Existenz und Kooperation: Festschrift für Ingtraud Görland zum 60. Geburtstag [1 ed.] 9783428479078, 9783428079070

In Ingtraud Görlands wissenschaftlichem Ansatz kommt geradezu eine Scheu zum Ausdruck, im Denken innezuhalten. Diese Bes

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Existenz und Kooperation: Festschrift für Ingtraud Görland zum 60. Geburtstag [1 ed.]
 9783428479078, 9783428079070

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FECHNER/SCHLÜTER-KNAUER

Existenz und Kooperation Festschrift für Ingtraud Görland zum 60. Geburtstag

Beiträge zur Sozialforschung Schriftenreihe der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e. V. Kiel Herausgegeben von Prof. Dr. Wilfried Röhrich

Band 6

Existenz und Kooperation Festschrift für Ingtraud Görland zum 60. Geburtstag

lIerausgegeben von Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Existenz und Kooperation: Festschrift für Ingtraud Görland zum 60. Geburtstag / hrsg. von Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Beiträge zur Sozial forschung ; Bd. 6) ISBN 3-428-07907-8 NE: Fechner, Rolf [Hrsg.]; Görland, Ingtraud: Feschrift; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0175-6087 ISBN 3-428-07907-8

Vorwort Die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft - und die vorliegende Schriftenreihe - sind einem großen Namen verpflichtet. Mit Tönnies (1855-1936) begann in Deutschland die einzelwissenschaftliche Soziologie und damit eine neue Epoche sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Tönnies' Soziologie vereint typologisches Denken und historische Wirklichkeitserfassung; sie wurde von Marx beeinflußt und präludiert Max Weber. Durchdrungen ist das Werk von einem tiefgreifenden sozialen Engagement ... Mit diesem Text beginnen die Vorworte der Beiträge zur Sozialforschung. Der Reihenherausgeber möchte beim vorliegenden Band hier abbrechen, lassen sich doch die drei letzten Worte vorzüglich aufgreifen, um an das vielseitige Wirken der zu ehrenden Vizepräsidentin der Tönnies-Gesellschaft kurz zu erinnern. Ingtraud Görland ist diese Schrift zugeeignet der hochqualifizierten Philosophin mit dem tiefgreifenden sozialen Engagement Für sie bilden »Denken« und »Machen« keine Gegensätze, sind Wissenschaft und Politik, intellekbleUe Reflexion und anpackende AUtagsarbeit aufeinander bezogen. Ingtraud Görland hat sich nie nur mit akademischen Themen der philosophischen Disziplin befaßt: mit der Kantkritik des jungen Hegel, mit der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, mit der konkreten Freiheit des Individuums bei Hegel und Sartre oder mit Heideggers Transzendenzphase als Position zwischen Sein und Zeit und der sogenannten Kehre. Die hier zu Ehrende mit ihrem Gespür für das politisch Machbare und ihrer Sensibilität für das sozial Notwendige hat sich immer auch für ihre Umwelt verantwortlich gefühlt in ihrer parteipolitischen Arbeit und ihrer Tätigkeit für die Arbeiterwohlfahrt. Eine Philosophin mit sozialem Engagement - in der Tat. Und zudem dies zu erwähnen liegt mir persönlich nahe - eine für ihre wissenschaftlichen Leistungen viel zu bescheidene, aber stets inspirierende Kollegin und eine trotz ihres vielseitigen Wirkens unermüdliche und mitreißende akademische Lehrerin. Ich vermute, daß diese Einschätzung von den Autorinnen und Autoren der Festschrift geteilt wird. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Wilfried Röhrich

Inhaltsverzeichnis Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer Die Sokratikerin Ingtraud Görland. Vorwort der Herausgeber .

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I. Existenz

Ingtraud Görland Transzendenz und Dialektik

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Michael Großheim Philosophie im Wandel der Grundstimmungen. Zu Martin Heideggers Denkweg von 1927 bis 1933 . . . . . . . . . ..

19

Edgar Weij] Entpflichtete Freiheit? Kritische Anmerkungen zu Sartre und seiner »Situationsethik« . . . ..

33

Anja Rüdiger Die (De-)Konstruktion des Humanismus. Eine Genealogie. . . . . ..

47

Hermann Schmitz Wissenschaft und Lebenserfahrung . . . .

61

Wolfgang Deppert Zukunftshoffnungen trotz Zukunftsängsten

71

Hans-Werner Prahl Nicht nur zum Schlafen da. Bemerkungen zur Soziologie der Nacht

85

Jochen Worpenberg Über Schlemihle. Randbemerkungen zur unglücklichen Figurenphänomenologie

101

Joachim Ringleben Der Mensch - Maß seiner selbst? . . . . . . . . . . . . . .

117

Gerhard Günther Anmerkungen zur Philosophie des Himmels. Das Anthropische Prinzip der Kosmologie und ein moral philosophischer Perspektivenwechsel

133

Hans-Joachim Waschkies Naturgeschichte und Geschichte bei Kant . . . . . . . . . . . . . ..

163

8

Inhaltsverzeichnis

11. Kooperation

Bettina Wahrig-Schmidt Bilder vom Menschen bei Thomas Hobbes . . .

179

Cornelius Bickel Konsequenzen aus Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« für Fragen der politischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . ..

195

Lars Clausen Ein neuer Feiertag. Merkzettel für eine Ansprache mit einem Nachtrag

209

Wilfried Röhrich Der Mythos der Gewalt. Sorel: Vom Syndikalismus zum Faschismus.

213

Ursula Pasero Hannah Arendt: »Woman in Dark Times«. Eine biographische Collage

223

Uwe Carstens Integration durch Kooperation. Die Eingliederung der Vertriebenen in Schleswig-Holstein

237

Johannes Ratzek Die Philosophie und das Allgemeine. Warum Philowphie in der Schule notwendig ist

247

Werner Loch Die Funktion der Bestärkung im pädagogischen Bezug . . . . . . ..

253

Rolf Fechner .md Carsten Schlüter-Knauer Scham. Soziopolitologische Gedanken zu einer unsichtbaren Ordnung.

261

Detle! Brandenburg Abenteuer des Verstehens. Ingtraud Görland als akademische Lehrerin.

283

Ingtraud Görland: Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

289

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

291

Integriertes Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

297

Die Sokratikerin Ingtraud Görland Vorwort der Herausgeber

Der 60. Geburtstag von Ingtraud Görland war den Herausgebern des vorliegenden 6. Bandes der Schriftenreihe der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft Anlaß genug, um Freunde, Kolleginnen und Schülerinnen (und, selbstverständlich, ihre männlichen Pendants) um Beiträge zu einer Festschrift zu bitten. Der Grund für das Zustandekommen dieser Festschrift liegt jedoch in dem tieferen Bedürfnis, einer akademischen Lehrerin und Philosophin zu danken, die sich nicht nur innerhalb der Universität durch ein ganz besonderes Engagement auszeichnet. Sicher können wir dies stellvertretend für alle sagen, die Ingtraud Görland begegnet sind, sei es während der akademischen Ausbildung, der beruflichen Tätigkeit an der Universität oder bei ihren vielfältigen sozialen und politischen Aktivitäten. Das lebhafte und spontane Echo der Angesprochenen hat nachdrücklich gezeigt, wieviele neben ihren sonstigen Aufgaben kurzfristig bereit waren, unserer Bitte nachzukommen. Es erscheint eigentlich als paradox, eine Sokratikerin, denn als solche gilt sie uns, mit einer Festschrift zu bedenken. Ingtraud Görlands Besonderheit als Philosophin und akademische Lehrerin besteht gerade darin, verständlich zu machen, soweit es verstehbar ist, wie die Arbeit des Begriffs vor sich geht und die Geschichte der Theoreme aufzuhellen, ohne selbst dieses Denken und diese Geschichte immer wieder gerinnen zu lassen und in viele gelehrte Abhandlungen und Bücher zu verpacken. Ihr wissenschaftlicher Ansatz beinhaltet, so wie wir es sehen, geradezu eine Scheu davor, im Denken innezuhalten. Diese Bescheidenheit hat damit einen starken aufldärerischen Anspruch, einen genuin sokratischen Charakter. Ingtraud Görland will verstehen, wie Gedanken theoretisch möglich sind, wie Argumentationen zustande kommen - und gibt in der Arbeit insistierend gerade dort nicht nach, wo in der Sache wenig sich fügt und häufig nur rhetorisch geglättet, nicht argumentativ bewältigt wurde. Sie läßt solcherart daran teilnehmen, wie ein Gedanke andere generiert, etwa wie die Kritik an Kant den jungen Hegel seine Theoreme ausbilden läßt. Das ist Denken gegen jeden Autoritätsgestus. Dermaßen ist Ingtraud Görlands Philosophieren als Philosophie unmittelbar praktisch, denn sie erzeugt Resistenz gegen die vielen Behauptungen, die durch Gesellschaft, Politik und Philosophie vaga-

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Die Sokratikerin Ingtraud Görland

bundieren. Ihre Philosophie ist somit kritisches Philosophieren und forschendes Lehren im stetigen wissenschaftlichen Diskurs. Ingtraud Görland läßt aber nicht nur an ihrem Wissen und ihren Erfahrungen teilnehmen - sie selber nimmt teil an manchen Bereichen des sozialen Lebens, fühlt sich verantwortlich, wirkt mit: als Gemeindevertreterin, als Bürgermeisterin, als sozialpolitische Sprecherin und stellvertretende Vorsitzende der Kreistagsfraktion ihrer Partei, als Vizepräsidentin der Ferdinand-Tönnies-GeseIlschaft und der Gesellschaft für Philosophische Bildung, an der Basis und in leitenden Positionen der Arbeiterwohlfahrt. Philosophie und Praxis bilden ihr aber nicht zwei nebeneinander bestehende Reiche ihrer denkerischen und praktischen Existenz. Vielmehr ist es uns noch eingängig, wie sie etwa, als sie sich mit Andre Gorz und dessen Kritik der Theologie der Arbeit im philosophischen Unterricht beschäftigte, ihre intellektuellen Suchbewegungen noch weiter trug, indem sie Arbeitsloseninitiativen besuchte, Veranstaltungen mit Wissenschaftlern und Arbeitslosen in die Wege leitete und organisierte sowie gleichzeitig auf höherer politischer Ebene ihre so gewonnenen Arbeitsergebnisse und Kenntnisse in die Tätigkeit der Landeskommission 'Grundsatzprogramm' ihrer politischen Partei einbrachte. Wir haben die Jubilarin gebeten, für dieses Buch einen Beitrag zu schreiben. So soll ihr Ansatz in prägnanter Form vorgestellt werden - und gleichzeitig haben wir ihr einen Text 'abgewonnen'. Mit dem Titel des Bandes »Existenz und Kooperation« heben wir ihre theoretischen und praktischen Interessen hervor. Diese Begriffe sind ferner tauglich, den folgenden Ausschnitt des philosophischen, soziologischen, politologischen und pädagogischen Denkens Schleswig-Holsteins zu markieren: Existenzphilosophie, Ethik-Diskurs, philosophische und politologische Theorie von Hobbes bis Kant und darüberhinaus - eben zwischen Existenz und Kooperation. Zu danken bleibt der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, die wesentlich dazu beigetragen hat, daß diese Festschrift zustandekommen kommen konnte, den Professoren Dr. Wilfried Röhrich und Norbert Simon, die für das verlegerische Domizil dieses Buches sorgten, zu danken ist allen Autoren für die erfreuliche Zusammenarbeit. Dank und Gratulation an Ingtraud Görland aller hier vertretenen - und mancher aus triftigen Gründen verhinderten - Autorinnen und Autoren sprechen wir nochmals stellvertretend aus und wünschen weiterhin Glück und Engagement. Kiel, im August 1993 Rolf Fechner

Carsten Schlüter-Knauer

I. Existenz

Transzendenz und Dialektik Von Ingtraud Görland

Dieser Versuch, darzustellen, wie Heidegger die Dialektik Hegels und den kantischen transzendentalen Ansatz in seine eigene Fundamentalontologie einbezieht, geht zurück auf einige der neu edierten Vorlesungen Heideggers, und zwar auf die Kant-Deutung der Vorlesungen »Grundprobleme der Phänomenologie«l von 1927 und »Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft« von 1927/28.2 Im Hinblick auf den Transzendenzbegriff Heideggers steht hier die sich zeitlich anschließende Vorlesung von 1928, »Metaphysische Anfangsgründe der Logik«3, im Vordergrund, und für den Vergleich von Dialektik und Transzendenz ziehe ich Heideggers Vorlesung über Hegels »Phänomenologie des Geistes«4 von 1930/31 heran. In Heideggers im Anschluß an »Sein und Zeit« ausgeführter Kant-Interpretation werden drei Themenbereiche vorrangig Ziel der Kritik: 1. Die Isoliertheit des weltlosen apriorischen Subjekts, 2. der Ansatz dieses transzendentalen Ichs als eines vorhandenen Apriori und 3. das unvereinigte Nebeneinander der IchAspekte des transzendentalen Ich-denke, des empirisch-konkreten Ichs und des freien moralisch-praktischen. Diesem driuen Problembereich der fehlenden Ich-Einheit liegt die Frage zugrunde: Wenn das in transzendentaler Weise fungierende Ich alles für es Gegenständliche - auch sich selbst als konkret seiendes - konstituiert, welche Seinsweise besitzt es dann in dieser Tätigkeit, die 1 Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Marburger Vorlesungen Sommersemester 1927), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a. M. 1975 (Gesamtausgabe, Bd. 24). 2 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation von KanlS Kritik der reinen Vernunft (Marburger Vorlesung Wintersemester 1927 / 28), hrsg. von Ingtraud Görland, Frankfurt a. M. 1977 (Gesamtausgabe, Bd. 25).

3 Martin Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (Marburger Vorlesung Sommersemester 1928), hrsg. von Klaus Held, Frankfurt a. M. 1978 (Gesamtausgabe, Bd. 26). 4 Martin Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1930/31), hrsg. von Ingtraud Görland, Frankfurt B. M. 1980, (Gesamtausgabe, Bd. 32).

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Ingtraud Görland

doch eine Tätigkeit des einen Ich ist? Inwiefern ist es in dieser Tätigkeit selbst seiend? Im Ausgang von dieser Frage nimmt Heidegger das Ich, das Kant in das objekthaft seiende empirische Ich und das reine Ich-denke trennte, zu einer Einheit zusammen, zu der Einheit des ontischen und zugleich transzendental fungierenden, des seinsverstehenden Daseins. Daraus ergibt sich die weitere Frage: Wie ist das Dasein zu verstehen, wenn es als ontisches zugleich vorgängige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung von Seiendem ist? Kant nimmt das transzendentale Ich und seinen apriorischen Kategorienbestand wie Heidegger schreibt - als etwas, »was im Gemüt liegt und in diesem zugänglich ist«5. Kant sieht dieses konstitutive Subjekt insofern als etwas Vorhandenes, als er es wie eine zugrundeliegende gegebene apriorische Bedingung aufnimmt. Soll aber das Ich in dem Vereinigtsein seiner Aspekte gesehen werden, so ergibt sich gerade die Forderung, das Ich als Ennöglichung seiner konstitutiven Apriorität zu zeigen, und nicht nur diese als Ennöglichung seiner Erfahrung. Es muß in sich als ontischem eine Funktion besitzen, die es in seinem Werden zum apriori Fungierenden verständlich werden läßt. Kant bestimmt das Ich, soweit es in transzendentaler Funktion gesehen wird, in einer Abgelöstheit vom Empirisch-Konkreten, die für ihn den Charakter einer vorgefundenen Gegebenheit hat, während Heidegger nun gerade zeigen will, inwiefern das ontische Dasein in einem Sich-Lösen vom Seienden, in einer Transzendenz über es, diesen Bereich des Apriori für sich allererst eröffnet. Diese durch die Daseinsanalyse von ))Sein und Zeit« fundierte Kant-Kritik bewirkt eine Umbildung der Daseinsbestimmungen aus ))Sein und Zeit«. Die fundamentalontologischen Ausführungen der Logik-Vorlesung von 1928 lassen sich als der Versuch verstehen, die an Kants Subjektbegriff herausgestellten Mängel zu beseitigen und die ursprüngliche Ganzheit des empirischen, des transzendentalen und des freien Ichs darzustellen. Zwei der daraus sich ergebenden Änderungen gegenüber ))Sein und Zeit« greife ich andeutend heraus: 1. In ))Sein und Zeit« liegt zunächst ein transzendentaler Ansatz vor: Das apriorische Seinsverstehen, der Entwurf des Bewandtniszusammenhanges der Welt, ermöglicht das Begegnen von Seiendem. Dieser transzendentale Ansatz überkreuzt sich aber mit der These einer Gleichursprünglichkeit verschiedener Weisen des Daseins: Gemäß ))Sein und Zeit« kann das Dasein entweder in diesem transzendentalen Sinne von der ihm eigenen Zukünftigkeit her und aufgrund dieses Bewandtnisentwurfes seine Gegenwartserfahrung konstituieren 5 Marlm Heidegger: Phänomenologische Interpretation, S. 314.

Transzendenz und Dialektik

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oder es kann, verfallen an seine seienden Gegebenheiten, seinen Welthorizont von diesen sich vorgeben lassen. Diese Seinsweise des »uneigentlichen« Daseins läuft dem transzendentalen Ansatz jedoch genau so zuwider wie die in »Sein und Zeit« behauptete Gleichursprünglichkeit von überkommender Befmdlichkeit und entwerfendem Verstehen. 2. Die Vereinigung des transzendentalen und des freien Ichs hebt die in »Sein und Zeit« dargelegte Fundierung des konstitutiven eigentlichen Daseins auf: Denn dort ennöglicht letztlich die Angst den vom Seienden gelösten vorgängigen Entwurf, die Angst reißt den Menschen heraus aus dem Haften am vertrauten Gegebenen, löst ihn ab vom Seienden in einem Unheimlich werden des Vertrauten. Dieses den Menschen überkommende Gelöstwerden wird nun zu einem freien. Als wollendes, primär zukünftiges löst sich das Dasein von seinen Vorgegebenheiten, seine Struktur als Wille ennöglicht selbst das SichLösen vom Seienden. Und hier wird jetzt der Begriff der Transzendenz zentral: Er bedeutet in diesem Zusammenhang die Tätigkeit des Daseins, seine konkrete Gebundenheit an das Seiende oder das Seiende zu transzendieren - wie Heidegger es in der Logik-Vorlesung von 1928 fonnuliert: »Das Dasein ist geworfenes, faktisches, durch seine Leiblichkeit ganz inmitten der Natur, und gerade darin, daß dieses Seiende, inmitten dessen es ist und wozu es selbst gehört, von ihm überschritten wird, liegt die Transzendenz«.6 Und eben als existierendes, d. h. im wollenden Selbstvollzug seines Lebens, ist es transzendierend und bildet auf diese Weise über die zerstreute Vielfalt seiner seienden Konkretheiten hinaus erst die Einheitlichkeit seiner selbst in allem. Das vorreflexive Seiner-selbst-Innesein des Menschen beruht auf dem Sich-Erfassen im Licht des eigenen Wollens, das hier das transzendierende Sich-Herauslösen meint aus der Vielheit der eigenen festen Wirklichkeit so, daß der Mensch sich selbst in der einheitlichen und gleichsam verflüssigten Fonn der Möglichkeit haben kann - »Frei sein ist ... Sichverstehen aus Möglichkeit ... Freiheit ist in sich selbst ein Überschwingen in Möglichkeiten«?, wie Heidegger in seiner Logik-Vorlesung schreibt. Insofern sieht Heidegger das ontische und das freie Ich zusammen, das nun weiterhin in dieser Einheit zugleich die transzendentale Funktion erhält, Bedingung der Möglichkeit seines Erfahrens von Seiendem zu sein. Denn in seiner Transzendenz über die Disparatheit des Seienden entwirft das Dasein den ganzheitlichen Zusammenhang seiner als Möglichkeit und das heißt zugleich: einen 6 Martin Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 212. ? Martin Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 278.

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Ingtraud Gör!and

apriorischen Bedeutsamkeitszusammenhang, von Heidegger mit dem Terminus Welt' bezeichnet, aufgrunddessen überhaupt erst Seiendes als so oder so für mich Sinnvolles auftaucht, als etwas entdeckt werden kann. Das sich vom Seienden lösende Transzendieren, das die Freiheit des wollenden Selbstvollzuges des Daseins ausmacht, ist so die Bedingung der Möglichkeit des apriorischen Sinnhorizontes, der seinerseits das Erfassen von Seiendem ermöglicht. An diesem Problem der inneren Möglichkeit des Seinsverstehens ist Kant nach Heidegger vorbeigegangen. Kant nahm die apriorischen Bestimmungen als etwas Vorhandenes, ohne die »Einheitlichkeit der Ursprungsdimension sichtbar zu machen, um daraus das Wesen der Kategorien entspringen zu lassen«8. Gerade in diesem Aufweis des Sich-Bildens der transzendental fungierenden Selbstheit aber sieht Heidegger weiterhin seine eigene Intention gegenüber Kant als verwandt an mit Hegels Kant-Kritik. Denn Hegels dialektische Entwicklung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein in der Phänomenologie ist - gemäß Heideggers aneignender Deutung - der Aufweis der inneren Möglichkeit des apriorischen Ich. In dieser dialektischen Entwicklung löst sich das Ich von seinem anfänglichen Bezug zum Seienden, die Ich-Objekt-Relation wird zur Identität des Selbstbewußtseins, und insofern versteht Heidegger diese Entwicklung als »Absolvenz des Geistes aus dem Relativen«9. Diese Gleichsetzung von Transzendenz und Dialektik impliziert freilich eine einseitige Sicht von Hegels Dialektik. Dennoch ist Heideggers Anknüpfung an Hegel nicht ein bloßes Mißverständnis. Das Selbstbewußtsein Hegels hebt ja nicht nur das objektiv Gegenständliche auf, sondern enthält auch das Negieren der eigenen seienden Unmittelbarkeit, z. B. indem es sich im Kampf um Anerkennung über »sein Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens«10 erhebt und sich darin als freies bewährt, oder indem es als Knecht in der Furcht des Todes »das absolute Flüssigwerden alles Bestehens«II , »diese reine allgemeine Bewegung«12, als »das einfache Wesen des Selbstbewußtseins, die absolute Negativität«13 an sich erfährt. Ebenso ist das Transzendieren des Daseins bei Heidegger ein Überstieg über das begegnende Seiende und über sich selbst als seiendes in zugleich negierender und bewahrender Aufhebung. 8 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation, S. 404. 9 Martin Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 107. 10 Vgl. Georg Wilhelm Früdrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Kar! Markus Michel, Bd. 3), Frankfurt 1970, S. 149 (zuerst 1807).

11 Georg Wilhelm Früdrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 153. 12 Georg Wilhelm Früdrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 153. 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 153.

Transzendenz und Dialektik

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Diese Parallelität von Heideggers Transzendenz mit Hegels Genese des Selbstbewußtseins ist aber nur vorübergehend. Dem Selbstbewußtsein Hegels fehlt eine Funktion der Transzendenz, und umgekehrt fehlt Heideggers Transzendenz die dialektische Fruchtbarkeit des hegeischen Selbstbewußtseins. Die Funktion der Transzendenz, die bei Hegel kein Analogon hat, besteht im apriorischen Fungieren als Bedingung der Möglichkeit des Begegnens von Seiendem in einem Sinnhorizont. Die Fruchtbarkeit der Dialektik, die in Heideggers Transzendenz kein Analogon hat, besteht im Zuwachs an Eigenrnacht durch Aneignung in der Selbstobjektivierung. Das Bewußtsein lernt als Selbstbewußtsein, im Begegnenden sich selbst zu finden durch Selbstentäußerung und gleichsam Herr in der Äußerlichkeit als dem eigenen Hause zu werden, indem der Gegensatz von Äußerlichkeit und Innerlichkeit zugleich sich aufhebt. Heidegger interessiert jedoch nicht die weitere dialektische Entwicklung über das Selbstbewußtsein hinaus, sondern nur die transzendentale Produktivität des Daseins in der Bildung seines Apriori und im Bleiben der ontologischen Differenz. Hegels Lehre vom Selbstbewußtsein wird für Heidegger zur Bestätigung, weil sie ihm als Aufweis der inneren Möglichkeit des transzendental fungierenden Selbst gilt. Die Seinsweise, die Kant übergangen hatte, wird von Hegel als dialektische Selbstaufhebung und Absolvenz ins Auge gefaßt. Aber die Eigenrnacht des zur Vernunft, zum Geist und schließlich zum absoluten Wissen aufsteigenden Selbstbewußtseins widerstrebt der Sicht des Menschen als endlichem und angewiesenem, auf die Heidegger nicht verzichten kann. Mit der Verwandtschaft von freier Transzendenz und Dialektik zeigt sich Heidegger in der Dialektik Hegels ein Abweg. Er verläßt daher den Gedanken der transzendentalen Produktivität des Subjekts. Der Übergang Heideggers von »Sein und Zeit« zu der Phase, von der aus ihm dann Hegel als Kritiker Kants wichtig wurde, läßt sich verstehen als der Versuch, den eigenen Ansatz aus »Sein und Zeit« konsistent zu machen. Die Abkehr von dieser Phase ist dann die Abwendung von der aneignenden Eigenrnacht des Menschen, der nach Hegel »seine unorganische Natur in sich zehrt«14 und damit schließlich zum absoluten Wissen aufsteigt. Nur hat die Konsistentmachung des ambivalenten Ansatzes von »Sein und Zeit« zum einheitlich transzendentalen jetzt die Rückkehr zu »Sein und Zeit« verbaut, es läßt sich nicht zurückkehren zum gleichursprünglichen Nebeneinander von überkommender Befindlichkeit und Verstehen. So schlägt die Ausgestaltung transzendental produktiver Subjektivität dann in der sogenannten Kehre ganzheitlich um in das übersubjektiv entbergende Seinsgeschehen.

14 Georg Wilhelm Friedrich Regel: Phänomenologie des Geistes, S. 153. 2 FS Görland

Philosophie im Wandel der Grundstimmungen Zu Martin Heideggers Denkweg von 1927 bis 1933

Von Michael Großheim

Die Zeiten, wo man versucht war, Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus im Jahr 1933 unvennittelt durch Rückbezüge auf das Hauptwerk »Sein und Zeit« von 1927 zu beleuchten, sind vorbei. Neben den kleinen Aufsätzen und der Kant-Abhandlung ist mittlerweile auch eine ganze Reihe von Vorlesungen zugänglich, die das Unternehmen aussichtsreich erscheinen lassen, die Entwicklung zwischen 1927 und 1933 als solche zu rekonstruieren und damit die Versuchung zu einer schroffen ex-eventu-Interpretation von »Sein und Zeit« aufzuheben. In den genannten Zeitraum fällt auch das berühmte Ereignis von Heideggers »Kehre«, dessen Interpretation durch die schlechte Quellenlage bisher ebenfalls behindert war. Unter eingehender Berücksichtigung der schon veröffentlichten Vorlesungen Heideggers hat Ingtraud Görland in ihrer Untersuchung »Transzendenz und Selbst« auf die besondere Bedeutung dieser noch nicht genug beachteten »mittleren Phase« im Denken Heideggers hingewiesen. 1 Wenn man das Jahr 1933 an das Ende des Untersuchungszeitraums stellt, ist damit deutlich, daß es um das politische Engagement des Philosophen Heidegger geht, das erklärt werden soll. Historiker haben dazu eine Menge an Detailwissen zur Verfügung gestellt, und auch an Interpreten dieser Fakten mangelt es keineswegs. Im Folgenden soll aber nicht der Rahmen einer üblichen politischen Deutung betreten, sondern ein eher unauffälliger Faktor beleuchtet werden, der auf den ersten Blick für das Verständnis einer so politischen Handlung nichts herzugeben scheint das Atmosphärische, in Heideggers Sprache die »Stimmungen«. Damit wird nicht der Anspruch erhoben, daß man etwa im Bereich der Stimmungen dasjenige Motiv ausfindig machen könne, das letzt1 Ingtraud Görland: Transzendenz und Selbst. Eine Phase in Heideggers Denken, Frankfurt

a. M. 1981.

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Michael Großheim

lich und allein für Heideggers Entscheidung verantwortlich zu machen ist. Die folgende Deutung versteht sich wohlgemerkt nur als eine Ergänzung zu verschiedenen bereits bekannten Deutungsmustern2; insgesamt hat man von einem multifaktoriellen Erklärungshoriwnt auszugehen. Ebensowenig ist eine vollständige Rekonstruktion der Entwicklung beabsichtigt, denn es geht lediglich um einen bisher vernachlässigten Aspekt Die Eignung des Faktors »Stimmung« für eine Deutung des Heideggerschen Denkwegs ergibt sich einerseits durch die breite Anwesenheit des Themas im vorliegenden Quellenmaterial und andererseits durch das besondere Gewicht, das ihm an den betreffenden Stellen zukommt. Kaum ein Motiv neben dem Seinsbegriff kann eine solche Kontinuität im Werk Heideggers vorweisen. In »Sein und Zeit« triu die Stimmung noch unter einem besonderen Terminus entgegen: »Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.«3 Hier haben wir es mit einem »fundamentalen Existenzial« zu tun; schon diese Formulierung unterstreicht die Bedeutung der Stimmungen. Unter ihnen ist wiederum eine ausgezeichnet, die auch im Konzept des gesamten Buchs eine zentrale Rolle einnimmt, die Angst Da die Angst für die »existenziale Analytik eine grundsätzliche methodische Funktion zu übernehmen« hat,4 ist auch von einer »Grundbefindlichkeit« die Rede. 5 Die Angst ist die erste innerhalb einer ganzen Reihe von Grundstimmungen. Vor dem Hintergrund der bisher veröffentlichten Schriften läßt sich festhalten: Mindestens von 1925 bis 1929 sieht Heidegger in der Angst die ausgezeichnete »Grundstimmung«, während dieser Titel 1929/30 an die »Langeweile« übergeht. In der Rektoratsrede von 1933 heißt es dann: »Der Kampf allein hält den Gegensatz offen und pflanzt in die ganze Körperschaft von Lehrern und Schülern jene Grundstimmung, aus der heraus die sich begrenzende Selbstbehauptung die entschlossene Selbstbesinnung zur echten Selbstverwaltung ermächtigt.« 1934/35 tritt die Grundstimmung »Trauer« (und zwar 2 Im vorliegenden Rahmen kann auf andere Untersuchungen kaum eingegangen werden. Dennoch sei ausdrücklich darauf verwiesen. daß der hier vertretene Ansatz mit den Thesen der umfassendsten Abhandlung zum Thema aus neuerer Zeit verträglich und in manchem verwandt ist: Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976, Frankfurt a. M. 1990. 3 Martin HeiLUgger: Sein und Zeit. Erste Hälfte, Halle a. d. S. 21929, S. 134.

4 Martin HeiLUgger: Sein und Zeit, S. 190. 5 Vgl. Martin HeiLUgger: Sein und Zeit, S. 184, 188, 190, 342; ders.: ProlegOOlena zur Ge-

schichte des Zeitbegriffs (Marburger Vorlesung SOOtmersemester 1925), hrsg. v. Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1979 (Gesamtausgabe Bd. 20), S. 404; ders.: Kant und das Problem der Metaphysik, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. s1991, S. 237 f.

Philosophie im Wandel der Grundstimmungen

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als »heilige«) die Nachfolge an, 1937/38 ist es dann das »Er-staunen«, und 1941/42 scheinen Freude und Trauer die Rolle der Grundstimmung eingenommen zu haben, während die zwischen 1936 und 1938 entstandenen »Beiträge« die »Grundstimmung der erschreckend-scheuen Verhaltenheit« präsentieren. 6 Dieser auffällige Wandel der Grundstimmungen soll im Folgenden auf seine mögliche Aussagekraft für Heideggers öffentliches »Verfallen« von 1933 untersucht werden, ausgehend von seinen eigenen Worten: »Philosophie geschiehtje in einer Grundstimmung.«7 Zuvor muß jedoch in knapper Form geklärt werden, was Heidegger überhaupt unter Stimmungen versteht und in welcher Hinsicht sein Konzept von konventionellen Vorstellungen abweicht Der Durchschnittsmensch der Gegenwart hat eine robuste, über Zweifel erhabene Vorstellung von dem, was Stimmungen sind. Er würde nicht vermuten, daß seine ganz selbstverständliche Vorstellung das Ergebnis philosophischer Vorleistungen ist, noch dazu lange zurückliegender. Wenn man eine bequeme Zusammenfassung dieses Verständnisses sucht, kann man sich einer Zusammenstellung bedienen, die Heidegger als »vulgäre Aufassung« des Gefühls anbietet Stimmungen oder Gefühle sind demnach etwas Psychologisches, besser Psychisches, sie sind »seelische Zustände«, die wir an uns oder an anderen »feststellen« können. Es läßt sich registrieren, wie lange sie dauern, »durch welche Ursachen sie hervorgerufen und verhindert werden«. Kurz, Gefühle sind »Vorkommnisse im Subjekt«. Wenn man die Psychologie zu Rate zieht, dann fällt auf, daß nach einer alten Einteilung (Denken, Wollen, Fühlen) das Fühlen an dritter, nachgeordneter Stelle aufgeführt wird: »Gefühle sind die dritte Klasse der Erlebnisse«. Sie sind das Unbeständigste, das 'Subjektive', »am wenigsten Greifbare«8, gelten gleichsam nur als »Verschönerung unseres Denkens und Wollens oder deren Verfinste6 Vgl. dazu von Marlin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - EndlichkeitEinsamkeit (Freiburger Vorlesung Wintersernester 1929/30), hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrrnann, Frankfurt a. M. 1983, s. 87 ff.; Die SelbstbehauptWlg der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5. 1933, Breslau o. J. [19331, s. 21; Hölderlins Hymnen »Gennanien« W1d »Der Rhein« (Freiburger VorlesWlg Wintersemester 1934/35), hrsg. v. Susanne Ziegler, Frankfurt a. M. 1980 (Gesamtausgabe Bd. 39), S. 78 ff.; Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (Freiburger VorlesWlg Wintersemester 1937/38), hrsg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1984 (Gesamtausgabe, Bd. 45), S. 162 ff.; Hölderlins Hymne »Andenken« (Freiburger VorlesWlg Wintersemester 1941/41), hrsg. v. Curt Ochwadt, Frankfurt a. M. 1982 (Gesamtausgabe, Bd. 52), S. 72; Beiträge zur Philosophie (Vorn Ereignis), hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausgabe Bd. 65), S. 14-22,256,395 f. Zur Rolle der GrundstimmWlgen in der Verständigung zwischen Völkern vgl. ferner Marlin Heidegger: Wege zur Aussprache, in: Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, hrsg. v. Hennann Heidegger, Frankfurt a. M. 1983, S. 17 [Text von 19371. 7 Marlin Heidegger: Grundbegriffe, S. 10. 8 Marlin Heidegger: Hölderlins Hymnen, S. 142.

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rung und Hemmung«.9 Vor allem gegen die Psychologie und ihre unkritische Übernahme von Mustern aus der philosophischen Tradition richtet sich die Kritik. Die »bisherige, d. h. biologische und psychologische Auffassung des Menschen«, eine »seit langem eingewurzelte Gewöhnung des Erfahrens und Sagens«, mißdeutet die Stimmungen als ein »Vermögen des Menschen«, als »seelische Erlebnisse«, die an sich vorhandene Subjekte »'bekommen'«.10 Die Erfahrung des Wesens der Stimmung bleibt überhaupt solange unmöglich, wie man psychologisch blickt. 11 Daher hat es auch keinen Sinn, die »umlaufenden 'psychologischen' Erklärungen der Affekte, Leidenschaften und Gefühle zu verbessern«, weil es sich gar nicht um einen Gegenstand der Psychologie handelt 12 Gewarnt wird in diesem Zusammenhang auch vor Anleihen bei der Physiologie. Heidegger möchte die Befmdlichkeit (der ontologische Titel für die Stimmung) weit entfernt vom »Vorfmden eines seelischen Zustandes« wissen. 13 Es fällt generell auf, daß der Ausdruck »Seele« im Konzept von »Sein und Zeit« keine Rolle spielt; er steht, wenn er überhaupt gebraucht wird, gewöhnlich in distanzierenden Anführungszeichen. 14 Weil die Befmdlichkeit nichts mit dem Vorfinden eines seelischen Zustandes zu tun hat, kann sie auch nicht als eine Art »immanente Reflexion« gefaßt werden, die Erlebnisse des Bewußtseins präsentiert. Stattdessen hört man Worte, die eigenartig wirken: »Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von 'Außen' noch von 'Innen', sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf«.15 Die grundsätzliche Kritik an der Innenwelt-Außenwelt-Scheidung, insbesondere an den Vorstellungen Nicolai Hartmanns, ist ein Thema, auf das der Autor immer wieder zurückkommt. Die Stimmung ist für Heidegger nun ein Phänomen, das dieses metaphysische Dogma vollends obsolet macht. Er nutzt sie daher vornehmlich als

9 Martin Heidegger: Grundbegriffe. S. 96 f.; vgl. ders.: Sein und Zeit, S. 139. 10 Martin Heidegger: Grundfragen, S. 154, 161.

