin wiederholt sehr aktiv, fühlte sich voller Energie und Tatkraft, verspürte kaum Müdigkeit, verlor allerdings gleichzeitig die Fähigkeit, Traurigkeit oder Freude zu empfinden. Dieses von der Patientin der antidepressiven Medikation als Nebenwirkung attribuierte »Gefühl der Gefühllosigkeit« tritt typischerweise nicht im Verlauf einer antidepressiven Medikation auf, sondern ist nicht selten im Rahmen schwerer depressiver Episoden zu beobachten. Es wäre deshalb zu prüfen, wie rasch nach Absetzen der antidepressiven Medikation dieses Gefühl der Gefühllosigkeit einer deutlichen Aktivitätssteigerung wich, da sich typischerweise erst zwei bis drei Wochen nach Antidepressivumgabe Veränderungen des Befindens einstellen. Keine Angaben liegen bezüglich der Art des Antidepressivums vor, die beschriebene massive Antriebssteigerung könnte auf mögliche noradrenerge Anteile des Antidepressivums zurückzuführen sein. Unter religionswissenschaftlicher Perspektive fällt auf, dass die Patientin ohne religiöse/spirituelle Sozialisation in der DDR groß geworden ist. Sie hatte vermittelt bekommen, dass es außer materiellen keine anderen Bedürfnisse gebe. Gegenüber der Therapeutin artikulierte die Patientin jedoch, dass sie sich immer nach einem Gefühl der Gemeinschaft gesehnt habe, ihr das rein Materielle nicht genüge und sie neugierig gewesen sei auf die Dimension des Glaubens. Ihr früherer und nun durch antidepressive Medikation wiederhergestellter (materieller) Tatendrang ließe sich dahingehend interpretieren, dass dies einen Ersatz für die möglicherweise vermisste mangelnde spirituelle Dimension darstellt. So wäre auch das Phänomen der mannigfaltigen Engelwesen zu deuten, welche die Patientin für sich als spirituelle Elemente entdeckt hatte. Die Figuren, mit welchen sich die Patientin in ihrem Garten umgab, sowie Engeldarstellungen auf der Tapete suggerieren, dass diese Engelwesen »auf sie aufpassen« könnten. Auch hier manifestiert sich das Spirituelle im Materiellen. Diese Vorstellung aufgreifend ermutigt die Therapeutin die Patientin durch die Geschichte von Jesus bei Maria und Martha – Maria als Versinnbildlichung des Kontemplativen, Spirituellen und

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Martha des Schaffenden, Materiellen –, den Fokus weg vom Materiellen hin auf das Immaterielle zu richten. Der Rat an die Patientin, ein spirituelles Buch über Engel oder in der Bibel »Geschichten« – ähnlich der von Jesus bei Maria und Martha – zu lesen, konfrontiert diese natürlich mit dem Problem, dass sie dadurch lediglich Buchwissen erwirbt und keine eigene spirituelle Erfahrung machen kann, so wie sie durch ihre Arbeit Materielles »erfahren« konnte. Andererseits weiß man, dass die Interpretation von Ereignissen, aber auch von Wahrnehmungen am nachhaltigsten durch Vorerfahrungen geprägt wird: Wenn ein Mensch einem Naturereignis spirituelle Bedeutung gegeben und dieses Ereignis in dieser Weise memoriert hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, spätere ähnliche Ereignisse in gleicher Weise abzuspeichern. Liegen keine Vorerfahrungen vor, kann auch entsprechendes theoretisches Wissen Wahrnehmung beeinflussen, wenn auch nicht so nachhaltig. Der Rat, ihre gegenwärtigen, hauptsächlich im materiellen Bereich stattfindenden Aktivitäten eher in den immateriellen, sozialen Bereich zu verlagern, ist deshalb wertvoll, weil er der Patientin eine neue, zwar primär eher emotionale, aktuell noch nicht spirituelle Dimension eröffnet, die sich allerdings prospektiv in eine solche Richtung entwickeln könnte.

8  Befreiung aus der Sekte Michael Utsch

Der 51-jährige, untersetzte und gepflegt wirkende Mann hatte bis zum Fall der Mauer eine Gärtnerei mit zwei Angestellten in der DDR geführt. Anfang der 1990er Jahre wurde sein Geschäft wegen Insolvenz geschlossen. Diverse Umschulungs- und berufliche Reintegrationsmaßnahmen schlugen bisher fehl. Der Patient ist geschieden und hat eine zwanzigjährige Tochter. Der Patient sucht in der Psychotherapie Unterstützung, um aus der christlichen Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde, auszutreten. Beim ersten Gespräch legt er ein achtseitiges Schreiben an den Leiter dieser Gemeinschaft vor, in dem er seinen Austritt nach 51 Jahren Mitgliedschaft differenziert begründet. Der Patient hat das Schreiben aber noch nicht abgeschickt, weil noch zwei wichtige Gedanken darin fehlen würden, die vorher unbedingt eingearbeitet werden müssten. Das Austrittsschreiben ist sehr freundlich und weich formuliert. Nur zwischen den Zeilen ahnt man etwas von den seelischen Verletzungen und der großen Enttäuschung und auch Wut über den erlittenen »Religionsmissbrauch«, den er im Erstgespräch deutlich so benennt. Allerdings holen ihn immer wieder Gewissensbisse ein. Tue ich der Gemeinschaft und vielleicht sogar Gott mit meinem Austritt Unrecht an? Der Patient möchte seine Mitgliedschaft vor allem friedlich beenden. In seinem streng religiös geprägten Elternhaus habe er nie Streit erlebt, dort habe »absolute Harmonie« geherrscht. Allerdings klagt er in dem Austrittsschreiben über autoritäre Anpassungsforderungen sowie die strenge Loyalitätspflicht gegenüber der Gemeinde und den religiösen Eltern, unter denen er gelitten habe.

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Der Patient wuchs mit einem älteren und jüngeren Bruder auf. Sein Vater war ein ehrenamtlicher »Priester« der Gemeinschaft. Besonders die Familie der Mutter, die aus dem Erzgebirge stammt, sei »komplett von der Gruppe verseucht«. Der ältere Bruder sei schon vor ein paar Jahren aus der Gruppe ausgetreten, der jüngere Bruder jedoch weiterhin als »Priester« in der Gemeinschaft tätig. Früher war der Patient in seiner Kirche auch als Verkündiger aktiv. Er war ein guter Schüler und hat einen hervorragenden Realschulabschluss erreicht. Aus religiösen Gründen haben die Eltern ihm jedoch nur eine kurze Ausbildung und kein Studium ermöglicht, weil die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorstehe. Mit 19 habe er sich verliebt und diese Beziehung gegen den Willen seiner Eltern gepflegt, obwohl die Freundin kein Mitglied der Religionsgemeinschaft war. Auf Druck der Familie wurde eine Schwangerschaftsunterbrechung vorgenommen, obwohl dies in einem völligen Gegensatz zur Gruppenethik stehe. Der Patient habe daraufhin seinen Vater vor dem Ältesten der Gemeinde verklagt. Daraufhin kam es zum Zerwürfnis mit der Familie und der Gemeinde, der Patient siedelte nach Hamburg um. Dort heiratete er, und eine Tochter wurde geboren. Die Ehe wurde nach 18 Jahren geschieden. Der Patient hat akribisch andere Fälle zum Religionsmissbrauch in der Gruppe gesammelt und auch historisch-kritische Aufsätze zu dieser Glaubensgemeinschaft publiziert. Vor einigen Jahren hat sich ein enger Freund von ihm, ebenfalls Ex-Gruppenmitglied, suizidiert, weil er nach dem Austritt in eine große soziale Isolation und massive Depressionen rutschte. Der Patient leidet unter starken inneren Kämpfen, die ihn zu zerreißen drohen: Einerseits will er die Gemeinschaft unbedingt verlassen, scheut aber den Konflikt mit den »lieben Geschwistern« und wird von moralischen Skrupeln geplagt (»Komme ich dann vielleicht doch in die Hölle?«), auch wenn er immer wieder versucht, diese Zweifel mit vernünftigen Gründen zurückzuweisen. Der seelische Druck wird durch die Langzeitarbeitslosigkeit des Patienten verstärkt. Ein kurzfristiges Behandlungsziel besteht darin, durch Selbstwert-unterstützende Prozesse die berufliche Eingliederung des Patienten zu fördern. Primäre mittelfristige Behandlungsziele sind eine differenziertere Gefühlswahrnehmung, Analyse des Bindungsverhaltens in der Familie und Gemeinde, För-

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derung des Selbstbewusstseins und der Autonomie. Auch Widersprüche im Gottesbild, unter denen er leidet, kann der Patient beschreiben. Einerseits hat er eine große Sehnsucht nach einem fürsorglichen, mütterlichen Gott, wie er das aus manchen Gleichnissen und Reaktionen im Leben Jesu abliest. Andererseits fürchtet er den strengen, kontrollierenden Richtergott seiner Kindheit, der ihm auch heute oft noch ein schlechtes Gewissen macht.

Kommentar Henning Freund

Die Herausforderung der psychotherapeutischen Behandlung von »Sektenopfern« Der Titel der Fallvignette »Befreiung aus der Sekte« macht ein Dilemma deutlich. Religiöse Gruppierungen, die als »Sekte« bezeichnet werden, haben in der öffentlichen Wahrnehmung ein sehr schlechtes Image. Häufig werden Begriffe wie »religiöser Missbrauch« oder »Gehirnwäsche« assoziiert. Auch für Psychotherapeuten könnte dies die dominierende Wahrnehmungsfolie sein. Problematisch dabei ist die zu einseitige Betonung der religiösen Sozialisation und der vermeintlich negativen Auswirkungen. Der Autor der Fallvignette scheint sich dieser Gefahr sehr bewusst zu sein. Obwohl der Klient ausschließlich die Auswirkungen seiner Zugehörigkeit zu einer engen christlichen Gemeinschaft betont, formuliert der Autor seine Behandlungsziele auf einer rein psychologischen Ebene. Auch wissenschaftliche Befunde zum Zusammenhang zwischen einer Sektenzugehörigkeit und psychischer Gesundheit widersprechen dem negativen Klischee. Dies hat Religionswissenschaftler dazu bewogen, statt »Sekte« den neutraleren Begriff »Neureligiöse Bewegung« zu verwenden (Murken, 2009). Der Ausstieg aus solchen Gruppierungen hat jedoch in den meisten Fällen soziale und psychische Erschütterungen zu Folge (Buxant u. Saroglou, 2008).

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Indikation zur Psychotherapie? Der Klient wünscht sich Unterstützung beim Austritt aus einer religiösen Gemeinschaft. Vordergründig gesehen ist dies kein Indikationsbereich für eine Psychotherapie, sondern eher für eine entsprechende Beratungsstelle. Für das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung sprechen allerdings das starke Leiden an den inneren Ambivalenzen des Ablösungsprozesses und der Langzeitarbeitslosigkeit. Eine Untersuchung an Aussteigern aus engen religiösen Gemeinschaften in Deutschland ergab einen relativ großen therapeutischen Unterstützungsbedarf der Betroffenen (Streib, Wood, Keller, Csöff u. Silver, 2009). Die Anpassung an einen Lebensstil ohne die strikten Strukturen der früheren Gemeinschaft stellt oft eine beträchtliche Bewältigungsanforderung für die Betroffenen dar. In diesem Sinne könnte man – unter dem Vorbehalt der spärlichen diagnostischen Informationen – zumindest vom Vorliegen einer Anpassungsstörung (nach ICD-10) ausgehen. Psychologische Aspekte der Zugehörigkeit zu einer Sekte Der Klient wurde in die religiöse Gemeinschaft »hineingeboren«. Nicht eine bewusste Hinwendung oder ein Bekehrungserlebnis bestimmen die Mitgliedschaft, sondern die primäre Sozialisation durch die Einheit von Familie und religiöser Gruppierung. Damit können psychologische Besonderheiten verbunden sein, die auch in der vorliegenden Fallvignette aufscheinen (Matthews u. ­Salazar, 2014): 1. Schwierigkeiten, eigene Entscheidungen zu treffen, da diese maßgeblich von den religiösen Führern oder den Eltern getroffen wurden; 2. Mangel an sozialen Beziehungen außerhalb der Gruppe durch eine weitgehende Isolierung von der als negativ bewerteten Außenwelt; 3. Verstrickung von elterlicher und religiöser Autorität, sodass eine Loslösung von der Gruppe auch immer mit einer Rebellion gegenüber den Eltern verbunden ist; 4. erhöhte Wahrscheinlichkeit von Missbrauchserfahrungen psychologischer, emotionaler, körperlicher oder sexueller Natur;

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5. starke Internalisierung von Normen und Werten der Gruppe, sodass sie zu wesentlichen Identitätsbestandteilen werden; 6. Unterwerfung, Kontrolle und Strafe als zentrale Konfliktthemen aufgrund der erlebten Autoritätshierarchien (Gott – religiöse Führer – Eltern – Kind). Überlegungen zur einer psychotherapeutischen Fallkonzeption Der Klient hat mit der Liebesbeziehung zu einer Frau außerhalb der religiösen Gemeinschaft bereits einen bedeutsamen Ablösungsversuch unternommen. Allerdings waren die unmittelbaren Konsequenzen (Schwangerschaftsabbruch, familiäres Zerwürfnis) so unerfreulich, dass wir von einer negativen Lernerfahrung ausgehen müssen. Daher sollte die Unterstützung für den gewünschten Autonomieschritt sehr umsichtig geschehen. Loslösungen aus engen religiösen Gemeinschaften sind in der Regel durch eine sehr individuelle Gewinn-/Verlustbilanz gekennzeichnet (Streib et al., 2009). Eine solche könnte gemeinsam mit dem Klienten erstellt werden, um dessen Entscheidungskompetenz aufzubauen. Im Gegensatz zu einer Sektenausstiegsberatung sollte der Psychotherapeut nicht aktiv auf die Loslösung hinarbeiten, sondern viel eher aus einer respektvollen, religiös neutralen Position heraus die psychologischen Voraussetzungen dafür unterstützen (Utsch et al., 2017). Diese lassen sich mit dem Aufbau von Selbstwert, Ambiguitätstoleranz, Emotionsregulationsfähigkeiten und sozialer Unterstützung umschreiben. Besondere Berücksichtigung erfordern die strafenden und bedrohlichen Eltern-/Gottesintrojekte des Klienten, die beispielsweise in einer schematherapeutischen Arbeit mit inneren Anteilen identifiziert und entmachtet werden könnten. Schließlich sollte bei dieser so skizzenhaften Fallkonzeption nicht vergessen werden, dass der Klient nicht nur das »Opfer einer Sekte« ist, sondern als Vater, Gärtnermeister, ehemaliger DDR-Bürger usw. auch über ganz andere Identitätsfacetten und Ressourcen verfügt.

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Literatur Buxant, C., Saroglou, V. (2008). Joining and leaving a new religious movement: A study of ex-members’ mental health. Mental Health, Religion & Culture, 11 (3), 251–271. Matthews, C., Salazar, C. (2014). Second-generation adult former cult group members’ recovery experiences: Implications for counseling. International Journal of Advances in Counseling, 36, 188–203. Murken, S. (2009). Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Perspektive. Marburg: Diagonal. Streib, H., Wood, R., Keller, B., Csöff, R.-M., Silver, C. (2009). Deconversion. Qualitative and quantitative results from cross-cultural research in Germany and the United States of America. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Utsch, M., Anderssen-Reuster, U., Frick, E., Gross, W., Murken, S., Schouler-­ Ocak, M., Stotz-Ingenlath, G. (2017). Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Spiritual Care, 6 (1), 141–146.

9  Vom Sinn des Dschinn Ibrahim Rüschoff

Die 47-jährige, verheiratete Frau A. stammt aus dem Kosovo und lebt seit 1995 aufgrund kriegerischer Ereignisse mit ihrer Familie in Deutschland, hat hier schnell die Sprache gelernt und eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Sie ist praktizierende Muslimin, die ihre Religion sehr ernst nimmt. Sie lebte seit Langem in einer schwierigen Ehe. Die gesamte Versorgung der Familie lastete auf ihren Schultern. Der Mann litt an verschiedenen psychosomatischen Krankheitsbildern, sprach auch nach Jahren noch schlecht Deutsch, war religiös nicht interessiert und trank häufig. Seine Probleme führte er auf den Krieg zurück, unternahm aber trotz Drängens der Frau nichts gegen seine Beschwerden. Wegen der Eheprobleme trug sie sich mit konkreten Scheidungsabsichten, setzte diese jedoch auf intensive Bitten der Schwiegermutter hin nicht um. Kurz nach diesem Gespräch mit der Schwiegermutter kam sie wegen wechselnder Stimmungslagen, Ängsten, Zittern am ganzen Körper, Konzentrationsschwäche, Kraftlosigkeit, Brustdruck und Taubheitsgefühlen in den Armen in Behandlung. Frau A. berichtete, dass sich wenige Monate zuvor während ihrer Pilgerfahrt nach Mekka ein sympathischer, engagierter Gruppenleiter, ebenfalls Kosovare, ihr gegenüber sonderbar verhalten und ihr durch Zeichen zu verstehen gegeben habe, dass er sie verführen wolle. Sie war über dieses absolut ungebührliche Verhalten irritiert und empört und sprach ihn schließlich darauf an, worauf er »erschrocken« alles abgestritten habe. Schließlich kam sie zu der Überzeugung, dass dieser Mann, der ihr

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nicht aus dem Kopf ging, ihr einen Dschinn geschickt habe, der sie dazu bringen sollte, ihn zu lieben, damit sein Versuch, sie zu verführen, nicht herauskomme. Einige Zeit nach der Pilgerfahrt nahm sie »wie fremdbestimmt« einmalig telefonisch Kontakt zu ihm auf. Gleichzeitig erreichte das Gefühl seinen Höhepunkt, abgehört zu werden und Adressat kryptischer E-Mails zu sein, die sie zu enträtseln suchte. Kurz nach dem Gespräch mit der Schwiegermutter und dem Entschluss, ihren Mann als Prüfung Gottes zu betrachten und sich vorerst nicht scheiden zu lassen, traten die geschilderten Symptome auf. Nach Überzeugung der Patientin waren diese durch den genannten Dschinn verursacht, der nachts auf ihrer Brust saß. Sie schilderte bizarre Körpergefühle, versuchte, nächtelang wach zu bleiben, denn nur im Schlaf könne der Dschinn ihren Körper beherrschen. Außerdem verbrachte sie viel Zeit im Gebet, das ihr Halt und Ruhe gab. Viel Unterstützung und Rückhalt fand sie auch bei ihren Freundinnen, die zwar den Hintergrund nicht kannten, aber ganz selbstverständlich ihre Überzeugung teilten, dass diese plötzlichen Beschwerden und Erlebnisse der sonst belastbaren und leistungsfähigen Frau nur vom Einfluss eines Dschinn herrühren konnten, und ihr dringend empfahlen, einen Imam aufzusuchen. Der erste Kontakt zum Therapeuten kam zustande, weil Frau A. fürchtete, umgebracht zu werden, und sich nur einem muslimischen Arzt anvertrauen wollte. Am Telefon vermied sie es, offen zu sprechen, da »alle Muslime abgehört werden«. In der Sprechstunde berichtete sie anfangs nur unter großen Schwierigkeiten von ihrem Erleben, da sie bezüglich der Reaktion des Therapeuten nicht sicher war und fürchtete, für »verrückt« gehalten zu werden. In den folgenden Stunden brachte sie ausgedruckte Unterlagen (Maildaten) und umfangreiche Notizen mit. Der Therapeut teilte behutsam mit, dass es im Islam zwar den Glauben an die Existenz von Dschinnen gebe, ihre Symptome aus wissenschaftlicher Sicht jedoch auch mit einer Veränderung der Wahrnehmung erklärt werden können, die man vielleicht medikamentös behandeln könne. Die Patientin hörte ruhig zu und bat sich Bedenkzeit aus. Beim nächsten Besuch berichtete sie, dass sie den Rat ihrer Freundinnen befolgt habe und nun bei einem Imam in Behandlung sei, der mit ihr den Koran gelesen und den Dschinn ausgetrieben habe. Sie

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fühle sich befreit, sei ruhiger und schlafe besser. Sie habe beschlossen, ihren Mann als eine Prüfung Gottes zu betrachten und sich vorerst nicht scheiden zu lassen. Medikamente wolle sie jetzt erst einmal nicht einnehmen und sehen, wie es ihr in der nächsten Zeit gehe. Einige Monate später kam Frau A. erneut zu einem Gespräch. Die Wahrnehmung bzw. Interpretation der Ereignisse während und nach der Pilgerfahrt waren unverändert, sie berichtete jedoch, dass der Dschinn weiterhin keinen Einfluss mehr auf sie habe und es ihr körperlich gut gehe. Seelisch belastend war weiterhin jedoch der sich erneut zuspitzende Ehekonflikt. Sie hatte ihrem Mann jetzt real die Trennung angekündigt, wenn er selbst keine Therapie unternehme, zumal sie einen muttersprachlichen Therapeuten für ihn gefunden habe. Die Patientin arbeitete bald darauf wieder und kam in den beiden Folgejahren in ungefähr vierteljährlichen Abschnitten in die Praxis, da sie hier über ihre ungewöhnlichen Erlebnisse ohne die Sorge sprechen konnte, sich lächerlich zu machen. Der Therapeut trifft sie bis heute regelmäßig in beruflichen Zusammenhängen und bei Aktivitäten der Moschee. Sie ist im Kontakt mit ihm und anderen völlig unauffällig. Inzwischen ist sie geschieden, der Mann lebt in der Nähe und hält Kontakt zu den beiden halbwüchsigen Kindern. Aus psychiatrischer Sicht handelt es sich bei der Patientin um eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie. Psychodynamisch dürfte eine Abwehr aufkommender Liebesgefühle zu dem Gruppenleiter vor dem Hintergrund der intensiven spirituellen Erfahrung während der gemeinsamen Pilgerfahrt vorliegen. Entscheidend für den Verlauf war, dass die ängstigende Symptomatik durch den angenommenen Einfluss des Dschinn einen Sinn erhielt und die Patientin davor bewahrte, den Boden komplett unter den Füßen zu verlieren. Weiterhin entscheidend waren die Freundinnen: Durch deren Akzeptanz und die Kommunizierbarkeit ihrer Krankheitserklärung ermöglichten sie ein Verbleiben in der religiösen und kulturellen Verständnisgemeinschaft. Wahrscheinlich hat ihr dies die Fixierung der Umwelt auf eine Psychose mit allen Folgen (Stigmatisierung, Medikamente, Psychiatrisierung etc.) erspart. Ähnliches haben bereits Risso und Böker (1964) in ihrer Arbeit über den Verhexungswahn süditalienischer Arbeiter beschrieben.