11 Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen, S. 143. 12 Marti" Heidegger: Nietzsche. Der Wille zur Macht als Kunst (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1936/37). hrsg. v. Bemd Heimbüchel, Frankfurt a. M. 1985 (Gesamtausgabe Bd. 43),

S.52. 13 Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 136. 14 Z B. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 59,405,427. Vgl. zur Fehldeutung der Stimmung als seelischem Erlebnis auch ders.: Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt a. M. 1943, S. 19 f. und ders.: Parmenides (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1942/43), hrsg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt a. M. 1982 (Gesamtausgabe Bd. 54), S. 157. 15 Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 136.

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eine Art Pionier für die Brücke zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, für die »primäre Entdeckung der Welt«.16 Der Ort der Stimmung ist nicht die Seele und nicht ein geheimnisvolles Inneres: »Stimmung ist nie ein bloßes Gestimmtsein in einem Innern für sich, sondern ... gerade die Grundart, wie wir außerhalb unserer selbst sind, und das sind wir immer und wesentlich«P Das klingt natürlich paradox und löst sich auch noch nicht endgültig vom Schema der Innen-Außen-Beziehung. Dennoch rüttelt Heidegger ständig an den Gitterstäben dieses Gefängnisses: »Die Stimmung ist sowenig darinnen in irgendeiner Seele des anderen und sowenig auch daneben in der unsrigen, daß wir viel eher sagen müssen und sagen: Diese Stimmung legt sich nun über alles, sie ist gar nicht 'darinnen' in einer Innerlichkeit und erscheint dann nur im Blick des Auges; aber deshalb ist sie auch ebensowenig draußen«.18 Heideggers Kritik an den Auslegungen der Philosophietradition richtet sich vor allem gegen die »Introjektion der Gefühle« (Hermann Schmitz): »Weil wir seit langem mißleitet sind und den Menschen im vorhinein nehmen als ein Leibding, das mit einer Seele und deren Vorgängen ausgestattet ist, und weil wir zu dem hinzu diese Seele noch zuerst als ein 'ich' nehmen, verlegen wir 'die Stimmungen' in dieses 'lch-Subjekt'«.19 Das führt dann zur Anschauung, daß die Stimmungen auch »dort entstanden, d.h. wieder durch andere leiblich-seelische Zustände verursacht« sein müssen. Nachdem Heidegger ausführlich erklärt hat, was die Gefühle nicht sind, wartet man gespannt auf die positive Bestimmung. Wieder begegnet man dabei dem Klammer-Modell, das zur Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas dienen soll: »Nicht sind die Stimmungen in das Subjekt oder in die Objekte gelegt, sondern wir sind, in eines mit dem Seienden, in Stimmungen ver-setzt. Die Stimmungen sind das durchgreifend umfangende Mächtige, die in eins über uns und die Dinge kommen«.20 Die Stimmung kann sowohl Mensch und Ding als auch Menschen untereinander verbinden. Im letztem Fall ist sie dann das »Wie unseres Miteinander-Daseins«.21 Eine restlos zufrieden stellende Klärung des Phänomens 16 Marlin HeUügger: Sein und Zeit. S. 138.

17 MarlinHeUügger: Nietzsehe, S. 117. 18 Marlin H eUügger: Grundbegriffe, S. 100. 19 Marli" Heidegger: Hölderlins Hymnen, S. 89. Vgl. auch an dieser Stelle die knappe Fassung: »'Stimmungen' sind ins Subjekt verlegt, ... « In Verbindung mit einer Zurückweisung physiologischer Ansprüche: »Es wäre gleich irrig, die Stimmungen nur als 'subjektive Erscheinungen' ins Subjekt m legen - als dort, in dessen Innerem aufsteigende Erscheinungen, wie Luftblasen im Wasserglas - genauso, wie sie erklären m wollen aus den Einwirkungen der Dinge auf unsere Nerven« (S. 89 f.). 20 Marlin HeUügger: Hölderlins Hymnen, S. 89.

21 Marlin Heidegger: Grundbegriffe, S. 100.

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Stimmungen erhält man von Heidegger nicht, aber das schmälert die verdienstvolle Kritik an den konventionellen Auffassungen nicht. Vor allem aber ist die Relevanz dieses Topos in seinem Denken unübersehbar. 22 Damit ist der Weg frei für eine nähere Betrachtung jener ersten und wohl bekanntesten Grundstimmung, der Angst Sie tritt bereits in der Vorlesung des Sommersemesters 1925 auf, die wichtigsten Passagen finden sich jedoch in »Sein und Zeit« und in der Freiburger Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?«. In der Angst ist es nicht ein bestimmtes innerweltlich Seiendes, das sich bedrohlich nähert, sondern das innerweltlich Seiende überhaupt ist nicht mehr relevant, die Bewandtnisganzheit ist ohne Belang, sie sinkt in sich zusammen, und die Welt hat plötzlich den Charakter völliger Unbedeutsamkeit. »Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit ... Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns«.23 »Die Welt' vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer.«24 Wenn nicht einmal meine ehemals nahen Mitmenschen mir noch etwas bedeuten, läßt sich ein Zustand ausmalen, der im Sinne des Autors das Dasein radikal vereinzelt. Dieser Ausdruck darf aber nicht nur in seinem sozialen Sinn aufgefaßt werden, denn der Einzelne schwebt gleichsam über der Welt, die ihm im Ganzen gleichgültig geworden ist. In dieser vollständigen Herauslösung aus allen Lebensbezügen kann ich nicht mehr sagen: »Mea res agitur«25, weil es keine Sache mehr gibt, die noch die meine wäre. Das führt zu jener »Unheimlichkeit«, die den Zustand der Angst auszeichnet und die auch den Ausdruck rechtfertigt. Es tritt etwas ein, das man im Unterschied von populäreren Vorstellungen als »Ichangst« bezeichnen kann. 26 Mit einer solchen Beschränkung auf den bloßen phänomenalen Tatbestand kommt man hier weiter als mit gewagten Spekulationen, die sich z.B. an den Begriff des »Nichts« anschließen.27 22 Für den Untersuchungs zeitraum im besonderen kann noch verwiesen werden auf Marlin Heidi!gger: Vom Wesen des Grundes, Frankfurt a. M. 1983, S. 12,36.45 f., und ders.: Kant. S. 227,

sowie ders.: Wesen der Wahrheit, S. 19 f. Dieser Vortrag ist 1930 entstanden und bis zur Veröffentlichung 1943 teilweise umgearbeitet worden. Aus späterer Zeit vgl. Marlin Heidegger: Vom Wesen der WahrheiL Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1931/32), hrsg. v. Hermann Mörchen, Frankfurt a. M. 1988 (Gesamtausgabe Bd. 34), S. 221, 237 f., und ders.: Hölderlins Hymne »Andenken« (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1941/41), hrsg. v. Curt Ochwadt, Frankfurt a. M. 1982 (Gesamtausgabe Bd. 52), S. 71 f.

23 Marlin Heidi!gger: Was ist Metaphysik?, Bonn 21930, S. 16 f.

24 Marlin Heidi!gger: Sein und Zeit, S. 187.

25 Marlin Heidegger: Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Iuli 1924, hrsg. v. Hartmut Tietjen, Tübingen 1989, S. 13. 26 Vgl. HermaM SchmilZ: Die Gegenwart (= System der Philosophie, Bd. I), Bonn 1964, S. 235 f.; ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 28.

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Der Zustand der Angst verweist auf weitere Zusammenhänge, die sich zunächst unabhängig vom Stimmungshaften darstellen. Was Heidegger unter diesem Titel beschreibt, ist nämlich Ausfluß eines spezifischen Entfremdungserlebens: »Wir schweben in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt Darin liegt, daß wir selbst diese seienden Menschen - inmitten des Seienden uns mitentgleiten.«22. Dieses Entfremdungserleben hat eine besondere philosophische Herkunft, die später betrachtet werden soll. Die interessante Frage, die sich zunächst stellt, heißt: Was wird eigentlich aus der Angst, die von 1925 bis 1929 nachweislich von Heidegger als Grundstimmung betrachtet wird? Von ihr ist danach - jedenfalls soweit die bisher veröffentlichten Quellen eine solche Aussage zulassen - nicht mehr die Rede. Das ist ein aufHUliger Tatbestand. Er wird etwas verdeckt durch den Umstand, daß Heidegger neue Grundstimmungen benennt Die wichtige Schaltstelle, die hier den Übergang regelt, ist die Antrittsvorlesung von 1929 mit dem Titel »Was ist Metaphysik?«. In diesem Text tritt zwar die Angst noch in zentraler Rolle auf, aber im Hintergrund wird bereits der Nachfolgekandidat aufgebaut, der dann die Angst als Grundstimmung für eine gewisse Frist ablöst: die Langeweile. Was Heidegger in der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 in einem Abschnitt von über 150 Seiten auseinandersetzt, ist hier auf kleinem Raum zusammengefaßt. Es geht um die »eigentliche Langeweile. Sie ist noch fern, wenn uns lediglich dieses Buch oder jenes Schauspiel jene Beschäftigung oder dieser Müßiggang langweilt Sie bricht auf, wenn 'es einem langweilig ist'. Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hinund herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen.«29 Das letzte ist eine Leistung, die bisher nur von der Angst bekannt war,30 und auch ihr wird ja zugeschrieben, daß sie alles in »Gleichgültigkeit« tauche. Angst und Langeweile stehen also in einem engen Zusammenhang, sie können sogar relativ unmerklich ineinander übergehen. Die Ablösung ist vollzogen in der bereits genannten Vorlesung. 3 ! In ihr findet man auch

27 Dies ist besonders in Heideggers Metaphysik·Vortrag der Fall, daneben auch im Kant·Buch (vgl. dort S. 238).

22. Martin Heitkgger: Metaphysik, S.

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29 Martin Heitkgger: Metaphysik, S. 15. 30 Vgl. auch später (Martin Heitkgger: Hölderlins Hymnen, S. 82) über die Grundstimmung: ,,sie eröffnet das Seiende im Ganzen anders und in einer wesentlichen Weise.«

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erste Ansätze zur Therapie, in Fonn der Rufe nach der »Not« und dem »Angriff« in der Philosophie32, die die allgemeine Gleichgültigkeit in verkrampft wirkender Manier durchbrechen sollen. Wo liegt nun die Möglichkeit des Übergangs von der Angst (im Sinne Heideggers) zur Langeweile? Es ist das Problem der Selbstentfremdung, das beide Grundstimmungen verknüpft. Wenn die Festigkeit meines Soseins und meines Bezuges zur Welt verlorengeht, ist damit einerseits ein neuer Spielraum meines Mich-Entwerfens eröffnet. Die Frühromantiker Novalis und Friedrich Schlegel sind noch vom Rausch dieser Entdeckung beseelt und verkünden selbstbewußt, daß der Mensch nur das ist, wozu er sich bestimmt. 33 Doch dieser Zustand ist nicht von Dauer, neben der Chance lauert nämlich die Gefahr. Hennann Schmitz erläutert die negative Seite des Schwindels der Möglichkeit: »Diese Beweglichkeit des Abstraktions- (besser: Emanzipations-) und Setzungs-Vermögens wird aber auch zur Quelle der Langeweile und Frustration (ennui), weil ein Mensch, der sich so über alles zu stellen vennag, nicht mehr ganz in etwas aufgehen und mit Haut und Haar dabei sein kann, ... Mit Fichte entsteht daher der romantische Weltschmerz und ennui des Entfremdungserlebens, und mit dem ennui zusammen die Angst, die Kierkegaard dem Höhenschwindel vergleicht: die Ichangst ... «34 Damit ist eine Perspektive gewonnen, in der zunächst einmal der enge Zusammenhang der beiden ersten von Heidegger eingeführten Grundstimmungen verständlicher wird. Sowohl die Angst als auch die Langeweile sind in dieser Perspektive Ausflüsse der modernen Selbstentfremdungsproblematik, der neuentdeckten Fähigkeit, sich über vielerlei Standpunkte zu erheben, verbunden mit der Unfähigkeit, fortan naiv und undistanziert in einem stabilen Sosein zu hausen. Daß es um solche Entfremdung geht, 31 In »Sein und Zeit« stößt man auf eine An Vorläufer der späteren Langeweile in jener )>Oft anhaltenden. ebenmäßigen und fahlen Ungestimmtheit«, in der »das Dasein ihm selbst überdrüssig wird« (Marlin Heidegger: Sein und Zeit, S. 134). Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. Hermann Schmitz. Ein Pendant zur genannten Stelle fmdet sich übrigens bei Marlin Heidegger: Prolegomena, S. 352, wo die mögliche Indifferenz des Zumute seins als »Gleichgültigkeit. Öde. Leere und Schalheit des Daseins« beschrieben wird. Auch später tritt die Langeweile noch gelegentlich auf, aber nicht mehr in zentraler Rolle, vgl. Marlin Heidegger: Beiträge, S. 121, 157, und ders.: Hölderlins Hymnen, S. 142. 32 Vgl. Winfried Franzen: Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung ,.Die Grundbegriffe der Metaphysik« von 1929/30, in: Armemarie Gethmann-Siefen / Otto Pöggeler (Hrsg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfun a. M. 1988, S. 78-92. 33 Vgl. Michael Großheim: Von Georg Simme1 zu Manin Heidegger. Philosophie zwischen leben und Existenz, BonnlBerlin 1991, S. 66 f., 86 ff. 34 Hermann SchmilZ: Gegenstand, S. 28. Vgl. zum ennui als Stimmung auch Hermann SchmilZ: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III!2), Bonn 1969, S. 232-244.

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führt Heidegger in der Vorlesung des Wintersemesters 1929/39 bei seiner Interpretation der tiefen Langeweile deutlich vor: »Denn mit diesem 'es ist einem langweilig' sind wir nicht bloß der alltäglichen Personalität enthoben, ihr irgendwie fern und fremd, sondern in eins damit hinausgehoben auch über die jeweilige bestimmte Situation und das betreffende Seiende, das uns da umgibt. Die ganze Situation und wir selbst als dieses individuelle Subjekt sind dabei gleichgültig, ja diese Langeweile läßt es gerade nicht erst dazu kommen, daß dergleichen uns etwas Besonderes gilt, sie macht vielmehr, daß alles gleich viel und gleich wenig gilt.«35 Heideggers tiefe Langeweile ist ennui, geboren aus der Erhebung über die alltägliche Persönlichkeit und die jeweilige Situation. Seine eigenen Worte sind hier die besten Zeugen dafür, daß sein Denken zu einem wesentlichen Teil aus der fichtisch-romantischen Tradition der Selbstentfremdung inspiriert ist. 36 In dieser Tradition stehen eine ganze Reihe bedeutender Schriftsteller, so daß es möglich ist, Heideggers Philosophie auch in einen größeren geistesgeschichtlichen Kontext einzubetten. Schmitz nennt u.a. Oscar Wilde, Byron, Tieck, Puschkin und Lermontov. 37 In der Tat ist Oscar Wildes Figur Dorian Gray ein klassisches Opfer von romantischer Ironie und ennui. In ständiger Sehnsucht nach Sensationen, die sein leeres Leben ausfüllen können, führt die rasch eintretende Befriedigung der intellektuellen Neugier stets von neuem zu einem Zustand der Gleichgültigkeit Die Unaufrichtigkeit, später bei Sartre in verwandelter Form als »mauvaise foi« wiederkehrend, ist für Dorian Gray eine Methode zur Vervielfaltigung seiner Persönlichkeit Der Mensch gilt ihm als ein Wesen, das Myriaden Leben lebt, ähnlich wie Novalis und Schlegel den Menschen auffordern, sich zu einem ganzen System von Personen zu machen. 38 Puschkins Held Eugen Onegin beherrscht die Kunst zu heucheln, Emotionen vorzuspielen, weil sie ihm nur noch beliebig zu wechselnde Rollen sind. Auf der anderen Seite steht bei Onegin die Kälte dem Leben gegenüber, die Blasiertheit und Gleichgültigkeit und, nach nur kurzfristig wirksamer Ablen-

35 Martin Heidegger: Grundbegriffe, S. 207. 36 Verrninler ist in jedem Fall Kierkegaard, keineswegs kaM man davon sprechen, daß Heidegger von Fichte, Novalis oder Schlegel direkt beeinflußt war, die erst in späteren Vorlesungen und don auch nur am Rande vorkommen. 37 Hermann Schmitz: Gegenstand, S. 28. 38 Vgl. Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, übers. v. J. Gaulke, Frankfun a. M./Berlin 1988, S. 121 ff., 131; HermaM Schmitz: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel, BOM 1992, S. 217 f.

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kung, die wieder eintretende Langeweile. Nichts rührt ihn an, von nichts nimmt er Notiz, kun: Eugen Onegin leidet unter der Grundstimmung des ennui.39 Vergleichbares fmdet man auch bei Thomas Mann, und zwar in der Figur des Tonio Kröger. Gewöhnlich interpretiert man diese Novelle unter einem eher soziologisch zu nennendem Aspekt, der Spannung zwischen der Existenz des Bürgers und des Künstlers, doch finden sich in der Gestalt des Helden auch die typischen Merkmale moderner Selbstentfremdung: das Klagen über den Abgrund von Ironie, der Gegensatz zu den Leuten mit dem solid gegründeten Selbstgefühl, der Erkenntnisekel, »das Hellsehen noch durch den Tränenschleier des Gefühls hindurch«, der Zwang zum distanzierenden Beobachten selbst in Momenten äußerster Rührung, die »Blasiertheit, Gleichgültigkeit und ironische Müdigkeit aller Wahrheit gegenüber«, die Sehnsucht danach, frei vom Fluch der Erkenntnis in seliger Gewöhnlichkeit zu leben. Tonio Kröger bekennt: »Alle Erkenntnis ist alt und langweilig.« Er fühlt sich »zerfressen von Ironie und Geist, verödet und gelähmt von Erkenntnis«.40 Das letzte Beispiel aus dem Rahmen der Literatur leitet wieder zu Heidegger zurück, und zwar über den Bereich des Politischen auch zum zeitlichen Ziel der Untersuchung, dem Jahr 1933. Gottfried Benn hat anders als die Frühromantiker weniger das Kraftgefühl hervorgehoben, das im entsicherten Selbstgefühl liegen kann, sondern mehr die Leidensseite betont. 41 So entstehen Gedichte wie »Verlorenes Ich« und Zeilen wie »Ein armer Hirnhund, ... Ich bin der Stirn so satt«, gipfelnd in einer Sehnsucht nach Bewußtseinslosigkeit, die die verwandte Tendenz Tonio Krögers ins Groteske steigert: »0 daß wir unsere Urwahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor«.42 Die fundamentale Verunsicherung im Hinblick auf die Bestandteile des eigenen Soseins hat Benn vor allem in seinen Novellen dargestellt, etwa in dem Bemühen seiner Figur Diesterweg, sich mühsam und künstlich eine Eigenschaft zuzulegen, die die Leere der Persönlichkeit überdecken könnte. 43 Daneben bemüht sich der »Intellektualist« Benn, aus der konstatierten Not auch eine Tugend zu machen, indem er ähnlich wie Novalis die systematische VervielfaItigung der Persönlichkeit propagiert: »Die Einheit der Persönlichkeit ist eine 39 Vgl. Ale:mNkr Puschlcin: Eugen Onegin. Ein Roman in Versen, übers. v. K. Borowsky, Stuttgart 1982, S. 9 f., 22, 29, 55, 78 ff., 86,100, 118 etc. 40 Vgl. Thomas Mann: Tonio Kröger. Mario und der Zauberer, Frankfurt a. M. 1977, S. 30, 31, 32,34,61,64. 41 Leiden heißt für Benn »am Bewußtsein leiden« (Goltfrüd Benn: Gesammelte Werke, hrsg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 3, Essays und Aufsätze, München 1975, S. 903). 42 GOltjrüd Benn: Werke, Bd. 1: Gedichte, S. 215,31,25. 43 GOltjrüd Benn: Werke, Bd. 5: Prosa, S. 1237 f.

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fragwürdige Sache.« »Doppelleben in dem von mir theoretisch behaupteten und praktisch durchgeführten Sinne ist ein bewußtes Aufspalten der Persönlichkeit, ein systematisches, tendenziöses.«44 Benn, der fordert, eine Biographie des Ich zu schreiben, diagnostiziert für das modeme Ich eine »Erstarkung des Gefühls der Selbständigkeit des individuellen Subjekts«; am Ende ist dieses Ich »Echo und Rauchfang seiner selbst, Bewußtsein bis in alle Falten«.45 Ein derart auf die Spitze gestelltes Ich erträgt seine eigene Nichtigkeit und die Nichtigkeit alles Objektiven nicht unbegrenzt und entwickelt »den Durst nach Festem und Substanziellem«46, der durch die Einordnung in große übergeordnete Zusammenhänge gestillt werden kann. Vorbild sind die zum Katholizismus konvertierenden Frühromantiker: »Verzweiflung am Denken, an Wahrheit, an und für sich seiender Objektivität, und Unfahigkeit, eine Festigkeit, Selbsttätigkeit sich zu geben, hat ein edles Gemüt dahin gebracht, sich auf seine Empfindungen zu verlassen und in der Religion etwas Festes zu finden; ... Dieser Trieb zu etwas Festem hat andere in positive Religiösität, in Katholizismus, Aberglauben, Wunder geworfen, um etwas Festes zu haben, weil der inneren Subjektivität alles schwankt.«47 Kierkegaard hat, ausgehend von der Angst im oben beschriebenen Sinne, eine ähnliche Wendung skizziert.48 Schon mehr in die Nähe des Politischen führt eine andere interessante Formulierung desselben Autors, die wiederum das Problem aufgreift, wie das entfremdete Subjekt zu neuer Substanz gelangen kann: »Damit nämlich das Denken - die Subjektivität - Fülle und Wahrheit gewinne, muß es sich nähren lassen, es muß in die Tiefe des substantiellen Lebens sich versenken, sich darin bergen lassen gleich wie die Gemeinde in Christus geborgen ist; es muß - halb ängstlich, halb sympathetisch, halb zurückschaudernd, halb sich hingebend - die Wogen des substantiellen Lebens über sich zusammenschlagen lassen, gleich wie in der Begeisterung Augenblick das Subjekt beinahe sich selbst entrückt wird, in das es Begeisternde hinsinkt und einsinkt und dennoch einen sanften Schauder ver-

44 Gottfried Benn: Werke. Bd. 8: Autobiographische Schriften, S. 2002, 2004. 45 Gottfried Benn: Werke, Bd. 3, S. 580,581 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1986, S. 96. 47 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke, Bd. 20), Frankfurt 8. M. 1986, S. 418. 4& »Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigne Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten« (Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Vorworte, übers. v. E. Hirsch [= Gesammelte Werke, Abt. 11/121, Gütersloh 1983, S. 60 f.). Die Endlichkeit ist hier Ausdruck für das »Feste« Hegels.

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spürt, weil es um sein Leben geht.«49 Was hier recht abstrakt klingt, nimmt in der Geschichte jeweils ganz konkrete Gestalten an, beispielsweise für Gottfried Benn im Jahr 1933 als neuer Staat des Nationalsozialismus, der gegen die Intellektuellen verteidigt werden muß, welche die »moralische Möglichkeit, das Ich hinzugeben an etwas Allgemeines, eine Gemeinschaft oder eine Idee« nicht kennen. 50 Für Benn ist es ein intellektueller Defekt, nicht im »großen Gefühl für Opferbereitschaft und Verlust des Ich an das Totale, den Staat« das anthropologisch Tiefere sehen zu können. 51 Das anthropologisch Tiefere ist das Bemühen um eine Kompensation der Selbstentfremdung, der Wunsch nach einer Befreiung vom ennui, die Sehnsucht nach einem Verfallen durch Aufgehen in der bergenden Gemeinschaft des Volkes. Hier spielen Atmosphären eine zentrale Rolle, wie in Kierkegaards Worten bereits angedeutet. Wenn man Heideggers Sprache der Jahre nach 1933 betrachtet, stößt man immer wieder auf Ausdrücke wie Aufbruch, Auftrag, Bestimmung, Erwachen, Erhebung, Sendung, die allesamt atmosphärisch getränkt sind. Die schale Gleichgültigkeit, die noch Ende der zwanziger Jahre das Bild prägte, ist jetzt abgelöst durch eine klare Richtungsvorstellung und ein enormes Selbstermächtigungsbewußtsein, alles projiziert auf das Medium des »geschichtlichen Volkes«. Von der Langeweile zum Aufbruch - so könnte man also die Jahre von 1929 bis 1933 für Heidegger überschreiben. Damit schließt sich der Kreis wieder. Was Hegel im Rückblick auf die Sehnsucht der in die Jahre gekommenen Frühromantiker nach einem festen »Gehäuse« (Jaspers) konstatiert hat, läßt sich heute in ähnlicher Weise für Heidegger sagen. Das Verwerfen der nur »verneinenden« Freiheit und das Berufen auf die drei notwendigen »Bindungen« in der Rektoratsrede (namentlich die Bindung an die Volksgemeinschaft) sind dafür besonders bezeichnend. 52 Man könnte den Gedanken an hand von Heideggers Ausführungen über das »geschichtliche Volk« und die »Bestimmung« der Deutschen in den Vorlesungen der folgenden Jahre weiter belegen, aber darauf muß hier verzichtet werden. Vor dem skizzierten Hintergrund läßt sich eine These formulieren, die in dieser knappen Form mißverständlich sein muß, die aber doch den Tatbestand im

49 Sören K ierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, übers. v. E. Hirsch (= Gesammelte Werke, Abt. 31), Gütersloh 1984, S. 279. 50 GOllfried Benn: Werke, Bd. 4: Reden und Vorträge, S. 1020. 51 Gottfried Benn: Werke, Bd. 4, S. 1004. 52 Vgl. Martin Heidegger: Selbstbehauptung, S. 15-17.

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Hinblick auf die Funktionalität pointiert zusammenfaßt Was der Katholizismus für die Frühromantiker war, ist der Nationalsozialismus für Heidegger.53 Die These muß Widerspruch provozieren, weil sie jeden politischen Gesichtspunkt außer Acht lassen scheint. Dieser Widerspruch ist in gewisser Weise gerechtfertigt. Eine allgemeine Betrachtung der Anfälligkeit von Intellektuellen für totalitäre Ideologien im 20. Jahrhundert kann aber zutage fördern, daß die Neigung zum »Verfallen« in Heideggers Sinn gerade in dieser Gruppe stark verbreitet und keineswegs auf den Nationalsozialismus eingeschränkt war. Auch die zweite große Ideologie dieses Jahrhunderts, der Kommunismus, hat Intellektuelle nicht unbedingt nur aufgrund einer inhaltlichen Überzeugtheit oder Empörung über bestehende ungerechte Zustände angezogen. Um diese Behauptung zu begründen, empfiehlt es sich, auf Selbstzeugnisse von (ehemaligen) Kommunisten zurückzugreifen und diese einmal anders zu lesen, als man sie etwa zur Zeit des Kalten Krieges zu lesen gewohnt war. Einer der berühmtesten Renegaten, Arthur Koestler, berichtet beispielsweise über seinen Weg zur Kommunistischen Partei: »Ich lief der Partei nach, ich kannte kein größeres Verlangen als mich ganz in ihre Arme zu werfen, und je atemloser ich darum kämpfte, sie zu besitzen und von ihr besessen zu werden, um so mehr entzog sie sich meinem Zugriff.« ))Was mich persönlich anging, so war ich nur allzu bereit, mich mit Haut und Haar vom Apparat verschlingen zu lassen.« Andre Gide erklärt: ))Der Triumph der Persönlichkeit liegt in dem Verzicht auf den Individualismus.« ))Ein Mensch, der kein anderes Ziel kennt als sich selbst, leidet unter einer entsetzlichen Leere.«54 Es liegt also neben allen politischen Faktoren auch eine besondere Subjektverfassung zugrunde, die schon im Vorfeld eine AnHUligkeit für totalitäre Ideologien unterschiedlichster Art fördert Selbstverständlich muß man sich vor dem Irrtum hüten, den beschriebenen Faktor isoliert zu betrachten und die eigentlich politischen Beweggrunde in ihrer Bedeutung herabzusetzen. Für den Fall Heidegger heißt das, neben vielem, was in der Debatte der letzten Jahre zur Sprache gekommen ist, auch die schon in ))Sein und Zeit« vorhandene, dann aber nach 1929 beträchtlich anwachsende Neigung zu einem ))Jargon der Gewaltsamkeit« zu berück-

53 Und zwar vermittelt durch das Ereignis der »Kehre« um 1930, die dem »Subjektivismus« bereits ein Ende setzt, vgl. dazu WinfrÜtd Franzen: Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte. Eine Studie über die Entwicklung der Philosophie Martin Heideggers, Meisenheim a. GI. 1975, S.

SOf.

54 Ein Gott der keiner war. Arthur Koestler, Andre Gide, Ignazio Silone, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr, Zürich 1950, S. 33, 38, 154 (eng!. Original: The god that failed).

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sichtigen. 55 So faßt Heidegger Ende der zwanziger Jahre den Begriff als einen »Angriff auf den Menschen« auf, der aus seiner ~~Alltäglichkeit« aufgejagt und in den Grund der Dinge zurückgejagt werden SOU.56 Seit dieser Zeit beschwört er die »Gefährlichkeit« des Philosophierens und fordert dazu auf, die ~~echt erfahrene und erfahrbare Not zu erhalten«.57 Daß Not und Gefährlichkeit sich auch ganz konkret und real ausweisen können, scheint Heidegger nicht bedacht zu haben.

55 Vgl. Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1993, § 2. 56 Martin H eidegger: Grundbegriffe, S. 31. 57 Martin Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (Freiburger Vorlesung Sommersernester 1930), hrsg. v. Hartmut Tietjen, Frankfurt a. M. 1982 (Gesamtausgabe Bd. 31), S. 143.

Entpflichtete Freiheit? Kritische Anmerkungen zu Sartre und seiner ,.Situationsethik«!

Von Edgar Weiß

Bei Zugrundelegung eines umfassenden Begriffsgebrauchs ist ethik- bzw. moralfreies Denken und Handeln unmöglich - explizit oder implizit, bewußt oder unbewußt wird im Hinblick auf das Sollen immer schon geurteilt: Leben an sich ist »schon ein Werturteil«, »Atmen heißt urteilen«2. Im Kontext einer engeren Begriffsverwendung, die die Termini Ethik und Moral mit einer ausformulierten Moraltheorie oder der Erstellung und Anwendung spezieller Sollsätze verbindet, ist der Verzicht auf Ethik und Moral hingegen durchaus denkbar. Und in diesem Sinne läßt sich von Sartre sagen, daß er eigentlich kein Ethiker war. Die Ethik, die er am Schluß seines ersten Hauptwerkes angekündigt und die ihn in den letzten Jahren vor seinem Tod beschäftigt hat,3 ist Projekt geblieben. Wie dessen Ausführung hätte aussehen können, kann allenfalls Gegenstand der Spekulation sein. 4 Die in verstreuten Äußerungen Sartres greifbaren - im weiteren Sinne - ethischen Vorschläge, die im folgenden thematisiert werden sollen, werben für ein Konzept der Freiheit ohne Verpflichtung, das m. E. zur Kritik herausfordert. Da Kritik bodenlos bleibt, wenn sie nicht ihre Fundamente plausibel zu machen weiß, räumliche Rücksichten dem vorliegenden Beitrag andererseits aber starke Beschränkung auferlegen, sei vorab lediglich notiert, daß die nachfol! Rolf Feclmer schulde ich Dank für Hinweise, die noch einmal zu Eingriffen in die Ursprungsfassung des Textes geführt haben.

2 Albert CQ11U4S: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 11; vgl. auch Jean-Paw SarIre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1952, S. 699. 3 Jean-Paw Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 786; Martin Meyer: Jean-Paul Sartre (19051980), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, 2. Bd.: Von Immanuel Kant bis JeanPaul Sartre, München 1981, S. 431-451, S. 436. 4 Vgl. Mark Hunyadi: Sartres Entwürfe zu einer unmöglichen Moral, in: Traugott König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongreß, Reinbek 1988, S. 84-92; Gerhard Seel: Wie hätte Sartres Moralphilosophie ausgesehen?, in: Traugou König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongreß, Reinbek 1988, S. 276-293. 3 PS Görland

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gende Sartre-Kritik implizit einer transzendentalpragmatischen Argumentation folgt, ohne daß deren BegrüDdungsmodus und Konsequenzen als solche an dieser Stelle ausführlich aufgewiesen werden können. 5 Mithin soll nicht bestritten werden, daß Sartre für sich selbst Entscheidungen getroffen und ein vielfältiges Engagement verkörpert hat, das seinen Ambitionen nach ohne Frage auch vor dem Hintergrund transzendentalpragmatischer Ethik rechtfertigbar wäre. Dies gilt m. E. unter anderem für Sartres Antifaschismus und seine Teilnahme an der Resistance, für seine entlarvenden Analysen von Antisemitismus und Rassismus,6 für seine Gegnerschaft gegen den französischen Algerienkrieg und den Terror der nationalistisch-kolonialistischen Organisation de l'Armee Secrete (OAS), deren Opfer er fast geworden wäre,7 für seine - wenngleich zunächst zögerliche - Kritik am sowjetischen Repressionssystem und am damit verbundenen »Verfall der marxistischen W erte«8, für seinen Einsatz für den wegen seines Widerstandes im Indochinakrieg verurteilten Henri Martin und für das Wirken als Exekutivpräsident des anläßlich der amerikanischen Vietnam-Invasion initiierten Russell-Tribunals;9 es gilt zudem für Sartres prinzipielle Option für den Marxismus, den er als »die Philosophie unserer Epoche« begriffen hat, die zwar zum »Stillstand« gebracht worden, angesichts des Fortbestehens ihrer gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen aber keineswegs überlebt sei und deren Dogmatisierung durch die Integration des Existentialismus, der ihre anthropologischen DefIZite und ihre erstarrte Dialetik korrigieren könne, überwunden werden müsse. IO Neben diesem moralisch geleiteten Engagement entwickelte Sartre im Hinblick auf die praktische Philosophie eine Position, die als ~~Situationsethik« dis5 Vgl. dazu vor allem: Karl-Olto Ape/: Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973, 2 Bde., besonders Bd. II; ders.: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988. 6 Vgl. Jean-PauJ SarIre: Betrachtungen zur ludenfrage, in: ders., Drei Essays, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983, S. 108-190; ders.: Die ehrbare Dirne, in: ders., Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die ehrbare Dime, Reinbek 1965, S. 99-126. 7 1962, nachdem er ein Martifest für das Recht auf Dienstverweigerung im Algerien-Krieg unterzeichnet halle, explodierte in seiner Wohnung eine Plastikbombe der OAS, die Sartre, wäre er anwesend gewesen, gewiß getötet hälle;. vgl. Waller Bieme/: Iean-Paul Sartre in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1964, S. 154. 8 Jean-PauJ SarIre: Krieg im Frieden. I. Artikel, Aufsätze, Pamphlete 1948-1954, Reinbek 1982, S. 27. 9 Jean-PauJ SarIre: Wider das Unrecht. Die Affäre Henri Martin, Reinbek 1983; Bertrand Russeil! Jean-PauJ SarIre: Das Vietnam-Tribunal oder Amerika vor Gericht, Reinbek 1968. 10 Jean-PauJ SarIre: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek 1964, S. 27 f., 21 f; ders.: Kritik der dialektischen Vernunft, I. Bd.: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek 1967, S. 15 ff.; vgl. in diesem Kontext auch die Diskussion: Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel, Frankfurt a. M. 1966.

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kutiert wird. und seine »existentielle Psychoanalyse«, die die für Sartre auf niehts reduzierbare ursprüngliche Erwählung unseres Seins freilegen soll und die Freudsche Lehre vom Unbewußten verwirft, hat er eine »ethische Darstellung« genannt. l1 Eine Ethik im engeren Sinne jedoch, eine verbindliche Handlungsnormen benennende »moralische Moral«, bietet er nichl l2 Für eine solche Moral, die der Psychoanalyse zufolge über die konflikthafte Verinnerlichung von Elternimagines aufgebaut werden muß, fehlten ihm nach eigener Darstellung geradezu die Voraussetzungen: In »Les mots« dankt er seinem Vater dafür, daß dieser »rechtzeitig« gestorben sei und ihn so vor der Ausbildung ödipaler Schuldempfindungen und damit auch eines Über-Ichs bewahrt habeP Anstelle einer eigentlichen Morallehre offeriert Sartre eine Theorie der von etwaigen Normen entpflichteten Verantwortung. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit Husserl, Scheler, Heidegger und Jaspers, die er 1933 während eines Berlin-Aufenthaltes intensiv studieren konnte,14 gelangte er zu einem Existentialismus, der den Menschen einer absurden Welt gegenüberstellt. In seinem ersten philosophischen Hauptwerk entwickelt er diese Gegenüberstellung vermittelst der Unterscheidung von An-sieh-Sein (En-soi) und Für-sichSein (pour-soi). Das An-sieh-Sein bezeiehnet die ungeschaffene, kontingente, jeder Selbstbeziehung entbehrende Welt der Dinge, hinter der es für Sartre, der den Dualismus von Noumenon und Phainomenon preisgibt, kein Wesen mehr gibt. Das An-sieh-Sein »ist, was es ist«, es gibt sich in jedem Phänomen kund, erscheint andererseits aber nie vollständig als solches, so daß das Bewußtsein die Phänomene auf das Ganze hin transzendieren muß. 15 Ist das An-sieh-Sein einfache, nicht ableitbare, möglichkeitslose Positivität, die als überflüssig erfahren wird und Ekel verursacht, wie Sartre ihn Roquentin in »La nausee« als »Normalzustand« erleben läßt,16 so ist das Für-sieh-Sein als spezifisch menschliche Seinsweise dadurch gekennzeichnet, daß es sich ständig entwirft und seine eigene Existenz schafft. Es ist zu bestimmen durch das, was es nicht ist, insofern es sich selbst fortwährend auf seine Zukunft hin projiziert, sich transzendiert und auf anderes bezieht, womit es durch Intentionalität im

11 Vgl. Jean-Paul Sarire: Das Sein und das Nichts, S. 701 ff., 94 ff.; für das Zitat S. 783. 12 Bernhard H. F. Tawreck: Ethikkrise 1992, S. 43,71.

Krisenethik. Analysen, Texte, Modelle, Reinbek

13 lean-Paul Sarire: Die Wörter, Reinbek 1965, S. 12 f.

14 Jean-Paul Sarire: Marxismus und Existentialismus, S. 34. 15 lean-Paul Sarire: Das Sein und das Nichts, S. 33,9 ff. 16 lean-Paul Sarire: Der Ekel, Reinbek 1963, S. 136 f., 166.

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Sinne Husserls charakterisiert werden kannP Der Existierende ist nicht koinzident mit sich, er ist Entwurf und existiert nur in dem Maße, in dem er sich aktiv verwirklicht, er nichtet seine eigene Vergangenheit und erfährt in dieser Nichtung seine Freiheit, die im Handeln zum Ausdruck gelangt und im Spannungsgefüge von Sein und Nichts steht. 18 Dieses Spannungsverhältnis begreift Sartre, wie Ingtraud Görland im Detail gezeigt hat,19 im Unterschied zu Hegel20 nicht als eine dialektische Beziehung, an deren Ende eine vermittelnde Synthese stünde. Er begreift es, inspiriert durch Heideggers Daseinsanalyse, vielmehr im Sinne eines strikten Gegensatzes, der in der Angst unmittelbaren existentiellen Ausdruck findet 21 Gründet der Selbstbezug des Für-sich bei Hegel im Erkennen als der Aufhebung der Fremdheit des An-sich, so bleibt der selbstreflexive Bezug für Sartre, für den das ursprünglich präreflexive Bewußtsein zwar konstitutiv für das Erkennen ist, phänomenologisch aber streng von ihm differenziert werden muß,22 dem Fürsich immanent. Es erreicht keine »unmittelbare Einheit des Ansichseins und des Fürsichseins«23, es gelangt nicht zur Koinzidenz mit sich, erreicht also nie das Sich im Sinne eines objekthaften Seins (An-sich), obgleich es fortwährend gerade danach strebt.24 In diesem Streben offenbart sich die Freiheit, zu der der Mensch »verurteilt« ist,25 die ihn zur Wahl unter seinen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten nötigt und durch die er für alles - außer seiner Verantwortlichkeit selbst - verantwortlich ist:

17 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 33, 122 ff., 188; Edmund Husserl: Logische UntersuchWlgen, 2. Bd., I. Teil, Halle a. d. S. 1922. 18 Jean-Paul Sartre: Bewußtsein Wld Selbsterkenntnis. Die Seinsdimension des Subjekts, Reinbek 1973, S. 7; ders.: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: ders., Drei Essays, S. 22; ders.: Das Sein Wld das Nichts, S. 70, 557, 604. 19/ngtraud Görlanti: Die konkrete Freiheit des Individuums bei Hegel und Sartre, Frankfurt a.M.1978. 20 Vgi. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 3, S. 155 ff.

21 Jf~n-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 70; Martin Heitkgger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 184 ff. 22Jean_Paul Sartre: Bewußtsein und Selbsterkenntnis, S. 29 f.; ders.: Das Sein und das Nichts,

S.127.

23 Georg Wilhelm FrÜ!drich Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 156.

24 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 144, ders.: Bewußtsein Wld Selbsterkenntnis, S. 45 ff.; /ngtraud Görlanti: Die konkrete Freiheit, S. 35. 25 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 614. »Verurteilt«: das impliziert, daß der Mensch »nicht die Freiheit« hat, »aufzuhören, frei zu sein« (S. 560).

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» ... der Mensch, der verurteilt ist, frei zu sein, (trägt) das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schultern... : y ist, was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich für die Welt und für sich selbst«

Freiheit bedeutet für Sartre, daß das Subjekt im Bewußtsein, daß es jeweils seine Entscheidungen trifft, zum Sich-Entscheiden genötigt ist; frei ist es, wenn es sich in seinen Akten wiederfindet So verstanden, widerspricht der Umstand, daß wir in biologischer, ökonomischer, kultureller, politischer usw. Hinsicht verschiedenen Umständen ausgesetzt sind, der Freiheit nicht, da wir diese Umstände jeweils formen und ihnen fortwährend Sinn verleihen. 27 In diesem Sinne konnte Sartre sagen: »Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung«, denn angesichts des drohenden Todes erschienen ihm die damals getroffenen Entscheidungen als in besonderem Maße echt 28 Für Sartre impliziert Freiheit keine Verpflichtung auf ein apriori gültiges, im Rahmen einer Selbstexplikation der Vernunft zu gewinnendes praktisches Prinzip. Ist für Kant allein ein Wille, dem das universalistisch-autonome Sit..engesetz die leitende Maxime bereitstellt, ein freier Wille, repräsentiert ihm zufolge nur die reine Pflichthandlung freies Handeln,29 so entspricht der Freiheit bei Sartre zwar eine individuelle Verantwortung, keineswegs aber eine Verpjlichtung.30 Die gewiß richtige Einsicht in die Unmöglichkeit der Begründung von Werten aus dem Sein3l - eine solche Begründung verfiele dem »naturalistischen Fehlschluß« - verleitet Sartre zu dem Kurzschluß auf die Unmöglichkeit der Begründung moralischer Verbindlichkeit überhaupt. Kein apriorisches Vernunftgesetz gilt ihm als konstitutiv für wahrhaft freies Handeln, kein Imperativ verpflichtet in seiner Sicht kategorisch darauf, die eigene WilIensmaxime in Entsprechung zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zur Handlungsbasis zu machen. Die Freiheit gilt ihm als Fundament aller Moral, diese aber

26 Jean.PauJ SaTIre: Das Sein und das Nichts, S. 696.

27 Jean.PauJ SarIre: Betrachtungen llIr Judenfrage, S.

137. 28 Jean.PauJ SaTIre: Paris unter der Besatzung. Artikel, Reportagen, Aufsätze 1944-1945, Reinbek 1980, S. 37. Marcuse hat - allerdings bevor Sartre seinen Existentialismus in den Dienst des Marxismus gestellt hat - in dieser Freiheitsauffassung eine über gesellschaftlich·konkrete Unfreiheiten hinwegtäuschende »idealistische Mystifikation« gesehen: Herberl Marcuse: Existentialismus. Bemerkun,en zu Jean-Paul Sartres L'~tre et le Neant, in: ders., Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 49-84, bes. S. 75. Der »Kritik" zufolge ist das Subjekt freilich nicht mehr »in Ketten frei«, Freiheit erscheint hier vielmehr als »vollständige dialektische Entwicklung«, die durch »körperlichen Zwang« beschniuen werden kann. Vgl. Jean·PauJ SarIre: Kritik der dialektischen Vernunft, S. 612, Fn. 1.

29 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Weischedel, Frankfurt a. M. 1968, S. 138 ff. 30 Bernhard H. F. Taureck.: Ethikkrise - Krisenethik, S. 73, 75. 31 Jean.PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 81 f.

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hat das Subjekt in Verlassenheit, allein auf sich gestellt, »ohne irgendeine Stütze« zu wählen 32: »Dostojewskij hatte geschrieben: 'Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt.' Da ist der Ausgangspunkt des Existentialismus. In der Tat, alles ist erlaubt, wenn Gott nicht existiert, und demzufolge ist der Mensch verlassen, da er weder in sich noch außerhalb seiner eine Möglichkeit fmdet, sich anzuklammern ... So haben wir weder hinter uns noch vor uns, in)}ichtreich der Werte, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein ... «

Der Mensch muß Sartre zufolge aus der Situation heraus seine Wahl treffen, und die konkrete Wahl gilt ihm allemal als gut, sofern das Subjekt sich in seiner Wahl wiederfmdet und ohne Selbstverleugnung - ein wiederkehrendes Sujet in Sartres literarischem Werk - zu ihr steht Auch der Mord wird in dieser Sicht gebilligt, wenn er nur als Resultat eines freien Entschlusses anerkannt bleibt, - das ist das Thema der Dramen »Les mouches« und »Les mains sales«: »Der feigste aller Mörder ist der, der bereut«, läßt Sartre den Orest seiner »Fliegen« sagen,34 der im Gegensatz zu Elektra seine mörderische Rache an Klytämnestra und Ägist reuelos als den Vollzug seines freien Entschlusses akzeptiert. Und Hugo appelliert, als er nach einigen Skrupeln den Parteiauftrag zur Ermordung Hoederers schließlich ausführen will, an sich selbst »Wenn ich mich dazu entschlossen habe, muß ich es auch können.«35 Er begeht die Tat und hält - mit allen Konsequenzen - am Bekenntnis zu ihr auch fest, als die Partei auf Hoederers Weg einschwenkt. Nach alldem muß der Eindruck entstanden sein, Sartre habe lediglich der Beliebigkeit moralischer Normen und Werte das Wort geredet, er habe einen ethischen Relativismus vertreten, der aus der Perspektive einer letztlich von Kant inspirierten Ethik, wie sie den vorliegenden Ausführungen zugrundeliegt, energischen Widerspruch provozieren muß. In der Tat ist dieser Eindruck m. E. berechtigt, wenngleich er sich bislang auf eine nur sehr unvollständige Rekonstruktion der Äußerungen Sartres zum Problemkreis der Ethik gründet. Es gibt nämlich zweifellos gute Gründe für die Frage, ob Sartre seinen ethischen Relativismus nicht schließlich doch überwunden hat. In seinem zuerst 1945 vorgetragenen Essay »L'existentialisme est un humanisme« (die deutsche Übersetzung verfälscht die Titelaussage in eine Frage), in dem er den in »Das Sein und das Nichts« entwickelten Standpunkt von der Priorität der Existenz gegen32 Jeafl-Paw Sarire: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 31 f. 33 Jeafl-Paw Sarire: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 16. 34 Jeafl-Paw Sarire: Die Riegen, in: ders., Die Riegen. Die schmutzigen Hände. Zwei Dramen,

Reinbek 1961, S. 69.

35 Jeafl-Paw Sarire: Die schmutzigen Hände, in: ders., Die Fliegen. Die schmutzigen Hände,

S.175.

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über der Essenz bekräftigt und damit den eigenständigen Charakter seines Existentialismus als Humanismus36 behauptet, scheint Sartre den Anschluß an ein kantisches Universalisierungsprinzip gefunden zu haben, insofern er hier die Selbstwahl mit der Wahl der Menschheit identifIziert » ... wenn wir sagen, daß der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, daß der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern daß er verantwortlich ist für alle Menschen... Indem wir sagen, daß der Mensch sich wählt, verstehen wir darunter, daß jeder unter uns sich wählt; aber damit wollen wir ebenfalls sagen, daß, indem er sich wählt, er alle Menschen wählt. Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, daß er sein soll ... in Wahrheit muß man sich immer fragen, was würde geschehen, wenn wirklich alle Welt ebenso handeln würde? Und man entrinnt diesem beunruhigenden Gedanken nur mit einer Art von Böswilligkeit.«37

Zudem hat Sartre in seinem zweiten philosophischen Hauptwerk die Thematisierung des isolierten Individuums durch diejenige des Menschen im sozialen Feld bzw. in den Kollektiven ersetzt 38 Zwar war der Andere auch schon in ))Das Sein und das Nichts« der - von Descartes und noch von Husserl als solcher verkannte - unverzichtbare Mittler zwischen Ego und Ego: Das Schamgefühl erschien als Anerkenntnis, )~ß ich bin, wie Andere mich sehen«, Alters Blick erschien als Erfahrung des Anderen als eines freien bewußten Subjekts, das für die Selbstwahmehmung von Beginn an konstitutiv ist, die Sprache erschien als das ))Für-Andere-Sein«.39 Hatte Sartre also bereits dort den Solipsismus mit Entschiedenheit zurückgewiesen, so gerät in der ))Kritik« das Individuum verstärkt in seinen sozialen Bezügen in den Blick, - als praktischer Organismus, der durch Bedürfnis, Arbeit und Aktion mit der Welt im Hier und Jetzt, aber auch als einer ))ZU schaffenden Zukunft«40 verbunden ist. Die überaus detaillierte Untersuchung zeigt den Weg von der individuellen Praxis zum Feld der sozialen Beziehungen und ihrer Entfremdungsprozesse auf, die durch gemeinsame freie Praxis negiert und überschritten werden können, sie analysiert den Prozeß der Verwandlung der durch Isoliertheit der Einzelnen geprägten ))Serie« zur durch ein gemeinsames Ziel, durch einen geteilten regulativen Entwurf gekennzeichneten ))Gruppe«, in deren Praxis das Subjekt seine

36 Vgl. hierzu die Abgrenzung bei Marlin Heiekgger: Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 8198 1. 37 Jean.PauJ SarIre: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 12 f.

38 Jean.PauJ SarIre: Kritik der dialektischen Vernunft, S. 270 ff.

39 Jean.PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 299 f., 338 ff., 478. Vgl. dazu auch Michael TMunissen: Der Andere. Studien rur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965, S. 187 ff. 40 Jean.PauJ SarIre: Kritik der dialektischen Vernunft, S. 837.

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»eigene Aktion« ist, »insofern ihre Objektivierung mir gehört als gemeinsames Resultat«.41 Aber für eine Überwindung des ethischen Relativismus fmdet sich auch in Sartres Spätwerk kein Hinweis. Praxis und dialektische Vernunft bleiben, hinsichtlich ihrer Entfaltungsmodi, unbestimmbar: Die Praxis - und damit bleibt Sartres Freiheit »leer«42 - selbst schafft Werte, und darin ist sie für Sartre frei von apriorische Geltung beanspruchen dürfenden ethischen Normen. Der vereidigten Gruppe z. B. wird das Recht über Leben und Tod der Mitglieder konzediert die freie Selbstverpflichtung des Gruppenmitglieds auf die Gruppe gebe dieser im Falle des Verrats das Recht zur Tötung des Mitglieds. 43 Es bleibt bei der willkürlichen Setzung von Normen und Werten ohne eine Verpflichtung, die dem Kantschen Imperativ: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« entspräche. 44 Und auch die zitierte Identiftkation der Selbstwahl mit der Wahl der Menschheit aus »L'existentialisme est un humanisme« stellt nur scheinbar eine Überwindung des Relativismus >unsere Üblichkeiten« (S. 8) das »Programm der Absolutmachung des Menschen« (S. 118) - wie es z.B. von Sartre oder auch der Diskursethlk vertreten wird - als Legitimationsgrundlage der Ethik ab.

Die (De-)Konstruktion des Humanismus

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dig rekonstruiert und zu neuen Konfigurationen fügt. 38 In einer solchen Konfiguration, einem Schnittpunkt von verschiedenen kollektiven Praxen, gewinnt das Subjekt seine vorläufige Identität, beispielsweise seine humanistische Bestimmung als »Mensch«. Folglich ist die spezifische Subjektposition des mit Rechten ausgestatteten, autonomen »Menschen« überdeterminiertes Produkt eines vielschichtigen historisch-sozialen Konstitutionsprozesses, dessen Bedeutung abhängig ist von dem konkreten Diskurs, in dem es jeweils verankert ist und von den anderen Kategorien und Werten, die mit ihm verknüpft werden. So läßt sich der räumlich-zeitliche Bedeutungswandel dieser humanistischen Kategorie (z.B. Einschränkung auf Männer) und ihre Fragilität, ihre Bedrohung durch konkurrierende Diskurse (z.B. Sexismus) erklären: Weit davon entfernt :ru denken, daß dem 'Menschen' Wesenhaftigkeit zukommt - vennutlich als ein Geschenk des Himmels - kann uns eine solche Analyse die historischen Bedingungen seines Auftauchens und die Grunde für seine augenblickliche Anfechtbarkeit zeigen und uns somit beqqigen, wirksamer und ohne illusionen für die Verteidigung humanistischer Werte :ru kämpfen.

Wenn der humanistische Subjektbegriff und die ethischen Positionen der Tradition der Aufklärung kontingente Konstruktionen, Resultate politischer Praxis jenseits jeder epistemologischen und ontologischen Fundierung sind, kann beispielsweise die dazugehörige Idee der Menschenrechte nur im Bezug auf ihre konkrete Genealogie erklärt und verteidigt werden, ohne daß es Garantien für ihre Durchsetzungskraft, ihre Überlegenheit gegenüber »Irrationalismen« und Gewalt geben kann. Politische Praxis bedeutet dann die kollektive Auseinandersetzung um Bedeutungen von zentralen Kategorien einer Tradition, ihre Veränderung und Eingliederung in neue, andere Diskurse bzw. Praxen. Es ist dieser Verzicht auf die metaphysische Basis des traditionellen Humanismus, das Postulat einer den Einzelnen und seine Gemeinschaft transzendierenden universalen Rationalität, der die argumentative Praxis zu einer kritischen und demokratischen macht. Als ergebnisoffene, weder auf apriorischen Prinzipien und Regeln beruhende noch auf einen verbindlichen Konsens ausgerichtete, verleiht sie der Tradition der Aufklärung erst ihr emanzipatorisches Potential und drängt deren - dem universalistischen Humanismus immanente - totalitäre Tendenz zurück. Ist das humanistische Subjekt einschließlich der aus ihm abgeleiteten ethischen Prinzipien ein kontingentes historisches Konstrukt, das verschiedene 38 In diesem Sinne entwickelt z.B. auch Marquard aus der Vielfalt der geschichtlichen Bedingungen eine »determinationsplura1istische Freiheitsthese« (Odo Marquard: Apologie des Zufälligen, S. 139, Anm. 27).

39 Ernesto Lac/au I Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991, S. 169 f.

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Anja Rüdiger

Subjektpositionen einnimmt, so beinhaltet dies auch eine neue Verantwortung zur (Selbst-) Veränderung, die sich direkt aus der weder durch metaphysischen Individualismus noch durch strukturellen Determinismus einschränkbaren Offenheit menschlicher Existenz ableitet. So sind es also, wie der Blick auf die Tradition des Anti-Humanismus gezeigt hat, letztendlich die »anti-humanist challenges to the sovereign subject [that] have permitted forms of self-scrutiny and awareness which seem both liberating and essential to the establishment of better human relations«40. Diese - nunmehr post-humanistische - Verantwortung wird gerade dadurch ermöglicht, daß Praxis nicht als existentialistisches Projekt eines sich selbst verwirklichenden Bewußtseins festgelegt ist und auch nicht quasi-automatisch durch allgemeingültige ahistorische Prinzipien, weder substantieller noch formaler Art, legitimiert werden kann; sie verdankt sich den Herausforderungen des strukturalistischen und poststrukturalistischen Anti-Humanismus.

40 KaIe Soper: Posunodemism, S. 128.

Wissenschaft und Lebenserfahrung Von Hennann Schmitz

Wir empfangen Eindrücke und machen aus ihnen Gegenstände. Jede Kultur hat einen eigenen Typ von Vergegenständlichung, der eine spezifische Abstraktionsbasis voraussetzt. Die Menschen sind in unwillkürlicher Lebenserfahrung in Situationen verstrickt, in denen sie sich zurechtfinden müssen. Dazu gehört an erster Stelle ein selektives Wichtignehmen. Diese Auslese ist beim Tier artspezifisch, beim Menschen nicht nur, aber weitgehend kulturspezifisch. Durch sie wird das Material der Lebenserfahrung gleichsam auf eine Projektionsfläche geworfen, wo sich nur noch abzeichnet, worauf es für das Wichtignehmen ankommen soll. Diese Projektionsfläche ist die Abstraktionsbasis der Kultur. Mit Beziehung auf sie werden in diesem Rahmen Begriffssysteme erstellt und Bewertungen vorgenommen. Sie selbst ist in der Kultur wertneutral, Sammelbecken alles dessen, was als günstig oder ungünstig oder in dieser Beziehung indifferent wichtig genommen wird. Ich werde im Folgenden zwei konträre Idealtypen kulturspezifischer Abstraktionsbasen einander gegenüberstellen: die Abstraktionsbasis des europäischen Rationalismus in noch zu präzisierendem Sinn und die Abstraktionsbasis des ostasiatischen Rationalismus, der in einer lange mächtigen Unterströmung des europäischen Rationalismus, wie in einer Fuge mit erstem und zweitem Thema, ein Ebenbild hat. Die Abstraktionsbasis der dominanten Strömung im europäischen Rationalismus wird seit dem späten 5. Jahrhundert v. ehr. durch eine eigentümliche Spaltung des Materials der Lebenserfahrung bestimmt Der Spalt verläuft zwischen öffentlicher Außenwelt und privater Innenwelt, anders gesagt: zwischen der Sphäre des ganz und gar Objektiven und den pro Person eigentümlichen Sphären des primär bloß Subjektiven und erst sekundär, wie im Abglanz, Objektivierbaren. Diese Spaltung, die phänomenologisch nicht gerechtfertigt werden kann, stützt sich wesentlich auf ein erkenntnistheoretisches Mißverständnis, das ich als den Physiologismus bezeichne. Dabei handelt es sich um das Dogma, daß zum Menschen Infonnationen über den Teil der Welt, der als

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Hennann Schmitz

seine Außenwelt objektiviert ist, nur auf dem Weg über physische Reize gelangen, die von gewissen Körperteilen - namentlich den sogenannten Sinnesorganen wie Augen und Ohren, ferner Teilen des Nervensystems wie z.B. dem Gehirn - aufgefangen und weitergeleitet werden, um schließlich durch einen mysteriösen Umformungsprozeß in die Innenwelt des Menschen, die als seine Seele oder sein Bewußtsein bezeichnet wird, hinübergehoben zu werden. Die empirische Basis dieses Dogmas besteht in der Beobachtung, daß Variationen gewisser Reizmassen (z. B. Entzünden und Erlöschen von Lichtquellen) und gewisser Körperzustände (z. B. Kopfdrehung, Schließen oder Erkranken der Augen, Hirnschäden) häufig sehr subtil mit parallelen Variationen des Wahrgenommenen korrespondieren. Daraus kann man richtig schließen, daß es sich um notwendige Bedingungen des Wahrnehmens handelt. Der Physiologismus überdehnt diese triftige Feststellung durch das empirisch unbegründete Dogma, daß die betreffenden Körperteile die Kanäle der Wahrnehmung seien, die die dem Wahrnehmen zufließenden Informationen auf das beschränken, was durch solche Kanäle Durchlaß findet Kurz gesagt Es ist eine Tatsache, daß wir nicht ohne Augen sehen, aber daraus folgt doch nicht, daß wir mit den Augen sehen, allgemeiner: daß die physikalischen und physiologischen Vorgänge beim Sehen, Hören usw. mehr als eine unverbindliche Begleitmusik sind, wie die Melodie zum Text im Lied. Dieser Hinweis ist keine bloß scholastische Spitzfmdigkeit, weil der physiologistische Fehlschluß zu einem phänomenwidrigen, reduktionistischen Mißverständnis der Wahrnehmung verführt. Ich will diese Verkürzung des Spektrums der normalen Wahrnehmung durch einige Beispiele belegen. Jeder vollsinnige Mensch nimmt Dunkelheit, Stille, leeren Raum, Zeit, Atmosphären, Sachverhalte und Situationen nicht weniger als Farben, Flächen, Schälle und Bewegungen wahr. Ein Ton, ein Pfiff, die lange anhalten, werden selbst langgezogen, im Gegensatz zu lang anhaltenden Farben: Zeit schmilzt sinnfällig in den Schall ein. Stille hat Weite, Gewicht und Dichte; es gibt »brütende« Stille, dumpf lastende ))bleierne« Stille, zarte Morgenstille, friedliche Abendstille, lähmende und feierliche Stille usw. Fremdartige Sonntagsruhe, kühl-fahle Abenddämmerung können fast erschreckend gleichsam in der Luft liegen. Frühlingsmorgen, trüber Novembertag, Sommerabend, Gewitterstimmung sind klimatisch-optische Atmosphären. Atmosphären sind auch überpersönliche, kollektive Gefühle wie die alberne oder strahlende Freude eines Festes, die kribbelige Aufgeregtheit einer Schlacht, einer Party oder des sogenannten Lampenfiebers, die ))Stimmungsglocke«, die sich in feierlichen Augenblicken oder bei gemeinsamem Singen um die Anwesenden zusammenschließt. Man kann solche Atmosphären auch züchten und pflegen, z. B. die Gemütlichkeit einer Wohnung, die dem eintretenden Besucher sofort auffällt,

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noch ehe er sich umgesehen hat. Ganz ohne Atmosphäre ist die Situation des Autofahrers, der auf mit hoher Geschwindigkeit befahrener Straße einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen und Beschleunigen entgehen kann. Die Beschreibung einer solchen routinemäßigen Meisterleistung wäre falsch, wenn man sie im Sinne des Physiologismus in eine anfängliche Information durch Sinnesdaten oder Empfmdungen, eine anschließende Zutat durch Überlegungen und einen drittens folgenden praktischen Syllogismus, der die Strategie der Reaktion festlegt, zerlegen wollte. Vielmehr nimmt der geschickte Autofahrer in der kritischen Konstellation mit einem Schlage die Situation wahr, in der die relevanten Sachverhalte, die als Gefahr drohenden Probleme und die Programme möglicher Rettung ganzheitlich zusammengeschlossen sind, ohne als Menge mit bestimmter Anzahl einzeln hervorzutreten, und reagiert auch schon durch Koagieren ohne eingeschobene Überlegung, weil seine Motorik mit dem Gesehenen durch leibliche Kommunikation ohne Innenwelt/Außenwelt-Scheidung zusammengeschlossen ist, wie Arme, Hüften und Beine in der subtilen Gewichtsverteilung beim Abfangen eines plötzlich drohenden Sturzes. Den Mannigfaltigkeitstypus, in dem Vieles, aber nicht lauter Einzelnes beisammen ist, weil nicht durchgängig feststeht, was darin womit identisch und wovon verschieden ist - ein anderes Beispiel: die gleitende Dauer des Dahinlebens in träumerischem oder gedankenlosem Dösen - bezeichne ich als chaotische Mannigfaltigkeit. Eine chaotischmannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören, bezeichne ich als Situation. Viele Situationen werden nur ausschnitthaft zugänglich, z. B. die Muttersprache und die eigene Persönlichkeit eines Menschen. Eine Situation, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommt, bezeichne ich dagegen als Eindruck. Eindrücke können ohne dingliche Anbindung gleichsam in der Luft liegen; gern zitiere ich in diesem Zusammenhang die Verse, mit denen Margarete in Goethes Faust ihr Zimmer betritt, in dem gerade, ohne daß sie es ahnt, der Teufel gewesen ist Es ist so schwül, so dumpfig hie, (Sie macht das Fenster auf.) Und ist doch eben so warm nicht drauß, Es wird mir so, ich weiß nicht wie Ich wollt, die Mutter käm nach Haus! Mir läuft ein Schauer übern ganzen Leib Bin doch ein töricht-furchtsam Weib! Meist aber haben Eindrücke einen dinglichen oder halbdinglichen Kern, um den sich ein chaotisch-mannigfaltiger Hof von Bedeutsamkeit legt, bestehend aus Sachverhalten, Programmen und Problemen; Programme sind z. B. an-

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schauliehe Aufforderungscharaktere wie Zuhandenheit für einen Gebrauch, Signalfunktion, Prestige, Verführung, Abstoßung, Probleme z. B. Sorgen und Gefahren. Meist, aber nicht immer - nicht z. B. in der plötzlichen Krisensituation des Autofahrers - sind die Eindrücke mit Atmosphären des Gefühls geladen. Zwischen den Spitzen der auffälligen Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen; so hat z. B. jedes Ding einen Charakter als chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, die u. a. mit Protentionen geladen ist, d. h. mit Sachverhalten, auf die man unwillkürlich erwartend gefaßt ist. Eindrücke sind die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung; Dinge oder physiologisch interpretierbare Sinnesdaten gehören meistens zu ihr, können aber fehlen, z. B. in der eindringlichen Wahrnehmung des mächtigen Eindrucks einer feierlichen oder unheimlichen Stille. Der abendländische Rationalismus zersetzt mit der schneidenden Waffe des Physiologismus die Eindrücke und sonstigen Situationen, an und in denen die Lebenserfahrung sich entlangtastet, durch Scheidung in einen objektiven und einen subjektiven Anteil. Als objektiv wird der Außenwelt zugewiesen, was als transportabel in verschlüsselter Form durch die Kanäle der an der Wahrnehmung beteiligten physischen Reize und Körperteile imponiert; das sind zunächst die den körperlichen Sinnesorganen spezifisch zugeordneten Sinnesqualitäten (Farben, Schälle usw.), dann aber die gemeinsinnlichen, von denen Aristoteles fünf aufzählt: Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe und Bewegung. Aus diesem schmalen Stoff, der ihm aus dem Gehirn in mysteriös verschlüsselter Form angeliefert wird, soll der Geist durch kluge Zusätze - entweder bloßes Kombinieren wie im englischen Empirismus oder hinzugebrachtes intellektuelles Gut wie nach Platon, Leibniz und Kant - ein zum Überleben hinreichendes Bild der Außenwelt rekonstruieren können. Im Interesse bequemer intermomentaner und intersubjektiver Identifizierbarkeit und Manipulierbarkeit wird der Stoff nochmals um die spezifischen Sinnesqualitäten verkürzt, die als sekundäre gleichfalls der subjektiven Innenwelt zugewiesen werden; als verläßliche Zeugen von der Außenwelt bleiben dann nur noch die gemeinsinnlichen Qualitäten. Das bei dieser Reduktion leitende Modell identifizierender Operation ist das optische Zählen von Gestaltmerkmalen (z. B. Strichen) an festen Körpern. Dieser Reduktionismus ist schon in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts bei Demokrit vollendet; als nicht subjektivierte Objekte läßt dieser bloß kleine oder auch größere feste Körper (Atome) mit standardisierten Typen von Merkmalen aus dem Bereich der primären Sinnesqualitäten (Größe, Gestalt, Lage im Raum, Anordnung) gelten, während der gesamte übrige Stoff der Wahrnehmung, einschließlich der spezifischen Sinnesqualitäten, zur bloß subjektiven Meinung und Konvention degradiert wird. Das Leitbild Demokrits

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macht noch heute die gesamte Abstraktionsbasis der jetzt führenden Naturwissenschaft, der Physik, aus. Freilich ist im letzten Jahrhundert eine weitere Reduktion hinzugekommen. Um die reduktionistisch aus Situationen herausgebrochenen, als objektiv anerkannten Merkmale nicht haltlos stehen zu lassen, hat man als Ersatz für die einbettenden und umgreifenden Situationen die tragenden Substanzen eingeführt, an denen die Merkmale als Akzidenzen gleichsam aufgehängt wurden. Obwohl die Vernünftigkeit dieser Trägervorstellung schon von Aristoteles l und später von Locke in Frage gestellt wurde, hat die Physik - zuletzt in Gestalt der Ätherhypothese - bis zu Mach und Einstein daran festgehalten. Der so reduzierte Körper ist ein konstruiertes Gerippe mit der Substanz als Stamm und Merkmalen aus wenigen standardisierten Klassen als Ästen oder Zweigen; erst mit der Relativitätstheorie wird die Substanz konsequent weggeworfen und die als objektiv anerkannte Welt auf ein Kontinuum von Merkmalen reduziert Der wahrgenommene dingliche Körper, bei dem solche Konstruktionen ansetzen, ist von wesentlich anderer Beschaffenheit. Er hat einen Charakter, der sich im Wechsel vieler Gesichter - z. B. bei Annäherung oder Entfernung - als Eindruck im früher bestimmten Sinn durchhält, bei gewissen Überraschungen aber auch in einen anderen Charakter umschlagen kann, während das Ding selbst beharrt; außerdem gehören dazu schon an der vordergründigen Erscheinung, noch ohne Rücksicht auf den chaotisch-mannigfaltigen Hof der Bedeutsamkeit, vorrangig Merkmale, die dem Physiologismus entgehen und daher in der herkömmlichen Wahrnehmungslehre keinen Platz finden, im faktischen Wahrnehmen aber dominieren, namentlich die von mir vielfach beschriebenen Gestaltverläufe (d. h. Bewegungssuggestionen ruhender oder bewegter Gestalten) und synästhetischen Charaktere,2 ferner die Halbdinge (wie Blicke, Stimmen, Melodien, reißende Schwere, Wetter, Wind und Zeit), die wirken, ohne eine Unterscheidung von Ursache und Einfluß zu gestatten, und wiederkehren, ohne daß es Sinn hätte, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind.3 Der ganze Abfall der Reduktion wird vom europäischen Rationalismus in die Seele (alias das Bewußtsein, das Gemüt usw.) gesteckt, wo er als »bloß subjektiv« abgestempelt wird, mit einem nicht so vertrauenswürdigen und ernsthaften Anspruch auf Tatsächlichkeit, wie er dem Objektiven zugestanden wird; Kant gebraucht z. B. den Titel »objektive Realität« vielfach als Auszeichnung im Sinne verläßlicher Glaubwürdigkeit des GegeI Aristoteles: Metaphysik, 7. Buch, 3. Kapitel; vgl. Hermann Schmitz: Die Ideenlehre des Aristoteies, Band I,Teill, Bonn 1985, S. 48-53. 2 Herman" Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S.141-147. 3 HermaM Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 216-219. 5 PS Qörland

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benen. Insbesondere wandert alles chaotische Mannigfaltige der Situationen in die Seele, während die auf reduzierte Körper und standardisierte, quantiflzierbare Merkmale beschränkte Außenwelt nur noch Mannigfaltiges enthält, das zahlfähig ist, also auf lauter Mengen mit so und so viel Elementen verteilt Körper und Seele, die nach diesen Operationen übrig bleiben, sind konstruktiv zurechtgemacht. die Seele (oder das Bewußtsein) übrigens schon unabhängig vom Reduktionismus und Physiologismus durch das Bedürfnis nach Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen; sie sind aber dem Mannigfaltigkeitstyp nach unvergleichbar, weil die Körperwelt zur Zahlfahigkeit ausgedünnt, ihr chaotisch-mannigfaltiger Reichtum in der Lebenserfahrung aber der Seele aufgeladen worden ist Schon deshalb sind alle Versionen eines Isomorphismus oder gar einer Identität (eines Spezialfalls des Isomorphismus) als Theorien über das Verhältnis des Seelischen und Körperlichen von Grund auf verfehlt; denn zwischen zahlfahigem und chaotischem Mannigfaltigem gibt es keine Abbildung wie zwischen Mengen, schon gar keine umkehrbar eindeutige. Allerdings hat man längst versucht, auch die subjektive Innenwelt der Objektivierung an Hand des Festkörpermodells zu unterwerfen, z. B. in der Assoziationspsychologie - etwa in deren mathematischer Fassung durch Herbart oder in der ironisch so genannten Gehimmythologie, wo das Gehirn mit seinem Funktionieren als physikalisch reduzierter Körper als Modell des Seelenlebens oder der Bewußtseinsvorgänge benützt wird. Abgesehen davon, daß es sich um gescheiterte oder uneingelöste Ansprüche handelt, ist dieses Bemühen schon deshalb wenig aussichtsreich, weil der chaotisch-mannigfaltige Weltstoff, den der Reduktionismus auf das Seelische oder Mentale abgewälzt hat, bei entsprechender Reduktion des Seelischen an einen dritten Ort weitergereicht werden müßte, der wieder ebenso zur Objektivierung einlüde, so daß sich ein wenig ergiebiger regressus abzeichnen würde. Der europäische Rationalismus hat bei der Objektivierung der Außenwelt ungeheure Erfolge erzielt. auf einer ganz schmalen Abstraktionsbasis, die so geschickt gewählt war, daß sie sich für intermomentane und intersubjektive Identifizierung und planmäßige Manipulation bestens eignete und namentlich zur quantiflzierenden statistischen Induktion unbeschränkt Gelegenheit gab. Dazu kommt die enorme Rafflnesse einer Theoriebildung, die mit einem riesigen intellektuellen Gerüst den anfangs preisgegebenen Reichtum der Lebenserfahrung näherungsweise wieder einzuholen sucht. Obendrein war der europäische Rationalismus viel zu geschickt, als daß er die kulturspeziflsche Vergegenständlichung auf Rationalisierung beschränkt hätte. Der Abfall der Reduktion wurde nicht weggeschüttet, sondern an einem passend zurechtgemachten Ort. nämlich in der Seele oder privaten Innenwelt des einzelnen Menschen, ab-

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geladen und dort auch nicht sich selbst überlassen, sondern der Betreuung durch Funktionäre übergeben, die ein Alibi für die Einseitigkeit der reduktion istischen Vergegenständlichung zu liefern hatten, ohne dieser durch Gegenbehauptungen in die Quere zu kommen. Diese Alibifunktionäre haben sich ihrer Aufgabe mit bewunderungswürdiger Erfindungskraft und/oder Treue und Geduld unterzogen; hauptsächlich handelt es sich um die Dichter und die Frauen, die nach der reduktionistischen Zersetzung der Situationen in Europa die privatisierten und introjizierten Gefühle und Eindrücke zu verwalten hatten, während die Philosophen, Wissenschaftler und Techniker die reduktionistische Vergegenständlichung und Selbstbemächtigung in Richtung auf das Idol einer autonomen Vernunft hin vorwärts trieben. Diese Arbeitsteilung gestattet die Züchtung des Abgelegten in einem Garten der Unverbindlichkeit ohne Störung der nüchternen Orientierung an echten oder vermeintlichen Tatsachen auf dem Boden der kulturspezifischen Vergegenständlichung. Diese ist aber inzwischen in ihrer reinsten Gestalt als exakte Naturwissenschaft theoretisch und praktisch an Grenzen gestoßen, wo sich die Künstlichkeit der zu Grunde liegenden Spaltung an ihr rächt Der Holismus in der Wissenschaftstheorie seit Duhem hat darauf aufmerksam gemacht, daß kein einziges naturwissenschaftliches Theorem Anspruch auf unbeliebige, von konventionellen Voraussetzungen unabhängige Geltung erheben kann. Tiefer führt die Kritik der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung durch immanent-logische Rekonstruktion in der (nicht sehr glücklich) ))strukturalistisch« genannten Schule von Sneed und Stegmüller. Es zeigt sich, daß schon in der klassischen Mechanik, erst recht in komplizierteren neueren Theorien der Physik, ))eine Bestimmung der Meßwerte nicht möglich ist, ohne die Gültigkeit der Theorie bereits vorauszusetzen«4. Um diesem Zirkel, der nicht nur die Bestätigung der Theorie, sondern auch die Definition solcher Grundbegriffe wie von Kraft und Masse betrifft, zu entgehen, muß der Theorie der Charakter eines geordneten Haufens von Behauptungen genommen werden; sie entpuppt sich als Formalismus, der nur noch als zweckmäßiges Hilfsmittel zur Ableitung zirkelfrei formulierbarer und kontrollierbarer Behauptungen dient, die bei der Anwendung durch Elimination theoretischer Begriffe aus dem Formalismus hervorgehen. Von einem ))Qaturwissenschaftlichen Weltbild« kann man dann nicht mehr sprechen. Offenbar ist die Abstraktionsbasis zu schmal gewählt gewesen, um ohne Hilfsbegriffe, die von dieser Basis aus nicht mehr aus der unbefangenen Lebenserfahrung geschöpft werden können, zu den gewünschten ergiebigen Resultaten zu gelangen. An 4 Wolfgang SIegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. TI: Theorie und Erfahrung, 3. Teilband: Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973, Berlin U.8. 1986, S. 33.