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Kommentar Peter Kaiser

Bei der Patientin wurden psychopathologisch Schizophrenie-typische Symptome wie das Gefühl von Fremdbestimmtheit, Fremdbeeinflussungserlebnisse, (bizarre) Körpersensationen, fraglich Stimmenhören beschrieben. Daneben fanden sich ausgeprägte (psycho-)somatische Symptome. Die Patientin erscheint nach der Migration aufgrund kriegerischer Ereignisse aus dem Kosovo mit ihrer Familie im Jahr 1995 nach Deutschland hier  – nach Absolvierung einer Ausbildung zur Krankenschwester und Karriere als Stationsleitung – gut integriert. Gleichzeitig fühlt sie sich als gläubige Muslimin in ihrem Glauben verankert, trägt ein Kopftuch. Aktuell berichtet sie, sich während einer Pilgerfahrt nach Mekka durch einen sympathischen und engagierten Gruppenleiter fremdbeeinflusst gefühlt zu haben. Sie sei davon ausgegangen, dass er sie hatte verführen wollen, hatte ihn darauf angesprochen, worauf dieser diesen Vorwurf von sich gewiesen habe. Im weiteren Verlauf brachten häufige Gedanken an diesen Mann die Patientin in einen religiös-moralischen Gewissenskonflikt, so stellte sie deshalb die Gültigkeit der Hadsch infrage. Es wuchs die Überzeugung, dass der potenzielle Verführer ihr einen Geist (Dschinn) geschickt hatte, welcher sie beeinflussen sollte, ihn zu lieben. Vorausgegangen war diesen von der Patientin berichteten Ereignissen während der Pilgerfahrt und danach ein seit Langem schwelender Konflikt mit ihrem Ehemann. Die gesamte Versorgung der Familie lastete seit Längerem auf ihr, der Mann litt an verschiedenen, fraglich psychosomatischen Beschwerden, war in Deutschland nicht ausreichend integriert, sprach schlecht Deutsch, betrieb – als Muslim – Alkoholabusus und arbeitete selten, entsprach somit nicht dem traditionellen Bild eines muslimischen Familienoberhauptes und kam seiner Aufgabe als Versorger nicht nach. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive konnte die Kausalattribution – Fremdbestimmung durch einen Dschinn – im Sinne einer externalen Zuschreibung (der Verursacher/Grund wird

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außerhalb der eigenen Person gesucht und gefunden) die Patientin vollständig ent-schuldigen. Auch ihr für sie moralisch verwerfliches Verhalten im Anschluss an die Pilgerfahrt – die einmalige telefonische Kontaktaufnahme mit dem Gruppenleiter (was dazu führte, dass dieser das Gespräch sofort abbrach) – ließ sich seitens der Patientin dem Einfluss des Geistes zuschreiben. Im westlich-sozialen Kontext des Gastlandes war die Patientin versucht, eine Trennung von ihrem Ehemann zu erwägen, gleichzeitig sah sie sich aber mit dem Wunsch ihrer Schwiegermutter konfrontiert, diese Gedanken fallen zu lassen. Im Anschluss an ein Gespräch mit der Schwiegermutter kam es zu massiven Stimmungsschwankungen im Sinne der beschriebenen Somatisierungen. Von ihren Freundinnen wurde ein Kontakt mit einem Imam vorgeschlagen, welcher mit ihr im Koran las und gleichzeitig die Autorität und die Fähigkeit hatte, den Dschinn auszutreiben. Die für die Patientin bedrohlichen Gedanken und Handlungen konnten somit ebenfalls religionsimmanent behandelt – nämlich ausgetrieben – werden. Parallel dazu gelang es der Umgebung der Patientin, sie darin zu bestärken, die Ehe mit ihrem Mann und diesen selbst als Prüfung Gottes zu betrachten und sich somit nicht unter Druck setzen zu lassen, eine Änderung des Zustands herbeizuführen. Gleichzeitig entfiel durch die Behandlung des Imam die Notwendigkeit, antipsychotische Medikamente gegen ihre fraglich falschen Wahrnehmungen und Denkstörungen einzunehmen. Hatte die Patientin die Ereignisse im Kontext der Pilgerfahrt dahingehend interpretiert, fremdbeeinflusst gewesen zu sein, war sie sich anschließend jedoch sicher, dass der Dschinn nach der Austreibung keinen negativen Einfluss mehr auf sie ausüben könne und es ihr deshalb auch körperlich wieder besser gehe. Der Patientin muss es prospektiv gelingen, der eigenen Erwartungshaltung – als gläubige Muslimin – zu genügen. Dies bedeutet auch eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der für sie inhärent konfliktreichen Beziehung mit einem Partner, welcher nicht den Erwartungen im Allgemeinen und spezifisch im Kontext des Islam entspricht, und diese Situation mit ihren eigenen sexuellen und partnerschaftlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen.

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Diesbezüglich sind die vom Therapeuten angebotenen Gespräche sicher sehr hilfreich, da sie sich von ihm auch hinsichtlich ihres Glaubens verstanden fühlt. Literatur Risso, M., Böker, W. (1964). Verhexungswahn. Ein Beitrag zum Verständnis von Wahnerkrankungen süditalienischer Arbeiter in der Schweiz. Basel: Karger.

10  Rituelle Reinigung Peter Kaiser

Der Patient, 53 Jahre, ist in Madagaskar geboren, lebt allerdings seit dem 18. Lebensjahr in Frankreich und ist als Künstler und Restaurator tätig. Seit fünf Jahren besteht eine Partnerschaft mit einer deutschen Ärztin, in deren Begleitung er sich in der tropenmedizinischen Universitätsambulanz vorstellt. Er berichtet, aufgrund seiner Beschwerden bei mehreren niedergelassenen Ärzten sowie in einer tropenmedizinischen und einer psychiatrischen Abteilung an einer Uniklinik gewesen zu sein. Eine internistische inklusive tropenmedizinische Erkrankung, insbesondere Malaria, konnte ausgeschlossen werden. Eine Behandlung mit zwei Antidepressiva habe keine Besserung seiner Beschwerden gebracht: seit Monaten zunehmende Abgeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, depressive Stimmung bis hin zu suizidalen Gedanken. Der Patient kann außer einem Besuch im Heimatdorf vor sechs Monaten kein besonderes Ereignis oder einen Auslöser eruieren. Psychopathologisch ist der Patient umfänglich orientiert, es findet sich kein Hinweis auf inhaltliche und formale Denkstörungen, die emotionale Schwingungsfähigkeit und der Antrieb sind deutlich reduziert, bei unauffälliger Psychomotorik. Verschiedene psychologische Tests weisen auf eine schwergradige depressive Episode mit somatischen Symptomen bzw. eine undifferenzierte Somatisierungsstörung hin. Bezüglich der religiösen und soziokulturellen Anamnese lässt sich zusammenfassend feststellen: Der Patient stammt aus einer ländlichen Umgebung im zentralen Madagaskar und gehört der Eth-

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Peter Kaiser

nie der Merina an. Seine religiöse Sozialisation war überwiegend protestantisch mit ausgeprägtem, von ihm selbst als prädominierend bezeichnetem indigenen Glaubensanteil. Beide Eltern sind Lehrer gewesen, durch sie wuchs der Patient in einer bezüglich Religion sehr kritischen Umgebung auf. Der Patient bezeichnet sich als weder spirituell noch religiös, sondern atheistisch; es gab keine religionsassoziierten Aktivitäten seit seiner Übersiedlung nach Frankreich. Erst durch seine Freundin sei er auf die Idee gebracht worden, dass seine Beschwerden mit einer spirituellen Praktik in seinem Heimatdorf in Verbindung gebracht werden könnten. Der Patient berichtet über folgendes Vorkommnis: Bei seinem letzten Besuch im Heimatort habe er noch gemeinsam mit Freunden etwas getrunken und sei dann nachmittags zum Haus seiner großen Schwester gegangen, unterwegs habe er kurz auf dem Weg angehalten, um zu urinieren. Während dieses Vorgangs habe er in rund 200 Metern Entfernung eine Prozession von Menschen vorbeigehen sehen, welche offensichtlich an einer rituellen Gebeine-­Umbettung (sog. Famadihana) teilnahmen. Fraglich haben Teilnehmer dieser Prozession ihn beim Urinieren gesehen. Nach der Rückkehr nach Frankreich haben dann seine gesundheitlichen Probleme begonnen. Nach Ausschluss aller anderen somatischen Ursachen könne er nun nicht mehr ausschließen, dass er ein Tabu gebrochen habe – er habe den Toten, dessen Gebeine zu einem neuen Beisetzungsort gebracht wurden, durch sein Urinieren beleidigt. Der Patient betont, er sei sich sicher, dass die Angehörigen und auch die Priester dies so sehen würden. Im Rahmen einer psychotherapeutischen Kurzintervention wird besprochen, welche Maßnahmen der Ent-Schuldigung dazu führen könnten, dass sich die Beschwerden bessern oder ganz verschwinden. Der Patient wiederholt mehrmals im Gespräch, dass er an diesen »Humbug« nicht glaube, aber bereit sei, ein entsprechendes Entschuldigungsritual vor Ort durchzuführen, wenn ihm dies helfen würde. Seine Freundin unterstützt ihn bei diesem Vorhaben. Der Betroffene gibt an, dass entsprechende Entschuldigungsrituale durch den örtlichen Priester verordnet werden und unter anderem in der Durchführung einer rituellen Waschung, dem Opfern eines Hühnchens, aber auch in Geldgaben bestehen können. Der Patient

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beschließt, gemeinsam mit seiner Freundin nach Madagaskar zu fliegen. Rund ein halbes Jahr nach der beschriebenen Konsultation meldet sich die Freundin des Patienten und berichtet, dass sie beim Ritual nicht anwesend sein durfte, ihr Freund wohl einen Geldbetrag an den Priester geben musste, welcher dann anscheinend an die »Familie« weitergeleitet werden sollte. Zusätzlich sei ein Huhn geschlachtet worden, und die Stelle, an welcher er mutmaßlich uriniert hatte, mit dem Blut gereinigt worden. Ihrem Freund sei es anschließend besser gegangen. Interessant an diesem Fall ist, dass der Patient zwar religiös/spirituell aufgewachsen ist, selbst aber die Auffassung vertritt, durch seine diesbezügliche Sozialisation nicht beeinflusst worden zu sein, und sich selbst als Atheist bezeichnet. Trotzdem lässt sich der Patient – fraglich aus Verzweiflung darüber, dass bisherige, insbesondere internistische und psychiatrische Behandlungsansätze nicht zu einer Besserung seiner Beschwerden geführt hatten – auf eine schamanistische/spirituelle Therapie ein. Aus religionswissenschaftlicher Sicht würde man seinen Glaubenshintergrund zutreffender als agnostisch bezeichnen.

Kommentar Isgard Ohls

Der Fall illustriert auf lebendige Weise, wie der spirituell-kulturelle Hintergrund Migranten und Migrantinnen fernab ihrer Heimat einholen kann. Ein subjektiv als atheistisch erfahrener Glaubenshintergrund führt den Betroffenen in einer existenziellen Krise zu den kulturell-religiösen Wurzen seiner Heimat in Form der Auseinandersetzung mit Tabu-, Geister- und Ahnenglauben zurück. Kritisch ist zu Recht anzumerken, dass die Beschreibung der eigenen Weltanschauung als »atheistisch« eher mit »agnostisch« anzugeben wäre, da der Patient durchaus an eine Weltanschauung gebunden erscheint und damit das Ritual seine Wirkkraft erst entfalten kann. Interessant ist an dem Fall, dass der Patient seinen religiös-kulturellen Hintergrund im Vorfeld nicht bewusst reflektiert

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hat, allerdings in der Ferne, im als säkular erlebten Frankreich, von genau diesem eingeholt wird, indem er unbewusste Schuldgefühle im ursprünglichen Kulturkontext psychosomatisch verarbeitet. Kognitiv steht zunächst die Abwehr im Vordergrund. Nach Ausschluss möglicher tropenmedizinischer bzw. psychiatrischer Grunderkrankungen – wobei ein depressives Syndrom sowohl nach Fragebögen als auch nach Psychopathologie vorliegt – und nach dem ergebnislosen Versuch einer psychopharmakologischen Behandlung mit Antidepressiva bleibt – auf Anraten der kulturell aufgeschlossenen ärztlichen Freundin – die Hinwendung zur Heimat. Der Leidensdruck ist so groß, dass jeder Weg zur Heilung als recht und billig erscheint. Interessant ist auch der aufgeklärte Hintergrund eines Lehrer-Elternhauses, welcher in der Künstlerexistenz des Patienten einen gewissen Kontrast findet und ihn vielleicht aus diesem Grund für Rituale offen sein lässt. Unbewusst leben kulturell-religiös-animistische Bräuche im Patienten fort und können fernab der bewussten Ratio eine zerstörerische Kraft entfalten. Afrikanische Magie, das Unbewusste und Glaubenspraktiken treten in Kontrast zum europäischen Bewusstsein und beanspruchen volle Aufmerksamkeit – das belegt das Fallbeispiel. Interessant ist, dass der protestantische Glaubenshintergrund nicht die indigenen Bräuche im inneren Erleben der Bevölkerung beseitigt hat. So wird es von der Ethnie der Merina, denen der Patient sich zuordnet, berichtet. Dies ist ein Phänomen, das von zahlreichen Missionaren bestätigt wird. So beschreibt der Missionsarzt Albert Schweitzer bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Kontext Westafrikas (Gabuns bzw. Kongos), dass der Glaube an die Wirkkraft von Tabus und Ahnengeistern bzw. Initiationsriten trotz intensiver missionarischer Bemühungen stets parallel in der Bevölkerung weiterlebte (Schweitzer, 1931/1971). Das Brechen eines Tabus zog den Tod nach sich – das war eine Art Naturgesetz (Ohls, 2015). Die in Lambarene tätige Psychiaterin Jilek-Aall bestätigt diese Beobachtungen in ihren Berichten aus Lambarene (Jilek-Aall, 1990). Schweitzer bekam selbst einen aus menschlichen Knochen hergestellten Fetisch als persönlichen Schutz von dankbaren Patienten geschenkt und gewöhnte sich nach Geburten an, die Frauen mit einem »Vergesst mir das Bemalen

Rituelle Reinigung93

nicht« an das Aufrechterhalten ihres Tabu- und Ahnenglaubens zu erinnern, nach welchem die neugeborenen Kinder mit einer weißen Schutzfarbe bemalt werden sollten, um die bösen Geister als mögliche Gefahrenquelle abzuwehren (Schweitzer, 1921/1971). Dieses geschah halb im Scherz, halb aus Achtung vor dem Glauben an die Wirkkraft dieser Geister. Schweitzer erkannte, dass »Glaube Berge versetzen konnte«, auch ein aus seiner aufgeklärten protestantisch-pastoralen Sicht definierter »Aberglaube«. Entscheidend erscheint mir, dass der Patient aus dem Fallbeispiel die unbewusst erfahrene Versündigung und Schuld, welche sich in einem psychosomatischen Leiden ausdrückten, durch ein Ritual loslassen konnte. Die rituelle Gebeine-Umbettung, an welcher sich der Patient durch sein Urinieren versündigt hat – davon seien die Angehörigen und Priester überzeugt  –, stellt durch das Thema »Umgang mit dem Tod«, der eigenen Endlichkeit und den sterblichen Überresten eines menschlichen Lebens eine besondere Herausforderung dar. Theologisch gesprochen geschieht eine individuelle Ent-Schuldigung: Sühne bzw. befreiende Vergebung können erfahren werden. Dieses drückt sich – psychiatrisch gesprochen – in einem Rückgang der Psychopathologie aus. Dazu waren die vorübergehende Rückkehr in die Heimat und das Wahren des Numinos-Geheimnisvollen im Ritual – die europäische Freundin darf diesem nicht beiwohnen – nötig. Typische Elemente sind dabei eine rituelle Waschung, das stellvertretende Opfern eines Tieres und Besprengen mit Blut sowie eine Geldgabe als Sühne für die zu Schaden gekommene Familie. Diese Elemente finden sich alle in dem beschriebenen Fallbeispiel eines Reinigungs- und Ent-Sündigungsvorgangs. Bezogen auf die Arbeit des Referates »Religiosität und Spiritualität« der DGPPN und dessen Positionspapier zeigt es zugleich, dass die enge Zusammenarbeit mit Geistlichen, welche unter anderem Rituale verwenden, vor dem individuellen kulturell-religiösen Hintergrund der Betroffenen erfolgen sollte. Die kulturellen Bräuche der Heimatländer sind sowohl in den diagnostischen als auch therapeutischen Prozess einzubeziehen, wie der Autor dieses Fallbeispiels sehr schön verdeutlicht hat. Die interkulturelle Kompetenz sowie weltanschauliche Transparenz werden sowohl in der Anamnese als auch in der Behandlungs-

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planung deutlich erkennbar. Weltanschaulich neutral ist er aufgeschlossen für den Transzendenzbezug seines Gegenübers. Interessant wäre gewesen, ein erneutes Interview mit dem Patienten nach Rückgang der Symptome anstelle einer Fremdanamnese zu führen, um eventuell Zugang zu dem ihn befreienden Ereignis zu erhalten und zu erfahren, wie häufig sich der Patient seit seinem 18. Lebensjahr in der alten Heimat aufgehalten hat, das heißt, wie prägend die Bräuche im Vorfeld gewesen sein mögen. Literatur Jilek-Aall (1990). Working with Dr. Schweitzer. Sharing his reference for life. Surrey, B. C. u. a.: Hancock House. Ohls, I. (2015). Der Arzt Albert Schweitzer. Weltweit vernetzte Tropenmedizin zwischen Forschen, Heilen und Ethik. Göttingen: V&R unipress/Bonn University Press. Schweitzer, A. (1921/1971). Zwischen Wasser und Urwald. Ausgewählte Werke in 5 Bänden, Bd. 1 (S. 315–476), hrsg. v. Rudolf Grabs. Berlin: Union-Verlag. Schweitzer, A. (1931/1971). Aus meinem Leben und Denken. Ausgewählte Werke in 5 Bänden, Bd. 1 (S. 19–252), hrsg. v. Rudolf Grabs. Berlin: Union-Verlag.

11  Negative Gebete Peter Kaiser

Die sechzigjährige, berentete Patientin lebt allein im Haus der verstorbenen Eltern, es gibt keine lebenden Geschwister. Sie ist gelernte Verwaltungsfachkraft; im Alter von 36 Jahren konnte sie nur noch unregelmäßig arbeiten, im Alter von 48 Jahren erfolgte die Berentung. Die Patientin war nie verheiratet und hat auch nie einen Partner gehabt. Seit dem 17. Lebensjahr hatte sie Kontakt zu einem pietistischen Gebetskreis. Die stationäre Aufnahme erfolgt mit der Einweisungsdiagnose paranoide Schizophrenie, nachdem es ihr in der letzten Zeit zunehmend schlecht ging und sie keine Kraft mehr hatte, ihren Haushalt zu erledigen. Die Patientin berichtet nachvollziehbar über Ängste, ein Pflegefall zu werden; die stationäre Aufnahme sei, so die Patientin, ihre letzte Hoffnung. Sie bekomme alle zwei Wochen eine Fluanxolspritze, früher habe sie bei Bedarf auch Schlaftabletten bekommen, eigentlich möchte sie möglichst eine Medikamenteneinnahme vermeiden. Im Verlauf gibt die Patientin Auskunft darüber, dass sie vor ihrer Erkrankung (vor rund zwanzig Jahren) in pietistischen Gebetskreisen verkehrt habe. Diese sprächen bis zum jetzigen Tag sie betreffende negative Gebete. Gott höre diese Gebete; sie frage sich immer, warum diese Pietisten so »verhasst beten«. Sie beten, so die Patientin weiter, damit sie krank werde, seit einigen Jahren habe sie deshalb keinen Kontakt mehr zu diesem Kreis. Vor Jahren sei sie aus der Kirche ausgetreten, habe dann Briefe bis an den Bischof geschrieben; sie hege den Verdacht, dass die Liebenzeller Schwestern ihre Symptomatik

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ausgelöst haben. Diese Schwestern wohnten im Feierabendhaus in Bad Liebenzell, es seien unverheiratete Schwestern, diese seien wohl neidisch auf sie, da sie seit zwanzig Jahren einen Mann kenne, dieser wohne in vier Kilometern Entfernung. Die Beziehung sei bisher nur sehr lose und nicht körperlich gewesen, seit rund zehn Jahren habe sie diesen Mann jedoch nicht mehr getroffen. Die Eltern hätten von diesem Mann nichts gewusst. Letztes Jahr hätten ihre Beschwerden massiv zugenommen. Insbesondere leide sie unter »Kreislaufstörungen«: Diese hätten dazu geführt, dass der Darm kaputtgegangen sei, das habe dann wiederum eine Gefäßzerstörung nach sich gezogen; unter der Therapie von Vitamin B sei es ihr dann besser gegangen. Gegenwärtig nehme sie Darmbakterien. Jetzt, in diesem Moment, habe sie gerade kalte Füße, auch dies sei durch das negative Beten verursacht. Seit einiger Zeit würden die Schwestern auch beten, »dass ich meinen Haushalt nicht mehr machen kann«, so die Patientin weiter, außerdem, »dass ich nicht mehr gerade laufen kann, nicht mehr imstande bin, mich aufzurichten«. Unter diesen Umständen könne sie auch keinen Kontakt zur Umgebung aufnehmen. Im Rahmen der psychopathologischen Befunderhebung zeigt sich die Patientin wach, bewusstseinsklar, voll orientiert. Der Rapport ist flüssig, sie ist zugewandt, kann Blickkontakt halten. Affektiv leicht dysphorisch, die Stimmungslage ist ebenfalls gedrückt. Psychomotorisch unauffällig, imponiert eine formalgedankliche Weitschweifigkeit, inhaltlich ohne Anhalt für Ich-Störungen, Halluzinationen; es findet sich eine wahrscheinlich seit Langem anhaltende wahnhafte Störung im Sinne eines Beeinträchtigungswahns mit somatischen Symptomen (die Patientin ist davon überzeugt, dass in Kirchenkreisen dafür gebetet werde, dass ihre verschiedenen körperlichen Beschwerden nicht aufhören); eine begleitende Gedankeneingebung wird verneint. Mnestik und Konzentration scheinen nicht beeinträchtigt, die Patientin berichtet lediglich über eine verminderte allgemeine Leistungsfähigkeit. Auch finden sich Anteile eines hypochondrischen Wahns in der Form, dass die Patientin glaubt, an Gicht zu leiden sowie mit falschen Darmbakterien besiedelt zu sein. Die Patientin hat keinerlei Krankheits- und Behandlungseinsicht.

Negative Gebete97

Therapeutische Schritte bestanden in der Kontaktaufnahme mit dem evangelischen Seelsorger der Klinik. Über diese Gespräche liegen keine Daten vor. Die bei der Patientin vorliegende Wahnstörung blieb während des gesamten Aufenthalts therapieresistent, jedoch gelang es der Patientin (unter anderem), unter der Therapie von Zyprexa 20 mg der Beeinflussung distanzierter gegenüberzustehen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre erfolgte keine stationäre Wiederaufnahme der Patientin in dieser Klinik, allerdings nahm sie auch keine Termine in der psychiatrischen Institutsambulanz wahr. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Kombination von hypochondrischem Wahn mit religiös konnotiertem Beeinträchtigungswahn eine erfolgreiche Behandlung erschwert hat. Eine Bewertung ihres religiösen Wahns – vor dem Hintergrund pietistischer Sozialisation und fehlenden familiären, korrigierend einwirkenden Strukturen – durch Ärzte, Psychiater oder Psychologen erscheint weniger Erfolg versprechend als möglicherweise eine diesbezügliche therapeutische oder beratende Intervention durch einen Seelsorger.

Kommentar Hamid Peseschkian

Der beschriebene Fall ist einerseits sehr interessant und lädt zu vielen Reflexionen ein; andererseits geht einem das Schicksal und der Krankheitsverlauf der Patientin sehr nahe. Es ist ein Fall, der uns auch unsere Grenzen aufzeigt. Ohne die Patientin gesehen zu haben und nur aufgrund der hier vorliegenden Angaben des Autors drängt sich die Frage auf, ob die Patientin nicht seit ihrer Jugendzeit an einer schizophrenen Psychose leidet. Der Knick in der Lebenslinie, die frühe Berentung, aber auch der Erstkontakt mit einem pietistischen Gebetskreis im Alter von 17 Jahren lassen daran denken. Wäre die Erkrankung anders verlaufen, wenn die Patientin keinen Kontakt mit dem Gebetskreis gehabt hätte und sofort psychiatrisch behandelt worden wäre (Medikation und Soziotherapie)? Hat sie den Gebetskreis

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Peter Kaiser

aufgesucht, weil sie bereits einen Wahn hatte, oder hatte der Kreis eine stützende, ja vielleicht protektive Wirkung auf den Verlauf? Aufgrund des chronischen Verlaufs bei dieser Patientin wird es wahrscheinlich kaum vollständig klärbar sein, was wahnhafte und was gesunde Anteile sind. Ärzte beteiligen sich allgemein nicht an Spekulationen, aber in diesem Kontext geht es ja um gemeinsame Reflexionen im Hinblick auf die Versorgung und den Umgang mit Patientinnen und Patienten. Nehmen wir an, diese Patientin wäre zwanzig Jahre früher – im Alter von vierzig Jahren – zu uns in die Sprechstunde oder zur Aufnahme gekommen. Wie sollte man vorgehen? Das Positionspapier der DGPPN zu Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie (Utsch et al., 2017) kann hierbei eine große Hilfe im Sinne eines Leitfadens sein: ȤȤ Anamnese: Die Erfassung der Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen sowie deren Relevanz im Leben gehört zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Anamnese. Da wir nicht wissen können, welche Rolle der Glaube für diese Patientin spielt und ob er eher ein positiver oder krank machender Faktor ist, ist eine genaue und eingehende »weltanschauliche« Anamnese zu fordern, gegebenenfalls über mehrere Sitzungen. In diesem Fall kollidiert dies mit einer anderen Forderung des Positionspapiers, nämlich der Neutralität: Behandelnde sollten auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug ihrer Patienten. Dies fällt bei einer solchen Patientin schwer, da die meisten Psychiater und Psychotherapeuten zu derartigen religiösen Vorstellungen keine Beziehung haben werden. Vielleicht sprechen die Mitgläubigen wirklich »negative Gebete«. Wir wissen es nicht. Umso wichtiger sind Anamnese und gegebenenfalls eine Fremdanamnese. Eine große Herausforderung kann es auch sein, wenn eine solche Patientin ihren Behandler fragt, ob er ihr dies alles glaubt oder nicht (vergleichbar mit Patienten, die an Geister oder Verwünschtsein glauben). Die geforderte interkulturelle Kompetenz (da Religiosität und Spiritualität kulturell geprägt sind, sollten die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt werden) ist in diesem

Negative Gebete99

Zusammenhang von großer Bedeutung, um eine tragbare ArztPatient-Beziehung aufzubauen. ȤȤ Nach Anamnese und Diagnostik würden wir zu einer Diagnose kommen, die in Zusammenhang mit den religiösen Vorstellungen stehen kann – aber nicht muss. Vielleicht hatte die Patientin zuerst eine Psychose und hat sich dann aufgrund ihrer krankheitsbedingten Beeinflussbarkeit religiösen Kreisen zugewandt? Vielleicht hat sie sich zuerst an einen Gebetskreis gewandt und wurde dann durch die negativen Sichtweisen krank? Vielleicht hat auch beides miteinander gar nichts zu tun? Aus psychodynamischer Sicht wäre es von großem Interesse, zu wissen, welche Rolle Religion im Elternhaus der Patientin gespielt und welche Erfahrungen sie damit gemacht hat. Nur durch eine vorurteilsfreie und umfassende Diagnostik können wir eine Krankheitsdiagnose stellen, die auch objektivierbar ist. Dass wir hierbei an unsere persönlichen Grenzen kommen können, zeigt die Bedeutung der Notwendigkeit einer Selbsterfahrung und Reflexion über unsere eigenen Einstellungen, Erfahrungen und familiären Hintergründe zur Spiritualität und Religion. Beim Lesen dieser Fallvignette kamen mir sofort zwei Zitate aus den Bahá’í-Schriften in den Sinn: dass »Mäßigung in allen Dingen« erforderlich ist, und: »Rühmt euch nicht der langen Schriftlektüre und vieler frommer Handlungen bei Tag und Nacht. So jemand einen einzigen Vers in Freude und Heiterkeit liest, ist es besser für ihn, als wenn er ermüdet alle Bücher Gottes liest […] Bürdet euren Seelen nicht auf, was sie ermattet und niederdrückt, sondern gebt ihnen, was sie erleichtert und emporhebt« (Bahá’u’lláh, 2008). Falls wir mit einer solchen Patientin in Kontakt kommen, bevor die Erkrankung ausgebrochen und es zu einem religiösen Wahn gekommen ist, könnte der behandelnde Arzt das Prinzip der Mäßigung ansprechen – ohne sich mit den Einzelheiten der religiösen Vorstellungen seiner Patientin auseinandersetzen zu müssen. Dies würde nicht nur zu weit führen, sondern endet oft in Missverständnissen und im Gefühl des Unverstandenseins – auf beiden Seiten.

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Peter Kaiser

Sehr hilfreich hat sich in diesem Kontext das Balance-Modell der Positiven Psychotherapie (Peseschkian, 1980) erwiesen. Diese humanistische psychodynamische Psychotherapie vermittelt Patienten das Konzept einer Balance zwischen den vier Lebensbereichen Körper/Gesundheit, Arbeit/Leistung, Beziehungen und Sinn. In diesem Kontext würde bei dieser Patientin im Bereich Sinn besprochen werden, wie viel Energie sie investiert und ob andere Bereiche zu kurz kommen. So kann man Widerstände reduzieren, und die Patientin, der Patient erhält ein Konzept einer persönlichen Lebensbalance, welches selbstverständlich individuell und kulturabhängig ist. Literatur Bahá’u’lláh (2008). Kitab-i-Aqdas – Das Heiligste Buch (2., deutschsprachige Auflage). Hofheim/Ts.: Bahá’í-Verlag. Peseschkian, N. (1980). Positive Familientherapie. Frankfurt a. M.: Fischer. Utsch, M., Anderssen-Reuster, U., Frick, E., Gross, W., Murken, S., Schouler-­ Ocak, M., Stotz-Ingenlath, G. (2017). Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Spiritual Care, 6 (1), 141–146

12  Das Kind im Klinikmüll Isgard Ohls

Die 36-jährige Frau B. wird in einer psychiatrischen Klinik nach einem Suizidversuch behandelt. Sie hat als erfolgreiche Geschäftsfrau bislang ein Leben auf der Überholspur gelebt, war vor allem mit ihrer Karriere beschäftigt, sodass wenig Zeit für Freizeit, private soziale Kontakte oder die Gründung einer Familie blieb. Im Zuge zunehmender Erschöpfung fand sie für sich keinen anderen Ausweg, als ihrer zunehmenden Schlaf- und Appetitlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, dem Verlust von Freude und Interesse mit noch mehr beruflichem Engagement zu begegnen. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und sich weiter durch ihren Alltag gekämpft. Dieses Vorgehen reichte bis zu dem Tag, an dem ihr Arbeitgeber ihr mitteilte, dass er sie aufgrund beruflicher Umstrukturierungen im Großkonzern nicht weiter werde beschäftigen können. Für Frau B. brach mit der Arbeitslosigkeit eine Welt zusammen. Sie versuchte, sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, wurde aber von einem zufällig auftauchenden Freund noch rechtzeitig in ihrer Wohnung gefunden und in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht. Nach Ende der Überwachungszeit wurde sie mit der Diagnose einer schweren depressiven Episode auf eine Spezialstation für affektive Störungen verlegt. Zunächst zeigte sich Frau B. sehr skeptisch gegenüber dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungssetting, drängte in die Häuslichkeit, konnte sich aber zugleich nicht glaubhaft von weiteren Suizidplänen distanzieren. Mit dem Ende der Beschäftigung war auch ihr Lebenswillen versiegt.

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Isgard Ohls

Im Zuge des psychotherapeutischen Begegnungsprozesses wurde zunehmend deutlich, dass der Grund für ihren versiegenden Lebenswillen nicht nur der aktuelle Verlust des Arbeitsplatzes und die damit einhergehende Kränkung infolge fehlender Wertschätzung ihrer bisherigen Leistungen war. Frau B. betonte, dass sie seit 15 Jahren in stillen Momenten zunehmend den Eindruck gewonnen habe, vor sich selbst »irgendwie auf der Flucht zu sein«. Langsam wurde erkennbar, dass Frau B. vor 15 Jahren ein Kind aus medizinischer Indikation heraus hatte abtreiben lassen. Sie hatte von diesem Kind nie Abschied nehmen können. Es war im »Klinikmüll entsorgt« worden. Frau B. hatte danach ihr ganzes Engagement auf ihre berufliche Karriere ausgerichtet. Obwohl sie in ihrer Jugend regelmäßig an eine christliche Kirchengemeinde angebunden gewesen war, hatte sie sich völlig von ihrem Glauben und dem damit verbundenen sozialen Netzwerk distanziert. Im therapeutischen Prozess wurde zunehmend erkennbar, dass die unverarbeitete Trauer über die Abtreibung ihres Kindes dazu geführt hatte, dass bei allen Versuchen, diese zu vergessen und zu verdrängen, sie auch in eine religiöse Krise geraten war. Die Theodizeefrage des »Warum« hinter ihrem beruflichen, privaten und auch spirituellen Leiden quälte die Patientin und ließ sie aus ihrer komplizierten Trauer keinen Weg herausfinden. Sie selbst konnte sich nicht verzeihen, stand zunächst sprachlos vor der im Inneren erlebten massiven Schuld und Scham, dass ihr Kind keinen Weg ins Leben hatte finden können. Zögerlich sprach sie von sich selbst als einer »Mörderin«, die gegen das fünfte biblische Gebot verstoßen habe. Der therapeutische Prozess wurde für diese Patientin aufgrund des religiösen Hintergrundes um wesentliche Elemente erweitert: Mithilfe der Klinikseelsorge, eines nachträglichen Bestattungsrituals und vorsprachlicher kunst- und musiktherapeutischer Inter­ventionen, welche den Abschied in den Mittelpunkt rückten, konnte Frau B. allmählich lernen, sich selbst zu verzeihen und ihr ungeborenes Kind endgültig loszulassen. Zudem fand sie erneuten Zugang zu einer christlichen Kirchengemeinde und arbeitete nach ihrer Entlassung in Teilzeit bei einem neuen Arbeitgeber. Nachträglich betrachtet hat vor allem der Beitrag der Klinikseelsorge zum Gelingen dieses multimodalen therapeutischen Prozes-

Das Kind im Klinikmüll103

ses beigetragen. Hatte die individuelle Schuldwahrnehmung Frau B. viele Jahre in die Einsamkeit geführt, so ermöglichte die nachträgliche Schuldvergebung mittels Ritualen zugleich neue religiöse Gemeinschaftserfahrungen. Erfahrene Versöhnung beseitigte die Entfremdung von Frau B. von sich selbst und ihrer Vergangenheit, den Mitmenschen und Gott. Die Vergebung von Schuld eröffnete einen Raum des Verzeihens, Loslassens und Vertrauens in die Zukunft. Fernab aller möglichen Schuldzuschreibungen – an die eigene Familie, den Freundeskreis, das weitere soziale Umfeld oder auch bereits verstorbene Mitmenschen – kann ein wahrhaftiges Verzeihen und Loslassen, wie es unter anderem von der christlichen Religion ermöglicht wird, den Weg in eine neu empfundene Freiheit ebnen und das Leben für neue Begegnungen mit Mitmenschen (wieder) öffnen. Die Arbeit an Trauer, an Schuld und Scham ist nicht nur ein Zeichen menschlicher Verstrickung und menschlichen Elends, sondern auch von Verantwortlichkeit und Freiheit mit dem Ziel einer Verbesserung der Mündigkeit und Menschlichkeit des Individuums. Der Teufelskreis aus Selbstrechtfertigung und Fremdanklage wurde so für Frau B. heilsam durchbrochen. Von dieser Perspektive her können die Tiefe der authentischen Schuldwahrnehmung des Glaubens und die alltäglich erfahrene Breite der Schuldwahrnehmung von Humanwissenschaften, Psy­ chologie und Philosophie zu einem ganzheitlichen Verständnis des Themas Trauer, Schuld und Scham führen und neue psychotherapeutische Wege aufzeigen.

Kommentar Eckhard Frick

Den Suizid kann man mit James Hillman (1964/1984) als über­ stürzten Wandlungsversuch der Seele verstehen. Beim »geschei­ terten« Suizidversuch bleibt dieser Wunsch nach rascher Wandlung unerfüllt. Manche dieser verhinderten Suizidanten können die Chance nutzen, sich in diesem endlichen, aber nicht mehr überstürzt abgebrochenen Leben zu verändern.

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Isgard Ohls

So verhält es sich wohl auch in diesem Fallbeispiel. Wie so oft in suizidalen Krisen finden sich ein depressiv-narzisstischer Kontext und ein Auslöser, in diesem Fall die Kränkung durch Arbeitslosigkeit. Die »Freistellung«, wie es im Erwerbsleben oft euphemistisch genannt wird, ist für die erfolgsverwöhnte, »auf der Überholspur« lebende Geschäftsfrau deshalb so einschneidend, weil die berufliche Gratifikation als wesentliche (Selbst-)Wertschätzung wegfällt. Suizidale Phantasien können in derartigen Kränkungssituationen einen selbstwertstabilisierenden Charakter haben, weil sie eine imaginierte Flucht ermöglichen, außerdem Wiedererlangung von Kontrolle, Antizipation des behaglichen postmortalen Zustands, vielleicht auch Genugtuung dem kränkenden Vorgesetzten gegenüber. Besonders gefährlich wird die suizidale Selbstwertstabilisierung dann, wenn keine andere narzisstische Bestätigung bereitsteht und eine narzisstische Krise (Henseler, 1974) sich zuspitzt. All dies scheint in diesem Fallbeispiel freilich nur eine vordergründige, oberflächliche Rolle zu spielen. Es geht in der Tat um Flucht, jedoch weniger vor Kränkung und Zusammenbruch des Selbstwerts als vielmehr um Flucht vor einem einschneidenden Lebensereignis, einer 15 Jahre zurückliegenden Abtreibung. Wir erfahren von mehreren »stecken gebliebenen« Gefühlen, von der eingefrorenen, nie durchgetragenen Trauer, von dem Dilemma zwischen Scham und Schuld (Wurmser, 1988), zwischen der Scham, sich mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu sehen und zu zeigen – verstärkt durch den Wegfall der Maske einer tüchtigen Geschäftsfrau –, und der Schuld gegenüber dem getöteten Kind, gegenüber dem eigenen Muttersein und nicht zuletzt gegenüber Gott. Nur der gläubige Mensch kann sich als sündiger Mensch bekennen: Nur im Glauben glauben wir, dass wir Sünder sind (sola fide credimus nos peccatores esse, Luther). Auf den ersten Blick trägt der religiöse Mensch schwer an der Sünde, der »zusätzlichen« Schuld Gott gegenüber. In der Tat kann dies zu schweren religiös ausgestalteten Schuldgefühlen führen, bis hin zum melancholischen Versündigungswahn. In psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht werden derartige Schuldgefühle oft als depressive Symptome gesehen, die es wie Appetit- und Antriebsmangel, Schlaf- und

Das Kind im Klinikmüll105

Libidostörung zu beseitigen gilt bzw. deren Verschwinden die Morgenröte der Heilung ankündet. Über diesem Furor sanandi wird allerdings vergessen, dass der depressive Mensch und besonders der religiös Depressive ausdrücklicher und deutlicher als andere unter seiner menschlichen Existenz leidet: Er ist »Philosoph wider Willen« (Holzhey-Kunz, 2008). Mit Kierkegaard gesprochen, leidet er darunter, zwischen der eigenen Endlichkeit und der Unendlichkeit Gottes zerrissen, Gott gegenüber Sünder zu sein. Das Ausgeliefertsein an die lauernde Verzweiflung, die »Krankheit zum Tode«, beschreibt Kierkegaard in mehreren Spielarten. Eine davon ist der verzweifelte Drang, ein Selbst zu sein, sich selbst zu rechtfertigen. Von außen kann dies als zusätzliche Belastung eines ohnehin schon schwermütigen Menschen aufgefasst werden, sodass man dem gläubigen depressiven Menschen raten könnte, doch bitte etwas weniger religiös zu sein und »weltliche« Bewältigungsstrategien zu ersinnen. Spätestens jetzt wird deutlich, wie reduktionistisch es ist, Trauer-, Schuld- und Schamgefühle lediglich verschwinden zu lassen, die Gefühle zu beseitigen, ohne dass die betroffene Person sich mit ihrer Trauer, Schuld oder Scham auseinandergesetzt hätte. Denn im Fortbestehen derartiger Gefühle liegt nicht nur ein Problem, sondern auch eine Ressource. So zeigen die Psychoanalytiker Volkan und Showalter (1968), dass nicht die Beseitigung von Trauergefühlen, sondern die Ermöglichung echter Trauer das Leiden an eingefrorener Trauer bewältigen hilft. Im vorliegenden Fallbeispiel waren es vor allem seelsorgliche Rituale, durch welche die Patientin Zuwendung, Trauerbegleitung und Vergebung erfuhr und all dies auch annehmen konnte. Sie wurde von dem Stress befreit, sich selbst verzeihen zu müssen, konnte schließlich die ihr von den Seelsorgern zugesprochene Vergebung annehmen. Zusammen mit dem abgetriebenen Kind waren auch ihre Gefühle – oberflächlich betrachtet – entsorgt worden. In liturgischen Feiern finden sie nun ein Gefäß, einen sakramentalen und heilsamen Ausdruck.