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eine praktische Grenze im Umgang der Menschen mit einander stößt die rationalistische Vergegenständlichung durch reduktionistische Spaltung der Situationen heute z. B. beim Zusammentreffen von Arzt und Patient. Der Patient spricht ohne solche Vergegenständlichung von Eindrücken, von Atmosphären, von Störungen in seinem leiblichen Befmden auf Grund seines affektiven Betroffenseins, aber ohne adäquate Sprache, weil eine solche von der reduktionistisch abgelenkten Begriffsbildung nicht vorbereitet worden ist; der Arzt achtet auf die für naturwissenschaftliche Methoden nutzbaren Daten, und beide reden an einander vorbei. Es bleibt trotz der Potenz der modemen Medizin als angewandter Naturwissenschaft ein Spalt von Hilflosigkeit, den man gern durch die Forderung zu füllen trachtet, der Arzt solle den ganzen Menschen sehen. Als ob das bei kurzer Bekanntschaft so glatt möglich wäre! Was man statt dessen wünschen dürfte, wäre die Aktivierung des Vermögens, Eindrücke unreduziert unbeirrt durch das Ideal der Quantifizierung - aufzufassen und intelligent zu verarbeiten. Dazu gehört die Ausbildung einer angemessen rechenschaftsfähigen Sprache, für deren Stützung und Bildung ich mit der Methode empirisch ernüchterter Phänomenologie ein konsistentes und geschmeidiges Begriffsnetz über die Tiefenschicht des unwillkürlichen Betroffenseins breit ausgelegt habe. Wenn damit das Begreifen zu den Eindrücken und Atmosphären zurückgeführt wird, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf den schon angekündigten Gegentyp der europäischen kulturspezifischen Vergegenständlichung zu werfen, nämlich auf den chinesischen. Auch die Chinesen denken - nach den Maßstäben ihrer klassischen Kultur - abstrakt, aber nicht reduktionistisch. Sie zersetzen die Eindrücke nicht durch Auszeichnung weniger Klassen von Merkmalen, die bequem ablesbar, wieder auffmdbar und planmäßig variierbar sind, sondern heben typische Eindrücke unversehrt heraus und fixieren diese durch standardisierende Einübung und wechselseitige Abstützung. Ein Beispiel ist die Pulsdiagnostik als wichtigstes Hilfsmittel der Erkennung von Krankheiten; da gibt es Frühlingspuls (wie eine Bogensehne), Sommerpuls (wie ein Haken), Herbstpuls wie ein Haar, Winterpuls wie ein Stein, und dann geht es los mit den Analogien: Sommerpuls bedeutet Herz, Süden, Feuer, gebogene Zweige, was sich nach unten krümmt usw. 5 Um uns die durch zunächst verblüffende Analogien fremdartige Natur einer solchen Begriffsbildung nahe zu bringen, stelle ich gern die Frage: Was ist das Übereinstimmende zwischen einem schmeichelnden Höfling und schmeichelnder Frühlingsluft? Dieses Schmei5 Friedrich Hühotter: Die chinesische Medizin m Beginn des XX. Jahrhunderts und ihr historischer Entwicklungsgang, Leipzig 1929, s. 2~ f.

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cheln ist ein vielsagender Eindruck, der sich bis zu einem gewissen Grad analysieren läßt, aber als ganze Situation aufgefaßt und eingeübt werden muß, um dann quer durch alle von trivialen Sinnesqualitäten abgesteckten Wahrnehmungsfelder wiedergefunden zu werden. Wenn das gelingt, ist solches Denken nicht mehr ein Analogisieren, sondern ein Subsumieren wie das unsere, nur auf einer anderen Abstraktionsbasis. Die dabei verwendeten Eindrücke sind gleichsam durch Trocknung zu fIXen Standards (wie getrocknete Pflanzen im Herbarium) abstrakt, nicht durch Reduktion auf Merkmale. Einen durchgeformten Kalkül auf dieser Basis bietet das altchinesische Schicksalsbuch (I Ging). In der europäischen Kultur war eine solche Denkweise über lange Zeit - mit Ausläufern bis in die romantische Naturphilosophie und Medizin - eine mächtige und fast ebenbürtige Unterströmung des dominanten Rationalismus; sie beherrscht die Begriffsbildung der Humoralpathologie, Astrologie, Alchemie und der paracelsischen Medizin (hier mit drei Standard-EindIücken: Salz, Schwefel und Quecksilber, wobei nicht an die chemischen Stoffe zu denken ist); sie beherrscht ebenso die bei Paracelsus gipfelnde Therapie auf Grund der signaturae rerum. 6 Diese alten Denkweisen sind vergangen, und es wäre kaum sinnvoll, sie wieder beleben zu wollen. Näher steht uns ein Zugang des Denkens zum Begreifen, der besonders seit dem späten 19. Jahrhundert als Reaktion gegen den Triumph des naturwissenschaftlichen Reduktionismus über die Romantik hervorgeholt worden ist das Verstehen, dem seither die vielfältigen und vieldeutigen Bemühungen der sogenannten Hermeneutik zugewandt werden. Es war ein Mißgriff, dabei zuerst an die Philologen zu denken und das Verstehen am wissenschaftlichen Umgang mit Texten zu eichen. Verstehen ist eigentlich intelligenter Umgang mit Eindrücken. Es gibt eine analytische Intelligenz, die sich in der leichten Explikation einzelner Sachverhalte aus Situationen und der geschickten Kombination dieser Sachverhalte bewährt, und eine verstehende Intelligenz, die die Explikation nur nützt, um den vielsagenden ersten Eindruck und die folgenden Eindrücke über Überraschungen, Verschiebungen und Bereicherungen hinweg flexibel anzupassen, bis ein verläßlich sich bewährender, aber immer noch revisionsfahiger Eindruck bleibt, durch den das Vorverständnis zum Verstehen wird. Solches Verstehen ist unentbehrlich in der Menschenführung aller Art, darunter der wünschenswerten Stellung des Arztes zu seinen Patienten, wovon ich vorhin gesprochen habe. Der gegenwärtigen Psychologie ist es nicht bekommen, daß sie das Verstehen über dem Einsatz quantifizie6 Zur Signaturenlehre vgl. kurz Pe/er Morys: Medizin und Pharmazie in der Kosmologie Leonard Thumeissers zum Thum (1531·1596), Husum 1982, S. 81-83.

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render Methoden des Reduktionismus vergessen hat. Der Geisteswissenschaftler benötigt solches Verstehen, um den Problemhorizont der Menschen und Menschengruppen, deren Werke ihn beschäftigen, zu erschließen, d. h. die Situation, in deren chaotisch-mannigfaltigem Hintergrund von Sachverhalten, Programmen und Problemen er eine Antwort auf die Fragen finden kann, warum diese Menschen gerade so etwas erstrebt, geleistet oder vermieden haben. Die Unfähigkeit, sich den angemessenen Problemhorizont zugänglich zu machen, ist das, was alte Menschen meinen, wenn sie sagen, daß sie die Jugend von heute nicht mehr verstehen können. Die kulturspezifische Vergegenständlichung des europäischen Rationalismus steht heute an einem Wendepunkt. Die Zersetzung der Situationen des faktischen Lebens, die Abdrängung des Restes der Reduktion in die sentimentale Privatheit des bloß Subjektiven und Beschränkung des Objektivierens auf abgeschliffene Präparate sind nicht mehr haltbar. Die recht verstandene Naturwissenschaft bietet uns so wenig wie die Metaphysik eine wohlbegründete Anleitung zur Weltanschauung, sondern nur Formalismen für vielfältige theoretische oder praktische Anwendungen von jeweils begrenztem Radius. Eine nüchterne, aber breit und zusammenhängend angelegte Phänomenologie, die die Objektivationen in allen Richtungen des Lebens auf den Hintergrund des unwillkürlichen Betroffenseins zurückführt und damit die Tiefen der Höhle des platonischen Gleichnisses gleichsam mit der Taschenlampe zu beleuchten sucht, ist jetzt nötiger als je, in einer Zeit, wo das Denken zu einer esoterischen Kunst raffiniert rechnender Spezialisten zu werden droht und die Tatsachen der Lebenserfahrung, die man bei genauer Besinnung entdeckt und dann nicht mehr wegdisputieren kann, in einem Gestrüpp von Hypothesen und Methoden versteckt werden. Das bedeutet aber keineswegs, daß Phänomenologie und exakt quantifizierende Naturwissenschaft sich im Wege stünden. Einen solchen Anta gonismus zu unterstellen, war der Irrtum in Goethes Polemik gegen Newton. Das Graben nach den Wurzeln in der Lebenserfahrung und das Aufsteigen der Bäume hypothetischer Konstruktionen können sich ergänzen, so wie die Pflanze selbst nach beiden Richtungen wächst. So sagte mir ein bedeutender Naturforscher vor Jahren: »Das ist doch gut. wenn wir eine vernünftige Phänomenologie bekommen; dann wissen wir Physiologen endlich, was wir für Fragen stellen sollen.«

Zukunftshoffnungen trotz Zukunftsängsten Von Wolfgang Deppert

1. Einführung

Das Thema ist so alt wie Menschen den Begriff einer Zukunft kennen, in der die Vergangenheit nicht wiederkehrt. Denn der Begriff Zukunftsangst geht von der Vorstellung einer ungewissen Zukunft aus, in der Gefahren lauem können, auf die eine Vorbereitung unmöglich ist, solange die Zukunft ungewiß oder sogar unbekannt bleibt. Wie aber können Menschen begründet hoffen, alle Gefahren, wie sie auch kommen mögen, zu meistem, wenn sie nichts Sicheres über die Zukunft aussagen können? Wie sind Zukunftshoffnungen möglich? Dies ist die uralte Frage, von der die religiösen, die philosophischen und die wissenschaftsbegründenden Systeme aller Zeiten gelebt haben und bis heute leben. Wenn man eine Frage beantworten möchte, dann ist es stets günstig herauszufinden, warum diese Frage überhaupt aufgekommen ist; denn vor dem Hintergrund der Frage kann der Horizont erkennbar werden, innerhalb dessen die mögliche Antwort zu finden ist. Nun sind Zukunftshoffnungen gewiß das Gegenteil von Zukunftsängsten, und wie bereits erwähnt, ist der Begriff der Zukunftsangst erst vor dem Hintergrund einer Zeitvorstellung möglich, nach der die Vergangenheit nicht wiederkehrt und dadurch die Zukunft gänzlich unbestimmt ist. Dieses Zeitbewußtsein eines offenen oder - wie man auch sagt irreversiblen Zeitflusses, der uns in eine unbekannte Zukunft hineinträgt, haben die Menschen nicht immer gehabt. Die Frage nach den begründeten Zukunftshoffnungen konnte also erst aufkommen, als in den Menschen das Zeitbewußtsein von der unwiederbringlichen Vergangenheit und der unbestimmten Zukunft entstanden war. Beschäftigen wir uns also erst einmal mit den Ursprüngen unseres Zeitbewußtseins.

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2. Mythische Ursprünge unseres Zeitbewußtseins Es ist die Zeit des Mythos, von der wir zwar aus prinzipiellen Gründen nur wenig wissen können, in der die Menschen allem Anschein nach unseren abstrakten Zeitbegriff noch nicht kannten. Das ganzheitliche Weltverständnis der mythischen Menschen läßt allenfalls den Begriff von Zeitgestalten 1 zu, die sich immer wieder in gleicher Weise wiederholen, so wie der ewig gleiche Wechsel von Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten oder der von Geburt und Tod. Da nach mythischer Weltauffassung alles Geschehen durch die Götter und ihr Tätigsein bewirkt wird, sind auch die mythischen Zeitgestalten Göttergeschichten, die sich in ewig gleicher Weise wiederholen. Das Göttergeschehen stellt sich in Kombinationen einer Fülle von verschiedenen Zeitgestalten dar und zwar nicht nur in denjenigen, von denen wir heute meinen, daß sie wie Tag und Nacht oder wie die Mondphasen in strikter Gleichmäßigkeit ablaufen, nein, auch das unregelmäßige Auftreten von Kummer und Schmerz, von Liebe, Kampf und Schrecken oder Geburt und Tod sind Göuertaten, die sich in stets gleicher Weise in Zeitgestalten entfalten. In einer solchen Weltauffassung konnten höchstens die Kombinationen dieser Zeitgestalten neu sein, die durch den Umgang der Götter miteinander bedingt waren. Darum wurden die Orakel befragt, um den Willen der Götter zu erfahren. Etwas vollständig Neues aber konnte sich nicht ereignen: was geschah, war unendlich oft schon einmal geschehen und würde sich unendlich oft wiederholen. Die Zukunft und die Vergangenheit umfassen darum im Mythos immer die gleichen Ereignisse, nur in verschiedenen Kombinationen. Zukunft und Vergangenheit sind im Mythos nicht voneinander getrennt; denn sie umfassen die gleichen Ereignismengen. Zukunftsängste, wie wir sie heute kennen, und entsprechende Zukunftshoffnungen, die wir uns heute zu stärken suchen, konnte es demnach im Mythos gar nicht geben. Damit ist freilich nicht gemeint, daß sich die mythischen Menschen nicht vor Strafen, Schmerzen oder vor dem Hunger fürchteten. Furcht vor etwas bereits Bekanntem ist aber etwas ganz anderes als Angst vor etwas Unwägbarem.

1 Den Begriff 'Zeitgestalt' hat Kurt Hiibner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S.l42, in Anlehnung an Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das Mythische Denken, Darmstadt 1953, S. 133 (zuerst 1923) eingeführt.

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Warum, um alles in der Welt, haben die Menschen die mythische Weltauffassung aufgegeben? Scheint uns heute nicht die mythische Lebensart mit einer wahrhaft parndiesischen Geborgenheit verbunden zu sein? Tatsächlich können wir im Rahmen der neuesten Mythosforschung den biblischen Sündenfallmythos der Vertreibung aus dem Paradies als eine noch in mythischer Form gefaßte Erzählung vom Zerfall des Mythos auffassen. Im alten Ägypten wurde die Zeitgestalt des lahreskreises als eine sich in den Schwanz beißende Schlangengottheit verstanden. Davon gibt es vielfältige noch erhaltene Darstellungen. Wenn gerade die Schlange Eva beschwatzt, vom Baum der Erkenntnis zu essen - was nur möglich ist, wenn sie sich nicht mehr in den Schwanz beißt - , so zeigt dieses Bild an, daß die zyklische Zeit in die offene Zeit aufgebrochen ist Damit wird zugleich die Erkenntnis von Gut und Böse notwendig, d.h. zu wissen, welche Handlungen in der Zukunft lebenserhaltende und welche Handlungen lebensfeindliche Folgen haben werden. In mythischer Zeit galt es als größte Sünde, die Welt anders als in der von den Göttern durch ewige Zeitgestalten vorgegebenen Form zu betrachten. Darum beging man zum Beginn der regelmäßig wiederkehrenden Zeitgestalten, wie etwa der des lahreskreislaufes, heilige Reinigungszeremonien, damit das zyklische Geschehen jungfräulich neu beginnen konnte, wobei das Chaos als der ursprüngliche Zustand angesehen wurde. Das Wasser, der Alkohol und die Nacht entstammen dem Chaotischen, und sie waren darum wesentliche Elemente der Neujahrsfeierlichkeiten, in denen sich der Mensch verantwortlich dafür fühlte, daß sich die göttlichen Zeitgestalten immer wieder in gleicher Weise ereignen konnten. In den Faschingsbräuchen ist noch einiges von jenen chaotisierenden mythischen Neujahrsriten erhalten. Im Sündenfallmythos wird die größte Sünde dargestellt, die für mythische Menschen denkbar war, indem zukünftige Ereignisse möglich werden, die nicht mehr als die ewig gleichen Handlungen von Göttern zu verstehen sind. Diese Bedeutung von Sünde hat aber nichts zu tun mit der bis heute üblichen neutestamentarischen Um deutung der Erbsünde. In der Deutung des zerfallenden Mythos bedeutet sie, daß die Menschen mit einem Zeitbewußtsein geschlagen sind, in dem sie die Zukunft als grundsätzlich verschieden von der Vergangenheit ansehen müssen. Da die Vergangenheit danach nie wiederkehren kann, sind uns allenfalls die vergangenen Ereignisse bekannt, nicht aber die zukünftigen.

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3. Das nacbmytbiscbe Orientierungsproblem Warwn die Geborgenheit des zyklischen Zeitbewußtseins verlorengegangen ist, läßt sich grundsätzlich nicht erklären, weil wir selbst das mythische Zeitbewußtsein nicht mehr besitzen. Hätten wir es aber, dann verfügten wir nicht über den Erkenntnisbegriff, mit dem wir eine Erklärung für den Zerfall des Mythos suchen wollten. Wir können also den Mythos nur als Zaungäste von außen betrachten und müssen seinen Zerfall als schlichtes Faktum hinnehmen. Im antiken Griechenland hat dieser Zerfall mit der homerischen Zeit etwa um das Jahr 800 begonnen. Wie haben sich die Menschen mit der neuen Situation nach dem Zerfall des Mythos zurechtgefunden? Wie haben sie sich orientiert, um ihre Handlungen zu begründen? Wie sind sie der mit Notwendigkeit auftretenden Zukunftsangst begegnet? Die beiden wichtigsten Lösungswege zur Bewältigug des Orientierungsproblems, die die Situation der Menschen bis in unsere Gegenwart hinein bestimmen, haben sich im antiken Griechenland und im antiken Israel herausgebildet2: 1. In Griechenland: Der Weg des Vertrauens auf die dem Menschen eigene Vernunft 2. In Israel: Der Weg des Vertrauens auf die göttliche Offenbarung. Wir wollen diese beiden Wege ein wenig verfolgen. Sie übernehmen beide Elemente des Mythischen, nur auf ganz verschiedene Weise, wobei es durchaus möglich ist, daß diese Unterschiede bereits in der Verschiedenheit des altgriechischen und des altisraelitischen Mythos angelegt sind. 4. Der a1tisraelitiscbe Orientierungsweg Die Propheten Israels haben wir uns als Menschen vorzustellen, die durchaus noch dem mythischen Denken verhaftet sind, indem sie als Urheber eines Geschehens einen Gott erblickten, und dies galt ja im Mythos ganz allgemein für die Vorgänge außerhalb und innerhalb des Menschen. Auch das Denken wurde als die Tat eines Gottes, ja als seine Worte selbst aufgefaßt Die Vorstel2 Vgl. dazu Wolfga"g Deppert: Zeit. Die Begründung des Zeitbegriffes, seine notwendige Spaltung und der ganzheitliche Charakter seiner Teile, Stuugart 1989, und ders.: Systematische philosophische Überlegungen zur heutigen und mkünftigen Bedeutung der Unitarier, in: ders. et al. (Hrsg.), Der Einfluß der Unitarier auf die europäisch-arnerikanische Geistesgeschichte, Frankfurt a. M. 1990.

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lung des Denkens als einer eigenen Leistung des Menschen gab es noch nicht Die Propheten Israels verstanden also ihre gedanklichen Einfälle ganz im mythischen Sinne als Worte ihres Stammesgottes. Obwohl innerlich wahrgenommen, wurden sie doch als von außen kommend begriffen. Sie wurden aufgeschrieben, damit auch andere diese Gottesworte hören konnten. Das ganze Alte Testament beruht auf diesem Prinzip. Die Zukunftsangst soll überwunden werden durch die Hoffnung auf die Verläßlichkeit von Gottes Wort und den damit verbundenen Anordnungen für das Verhalten bzw. den Androhungen für das Fehlverhalten. Die Prophetenworte waren also weniger Prophezeihungen als Handlungsanweisungen, um in jeder unerwarteten Situation bestehen zu können. Die neuere theologische Forschung weist deutlich nach, daß die Prophezeihungen, die über Androhungen hinausgehen, später erfolgte Umdeutungen der Schriftgelehrten sind. Das Verständnis der eigenen Einfalle als Gottes Worte gehört bei den altisraelitischen Propheten noch ganz dem mythischen Weltverständnis an, nicht aber die Idee, daß man diese Worte aufschreiben müsse. Denn dies verrät bereits eine Angst, daß diese bestimmte göttliche Offenbarung vielleicht etwas Einmaliges war und deshalb erhalten werden muß. Diese Angst kann aber nur bei Menschen mit einem offenen Zeitbewußtsein auftreten, die nicht mehr daran glauben, daß die Vergangenheit wiederkehrt. 5. Der altgriechische Orientierungsweg In Griechenland waren es nicht die Propheten, sondern die Philosophen, die den größten Einfluß gewannen, auch wenn Sokrates dafür den Giftbecher trinken mußte. Aber warum trank er ihn, obwohl er hätte fliehen können? Warum war er davon überzeugt, daß es in seiner Lage für ihn das beste sei, sogar freiwillig den Tod auf sich zu nehmen? Die Gewißheit dafür gewann er aus seinem eigenen Denken. Den göttlichen Eingriff brauchte er nur in Form seines Daimonions, das ihn warnte, wenn er mit seinem eigenen Denken auf Abwege geriet Das Vertrauen auf die Verläßlichkeit des eigenen Denkens ist hier das Kennzeichen des philosophischen Ansatzes zur Überwindung der Zukunftsangst vor und nach Sokrates. Die Begründung für diese Verläßlichkeit aber, die durchaus von Philosoph zu Philosoph verschieden ist, enthält durchweg mythische Elemente. So glaubt Platon an eine ewige Ideenwelt, die das wahre Sein und das ewig gleiche Urbild unserer Erscheinungswelt darstelle. Diese Ideenwelt ist durchaus ganz analog zur mythischen Götterwelt mit ihren Zeitge-

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stalten zu sehen. Das Entsprechende fmdet sich in AristoteIes' Vorstellung von den reinen Fonnen seines Gottes als eines unbewegten Bewegers, nach denen die ganze Welt in hierarchischer Weise gestaltet ist Und da Platon und AristoteIes die Urväter der Philosophie sind, ist es nicht schwer, diese mythischen Formen auch bei den Philosophen der Neuzeit nachzuweisen, die sich bei rationalistischen, empiristischen und operativistischen Philosophen insgesamt mit dem Stichwort Vernunjtglauben zusammenfassen lassen. Die griechischen Philosophen - und nahezu alle späteren auch - versuchen also über die Vernunft einen Einblick in die Verfassung der Welt zu gewinnen, um sich so einen Überblick über die möglichen Ereignisse in der Zukunft zu verschaffen. Und über den Glauben, daß die Stellung der Sterne direkt mit dem Leben auf der Erde verbunden ist, versuchte man, sogar über die Konstruktion von drehbaren Planetarien, den künftigen Stand der Sterne und mithin direkt die Zukunft vorherzusehen. 6. Beziehungen zwischen dem israelitischen und dem griechischen Orientierungsweg Wenn nun der einzelne Mensch seine Orientierungsproblematik entweder durch den israelitischen Offenbarungsglauben oder durch den philosophischen Vernunftglauben lösen konnte, so fragt sich nun, wie in diesen beiden Arten der Begründung von Zukunftshoffnungen die Zukunft der Menschheit überhaupt vorgestellt wird. Im Offenbarungsglauben richten sich alle Zukunftserwartungen, -hoffnungen und -ängste auf die Endzeit, in der für die Gottesfürchtigen der paradiesische Zustand wieder hergestellt werden soll. Hier liegt auch die Begründung für die Einhaltung der göttlichen Gebote, die von den Propheten übennittelt wurden, da die Nichteinhaltung die Gefahr bewirkt, von Gott aus der Geschichte enÜemt und im christlichen Fall mit der ewigen Verdammnis bestraft zu werden. Die Zukunftshoffnungen der ganzen Menschheit können sich im Rahmen der israelitischen Offenbarungsreligion demnach nur auf das peinlich genaue Befolgen der von außen mitgeteilten göttlichen Verhaltensregeln und auf die Ankunft bzw. Wiederkunft des Messias richten. Das Ziel der Geschichte ist hier mythisch bestimmt: das Ende der offenen Zeit, die Wiedereinkehr in die zyklische Zeit des Mythos, die Aufhebung der Erbsünde durch die Wiederherstellung der Ewigkeit göttlicher Zeitgestalten. Im Gegensatz zum israelitischen Denken haben die griechischen Philosophen den mythischen Gedanken der grundsätzlich zyklischen Struktur der Welt

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nie aufgegeben. Schon früh entwickelten sie die Idee des Großen Jahres als eines gesamten Weltumlaufes, der durch den gleichen Stand der Planeten gekennzeichnet sei. Dieser Idee folgte auch Platon, und Aristoteies konstruierte daraus seine Theorie der zyklischen Abfolge der Staatsformen. In dem Glauben an die grundsätzlich zyklische Verfaßtheit der Welt haben sich also die Griechen noch einen Rest an mythischer Geborgenheit erhalten, so daß bei ihnen für einen Fortschrittsglauben eigentlich kein Bedarf bestand, wenn die Griechen nicht einen Erkenntnisbegriff entwickelt hätten, der die Möglichkeit der späteren Idee vom Erkenntnisfortschritt einschloß. Dieser Erkenntnisbegriff ist bis heute der der wissenschaftlichen Erkenntnis. Er besteht darin, daß eine Erkenntnis den gelungenen Versuch kennzeichnet, etwas Einzelnes in etwas Allgemeines einzuordnen. Etwa wenn wir feststellen: unsere Erde ist ein Planet, oder: die Planeten gehören zu unserem Sonnensystem, oder: unser Sonnensystem gehört zu unserer Milchstraße u. s. f. Daran erkennt man, daß die Bedeutung von etwas Einzelnem und etwas Allgemeinem nur relativ bestimmt ist, nämlich jeweils für die besondere Zuordnung, die jedes Mal eine Erkenntnis darstellt. Der Erkenntnisbegriff ist so aufgebaut, daß sich Erkenntnis nur abschließen läßt, wenn man festsetzt, daß es etwas letztes Einzelnes gibt, daß selbst nicht wieder als etwas Allgemeines aufgefaßt werden kann, und daß es etwas Allgemeinstes gibt, das selbst nicht wieder etwas Einzelnes ist Diese Begrenzung des Erkenntnisbegriffes wurde im antiken Griechenland durchaus gedacht, so war bei Aristoteies das Allgemeinste gegeben mit den reinen Formen des Unbewegten Bewegers, und das erste Einzelne war jedes einzeln Existierende, auf das sich einzeln hinweisen ließ. Wie sich das griechische erkenntnistheoretische Denken mit dem israelitischen Denken der jedenfalls bis zur Endzeit irreversiblen Zeitstruktur im mittelalterlichen Christensturn mischte, so daß das neuzeitliche naturwissenschaftliche Zeitalter daraus entstand, das ist eine lange, aufregende und entbehrungsreiche Geschichte, die hier nicht erzählt werden kann. Im folgenden fasse ich das Ergebnis dieses langen historischen Prozesses zusammen. 7. Der neuzeitliche Orientierungsweg Die Welt wird heute betrachtet als ein dynamisches System von energietragenden Feldern verschiedener Teilchensorten, die in ihrem Verhalten Naturgesetzen folgen. Dabei wird eine Entwicklung ausgehend von einem ungeheuer energiedichten Anfang - dem sogenannten Urknall - angenommen, in der

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die symmetrischen Teilchen-Antiteilchen-Verteilungen durch Zerstrahlung den Wärmetod der sogenannten Hintergrundstrahlung erlitten und die asymmetrischen Anteile immer mehr Materieformen bis hin zur Evolution des Lebens auf der Erde herausgebildet haben. Alles Leben ist also aus jenen Teilchenfeldem aufgebaut und mithin aus ihnen erklärbar. Dies ist das modeme Bild des - wie man sagt - sich selbstorganisierenden Kosmos, ein Bild, mit dem sich vermutlich viele Menschen mit naturwissenschaftlicher Bildung anfreunden können, gibt es doch darin weder einen Schöpfer noch einen zürnenden, strafenden oder liebenden Gott. Es hat nur zwei Schönheitsfehler: erstens können wir es zu fast nichts gebrauchen und zweitens ist es im Sinne einer absoluten Wahrheit sicher falsch. 8. Die Orientierungsproblematik der Neuzeit Der Zweck solcher wissenschaftlichen Weltbilder war ja ursprünglich der, daß man mit ihrer Hilfe die ungewisse Zukunft durch Voraussagen gewiß machen wollte, d. h., es sollte auf wissenschaftliche Weise das Problem der ungewissen Zukunft, wie es durch den Zerfall des Mythos entstanden war, gelöst werden, und wenn es je gelänge, dieses Ziel zu erreichen, dann wären die Naturgesetze jenen mythischen Zeitgestalten vergleichbar, die dafür sorgen, daß es nichts prinzipiell Neues geben könnte, das nicht durch die Naturgesetze erklärbar wäre. Aber wir sind so weit wie je von diesem Ziel entfernt, obwohl es noch immer Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker gibt, die an die stetige Wahrheitsannäherung glauben. Wir können zwar sehr genau Mond- und Sonnenfinsternisse berechnen, aber wir sind nicht in der Lage, größere Atome, Moleküle oder gar Riesenmoleküle in ihrem Verhalten vorherzubestimmen, so daß Vorausberechnungen auch von den einfachsten Lebewesen vollkommen ausgeschlossen sind. Es leben in unserer Gegenwart mehr Wissenschaftler als es zusammengenommen insgesamt jemals gegeben hat. Die wissenschaftlichen Ereignisse werden gedruckt und gedruckt, über unsere Universitätsbibliotheken brechen nicht mehr zu bändigende Papierstunnfluten herein, und dennoch ist das allermeiste von diesen mühsam erworbenen Erkenntnissen schon deshalb wertlos, weil kein Wissenschaftler die Zeit hat, auch nur Bruchteile von dem zu lesen, was für seine Arbeit wichtig sein könnte. Gewiß wurde noch nie soviel Wissen produziert, aber noch nie ist so viel wertloses Wissen gespeichert worden. Und über all dieser Erkenntnissuche wird unsere Zukunft immer ungewisser und in gleicher Weise wachsen die Zukunftsängste.

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Das genannte wissenschaftliche Weltbild sagt über den Menschen und seine Situation nichts aus. Wie läßt sich da noch von Zukunftshoffnungen reden, wo wir längst in die paradoxe Situation hineingeraten sind, daß die menschliche Fähigkeit zum Erkenntnisgewinn (die Fähigkeit zu ordnen, nämlich Einzelnes in Allgemeines einzuordnen) ein unüberschaubares Erkenntnischaos angerichtet hat? Was läuft hier falsch? Ich sagte oben, daß in unserem aus dem antiken Griechenland stammenden Erkenntnisbegriff ein Motor für den Erkenntnisfortschritt verborgen liegt, und deutete bereits an, daß dieser Motor durch die, wie ich es nenne, Relativierungsbewegung in Gang gebracht wird, in der einerseits immer größere Verallgemeinerungen und andererseits immer weitere Vereinzelungen gesucht werden, eine nach beiden Seiten offene Hierarchisierung. So haben einst die Chemiker geglaubt, in den Atomen die kleinsten Teilchen, aus denen die ganze Welt zusammengesetzt ist, gefunden zu haben. Dann zeigten ihnen die Physiker, daß diese Atome jedenfalls aus einem Kern und einer Hülle bestehen, bis sie herausfanden, daß der Kern aus Protonen und Neutronen und die Hülle aus Elektronen besteht. Sollten diese drei Teilchen nun die letzten Bausteine der Materie sein? - Weit gefehlt! Es fanden sich sogenannte Pionen, Mesonen, Kaonen und Neutrinos, bis man von einem ganzen Zoo von Elementarteilchen sprach. Man versuchte, diese mit Hilfe von noch elementareren Elementarteilchen zusammenzusetzen, den sogenannten Quarks und den Gluonen, bis sich zeigte, daß es auch von diesen Quarks und Gluonen zig verschiedene Arten geben muß, und so weiter und so weiter ... Das absolut Kleinste wie das absolut Größte entzieht sich uns, je mehr wir danach suchen. Warum aber suchen wir es? Diese Frage führt auf die christliche Vorstellung des absoluten und gütigen Gottes zurück. Gott habe in seiner Güte die Welt so geschaffen, damit der Mensch sie erkennen könne, um sich so die Erde untertan zu machen. Die Erkennbarkeit der Welt von ihren Grundbausteinen her setzt aber voraus, daß es diese Grundbausteine auch gibt. Und weil dies einmal geglaubt wurde, darum suchen wir nach ihnen mit immer größeren Beschleunigungen. Und weil diese Einfachheitsannahme für die ganze Welt, also auch für die Lebewesen gelten soll, so wird in Biologie und Medizin mehr und mehr versucht, die Lebensvorgänge auf physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Das einzelne Lebewesen mit seinen Sorgen und Krankheiten kann dabei nur statistisch erfaßt werden.

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Das Einfachheitsprinzip führt also automatisch auf einen hierarchischen Weltaufbau, der mit einfachsten Formen beginnend zu immer komplexeren Formen aufsteigt Welche Fülle von Formen, die sich nicht einfach in eine Hierarchie einordnen lassen, gibt es da im Mythos, und welche Simpliftzierung der Weltbetrachtung ist offenbar mit der Vorstellung von dem einen irreversiblen Zeitfluß einhergegangen! Die ganze Welt im Gänsemarsch der einen Zeit! Könnte es nicht gerade diese Verarmung der Beschreibungsformen im herkömmlichen wissenschaftlichen Rahmen sein, der die Unmengen an nahezu wertlosen Erkenntnissen produziert? Man stelle sich vor, man sollte mit lauter geraden Linien einen Haufen runder Kieselsteine beschreiben: eine unendliche Aufgabe!