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Isgard Ohls

Literatur Henseler, H. (1974). Narzißtische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords. Reinbek: Rowohlt. Hillman, J. (1964/1984). Selbstmord und seelische Wandlung: Eine Auseinandersetzung (Original: Suicide and the soul). Zürich: Daimon. Holzhey-Kunz, A. (2008). Daseinsanalyse. In A. Längle, A. Holzhey-Kunz (Hrsg.), Existenzanalyse und Daseinsanalyse (S. 183–348). Stuttgart u. Wien: UTB, Facultas. Volkan, V., Showalter, C. R. (1968). Known object loss, disturbance in reality testing, and »re-grief work« as a method of brief psychotherapy. Psychiatric Quarterly, 42, 358–374. Wurmser, L. (1988). Gedanken zur Psychopathologie von Scham und Ressentiment. Analytische Psychologie, 19, 283–306.

13  Berufen zu missionieren Isgard Ohls

Frau X., 24 Jahre, Verkäuferin mit afrikanischen Wurzeln und Mutter zweier kleiner Kinder, wurde durch Arbeitskollegen in die psychia­ trische Notaufnahme einer Klinik gebracht, nachdem sie am Arbeitsplatz wiederholt versucht hatte, ihre Mitmenschen in missionarischer Absicht zum Christentum zu bekehren. Sie gehörte zusammen mit ihrem Ehemann einer freikirchlichen Sekte an. Ihr Verhalten war in beruflich unpassenden Situationen aufgetreten: Kundinnen, die das Geschäft mit anderen als religiösen Absichten betraten, sollten zum Glauben bekehrt werden. In der Mittagspause setzte sich dieses Verhalten gegenüber Kolleginnen im Sozialraum fort. Frau X. hatte mehrfach aus der Heiligen Schrift rezitiert, die Ungläubigen ob ihrer Verblendung kritisiert, sich selbst als auserkorenen Menschen, als Gesandte Gottes beschrieben. Jener forderte sie in ihrer Wahrnehmung durch Worte und Bilder vehement auf, die Mitmenschen in der Endzeit vor Eintreffen des Jüngsten Tages zum Glauben zu bekehren. Denn nur so konnte die Welt gerettet werden. Frau X. glaubte unkorrigierbar an ihre besondere Berufung, ihre Sinneswahrnehmungen und ihre besonderen Kräfte. Selbst wenn ihre religiöse Sendung die Kündigung an ihrem Arbeitsplatz mit den damit verbundenen finanziellen Einbußen bewirkt hätte, war sie gern bereit, dieses persönliche Opfer für ihren Glauben zu erbringen. Auch in der Glaubensgemeinschaft war sie durch eine gemeindeuntypische Gebetsweise, Streitsucht, zum Teil bizarre Verhaltensweisen und Gedankenabreißen aufgefallen. Ein geordneter Austausch über ihr religiöses Erleben war nur eingeschränkt mög-

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Isgard Ohls

lich. Trotz zunehmender Distanz zu der Glaubensgemeinschaft hielt Frau X. weiterhin unverrückbar an ihrer besonderen Berufung zur Verkündigung fest, welche ihr in verschiedenen Offenbarungen, über die sie zögerlich sprach, eingegeben worden sei. Sie erlebe sich als Gottes Auserwählte, welcher die Gabe der Geistunterscheidung, der Verkündigung des göttlichen Wortes sowie dadurch exzellente Menschenkenntnis geschenkt worden seien. Fernab allen Scham- und Schulderlebens sowie mit teilweise fehlendem Realitätsbezug wurde Frau X. mit dieser Sicht auf die eigene Person und ihr Umfeld zu einer Gefahr für sich und ihre Umwelt. Im therapeutischen Prozess wurde erkennbar, dass der Ehemann von Frau X. ebenfalls Teil ihres Wahnsystems geworden war. Er hatte den Eintritt in die freikirchliche Glaubensgemeinschaft allerdings strukturiert-integriert verarbeitet und konnte sich von einigen Ansichten, die ihm sowohl bei seiner Frau als auch in der Gemeinschaft sehr befremdlich vorkamen, distanzieren. Während des sich anschließenden Klinikaufenthaltes konnte bei Frau X. ein religiöser Wahn erkannt und entsprechend im multimodalen Therapiesetting mittels Pharmako-, Psycho-, Sozio- und Milieutherapie behandelt werden. Erstaunlich war, dass Frau X. in der Vorgeschichte überhaupt nicht religiös sozialisiert war, allerdings seit einer Art Berufungserlebnis im Rahmen der freikirchlichen Glaubensgemeinschaft an ihre besondere Befähigung zur Verkündigung unverrückbar glaubte. Dieses Erleben konnte im therapeutisch-klinischen Verlauf bearbeitet werden. Frau X. konnte nach Regredienz des psychotischen Erlebens und einer beruflichen Wiedereingliederung an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren. Aus der Sekte trat sie zusammen mit ihrem Ehemann aus. Bis heute hat sie keinen Kontakt zu einer religiösen Gemeinschaft aufgenommen und bewegt sich im beruflich-privaten Umfeld ausschließlich im säkularen Kontext.

Berufen zu missionieren109

Kommentar Eckhard Frick

Säkular versus religiös und gesund versus krankhaft: Sind beide Gegensatzpaare deckungsgleich? Ist der gesunde Mensch auch säkular eingestellt, auf unsere materielle, ökonomische, diesseitige Welt hin orientiert, während der religiöse in seinem spirituellen Jenseitsbezug als krank zu bezeichnen ist – zumindest ab einem gewissen Ausprägungs- und Auffälligkeitsgrad? Die Religionspsychopathologie liefert jedenfalls Kriterien dafür, wann zum Beispiel der individuelle oder auch kollektive Fanatismus der abnormen oder gar der pathologischen Religiosität zuzuordnen ist. Als weitere Kategorie sind außergewöhnliche religiöse Phänomene zu nennen, »nichtpsychotische religiöse Erscheinungen von sehr ausgefallener bis zu Aufsehen erregender Art«, die »der Religiosität spirituell besonders ›begabter‹ Menschen entspringen«, beispielsweise subjektive außersinnliche Wahrnehmungen: Visionen, Auditionen, andere Sinneswahrnehmungen (Demling, 2017). Beim religiösen Glauben wird »nicht die Unmöglichkeit des Urteils zum Kriterium der Grenzziehung zwischen pathologisch und (noch) normal gemacht, sondern stärker auf den soziokulturellen Hintergrund Bezug genommen. Nur bei massiven Abweichungen von allgemein akzeptierten Glaubensinhalten und sozialer Desintegration wird religiösen Überzeugungen Wahncharakter zugesprochen« (Kaiser, 2012, S. 50). Im vorliegenden Fallbeispiel fallen soziale Auffälligkeit, psychiatrische Diagnose und Behandlung mit auffälliger Religiosität zusammen. Ebenso verschwinden alle Merkmale zusammen: Die Patientin wird gleichzeitig psychopathologisch unauffällig und »säkular«. Die klassische Religionspsychopathologie beobachtet Auffälligkeiten meist am Individuum und hält das Kollektiv für den Normstandard. Dies gilt auch in transkultureller Hinsicht, wenn etwa bei einem afrikanischen Patienten gefragt wird, ob dessen Überzeugungen in seinem Voodoo-Kontext (noch) normal sind. Während religiöser Glaube zwar für den Gläubigen selbst existenzielle Bedeutung hat, diese Bedeutung jedoch auf die ganze Menschheit

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Isgard Ohls

bezogen wird, ist für den Wahn der exklusive Eigenbezug charakteristisch (Demling, 2017). Geteilte Wahnüberzeugungen im Sinne einer »folie à deux« sind selten. Auch im vorliegenden Fallbeispiel teilt der Ehemann zwar gewisse kollektive Überzeugungen der religiösen Gemeinschaft, bleibt jedoch in Bezug auf die »missionarischen« Wahnüberzeugungen distanziert. Das Fallbeispiel eignet sich gut dazu, Demlings Unterscheidung zwischen »abnormer« und »pathologischer« Religiosität herauszuarbeiten. Sowohl das gleichzeitige Verschwinden der »missio­ narischen« Überzeugungen mit den übrigen psychotischen Symptomen als auch die abrupte Beendigung der Sektenzugehörigkeit deuten darauf hin, dass die religiöse Gemeinschaft eine vorübergehende Bühne, vielleicht auch eine Coping-Ressource (Frick, 2017b) für eine psychotische Episode mit pathologischer Religiosität darstellte. Die klassische Religionspsychopathologie tat sich schwer damit, im religiösen Wahn neben der pathologischen Religiosität auch die potenziellen Ressourcen zu sehen. Ihr Normbegriff war immanentistisch-säkular, ging also davon aus, dass jegliche spirituelle Offenheit für den Transzendenzbezug potenziell pathologisch oder zumindest abnorm ist. Ein derartiger Normbegriff betrachtet Phänomene wie Sendung, Missionieren, religiöse Berufung (Frick, 2017a) durch die Lupe der Psychopathologie. Dies steht zwar im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die persönliche Geschichte des »missionarisch« erlebenden Menschen droht allerdings vorschnell pathologisiert zu werden. Dadurch kann neues Leid entstehen, und die psychopathologische Fixierung erschwert die Möglichkeit, auffällige religiöse Normabweichungen innerhalb des religiösen Sprachspiels zu verstehen.

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Literatur Demling, J. H. (2017). »Gesunde« und leidvolle Religiosität. Versuch einer psychiatrisch-psycho(patho)logischen Abgrenzung. Spiritual Care, 7, 81–87. Frick, E. (2017a). Missionieren, missionarisch. Spiritual Care, 6, 275–276. Frick, E. (2017b). Spirituelle Unterstützung in der Psychiatrie. Ein Gespräch mit Sylvia Mohr. Spiritual Care, 6, 125–130. Kaiser, P. (2012). Besonderheiten in der Behandlung religiöser Patienten. In M. Utsch (Hrsg.), Pathologische Religiosität. Genese, Beispiele, Behandlungsansätze (S. 37–66). Stuttgart: Kohlhammer.

14  Geheimdienstler entzündet Kerze Gabriele Stotz-Ingenlath

Ein 58-jähriger Patient kommt mit einem ausgeprägt depressiven Zustandsbild bei einem Partnerschaftskonflikt zur stationären Aufnahme. Seine Frau wolle sich von ihm trennen, obwohl er sich immer sehr um sie bemüht habe. Er fühle sich schon lange unverstanden und allein, habe keinen Antrieb mehr und sei freudlos geworden, zudem plagten ihn Schuldgefühle, die er anfangs nicht näher benennen wollte und über die er nicht mit seiner aus Westdeutschland stammenden Frau sprechen könne. Sie kämen eben aus sehr unterschiedlichen Lebensbereichen. Auf Station wird er mit Antidepressiva behandelt und in den psychotherapeutischen Gesprächen näher zu seinen Schuldgefühlen befragt. Tatsächlich erinnert er sich flashbackartig an seine Zeit als junger Mitarbeiter des Auslandsgeheimdienstes der DDR. Er war überall in der Welt im Einsatz, musste auch Geiseln befreien und oft Gebrauch von seiner Waffe machen. Einmal sei sein Freund neben ihm durch einen Schuss getötet worden und in sich zusammengesunken, daraufhin habe er rauschhaft zurückgeschossen, wie um ihn zu rächen, und zuletzt habe er sich vorgenommen, immer als Erster zu schießen, um so etwas nicht mehr erleben zu müssen. So habe er mehrfach getötet: Gerechtfertigt, auf Befehl hin – ja, aber da sei noch etwas dabei gewesen, eine Lust zu töten. Das lasse ihn nun erschauern. Es quäle ihn, Bilder verfolgten ihn überallhin. In seiner jetzigen Tätigkeit sei er viel auf Reisen. Da ziehe es ihn, der nie religiös gewesen sei, in die Kirchen, an stille Orte. Er zünde Kerzen an, komme sich aber ungelenk vor, wisse nicht, wie er sich verhalten

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Gabriele Stotz-Ingenlath

solle, sitze dann einfach da und suche verzweifelt inneren Frieden, den er aber nicht finde. In der Psychotherapie versucht die Therapeutin, ihn anzuleiten, sich selbst zu verzeihen, sich auch vor sich selbst zu entschuldigen. Es sei damals ja eine andere Zeit gewesen, ein anderes Regime habe geherrscht, er habe ja so operieren müssen. Im Gespräch mit der Ärztin erklärt er, dass es ihm eher nicht guttue, sich in der Psychotherapie als Opfer zu sehen. Irgendwie sei da Schuld, er sei eben doch Täter gewesen und wolle das vor sich selbst auch nicht beschönigen. Das Schießen und Töten hätten ein rauschhaftes Gefühl in ihm erweckt, für das er sich schäme. Immer wieder sehe er den durch Schüsse zerfetzten Körper seines Freundes vor sich und es werde ihm regelrecht übel. So hätten auch die von ihm Erschossenen ausgesehen. Er könne darüber mit niemandem reden. Die Ärztin, Katholikin, erzählt ihm von der Möglichkeit, mit einem Priester zu sprechen, bei echter Reue die Schuld, die er in sich spüre, zu bekennen – und dann auch über die Vermittlung des Priesters in einer Beichte Vergebung zugesprochen zu bekommen. Für ihn ist das alles Neuland und er wehrt zunächst ab, das sei nichts für ihn. Anderntags kommt er jedoch erneut und bittet um ein Gespräch. Er bekomme die Idee, Vergebung erlangen zu können, nicht mehr aus dem Kopf. Verziehen zu bekommen, ja, das wäre erlösend, das wäre wohl der einzige Ausweg aus seiner inneren Gequältheit. Die Ärztin vermittelt ihm ein Gespräch mit einem erfahrenen Jesuiten. Das Gespräch kommt auch zustande und weitere Gesprächstermine werden vereinbart. Nach einiger Zeit möchte der Patient entlassen werden, weil ihm auf einmal die medizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden seiner Ängste und seines Schuldgefühls nicht mehr zielführend vorkommen und er sich vom Gespräch mit dem Priester die innere Linderung verspricht, die er in den anderen Therapieformen nicht so gespürt habe. »Vergebung« sei ihm zum Schlüsselwort bei seiner Suche nach Wiedererlangung des inneren Friedens geworden.

Geheimdienstler entzündet Kerze115

Kommentar Eckhard Frick

Die Umgangssprache ist darin nicht präzise, was Schuldigwerden und Verzeihen angeht. Wir sprechen in verkürzter Redeweise davon, dass jemand »sich entschuldigt«, und meinen, dass er eine andere Person »um Entschuldigung bittet«. Beides, das Bitten um Entschuldigung und das Gewähren der Bitte, sind Akte der Freiheit. Genau dies geht unter, wenn jemand unter individuellem oder kollektivem Druck »sich entschuldigt«. Weder ist dann der Selbst-Entschuldiger frei noch die andere Person, die allein Entschuldigung gewähren kann. Freilich gehört zum Prozess der Vergebung auch, dass ich Verzeihung, Entschuldigung als Schuldiger annehme, wenn diese mir gewährt wird. Ich brauche auch Barmherzigkeit mir selbst gegenüber oder, wie man auch sagen kann, die Fähigkeit, mir selbst zu vergeben. Im Fallbeispiel des ehemaligen Mitarbeiters des DDR-Geheimdienstes geht es um Leiden unter Schuldgefühlen und um reale Schuld. Die Menschen, die zu Schaden gekommen sind, kommen größtenteils schon deshalb nicht für eine Vergebungsbitte infrage, weil der Schuldige sie getötet hat. Er leidet unter dieser ungesühnten und unvergebenen Schuld und unter massiven Schuldgefühlen, die teilweise ein intrusives, posttraumatisches Gepräge haben, im Sinne einer sekundären Viktimisierung des Täters. Die Kasuistik, obwohl sehr knapp gehalten, eröffnet mehrere Schuldhorizonte: 1. Selbstbezug (Selbstbezichtigung, Täter-, aber auch Opferskript), 2. Bezug zu den Opfern, 3. klinisch-psychia­ trischer Horizont, 4. psychotherapeutischer, 5. ärztlich-spiritueller, 6. seelsorglicher Horizont. Im Einzelnen: 1. Es handelt sich um ein Leiden an eigener faktischer (Tötungs-) Schuld, das, möglicherweise im Rahmen einer depressiven und/oder posttraumatischen Störung durch Schuldgefühle verstärkt, aufrechterhalten wird. Diese Schuldgefühle sind jedoch als sekundäre Affektsignale, nicht als Zentrum einer Pathologie zu sehen. 2. Aggression und Tötung haben zur Folge, dass die Opfer nicht mehr als Entschuldigungspartner oder auch nur als Schuld-

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Gabriele Stotz-Ingenlath

zeugen zur Verfügung stehen. Als Verstorbene führen sie dennoch zu einer spirituellen Repräsentanz im Schuldigen. 3. Im klinischen Setting werden die Schuldgefühle unter eine depressive Störung subsumiert und wenig beachtet, da sie als eines der Zielsymptome beseitigt werden sollen. Erst die Persistenz der Symptomatik und die nachgeholte Exploration führen zur 4. psychotherapeutischen Mitbehandlung, die copingorientiert auf die Schuldgefühle fokussiert. Die reale Schuld hingegen versucht die Psychotherapeutin durch Hinweise auf politische Systemzwänge zu »entschuldigen«, sodass ein Täter mit Opfer-Anteilen zum (fast ausschließlichen) Opfer umdefiniert wird. 5. Im Dialog mit der Referentin kommt der Patient zur Einsicht, dass er sich seiner Schuld stellen will und einen anderen Weg suchen möchte als den der Reduktion auf Schuldgefühle und der Selbst-Entschuldigung. Die Ärztin benennt ihre eigenen Grenzen in der Begleitung der Schuldproblematik und macht einen ungewöhnlichen Vorschlag: die Überweisung zu einem katholischen Priester. 6. »Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren« (Habermas, 2001). Der Patient geht im Vergleich zu der von Habermas als säkulare Elimination von Sünde bezeichneten Entwicklung den umgekehrten Weg: Er sucht den verlorenen Transzendenzbezug auf, was es ihm möglich macht, von der Größenphantasie der Selbst-Entschuldigung Abschied zu nehmen. Wofür steht der Wunsch nach Sündenbekenntnis und priesterlicher Absolution im postsäkularen und Post-DDR-Kontext dieses Fallbeispiels? Es dürfte um den Schrecken darüber gehen, sowohl mit der eigenen Schuld also auch mit der Vergebung allein gelassen, nur auf die eigene »Bewältigung« verwiesen zu werden. Wenn Vergebung einer transzendenten Instanz überlassen wird, kann auch der Anspruch aufgegeben werden, selbstkontrolliert zu bewältigen. In »Bewältigung« schwingt »Gewalt« und aktivistischer Selbst-Anspruch mit. Das Aufgeben dieses Anspruchs zeugt von

Geheimdienstler entzündet Kerze117

einer gewissen Barmherzigkeit sich selbst gegenüber. Insofern spürt die Psychotherapeutin etwas Richtiges, wenn sie dem Patienten Selbstvergebung nahelegt. Barmherzigkeit sich selbst gegenüber wird in dieser Kasuistik allerdings erst dann möglich, wenn der Anspruch auf Selbst-Entschuldigung aufgegeben wird. Literatur Habermas, J. (2001). Glauben und Wissen: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Katamnestische Bemerkung Gabriele Stotz-Ingenlath

Einige Wochen nach der Entlassung besucht der Patient noch einmal die Station und bedankt sich bei der Stationsärztin für die »Überweisung« zum Priester. Die intensiven Gespräche täten ihm eminent gut, es eröffneten sich ganz neue »geistige Räume« und er bleibe gern weiter dabei. In einem Telefongespräch äußert sich auch der »behandelnde« Seelsorger sehr positiv über die Entwicklung, die der Patient in den Gesprächen durchlebe. Sie blieben beide »am Ball« und sähen sich regelmäßig in etwa zwei- bis vierwöchentlichen Abständen. Die Begleitung bei der Auseinandersetzung mit der Schuld der Vergangenheit sei eine Herausforderung, doch lohne sich die gemeinsame Mühe durchaus, und »es geschehe etwas mit dem Patienten«.

15  Der schizophrene Messias Gabriele Stotz-Ingenlath

Man kennt ihn schon auf der geschlossenen Station, in die er immer wieder eingewiesen wird. Und wenn er da ist, ist er spürbar da; schon beim Betreten des Gangs liegt etwas Unnennbares in der Atmosphäre, eine gewisse Stimmung, eine Spannung, eine eigenartige Erfülltheit des Raumes. Und dann taucht er auf, mit nassen Locken, barfuß. Im langen Hemd. Hat er die Gitarre dabei? Ist er sanft oder kraftvoll empört, gut gelaunt oder legt er sich gerade wieder mit den Pflegern an? Meist schart er andere Patienten um sich, spielt ihnen auf der Gitarre vor und singt mit sonor schwingender Baritonstimme Lieder aus seiner Heimat – auch nachts und in den frühen Morgenstunden. Wenn man ihm dann die Gitarre wegnimmt, wird er rabiat. Er kann mit seiner weichen Stimme auch sehr laut schreien, kann toben, Stühle über die Station werfen und kann einfach ausbrechen, innerhalb von Sekunden, hinter der Stationstür wartend – oder im kleinen geschlossenen Garten mit Anlauf die hohen Mauern erklettern, als wolle er sie niederreißen. Er bringt dann Wein mit und Brot von draußen und versammelt die anderen um sich zur Wandlung. Denn er ist Christus, der Messias. Durch Wolkenlücken sende Gott, der Vater, seinen Heiligen Geist auf ihn. »Fesselt mich nur, verhöhnt mich, quält mich: So ist es vorbestimmt, so gehe ich den Weg im Gehorsam.« Und dann hat man ihn überwältigt mit vier Pflegern, hat ihm Antipsychotika gespritzt, Beruhigungsmittel unter die Zunge gedrückt und ihn ins Isolierzimmer gebracht. In der Überwachungskamera

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Gabriele Stotz-Ingenlath

im Stationszimmer sieht man, wie er dasitzt, auf der einzigen weichen Sitzgelegenheit im Raum, einem Polsterthron. Ganz ruhig. Es gibt auch ein Fenster in der Tür, durch das man schauen kann. Fast geht ein Sog davon aus, hineinzuschauen, ihn anzuschauen. Es zieht einen hin zu diesem Menschen. Welch ein Mensch! Blut klebt ihm auf der Stirn, er hat sich beim Wehren vorhin mit Scherben der mitgebrachten Weinflasche verletzt. Von den Handfesseln hat man ihn losgebunden, nachdem er sich beruhigt hat. Da sitzt er nun und lächelt, merkt wohl, dass man ihn durchs Fenster beobachtet, aber die Lider seiner schönen Augen sind halb geschlossen. Es war eine hohe Dosis Chemie, sogar für einen kräftigen jungen Mann wie ihn. Bleich sitzt er da – wie eine Dostojewski-Figur. Seine Mutter kommt. Sie darf zu ihm. Ihr gegenüber ist er immer sanft. Sie kennt die psychotischen Schübe seit Jahren, sie hat ihn großgezogen, allein, in Russlands Weite auf dem Land, bevor er zum Musikstudium nach Moskau und später in den Westen ging. Sie versteht, dass er krank ist, aber sie glaubt an ihn, sie glaubt ihm sein Reden: In Russland, sagt sie, sei man überzeugt, dass Gott den psychisch Kranken nahe sei und sogar durch sie spreche. In der Klinik bekommt er immer wieder seine Depotspritze, die für etwa vier Wochen gut wirkt. Im gesunden Zustand ist er ein aktiver junger Künstler, der in Klubs unterwegs ist und in Szenelokalen Gitarre spielt. Ambulante psychiatrische Kontrolltermine hält er nie ein. Wenn die Wirkung des Depots endgültig abgeflaut ist, kann man darauf warten, dass er wieder von der Polizei aufgegriffen und in die Klinik gebracht wird.

Kommentar Eckhard Frick

In dieser kunstvollen Vignette über einen psychotischen jungen Künstler fallen die Oxymora auf, die Gegensätze in seiner Persönlichkeit: Sanft und rabiat ist er, majestätisch und gefangen, charismatischer Führer und doch selbst verstiegen, voller Ausstrahlung und doch abgeschnitten von der Kommunikation. Diese Gegensätze finden im Wahn zu einer spannungsvollen Gestalt zusammen.

Der schizophrene Messias121

Im Unterschied zum Wahn, jedenfalls im Unterschied zum voll ausgebildeten Wahn, geht der Glaube im religiös-spirituellen Sinn mit Zweifeln einher. Glaube ist tastend, Vertrauen und Sicherheit suchend, erprobend, mit Angst gepaart. Der unbeirrbare Wahn hingegen blendet Zweifel in Wahrnehmung, Denken und Gefühl aus (Demling, 2017). Es ist gerade die affektive Komponente, die Wahnstimmung, die oft den gedanklichen Konstruktionen vorauseilt und stärker noch als Störungen der Wahrnehmung (z. B. Halluzinationen), der Denkabläufe und -inhalte eine eigene Wirklichkeit erschafft. Je nach Standpunkt kann man sagen, dass die durch den Wahn konstruierte Wirklichkeit enger oder weiter ist als die »normale«. Jedenfalls ist sie anders und nur bedingt verstehbar, nachvollziehbar. Wer schizophrene Menschen im akuten Wahnerleben begleitet, wird durch die affektive Wahnkomponente meist stärker berührt als durch Modifikationen des Denkens und der Wahrnehmung. Die Gefühlsansteckung und die Veränderung der Zwischenleiblichkeit werden nicht isoliert am Kranken beobachtet. Dieser verfügt vielmehr über eine eigentümliche Bühnenpräsenz. Die Ich-­Mythisierung, etwa als Retter, Welterhalter, unbegrenzter »Checker« oder Durchblicker des Verborgenen, kann psychodynamisch als Kompensationsversuch angesichts eines existenziellen Bedrohtseins verstanden werden. Dies ändert aber nichts an der atmosphärischen Wirksamkeit, die überindividuell den Raum erfüllt und die anderen Personen, gesunde und kranke, mehr oder minder in ihren Bann zieht. Diese affektive, den Raum geradezu magnetisch polarisierende Qualität kann mit Rudolf Otto und C. G. Jung »numinos« genannt werden. Damit sind nicht nur explizit religiöse Inhalte gemeint, sondern die seelische Qualität des »Ergriffenseins« und Sichergreifenlassens (lat. numen: Wink, Geheiß, göttlicher Wille) mit ihren erschreckenden und faszinierenden Aspekten. Der von Gabriele Stotz-Ingenlath berichtete Messiaswahn wirkt in seiner vordergründigen Jesus-Imitation (barfüßiges Wandeln im langen Hemd, Bluten, Leidensgestus usw.) zwar klischeehaft und fast kitschig. Jedoch überhöht er die gesunde künstlerische Ausstrahlung in der wahnhaften Inszenierung des Abendmahls:

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Gabriele Stotz-Ingenlath

im Teilen des eigenen Leibes mit anderen Kranken, in der Kommunion aller Anwesenden durch psychotische Veränderung des Raumerlebens. Die anderen sind nicht nur zuschauendes Publikum wie im Konzert, sondern mitgehende Zeugen, »mystischer Leib« des Messias. Das »Ecce homo« (Seht, der Mensch; Joh 19,5), das die Bibel Pilatus in den Mund legt, wird hier halb authentisch, halb grotesk verzerrt inszeniert, durch Selbst-Erniedrigung/-Erhöhung als Schmerzensmann. Scharfetter (1987) bezeichnet den schizophrenen Menschen als »Symbolon anthropou«, als Symbol des Menschen, der in seiner Zerbrechlichkeit für das menschliche Streben nach Einheitlichkeit steht. In dieser eindrücklichen Kasuistik bricht der »Messias« in der Rolle des kosmischen Priesters das Brot, verteilt symbolisch seinen Leib und sein Blut. Die neuroleptische Behandlung unterbricht die pathologische Manifestation dieses Symbolzusammenhangs, nicht jedoch das Symbol selbst und seine Bedeutung für den Menschen. Literatur Demling, J. H. (2017). »Gesunde« und leidvolle Religiosität. Versuch einer psychiatrisch-psycho(patho)logischen Abgrenzung. Spiritual Care 7, 81–87. Scharfetter, C. (1987). Definition, Abgrenzung, Geschichte. In K. P. Kisker, H. Lauter, J.-E. Meyer, C. Müller, E. Strömgren (Hrsg.), Schizophrenien (S. 1–38). Berlin u. Heidelberg: Springer.

16 Herzensgebet als therapeutische Ressource Esther Sühling

Die 46-jährige verheirate Mutter vierer Söhne (21, 19, 17, 15 Jahre) und gelernte Apothekenhelferin hatte als ungelernte Kraft mir ihrem Mann lange eine Buchhandlung geführt. Hier mussten sie vor drei Jahren Konkurs anmelden. Die finanzielle Situation war weiterhin unklar, was für das Ehepaar sehr belastend war und bei der Patientin zu einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode (F32.1) führte. Sie fand eine neue Stelle in einem anderen Einzelhandelsunternehmen, hatte dort aber Schwierigkeiten, sich in die Rolle einer einfachen Mitarbeiterin einzupassen. Sie müsse Überstunden machen, ihre Arbeit werde nicht wertgeschätzt; bei Beförderungen würden jüngere Bewerber bevorzugt. Zusätzlich fühlte sie sich in ihrer Familie ausgegrenzt, dort mache man Witze über sie. Der 17-jährige Sohn sei gegenwärtig in stationärer psychiatrischer Behandlung, da er zunehmend depressivaggressiv gewesen sei, die Schule verweigert habe und nur noch am PC gespielt habe. Sie sei ihm gegenüber machtlos und ohnmächtig. Sie habe den Eindruck, sich selbst verloren zu haben. Die Patientin wünschte eine ambulante psychotherapeutische Therapie, sie wolle ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Sie dekompensierte depressiv mit Freudlosigkeit, Überfor­de­ rungserleben, Regressionstendenzen, Weinen, gedrückter Stimmung, Gefühlen der Wertlosigkeit und geringem Selbstwert sowie Schlaflosigkeit und gesteigerter innerer Anspannung. Des Weiteren klagte sie über Grübeln. Im Rahmen der spirituellen Anamnese gab sie an, katholisch auf dem Land sozialisiert worden zu sein, sie glaube

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Esther Sühling

allerdings nicht an Gott, jedenfalls nicht an den der Amtskirche. Sie gehe aber häufiger in eine Kapelle, zünde ein Licht an und verweile dort, das beruhige sie. Auch setze sie sich mit Tarot und Engeln auseinander, von den Engeln fühle sie sich beschützt, aber auch diese Verbindung spüre sie in diesem Stress nicht mehr. Die Patientin wurde in dieser Ressource wie auch in den anderen ermittelten Ressourcen (Spazierengehen, Fürsorge um die Haustiere, Teilnahme an der Tischtennisgruppe) bestärkt. Die Behandlung der Patientin geschah mit überwiegend verhaltenstherapeutisch-kognitiven Methoden – Aufbau von positiven Aktivitäten, Aufbau von Selbstwert, Abbau dysfunktionaler Gedanken nach dem ABC-Schema von Ellis und Aufbau sozialer Kompetenzen sowie Entspannungsverfahren. Durch den sokratischen Dialog bezüglich ihrer Ressourcen und das Angebot des modifizierten Herzensgebets, was sie mit den Worten Liebe, Licht und Ruhe füllte, gelang ihr wieder ein Zugang zu ihren spirituellen Ressourcen, sie beschäftigte sich wieder mit Engeln und nahm sich Zeit für sich selbst. Darunter besserten sich auch das Grübeln und die Schlaflosigkeit. Ein wichtiges Thema der Therapie waren ihre Ohnmachtsgefühle gegenüber ihrem Sohn, die auch darauf beruhten, dass sie eine liebevolle Mutter sein wollte und keine Grenzen setzen dürfe. Dieser auch von ihr als dysfunktional angesehener Gedanke beruhte zum einen auf der Erziehung zur »lieben« Tochter. Zum anderen entsprang diese Haltung der trotz ihrer klar deklarierten Kirchenferne tief innewohnenden Vorstellung, sie müsse vergeben und verzeihen, sonst komme sie nicht in den Himmel. Hier war die Vorstellung eines moralischen, strafenden und wertenden Gottes für die Patientin hinderlich, in die eigene Selbstwirksamkeit zu kommen. Sie konnte sich dann mehr mit der Vorstellung eines Jesus identifizieren, der zwar vergab, wobei dies aber nicht gleichbedeutend damit war, dass er Dinge guthieß, und sich durchaus abgrenzte. Die Patientin konnte sich nach Auflösung dieser dysfunktionalen Gedanken besser auf Übungen des sozialen Kompetenztrainings einlassen. Die Therapie war nach sechzig Stunden beendet. Die Patientin ist psychisch stabilisiert und hat eine erhöhte Selbstwirksamkeit,

Herzensgebet als therapeutische Ressource125

sie kann mit der belastenden Situation besser umgehen, bezüglich des Sohnes konnte sie eine gemeinsame Strategie mit ihrem Mann entwickeln. So begann der Sohn auch auf seinen Wunsch hin eine außerhäusliche Ausbildung. Ihre Fähigkeiten der Abgrenzung und der Selbstfürsorge waren deutlich gestiegen, weiterhin nahm sie sich regelmäßig Zeit für die innere Einkehr, was sie als deutlich stabilisierend empfand. Ihre Ressourcen nahm sie deutlicher wahr, ihre kirchliche Vergangenheit zählte sie jetzt deutlicher dazu, hatte auf die alten »Glaubenswahrheiten« aber auch einen kritischen Blick.

Kommentar Michael Utsch

Schon in den 1920er Jahren haben sich im deutschen Sprachraum Formen der Meditation etabliert. Wesentliche Impulse kamen dabei aus Asien von hinduistisch oder buddhistisch geprägten Versenkungsmethoden. Methoden des Yoga und des Zen stießen in der Psychiatrie und Psychotherapie auf Interesse, weil sie der Sammlung und Konzentration dienen und deshalb gut zum modernen westlichen Menschen passen (Langen, 1963; Baier, 2009). In der europäischen Anpassung dieser ursprünglich spirituellen Wege wurde die Psychotherapie so zu einem Nährboden neuer, kontemplativer Übungsweisen. Als Anknüpfungspunkte für veränderte, auch meditative Bewusstseinszustände boten sich die Hypnose, die Psychoanalyse und das autogene Training an (Thomas, 1973; Schultz, 2003). Ab den 1960er Jahren entstand ein immer stärkeres wissenschaftliches Interesse an meditativen Verfahren (Ott, 2010; Vaitl, 2012). Hier sind vor allem die Forschungen zur Achtsamkeit zu erwähnen (Utsch, 2016). In Pilotstudien wurde auch explizit das christliche Herzensgebet als Alternative für solche Patientinnen und Patienten untersucht, die ein Verfahren aus ihrer eigenen Kultur bevorzugen (Knabb, 2012; Fox, Gutierrez, Haas u. Durnford, 2016; Rubinart, Fornieles u. Deus, 2017). In den aktuell verbreiteten imaginativen Verfahren in der Traumatherapie sind meditative Elemente bereits fest verankert (Holmes, 2013; Reddemann, 2016).

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Esther Sühling

Allerdings ist festzustellen, dass die Meditation bislang nicht als eine eigenständige psychotherapeutische Methode gilt, weil sie zwar über den Körper auf die Psyche einwirkt, ihr jedoch wesentliche Qualitätsmerkmale eines anerkannten wissenschaftlichen Verfahrens wie eine eigene Persönlichkeitstheorie, Krankheits- und Gesundungslehre, Theorien der Behandlungspraxis und der therapeutischen Beziehung fehlen (Stumm, 2011). Bei der glücklicherweise um die spirituelle Dimension erwei­ terten Anamnese kommt zum Vorschein, dass spirituelle Überzeugungen und Praktiken für die Stressbewältigung und Emotionsregulation dieser depressiv erkrankten Patientin von Bedeutung sind. Ergänzend zu verhaltenstherapeutisch-kognitiven Methoden setzt die Therapeutin deshalb ein individuell angepasstes »Herzensgebet« ein. Durch diese meditative Übung erlangt die Patientin wieder Zugang zu ihren spirituellen Ressourcen. In der Katamnese berichtet die Therapeutin, dass die Patientin in der Behandlung gelernt habe, sich regelmäßig Zeit für die innere Einkehr zu nehmen, was sich emotional deutlich stabilisierend auswirke. Bemerkenswert ist die Umdeutung der eigenen Biografie, die auf eine tief greifende Veränderung von Glaubensüberzeugungen der Patientin hinweist und als positive Auswirkung der Behandlung angesehen werden kann. Angeleitet durch die verhaltenstherapeutischen Interventionen kann die Patientin jetzt auch ihre spirituellen Ressourcen deutlicher wahrnehmen. Ihre kirchliche Vergangenheit kann sie jetzt mit Wertschätzung einschließen, nachdem sie sich auch von Teilen früherer Glaubensinhalte verabschiedet hat. Bei Patientinnen und Patienten, für die ihr religiöser Glaube einen zentralen Bestandteil der Identität bildet, ist die Auseinandersetzung mit der religiösen Sozialisation und den religiösen Wahrheitsansprüchen in der Therapie bedeutsam. In dem Positionspapier der DGPPN wird als dritte Empfehlung unter »Religiosität bzw. Spiritualität im Behandlungsplan« darauf hingewiesen, dass eine Therapeutin in der Lage sein sollte, »Religiosität bzw. Spiritualität als Ressource und/oder als Belastungsfaktor für Patienten zu erkennen und in die Behandlungsstrategie einzubinden« (Utsch et al., 2017, S. 143). Diese Empfehlung wurde im vorliegenden Fall anschaulich umgesetzt.

Herzensgebet als therapeutische Ressource127

Literatur Baier, K. (2009). Meditation und Moderne (2 Bde). Würzburg: Königshausen & Neumann. Fox, J., Gutierrez, D., Haas, J., Durnford, S. (2016). Centering prayer’s effects on psychospiritual outcomes: A pilot outcome study. Mental Health, Religion, and Culture, 19 (4), 379–392. Holmes, T. (2013). Reisen in die Innenwelt. Systemisches Arbeiten mit Persönlichkeitsanteilen. München: Kösel. Knabb, J. J. (2012). Centering prayer as alternative to mindfulness-based cognitive therapy for depression relapse prevention. Journal of Religion and Health, 51 (3), 908–924. Langen, D. (1963). Archaische Ekstase und asiatische Meditation mit ihren Beziehungen zum Abendland. Stuttgart: Hippokrates. Ott, U. (2010). Meditation für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst. München: Barth. Reddemann, L. (2016). Mitgefühl, Traum und Achtsamkeit in psychodyna­ mischen Therapien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rubinart, M., Fornieles, A., Deus, J. (2017). The psychological impact of the Jesus prayer among non-conventional catholics. Pastoral Psychology, 66 (4), 487–504. Schultz, J. H. (2003). Das autogene Training. Konzentrative Selbstentspannung (20. Aufl.). Stuttgart: Thieme. Stumm, G. (2011). Einleitung. In G. Stumm (Hrsg.), Psychotherapie: Schulen und Methoden. Eine Orientierungshilfe für Theorie und Praxis (S. 10–34). Wien: Falter-Verlag. Thomas, K. (1973). Meditation in Forschung und Erfahrung, in weltweiter Beobachtung und praktischer Anleitung. Stuttgart: Thieme. Utsch, M. (2016). Achtsamkeit. Materialdienst der EZW, 79 (6), 234–237. Utsch, M., Anderssen-Reuster, U., Frick, E., Murken, S., Schouler-Ocak, M., Stotz-Ingenlath, G. (2017). Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in der Psychotherapie. Spiritual Care, 6 (1), 141–146. Vaitl, D. (2012). Meditation. In D. Vaitl, Veränderte Bewusstseinszustände (S. 294–328). Stuttgart: Schattauer.