Die einseitigen Abhängigkeitsbeziehungen in hierarchischen Anordnungen aber sind wie gerade Linien. Und tatsächlich haben wir es doch im Lebendigen und sogar in der Physik überall mit Ganzheiten zu tun, die sich viel eher als runde Formen verstehen lassen, so wie im Beispiel die runden Kieselsteine. Versuchen wir also, Ganzheiten begrifflich zu fassen, ohne dabei auf hierarchische Formen zurückzugreifen! Dies müssen wir freilich erst in unserer begrifflichen Sprache leisten, um dann zu sehen, ob sich sprachliche ganzheitliche Konstruktionen auf unsere Wirklichkeit anwenden lassen. Das Grundelement wissenschaftlicher Methodik ist die Defmition. Aus der Forderung, daß in Defmitionen keine Zirkel vorkommen dürfen, bilden sich in allen defmitorischen Begriffssystemen Hierarchien aus, die dann auf die hierarchisch strukturierten Weltauffassungen angewandt werden. Lassen wir also das Verbot der Zirkeldefinitionen fallen! Wir kommen dann zu Begriffssystemen, die ich ganzheitlich nenne. Einfachste ganzheitliche Begriffssysteme stellen die sogenannten Begriffspaare dar, mit denen wir laufend in der Sprache umgehen, wie z. B. 'wahr - falsch', 'kalt - warm', 'links - rechts', 'Form Inhalt', 'positiv - negativ', 'männlich - weiblich', u. s. f. Will man einen Begriff eines Begriffspaares für sich allein deftnieren, so gerät man dabei stets in eine Zirkeldefmition hinein, bei der ich das Zudefmierende schon als bekannt voraussetzen muß. Wollte man z.B. Falschheit als das Gegenteil von Wahrheit bestimmen, dann muß man wissen, was 'Wahrheit' und was 'Gegenteil' bedeutet. Wahrheit aber müßte ich wiederum als das Gegenteil von Falschheit erklären, so daß die Deftnition von Falschheit schließlich lauten würde: Falschheit ist das Gegenteil

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vom Gegenteil von Falschheit. Ähnlich würde es mir ergehen, wenn ich den Begriff Gegenteil definieren wollte. Wir müssen also bei einem Begriffspaar beide Begriffe zugleich kennen: wir springen in das Verständnis eines Begriffspaares hinein, da wir es nicht schrittweise aufbauen können. Begriffspaare sind darum die kleinsten begrifflichen Formen von Ganzheiten. Dabei lassen sich Begriffspaare formal nur strukturell unterscheiden. Ich spreche etwa von symmetrischen oder asymmetrischen Begriffspaaren. So ist z. B. das schon genannte Paar 'wahr - falsch' asymmetrisch, was sich bei seiner doppelten Anwendung bemerken läßt. Wenn ich behaupte, daß es wahr ist, daß eine Aussage wahr ist, dann behaupte ich damit schlicht die Wahrheit dieser Aussage, wenn ich die gleiche Prozedur mit dem Begriff Falschheit vornehme, dann lande ich dabei nicht wieder bei der Falschheit, sondern bei der Wahrheit; denn wenn ich behaupte, daß es falsch ist, daß eine Aussage falsch sei, dann behaupte ich damit die Wahrheit dieser Aussage. Das Begriffspaar 'wahr - falsch' läßt sich also nicht symmetrisch anwenden. Anders ist dies bei dem Paar 'rechts - links'. Wenn etwas rechts von rechts ist, dann bleibt dies rechts, so wie etwas, das links von links liegt, ebenfalls links bleibt. Symmetrische Paare nenne ich polar, asymmetrische dual. Es lassen sich darüber hinaus weitere Strukturen von Begriffspaaren angeben, auf die ich hier aus Platzgründen aber nicht eingehen kann. Interessant ist nun, daß es durchaus höherelementige ganzheitliche Begriffssysteme in unserer Sprache gibt, z. B. Begriffstripel, wie 'vergangen - gegenwärtig - zukünftig' oder 'positiv - neutral - negativ' oder 'Ursache - Wirkung - Gesetz' u. s. f. Dies mag an dem Tripel 'Ursache - Wirkung - Gesetz' erklärt sein. Ursache ist, worauf eine Wirkung nach einem Gesetz folgt. Wirkung ist, was auf eine Ursache nach einem Gesetz folgt. Ein Gesetz ist, was eine Ursache mit einer Wirkung verbindet. Entsprechend fmden sich Begriffsquadrupel, -quintupel usw. Ferner lassen sich verschiedene Begriffspaare miteinander kombinieren, um daraus höherelementige ganzheitliche Begriffssysteme aufzubauen. Betrachten wir nun einen Organismus, dann stellt sich heraus, daß die Gesamtheit seiner Organbegriffe ein ganzheitliches Begriffssystem ist, wie etwa Lunge, Herz, Blutgefäße, Verdauungstrakt. Wenn man genau hinschaut, dann zeigt sich zwar, daß es sich dabei um hochkomplexe Strukturen ganzheitlicher Begriffssysteme handelt. Die Komplexität ist aber eine Komplexität einer Ganzheit und nicht eines Haufens von beziehungslosen Einzelteilen, wie es die physikalisierende Methode der Biologie oder Medizin bis heute unterstellt. 6 FS Görland

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Durch diesen Exkurs in die Theorie ganzheitlicher Begriffssysteme möchte ich eine Hoffnungsidee andeuten, wie sich eine Wissenschaft des Lebens entwickeln könnte, die von einer ganzheitlichen Weltbetrachtung ausgeht, in der nicht nur die ganze Welt ein Ganzes ist, sondern in der alles, was es darin gibt, Ganzheiten sind, und zwar Ganzheiten von Ganzheiten. So ist etwa jede Körperzelle eine Ganzheit für sich. Sie besitzt aber die Fähigkeit, in gegenseitige Abhängigkeit mit anderen Zellen zu treten, um dadurch die Ganzheit eines einzelnen Organes aufzubauen, und entsprechend bilden die Organe in gegenseitiger Abhängigkeit den ganzen Organismus aus. Wenn wir dieses Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit als ein ganzheitsstiftendes und damit Leben aufbauendes und erhaltendes Prinzip erkennen, so ist es uns selbst möglich, die wir organisch aus Ganzheiten von Ganzheiten bestehen, wiederum durch das gezielte Aufbauen von gegenseitigen Abhängigkeiten, größere Ganzheiten aufzubauen, in denen wir uns geborgen fühlen können. 3 Die Hoffnung, daß dieses Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit tatsächlich Geborgenheit in der Zukunft schafft und damit die Zukunftsängste zunichte macht, können wir aus der Natur entnehmen, die aus einer Fülle von symbiotischen Systemen besteht Symbiosen aber bilden sich ursprünglich stets aus parasitärem Verhalten, indem ein Parasit einen einseitigen Vorteil aus dem Zusammenleben mit seinem Wirtslebewesen zieht Dieses parasitäre System einseitiger Abhängigkeit droht aber unterzugehen, wenn das Wirtslebewesen nicht stark genug ist. Wenn jedoch durch irgend einen geänderten Umstand das Wirtslebewesen seinerseits einen Vorteil von dem bisherigen Parasiten ziehen kann, der den Schaden mehr als wett macht, dann haben wir mit einemmal die Rückkopplung, die aus der 3 Alice Schwarzer benutzt in ihrem neuen Buch ebenfalls die Begriffe 'symbiotisch' und 'gegenseitige Abhängigkeit'. Sie beschreibt eine Abhängigkeit von Partnern, die in ihrer Darstellung notwendig zu deren Untergang führt. Dies scheint im Gegensatz zu der hier vertretenen These zu stehen, daß symbiotische Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit mehr Lebenssicherheit und Geborgenheit vennitteln. Alice Schwarzer beschreibt in ihrer Analyse der Beziehungen zwischen Petra Kelly und Gert Bastian jedoch keine Beziehungsfonn der Gegenseitigkeit, sondern lediglich zwei verschiedene Fonnen extrem einseitiger Abhängigkeit, die zu immer strengeren hierarchischen Abhängigkeiten führen. Dadurch vernichtet einer den anderen in einer bestimmten aber für sie bzw. für ihn verschiedenen lebenswichtigen Hinsicht, was freilich rnit dem Begriff der Symbiose nichts zu tun hat und ebenso nichts mit dem hier geprägten Begriff der gegenseitigen AbhängigkeiL Zu einer symbiotischen Fonn gegenseitiger Abhängigkeit kommt es erst, wenn mögliche Schädigungen durch die Vorteile der Gegenseitigkeit wieder weU gemacht werden. Dazu ist es aber nach Schwarzers Darstellung in der Beziehung zwischen Kelly und Bastian nur ansatzweise, aber nicht nachhaltig gekommen. - Vgl. Alke Schwarzer: Eine tödliche Liebe - Petra Kelly und Gert Bastian, Köln 1993.

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einseitigen eine gegenseitige Abhängigkeit und damit eine neue lebensfahige Ganzheit, eine Symbiose, schafft Wir Menschen müssen nicht auf den Zufall warten, der unser parasitäres Verhalten in eine Symbiose verwandelt, sondern wir können die Zustände gegenseitiger Abhängigkeit bewußt ansteuern. Etwa im Umgang mit der Natur, im Umgang mit unseren Partnern, im Umgang der Völker untereinander, aber auch im Umgang der Firmen miteinander. Überall, wo ich mich in einseitiger Abhängigkeit befinde, sollte ich also um des eigenen und des anderen Leben willen versuchen, daraus eine Gegenseitigkeit zu machen. Daß wir selbst diese Fähigkeit besitzen, größere Ganzheiten bewußt aufzubauen, ist eine religiöse Überzeugung, die uns zu Mitschöpfern und damit Mitverantwortlichen an der Welt macht. Ich glaube daran, daß jedem von uns diese zusammenhangs-, ja ganzheitsstiftende göttliche Fähigkeit innewohnt, aus der jeder einzelne seine ihm eigene religiöse Offenbarung für seine Lebensgestaltung gewinnen kann. Vom Mythos haben wir dabei die Vorstellung von der Geborgenheit durch Ganzheiten, vom israelitischen Denken die Einsicht, daß sich in unserem Denken etwas offenbart, das über uns hinausragt und vom griechischen Denken, daß wir die Gewißheit haben können, daß uns unser eigenes Denken zur Selbstverantwortung befahigt Dieses Zusammenspiel der verschiedensten geschichtlichen Strömungen, durch die ich geworden bin, bringt mich dazu, auch in unserer manchmal so zukunftsdunklen Zeit Zukunftshoffnungen trotz allen Zukunftsängsten zu hegen. Daß sie immer wieder auftreten, ist durch den Zerfall des Mythos verständlich. Die Art und Weise, wie mit diesen Zukunftsängsten in der Vergangenheit umgegangen worden ist, hat uns in eine Situation gebracht, in der aufgrund der zunehmenden Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen die Zukunftsängste ins Unermeßliche anzuwachsen drohen. Die Analyse der beiden antiken Lösungswege von Zukunftsängsten ergab, daß dadurch hierarchische Formen von Abhängigkeitsverhältnissen entstanden, die die Ausbeutung der Natur und die Unterdrückung von Menschen durch Menschen bewirkten. An einfachen Beispielen suchte ich zu zeigen, daß die Formen gegenseitiger Abhängigkeit stabile Formen hervorbringen, die wir als ganzheitliche Formen charakterisieren können. Wenn ich den griechischen Weg als den des Vertrauens auf die menschliche Vernunft darstelle und den israelitisch-christlichen Weg als den des Vertrauens

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auf die göttliche Offenbarung, so scheint mir heute ein Weg der Zukunftshoffnung gangbar zu sein, auf dem die Vernunft und die Erlebnisfähigkeit des Menschen zu einer höheren Ganzheit verschmelzen. Bilden wir unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu erleben, weiter aus und setzen wir dafür unsere Vernunft ein, um ganzheitliche Formen des Zusammenlebens zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur anzustreben, zu verwirklichen und zu erhalten! Dann begreifen wir uns als Teil eines symbiotischen Ganzen und werden mehr und mehr unser parasitäres Verhalten aus besserer Einsicht einstellen. Gewiß werden wir weiterhin der Meinung sein, daß die Vergangenheit nicht wiederkehrt, und Zukunftsängste werden darum auch künftig unvermeidbar sein. Aber durch den Aufbau und den Erhalt von ganzheitlichen Formen gegenseitiger Abhängigkeit können wir ein zyklisches Element in die offene Zeit hineintragen, die uns mehr Geborgenheit in unserer Welt erleben läßt. Ich denke, daß sich diese Auffassung in der Bundesrepublik und auch weltweit bereits durchzusetzen beginnt. Dafür mögen die Zunahme von kooperativen Arbeitsformen in Wirtschaft und Verwaltung, die in jüngster Zeit verschwundenen starren Fronten zwischen Ost und West und der Zuwachs an umweltfreundlichem Produktions- und Kosumverhalten als Beispiele stehen. Wir können aufkommenden Zukunftsängsten mit begründeten Zukunftshoffnungen begegnen, wenn wir uns aus Verantwortung vor uns selbst freiwillig in Bindungen gegenseitiger Abhängigkeit begeben: Dann sind Zukunftshoffnungen trotz unvermeidlicher Zukunftsängste möglich.

Nicht nur zum Schlafen da Bemerkungen zur Soziologie der Nacht

Von Hans-Werner Prahl

Aufklärung bedeutet Aufklaren der Dunkelheit Zur Nacht ist wenig Aufklarendes verfügbar, Aufklärung steht noch aus, Ansätze sind aber schon erhältlich. So etwa aus der Volkskunde, der Sozialgeschichte oder aus der Soziologie der Zeit Allerdings widmen sich die meisten wissenschaftlichen Disziplinen eher dem Tag. Auch in der neueren wissenschaftlichen Debatte um das Thema Zeit überwiegen Ansätze, die die Zeit als abstrakte Größe behandeln, in der qualitative Unterschiede von Tag und Nacht bestenfalls am Rande vorkommen. Sofern Zeit als gesellschaftliche Tatsache behandelt wird, überwiegt ihr Bezug zu Arbeit oder Herrschaft. So sind etwa Unterschiede zwischen Arbeitsund Freizeit oder Zeitkollisionen zwischen den Geschlechtern oder die Organisation von Herrschaft über Zeit in verschiedenen Gesellschaften einschlägige Themen in der gesellschaftswissenschaftlichen Zeit-Diskussion. Nacht als die Zeit der Dunkelheit, der Gefahren und der Geheimnisse bleibt dabei erstaunlich unterbelichtet. Die je unterschiedliche Qualität der Zeitmengen Tag und Nacht wird nur selten beachtet. l Durch die Rotation der Erde um die Sonne wird jeweils nur die Hälfte der Erdkugel vom Sonnenlicht bestrichen, die andere Hälfte wird mehr oder minder stark von Dunkelheit umfangen. Die Phase der Dunkelheit, die je nach Wohnort auf dem Globus und der jeweiligen Jahreszeit schwankt, wird üblicherweise als Nacht bezeichnet Weil die Nacht nicht immer von gleicher Länge ist, wurden die Nachtzeiten bereits früh kulturell codiert und metrisch manipuliert Das Hereinbrechen der Dunkelheit, die tiefsten Phasen der Nacht oder das allmähliche Heraufdämmern des Tages wurden bereits in archaischen Gesellschaften kulturell belegt - sei es in Mythen, Liedern, Erzählungen oder Dich1 Auch die jüngst erschienene, theoretisch ambitionierte und kompetente Schrift von Armin Nassehi; Die Zeit der Gesellschaft, Opladen 1993, berücksichtigt diese Unterschiede nicht.

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tungen. Auch in modemen, an Naturwissenschaft und Technik ausgerichteten Gesellschaften sind ähnliche kulturelle Muster auszumachen. Und auch schon früh wurde den Menschen klar, daß die Nacht unterschiedlich lang sein kann. Um aber der Nacht oder dem Tag nicht ein Übergewicht zubilligen zu müssen, ersann man Methoden, um die Zeit zu manipulieren. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden Tag und Nacht in jeweils zwölf Stunden aufgeteilt und je nach Jahreszeit als unterschiedlich lang definiert. Eine Nachtstunde war im Winter deutlich länger als im Sommer und eine Tagstunde war eben im Sommer länger als im Winter. Erst im 17. und 18. Jahrhundert haben die mechanischen Uhren, die nur eine Ganggeschwindigkeit kennen, dieses Denken verdrängt. Seither gelten lineare bzw. abstrakte Zeitvorstellungen, während sich in manchen einfachen Gesellschaften bis in die frühe Gegenwart okkasionelle (jetzt oder nicht jetzt) bzw. zyklische (Tag-Nacht-Rhythmen, Jahreszeiten) Zeitkonzepte erhalten konnten. Seit dem 15. Jahrhundert rückten die Zeitmessung und die zeitliche Disziplinierung immer stärker in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens. Diese Entwicklung, die von der Ausbreitung der Uhren begleitet war, wurde als Revolution bezeichnet. Dem italienischen Baumeister Alberti wird der Ausspruch nachgesagt ~~Vor der Revolution hatten die Menschen Zeit, aber keine Uhren, nach der Revolution haben die Menschen Uhren, aber keine Zeit«. Klöster, Seefahrt, Militär und Fabrik - übrigens alles Institutionen, die von Männem ersonnen und dominiert wurden - setzten zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert immer stärker die Zeitdisziplin durch. So wurde auch die Nacht einem Rationalisierungsprozeß ausgesetzt, der im weiteren auf der Deutungsebene sowie in der sozialhistorischen Entwicklung kurz beleuchtet werden soll. Nacht-Mythologien Die unterschiedlichen Wirkungen der Tageshelligkeit oder Nachtdunkelheit auf jedweden Organismus sollen hier nicht eingehender erörtert werden, da sie nur indirekt soziologische Fragestellungen berühren. Zentraler sind indes die jeweiligen Verarbeitungsmuster in Form von Mythen, Religionen, Ideologien oder Wissenschaften. Die Nacht als Zeit der Dunkelheit, Bedrohung, Wunder und Verwunschenheit gehört zu den elementarsten Deutungsproblemen der Onto- wie der Phylogenese. Ihre Verbindung mit Tod, Angst, aber auch Zeugung und Glück wird in vielen archaischen Mythen deutlich. Die antike Mythologie der Griechen und Römer stellte ähnliche Beziehungen her: ~~Nyx, Nacht und die Göttin der Nacht Nyx, die die Römer Nox nannten, ist eine kaum personifizierte Abstraktion. Sie wurde zusammen mit Erebos (Dunkelheit), Ge (Erde), Tartaros und Eros (Liebe) aus dem Chaos geboren. Von Erebos gebar sie

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Aither (Obere Luft) und Hemera (Tag). Allein brachte sie eine zahlreiche und im allgemeinen unerfreuliche Brut hervor, zu der Moros (Verderben), Thanatos (Tod), Hypnos (Schlaf), die Moirai und Nemesis gehörten. Sie lebte im Tartaros, aus dem sie jeden Tag hervorkam, gerade wenn Hemera zurückkehrte. Als einzige weitere Tat wird erwähnt, daß sie ihren Sohn Hypnos rettete, als Zeus ihn aus dem Himmel werfen wollte«.2 In manchen archaischen Gesellschaften bis noch in die germanische Zeit kam auch in der Zeitrechnung der Nacht ein besonderer Stellenwert zu. Das Wort Nachl bezeichnete die Zeit vom Sonnenuntergang bis zum nächsten Sonnenuntergang, schloß also den Tag mit ein. Nicht die Zeit der Helligkeit, sondern die Zeit der Dunkelheit gab der Zeiteinheit den Namen, was auf die besondere Bedeutung der Dunkelheit hinwies. Die Zeit der Helligkeit war zwar dem Tagewerk gewidmet, also der Arbeit und Daseinsvorsorge, die Zeit der Dunkelheit beschäftigte aber weit mehr das Denken der seinerzeitigen Menschen. Ihr galt das primäre Augenmerk, sie war die große Herausforderung und die Schnittstelle zum Außerirdischen. Zugleich aber war die Nacht auch der »Vorabend« für den nächsten Tag, für die Zeit der Helligkeit. Sprachlich verweist z. B. noch die Fastnacht darauf, ))Vorabend« für den Aschermittwoch zu sein. Auch die von den Germanen gefeierte Mittwinternacht, die ))wihennaht«, aus der später ))Weihnacht« wurde, verweist auf diesen Zusammenhang. Die christliche Religion hat das Thema Nacht einerseits moralisiert, andererseits diszipliniert Nacht wird nicht mehr direkt mit den menschlichen UrThemen wie Tod, Zeugung oder Gefahr verbunden, sondern als Zeit Gottes ebenso wie die übrige Zeit den christlichen Moralvorstellungen unterworfen. Auch was in der Nacht geschieht unterliegt dem Willen Gottes, ist göttliche Fügung. Allerdings sind im Schutze der Dunkelheit die Gefahrdungen der Menschen, vom Pfad der christlichen Tugenden abzuweichen, höher. Dies gilt insbesondere für Eigentum und Sexualität. Noch im frühen 19. Jahrhundert wollte der Papst die künstliche Beleuchtung der Städte verbieten lassen, weil sich dadurch mehr Menschen in der Öffentlichkeit aufhalten würden und dadurch die Sünde gefördert würde. Mit der künstlichen Erhellung der Nacht ginge - so sein Argument - ein Anstieg von Prostitution und Diebstahl einher. Viele bürgerliche Moralapostel haben sich dieser Argumentation angeschlossen. 3

2 Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie, Stuttgart 1991, S.367. 3 Vgl. dazu die sehr illustrative Untersuchung von Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt, München 1991.

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Matte Tendenzen in dieser Richtung sind auch heute noch in der christlichen Moral anzutreffen. Galt diese Haltung für die Laien, so galt sie noch stärker für die Kleriker. Insbesondere in den Klöstern wurde die Nacht ebenso wie der Tag einer strengen Zeitdisziplin unterworfen. In genau festgelegten Abständen waren Gebete und Rituale abzuhalten, was mit einem harten Zugriff auf den Körper verbunden war: Schlaf und Erholung waren gegenüber den religiösen Funktionen sekundär. So taten sich die Klöster bei der Entwicklung genauer Zeitmeßtechniken auch besonders hervor. Schon die frühen Klöster hatten nach Osten hin einen kleinen Vorbau, in dem Hähne als frühe Wecker ihren Dienst verrichteten. Später sorgten standardisierte Kerzen bzw. Öllampen dafür, daß die Mönche zur rechten Zeit geweckt werden konnten. Und schließlich sollten die Kirchturmuhren seit dem 14. Jahrhundert auch den Laien kundtun, was die Uhr geschlagen hatte. Turmuhren wurden in dieser Zeit als enormer Fortschritt bestaunt, weshalb sich auch kleinere Kirchen und Stadttürme ein solches Wunderwerk leisten wollten. Wenig später zerstörten aufgebrachte Bürger aber etliche Turmuhren, weil sie sich dadurch kontrolliert und diszipliniert fühlten. 4 Eng mit dem Thema Nacht war und ist in jeder Gesellschaft der Traum verbunden. Zwar sind Schlaf und Traum nicht zwangsläufig auf die Nacht beschränkt - auch Tagträume sind jedem bestens bekannt und viele Menschen schlafen auch am Tag (im Bett, am Schreibtisch oder im Kornfeld) - , doch finden Schlaf und Traum überwiegend in der Nacht statLS Ohne hier näher auf die umfangreiche Traumforschung eingehen zu können, ist festzuhalten, daß in allen bekannten Gesellschaften Träume als Symbole für die und/oder als Erfahrungen der Realität angesehen wurden - sei es in den Mythen archaischer Gesellschaften oder den in den Regeln der Mantik festgelegten Traumdiskursen der griechischen Antike oder den Interpretationen moderner Psychoanalyse. Ähnlich alt wie die Menschheitsgeschichte ist der Streit darüber, ob Träume reale oder imaginierte Welten sind. 6 Und ob Träume nur der Psychologie oder aber auch der Soziologie - etwa wegen ihrer Funktion, von Konflikten zu entlasten, für die Anforderungen des Wachzustandes wieder fit zu machen oder gesellschaftliche Verhältnisse widerzuspiegeln - zugänglich sind, soll hier nicht abschließend beantwortet werden. Kinderträume, Backfischträume, Er4 Vgl. die materialreiche Untersu~ung von Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1985. S In der kindlichen Perspektive sind Schlaf und Tod eng verbunden (»Als Kind verband ich Schlaf mit Tod« - Milva) und Beischlaf wird mit Gewalt gleichgesetzt, wobei übrigens die deutsche Sprache in die Irre führt, denn Beischlaf hat kaum direkt mit Schlaf zu tun. 6 Vgl. Jens Heise: Traumdiskurse. Die Träume der Philosophie und die Psychologie des Traumes, Frankfurt a. M. 1989.

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wachsenenträume oder Greisenträume mögen ganz verschieden sein, wobei schließlich der Einfluß von Medien nicht zu unterschätzen ist. Kolonisierung der Nacht In der Nacht wurde bis ins 19.Jahrhundert nur von recht wenigen Menschen gearbeitet. Bis dahin galt die Regel, mit dem Beginn der Tageshelligkeit die Arbeit aufzunehmen, mit witterungsbedingten Unterbrechungen bis zum Einbruch der Dunkelheit zu arbeiten und dann nach kurzer Erholungsphase sich zum Schlafen niederzulegen. Allerdings war die Arbeitszeit oft von Feiertagen durchbrochen, und längst nicht alle Menschen mußten intensiv arbeiten. Einige Menschen mußten auch nachts arbeiten: Nachtwächter, Soldaten, Seefahrer, Stemengucker, Hirten, Heiler, Prostituierte, Tünner, Schleusenwärter oder Mönche. Für die ganz große Mehrheit der Bevölkerung war die Nacht aber dem Schlaf und der Ruhe gewidmet. Die Nacht war im Hause zu verbringen, nur ganz wenige Menschen durften sich legitimerweise nachts außerhalb der Wohnungen aufhalten. Licht und Wärme waren teuer und nur den Begüterten allzeit zugänglich. Den Städten und Dörfern war die Beleuchtung öffentlicher Plätze und Straßen nicht vordringlich und wurde erst im 19. Jahrhundert zum Thema, viele Dörfer Europas wurden erst jüngst künstlich beleuchtet, in den meisten Teilen der Welt bleiben sie bis heute nachts dunkel. Der Zugang zum künstlichen Licht ist noch immer gesellschaftlich ungleich verteilt, auch wenn in industriellen Wohlfahrtsstaaten die öffentliche Beleuchtung zur staatlichen Infrastruktur gehört und extrem billiger Strom scheinbar allen Gesellschaftsgruppen die Beleuchtung ihrer Wohnungen erleichtert Die Differenzen innerhalb einer industrialisierten Gesellschaft sind kleiner geworden (und drücken sich eher im Beleuchtungsstil aus), zwischen den verschieden entwickelten Gesellschaften sind die Unterschiede aber größer geworden (vielleicht mit Ausnahme der jeweiligen Metropolen). Allerdings werden weltweit die Grenzen gegenüber der Nacht verschoben. Die von Murray Melbin so eindrucksvoll beschriebene »colonizing the world after dark« wird inzwischen zu einer globalen Tendenz. 7 Er vergleicht die Erschließung der Nacht mit der Kolonisierung des Raumes. Als die Kolonialmächte nahezu alle Räume der Erde erschlossen hatten, setzte seit dem späten 18. Jahrhundert die Kolonisierung der Nacht ein. Die bis dahin tabuierten und nur wenigen Berufsgruppen vorbehaltenen Zeiträume der Dunkelheit wurden jetzt systematisch erschlossen. Mit der Kolonisierung des Raumes wurden die 7 Vgl. Murray Melbin: Night as frontier. Colonizing the World after Dark, New York/London 1987.

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Grenzen gegenüber der widerspenstigen Natur oder den ursprünglichen Einwohnern verschoben. Die Grenzen fielen nur teilweise durch private Initiative, sondern meist auch unter staatlich-militärischem Schutz. Der Staat der jeweiligen Kolonialmacht errichtete in den neu eroberten Räumen Infrastrukturen, die wiederwn der privatwirtschaftlichen Nutzung der eroberten Gebiete dienen sollten. Die Grenzen gegenüber den noch nicht besetzten Räumen wurden militärisch gesichert, waren aber für Pioniere, die weitere Gebiete erschließen wollten, offen. Parallele Entwicklungen sieht Melbin in der Erschließung der Nacht als einem der letzten im Zeitkontinuum noch nicht erschlossenen Gebiete. Mit der aufkommenden Industrialisierung in England im 18. Jahrhundert wurden auch immer mehr die Grenzen gegenüber der Nacht verschoben. Bis dahin mußten nur wenige Menschen nachts arbeiten. Landwirtschaft und Handwerk mußten bei Einbruch der Dunkelheit ihre Arbeit einstellen, da künstliche Lichtquellen nicht mächtig und sicher genug waren, um auf dem Felde oder in der Werkstatt weiter arbeiten zu können. Die Erfindung der Dampfmaschine und der Einsatz von Maschinen machten eine bessere Beleuchtung geradezu erforderlich. Mit der Industrialisierung verlief der Fortschritt der künstlichen Beleuchtung annähernd parallel, technische und luminöse Innovationen bedingten sich in vielen Fällen. Der Einsatz von Gaslaternen beschleunigte die Industrialisierung erheblich, weil nunmehr eine Abkoppelung von den Hell-Dunkel-Rhythmen und damit Nachtarbeit in großem Stile überhaupt erst möglich wurde. Maschinen mußten bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr stillgelegt werden, sondern konnten pausenlos ihr Werk verrichten, Hochöfen konnten über Tage und Nächte betrieben werden und dadurch Werkstoffe erzeugen, die bei den vorher notwendigen nächtlichen Unterbrechungen überhaupt nicht hergestellt werden konnten. Mit der künstlichen Straßenbeleuchtung konnten die Industriearbeiter nachts gefahrlos zur Arbeit gelangen. Auch der nächtliche Transport von Gütern und Personen wurde dadurch erleichtert Mit der Erfindung der Elektrizität und allen daraus resultierenden Anwendungsmöglichkeiten machte die Entwicklung einen weiteren großen Sprung. Nicht nur die Beleuchtung wurde verbessert, auch die Kommunikation konnte mit Telegraph und Telefon enorme Distanzen überwinden und so zur Temposteigerung beitragen. Mit der künstlichen Beleuchtung der Fabriken, Straßen und Märkte nahm die industrielle Nachtarbeit raschen Aufschwung. 8 Arbeitskraft konnte, weil die Restriktionen in der Zeitdimension abgebaut wurden (erst im 20. Jahrhundert 8 Wal/gang Schivelbusch: .üchtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1983.

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entstanden mit dem teilweisen Verbot von Nachtarbeit neue Restriktionen), weiter ausgebeutet werden. Industrielle Arbeitszeiten, die um 1860nO in manchen Branchen bei 16 Stunden pro Tag oder mehr als 100 Stunden pro Wochen lagen, wären ohne diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Auch die Arbeitszeiten von Frauen und Kindern wurden kontinuierlich ausgeweitet und teilweise in die Nacht verlegt, wogegen sich allerdings seit Mitte des 19. Jahrhunderts Protest artikulierte. Die von den Gewerkschaften erkämpfte und durch staatliche Sozialpolitik teilweise abgesicherte Verkürzung der industriellen Arbeitszeiten seit etwa 1870 wurde von den Unternehmern durch die Einführung von Schichtarbeit konterkariert In der Folgezeit wurde die Nachtarbeit auch in vielen anderen Bereichen üblich: In Handel und Verkehr, Sicherheit und Gesundheit, Post und Kommunikation, Gastronomie und Unterhaltung, Medien und zahlreichen Dienstleistungen. Die Kolonisierungs-These für die Nacht weist auch noch weitere Parallelen zur Kolonisierung des Raumes auf. Stellte der Staat bei der Landnahme in den Kolonien Schutz und Infrastruktur zur Verfügung, so tat er dies auch bei der Kolonisierung der Nacht und gab so seine Rolle als liberaler »Nachtwächterstaat« auf. Staatlicherseits wurde die Beleuchtung der öffentlichen Plätze und Straßen organisiert, Polizei und Militär sollten den in der Nacht Arbeitenden Schutz gewähren, die Infrastrukturen wurden in vielerlei Richtung erweitert, um die letzte Ressource in der Zeit-Dimension erschließen zu können. Die staatlichen Maßnahmen ließen sich zwar mit der im öffentlichen Interesse liegenden Gefahrenabwehr legitimieren, dienten objektiv aber besonders der privatwirtschaftlichen Nutzung der Nacht. Freilich sind auch politisch-administrative Eigeninteressen auszumachen, worauf etwa immer mehr Gesetze und Verordnungen abzielen - so etwa beim teilweisen Verbot von Nachtarbeit, bei den Maßnahmen gegen nächtliche Ruhestörung, bei nächtlichen Sperrstunden, bei Nachtflugverboten oder bei der Bestimmung, daß gerade Verstorbene nicht die Nacht über in der eigenen Wohnung bleiben dürfen. Die von Jürgen Habermas analysierte »Kolonisierung von Lebenswelten« durch politisch-administrative Systeme setzt sich auch in der Nacht fort. Allerdings sind in der Gegenwart auch Gegentendenzen erkennbar: Im Zeichen von Deregulierung und leerer öffentlicher Kassen zieht sich der Staat etwa durch reduzierte Polizeipräsenz oder durch Privatisierung des Rettungswesens teilweise wieder aus Bereichen der Nacht zurück. Die Nacht wird in diesen Teilen dann wieder ökonomischen oder sogar kriminellen Gesetzen überlassen.

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Nacht-Konsum War die Wirtschaft im 19. Jahrhundert insbesondere an der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und dementsprechend auch an der Ausweitung von Nacht- und Schichtarbeit interessiert, so richtete sich das Interesse im 20. Jahrhundert immer mehr auf die Konsumsphäre. Die nächtlichen Vergnügungen in Kneipen, Bars, Bordellen oder Spielhöllen waren zwar historisch sehr viel älter, stiegen aber mit dem Wachstum der Städte seit Mitte des 19. Jahrhunderts überproportional an. Zugleich wurde auch der Kampf gegen Kriminalität und Unmoral intensiviert, was wiederum die staatliche Obrigkeit stärken sollte. 9 Aber nicht nur das Vergnügen nahm ständig zu, auch die Ansprüche an Handel, Dienstleistungen und Verkehr wuchsen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stetig. Mit den verbesserten Beleuchtungs- und Transportmöglichkeiten konnte der Handel die Märkte schon früh mit frischer Ware beliefern, die Läger konnten nachts aufgefüllt werden. Große Kaufhausketten und Supermärkte wurden auf diese Weise überhaupt erst möglich. Das expandierende Verkehrsnetz vervielfachte den nächtlichen Transport von Gütern und Personen. Mußten die Reisekutschen bei Einbruch der Dämmerung ihre nächtliche Rast einlegen, konnte die Eisenbahn auch in der Dunkelheit weite Strecken überwinden. Die städtischen Kutscher fuhren ihr betuchtes Publikum wohl auch noch des Nachts durch die Stadt, Straßenbahnen und Busse waren später für alle Bevölkerungskreise auch in der Nacht zugänglich. Die Post erfuhr eine enorme Beschleunigung: In London wurde um 1880 die Post neunmal am Tag zugestellt, eben weil auch in der Nacht sortiert und transportiert wurde. Die Ansprüche an Staat, Dienstleistungen, Handel, Unterhaltung und Sozialleistungen sind in den letzten hundert Jahren explosionsartig gewachsen. Bei nächtlicher Ruhestörung wird die Polizei innerhalb kurzer Zeit herbeibemüht, ernsthafte Erkrankungen werden auch in der Nacht vom Notarzt oder in Krankenhäusern behandelt, die Feuerwehr ist ständig alarmbereit, die Post unterhält (noch) Nachtschalter, Taxis und Busse sind fast zu jeder Nachtzeit erreichbar, zumindest Automaten sichern den Zugang zu Genußmitteln oder Geld, die elektronischen Medien strahlen auch lange nach Mitternacht Programme aus und wem es nicht gefallt, der kann in Videos Ersatz suchen. Die Telefonseelsorge tröstet, die Telefonauskunft vermittelt interessante Nummern und Telefonsex suggeriert Befriedigung. Private Wachmänner und militärische Streifengänger, Nachtwachen und Nachtapotheken, Fluglotsen und Fernfahrer, Diskjockeys und Drogenhändler und die sonstige Heerschar der Nachtschaf9 Hier sei noch einmal auf die vorzügliche Studie von Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt, hingewiesen.

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fenden garantieren die Funktionsfähigkeit der »Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft« 10. In manchen US-amerikanischen Großstädten tun sogar Scheidungsanwälte und Familienrichter des Nachts Dienst, falls mal die Scheidung nach dem nächtlichen Ehekrach ganz schnell gehen soll. Auch Nacht-Heiraten sind möglich. Alles was am Tage geht, soll auch nachts möglich sein. Nacht-Arbeit Unsere Konsumansprüche sind nur um den Preis steigender Nachtarbeit und zusätzlicher Rationalisierungsmaßnahmen zu befriedigen. Wenn es für uns zur Selbstverständlichkeit geworden ist, frühmorgens frisches Gemüse in den Regalen vorzufinden, lange nach Mitternacht einen Blinddarm operiert zu bekommen oder kurz vor Morgengrauen mit dem Taxi die Diskothek zu verlassen, so müssen andere Menschen dafür arbeiten. Rundfunkanstalten und Meßwarten lassen sich für den Nachtbetrieb weitgehend automatisieren, Krankenpflege oder Streitschlichtung erfordern dagegen den Menschen. In dem Maße, in dem die Grenzen der Nacht gesprengt werden, wachsen auch die Ansprüche an die Nachtarbeit. In den meisten Industriegesellschaften muß ein Viertel der Beschäftigten zu Nacht- oder Schichtarbeit bereit sein. Von diesem Viertel arbeitet allerdings nur ein kleiner Teil ausschließlich nachts. Für Frauen und Kinder ist Nachtarbeit vom Gesetzgeber auf eine Reihe von Ausnahmen beschränkt worden, die jüngere Rechtsprechung hat diese Prinzipien allerdings durchlöchert Besonders belastend wirkt sich die Wechselschichtarbeit auf Gesundheit, Familie, Kontaktrnöglichkeiten, Freizeit und Lebensqualität aus. Auch wenn Nacht- und Schichtarbeit in den meisten Fällen besser als die Tagesarbeit dotiert und deshalb von einem Teil der Beschäftigten auch angestrebt wird, sind diese Arbeitszeiten generell weniger beliebt. Zahlreiche empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß Nacht- und Schichtarbeit überproportional von Un- und Angelernten, sozial Benachteiligten, Immigranten (in den USA besonders von Farbigen) und Beschäftigten mit langjähriger Arbeitslosigkeitserfahrung geleistet wird. Die gesellschaftlich weniger privilegierten Gruppen müssen mehr Nacht- und Schichtarbeit leisten als die Arrivierten. Gewiß müssen auch ProfessorInnen, lournalistlnnen oder PolitikerInnen oft nachts arbeiten, zumeist ist dies aber selbst gewählt, und es kann geradezu als ein Privileg gelten, nämlich seine Arbeitszeiten selbst zu bestimmen. Auch nachts gilt gesellschaftliche Ungleichheit.