17  Ätherische Auflösung Gabriele Stotz-Ingenlath

Das ist nun so ein Fall, der in der Ärztebesprechung morgens aufschauen lässt. Keine der üblichen Diagnosen, eher eine diagnostische Herausforderung, eine Einladung zum gemeinsamen Diskutieren in der Facharztrunde, ein Fall für eine Fallvorstellung. Wer könnte schon auf Anhieb etwas verbinden mit der Diagnose »Apeirophobie«, übersetzt: »Furcht vor dem Unendlichen«? Der fünfzigjährige Patient hatte sich auf eigene Initiative hin in einer psychiatrischen Ambulanz vorgestellt mit der Diagnose »Apeirophobie«. Er habe diesen Begriff, der exakt auf seine Symptomatik passe, jahrzehntelang gesucht und schließlich im Internet gefunden. Sein Problem sei, immerzu Angst zu haben, die Bodenhaftung zu verlieren. Es sei eine Art »Verlorenheitsgefühl im All«, das sehr schwer auszuhalten sei. Er vermeide seit langem Situationen, in denen er der Unbegrenztheit ausgesetzt sei. So habe er beim Fliegen keine Angst vor einem Absturz, sondern davor, sich im Äther aufzulösen, nicht mehr herunterzukommen auf die Erde. Diesen Sog, im Unendlichen aufzugehen, verspüre er sehr körperlich. Beim Autofahren auf weiten Strecken rase er, um wieder in »konturiertes« Gebiet zu kommen; so sei er zum Beispiel über die Öresund-Brücke in panischer Angst viel zu schnell gefahren. Er könne nicht über Felder gehen, sondern fliehe in den Wald oder drücke sich an Büschen am Rand der Felder entlang, könne keine Wüsten besuchen, dafür gut Höhlen erkunden. Auch habe er nie unter freiem Himmel schlafen können. Im Bett müsse er sich immer eine Decke über den Kopf ziehen. Die Gravitationslehre tröste ihn, da sie die Leere des Rau-

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Gabriele Stotz-Ingenlath

mes mit messbaren Kräften fülle. Immer dringlicher versuche er, der Unbegrenztheit zu entkommen. Er suche ein Gefühl der »Aufgehobenheit«. Er sei als Kind in eine katholische Schule gegangen, sei »frömmelnd« gewesen, ein kleiner »Eiferer«, der sich im Gespräch mit Gott und den Heiligen fühlte. Man habe gemeint, er werde einmal Priester. Den Wunsch, Priester zu werden, habe er mit etwa 15 Jahren verloren. Er habe damals eine Liebesbeziehung zu einer um zehn Jahre älteren Frau begonnen. Nach zwei Jahren hätten sie sich wieder getrennt. Danach, mit 17 Jahren, habe er das erste Mal die Symptome gespürt. Seitdem habe er Glaubenszweifel, verteidige aber nach außen hin die katholische Kirche und ihre Lehre und gehe auch immer noch sonntags in die Kirche zum Gottesdienst. Er pflege auch einen guten Kontakt zum Pfarrer seiner Gemeinde. Da der Leidensdruck beträchtlich war und ein großer Veränderungswille bestand, wurde der Patient für eine verhaltenstherapeutische Intensivbehandlung in einer Tagesklinik aufge­ nommen  – unter der psychiatrisch plausiblen und etablierten Aufnahmediagnose einer Agoraphobie. Eine Behandlung mit einem angstlösenden Medikament brachte eine gewisse »Ruhe ins System«, der Patient konnte sich wieder besser konzentrieren und auch entspannter Auto fahren. Es erfolgten einige begleitete Gänge über große Plätze und Felder sowie Überland-Autobahnfahrten als Expositionstraining; der Grad der inneren Anspannung konnte dabei reduziert werden. Vor allem aber fühlte er sich im Stationssetting angenommen mit seiner »exotischen« Symptomatik, die letztlich als einfache und häufige Platzangst eingeordnet wurde, für die es leitliniengerechte Behandlungsmethoden gibt. Die Gespräche jedoch, die ihn am meisten weitergebracht hätten, führte er mit einer psychiatrischen Kollegin, die seine Symptomatik auf ihren spirituellen Gehalt hin untersuchte und mit ihm besprach. Er beschrieb »das entsetzte Staunen, wie wir auf der Erdoberfläche stehen und uns in der umgebenden Unbegrenztheit aushalten können«, und quasimystische Erfahrungen, die ihn gleichzeitig faszinierten und ängstigten. In seinen Glaubenszweifeln habe er ein tiefes Bedürfnis danach, dass der Glaube, sein kindlicher Glaube, ihn halte. Er habe ihn verloren mit den ersten sexuellen Kontak-

Ätherische Auflösung131

ten zu Frauen. Er verstehe auf einmal, dass er sich von Kindheit an zum Priester berufen geglaubt und sich seit den frühen sexuellen Kontakten schuldig gefühlt habe, dieser Berufung nicht nachzukommen. Im Unbegrenzten erlebe er Gott, begegne er Gott, aber das sei für ihn neben der Faszination mit großer Angst verknüpft, sodass er diese Gottesbegegnungen vermeide, sie seien zu groß für ihn. Es wurde mit ihm besprochen, einmal ein vertrauliches Gespräch mit dem ihm bekannten Pfarrer zu führen, was er auch tat. In diesem Gespräch habe er sich darin bestätigt gefühlt, dass er sich für einen weltlichen und gegen einen geistlichen Weg entschieden habe. Er wolle diesem anderen Weg, den er nicht eingeschlagen habe, nicht mehr nachhängen. Aber er versuche, den faszinierenden Anteil an seinen Begegnungen mit der Unendlichkeit mehr zu spüren und weniger den erschreckenden – und diesen Gefühlen nicht mehr auszuweichen.

Kommentar Eckhard Frick

Mit seiner »Apeirophobie«, dem »Verlorenheitsgefühl im All«, ist auch dieser Patient Philosoph wider Willen (Holzhey-Kunz, 2008). Ohne dies zu wollen und darunter leidend, antwortet er mit Pascal (1670/1997: Pensées 72) auf die Frage, was der Mensch in der Natur sei: »Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.« Die Angst, in der Weite des Abgrunds, zwischen Himmel und Erde abzustürzen, ist nach Kierkegaards berühmter Formulierung der Schwindel, der uns befällt, wenn wir die Lektion der Angst nicht lernen, jener gebieterischen Lehrmeisterin der Unendlichkeit: »Wessen Auge veranlasst wird, in eine gähnende Tiefe hinunterzuschauen, der wird schwindlig. Worin liegt aber die Ursache hiervon? Ebenso sehr in seinem Auge wie in dem Abgrund – wenn er nur nicht hinunterstierte! So ist die Angst der Schwindel der Freiheit. Sie entsteht, wenn die Freiheit, indem der Geist die Synthese setzen will, in ihre eigene Möglichkeit hinunterschaut und dabei

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Gabriele Stotz-Ingenlath

nach der Endlichkeit greift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zu Boden« (Kierkegaard, 1844/2012a). Balint und Balint (1959/2017) unterscheiden in ihrem Werk über die Angstlust (Thrill) eine oknophile von einer philobatischen Erlebnisweise. Der Oknophile klammere sich an Objekte an, fürchte die leeren Zwischenräume, die sich auftun, sobald er von einer Bezugsperson zur nächsten wechselt. Der Philobat hingegen löse sich von Sicherheit gebenden Objekten, suche in der Überwindung der »freundlichen Weiten« zwischen ihnen immer neue Spannung und Thrill, zugleich eine beständige Neubestätigung der eigenen Geschicklichkeit, die es ermöglicht, immer neue Objekte zu unterwerfen. Der hier beschriebene Patient lebt in der Zerreiß- und Auflösungsprobe zwischen philobatischen und oknophilen Tendenzen. Einerseits will er hoch hinaus, schwelgt in einer Art kosmischer Mystik; anderseits macht ihm genau dies Angst, sodass er Halt und begrenzendes Gehäuse sucht, also das Gegenteil von Entgrenzung, Weite, Unendlichkeit. Kierkegaards freie Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ist schwindelerregend, führt beim Patienten zur Auflösungsangst. Auch dies ein Kernthema des dänischen Philosophen: verzweifelt kein Selbst mehr zu sein. Ein erster Halt, vielleicht auch ein zweiter nach der Lösung von den primären Bindungsfiguren, scheint für den Patienten der religiöse Glaube gewesen zu sein. »Kinderglauben« nennt er ihn, »eifernd«, was sich in der Auseinandersetzung mit dem Widergöttlichen und in der Phantasie zeigt, Priester zu werden. Die Adoleszenzkrise markiert insofern einen Wendepunkt, als der Halt im Glauben nun durch Beziehungswünsche und sexuelle Erfahrungen ersetzt wird. Aus (philobatischen) Höhenflügen gelingt es ihm, bei einer Frau »zu landen«. Die sexuellen Wünsche werden zunächst konflikt- und schuldhaft verarbeitet, scheinen in einer gewissen Konkurrenz zur philobatischen Mystik der Unendlichkeit zu stehen. Möglicherweise hat das Symptom »Apeirophobie« hier eine kompromisshafte, stabilisierende Wirkung, freilich um den Preis einer ängstlichen Lebenseinschränkung. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach der Kierkegaard’schen Synthese, bleibt bestehen, kann weder durch medi-

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kamentöse noch verhaltenstherapeutische Symptomkontrolle ganz zum Schweigen gebracht werden. Das Mühen um die philosophischen Fragen, die unsere Existenz stellt, oft ein quälerisches Mühen, kann intellektualisierende Abwehr echter Beziehung sein. Bei einem differenzierten und reflektierten Menschen ist die geistige Auseinandersetzung jedoch auch eine Ressource – nicht nur was Beruf und gesellschaftliche Verantwortung angeht, sondern auch bezüglich der sich unüberhörbar meldenden existenziellen Grundfragen. Literatur Balint, M., Balint, E. (1959/2017). Angstlust und Regression. Stuttgart: KlettCotta. Holzhey-Kunz, A. (2008). Daseinsanalyse. In A. Längle, A. Holzhey-Kunz (Hrsg.), Existenzanalyse und Daseinsanalyse (S. 183–348). Stuttgart u. Wien: UTB, Facultas. Kierkegaard, S. (1844/2012). Der Begriff Angst/Die Krankheit zum Tode. Wiesbaden: Matrix. Pascal, B. (1670/1997). Gedanken. Leipzig: Reclam.

18  Ein gläubiger Mensch hat keine Angst Gabriele Stotz-Ingenlath

Sie ist eine »Kopftuchfrau«, kam als Kind mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland. Nun hat sie selbst zwei Mädchen, noch im Schulalter – und kann nicht mehr für sie sorgen. Sie liegt in der gynäkologischen Klinik auf der Krebsstation und hat Angst, einfach Angst. Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leiden, Angst um ihre Kinder, die zwar in der Großfamilie aufwachsen, aber eben doch an ihr, der Mutter, hängen. Was wird denn nach ihrem Tod? Als fromme Muslimin fühlt sie sich im Innern tief gläubig, aber: »Da darfst du keine Angst haben« – sagt der Imam. Alles ist gottgewollt. »Allah ist groß, und wir tun, was er für uns vorsieht.« Mit ihrem Mann kann sie nicht sprechen, er versteht ihre Angst wohl auch nicht, er will kaum Zutritt zum Krankenzimmer, das sei ein Ort für Frauen. Ihre Mutter kommt, die Tanten, die Schwestern. Sie bringen Essen. Die Mädchen stehen mit traurigen Augen am Bett, sie will sie nicht belasten und spricht mit ihnen nicht über ihre Angst, sie spricht überhaupt kaum noch. Manchmal mit der Krankenschwester, die selbst türkische Wurzeln hat und zwischendurch oder nach ihrer Dienstzeit noch nach ihr schaut. Sie hat auch große Schmerzen aufgrund der Knochenmetastasen, aber der Stationsarzt und der Oberarzt sind Männer, vor denen sie nicht klagen möchte. So erduldet sie still. Aber die Angst … Sie versucht zu beten, nimmt Gebetsschnüre zur Hand, es hilft nichts. Am schlimmsten ist, von der Angst nicht sprechen zu können vor anderen gläubigen Muslimen. Sie zweifelt an allem, an sich selbst, an ihrem Glauben. Warum denn nur hat sie

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Angst? Der Tod ist Übergang, sie hat ernsthaft gelebt, viel gebetet, war in ihrem Leben eine treue Frau. Auch dem Klinikseelsorger, den man an ihr Bett ruft, vertraut sie ihre Angst nicht an: Er ist eine Art Imam der anderen Religion. Auch diese Religion, das hat sie so verstanden, befiehlt: »Habt keine Angst!« Zuletzt holt man die psychiatrische Konsiliarärztin mit dem Auftrag, ein Antidepressivum zu verschreiben. Mit ihr kann die Patientin sprechen. Die Ärztin versteht das Leiden der Patientin, findet empathisch einen Zugang zu ihr und bespricht sich mit einer praktizierenden muslimischen Kollegin. Die muslimische Psychiaterin kommt selbst im Kopftuch ans Krankenbett. Sie erklärt der Patientin, dass es durchaus mit ihrer Religion vereinbar sei, unerträgliche Schmerzen pharmakologisch lindern zu lassen, und dass Ängste durchaus normal seien, nicht verwerflich, sondern verständlich. Ein Morphin-Perfusor wird angeschlossen und die Patientin wirkt wie erlöst. Auch die Ängste scheinen sich zu lösen. Einige Wochen später darf sie einschlafen.

Kommentar Eckhard Frick

Eine US-amerikanische Studie (Balboni et al., 2011) hat untersucht, welche Kosten entstehen, wenn Tumorkranke im fortgeschrittenen Stadium spirituell gut oder aber unzureichend betreut werden. »Kosten« verstehen die Autoren durchaus im wörtlichen, im finanziellen Sinne. Das Hauptergebnis: Spirituell vernachlässigte Patienten haben im Vergleich zu spirituell zufriedenen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, am Ende des Lebens auf eine Intensivstation verlegt zu werden und dort zu sterben. Durch Beatmung, Wiederbelebungs- und lebenserhaltende Maßnahmen und sonstige intensivmedizinische Behandlungskosten entsteht bei den spirituell unzufriedenen Patienten ein vergleichsweise erhöhter finanzieller Aufwand. Besonders ausgeprägt sind die Mehrkosten bei hochreligiösen Patientinnen und Patienten. Zu dieser Gruppe gehört die im Fallbericht geschilderte tumorkranke Patientin in kultureller und religiöser Hinsicht. Dies führt

Ein gläubiger Mensch hat keine Angst137

zu Kommunikationsbarrieren, insbesondere zu nichtmuslimischen oder männlichen Behandlern. Zwar kommen weibliche Angehörige zu Besuch, »ernähren« die Patientin an Leib und Seele. Der eigene Ehemann betritt jedoch kaum diesen fremden Kontinent der kranken Frauen. »Ein gläubiger Mensch hat keine Angst«: Mit diesem indi­ kativischen Satz ist der Fallbericht überschrieben. Aber im Grunde ist eine normative Aussage gemeint: »Ein gläubiger Mensch darf keine Angst haben!« »Tapfer« zu sein, nicht zu klagen, ihre einsame Angst nicht zu zeigen, ist für die Patientin wohl religiöse Pflicht, ebenso wie die Verlängerung dieses Lebens, für den Islam einer der höchsten Werte. Das antike Diktum »primus in orbe deos fecit timor« (als Erste hat die Angst in der Welt Götter hervorgebracht) lässt sich in zwei Kausalrichtungen denken: einerseits das Entstehen von Göttern und Religion aus der Angst, andererseits die Überwindung der Angst durch Religion und Glauben. Dieses bipolare Kausalverhältnis wird traditionell als (kontradiktorischer) Gegensatz gedacht: entweder Glauben oder Angst (Frick, 2017). Der religiöse Glaube kann entweder im Sinne der Tranquilisierung verstanden werden: Wer glaubt, hat keine Angst (normativ: darf keine Angst haben, muss fester glauben, wenn sich die Angst doch wieder einschleicht), oder im Sinne der Existenzerhellung, wie sie Kierkegaard und Jaspers philosophisch rekonstruiert haben. In seiner Auslegung des Grimm-Märchens »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« schreibt Kierkegaard: »Wer aber sich recht ängstigen lernte, der hat das Höchste gelernt« (Kierkegaard, 1844/2012b, S. 108). Die muslimische Psychiaterin im Fallbeispiel ermöglicht Existenzerhellung durch Berücksichtigung der medizinischen Aspekte (Schmerzbehandlung!), der kulturellen und der religiös-spirituellen Aspekte: Ja, ein gläubiger Mensch darf Angst haben und darüber sprechen! Ja, ein gläubiger Mensch kann Schmerzen haben und darf eine Schmerzbehandlung annehmen. Die Konsiliaria versteht, was Cicely Saunders (1988) »total pain« nannte: ein Leiden mit somatischen, psychosozialen und spirituellen Aspekten. All dies ist bei der Patientin gegeben: Schmerzen durch Knochenmetastasen, durch Isolierung und Fremdheit, durch einsam-ver-

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zweifeltes Erdulden ihrer Situation. »Total pain« ist keine Symptomtrias getrennt zu behandelnder Einzelbeschwerden, sondern eine existenziell erlittene und zu erhellende Gesamtsituation. Die spirituell vernachlässigten hochreligiösen Patienten verursachen bei Balboni et al. (2011) wohl deshalb besonders hohe Kosten, weil den Behandelnden die besondere Motivationslage dieser Kranken unklar bleibt. So werden sich viele muslimische Patientinnen und Patienten, die wie unsere Patientin stumm und duldend leiden, nicht mit ihrer Hauptmotivation, der religiösen Pflicht, dem meist anders- oder ungläubigen Arzt offenbaren. Für die Kommunikationsbarriere zahlen vor allem die Patienten einen hohen Preis, weniger in finanzieller Hinsicht als im Hinblick auf ihre Lebensqualität. Der Arzt seinerseits kann aber einen Dialog über einen möglichen palliativen Therapiezielwechsel nicht führen, wenn ihm diese wichtige, religiös-spirituelle Motivationsquelle unbekannt ist. Er wird die Patienten vielleicht als tapfer, unterwürfig-­compliant oder gar als interventionsfreudig missverstehen, ihre ängstliche Not eher beschwichtigen als erhellen, wenn er sie denn wahrnimmt. »Die Patientin wirkt wie erlöst. Auch die Ängste scheinen sich zu lösen. Einige Wochen später darf sie einschlafen«: So endet dieser Fallbericht. Er hatte normativ begonnen, mit der Verpflichtung zur Angstlosigkeit. Er endet mit einer gelassenen Haltung: Die Patientin darf Angst und Schmerzen haben und auch wieder loslassen. Sie darf palliativmedizinische Symptomlinderung annehmen und letztlich sterben. Ist diese Gelassenheit nicht viel näher am Glauben als eine Religion der Angstbewältigung? Literatur Balboni, T., Balboni, M., Paulk, M. E., Phelps, A., Wright, A., Peteet, J. et al. (2011). Support of cancer patients’ spiritual needs and associations with medical care costs at the end of life. Cancer, 117, 5383–5391. Frick, E. (2017). Ist das Christentum eine Religion der Angstüberwindung? Anthropologische und psychoanalytische Überlegungen zu Eugen Bisers zentraler These (S. 137–150). In G. Sans (Hrsg.), Gottesbilder: Eugen Biser als theologischer Grenzgänger. Freiburg: Herder. Kierkegaard, S. (1844/2012). Die Krankheit zum Tode. Wiesbaden: Matrix. Saunders, C. (1988). Spiritual pain. Journal of Palliative Care, 4, 29–32.