10 Jürgefl P. Rinderspacher: Der Rhythmus der Stadt. Die Bedeutung der Zeit für die städtische Gesellschaft, Berlin 1988.

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Nächtliche Ungleichheiten In der Nacht wiederholen sich auch geschlechts typische Muster. Zwnindest im öffentlichen Raum können Männer ihre nächtliche Präsenz leichter rechtfertigen als Frauen. Wenn Männer sich nachts auf Straßen, Plätzen oder in Kneipen aufhalten, gilt das jedenfalls in unserer heutigen Gesellschaft - in früherer Zeit war das anders - als normal. Bei Frauen werden in solchem Falle (zumindest unterschwellig)) Fragen laut: Suchen sie Kontakte, wollen sie sich etwa prostituieren, warum verlassen das schützende Heim? Der relative Schutz, den die Nacht Männern bietet, wird Frauen verwehrt. Sie werden schutzlos zum nächtlichen Jagen freigegeben. Die spärlichen Schutzvorkehrungen - etwa vom Frauen-Nachttaxi bis zum Nachtarbeitsverbot für Frauen - können die über Jahrhunderte gewachsenen soziokulturellen Muster kaum verändern, nach denen zwar die der Prostitution nachgehenden »Schönen der Nacht«, nicht aber Frauen, die auf ihre Moral achten, sich auf den nächtlichen Straßen aufhalten sollen. Auch gesellschaftliche Randgruppen sind oft nachts benachteiligt, wie sich leicht an den Nachtasylen für Obdachlose zeigen läßt. Die Armen und Unbehausten hatten in aller Geschichte in allen Ländern nachts besondere Probleme. Schutz, Wärme und Trockenheit sind außerhalb von Höhlen und Häusern nur schwer zu finden oder fordern besondere Formen der Improvisation heraus, zumal in den klimatisch rauheren Gegenden. In Hauseingängen, U-BahnSchächten oder auf Parkbänken zu nächtigen, erfordert Gewöhnung und prägt besondere Gewohnheiten, wie die teilnehmenden Beobachtungen bei Clochards und Pennern zeigen. 11 Verhaltensstile und Codes, die Außenstehenden kaum verständlich sind, künden von eigenen kulturellen Mustern solcher Gesellschaftsgruppen. Den Platz für die Nacht zu fmden, ))Platte machen«, oder das nächtliche Revier zu verteidigen, wird für sie zu einem zentralen Lebensinhalt. Und bisweilen läßt sich auch in Universitätsgebäuden ein warmes Plätzchen ergattern, bis ordnungsbeflissene Professoren und Pedelle dagegen einschreiten. Je mehr Gestrauchelte eine Gesellschaft hervorbringt, um so krasser wird der Kampf um nächtliche (Schlaf-)Reviere. Die Kinder vom 'Bahnhof Zoo' konnten sich durch Vagabundieren und Prostituieren vielleicht noch behelfen, für die immer zahlreicher werdenden Obdachlosen, denen ein aus den Fugen geratener und nur an schnellem Profit ausgerichteter Wohnungsmarkt die Bleibe nahm, stehen oft solche Improvisationsmöglichkeiten nicht mehr zur Verfügung. In der Nacht häuft sich sozialer Sprengstoff an.

11 Vgl. Roland Girl/er: Die Sandler, Wien 1983.

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So war es im Laufe der Geschichte oft. Doch Kirchen, karitative Organisationen und Kommunen boten mit ihren Nachtasylen Hilfe. Clevere Privatleute vermieteten ihre Betten gleich mehrfach an Schlafgänger, und das Hauspersonal wurde im Hängeboden untergebracht Solche Formen sind scheinbar obsolet geworden, doch könnten sie bei weiter steigenden Obdachlosenzahlen und einem restlos überforderten Wohnungsmarkt schon bald eine Renaissance erleben. Die modemen Nachtasyle - die Obdachlosenheime, Wohncontainer, Zeltlager, gelegentlich auch Kirchen oder Rathäuser - sind in der Gegenwart fast aus dem Blick verschwunden, zeugen aber von Problemen, die trotz der Bemühungen, sie bürokratisch wegzuorganisieren, in der Nacht besonders virulent sind. Das Leben in Nachtasylen ist - von Gorki bis Goffmann - literarisch und sozial wissenschaftlich oft beschrieben worden und soll hier deshalb nicht weiter dargestellt werden. Auch die Nacht in »totalen Institutionen« bietet Stoff für beklemmende Studien. So etwa die Nacht im Krankenhaus, die nach dem Abendessen schon dann beginnt, wenn viele Erwerbstätige gerade erst ihre Arbeit beendet haben, und dann endet, wenn die meisten Bürger noch schlafen. Ganz ähnlich verläuft die Nacht in Alten- und Pflegeheimen oder in Gefangnissen und nur wenig anders in Kasernen. Die Zwänge der Institution und die Bedürfnisse des in ihnen tätigen Personals organisieren den Ablauf der Nacht auch gegen physiologische Rhythmen und individuelle Wünsche. Totale Institutionen standardisieren die Nacht ihrer Insassen. Sie greifen auf den Körper zu (bis hin zum nächtlichen Fixieren in Psychiatrischen Krankenhäusern) und disziplinieren die körperlichen Verrichtungen. Die tendenzielle Enteignung von Zeit und Körperlichkeit gilt zwar als Merkmal »totaler Institutionen«, ist aber kein Naturgesetz, sondern muß fortlaufend nach ihrem Sinn hinterfragt werden. Andere Organisationsweisen sind jedenfalls denkbar und setzen sich teilweise in Krankenhäusern mit flexibleren Essens- oder Waschzeiten durch. Nacht-Räume Auch die Zuordnung der Räume in den Häusern bietet Einblick in den Bedeutungswandel der Nacht Die ))Verhäuslichung« zahlreicher Lebensfunktionen, die Peter Gleichmann in Anlehnung an Norbert Elias beschrieben hat, läßt sich auch für Nacht und Schlaf nachzeichnen. 12 Die meisten vitalen Funktionen spielten sich in den längsten Phasen der Menschheitsgeschichte außerhalb von Häusern ab. Die Nahrung wurde vor dem Hause zubereitet, ebenso die 12 Vgl. Peler R. Gleichmann: Einige soziale Wandlungen des Schlafes, in: Zeitschrift für Soziologie, 1980,3, S. 236-250.

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Wäsche gewaschen und die körperliche Hygiene (vom Waschen am Fluß oder Brunnen bis zum Ausscheiden hinterm Busch) verrichtet. Erst mit der Verdichtung der Figurationen und der Verlängerung der Handlungsketten stiegen die Scham- und Peinlichkeitsschwellen an. Im Prozeß der Zivilisation ging psychowie soziogenetisch der Fremdzwang in Selbstzwang über. Die Selbstzwangapparatur wirkt - wie Elias für die Bereiche Essen, Hygiene und Etikette gezeigt hat - so geschickt, daß ehemalige Fremdzwänge als eigene Motive ausgegeben werden. Für das Schlafen der Menschen bedeutet dies, daß biogenetische Schutzmechanismen durch psycho- und soziogenetische Verhaltensstandards abgelöst werden: So lange der Mensch sich der Natur direkt ausgesetzt sah, mußten vor allem nachts bestimmte Sinnesorgane in Alannstellung bleiben das heranschleichende Raubtier oder das ausbrechende Feuer mußten rechtzeitig genug bemerkt werden, um noch flüchten zu können; je mehr aber staatliche Organe und feste Häuser den Schlaf schützten, desto eher konnte die AlarmsteIlung aufgegeben werden. Der Mensch büßte mit der Verhäuslichung des Schlafens einen Teil seiner instinkthaften Mechanismen ein. Allerdings mußten historisch noch lange solche Mechanismen wachgehalten werden. Die Glut der offenen Feuerstelle mußte bewacht werden, das Vieh und die Kinder durften nicht aus dem Blick verschwinden, vor Unbilden der Natur mußte gewarnt werden. Dementsprechend wurde der Schlafplatz in Bauernhäusern bis ins 19. Jahrhundert so gewählt, daß alle wichtigen Teile wie Feuer, Vieh und Kinder gut überblickt werden konnten, separate Schlafräume galten als unpraktisch. Eigene Schlafzimmer entstanden am frühesten an den Höfen des Adels und in den Bürgerhäusern der Städte, also bei den damals führenden Gesellschaftsschichten. In beiden Fällen diente die räumliche Abtrennung des Schlafens der Demonstration von Herrschaft. Das Schlafzimmer Ludwig XIV. in Versailles galt als Zentrum des französischen Weltreiches, das Schlafengehen und Aufstehen des Königs gedieh fast zum öffentlichen Spektakel. Und die Schlafzimmer der reichen Handelsherren in den Städten sollten als Zeichen von Wohlstand dienen und zugleich das Personal, das in Abseiten oder Zwischenböden nächtigte, auf Distanz halten. Im Laufe der Geschichte konnten sich auch andere Gruppen der Gesellschaft ein eigenes Schlafzimmer leisten, die Mehrheit der Bevölkerung allerdings erst in jüngster Zeit. Ein eigenes Schlafzimmer zu haben, ist auch in hochentwickelten Gesellschaften eine Errungenschaft der letzten hundert Jahre, und daß Kinder nicht mehr im Schlafzimmer der Eltern, sondern in eigenen Räumen nächtigen, ist noch viel jüngeren Datums. Insbesondere in den unteren Gesellschaftsschichten schliefen mehrere Generationen in einem Raum. Tabus konnten so kaum ent-

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stehen, umso häufiger aber Infektionen. Kammern oder Verschläge wurden an Schlafgänger vennietet, oft wurde ein Bett auch schichtweise an mehrere Schläfer vennietet. Beheizbar waren nur wenige Räume, in strengen Wintern scharte sich alles um den Ofen, denn die meisten Schlafräume waren kalt und feucht. Die Geschichte des Schlafzimmers ist auch eine Geschichte der Krankheiten, Infektionen und des Sterbens. Die größten Fortschritte zur Verlängerung des Lebens und zur Verbesserung der Gesundheit sind eben nicht durch die Medizin, sondern durch bessere Wohn-, Hygiene- und Ernährungsbedingungen erreicht worden. Und dabei kommt den Schlafräumen und Badezimmern ein entscheidender Beitrag zu. Die vom Adel und dem Stadtbürgertum begonnene Ausdifferenzierung eigener Schlafräume setzte sich im 19. Jahrhundert bei den Beamten, Angestellten und Unternehmern sowie anderen bürgerlichen Schichten fort. Beim Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft wurde ein abgetrenntes Schlafzimmer erst im 20Jahrhundert üblich, bisweilen mußte mangels räumlicher Möglichkeit ein Schlafschrank als Ersatz herhalten. Und noch lange hatte nicht jeder Mensch ein eigenes BetL Nicht nur Kinder, auch Erwachsene mußten sich oft ein Bett teilen. Von Stalin wird berichtet, daß er vor der Revolution mit zwei Mitkämpfern das Bett teilen mußte. Seine Mitschläfer ließ er später liquidieren. Wohl nicht deswegen nennt in einem neueren deutschen Roman der Hauptdarsteller seinen Wecker Stalin. Die Geschichte der Schlafgelegenheiten und Schlafmöbel ist bislang sozialwissenschaftlich noch nicht fruchtbar gemacht worden, obwohl Volkskunde und Kulturgeschichte zahlreiche Studien vorgelegt haben. Die gemeinsame Lagerstatt im Stroh, die Strohsäcke, Federbetten und ersten Matratzen, Hängematten, Feld, Klapp-, Doppel-, Baldachin-, Wasser- oder Luxusbetten, aber auch Campingliegen, Caravans, Isoliennatten oder Schlafsäcke sind Ausdruck je verschiedener gesellschaftlicher Verhältnisse und Ideologien. Und auch die Aufteilung der Räume läßt gesellschaftliche Wertvorstellungen erahnen. Wenn selbst in kleinen Wohnungen das elterliche Schlafzimmer zur Tabuwne erklärt wird, so drücken sich darin bestimmte Bedeutungen von Intimität, Ruhe oder Sexualität aus, die in vielen historischen Zeiten nicht gegeben waren und erst mit (klein-)bürgerlichen Mentalitäten auftraten. Oder wenn umgekehrt das Schlafzimmer multifunktionaler Nutzung - etwa mit Medieninstallationen, Schreibtisch oder Spielmöglichkeiten - zugeführt wird, kommt darin eine veränderte Vorstellung von Intimität zum Vorschein. In der Nachkriegszeit läßt sich eine Bedeutungsverschiebung der Räume in Privatwohnungen ausmachen. Stand in den fünfziger und sechziger Jahren das 7 FS Görland

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Wohnzimmer mitsamt dem »Gelsenkirchener Barock« im Zentrum der Möbelhersteller und Einrichter, so richtete sich in den späten sechziger und den siebziger Jahren das Augenmerk auf Küche und Bad, teilweise auch auf Hobbyräume und Kellerbar. Relativ spät geriet erst das Schlafzimmer ins Blickfeld. Das mit Fernseher, Radio und Minibar ausgestattete Bett, das zudem orthopädisch gestaltet und mit motorgetriebener Höhenverstellung versehen war, das Wasserbett oder das tagsüber hochklappbare Bett wurden erst in den siebziger Jahren einem breiteren Publikum offeriert. Ebenso konzentrierten sich die Möbelhersteller auf Schlafzimmermöbel, die Beleuchtungsangebote folgten bald, und Nachtkleidung wurde modischen Trends unterworfen. Schließlich sollte auch mit mobilen Telefonen oder Computeranschlüssen die Verbindung der Schlafräwne mit den Kommunikationsnetzen sichergestellt werden. Der Schlafbereich gilt längst nicht mehr nur als Ort der Ruhe, sondern ist vielfaItig in die übrigen Sphären des Lebens eingebunden. Nur nichts verpassen wird auch zur Maxime des Schlafens. Und schließlich wird dieser Ort auch immer mehr in Design und Styling einbezogen, um auch noch im Schlaf Geschmack zu zeigen. Vom Strohsack zum multifunktionalen Luxusbett läßt sich sozialhistorisch die Entwicklung von Lebensstilen und den komplementären Ideologien nachzeichnen. Auch bei fremden Kulturen werden gern Anleihen gemacht, etwa bei den japanischen Futonbetten, südamerikanischen Hängematten oder asiatischen Strohmatten - als selbsternannter Trendsetter muß man/frau nicht mehr in den Standardbetten der Möbelhäuser erwachen. Gefahren Die Nacht ist zwar nicht katastrophenträchtiger als der Tag. Doch sind viele Katastrophen und Kriegsereignisse in der Nacht eingetreten. Im Militär gehörte die Nacht schon immer zum Kalkül, etwa beim Überfall der Japaner auf Pearl Harbour, 1941, oder erst jüngst beim Angriff der UNO-Truppen auf den Irak. Auch technische Großsysteme sind nachts besonders gefährdet: Die Unfälle im US-amerikanischen Three Miles Island oder im russischen Tschernobyl sind mitten in der Nacht passiert und zahlreiche Tankerkollisionen ebenfalls. Die nonstop arbeitenden Systeme weisen - insbesondere durch menschliches Versagen und reduzierte Kommunikationsmöglichkeiten - nachts eine höhere Fehlerhäufigkeit auf. Eine Soziologie der Katastrophe müßte diesen Aspekt wohl noch genauer beleuchten. Auch der Zusammenhang von Nacht und Gewalt konnte hier nur angedeutet werden, obwohl nächtliche Städte in Zukunft immer weniger Sicherheit bieten werden und schon heute erhebliche Ängste artikuliert werden.

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Eine Soziologie der Nacht muß zwangsläufig die Gesellschaft in einem anderen Lichte erscheinen lassen, als unsere vorherrschende Tages-Soziologie vermuten läßt Vieles müßte nicht länger im Dunkeln bleiben, Erhellendes konnte hier nur angedeutet werden. Eine Soziologie der Nacht muß noch vieles ausleuchten, damit diese Disziplin nicht in die Finsternis zurückfällt. Dämmerungen waren manchen Gesellschaftswissenschaftlern ein wichtiges Thema, um die Spannung zwischen der Dunkelheit menschlicher Existenz und dem Licht wissenschaftlichen Erkennens aushalten zukönnen. Auch nächtliche Geistesblitze mögen dabei helfen, denn die Nacht ist nicht nur zum Schlafen da.

Über Schlemihle Randbemerkungen zur unglücklichen Figurenphänomenologie

Von Jochen Worpenberg

Sie berauben sich Ihres Schlafs, um Philosophie zu lernen; man sollte aber, umgekehrt, die Philosophie studieren, on: schlafen zu lernen. Montesquieu

Die Frage, welche verschiedenen Identitäten wohl möglich und - vor allem - nötig wären, um nicht wieder barbarischen Zuständen anheimzufallen, war in den 80er Jahren Gegenstand eines nicht unerheblichen Streits. Wir beabsichtigen nun aber nicht, mit einer bündelnden und damit immer auch interpretierenden Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen zu langweilen. Auch beabsichtigen wir nicht, diejenigen Zwischentöne zu verfolgen, die Angehrn anschlägt, wenn er nach der Durchsicht vieler Positionen zur historischen Variante bemerkt »Letzter Maßstab für die Frage nach Wert oder Verzichtbarbeit von Geschichte und Identität ist nicht das Kriterium des Wahren und Richtigen, sondern die Frage nach dem Glück.«! Denn dies wäre gewissermaßen ein Lauf ins Abseits, da nach der Eudämonismuskritik die Glücksthematik höchstens als Sinnfrage kostümiert daherkommen könnte, wie Marquard treffend

warnt. 2

Nein, es geht hier um viel weniger und vielleicht auch ganz anderes. Lediglich ein Begriff steht im Zentrum der Ausführungen: der des Schlemihls. In unterschiedlichen Anläufen soll versucht werden, ihn gleichsam dingfest zu machen: wir konsultieren seine Geschichte (1.), lassen einige zu Wort kommen

! Emil Angehrn: Geschichte und Identität, Berlin 1985, S. 368; vg1. auch: ders., Der Begriff des Glücks und die Frage der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch, 1985, 92, S. 35-52; der Aufsatz ist systematisch dazugehörig.

2 V g1. Ddo Marquard: Wider die allzu laute Klage vom Sinnverlust Philosophische Bemerkungen und eine Fürsprache fürs UnsC21sationelle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 10. 1983, S. 9.

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(11.) und wagen abschließend eine Bewertung (111.) mit dem Ziel, etwas Licht in den Bedeutungsdschungel zu bringen. Die Quellen sind zumeist literarische, bisweilen zweitklassige. Wenngleich mitunter hölzern, so haben sie doch nichts von der Blindwut, mit der die heutige Sprache einen geradezu antiseptischen Charakter anzunehmen bemüht ist. Kommunikation versucht zu tilgen, was Grund ihrer Entstehung ist: das Mißverständnis im Geschriebenen selbst. I. ... die Kategorie des Glücks hat als isolierte immer etwas Armseliges ... Th. W. Adorno

»Unter Hunderten, die ihr um die rechte Bedeutung des Wortes Schlemiel fragt, werden neun und neunzig ganz gewiß zur Thürklinke greifen und sich höflichst entschuldigen: ich weiß nicht.« So beginnt eine kleine Erzählung aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts - und man ist versucht hinzuzufügen, heute verhält es sich vermutlich nicht viel anders. »Aber der Hundertste«, so fährt die Geschichte fort, »der das zu sagen weiß, bin gerade ich.« Schließlich, nachdem der Autor den Bogen der Koketterie beinahe überspannt hat, lüftet er dann doch uns Unwissenden das Geheimnis, und die Geschichte hebt belehrend an: »Wenn ein Mensch linkische und ungeschickte Manieren hat, so sagt man im Ghetto von ihm: er ist ein Schlemiel! «3 Das klingt zuerst einmal recht unbescheiden; zum zweiten in gewisser Weise exklusiv, denn nur im Ghetto soll ein solcher Mensch ja »Schlemiel« genannt werden; aber drittens auch: abschließend, ja geradezu fraglos. Es bleibe einmal außer acht, daß es das Bemühen des Autors Kompert auch war, jüdiches Leben im Jahrhundert der großen Emanzipationsbewegungen werbend bekannt zu machen, denn hier soll es nur gehen wn den Teil der Definition, nach der einer ein Schlemihl4 ist, der linkische und ungeschickte Züge aufweist, wobei dieses ist bereits ein erster Hinweis darauf sein kann, daß es sich beim Schlemihl um mehr als eine bloß situative Verhaltenszuschreibung handeln könnte - er gleichsam durch unterschiedliche Momente hindurch einen geradezu figürlichen Charakter angenommen hätte. Diese Figürlichkeit 3 Leopold Komper,: Schlemiel, in: ders., Aus dem Gheuo, Leipzig 21850, S. 63-103; alle Zitate S. 65 (zuerst 1848). 4 Es existieren vier verschiedene Schreibweisen: SchlemieI, Schlerniehl, Schlernil und Schlemihl. Hier wird - sofern in Zitaten nicht anderslautend - durchgängig die letzte gewählt.

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besagte dann auch, daß es nicht mehr um die Beschäftigung mit einer bloßen Ansicht ginge, nach der sich ein Mensch in einer bestimmten Situation - sagen wir: schlemihlsch verhält - oder auch nicht Nein, er wäre geradezu ein Schlemihl, und somit stünden die vom Autor geschilderten Situationen in ihren je einzelnen Komplexitäten zur Verhandlung. Dazu müßte freilich die Geschichte in voller Länge in Anschlag gebracht werden, was wir - wenn möglich - ersparen wollen. Deshalb versuchen wir es zuerst einmal anders herum: über den Begriff, denn schließlich könnte er sich die ausgegebene Bedeutung auch gegen die Tradition angeeignet haben. Nietzsche witzelte bekanntlich über die sogenannten klassischen Begriffe, daß sich bei ihnen alles anders verhielte. Vermutlich bespöttelte er damit ihre Fähigkeit, sich selbst zu überleben, spröde zu sein gegen die Zeit. Aber auch das kann sie nicht retten: nunmehr langsam ausgehöhlt, fallen sie irgendwann unter Getöse in sich zusammen.

Man muß kein Nominalist sein, um die Beunruhigung zu verstehen, die jemanden befallen kann, wenn selbst die klassischen Begriffe sich auflösen. Aber der Schlemihl ist, wenn er denn einer ist, zum Glück kein klassischer Begriff - dagegen spricht schon sein geringer Verbreitungsgrad. Daher kann der Weg des Wortes bei der Betrachtung nicht gleichgültig sein, denn vermutlich blieb es biegsam in der Zeit, gerade weil es kein gepanzertes Definitionsgehäuse besaß, empfänglich für die verschiedensten AufIadungen, so daß es lohnt, darauf einen Blick zu werfen.

Man darf hierbei allerdings kein Anhänger der Dilthey'schen Hermeneutik sein, denn das Wort wie seine Schreiber stehen dann zuweilen auch am Rande der großen Systeme - die Autoren ernähren sich geradezu von den Achtlosigkeiten der Zeitläufte, die dadurch gleichsam immer wieder neu sich einstellen. Beginnen wir also und befragen die Lexika. Der Schlemihl »begegnet [uns - J. W.] in der volkssprache als ein nicht böse gemeintes scheltwort träumer, schelm, loser schelmischer mensch, in der jüdischen gaunersprache, aus der das wort stammt, bezeichnet es einen dümling, einen ungeschickten, einen pechvogel... der held des Chamissoschen märchens, der unbeholfene träumer, der von verschuldetem und unverschuldetem unglück verfolgt wird, führt also einen sehr charakteristischen namen, Schlemihl kommt auch als familienname vor ... «5 - soweit das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm. 5 Jacob Grimm I WiJhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff., Bd. 9, Sp. 624.

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Drei Kategorien des Schlemihl lassen sich demnach identifIzieren: a) das volkssprachliche, nicht böse gemeinte Scheltwort, b) der Pechvogel aus der jüdischen Gaunersprache - zugleich die lt. Gebrüder Grimm wortgeschichtlich älteste Bedeutung, bb) die davon abgeleitete MärchenfIgur des Chamissoschen Märchens Die wundersamen Abenteuer des Peter Schlemihl c) und schließlich der Familienname. Aber wir sind auf der Suche nach dem historisch-genetischen Begriff und können es deshalb bei dieser Trias nicht bewenden lassen. Das jiddische Wörterbuch 6 bestätigt die Bedeutungen als Unglücksmensch und Pechvogel, erweitert den Typus um die weibliche Fonn Schlemilte und das Substantiv Schlemiligkeit, kann aber auch keine »absolut befriedigende Etymologie« geben. Ave-Lallemants großes enzyklopädisches Werk zum deutschen Gaunerturn7 schließlich radikalisiert die Schlemiligkeit zum vollständigen Unglück bzw. gänzlichen Verderben und gibt der DefInition die Note des Kriminellen - so heißt dort u.a: » .•• der bei seinen Unternehmungen gestört, ertappt oder in der Untersuchung verrathen oder überführt wird ... «8. Es bietet als Möglichkeiten der Herkunft sowohl das Alte Testament (4. Mose 25) / den Talmud (Sanhedrin 11, 82b - Shelumiel) als auch eine Anekdote des 14. Jahrhunderts an. Chamissos Märchen wird interessanterweise weder an dieser Stelle noch bei der Behandlung der »Literatur des Gaunerthums«9 erwähnt Alle weiteren hinzugezogenen Wörterbücher tragen gleichfalls nicht weiter. Kurz: die Herkunft des Begriffs ist letztlich nicht zu klären.

ll. Das Glück ist qualitativ unendlich vielfältig, das Unglück nur quantitativ. M. Horkheimer

Als Etymologe sind wir darüber leicht verärgert, der Genealoge in uns ist zum wenigsten verunsichert, der Phänomenologe aber freut sich: das vereinfacht und verkompliziert die Angelegenheit zugleich. Zuerst können wir auf die Kategorie des Familiennamens verzichten, zum zweiten mangels geeigneten 6 Vgl. SiegmundA. Wolf. Jiddisches Wörterbuch, Mannheim 1962, S. 170. 7 Friedrich Ghr. B. Ave-LaJlemm&J: Das Deutsche Gaunenhum in seiner social=politischen,literarischen und linguistischen Ausbildung m seinem heutigen Bestande, 3 Bde., Hildesheim I New York 1980 (merst 1858 ff.). 8 Friedrich Ghr. B. Ave-lAllemalll: DasDeutscheGaunenhum.Bd. 3, S. 600. 9 Friedrich Ghr. B. Ave-lAllemalll: Das Deutsche Gaunenhum, Bd. I,S. 117-272, bes. S. 214 ff.

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Materials nicht auf das volkssprachliche Scheltwort eingehen. Drittens aber dürfen wir auch quer zur möglichen Genese »figurieren«. Die noch verbliebene Kategorie der jüdischen Tradition (a) wird dementsprechend aufgespalten in (aa) die Behauptung eines Konnex zwischen der Bibel und dem Talmud und (bb) die Gleichgültigkeit im Hinblick auf eine möglichliche Verbindung derselben; Peter Schlemihl aus Chamissos Erzählung bildet eine eigene Kategorie (b) und schließlich (c) andere. a) Jüdische Tradition

aa) Behauptung eines Konnex zwischen Bibel und Talmud Heinrich Heine bringt im Dritten Buch des Romanzero eine jüdische Wurzel der Figur in Erinnerung. Er berichtet in einer Verquickung von Elementen des Alten Testaments und der talmudischen Erläuterungen, deren geneaologische Plausibilität uns an dieser Stelle nicht zu kümmern braucht, 10 in seinen Hebräischen Melodien von einem Schlemihl ben Zuri Schadday, der eine Umgangsform mit der Frau eines Rabbis pflegte, die ihn ums Leben brachte. Auch das Alte Testament kennt einen solchen Sachverhalt. Bei Heine heißt es aber weiter, daß Schlemihl ben Zuri Schadday zuerst einmal lediglich zugegen war, als der Rabbi den Ehebruch seiner Frau entdeckte und rächen wollte, denn » ... mündlich überliefert / Hat im Volke sich die Sage, / Daß es nicht der Simri war, / Den des Pinhas Speer getroffen Sondern daß der Blinderzürnte, / Statt des Sünders unversehens/Einen ganz Unschuld'gen traf, / Den Schlemihl ben Zuri Schadday. Dieser nun, Schlemihl 1., / Ist der Ahnherr des Geschlechtes/Derer von Schlemihl. Wir stammen / Von Schlemihl ben Zuri Schadday.« 11 Nach dieser Lesart kommt der Schlemihl, nein: ein Mensch sozusagen aus Versehen zu Tode, wird Opfer einer Verwechselung oder der Leidtragende einer Unbeherrschtheit bzw. der mangelnden Fähigkeit des Rabbis, den Speer richtig zu werfen. Vielleicht hätte letzterer auch irgendwann Grund gehabt, den Speer auf ersteren zu richten. In dem hier entscheidenden Moment jedoch könnte sein einziges ))Verschulden« höchstens sein, daß er genau in der Flugbahn steht: er stirbt vollkommen unschuldig und ist somit in dieser Eigenschaft der Begründer und erste Vertreter eines persönlich absolut schuldlosen Schle10 Vgl. dazu Max Zeld1ler: A note on 'Schlemiel', in: The German Quarterly, 1953,26, S. 115117. 11 Heinrich Heine: Romanzero. Drittes Buch. Hebräische Melodien, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe (Düsseldorfer Ausgabe), hrsg. von Man/red Windfuhr, 15 Bde., Hamburg 1982 ff., Bd. 3.1, S. 123 -176, S. 155 (zuerst um 1850).

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mihltums. Sonst erfahren wir nichts von dem Ahnherr aller Schlemihle. Er hat für uns weder Ausdehnung noch eigene Gestaltungskraft, sein Leben ist nur in und durch eben dieses Geschehen und dadurch unendlich und sozusagen rein: er ist nur Situation. Letztere aber hat als solche weder eine besondere Komik, noch wohnt ihr eine außerordentliche Tragik inne, da dies alles nur möglich wäre durch den Bezug auf eine konkrete Person; allenfalls - wenn es dergleichen gäbe - Situationstragik. Es stirbt irgendwer, nicht ein Schlemihl, denn dieser wird erst durch den Tod geboren. Wir wollen sein Leben ein wenig verfolgen. Heine fährt fort: »... Drey Jahrtausende verflossen, / Seit gestorben unser Ahnherr, / Herr Schlemihl ben Zuri Schadday. Längst ist auch der Pinhas todt - / Doch sein Speer hat sich erhalten, / Und wir hören ihn beständig / Über unsre Häupter schwirren. Und die besten Herzen trifft er ... «12. Spricht er vorher nur vom Geschlecht der Schlemihle, dem alle Juden angehören (s.o.), so erfährt dies durch die Aussage, nach der nur die besten Herzen der Speer träfe, eine recht pathetische Komponente: lediglich die herausragenden Kräfte des Volkes sollen es sein - unklar bleibt, auf welche Qualitäten er dies bezieht, wenngleich er als Dichter sich den Schlemihlen sicherlich zugehörig fühlte, oder ob er nicht doch das jüdische Volk als ganzes meint. Gleichwie, der Schlemihl ist nach wie vor unschuldig. Durch sein gestaltungsloses Dasein in der einen Situation hat er darüber hinaus noch keinen Standpunkt gegen und außerhalb der Welt inne - ja, überhaupt keinen Standpunkt. Anders äußert sich Hannah Arendt. Einerseits radikalisiert sie Heines Auffassung noch, andererseits subjektiviert sie diese gleichzeitig, indem sie schreibt: »Dadurch, daß er [Heine - J. W.] festhielt an seiner Zugehörigkeit zu einem Volk von Parias und Schlemihlen, reihte er sich ein in die Zahl der kompromißlosen Freiheitskämpfer Europas, von denen es gerade in Deutschland so wenig gab.«13 12 Heinrich Heine: Romanzero, S. 156; Hervorhebung nicht im Original. 13 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, S. 54 (zuerst 1948). Im übrigen gebraucht sie die Figur des Schlemihl nicht unbedingt einheitlich. Mal ist er lediglich eine mögliche Ausformung des Paria, mal mit dem Paria identisch. Ihre Paria-Parvenü-Konstruktion als ganze ist nun geprägt vom blanken Entsetzen dem Nationalsozialismus und der wütenden Enttäuschung den - vormals - assimilierten Juden gegenüber. Arendt zielt in der ihr eigenen Art ab auf den Aufweis der agonalen Pariaexistenz, wobei dem Paria - und damit auch dem Schlemihldas Pathos des Freiheitskämpfers zuteil wird. Vgl. ebd., S. 46-73 sowie die zutreffende Interpretation bei Wolfgang Heuer: Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Berlin 1992, bes. S. 152-164. Dies aber wird durch die ursprüngliche Schlemihl-Figur nicht gedeckt, denn deren Existenz in jüdischer Tradition ist begründet durch situatives Dasein, nicht durch Aktion oder Reaktion, die im übrigen erst so etwas wie Schuldhaftigkeit begründen könnten, von der der Schlemihl ja gerade frei ist.

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Sie räumt dem Schlemihl nicht nur eine Position gegen die Welt ein, auch stellt sie es damit sogar ins Belieben eines jeden (und man muß hier hinzusetzen: Juden), Schlemihl überhaupt erst zu sein. Dieser voluntaristische Zug geht dem Ahnherr, dem »Urbild« allerdings vollständig ab. Sein Wesen ist vielmehr ein unbeteiligt-schuldloses, darin einem ungefragten Passanten nicht unähnlich, das wird man sagen können - aber eben darum ist es gerade keine Position, die die Weltlichkeit der vorgefundenen, besser: den Schlemihl erst erzeugenden Welt aufzuheben auch nur versucht. »Por Heine land Arendt - J. W.], the schlemiel was a pathetic charakter. Stabbed by a spear meant for another, he had to bear the wounds nonetheless. In short, he was guiltless and there was no need to be anything but angry about the way an unjust world had chosen to treat him ... In the process, however, the essence of wh at a schlemiel actually is got hopelessly los1.«14

Nun wollen wir nicht so weit gehen, denn was ein Schlemihl tatsächlich ist, setzt eine zweifelsfreie Wortgeschichte oder aber eine im großen und ganzen einheitliche Begriffsverwendung voraus. Ersteres ist wie gesagt nicht gegeben. Was die Begriffsverwendungen betrifft, so müssen wir erst noch den weiteren Verlauf der Untersuchung abwarten. Arendt jedenfalls glaubt an die vorherige märchenhafte Unschuld der Figur und ihre der Welt gegenläufige Existenz, obwohl sie doch immer eine reale und d. h. keineswegs eine reine Figur war. bb) Gleichgültigkeit im Hinblick auf eine mögliche Verbindung von Bibel und Talmud Damit kommen wir doch zurück auf das eingangs zitierte Büchlein. Komperts Protagonist Anschel gibt die Visitenkarte eines ausgesprochenen Pechvogels ab. Allerlei Ungeschicklichkeiten rauben ihm seine innere Spannkraft, das Pech haftet ihm sogar noch beim eigenen Begräbnis an: der Totengräber gerät ins Straucheln, und um ein Haar entgleitet der Sarg. 15 Zwar gibt auch etliche Mißgeschicke, von denen man sagen kann, er selbst ist schuldlos an ihnen. Gleichwohl sind einige Begebenheiten erwähnt, bei denen man ihn nicht bedenkenlos wenigstens von Mitschuld freizusprechen geneigt ist. In geschäftlichen Dingen z. B. trägt er - modem gesprochen - die alleinige Risikohaftung, als es darum geht, eine Handelskompanie zu gründen,

14 Sanford Pinsker: The Schlemiel as Metaphor. Studies in the Yiddish and American Jewish Novel,Carbondale 1971,5.13. 15 Leopold Komper/: SchlemieI, S. 103.

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denn »der neue Gesellschafter hatte aber eigentlich nichts zu verlieren, denn Anschel sollte das Geld geben, den Profit wollten sie miteinander theilen«.16 Auch ist der eigentliche Nutznießer dieses »Schlemihlturns«, sein durchtriebener Gegenspieler Schlome Katz, stets irgend wie zugegen: Bisweilen befördert er das überzufällige Verteilung des Pechs nach Kräften. Wir haben es hier mit zu einer Figur verdichteten situativen Handlungen zu tun, deren zeitliche Ausdehnung sich fast zu einer Biographie auswächst, einem »Fatum«, wie Kompert sich ausdrückt 17 Über die der älteren Schlemihl-»Figur« ist diesbezüglich hingegen nichts ausgesagt. Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, daß auch dieser sich über die Situationen hinweg verdichtet hätte. Gleichwohl tritt bei Anschel eine neue Qualität hinzu: Mit seinem Schlemihlturn wird bewußt spekuliert, denn Schlome Katz entschlüpft bereits zu Beginn der Geschichte: » ... nicht zehn Jahre werden vergangen sein, da wird zu den Fenstern ... Einer herausschauen, der wird anhaben einen guten wannen Schlafrock ... und wird rauchen aus einer großen mit Silber beschlagenen Pfeif - und der wird heißen Schlome Katz. «18. Des weiteren ist in der Erzählung die Gunst der Verhältnisse sicher auch blind verteilt, aber es kommt ein gehöriger Teil selbstverschuldeten »Pechs« bzw. auf der anderen Seite: »Glücks« hinzu, und die bewußt kalkulierte Gestaltung der Handlung auf das Schlemihlturn des anderen hin ist eine grundsätzliche Neuerung gegenüber einem solchen, welches nur in und durch Handlung ist. Indes hat man zu keinem Zeitpunkt der Erzählung den Eindruck, als besäße der Schlemihl eine moralische Qualität im Sinne Heines oder Arendts. Sicher leidet Anschel, aber das ist ein Leiden in der Welt und nicht an ihr. Er versucht eine normale Biographie zu durchleben, an deren entscheidenden Punkten er freilich scheitert. Doch dadurch ist er nicht mehr und nicht weniger als die »schlechte Endlichkeit« (Hegel) aller möglichen Biographien selbst. Anders ausgedrückt geht es in der ersten Form des Güdischen) Schlemihls darum, die Welt zu überwinden; die zweite Lesart aber legt den Schlemihl so aus, als wolle er die Welt lediglich aushalten, was im vorgestellten Fall ja mißlingt Darin liegt keine Tragik im strengen Sinn,19 allerdings auch nicht die 16 Leopold Kompert: Schlemicl, S. 95. 17 Leopold Kompert: Schlemiei, S. 66. 18 Leopold Kompert: Schlemicl, S. 68. 19 KaFf Jaspers: Philosophische Logik, 1. Bd.: Von der Wahrheit, München 1947, hat mit würdevollem Ernst eine Figur des Tragischen entwickelt, ihr aber zugleich eine eigentümliche Leichtigkeit verliehen. ,.Das Tragische ist nicht in der Transzendenz, nicht im Grunde des Seins, sondern in der Erscheinung der ZeiL« (ebd., S. 960) Dadurch, daß Wahrheit in der Zeit ist, wird das Tragische zur sozusagen unzeitgemäßen Wahrheit - aber eben nur zur unzeitgemäßen. Dies wie-

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leise Komik, die z. B. Ludwig darin zu entdecken glaubt 20 Vennutlich schwebt letzterem bei seiner Einschätzung der zarte Witz vor, der der Figur auch anhaften kann. Zu ihr wollen wir nun übergehen. Die ersten Schlemihldarstellungen gehen, wie gesagt, von einem Konnex der biblischen mit der Talmudgeschichte aus. Da diese aber keineswegs gesichert ist, kann man sie mit gutem Recht auch vernachlässigen wie Kompert oder (stärker) sogar in Zweifel ziehen. Das hat zur Folge, daß man die Figur frei gegen die Schuldkategorie entwickeln kann. Auch Pinsker wählt diesen Weg und muß sich demzufolge überhaupt nicht mehr auf die eine oder andere Unschuldsversion zurückziehen; im Gegenteil: ))The schierniei ... has an band in his own destruction ... His 'accident' is a matter of his own doing and, furthennore, he involves other in his misfortune.«21 Darüber hinaus werden die Figuren mit einem spezifisch jüdischen Humor aufgeladen, deren trauriger Unterton ))is rooted in the ceaseless struggle for survival in an anti-Jewish society ... [While they - J. W.) carry a note of satirical (sometimes even biting) self-criticism, they are a means of consolation as weil, either through minimizing the troubles and hoping for a happyend ... «22. Das Kennzeichen dieses Schlemihls ist sozusagen die fortwährende Relativierung des Unglücks, das durch seinen Eintritt in einen Kontext überhaupt erst entsteht Singer hat diese Figur präzise herausgearbeitet, 23 illustriert werden soll sie aber mit einer jüdische Anekdote, in der der Schlemihl vom reichsten Mann am Ort Geld leihen möchte. Dieser weigert sich, worauf Schlemihl einwendet: ))But you've just got to give me some money!« ))Why?« demanded the rich man. ))Because if you don't, 1'11 go into the hat business!))))SO ... ?« ))What do you mean, 'so ... ?' If a man with my luck goes into the hat business, everybody in the country from that day on will be born without a head!«24. Diese Figur hat es aus verständlichen Gründen in Deutschland kaum gegeben.

derum, da solche Wahrheit nur an Personen gebunden sein kann, setzt die bewußte Orientierung der Person gegen die Welt voraus. Wenn wir diesen Begriff der tragischen Figur zugrunde legen, können wir von einer solchen beim Schlemihl schwerlich sprechen. 20 Vgl. Albert Ludwig: Schlemihle. Eine Studie zum Fonleben des Charnissoschen Märchens in Deutschland und England. in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 1920, 140 (Deutsches Sonderheft). S. 95-135, S. 133.

21 Sanford Pinsker: The Schlemiel as Metaphor, S. 9.

22 Encyclopaedia Judaica, Jerusalern 1971 f., Bd. 6, Sp. 1832. 23 Vgl. z. B. lsaac B. Singer: When Schlemiel went to Warsaw and other Stories, New York 21979. 24 Sanford Pinsker: The Schlemiel as Metaphor. S. 10.

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b) Peter Schlemihl

Nachdem jetzt wenn auch nicht alle, so doch vielleicht die wichtigsten der jüdischen Wurzeln und Ausprägungen des Schlemihls kurz vorgestellt worden sind, soll nunmehr ein Blick auf die anderen geworfen werden. Da ist zuallererst die alles überragende Märchenfigur des Adelbert v. Chamisso. 15 Sie war recht schnell so verbreitet, daß in ihrem Gefolge manch einer meinte, allein durch den Namen Peter Schlemihl zu einer gewissen Berühmtheit zu gelangen. 26 Selbst ein Heinrich Heine gibt in den Hebräischen Melodien an, sich vorher beim »Dekan der Schlemihle« nach des Wortes Bedeutung erkundigt zu haben. 27 Chamisso wiederum bezieht sich, wie er schreibt,28 auf den jüdischen Sprachgebrauch, wenngleich, abgesehen von einer geringfügigen Ausnahme, es im gesamten Buch keinen einzigen Bezug zu jüdischen LebensweIten gibt. 29 Er geht im wesentlichen von der Pechvogel variante aus, aber das Pechvogeltum ist sicher nicht seine herausragendste Eigenschaft. Doch der Reihe nach. Auf Widerruf verkauft Peter Schlemihl für die Aussicht auf unbegrenzten Reichtum seinen Schatten und soll hernach seines Lebens nicht mehr froh werden: dem materiellen Reichtum entspricht im folgenden eine rasante Zunahme gesellschaftlicher Armut bis hin zur vollständigen Robinsonade. Doch alle Versuche, seinen Schatten wiederzuerlangen, scheitern an Vorstellungen seines wahrhaft teuflischen Vertragspartners. Zu allem Überfluß beginnt darüberhinaus seine Geldquelle zu versiegen - mit Mühe kann er sich noch neues Schuhwerk kaufen, das - Glück im Unglück - sich als ein Paar Siebenmeilenstiefel entpuppt. Seiner extremen gesellschaftlichen Immobilität steht fortan eine ganz außergewöhnliche natürliche Mobilität gegenüber, der er trotz aller Not noch etwas Positives abgewinnen kann: er stellt sich in den Dienst der Wissenschaft, »bereist« die entlegendsten Erdteile, studiert die PfIanzen- und Tierwelt und verfaßt eine mehrbändige »Systema naturae«, die er der universitären Forschung zur Verfügung zu stellen wil. 3o 15 Adelhert v. Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, München 1988 (zuerst 1813) [da die jüngste 1b-Ausgabe Wlgleich zugänglicher ist, sei hier auch auf sie verwiesen]. 26 Z. B. veröffentlichte Ludwig Bechstein: Die Manuscripte Peter Schlemihl's, Berlin 1851, einen Roman, der die Suche nach den von Peter Schlemihl in Aussicht gestellten naturwissenschaftlichen Schriften schilden - er endet mit Tod und Elend. Zu weiteren Fonsetzungen siehe auch Gero v. Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs, Smugart 1978, S.54f. 27 Heinrich HeiM: Romanzero, S. 153 f. 28 Vgl. den Brief an seinen Bruder vorn 17. März 1821, in: Adelbert v. Chamisso: Werke, hrsg. von Max Sydow, 5 Bde., Berlin 1907, Bd. 5, S. 313. 29 Vgl. Adelbert v. Chamisso: Peter Schlemihl, S. 91. 30 Vgl. Adelbert v. Chamisso: Peter Schlemihl, S. 93 ff.

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III

Offensichtlich wollte Chamisso mit dem Hinweis auf die jüdische Umgangssprache nur den Namen, nicht aber das Wesen seiner Figur erklären, denn die Dinge, die ihm schlecht bekommen (z. B. Verkauf des Schattens), sind nicht seinem Pech zuzuschreiben, sondern vielmehr schuldangemessene Folgeerscheinungen nicht nur der Märchenwelt: man verkauft nicht »ungestraft« Dinge, deren Veräußerlichung einem teuer zu stehen kommen könnte. Was dann folgt, ist im wesentlichen ein sühnendes, einsam geführtes Leben oder auch: das einsame Leben als Sühne. Da ist nichts mehr von der situativen Existenz der Schlemihlfigur, kein zarter Witz, aber viel die Rede von der (forschenden) Diaspora als wirklicher Form des Daseins, die mit der übrigen Welt immer gerade eine Dimension zuwenig gemein hat, um ihr wirklich zu begegnen. c) Andere Der verkaufte Schatten als Motiv hat nachfolgend Karriere gemacht,31 und auch Peter Schlemihl wurde der Gegenstand vieler Wiederaufnahmen und Revisionen. Mal erfuhr er die einsame Deutung zwischen zwei Religionen, in der ein abtrünniger Talmudschüler nach seinen Ausflügen in die abendländische Philosophie von einem gütigen Rabbi in die jüdische Gemeinschaft zurückgeführt wird;32 mal ist es die Lesart der Zögerlichkeit zwischen zwei Nationen, in der sich Der neue Schlemih[33 verzweifelt letztlich der der Wahrheit verpflichteten Wissenschaft zuwendet. Die - vorläufig - letzte Interpretation des Schlemihls als eines im Grunde Heimatlosen wurde, soweit wir sehen, 1936 geliefert. 34 Des weiteren gibt es auch ausgesprochen häßlich gezeichnete Figuren aus finsteren Zeiten, z. B. antisemitische,35 oder welche, in deren Biographien kaum vom Leben die Rede ist, sondern die lediglich von Tod zu Tod reichen. Diesen Schlemihlen mißglückt nicht mehr einzelnes wieder und wieder. Nein, nicht Situationen sind es, in denen sie sich mit oder ohne Schuld schlemihlhaft verhalten. Ihr ganzes Leben wird vielmehr als von vornherein verfehlt dargestellt. }} ... Buckel und Philosophie«, so heißt es z. B. von ihnen, })führten den unehelichen Sohn der armen Wäscherin und den nunmehr endlich pensionierten Rittmeister zusammen«36. Keines der bisherigen Motive ist weder an 31 Vgl. dazu Cero v. Wilperl: Der verlorene Schatten. 32 David M end}: Ein jüdischer Peter Schlemihl, Prag 1864 (Nachweis bei Albert Ludwig: Schle-

mihle. S. 132). 33 Johann C. Meyer: Der neue Schlemihl, Berlin 1905.

34 Hans Nalonek: Der Schlemihl. Ein Roman vom Leben des Adelbert von Chamisso, Amsterdam 1936. 35 Karl Riedel: Peter Schlemihl und sein Sohn, Frankfurt a. M. 1839. 36 Richard Schaukal: Schlemihle. Drei Novellen, München 1908, S. 36.

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dieser Stelle noch sonstwo in den einzelnen Novellen auszumachen. Ein dekadenter Symbolismus hat den Pechvogel begraben und ihn als Quasi-Vogelscheuche noch einmal wieder auferstehen lassen. Da sind, solange man auch sucht, keine Vexierbilder mehr, da ist nur noch abgrundtiefe Verschiedenheit Zusammen mit diesen Figuren scheint auch ihr Name in Deutschland zu vergehen, denn bis auf ein episodenhaftes Auftreten als übervorteilter Krimineller37 ist es hierzulande still geworden um den Schlemihl.

111. Happiness is no laughing maUer. R. Whateley

Und doch stehen wir vor einer geradezu beängstigenden Vielfalt der Figuren, die - wir ahnen es - sich vermutlich noch kräftig erweitern ließe, wenn wir nur weitersuchten. Aber wir wollen es dabei belassen und festhalten, daß jenes »ist« in Komperts Definition einerseits seine Berechtigung hat es handelt sich beim Schlemihl tatsächlich um eine Figur, einen Typ, denn alle Beschreibungen zielen durch die nackte Ansicht hindurch auf ein Existenzial'. Andererseits ist es aber auch nur ein »kann sein«. Ein Schlemihl kann einer sein, der linkische und ungeschickte Manieren hat; er kann aber auch einer sein, der, wie von Geisterhand geführt, in ein schuldloses Unglück läuft; einer, der gänzlich aus der Gesellschaft herausbefördert wird und so fort. Wer will entscheiden angesichts des Quasi-Wildwuchses an Figurbelegungen? Selbst wenn man lediglich verschiedene Urbilder (etwa: jüdisch - nichtjüdisch, schuldlos - schuldhaft. Existenz als Dasein - Existenz als Biographie) annimmt, bleibt das Unbehagen, nicht alles kategorisieren zu können. Gleichwohl müssen wir es versuchen. Zu diesem Zweck werfen wir einen Blick auf die jüngste uns bekannt gewordene große Schlemihl-Figur. In den USA, in denen bekanntermaßen das Streben nach Glückseligkeit Verfassungsrang erhalten hat, ist der Schlemihl noch einmal zur Hauptfigur avanciert in einem Roman,38 dessen Strickmuster wohl postmodern genannt werden kann: ein Mosaik erzählter Gegenwart und rekonstruierter Vergangenheit, darin eine Flut von historischen Dokumenten, abseitigen Theoremen über kommunikationstheoretisch gewendete Thermodynamik, literarischen Parodien und immer wieder ein Nachdenken über Geschichte, Fiktion und Imagination.

37 Fred Breinersdorfer: Schlemihl und die Narren. Erzählungen von Verbrechen, Reinbek 1987.

38 Thomas Pynchon: V., Reinbek 1988 (zuerst 1961).

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Die »enzyklopädische Erzählung«, wie es heißt,39 rauscht zwischen den neunziger Jahren des vergangenen und den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts dahin, ihre Chronologie ist freilich gehörig durcheinandergewürfelt: die beiden Hauptfiguren springen scheinbar nach Belieben durch die Jahrzehnte. Der eine, Herbert Stencil, ist getrieben von der Angst, es gäbe mehr Kontingenz in der Welt, als diese - d i. auch er - vernünftigerweise vertrüge, und dementsprechend ständig auf der Suche nach einer »vernünftigen, humanisierten Geschichte«40. Er produziert eine Fülle von Geschichtsdeutungen, die ihren Bezugspunkt in erster Linie in seiner zwangsvorgestellten Welt finden, anstatt auf intersubjektive Verbindlichkeit abzuzielen. Die Verarbeitung und Überwindung der Welt ist in seinen eigenen Kopf verlegt. Er ist dadurch ein, wenn nicht der moderne Pikaro schlechthin.41 Der barocke Pikaro ist immer das Sinnbild einer dualen Weitsicht gewesen, in der die diesseitige Welt ja gelenkt wird von der launischen Fortuna. Das weltliche Leben als solches ist dementsprechend ohne Sinn, es sei denn, die »Bewährung« in der Welt würde als solcher betrachtet. Die Angst des fortgesetzten Wechsels bestimmt das Leben der verschiedenen alten Pikaros wie das des (post)modernen Herbert Stencil, der aus Gründen der Kompensation immerzu Geschichtstheorien produziert - nicht mehr, um sie auf die Welt anzuwenden, nurmehr in gleichsam sich selbst beruhigender Absicht. Der andere, der Schlemihl Benny Profane, treibt bewußtlos durch die Zeiten. Er kann die Geschichte und sein Selbst überhaupt nicht mehr vermitteln - »... diese lärmigen Versuche, das Glück mit politischen Mitteln zu erreichen ... [scheinen - J. W.] dem Verhalten jenes Seemanns zu gleichen, dem ich 1324 (!) vor Biserta begegnete ... «42 - und geht als ausgesprochene Objekt-Gestalt in augenblicksbezogenen Erfahrungen völlig auf. Ein selbständiger Bezug zur Welt ist sinnlos, weil die Welt sinnlos ist; eine lernende Aneignung gleichfalls, und so ist es nur folgerichtig, wenn es auf die Frage, ob er etwas gelernt habe, heißt: »'Nein', sagte er [Schlemihl - J. W.], 'ich kann ganz schlicht und einfach sagen: ich habe nicht die geringste Kleinigkeit gelernt.'«43 Zwar lernt auch der klassische 39 So Edward MendelsofI: Rainbow Corner, in: Tirnes Literary Supplement (I'LS) vom 13. 6. 1975, S. 666. 40 Thomas Pynchofl: V., S. 326.

41 Vgi. Klaus Poeflicu: Jenseiu von Puer und Senex. Der Pikaro und die Figurenphänomenologie der Postmoderne, in: Amerikastudien, 1979,24, S. 221-245, S. 231 ff. Poenicke entfaltet sehr schön das Pikaro-Dasein Stencils, legt aber keinen Wert auf die Beleuchtung des systematischen Zusammenspiels der Hauptfiguren innerhalb des Romans. 42 Thomas Pynchon: V., S. 493. 43 Thomas Pynchon: V., S. 488. 8 FS Görland

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Pikaro nicht - aber nur, weil er sich gar nicht bemüht, denn er weiß, daß das Glück bestenfalls in der Zeit liegt und dementsprechend nicht befördert. aber - einmal erfaßt - auch nicht wieder preisgegeben werden kann. Der Schlemihl aber unternimmt ständig neue Versuche, nur um zu scheitern. Nie glaubt er dabei, die Welt wäre blind; allenfalls, daß es ihm nur nicht gelingt, an ihr teilzuhaben. Daß die Welt nicht sehen könne, die Menschen also überwiegend ohne eine aufklärerisch verstärkte Optik auskommen, dieser Überzeugung war man ja bis ins 18. Jahrhundert hinein und mußte sie demzufolge schon als ganze höherinstanzlich überwinden, um sie zu ertragen. Leibnizsche Theodizee und nachfolgend die Geschichtsphilosophie schafften diesen Glauben bekanntlich ab, und fortan gab es ein Telos in der Welt Lauf, das es zu befördern galt. Diese Auffassung fand ihren literarischen Ausdruck im Bildungsroman des 19. Jahrhunderts. Trotz etlicher Irrungen gelangten dessen zumeist heranwachsende Jünglinge durch Bildung im weitesten Sinne zum glücklichen Ziel, wobei »der teleologische Prozeß der eigenen Bildung ... die sinnvoll-harmonische Struktur sowohl des Kosmos als auch der geschichtlichen Welt [symbolisiert. Damit ist der Bildungsroman - J. W.] die Umkehrung der pikarischen Geschichte, die in genauer Gegenspiegelung zu solch subjektiv-forciertem Glauben an den immanenten Sinn der Welt beherrscht wird von der Angst um ihre Unbeständigkeit«44 Wenn also vor der Zeit das zudem immer auch »kleine Glück« (Nietzsche) wahllos und stets bis auf weiteres in der Welt verteilt war und der Pikaro die ständige Mahnung aussprach, dies nicht zu vergessen, so wurde es - nunmehr als Glück - in die Welt selbst verlegt Der Hans im Glück ist ein treffliches Beispiel für dieses Ereignis um den Beginn des 19. Jahrhunderts. Dabei war im wesentlichen natürlich vom Glück die Rede, doch daß diesem innerweltlichen Glück aus Gründen der bedeutungsgebenden Symmetrie eine Art Unglück zur Seite gestellt werden mußte, liegt auf der Hand; und auch, daß der Pikaro in diesem Prozeß kaum mehr eine Rolle spielen konnte. Damit, und so könnten mögliche Thesen lauten, eröffnet sich plötzlich eine Perspektive auf den Schlemihl, dessen einigender Horizont gar nicht mehr diese oder jene Herkunft des Wortes ist, sondern vielmehr aus jeweiligen Vorstellungen vom irdischen als einzigem Glück gebildet wird, deren entsprechendes Negativ dann zur Schlemihlfigur gerinnen kann (a). Und während die Figur des Pikaro das Unglück zusammen mit der WeIt relativiert, soll der 44 Dieter Arendt: Der Schehn als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums. Vorarbeiten zu einer soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuugart 1974, S. 102.

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Schlemihl das Unglück in der Welt relativieren helfen, oder, positiv gewendet, das innerweltliche Glück als Glück defmieren und befördern (b). Das würde verständlich machen, warum der Begriff, kaum 'geboren', bereits wieder in Vergessenheit geriet, denn die Geschichte des nach-barocken Glücks ist im wesentlichen eine solche, die versuchte, ihren eigenen Gegenstand loszuwerden; aber ohne Glück kein Unglück und somit auch keine Schlemihle. Auch würde das die vielen unterschiedlichen Figuren erklären helfen, denn bereits Marcus Terentius Varro hat um 50 v. Chr. nicht weniger 288 verschiedene Glücksdefinitionen gesammelt,45 und es dürfte zweifelhaft sein, ob das schon das Ende ist Zwar haben wir uns nicht der Mühe einer Irreduzibilitätsprüfung aller Formationen unterzogen, geben aber zu bedenken, daß schon neun unterschiedliche Merkmale ausreichten, um auf über 500 unterschiedliche beschreibende Begriffe zu kommen. 46 Wenn nun das Unglück derart mit dem Glück korrespondiert, daß es zu jedem Begriff hier ein Komplement dort gibt - ja, geben muß (mit den dementsprechenden Schlemihlfiguren), dann sollte man angesichts dessen vielleicht lieber den Rat eines ausgesprochenen Praktikers einholen. »Non nasci homini optimum esse«47, soll weiland Cicero geurteilt haben, und wir sind geneigt, in gebrochenem Latein hinzuzufügen: sed votum raro succedit. Vielleicht könnte man es aber auch dabei bewenden lassen, nur nach denen zu fragen, die einen Vergleich zwischen der jugendlich vorgestellten und der später erinnerten Welt wagen und Glück bzw. Schlemihltum nach dem Gleichklang dieser sortieren. Immerhin spielt dieses Kriterium in mehr als der Hälfte aller von uns gesichteten Fälle eine nicht unbedeutende Rolle. Ob das aber überhaupt gelingen kann? - nun, nicht nur auf diese Frage haben Sie, sehr geehrte Ingtraud Görland, dem Autor immer noch eine Antwort voraus - und dabei ist völlig unerheblich, daß jedes Merkmal in mehr als der Hälfte aller theoretisch möglichen Figuren vorkommen muß.48

45 Vgl. Robert SpiUmann: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: Günther Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuugart 1978, S. 1-19, S. 1. 46 Nach der Formel a = 2 n-1 ergeben sich bei n = 9 für a gerade 511 verschiedene Definitionen.

47 Zitiert nach 000 MarqUllTd: Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie, in: Günther Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, S. 93111, S. 105.

48 Es gilt: b > afl, wobei a =2 n-1 und b =2n_1_(2n-1_l); n ist die Anzahl der verschiedenen Elemente und b die Häufigkeit, in der ein Element in der Gesamtheit aller Möglichkeiten auftri tL

Der Mensch - Maß seiner selbst? Von Joachim Ringleben

Wenn es eine Frage gibt, die heute sehr viele nachdenkliche Menschen beschäftigt, so ist es die Frage, ob die Menschheit angesichts der Erfahrungen unseres Jahrhunderts alles ausprobieren und verwirklichen soll, was man machen kann, wissenschaftlich, technisch, medizinisch, industriell, wirtschaftlich. Wir kennen alle solche Diskussionen im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes, der Gentechnologie und der medizinischen Ethik, der wirtschaftlichen Expansion und der Rüstung usw. Hinter dieser Frage, ob man alles, was möglich ist, auch tun soll, nur weil es möglich ist, steht die durch ernste Erfahrungen motivierte Überlegung, ob nicht ein unbegrenzter Fortschritt seine eigenen Voraussetzungen aufhebt, d. h. ob nicht z. B. schrankenlose Beherrschung und Ausnutzung der Natur schließlich die natürliche Basis solchen Vorgehens selber zerstört, und ob nicht die Entfesselung abstrakter Möglichkeiten sich gegen die wendet, die solche Möglichkeiten sinnvoll nutzen könnten. Man ist aufmerksam geworden auf eine Dialektik des Realisierens und Produzierens: daß es sich am Ende destruktiv gegen die Produzierenden selber wenden könnte. Angesichts solcher Gefahr eines Umschlagens menschlicher Aktivität in selbstläufige Prozesse, denen die menschlichen Subjekte hilflos wie Objekte ausgeliefert wären, fragt man ganz neu nach prinzipiellen Grenzen des Wachstums und Fortschritts. Denn die scheinbare Nachgiebigkeit der Natur, die alles mit sich machen läßt, könnte gerade die Weise sein, wie die vergewaltigte zurückschlägt. Es ist offenkundig, daß die zeitgenössische Suche nach Maß und Grenze des durch uns Menschen Machbaren auch die grundlegende Frage nach einem Maß des Menschen selber enthält. Um diese Frage, die nicht neu ist, aber heute besondere Aufmerksamkeit verdient, soll es im folgenden gehen. Hier ist zunächst wichtig, daß die Frage des Menschen nach einem Maß, an dem er sein eigenes Dasein orientieren kann, unausweichlich ist. Alles Klagen

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Joachim Ringleben

über einen )) Verlust der Mitte«l darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Mensch immer schon seine Mitte verloren hat, d. h. daß er nie fraglos in sich zentriert ist, sondern seine Wesensmitte suchen muß. Die neuere philosophische Lehre vom Menschen spricht von der ))ex-zentrischen Positionalität«. Sie beschreibt damit die eigentümliche Struktur des Menschen, der nicht einfach in seinem Wesen ruht, wie etwa das Tier, sondern sich bewußt zu sich verhält, gleichsam zu seinem eigenen Wesen noch einmal Distanz hat und damit eine unerhörte Offenheit und Plastizität. Er ist zwar auch Natur, aber in ihm ist die Natur stets schon mehr als bloße Natur: Natur, die von sich weiß. Nietzsche hat das sehr schön formuliert: der Mensch ))das (noch) nicht festgestellte Tier«. Grundsätzlich gilt, daß der Mensch nicht einfach ist, was er ist; sondern er verhält sich auch ausdrücklich zu seinem Sein; er hat sein Sein nur, indem er davon auch unterschieden ist. Dies Verhältnis zu sich kommt nicht nachträglich hinzu, sondern macht gerade das spezifische Sein des Menschen aus: sein Sein ist ein sich zu sich Verhalten. Nur darum kann der Mensch nach sich fragen; kann fragen, was das ist: der Mensch. In diesem Nicht-Festgestelltsein liegt die Notwendigkeit des Menschen, nach sich selber zu fragen. Weil er sich selber eine Aufgabe ist - sein Dasein ist diese Aufgabe -, darum kann der Mensch gar nicht anders als nach einem Maß für sich zu suchen. Schon der Umstand, daß wir nach einem Maß unseres Menschseins fragen können, beweist, daß wir danach fragen müssen. Die Frage nach einem Maß des Menschen hängt eng mit der seiner Selbsterkenntnis zusammen. Bei den Griechen, für die das Maßvolle einen höchsten Wert darstellte, ist bezeichnenderweise ApolI, der Gott des Maßes, auch der Gott, der fordert: yvc;)~h 0"6ClU"tOV, Erkenne dich selbst! Und besonnen zu sein, ja weise (O"Oqlo~), bestand ihnen darin, Maß halten, sein eigenes Maß finden zu können (lllhpov 6X.6LV). Aber was ist das eigentlich - ein Maß? Es ist die Grenze, durch die etwas sein Wesen erfüllt.2 Sein Maß finden heißt, ganz bei sich zu sein, d. h. frei von Selbstüberhebung, frei davon, sich in Extreme jenseits des eigenen Wesens zu verlieren. Das Maß als meine spezifische Grenze ist etwas Eigenes 1 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt a. M. 1959 (zuerst 1948). 2 Gerade auch eine Größen bestimmung kann solch eine Grenze bezeichnen: ein bestimmter Umfang, ein gewisses Soviel und Nichtmehr, das meine Wirklichkeit ausfüllt und begrenzt, durch das ich wirklich sein kann, was ich bin. Maß ist also eine quantitative Bestimmung von qualitativer Bedeutung.

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und zugleich doch ein Anderes, an dem ich mich als meiner Wahrheit messe. In meinem Maß gewinne ich Distanz zu mir - ich stoße auf meine Grenze - und komme doch zu mir selber, auf mich zurück -, eben weil es mein eigenes Maß ist Maß ist als meine Grenze das Andere, in dem ich ganz bei mir sein kann. Aus dem Wesen des Maßes folgen zwei einfache Bedingungen für unser Thema. 1. Die Suche nach einem Maß seines Seins ist für den Menschen notwendig, weil er eben nicht mit sich umstandslos identisch ist, sondern zu sich selber erst fmden muß. Sein Maß ist wie ein Horizont, auf den hin er sich entwerfen und von dem her er sich verstehen kann. Im Sinne unmittelbarer Selbstaffirmation ohne Abstand zu sich, durch sein bloßes Dasein, kann er also niemals wirklich Maß seiner selbst sein. 2. Es folgt: das Maß darf für ihn auch nicht etwas völlig Fremdes bedeuten. Es soll ja wahrhaft sein eigenes Maß sein, d. h. er muß es frei als das ihm Gemäße bejahen können. Nicht irgendein Maß, von irgendwo her auferlegt, kann ich als meine Wahrheit innerlich annehmen. Ich muß vielmehr mich selber darin wiederfinden und verstehen können. Nur wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, kann es so etwas wie ein Maß des Menschen geben: ein begrenzendes Anderes, in dem er durchsichtig bei sich selber, d. h. frei, ist

I. Protagoras Weil sein Maß dem Menschen irgendwie verwandt sein muß, ist es nicht verwunderlich, daß die Meinung entstehen konnte, der Mensch sei selber auch das absolute Maß, nämlich wie für alle Dinge so auch für sich. Und genau diese modem klingende These, daß der Mensch selber im Mittelpunkt von allem steht, hat bereits der griechische Philosoph Protagoras ausdrücklich vertreten. Protagoras lebte im 5. vorchristlichen Jahrhundert und war der erste der sog. Sophisten. Ungefähr vor 2350 Jahren formulierte er den berühmten Satz: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht-seienden, daß sie nicht sind.«3 D.h. also, daß die Dinge überhaupt sind und wie sie sind, das gilt nur in bezug auf den Menschen, für den sie da sind. Die Dinge, alles, was es überhaupt gibt, haben kein Sein an sich, keine objektive Wahrheit, sondern lediglich ein Sein-für-den-Menschen, eine bloß auf ihn relative Wahrheit, sind nur für das Subjekt gültig. Darum kann es kein allgemeines Wissen geben, sondern nur ein subjektives Meinen: eben wie jedem die Wirklichkeit erscheint, so ist sie. Wirklichkeit ist nur Sein-für-mich. 3 Zit. nach Plalon: Theaitetos, 152 a 2-4; vgl. im übrigen Hermann Diels I Wal/her Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 2. Bde., Berlin 61952, S. 253 ff., bes. S. 262-266.

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Man hat den Eindruck eines völligen Relativismus: die Wahrheit der Dinge löst sich in ihren Bezug zur Subjektivität des Menschen auf, und der Mensch ist Maßstab dessen, was sie sind. Nun scheint Protagoras mit dem Ausdruck »der Mensch« nicht nur den Menschen im allgemeinen, also das Wesen der menschlichen Gattung oder die Struktur menschlichen Bewußtseins überhaupt gemeint zu haben. Dann wäre nur behauptet, daß es Wahrheit und Wirklichkeit nur geben kann in Beziehung auf ein Bewußtsein, für das sie Wahrheit und Wirklichkeit sind. Es wäre gleichsam nur das unaufgebbare Recht einer menschlichen Welt betont. 4 Der Satz des Protagoras aber über den Menschen als Maß aller Dinge soll gerade vom Einzelmenschen als solchen gelten. Damit ist der Relativismus und Skeptizismus absolut gesetzt: Wie mir als zufälligem Individuum die Wirklichkeit erscheint, wie sie für mich gerade in dieser Zufälligkeit und Willkürlichkeit ist, so ist sie eben. Für einen anderen ist sie anders, und sie hat gar kein substantielles Eigensein und Eigenrnaß. Wirklichkeit ist der Inbegriff rein subjektiver Perspektiven. Dieser schlechte Subjektivismus wird an den Beispielen deutlich, die Protagoras selber gibt: dem einen Menschen erscheint der Wind eher kalt und einem anderen derselbe Wind wieder eher warm, oder jedem Betrachter erscheint eine Farbe je nach der Beleuchtung, in der er sie gerade erblickt. Wie man sieht, sind es triviale Beispiele aus dem Bereich sinnlicher Erfahrungen, also von Erfahrungen, die nur das Einzelsubjekt machen kann. Schon erkenntnistheoretisch gilt dieser Relativismus: jeder nimmt entsprechend seiner zufälligen Position und Verfassung die Wirklichkeit anders wahr. Daß der Mensch Maß aller Dinge ist, hat aber auch einen ethischen Sinn für Protagoras. Auch was richtig und gut bzw. schlecht und böse ist, das gilt wiederum nur in Relation zum Einzelnen, für dessen Ansicht und Bedürfnisse es nützlich oder schädlich ist. Es gibt keinen unabhängigen ethischen Maßstab, alle sittlichen Werte sind relativ. Darum versprachen die Sophisten ihren Schülern, mit ihrem Unterricht und ihrer Redekunst auch die schlechtere Sache zur stärkeren zu machen. Mit diesem ethischen Relativismus insbesondere be4 In dem Sinne, daß alles, was mit dem Anspruch auf Wahrheit und Wirklichkeit an den Menschen herantritt, auch von ihm als seine Wahrheit und Wirklichkeit muß angenommen und nachvollwgen werden können. Dabei bliebe aber das Gegenübersein der Wahrheit, das Ansichsein der Dinge gerade erhalten. Sie sind zwar für den Menschen, aber gerade als das, was von ihm unterschieden ist; in ihrer Beziehung auf die Subjektivität stellt sich gerade ihre Objektivität dar. So wie es kein Ansichsein gibt, das nicht für das Bewußtsein an sich ist, so ist umgekehrt das Sein-für nur die Weise, wie das Ansichsein sich als solches darstellt. In vergleichbarer Weise hat Kant gelehrt, daß wir die Dinge nie erkennen können, wie sie an sich sind, sondern nur - bedingt durch die Struktur unseres erfahrenden und erkennenden Bewußtseins wie sie uns erscheinen. Damit ist aber gerade kein unbegrenzter Relativismus ausgesprochen, sondern eine transzendentale Notwendigkeit objektiv-gültiger Erfahrungserkenntnis.

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fanden sich die Sophisten in scharfem Gegensatz zum sonstigen griechischen Denken und sittlichen Empfmden. Denn die gesamte griechische Ethik bis hin zu Aristoteles war eine Ethik des Maßes - eines Maßes, das zwar vom sittlich reflektierenden und handelnden Subjekt zu suchen, das ihm aber vorgegeben und seiner Manipulation entzogen ist. Ja, für Platon, der sich wohl am nachhaltigsten mit diesem Relativismus auseinandergesetzt hat, war Gott das Gute schlechthin, und darum sah er allein in Gott das Maß aller Dinge, wie er deutlich gegen Protagoras sagt.5 Schließlich ist noch zu erwähnen, daß Protagoras seine relativistische Skepsis auch auf die Religion bezogen hat. In einer verlorenen Schrift »Über die Götter« (llgpL ~g6)v), deretwegen der Sophist aus Athen verbannt wurde, hatte er erklärt: »Von den Göttern kann ich nichts wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind«. Man erkennt unschwer die Nähe zu dem berühmten homo-mensura-Satz und die Folgerichtigkeit! Wenn der Mensch selber Maß aller Dinge ist, dann ist auch das Göttliche diesem Maßstab unterworfen.6 Ich möchte hier allerdings die Frage aufwerfen, ob an dem allen nicht auch etwas Richtiges sein kann. Denn es ist doch einfach so, daß in seinen Aussagen über Gott der Mensch immer auch sich selber defmiert und daß umgekehrt keine Aussage über Gott mit dem Anspruch auf Wahrheit überhaupt vernommen werden kann, wenn sie sich nicht als das ausweist, was dem Menschen sein eigentliches Maß gibt. Unsere Hauptfrage wird sein, wie sich das zueinander verhält: daß nur Gott selber das absolute Maß ist sonst versinkt alles im Relativismus - und daß doch der Mensch sich in diesem Maß soll identifizieren können. Und ich setze eine wohlmöglich noch stärker provozierende Frage hinzu: Hat nicht Jesus selber die Religion kritisiert und für sie ein menschliches Maß gefordert, wenn er sagt: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.« (Markus 2,27)?

_5 '0 8~ ~g97toin / Martin l. Rees: Cosmic Coincidences. Dark Matter, Mankind, and Anthropic Cosmology, Ne\\ York 1989 (Dt.: Ein Universum nach Maß. Bedingungen unserer Existenz, Basel 1991, S. 215).