19  Japanische Bestattung Gabriele Stotz-Ingenlath

Die aus Japan stammende, in Deutschland verheiratete Patientin kam mit einem schweren depressiven Syndrom auf Station. Sie hatte keinerlei Antrieb mehr, konnte ihre Kinder nicht mehr versorgen, schien hoffnungslos und meinte, bald sterben zu müssen. Solche Zustände seien in der Familie bekannt, auch sie selbst habe immer wieder Phasen solcher Apathie. Zudem sei bei ihr vor einigen Jahren Brustkrebs festgestellt worden, der mit Hormonen und Chemotherapie behandelt worden sei. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war sie rezidivfrei. Erschwerend kam hinzu, dass ihre Mutter in Japan ebenso an Brustkrebs erkrankt war, der jedoch schnell fortschritt und die Mutter sehr schwächte. Die Patientin hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie telefonierten oft miteinander, sprachen auch über das Befinden und erhielten zum Teil die gleichen Chemotherapie-Präparate. Auch wenn die antidepressive Therapie gegen die Antriebslosig­ keit gut half, blieben der Patientin die Sorgen um ihre Mutter in Japan und das belastende Gefühl, in Deutschland sehr weit weg zu sein, nicht helfen und nicht beistehen zu können. Auch sie selbst erhielt wohl nicht den Beistand, den sie sich bei ihrer eigenen Erkrankung gewünscht hätte, obwohl sich ihr Mann und die beiden Kinder bemühten. Meist lächelte sie und es war sehr schwierig, an ihrer Mimik abzulesen, wie es ihr ging. Für ihren Mann war oft nur am Unaufgeräumtheitsgrad der Wohnung ersichtlich, dass sie litt und keinen Elan mehr hatte. In Deutschland lebte sie angepasst,

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hatte einige japanische Freundinnen, mit denen sie sich ab und zu austauschte. Nach einigen Wochen Behandlung stabilisierte sich ihr Zustand. Nach der Entlassung konnte sie ihren Alltag wieder gut bewältigen. Da traf plötzlich die Nachricht vom Tod ihrer Mutter aus Japan ein. Psychiaterin und Psychotherapeutin befürchteten einen Rückfall in die depressive Erkrankung. Die Dosis der Antidepressiva wurde erhöht, Therapeutin und Ärztin boten an, zu ihr in Japan via E-Mail Kontakt zu halten. Dann flog die Patientin in ihre Heimat. Nach vier Wochen kehrte sie zurück – so stabil und heiter, wie sie nie zuvor gesehen worden war. Sie war noch ganz erfüllt von den Trauerritualen in ihrer Ursprungsfamilie, die ihr die Möglichkeit gegeben hätten, Abschied zu nehmen, aber auch, sich als Mitglied der großen Familie über verschiedene Generationen hinweg zu fühlen. Sie sei so geborgen gewesen. Ihre Mutter sei drei Tage noch in der Wohnung aufgebahrt geblieben, die ganze Familie sei zusammengekommen, man habe zusammen gesprochen, gegessen, immer wieder sei der eine oder die andere ins Zimmer zur verstorbenen Mutter gegangen, auch sie selbst habe ausgiebig Abschied nehmen können. Dann habe man die Mutter gemeinsam gewaschen und angezogen und in einem Wagen zum Tempel gefahren. Priester hätten sie entgegengenommen und Gebete gesprochen, die ganze Familie sei dabei immer zusammen gewesen, um die Mutter gemeinsam ins Jenseits zu geleiten, an das die Patientin – wie sie versicherte – natürlich glaubte. Vor ihrem eigenen Tod an der gleichen Krankheit habe sie keinen Moment Angst gehabt. Auch sie wolle eines Tages in Japan im Kreise ihrer Familie bestattet werden. Im Lauf des nächsten Jahres wurden die Antidepressiva nach und nach abgesetzt, auch die begleitende kognitive Verhaltenstherapie konnte abgeschlossen werden. Die Patientin ist bisher weiterhin rezidivfrei, was die Krebserkrankung und was die Depression betrifft.

Japanische Bestattung141

Kommentar Eckhard Frick

In diesem Fall kommen drei Momente zusammen: die Brustkrebserkrankung der Patientin und ihrer Mutter, ihre Depression und die beträchtliche kulturelle Verschiedenheit zwischen Japan und Deutschland, spürbar an der Mühe des Ehemanns, sich in das dreifache Leiden der Patientin einzufühlen. Lediglich der Unaufgeräumtheitsgrad der Wohnung gibt ihm einen gewissen Anhalt dafür, wie es mit der inneren Ordnung der Patientin bestellt sein mag. Man darf vermuten, dass die Patientin »normalerweise« ihre Wohnung in der perfekten Ordnung eines japanischen Zengartens gehalten hat. Nun kann sie den »Kies« nicht mehr »rechen«, und das Äußere wird stummer Ausdruck ihrer inneren Not. Worin wohl besteht ihr Leiden? Das Substantiv Leid und das Verbum Leiden klingen im Deutschen ähnlich, haben jedoch verschiedene Wurzeln. Leid (großer Kummer, seelischer Schmerz) geht auf ahd. leid, mhd. leit (das angetane Böse, Unrecht, Schädigung, Kränkung, Beleidigung, Sünde) zurück. Leid meint einen objektiven Umstand, der einem Menschen unvermittelt zustoßen oder angetan werden kann. Leiden (von körperlichem oder seelischem Schmerz gequält werden) kann von althochdeutsch līdan abgeleitet werden, davon schon im 9. Jahrhundert das Kompositum gilīdan, »mit jemandem dulden« für spätlateinisch compatī. Das mhd. līden kann »ertragen, erdulden« bedeuten oder – für unseren Fall bedeutsam – »in die Fremde ziehen, Not durchstehen, ertragen«. Das Substantiv Leid steht für das mir widerfahrende Übel, das absurd, unerklärlich, jäh in die Biografie einbrechen kann. Leiden ist ein Verbum, das substantiviert werden kann und einen passiven Aspekt hat (z. B. ich werde krank, ich bin getroffen) und einen aktiven (ich ertrage, bewältige, verarbeite, setze mich auseinander usw.). Mit der Heimatferne ist nicht nur geografisch, sondern auch inwendig ein Leid verbunden, unter dem die Patientin aktiv und passiv leidet: aktiv durch Pflege von japanischen Freundschaften, Kontakt zur Mutter, passiv durch Aushalten der erschwerten Kommunikation mit dem Ehemann. Ein Leid ist auch die Krebs-

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erkrankung, die offenbar durch das Miteinander-Leiden zwischen Patientin und Mutter erträglicher wird. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob auch die Depression ein primäres Leid darstellt oder bereits verarbeitendes Leiden. Möglicherweise ist beides der Fall. Der Verlust der Mutter ist ein Leid, das alles andere in den Hintergrund treten lässt: die eigene Krebserkrankung und deren Behandlung, die eigene Depression und deren Behandlung, auch die zweite Heimat in der hiesigen Ehe. Für die Patientin wesentlich ist, dass sie sich dem Leiden der Trauerarbeit (Freud, 1917e [1915]) hingeben kann, das sie – obwohl durch das Herzeleid des Todes ausgelöst – näher an die Heimat und damit zu sich selbst bringt. Was diese Trauer im Einzelnen ausmacht, ist im Fallbericht nur angedeutet. Im Sehen der toten Mutter, im Waschen ihrer Leiche geschieht Begreifen des Leids, Mentalisieren, das heißt, mit Sinn, Bedeutung, biografischem Kontext Erfüllen (Frick, 2015). Angesichts der Trauerarbeit sprechen wir auch von »Bewältigung« oder – weniger »gewaltsam« – von »Verarbeitung« (Coping), vom »Verkraften« des Leids. Der Film »Nokan – die Kunst des Ausklangs« (japanisch Okuribito) von Yōjirō Takita führte im Jahr 2008 das westliche Publikum in die fremde Welt (traditioneller) japanischer Trauerrituale, bei denen die der Einäscherung vorausgehende Totenfürsorge, insbesondere das Waschen im Beisein der Angehörigen, eine herausragende Rolle spielen. Der Respekt vor dem Leichnam des toten Mitmenschen dort steht in einem denkwürdigen Kontrast zur stillosen Entsorgungsmentalität und zur Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich u. Mitscherlich, 1967), die hierzulande oft Bestattungen prägen. Zurück zur Patientin und zurück zur Einschätzung ihres Leidens aus europäischer Sicht. »Gelungene Trauer« ist keine psychopathologische Kategorie. Diese Feststellung steht hier unverbunden neben der katamnestischen Auskunft, dass weder beim Mammakarzinom noch bei der Depression Rezidive aufgetreten seien. Die sprachliche Bedeutung des Kompositums »bestatten« (nämlich dem toten Mitmenschen einen Ort, einen Platz, eine Statt zu geben) kann die Trauerarbeit der Patientin jedoch verständlich machen: Krankheit, Tod der Mutter und auch Depression konfrontieren sie mit der Heimatlosigkeit, lassen den Wunsch stärker werden, der

Japanische Bestattung143

toten Mutter »einen Besuch abzustatten«. Die Trauerreise in die japanische Heimat ist mit den hiesigen Kategorien nur schwer zu fassen. Die meisten Japaner sind nicht »religiös« gebunden in unserem Sinn (Toshimaro, 1996/2004). Doch ist es wohl zutreffend, die japanische Kultur »spirituell« zu nennen. Es gehört zur japanischen Kultur, sich vor der Geistigkeit des anderen zu verneigen, auch vor dem toten Mitmenschen. Literatur Freud, S. (1917e [1915]). Trauer und Melancholie. G. W., Bd. X (S. 427–446). London: Imago. Frick, E. (2015). Psychosomatische Anthropologie. Ein Lern- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Mitscherlich, A., Mitscherlich, M. (1967/2017). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper. Toshimaro, A. (2004). Warum sind Japaner areligiös? München: Iudicium.

20  Krebs und Glück Gabriele Stotz-Ingenlath

In seinen Zügen liegt noch Selbstsicherheit. Er kommt auch von ganz oben aus dem Management, ist von Erfolg verwöhnt und führt das Unternehmen mit jungem Teamgeist, immer gut gelaunt und voll wippender Energie. Die Augen unter der sportiven Mütze glänzen, er will sich mitteilen. 36 Jahre ist er alt. Sein Hausarzt überwies ihn zur Behandlung einer fraglichen Depression und eines »irgendwie auffälligen« psychischen Befundes. Auf die Frage nach seinem Hauptproblem antwortet er schlicht und klar, man habe bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt, der bereits im ganzen Bauchraum Metastasen gestreut habe. Nach der Chemotherapie seien die Blutwerte nun so schlecht, dass man die große Operation, bei der ihm mehrere Bauchorgane entnommen werden müssten, derzeit noch nicht vornehmen könne. Er brauche keine Medikamente, eigentlich sei er sogar glücklich, aber er wolle einfach erzählen von seinen Erlebnissen und Gedanken, die ihn – ungeäußert – geradezu bedrängten. Die Psychiaterin zeigt ihre Betroffenheit, stellt dann aber intuitiv keine gezielten Fragen, sondern lässt ihn reden. Vor ein paar Monaten habe er beim Joggen eine Schwäche gespürt, eine leichte Übelkeit, die er ignorierte, bis Sportlerfreunde ihm rieten, einmal eine Check-up-Untersuchung machen zu lassen. Dabei stellte sich dann der bereits weit fortgeschrittene bösartige Tumor heraus, einer der bösartigsten Tumore überhaupt. Er sei zwar schockiert gewesen, habe dann aber sofort den Kampf aufgenommen, habe sich intensiv belesen, sei zu Spezialisten gegangen und habe gleich mit der

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Chemotherapie begonnen. Er spüre, er werde geheilt, auch wenn er bei den Ärzten Skepsis bemerke. Freunde, die religiös seien, hätten ihm, der sich nie um Spirituelles gekümmert habe, gesagt, sie würden für ihn beten. Er habe gelacht, habe dann aber einige Tage später ein seltsames inneres Gefühl, ja eine Art Drang gehabt, sich in den Dom in die dritte Reihe zu setzen, dort würde er Gott begegnen. Eine Freundin sei mitgegangen. Sie hätten sich in die dritte Reihe gesetzt und auf einmal sei ein älterer Herr auf sie zugekommen und habe gefragt, ob sie ein Gespräch wünschten. Er habe lebhaft bejaht und sei mit dem Herrn, der sich als Dompfarrer vorstellte, in ein Gesprächszimmer gegangen, habe dort von seiner Diagnose und der inneren Stimme erzählt. Seit diesem Gespräch, das über Grundlagen des Glaubens gegangen sei, glaube er zutiefst an Gottes Liebe und Fügung, und das beflügle ihn so sehr, dass er geradezu fröhlich sei. An ihm werde Gott seine Heilungskraft zeigen. Er bete und sei Gottes so inne, dass er am liebsten allen von Gottes Liebe erzählen würde, die ihn so trage. Das Leid sei ihm geschickt, aber er trage es gern und er habe eine tiefe, alles ausfüllende euphorische Hoffnung, dass es seinen Sinn habe und dass Gott seinen Weg mit der Krankheit dorthin führe, wo es gut für ihn sei. Die Psychiaterin hört zu, unterbricht kaum, allenfalls, um ihm dezent zu versichern, dass auch sie ein gläubiger Mensch sei und ihn verstehen könne in seinem Gefühl der Geborgenheit. Sie kann im psychopathologischen Befund keine Depression feststellen, auch keine Wahnerkrankung und keine auf mögliche Hirnveränderungen im Rahmen der schweren Erkrankung zurückzuführende Stimmungs- oder Verhaltensauffälligkeiten. So formuliert sie als Diagnose »Belastungsreaktion« und »Anpassungsstörung« bei schwerer körperlicher Erkrankung, um weitere Gespräche vor der Krankenkasse zu rechtfertigen. Er kommt noch zweimal, jedes Mal etwas blasser, aber jedes Mal mutig und nimmermüde berichtend von seinem schönen Gefühl, von Gott getragen zu sein. Die schwere Operation könne nun stattfinden, er habe mit der Anästhesistin vereinbart, dass eine Freundin, die ebenfalls Ärztin sei, mit in den Operationssaal kommen dürfe, um ihm beim Einschlafen in die Narkose noch das »Vaterunser« ins

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Ohr zu flüstern. Am Vorabend der Operation wolle er noch einmal mit seinen Freunden und Kollegen zum Essen gehen, da er nach der Operation ja nur noch Flüssiges und passierte Kost zu sich nehmen können werde – sein restliches Leben lang, was ihm aber nichts ausmachen würde. Ein Folgetermin wird nicht vereinbart, der Patient solle sich melden, wenn er nach der Operation wieder Kraft gesammelt habe und über sein Erleben sprechen wolle. Die Psychiaterin wünscht ihm Kraft und Gottes Segen für die Operation, einen Wunsch, den er mit glänzenden Augen entgegennimmt. Er bedankt sich, dass er sein volles Herz aussprechen und sein Glück im Unglück mitteilen konnte – und dass jemand seine Dankbarkeit verstehe und nicht für absurd oder krank erachte. Zu einem Folgetermin kam es nicht mehr.

Kommentar Isgard Ohls

»Onkologie ist die Medizin des kleinen Glücks« – so lernte ich es im Rahmen des Medizinstudiums von einem ärztlichen Kollegen am Sterbebett eines schwer kranken Menschen. Ein Satz, der berührt, bewegt, nachdenklich stimmt, so wie es auch dieser Fall mit der Leserin macht. Ein junger, mitten im Leben stehender erfolgsverwöhnter Mann wird durch die Diagnose Pankreaskarzinom plötzlich aus seinem bisherigen Leben herausgerissen. Unheilbar krank ist er: Der Tod klopft an die Tür und wird doch in dem Fallbeispiel mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen tritt an die Stelle irdischer, materialistischer Bezüge, welche in absehbarer Zukunft wahrscheinlich wegbrechen werden, das Geschenk einer erstmalig erfahrenen geistigen, spirituellen, tragenden Glaubenserfahrung. Von Geborgenheit, Gottes beglückender Liebe und dem Gefühl des Getragenseins ist die Rede. »Not lehrt beten«, so heißt es im Volksmund, oder handelt es sich um eine radikale Verdrängung und Verleugnung der Wirklichkeit? Um Flucht vor der brutal erscheinenden Realität? Um den hilflosen Versuch, irgendwie

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Schutz zu erlangen? Um Psychopathologie? Dies wird von der Behandlerin ausgeschlossen. An den Grenzen der modernen Medizin, angesichts der Einsicht in die Unheilbarkeit einer Erkrankung, in der Konfrontation mit dem naturwissenschaftlichen Scheitern erfolgt der Rückgriff auf die spirituelle Dimension. Dabei ist sie keinesfalls eine verlegene Lückenbüßerin, sondern erzählt von dem, was Menschen seit Jahrtausenden in ihrem alltäglichen Leid getragen hat und tragen kann. Die Bibel bezeugt Gottes Geschichte mit den Menschen. Sie erzählt von Glaube, Liebe und Hoffnung. In einer großen Kirche wird der Protagonist der Erzählung, einer inneren Eingebung folgend, von einem Geistlichen angesprochen, erfährt den Trost einer seelsorglichen Begleitung, welche häufig im Kontrast zur naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin, auch zur Psychologie und Psychotherapie steht und diese sinnvoll ergänzen kann (Ohls, 2017). So erhält eine befreundete Ärztin in Rücksprache mit der Anästhesistin vor der anstehenden Operation die besondere Aufgabe, ihren erkrankten Freund mit Worten einer höheren Sphäre zu schützen, mit den Urworten des christlichen Bekenntnisses, dem Vaterunser. Dem Gewaltakt eines operativen Eingriffs tritt der Schutz des Glaubens entgegen. Leid, Verzweiflung, der Tod dürfen sein und haben ihre Macht über den Menschen zugleich verloren, auch über den Patienten im Fallbeispiel. Anknüpfend an den Religionsstifter Jesus von Nazareth, seinen Schrei am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) erhält auch das Scheitern als Mensch einen Raum, der sich in diesem Beispiel nur am Rande erahnen lässt. Dem Leiden und leidenden Menschen wird mit Respekt und Ehrfurcht begegnet. Glaubenszweifel haben ebenso ihren Platz wie die Erfahrung des Getragenwerdens von einer höheren Macht. Die biblischen Psalmen geben davon ein lebendiges Zeugnis aus Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte. So etwa Psalm 73, 23–26: »Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand. […] Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.« Der Körper zerfällt, macht aus dem autarken Managertyp einen hilflosen Patienten, welcher nach der OP nur noch flüssig-brei-

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ige Nahrung zu sich wird nehmen können. Schließt sich bereits zu diesem Zeitpunkt der Kreislauf des Lebens? Der Patient ist nie wieder zu einer Therapiesitzung erschienen. Das lässt den Leser mit einem beklemmenden Gefühl und der dumpfen Ahnung, er könnte den großen Eingriff nicht überlebt haben, zurück. Das Ende bleibt offen, so wie angesichts des Todes die letzten menschlichen Fragen offenbleiben. Der Gläubige hofft auf die Ewigkeit, der Atheist belächelt sie. In genau diesem Spannungsfeld zwischen »Fascinosum et Tremendum« ist das Wirkungsfeld der (christlichen) Religion verortet. In diesem Spannungsfeld geschieht auch die Auseinandersetzung mit der Diagnose Krebs. Die Erkrankung trägt mit ihrer perfiden Perfektion, raschen Wandelbarkeit, häufigen Widerstandsfähigkeit nahezu menschliche Wesenszüge und wird seit Jahrtausenden von der medizinischen Wissenschaft beforscht und bekämpft. Eine Krebsdiagnose erschüttert, stößt ab, und manche Krankengeschichte fasziniert zugleich. Krebs als »Fascinosum et Tremendum« wie die Religion an sich? Das Hoffen auf ein ganz individuelles Heilungswunder prägt so manche Krankengeschichte. Der Fallbericht illustriert sehr eindrücklich, wie sehr die Diagnose Krebs zwischen denen, welche im Kreis stehen, das heißt Betroffene sind, und denen, welche als Angehörige, Freunde oder Bekannte von außen auf das Leid schauen, trennt. Nicht nur der Erkrankte selbst, auch sein Umfeld, das Familiensystem als Ganzes, sind betroffen und werden in die Therapie mit einbezogen. Bereiche wie Psychoonkologie, »Palliative and Spiritual Care« oder Achtsamkeitsrituale mit einer bewussten Konzentration auf das Leben im Hier und Jetzt, auf den unmittelbaren Augenblick – all dies gehört mittlerweile zur modernen Krebsbehandlung in großen onkologischen Zentren hinzu. Zwei Bestseller der vergangenen Jahre bezeugen diesen fortwährenden Kampf, der geprägt ist von Forscherdrang, Ideenreichtum, Beharrlichkeit, Siegen, aber auch Rückschlägen, Demut und Leid. Aus der Außenperspektive versucht ­Siddhartha ­Mukherjee (2015) in seiner Kulturgeschichte »Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biografie« eine Annäherung an das komplexe Phänomen. Aus der Innenperspektive erzählt der Informatikprofessor an

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der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (Pennsylvania), Rahel Pausch (2008), in der »Last Lecture – die Lehren meines Lebens«, seiner Abschiedsvorlesung, ein Jahr nach Erhalt der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs von seinem Kampf mit der Erkrankung. Ähnlich wie im Fallbeispiel gibt es in diesem Werk keine Larmoyanz, sondern eine zum Teil witzige, selbstironische Auseinandersetzung mit verpassten und gelungenen Kindheitsträumen, familiären Beziehungen und dem Schmerz, die Kinder allein zurücklassen zu müssen – viel zu früh und auf eine sehr ungerechte Art und Weise. In Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens muss aus der Sicht der Betroffenen nicht Depression, ver- und bekümmerter Rückzug folgen, sondern kleine Dinge des Lebens gewinnen einen neuen Wert: das Blätterrauschen bei einem Spaziergang, die Regentropfen am Fenster, die Beziehung zu Freunden und Familie. Es ist meist nicht die Weltreise, die auf eine Krebsdiagnose folgt, sondern eine Achtsamkeit für jeden einzelnen Tag. Für jeden neu geschenkten kostbaren Lebens-Tag. Gleichzeitig wird Selbstverständliches plötzlich zu einem Hindernis, so zum Beispiel die Nahrungsaufnahme oder Toleranz gegenüber Gerüchen im Krankenhaus. Die Sorglosigkeit hat sich still und leise aus dem Alltag verabschiedet. Das Leben geht weiter, doch wahrscheinlich nur für die anderen. Die letzten Todesstunden machen Angst; werden sie zu Hause im Kreis der Angehörigen gelingen oder in der Klinik an Schläuchen? Glück tritt neben Todesangst. Pausch berichtet von genau dieser Erfahrung, dass man die Karten des Lebens, die man erhalte, nicht ändern könne, wohl aber die Art, wie man sie individuell ausspiele. Optimismus und Lebensbejahung angesichts einer Krebsdiagnose und des Todes – das ist sowohl aus christlicher als auch menschlicher Perspektive eine wahre »Ars moriendi et vivendi«, wie dieses Fallbeispiel sehr eindrücklich illustriert. Gelingt es diesem Menschen, Krebs und Glück zu empfinden, weil er seinen Lebenstraum verwirklicht hat und voller Optimismus und Lebensbejahung auf sich und sein vergangenes und zukünftiges Leben schauen kann? Statt Nachdenken über den Tod, die Vergänglichkeit und die Frage nach einer Wiederkehr des vergangenen Lebensent-

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wurfs wird das pralle Leben gefeiert, auch am Vorabend der großen OP. Die spirituelle Dimension erhält damit eine ganz besonders suggestive, auf- und erweckende Kraft angesichts des »Monsters Krebs«. Das kostbare, geänderte Zeitgefüge angesichts der Diagnose wird auch in der therapeutischen Beziehung deutlich und tröstet über das offene Ende hinweg. Literatur Mukherjee, S. (2015). Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biografie. Köln: DuMont. Ohls, I. (2017). Therapeutische Annäherungen an die Komplizierte Trauer – Trialog zwischen Psychotherapie, Seelsorge und den Künsten. Spiritual Care, 6 (1), 81–88. Pausch, R. (2008). Last Lecture – die Lehren meines Lebens. München: Goldmann. Thomson Studien-Bibel (1988). Bibeltext nach der Übersetzung Martin Luthers, Altes und Neues Testament. Neuhausen: Hänssler.

Zusammenfassung und Ausblick Gabriele Stotz-Ingenlath, Michael Utsch, Isgard Ohls, Eckhard Frick

Für dieses Fallbuch haben wir zwanzig Beispiele aus Psychiatrie und Psychotherapie ausgewählt, in denen die religiöse oder spiri­tuelle Orientierung der Patienten und Patientinnen eine zentrale Rolle spielt. Die Fallgeschichten wurden von Mitgliedern des seit 2013 bestehenden Referats »Religiosität und Spiritualität« der DGPPN geschrieben und kommentiert; vierzehn Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Therapieschulen und Konfessionen haben sich an dem Projekt beteiligt. In der Entstehungsphase dieses Buches hatten wir innerhalb des Referats dazu eingeladen, geeignete Patientengeschichten aus dem ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungs­alltag einzureichen. Angesichts der Vielfalt der eingegangenen Fallerzählungen musste eine Auswahl getroffen werden. Für weitere Behandlungsberichte sei auf die Rubrik »Kasuistik« in der Zeitschrift »Spiritual Care« verwiesen. Die betroffenen Patientinnen und Patienten wurden im Vorfeld der Entstehung des Buches um ihre Einwilligung zur Veröffentlichung der jeweiligen Fallschilderung gebeten, sofern diese nicht durch Verfremdung oder fiktive Elemente unkenntlich gemacht wurde. In allen Fallgeschichten geht es um Spiritualität und Religiosität als Teil des Problems der Patienten, aber auch als Teil der Lösung (Pargament, 2013). An etwas das eigene Ich Übersteigendes zu glauben, ist menschlich. Der Wunsch nach re-ligio als »Rückbindung« an eine höhere Macht bzw. an eine die eigene Endlichkeit übersteigende Transzendenz liegt im menschlichen Wesen. Die Sehnsucht nach

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Spiritualität, nach Verbundenheit mit einer geistigen Sphäre, nach einer unsichtbaren Welt, die die sichtbare durchdringt, ist also ein Grundbedürfnis im menschlichen Leben, das jeweils mit kulturell und individuell unterschiedlich ausgeprägten Vorstellungen erfüllt wird. Bei psychischen Erkrankungen geht es meist um existenzielle Fragen in den Grenzsituationen (Jaspers) des Lebens, wie Tod, Schuld oder Scheitern. Hier werden Weltanschauungen, Religiosität und Spiritualität oft erst bewusst. Wir leben heute im deutschen Sprachraum in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft mit unterschiedlichen weltanschaulichen Vorstellungen und Prägungen, denen wir auch in den Patienten unserer Kliniken und Praxen begegnen. Darauf müssen wir vorbereitet und dafür müssen wir ausgebildet sein. In unseren Fällen geht es um den Umgang mit Schuld und Schuldgefühl, Vergebung und Verzeihung (Fall 3 »Kann ich Gott verzeihen?«, Fall 6 »Nicht schuld, sondern krank«, Fall 12 »Das Kind im Klinikmüll«, Fall 14 »Geheimdienstler entzündet Kerze«), um Glaubenskrisen und -zweifel (Fall 1 »Der Herr Jesus spricht nicht mehr zu mir«), um die Frage nach dem einheitlichen Ich-Bewusstsein in psychotischem oder Depersonalisationserleben (Fall 2 »Out of Body«, Fall 4 »Ashramverbot«, Fall 13 »Berufen zu missionieren«), um die Probleme hochreligiöser Patienten, die medizinische Krankheitskonzepte und eine leitliniengerechte Behandlung nicht annehmen können oder verweigern (Fall 6 »Nicht schuld, sondern krank«) oder die sich in einem rein säkularen Medizinbetrieb nicht aufgehoben, nicht verstanden fühlen und dadurch – gerade auch am Ende ihres Lebens – spirituell vernachlässigt sind (Fall 18 »Ein gläubiger Mensch hat keine Angst«). Themen in den beschriebenen Fällen sind auch in der traditionell abendländischen Kultur ungewohnte Auffassungen wie der Glaube an Dschinnen (Fall 9), an rituelle Reinigungen (Fall 10), an magische Praktiken (Fall 5), an religiöse Rituale (Fall 16), die im heutigen Medizinbetrieb befremdlich wirken und denen oft nicht adäquat begegnet wird, weil die interkulturelle Sensibilität fehlt. So können Ängste vor Leid, Leiden und Tod in einer zur Herkunftskultur verschiedenen kulturellen Umgebung oft nicht ausgedrückt und nicht nachvollzogen werden (Fall 19 »Japanische Bestattung«). Thema ist aber auch der Missbrauch von Religion (Fall 11 »Negative Gebete«, Fall 8 »Befreiung aus der Sekte«), wobei in einigen Fällen auch spiri-

Zusammenfassung und Ausblick155

tuelle Interventionen, auf die vorsichtig und nondirektiv hingewiesen wird, therapeutisch hilfreich sein können (Fall 16 »Herzensgebet«). Erwähnung finden auch unerfüllte spirituelle Sehnsüchte bei Patienten, die ohne religiöse Erziehung aufgewachsen sind, wie etwa in der damaligen DDR (Fall 7 »Die Engeltapete«). In psychisch Erkrankten, die ein »Symbolon anthropou«, ein Symbol des Menschseins überhaupt, darstellen (Scharfetter, 1987), kann auch der Behandler dem »Numinosen« begegnen (Fall 15 »Der schizophrene Messias«) und Angsterkrankte wie der Patient mit der »Apeirophobie« (Fall 17 »Ätherische Auflösung«) können mit ihrem Verlorenheitsgefühl im All zu »Philosophen wider Willen« werden. An den Grenzen der Medizin kann der Rückgriff auf die spirituelle Dimension tragen und Schutz bei körperlich invasiven Methoden bieten. Gerade am Ende des Lebens ist »spiritual care« besonders wichtig (Fall 20 »Krebs und Glück«). Wie sollen nun Behandler und Behandlerinnen im professionellen säkularen Rahmen mit solchen »spirituellen« Fällen umgehen? 2016 hat eine DGPPN-Taskforce »Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie« (Utsch et al., 2017) herausgebracht: Eine zentrale Empfehlung lautet, dass sich alle beraterisch und therapeutisch Tätigen bewusst eine bessere interkulturelle und religionssensible Kompetenz aneignen. Sie sollten in der Lage sein, gegenüber Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturen und weltanschaulichen Prägungen die Perspektive wechseln zu können. Generell ist mehr Augenmerk auf die spirituellen Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen der Behandelten zu richten, weil dieser Bereich im therapeutischen Setting häufig übersehen wird. Keine Anamnese sollte mehr ohne den fragenden Bezug auf die Spiritualität der Betroffenen auskommen, auch wenn die Behandlerinnen und Behandler selbst nicht religiös sind. Nur so kann herausgefunden werden, ob Religion und Spiritualität einen Belastungsfaktor oder eine Ressource darstellen, die bei der Therapieplanung mit zu berücksichtigen ist. In der Anamnese sollten Spiritualität und Religiosität der Patienten exploriert werden, bei der Behandlung allerdings müssen die professionellen Grenzen der Psychiater und Psychotherapeuten verantwortungsvoll gewahrt werden: Spirituelle Interventionen dürfen

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von ihnen nicht selbst vorgenommen werden, das wäre eine Grenzüberschreitung der eigenen Kompetenz. Die Patienten können allenfalls an Seelsorger, Gemeinden oder Imame und Rabbiner weitervermittelt werden. Psychisch kranke Menschen sind in besonderer Weise angreifbar und verwundbar, was emotionale, finanzielle oder sexuelle Grenzverletzungen angeht. Andererseits dürfen Probleme, die sich aus dem kulturellen, religiösen und spirituellen Hintergrund der Patientin und des Patienten ergeben, sowie spirituelle Ressourcen nicht aus Scheu außer Acht gelassen werden. Bei der Behandlung sollte man auf respektvolle Weise religiös neutral bleiben, wenngleich der jeweilige eigene weltanschauliche Hintergrund für den Patienten transparent sein sollte. Eine Anamnese und auch eine Behandlung wird erleichtert, wenn eine »Passung« der weltanschaulichen Grundhaltung zwischen Behandeltem und Behandler besteht, wenn beispielsweise ein hochreligiöser Patient weiß, dass auch der Behandler derselben Religionsgemeinschaft angehört oder zumindest versteht, worum es dem Patienten bei Problemen mit seiner Spiritualität geht. In Selbsterfahrung und Supervision sollte die eigene Weltanschauung gerade in Bezug auf die Weltanschauung des Behandelten durchaus reflektiert werden. Weder aufseiten der Behandler noch aufseiten der Behandelten darf es zu Grenzverletzungen aus religiösen Motiven kommen. So soll zum Beispiel in der Behandlungssituation keinesfalls missioniert oder der Glaube des anderen diffamiert werden. Der Respekt vor der Glaubensüberzeugung und der Würde des anderen ist in jedem Fall zu wahren, es sei denn, es werden aus ideologischen Gründen Grenzen physisch oder psychisch überschritten, wie etwa bei Fanatismus. Dann muss auch im Behandlungssetting deutlich auf diese Grenzen verwiesen werden. Bereits im Medizinstudium und vor allem in der Facharztausbildung zum Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie bzw. in der Ausbildung zum klinischen Psychologen sollten Weiterbildungsmöglichkeiten in interkultureller Kompetenz und spiritueller Anamneseerhebung sowie Selbsterfahrungsangebote entwickelt und ausgebaut werden. Hierauf richten sich derzeit die Bemühungen des Referats »Religiosi-

Zusammenfassung und Ausblick157

tät und Spiritualität« der DGPPN ganz besonders. Therapeutisch Tätige werden erst dann mehr Sensibilität und Sprachfähigkeit für den innerlichen Bereich der eigenen Glaubensüberzeugungen entwickeln, wenn sie selbst ihre religiöse oder areligiöse Biografie aufgearbeitet haben und in der Lage sind, ihr aktuelles eigenes Welt- und Menschenbild zu beschreiben. Woraus schöpfen sie selbst Hoffnung und Vertrauen angesichts so mancher Tragik der menschlichen Existenz, die ihnen täglich in den Patientengeschichten begegnet? Was gibt ihnen die Kraft, Patientinnen und Patienten in Sinnkrisen Mut zu machen, ihre Verzweiflung mit auszuhalten und sie hilfreich zu begleiten? In kollegialer Supervision sind diese Themen bisher zu selten behandelt worden. Religions- und spiritualitätssensible Fallbesprechungen sowie religionskundliche Grundkenntnisse sind Bereiche, die in Weiterbildungsinstituten nicht mehr fehlen dürfen. Die vorliegende Fallsammlung soll Denkanstöße vermitteln und den Horizont für die spirituelle Dimension in der Behandlung weiten, sie soll aber auch ein Lesebuch sein, in dem anhand berührender Fallerzählungen eine Begegnung mit sich selbst und eigenen weltanschaulichen Vorstellungen erfolgen kann. Im Konzept des Buches ist jeder Fallgeschichte ein Kommentar zugeordnet, wodurch die Lesenden in einen Diskurs um das Thema Religiosität und Spiritualität im psychotherapeutisch-psychiatrischen Alltag treten und Denkanstöße für die eigene Praxis erhalten können. Wenn die Sensibilität der Leser und Leserinnen für die eigene Spiritualität und jene des Patienten oder der Patientin geweckt worden ist, hat dieses Buch sein Ziel erreicht. Literatur Pargament, K. I. (2013). Ziele, die dem Menschen heilig sind. Zur Bedeutung der Zukunft für die Gesundheit. Spiritual Care, 2, 8–16. Scharfetter, C. (1987). Definition, Abgrenzung, Geschichte. In K. P. Kisker, H. Lauter, J.-E. Meyer, C. Müller, E. Strömgren (Hrsg.), Schizophrenien (S. 1–38). Berlin u. Heidelberg: Springer. Utsch, M., Anderssen-Reuster, U., Frick, E., Gross, W., Murken, S., Schouler-­ Ocak, M., Stotz-Ingenlath, G. (2017). Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Spiritual Care, 6 (1), 141–146.

Die Autorinnen und Autoren

Dr. med. Ulrike Anderssen-Reuster, Chefärztin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Klinikums Dresden, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Fachärztin für Psychia­ trie, Psychotherapie und Psychoanalyse, Zusatzausbildung in Psychoanalytischer Säuglings-Kleinkind-Eltern-Therapie, Lehrerin für MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) und MBCT (Mindfulness Based Cognitive Therapy). Arbeitsschwerpunkte: psychodynamische Gruppenpsychotherapie, Eltern-Kind-Psychotherapie, Achtsamkeit im klinischen Kontext, Mitwirkung am ReSource Project, einer großen Studie zu mentalem Training und Geistesschulung am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig (unter Leitung von Tania Singer). Dr. med Iris Hauth, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, ist seit 20 Jahren Chefärztin des katholischen Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee, in dem neben achtsamkeitsbasierten Therapien die spirituellen Bedürfnisse der Patienten in Kooperation mit einem Seelsorgeteam in den therapeutischen Alltag integriert werden. Seit 2004 ist sie im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und war 2015/2016 Präsidentin der Fachgesellschaft. Prof. Dr. Dipl.-Psych. Henning Freund, Studium der Psychologie und der europäischen Ethnologie an der Universität Frankfurt a. M., Appro-

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Die Autorinnen und Autoren

bation als Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie), war Leiter der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Klinik Hohe Mark in Frankfurt a. M., ist in eigener Privatpraxis für Psychotherapie in Heidelberg tätig und Professor für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule TABOR in Marburg. Prof. Dr. med. Eckhard Frick SJ M. A., Studium der Medizin, Theologie und Philosophie, trat 1986 in die Gesellschaft Jesu ein; 1992 Ordination. Er ist Psychiater und Psychoanalytiker (C. G. Jung), Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie und für Spiritual Care an der Technischen Universität München. Er ist erster Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität. Prof. Dr. med. Dr. phil. Peter Kaiser, Psychiater, Psychotherapeut, Religionswissenschaftler, Anthropologe, Ethno- und Tropenmediziner, ist Referent für Psychiatrie und Sucht am Sozialministerium Baden-­ Württemberg und Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bremen. Neben seiner Tätigkeit als Chefarzt im Zentrum Schloss Winnenden ist er mit medizinischer Tätigkeit in Entwick­ lungsländern inklusive dem Management internationaler EU-­Projekte beschäftigt. Dr. med. Norbert Mönter, Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse, war über drei Jahrzehnte niedergelassen und vormals Vorsitzender des Berufsverbandes der Nervenärzte in Berlin, Mitglied des Expertengremiums Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression und weiterer Gremien. Er ist Mitglied des Psychiatriebeirates des Senates von Berlin, Sachverständiger für den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). 2003 begründete er den Berufsgruppen- und Sektoren-übergreifenden Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit (vpsg) und initiierte den Berliner Religionswissenschaftlich-psychiatrischen Arbeitskreis (und Colloquium). Als Geschäftsführer der PIBB-Psychiatrie-Initiative Berlin Brandenburg zeichnete er verantwortlich für die Integrierte Versorgung der PIBB mit über 3000 eingeschriebenen ­Patienten.

Die Autorinnen und Autoren161

Dr. med. Dr. theol. Dipl.-mus. Isgard Ohls ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Psychosozialen Zentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach Studien der Humanmedizin, Evangelischen Theologie, Kirchenmusik/Cembalo, Judaistik und Ethnomedizin in Hamburg, Heidelberg und Zürich war sie langjährig Lehrbeauftragte am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE. Außerdem ist sie Theologin, A-Kirchenmusikerin und Cembalistin. Sie ist Mitglied im Referat »Religiosität und Spiritualität« der DGPPN, in der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität, der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaften sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutsch­land. Dr. med. habil. Hamid Peseschkian, Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut, ist geschäftsführender Institutsleiter der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie (WIAP) und Ärztlicher Direktor des Wiesbadener Psychotherapie-Zentrums. Er ist Präsident der World Association for Positive and Transcultural Psychotherapy (WAPP) und Weiterbildungsermächtigter für Psychotherapie der Landesärztekammer Hessen. Vorstandsmitglied der Deutschen Fachgesellschaft für Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie/ Psychodynamische Psychotherapie (DFT). Er wurde zum International Distinguished Fellow der American Psychiatric Association ernannt. Seminar- und Vortragstätigkeiten im In- und Ausland mit den Schwerpunkten Life-Balance, Stressbewältigung, transkulturelle Kompetenz und gesellschaftliche Fragestellungen. Prof. Dr. med. Samuel Pfeifer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, war Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie »Sonnenhalde« in Riehen bei Basel. Er ist jetzt in privater Praxis tätig und lehrt im Masterstudiengang »Religion und Psychotherapie« an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Stefan Willibald Johann Roider, Studium der Humanmedizin in Regensburg und  München, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist leitender Oberarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Höhenklinik Bischofsgrün.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. med. Ibrahim Rüschoff ist Nervenarzt und Psychotherapeut. Nach langjähriger oberärztlicher klinischer Tätigkeit ist er als ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis niedergelassen. Seit Jahrzehnten ist er aktiv im Bereich der psychosozialen Versorgung von Migranten, speziell Muslimen. Er ist Mitglied im Zentralrat der Muslime in Deutschland sowie in der Islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe e. V. (IASE). Dr. phil. Dr. med. Gabriele Stotz-Ingenlath, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, studierte Medizin und Philosophie in Bochum, Boston, Cambridge und München. Klinische und wissenschaftliche Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie München, an der Psychiatrischen Klinik der LMU München, an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Burghölzli), am Serbski-Institut und an der Regionalarztstelle der Deutschen Botschaft Moskau und derzeit an der Fliednerklinik Berlin; Lehraufträge an der Hochschule für Philosophie in München und an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Stellvertretende Referatsleiterin des DGPPN-­ Referates »Religiosität und Spiritualität«, Mitglied im Bundesver­ band Deutscher Schriftstellerärzte. Dr. med. Esther Sühling, Krankenschwester, Studium der Humanmedizin in Essen, Neurologin, Psychiaterin und Psychotherapeutin, ist niedergelassen in eigener psychotherapeutischer Praxis in Laer (Kreis Steinfurt, Münsterland). Prof. Dr. Michael Utsch, Dipl.-Psych., Studium der Evangelischen Theologie und Psychologie, Approbation als Psychologischer Psychotherapeut (Psychoanalyse, DGIP). Nach klinischen Tätigkeiten arbeitet er als wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und Honorarprofessor für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule »Tabor« in Marburg. Leiter des DGPPN-Referats »Religiosität und Spiritualität«.