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achtet wird und ohne die Kernresonanz nicht erklärbar wäre. Alle weiteren Begründungs ideen fallen Ockhams Messer zum Opfer. Bernulf Kanitscheider erklärt, weshalb das Anthropische Prinzip die ihm von Gribbin und Rees zugedachte Rolle nicht erfüllen kann: es »drückt aus, daß die feinabgestimmten Züge unserer Weh, welche die notwendigen Voraussetzungen für die Existenz des Menschen bilden, nicht vollständig aus der Theorie heraus erklärbar sind«24. Wenn das so ist, dann kann nicht umgekehrt das Anthropische Prinzip die methodologische Rolle eines Theoriebestandteiles erhalten. IV. Anthropischer Fundamentalismus 13. Lange vor der Erfindung eines Urknalls und einer anthropischen Kosmologie ist der nächtliche Himmel von irdischen Betrachtern als Zeichen einer kosmischen Ordnung wahrgenommen worden, die das Dasein der Betrachter selbst einschließt und ihnen moralische Orientierungen vermittelt. Diese jahrtausendealte normative Integration des Betrachters in die kosmische Ordnung hat auch in der Modeme überlebt. Eine altmodische Formulierung dafür entnehme ich einer ehrwürdigen Einführung in die Himmelskunde aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Sie spricht von einer »himmlischen Gesetzgebung, die uns alle umfängt, beschirmt, mit Wohltaten überhäuft«, und deren Erkenntnis uns dazu verhelfen würde, daß »Ordnung und Harmonie unser Tun mehr und mehr durchdringen«25. Das ist eher dekorative Rhetorik. Ernsthaft sind im Kontext der neuzeitlichen Naturwissenschaft solche Ideen in der Physikotheologie oder »Natural Theology« des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts ausgearbeitet worden. Die »natürliche Religion« besteht darin, daß im Aufbau des Kosmos und in der Ausstattung der Organismen ein hohes Maß an anthropischer Ordnung nachgewiesen wird und als Indizienbeweis für das Wirken eines gütigen Weltenschöpfers interpretiert wird. Der Ausdruck »anthropisch« steht damals noch nicht zur Verfügung; er erfaßt retrospektiv die naturtheologische Vorstellung, daß der Kosmos lebensfreundlich und das Leben so beschaffen sei, daß es dem Nutzen und der Erbauung der Vernunftwesen dient. Über den nüchternen Sinn des Anthropischen Selektionsprinzips der Physikalischen Kosmologie geht die Physikotheologie dadurch hinaus, daß sie die Bewohnbarkeit des Weltalls explizit als Ergebnis einer Planung versteht und diese so auffaßt, daß sie das Leben nicht nur zuläßt, sondern ihm freund24 Bernulf Kanitscheider: Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993, S. 157. 25 M. Wilhelm Meyer: Das Weltgebäude. Eine gemeinverständliche Himmelskunde, Leipzig 1908, S. I, S. 14 (zuerst 1897).

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lieh zugewendet ist. Nur deshalb kann die Erkenntnis der kosmischen Ordnung auch Aufgaben einer normativen Orientierung übernehmen. Ich be zeichne eine Ordnungskonzeption dieser Art als Anthropischen Fundamentalismus. Dieser Fundamentalismus ist nicht eine Konsequenz des Anthropischen Prinzips, er nimmt eine stärkere Idee in Anspruch. Um auch terminologisch Verwechslungen vorzubeugen, bezeichne ich sie als Anthropisches Integrationsprinzip. Sie besagt ungefahr: die Natur des Kosmos verhält sich Lebewesen mit hochentwickelter Intelligenz gegenüber freundlich, sofern sie sich dieser Natur gemäß verhalten. 14. Fundamentalistisch ist jede WeItsicht, die die Geltung von Einsichten und moralischen Geboten auf die Autorität einer der weiteren Befragung enthobenen Instanz gründet. Es ist klar, daß jede Religion fundamentalistisch sein muß, sofern sie die Einhaltung bestimmter Gebote fordert und diese auf den Normsetzungsakt einer Gottheit zurückführt. Der christliche Theismus ist ein anthropischer Fundamentalismus, sofern er seinen Geltungsanspruch nicht allein auf die Offenbarung und damit auf die Vertrauenswürdigkeit einer speziellen Überlieferung stützt, sondern auch auf allgemeine Argumente, die anhand der Natur der Schöpfung und der Vernunft dem Zweifelnden, wenn er nur argumentationsbereit ist, vor Augen führen sollen, daß diese Welt das Werk eines personalen Urhebers von überlegener Weisheit, Güte und Macht sein muß. Dieser theistische Diskurs hat im achtzehnten Jahrhundert in großartiger Weise an der Entwicklung der Rationalitätskriterien mitgearbeitet, anhand derer dann allerdings die vollkommene Niederlage der theistischen Argumente zutage trat. Die Aufklärung entwickelt ein nichtfundamentalistisches Begründungskonzept. Die Vernunft findet ihre Fundamente in sich selbst, in den normativen Präsuppositionen der argumentativen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. So macht Kant den Anspruch auf vernünftige Selbstbestimmung, den jeder erhebt, der nach Maßstäben handeln will, deren Gültigkeit er selbst geprüft und eingesehen hat, unter dem Titel der Autonomie zum nichtfundamentalistischen Fundament seiner Prinzipienethik. Die Vernunft bedarf keiner Autoritätsfundamente mehr, weil sie in der reflexiven Abstraktion ihres diskursiven Vorgehens ihrer eigenen Fundamente gewahr wurde, die sie bei der kooperativen Wahrheitssuche in der kritischen Überprüfung von Geltungsansprüchen immer schon in Anspruch nimmt. Die reflexiven Grundlagen der autonom gewordenen Vernunft bilden kein fundamentalistisches System mehr, sondern sie stehen in Opposition zu jedem Fundamentalismus, weil in ihnen nur diejenigen Präsuppositionen ausgezeichnet werden, die jeder mitvollziehen muß, der ernsthaft an einer Argumentation teilnehmen will. Das ist die Wendung, die die heutigen Kommunikationsethiken der Autonomieidee Kants ge-

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ben, die in ihren transzendentalen Begründungsvorstellungen noch dem fundamentalistischen Modell einer intelligiblen Welt verhaftet geblieben war. Der theistische Fundamentalismus ist aus dem Argumentationsbestand der westlichen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden, aber die Denkmuster und Integrationsbedürfnisse, die ihn getragen haben, bestehen weiter. Sie nähren heute einen naturalistischen Fundamentalismus, in dem die Natur die von Gott freigemachte Funktionsstelle einnimmt. Viel stärker als der Theismus, der ja diese Welt für eine andere aufgeben kann, basiert der anthropische Naturalismus auf dem Anthropischen Integrationsprinzip, das gewöhnlich vom Anthropischen Kosmologischen Prinzip, auf das Vertreter des Naturalismus sich gerne berufen, nicht unterschieden wird. Den Ausgangspunkt des heutigen Naturalismus bildet die Einsicht, daß in der unter dem Schlagwort der »ökologischen Krise« zusammengefaßten technischen Überforderung der Selbstregulationsfähigkeit der Ökosphäre eine verfehlte Einstellung der Menschen im Umgang mit der Natur und sich selbst zutage tritt. Die neue Naturverehrung ist attraktiv, weil sie eine vereinfachte Deutung von Ängsten und Verlusterfahrungen ermöglicht, die viele Menschen angesichts einer auf Dauer gestellten und dauerhaft beschleunigten Durchdringung, Umgestaltung und Verarmung ihrer Lebenswelt und der natürlichen Welt durch technische und ökonomische Systemzwänge empfinden. Wie vorläufig und gefährdet die Emanzipation von fundamentalistischen Integrationsbedürfnissen ist, zeigt sich in der moralischen Intuition, mit der die Nachfahren der Aufklärung reagieren, wenn die Wissenschaft die Aufhebung oder Verschiebung vermeintlich identitätssichemder Grenzziehungen in Aussicht stellt. Die eingebildeten oder tatsächlichen Grenzüberschreitungen der Gentechnik und die Auflösung von früher schicksalhaften Automatismen des Todes durch die postmortale Fortführung einer Schwangerschaft sind Beispiele dafür. Solche Innovationen provozieren Unsicherheiten, die in eine neue Interpretation alter fundamentalistischer Grenzziehungen umgesetzt werden. Die Denkfigur, daß etwas falsch sei, weil Gott es nicht gewollt habe, wird mitten im Satz unterbrochen, weil den Kindern des neuen Zeitalters einfallt, daß der Glaube an einen Gott nicht mehr in Mode ist, und dahin korrigiert, daß es wohl eher die Natur sei, die es so nicht gewollt haben könne. So entsteht ein naturnahes Denken, das nicht der moralischen Beurteilung moderner Handlungsoptionen dienen kann, sondern nur ihrer vormoralischen Tabuisierung.

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v. Naturalistischer Fundamentalismus und Moralität 15. Jede fundamentalistische Begründung eines Gebotes durch eine norm gebende Instanz kann durch die folgenden Fragen geprüft werden. Wir können fragen, (a) welche Gründe die Annahme für sich habe, daß jene Instanz existiere, und zwar als eine normgebungsfähige, also in irgendeiner Weise personale Gestalt, und (b) was für die Annahme spreche, daß das zur Diskussion stehende Gebot wirklich dem Willen des Normgebers entspreche, und schließlich, (c) warum wir die Gebote jener Instanz nun eigentlich zu befolgen haben. Theistische Systeme haben angesichts der ersten beiden Fragen weniger Schwierigkeiten als naturalistische, denn sie unterstellen ja gewöhnlich die Verläßlichkeit von Berichten über die Offenbarung der Gottheit. In der Offenbarung bekundet der Gott die von ihm erwartete personale Qualität, und er tut seinen Willen kund. Allerdings ist in dieser Hinsicht der Versuch selbstdestruktiv, die Vorstellung eines Schöpfers an eine Expansionskosmologie anzuschließen. 26 Nicht nur befördern die gewaltigen zeitlichen und räumlichen Distanzen und die Vorstellung einer Vielheit bewohnter Welten den Schöpfer aus der Reichweite personaler Kommunikation, zudem macht er den Eindruck eines hilflos der Expansionsdynamik des Kosmos ausgelieferten Bedienungspersonals, das umständlich und unter Inkaufnahme erheblicher Risiken für seine Geschöpfe sein Ziel anstrebt. Auch im Hinblick auf die zweite Frage trägt die Offenbarung nicht mehr. Die traditionellen moralischen Probleme werden heute längst in universalistischen Theorien behandelt, denen die Theologie eher hinterherhechelt. Die neuen moralischen Probleme aber kommen in der Offenbarung gar nicht vor. Ist es erlaubt, in das von Gott uns zugewiesene genetische Erbe einzugreifen, beispielsweise zu dem Zweck, Erbkrankheiten an der Wurzel zu heilen, also in der Keimbahn, oder die von Gott gezogene Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig zu machen, um, unter bestimmten Voraussetzungen, den Körper einer gehirntoten Frau für die Austragung ihres Embryos funktionstüchtig zu halten? Der Erklärung, daß Gott hier Grenzen gezogen habe, damit man sie als dem Menschen zugewiesenes Schicksal respektiere, kann man mühelos entgegenhalten, daß er in diesem Falle uns ja wohl kaum jene Vernunftfahigkeiten verliehen hätte, die es erlauben, diese Grenzen 26 Einen solchen Versuch unternehmen beispielsweise Jean GuilIon / GrichJuJ und [gor Bogda. Dieu et la science. Vers la metarealisme, Paris 1991,2. rev. Aufl. 1992 (Dt.: Gott und die Wissenschaft. Auf dem Wege zum Metarealismus, München 1993). Es gibt übrigens Veröffentlichungen, die den »Nachweis« führen, daß die Neuigkeiten der Expansionskosmologie, beispielsweise die Inflationsphase und die EntkopplWlg von Strahlung und Materie, längst in den ersten Sätzen der Genesis dargestellt seien (wenn der »Wind Gottes« über den Wassern weht und das Licht von der Finsternis geschieden wird); solche Dummdreistigkeiten sind zu finden in Gerard L. Schroeder: Genesis and the Big Bang, New York 1990.

IIOV:

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zu überqueren. Weiterhin erwecken die Krankheitsanfalligkeit des genetischen Schöpfungsvennächtnisses und die Differenz zwischen dem Gehimtod und dem Erlöschen der vegetativen Funktionen auch nicht den Eindruck, daß Taten und Absichten des Schöpfers so eindeutig gewesen wären, wie die Erklärung es unterstellt. Die Konsequenz aus dem Umstand, daß die venneintlich klaren Grenzziehungen sich als so undicht erweisen, ist natürlich, daß die Berufung auf den Willen des Schöpfers für die Klärung moralischer Probleme nichts hergibt. Selbst dann aber, wenn es sich glaubhaft machen ließe, daß der Schöpfer wirklich jene Grenzen nicht überschritten haben wollte, bleibt die dritte Frage zu beantworten. Sofern eine Antwort versucht wird, ist damit eingeräumt, daß es die Gründe sind, die uns ein Gebot als berechtigt erscheinen lassen können, nicht aber die Existenz eines Nonngebers. Da wir unsicher in der Orientierung des Handeins und in der Beurteilung der Handlungen anderer sind, hätten wir manchmal nur allzu gerne eine Autorität zur Verfügung, die uns stets die richtige moralische Auskunft erteilen könnte. Aber wenn wir etwas weiter nachdenken, sehen wir, daß eine solche Autorität unmöglich ist. Unvermeidlich müßten wir unsere Autonomie wahren, indem wir die Autorität Begründungsforderungen aussetzen und ihr mithin den Status einer fundamentalistischen Autorität entziehen. Nur die befragbare, irrtumsfähige und lembedürftige Autorität, jener Mensch also, von dem wir wissen, daß er häufiger und sicherer als andere das Rechte sieht, hat im moralischen Leben der menschlichen Gemeinschaft einen Platz. Die mit fundamentalem Anspruch auftretende Autorität des nonngebenden Schöpfers wird nicht nur durch das Wissen untergraben, daß sein Schöpfungswerk zu einer unendlichen Masse des sinnlosen Leidens, der ungesühnten Verbrechen und der lebenvernichtenden Katastrophen mißraten ist. Entscheidend für das Scheitern einer theistischen Moralbegründung ist, daß sie das Autonomieprinzip der Moral verletzt und es allenfalls rhetorisch wieder zulassen kann. Diese Unverträglichkeit hat ihren Grund darin, daß nur endliche, leidensfähige und irrtumsanfällige Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft moralisch lernen können. Der Herr einer intelligiblen Welt könnte moralische Probleme noch nicht einmal verstehen. 16. Der Naturalismus hat es offenkundig schwerer, auf die erste Frage Auskunft zu geben. Auf die zweite antwortet er genauso wie der Theismus und gerät in dieselbe Schwierigkeit: wenn der Natur schon Absichten unterstellt werden, dann kann man ihr genauso gut unterstellen, sie habe es gewollt, daß eine hochentwickelte Lebensform die Steuerung ihres genetischen Erbes selber übernehme. In der Konfrontation mit der dritten Frage ist die Natur auf den ersten Blick im Vorteil. Ein göttlicher Normgeber sieht sich den Schwierigkeiten der Theodizee ausgesetzt und kann diesen Prozeß nur verlieren. Die Natur

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aber ist, wie sie ist, sie bedarf keiner Rechtfertigung. Aber genau aus diesem Grund ist sie auch zu moralischen Stellungnahmen nicht autorisiert. Für eine genauere Prüfung erweitere und modifiziere ich eine Übersicht verschiedener Naturbegriffe, die Dieter Birnbacher vorgeschlagen hat. 27 (a) Zunächst kann Natur als die Gesamtheit der im Kosmos enthaltenen Dinge und Ereignisse begriffen werden. Zu dieser kosmischen Natur gehören dann auch wir und unsere Handlungen, einschließlich derer, die die Natur schädigen. Die Menschheit und ihre Projekte, die Technik und die Moral, sind selber Ergebnisse und Bestandteile der kosmischen Evolution. Dann ist es aber inkonsequent, von einer Schädigung der Natur zu sprechen. Die kosmische Natur kann sich nicht schädigen, weil die Schädigungshandlung und der aus der Froschperspektive als »geschädigt« empfundene Zustand genauso natürlich sind wie alles andere. Eine vergiftete und ruinierte Biosphäre wäre ein Teil der kosmischen Natur genauso wie das Verschwinden eines geschlossenen Universums im Nichts. (b) Weiter kann Natur als die Gesamtheit nichtmenschlicher Dinge und Vorgänge begriffen werden, unter Ausschluß auch der von den Menschen installierten technischen Gebilde. Diese außermenschliche Natur, auch die belebte, ist erst recht nicht geeignet, als Modell eines vernünftigen und verantwortlichen Verhaltens zu dienen. In der biotischen Natur gibt es nur das Kriterium des Überlebens. Dieses Kriterium kann man nicht zur Leitidee machen, weil es sich durch ein blindes Geschehen hindurch geltend macht, also gerade nicht so, wie eine Idee wirken müßte. Ein Kriterium dafür, ob etwas überleben soll, kann daran gerade nicht abgelesen werden. (c) Auch wenn wir diesen Naturbegriff um die genetisch programmierte Natur des Menschen erweitern, hilft das nicht weiter; denn gerade in unserer vorkulturellen Natur sind die Antriebe zu finden, die das menschliche Handeln so gefährlich für die Balance der Ökosphäre machen. (d) Der Naturalismus will uns aber auf das im Gesamtgeschehen der Natur wirkende RegulaLionssystem hinweisen, das für das Überleben nicht des einzelnen Organismus oder des einzelnen genetischen Musters sorgt, sondern für das Überleben des Lebens selbst als eines komplexen Gefüges von biotischen und abiotischen Verflechtungen der biologischen Populationen. Der regulative Naturbegriff, der die Biosphäre des Planeten als ein autopoietisches und selbsterhaltendes System aus dem allgemeinen Geschehen heraushebt, hat eine plakative Ausformulierung in der Idee des britischen Atmosphärenchemikers James E. Lovelock gefunden 28 , der William Golding den mythischen Namen »Gaia« 27 Die/er Birnbacher: Mensch und Natur. Grundzüge der ökologischen Ethik, in: K. Bayertz (Hrsg.), Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, Reinbek 1991, S. 278321, S. 288 f. 28 JarMs E. Lovelock: The Ages of Gaia. A Biography of our Living Earth, Oxford 1988.

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gegeben hat. Der mythisch mit der Erdmutter identifizierte Superorganismus bildet und erhält sich in der Kooperation der biologischen Arten und wirkt seinerseits fürsorglich und erzieherisch, indem er die abiotische Umwelt entweder in die lebensfreundliche Planung einbezieht oder ihre schädliche Einwirkung dämpft. Die Bewahrung einer gefährdeten harmonischen Ordnung der Natur wird so zum Vorbild für eine irregeleitete Menschheit aufgebaut. Indessen ist diese Ordnung eine kulturelle Idee, im Überlebenskampf der belebten Natur ist sie nicht zu finden. Wenn der Naturalismus fordert, von der Betrachtung der Einzelgeschehnisse zurückzutreten und die Weisheit zu betrachten, mit der die biotische Natur das Überleben der Gesamtheit sichert und im Gleichgewicht hält, so verfälscht er die Wirklichkeit. Ökologische Systeme erhalten sich durch die Vernichtung ihrer Individuen und langfristig auch der meisten ihrer Arten. Von einem Gleichgewicht kann man nur sprechen, wenn man zuvor die Identitätskriterien eines Systems festgelegt hat. Faßt man die Identitätskriterien so, daß das Überleben von Arten dafür eine Rolle spielt, dann sind nur wenige ökologische Systeme über längere Zeiträume stabil. Faßt man sie großzügiger, so daß sich für viele Systeme Langzeitstabilität ergibt, so heißt das nur, daß auch heute noch Leben stattfindet, wo es vor einer Million Jahren schon vorhanden war, aber die meisten Arten könnten inzwischen längst verschwunden und durch neue oder eingewanderte ersetzt ein. Das Anthropische Integrationsprinzip findet in der Natur keine Unterstützung.

VI. Antianthropische Himmelserscheinungen 17. Der nüchterne Sinn des Anthropischen Prinzips ist es, daß unser Universum so geordnet ist, daß sich ))biologische Beobachter wie wir auf der Basis der Kohlenstoffchemie entwickeln konnten, bevor die Sterne wieder verschwinden«29. Die naturfundamentalistische Deutung dieses Prinzips erzeugt den Schein einer Harmonie, die durch die kosmische Wirklichkeit nicht gedeckt ist. Mit dem Erlöschen der Sterne wird auch jedes naturintegrierte Leben aus dem Kosmos verschwinden. Denkbar ist, daß hochentwickeltes Leben weiterexistieren kann, dann aber nur auf der Basis einer, aus heutiger Sicht noch unvorstellbaren, hochentwickelten Technologie. Ich möchte auf einige weniger entlegene Himmelserscheinungen hinweisen, an denen sich zeigt, daß ein anthropisches Universum keineswegs auch ein schützendes, philanthropisches Universum ist. 29 lohn D. Barrow: Theories of Everything. The Quest for Ultimate Explanation, Oxford 1990 (Dt.: Theorien für Alles. Die philosophischen Ansätze der modemen Physik, Heidelberg 1992, S. 211).

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Kants anonym erschienene kosmogonische Abhandlung Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels enthält eine interessante Bemerkung über Kometen. Da die physikotheologische Argumentation einen hohen Grad anthropischer Planung und verehrungswürdiger Schönheit in der Anordnung der Körper des Sonnensystems nachweisen soll, muß Kant einräumen, daß die Kometen »als unvollkommene Glieder der Schöpfung anzusehen«30 seien. Nicht nur fallen sie durch ihre extrem exzentrischen Bahnen aus dem Rahmen, ihre Bahnebenen können auch ungebührlich schief zur Ebene der Ekliptik liegen, und obendrein sind sie ungeeignet, »vernünftigen Wesen bequeme Wohnplätze abzugeben«31. Gleichwohl kann Kant ihnen einen wohlanständigen Platz im Schöpfungswerk anweisen. Da seine verbesserte Methode der Physikotheologie32 die kosmogonischen Vorgänge ohne korrigierende Eingriffe des Schöpfers allein nach den von ihm bestimmten allgemeinen Naturgesetzen ablaufen läßt, sind Abweichungen von einer pedantisch gen auen Anordnung nicht nur keineswegs »anstößig«, sondern die an den Kometen auffallenden »Mängel selber sind ein Zeichen des Überflusses«33: der Schöpfer verschmäht ein kleinliches Finishing seiner Werke. Ganz so harmlos, wie Kant meinte, sind die Kometen freilich nicht. Sie belegen vielmehr eine amianthropische Tendenz des Himmels, die ich folgendermaßen umschreiben möchte: Die Vorgänge, die dem Leben zur Entstehung verhelfen, haben auch die Macht, es wieder umzubringen. Die Planeten, ob sie nun Leben tragen oder nicht, sind Müll, der bei der Entstehung der Sonne übriggeblieben ist. Planeten entstehen durch die Kollision kleiner, in späteren Stadien auch sehr massiver Körper, und die Kometen sind Müll, der bei der Planetogenese übriggeblieben ist. Die Prozesse, die das Leben möglich machten, indem sie ihm einen Stern und einen Planeten zur Verfügung stellten, laufen weiter, nun aber sind sie auf die Vernichtung des Lebens aus. Der Gravitationskollaps, der die Sonne aufleuchten ließ, geht in ihrer Zentralregion weiter. Dort baut die reaktionsunfähige Heliumasche des nuklearen Brennens den Vorläufer des künftigen Weißen Zwerges auf. Die durch seine Kontraktion erzeugte Hitze und die langsame Abschiebung der Fu301mmanuel Kanl: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Vetfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt [anonr,::l, Königsberg / Leipzig 1755, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. I, Dannstadt 1983, Bd. 1., S. 362. 31 lmmanuel Kanl: Allgemeine Naturgeschichte, S. 362. 32 Vgl.lmmanuel Kanl: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. I, Dannstadt 51983 (zuerst 1763). 33 lmmanuel Kanl: Allgemeine Naturgeschichte, S. 363.

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sionszone aus dem Sternzentrum sorgen für eine unmerklich langsame Aufblähung und Leuchtkraftzunahme der Sonne. Sie ist heute etwa 65 % heller als die Ursonne. Bisher hat die Ökosphäre der Erde die Zunahme der Energieeinstrahlung verkraften können, aber bereits lange vor ihrem Eintritt in das Riesenstadium wird die Sonne die natürliche Evolution beenden. Das wird in einer Milliarde Jahren sein, vielleicht aber auch schon in einer halben. Auch die Planeten bildung ist noch nicht zu Ende. Täglich nimmt die Masse der Erde um einige tausend Tonnen durch mikrometeoritisches Material zu. Manchmal sind die eintreffenden Objekte etwas größer. 34 Der Einschlag eines großen Asteroiden oder Kometen von 10 Kilometern Durchmesser erzeugt einen 200 Kilometer großen Krater und entfaltet eine Vernichtungskraft, die einen ganzen Kontinent von höherem Leben leerfegt und katastrophale Folgen auf der gesamten Planetenoberfläche hat. Die Forschung rechnet mit einem solchen Ereignis einmal in hundert Millionen Jahren. Kleinere Ereignisse, die nur Krater von 20 Kilometern bilden, können mehrmals in einer Million Jahren vorkommen. Erstaunlicherweise scheint das Leben von den ungeheuren Opfern, die ihm immer wieder von solchen Einschlägen abverlangt wurden, kaum beeindruckt worden zu sein. Die großen Aussterbeereignisse, die mehrfach den größten Teil aller Arten verschwinden ließen, haben nach Ansicht der Paläontologen ihre Ursachen hauptsächlich in Klimaveränderungen, die durch plattentektonisch induzierte Verschiebungen der Kontinente herbeigeführt wurden. 35 Es gibt zwar Hinweise darauf, daß bei der Totalvernichtung der Saurier an der Kreide-Tertiär-Grenze ein Impakt nachgeholfen haben könnte, aber die fossilen Dokumente weisen auch hier auf einen langfristig wirkenden klimatischen Hintergrund hin. Das eigentlich Erstaunliche ist aber, daß das Leben überhaupt überlebt hat. Im Asteroidengünel und in der ungeheuren Kometenwolke weit jenseits der Bahn Plutos gibl es zahlreiche Objekte, die 100 oder 500 Kilometer groß sind und deren Einschlag alles Leben auf der Erde vernichten würde. Wir verdanken es nicht einer weisen Einrichtung des Sonnensystems, daß es uns trotzdem noch gibt, sondern wir stehen auf der Abschußliste und verdanken unser Überleben dem Zufall. 18. Hans Jonas hat in seiner Abhandlung über Das Prinzip Verantwortung gegen die Expansionsdynamik des von der Menschheit durchgeführten Projekts Technik Partei ergriffen. Schon die Anfänge der Zivilisation bedeuten einen

34 Zum folgenden vgl. Richard A. F. Grieve: Irdische Metcoritcnkrater, in: Spektrum der Wissenschaft, 1990,6, S. 108-116. 35 Steven M. Stanley: Extinction, New York 1987. 11 FS Oörland

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»gewalttätigen Einbruch in die kosmische Ordnung«36, ihre Fortführung führt die Menschheit an den Rand des ökologischen Zusammenbruchs ihrer Welt Dieser Tendenz zur Gefahrdung der Natur und zur inneren und äußeren Selbstzerstörung stellt Jonas sein Verantwortungsprinzip entgegen. Es fordert, stets in Übereinstimmung mit der Idee zu handeln, daß es in aller Zukunft eine ihres Namens würdige Menschheit und eine von ihr bewohnbare Welt geben soll. Wenn er von einer bewohnbaren Welt spricht, meint Jonas natürlich unseren Planeten. Dieser wird aber nicht in aller Zukunft bewohnbar bleiben. Vielleicht wird das Leben irgend wann durch einen Großimpakt von seiner Oberfläche entfernt, mit Gewißheit werden das Leben und, sofern die Menschheit überlebt, die menschliche Zivilisation unter schweren Einschlägen leiden müssen, und mit Sicherheit steht am Ende der Geschichte des planetarischen Lebens die Hitze einer anschwellenden Sonne. Aus diesem Grunde ist Jonas' Forderung, das Projekt der Technik zurückzunehmen auf Anstrengungen, die sich allein an der Bewahrung einer unversehrten Umwelt orientieren, eine falsche Konsequenz aus dem Verantwortungsprinzip. Die Menschheit ist, und zwar aus moralischen Gründen, genötigt, das Projekt ihrer technischen Emanzipation von der Natur fortzuführen, und zwar deshalb, weil die Natur eine harmonische Reintegration mit der Todesstrafe sanktioniert. Die Menschheit wird irgendwann vor der Wahl stehen, in der Glut ihrer Heimatsonne zu sterben oder das Sonnensystem zu verlassen, und wenn sie ihre Aussicht, bis dahin von verheerenden Einschlägen verschont zu bleiben, verbessern will, muß sie schon lange vorher erdferne Abwehrsysteme aufbauen. Die Voraussetzung für die Durchführung solcher Projekte ist eine hochtechnologische Zivilisation. Eine solche Zivilisation kann ihre Startphase nicht ohne fossile EnergiequeUen bewältigen. In einer solchen Startphase leben wir, und wir leiden an den Folgen ihrer gedankenlosen und rücksichtslosen Durchführung. Wenn unsere technische Zivilisation zusammenbricht, sei es im Chaos einer ökologischen Katastrophe und der folgenden Weltbürgerkriege oder in sanfter Befolgung naturalistischer Integrationssehnsüchte, wird es nie eine zweite Startphase geben können, weil es dann keine fossilen Energieträger mehr geben wird. Den Weg zum Aufbau einer hochtechnologischen Zivilisation kann die Menschheit nur einmal gehen. Deshalb ist es eine moralische Pflicht, das Projekt der Technik fortzuführen. Diese Fortführung bewahrt der Menschheit die autonome Entscheidung darüber, ob sie mit dem Tod der Sonne die endgültige Reintegration der menschlichen Kommunikationsgemeinschaft in die Natur hinnehmen oder ob sie dereinst Ernst machen will mit der Idee, daß ihre Heimat im Himmel ist. 36 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979 (faschenbuchausgabe, 1984, S. 18).

Naturgeschichte und Geschichte bei Kant Von Hans-Joachim Waschkies

Gleich zu Beginn seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht schreibt Kant: »Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmäßig wie Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit [und] kindischer Eitelkeit ... zusammengewebt fmdet. ... Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.« 1

Die Frage, ob es möglich ist, die Geschichte der Menschheit nach einem bestimmten Plan zu schreiben, ist für Kant mit der Frage äquivalent, ob die Geschichte als eine Wissenschaft zu gelten hat; denn wie er im Rahmen der transzendentalen Methodenlehre aus seiner Kritik der reinen Vernunft betont, gibt ein Aggregat von Einzelkenntnissen immer nur das Bauzeug zu einer Wissenschaft, die selber erst entsteht, wenn ein solches Mannigfaltiges nach dem Leitfaden einer Idee zur Synthese gebracht wird. 2 Dieses wissenschaftstheoretische Programm zeigt allerdings nicht, wie man sich die gesuchte Idee im Einzelfall verschaffen kann. Außerdem deuten die oben zitierten Zeilen bereits an, daß man nach Kant nicht hoffen darf, induktiv aus dem, was uns die verschiedenen 1 Immanuel Kanl: Idee 2ll einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Könglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I - XXIII, Berlin 1902-1938 (VIll 17.26-18.11). Werke von Kant werden hier IUId im folgenden zusammen mit einer abgekürzten Version ihres Titels nach der unter dem Namen Akademie-Ausgabe bekannten Edition seiner Schriften zitiert. Dabei bezieht sich ein Hinweis wie 'VIll 17.26' genauer auf die 26. Zeile der Seite 17 des VIll. Bandes. 21mmanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (IlI 538.17-540.29; A 832/B 860, A 835/B 863); dazu vgl. ders.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll29.l3-16).

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Quellen über den Ablauf der Historie berichten, ein allgemeines Gesetz ermitteln zu können, dem die Geschichte der Menschen unterworfen ist, und eine ins Detail gehende Analyse seiner Werke zeigt schließlich genauer, daß die Idee, an der man sich seiner Ansicht nach als Geschichtsschreiber orientieren soll, partiell aus Ansätzen hervorgegangen ist, die problemgeschichtlich auf ganz andere Wurzeln als die Tradition der älteren Geschichtsschreibung zurückgehen. Dazu sei vorab angemerkt, daß an Kants metatheoretischen Betrachtungen über den Ablauf der Geschichte zwei Aspekte zu unterscheiden sind. Zum einen stellt er seinen Lesern das Leitbild einer »allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft«3 vor, zu der hin sich die Menschengattung entwickeln soll. Mit dieser inhaltlichen Bestimmung seines philosophischen Chiliasmus4 , »der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens hofft«5, greift Kant nach seinen eigenen Angaben Gedanken auf, die er in Schriften anderer Autoren fand, von denen er insbesondere Jean-Jacques Rousseau nennt6, und zum andern skizziert er ein formales Schema, nach dem sich dieser Zustand unter dem Einfluß von gesetzmäßig wirkenden Kräften dereinst automatisch einstellen wird. In diesem Zusammenhang verweist Kant auf keinen Vorgänger, und wie ich im folgenden erläutern möchte, knüpft er mit diesen Überlegungen an eine Vorstellung vom Weltlauf in toto an, die er selber in seinen vorkritischen Schriften entwickelt hatte. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichle in weltbürgerlicher Absicht vertritt Kant die These, daß »die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur«7 anzusehen ist. Diesen Plan gilt es aufzufinden, und das erweist sich, wie bereits bemerkt, als schwierig, weil die empirische Basis für ein solches Unternehmen dürftig ist und sein muß; denn nach Kants Überzeugung hat die Menschheit erst eine kurze Strecke des Weges zurückgelegt, an dessen Ende ein Völkerbund steht, in dem auch der kleinste Staat ohne jede Furcht vor Übergriffen seiner mächtigeren Nachbarn fortbestehen kann. Nach Kant genügen unsere Kenntnisse vom bisherigen Ablauf der Weltgeschichte aber immerhin, die Gestalt der Bahn, auf der die Menschheit einst ihr Ziel erreichen wird, »eben so unsicher [zu bestimmen], als aus allen bisherigen Himmelsbeobachtungen den Lauf, den unsere Sonne 3 Immanlll!l Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIII 22.7-8). 4 Immanlll!l Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIII 27.8-9). 5 Immanlll!l Kant: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 34.13-15). 6 Immanlll!l Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIII 24.28-29). 7 Immanlll!l Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIII 27.3-4).

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sammt dem ganzen Heere ihrer Trabanten im großen Fixstemensystem nimmt; obgleich doch aus dem allgemeinen Grunde der systematischen Verfassung des Weltbaues und aus dem Wenigen, was man beobachtet hat, zuverlässig genug, um auf die Wirklichkeit eines solchen Kreislaufs zu schließen«8. Kant spielt mit diesen Worten unübersehbar auf seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels an, die nach ihrem Untertitel einen »Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt«9, enthält. Die oben angeführten Worte könnten daher zunächst für einen bloßen Hinweis darauf gehalten werden, daß man mitunter aus wenigen Indizien wohlbegründet auf Prozesse schließen kann, die in einer umfangreichen und komplexen Struktur ablaufen; aber wie schon P. Menzer angemerkt hat, war ))der von der Betrachtung des Kosmos gewonnene Gedanke der allgemeinen Ordnung und Einheit alles Geschehens«lo für Kant bei seinen Spekulationen über den Ablauf der Weltgeschichte auch noch unter einem systematischen Gesichtspunkt richtungsweisend. Die Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist nämlich eine ))Fortsetzung des in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels begonnenen Versuches, Kausalität und Teleologie zu vereinigen«l1, und im folgenden soll nun gezeigt werden, daß Kants Theorie der Geschichte noch sehr viel tiefer als dieser knappe Hinweis von P. Menzer vermuten läßt, von Vorstellungen geprägt ist, die er bereits 1755 in seinem eben genannten ersten Hauptwerk vorgetragen hat. Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels geht auf das Bemühen des jungen Kant um die Lösung des folgenden Problems zurück, das zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und dem Newtonianer Samuel Clarke diskutiert worden war. 12 I. Newton hatte im Vorwort zur ersten Auflage seiner Principia ein erkenntnistheoretisches Programm skizziert, nach dem alle in der Natur beobachtbaren Erscheinungen auf die kombinierte Wirkung gewisser, bis dato allerdings zumeist noch unbekannter )) Kräfte zurückgehen, von denen die Bestandteile der Körper entweder aufeinander zugetrieben werden, bis sie schließlich in der Form von regulären Figuren miteinander zusammenhängen

8 lmmanlll!l Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIII 27.15-22). 9 lmmanlll!l Kanl: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1215.4-9).

10 PauJ Menzer: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, Berlin 1911, S.267. 11 PauJ Menzer: Kants Lehre, S. 271. 12 A. Robinel (Hrsg.): Correspondance Leibniz-Clarke. Paris 1957.

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oder voneinander fliehen«13. Außerdem hatte er in einer Query, mit der seine Opticks seit dem Erscheinen von deren lateinischer Übersetzung im Jahre 1706 zu Ende gingen l4 , mitgeteilt, daß die Trabanten der Sonne auf Grund von naturgesetzlich bedingten Effekten minimal von ihren in erster Näherung elliptischen Umlaufbahnen abgelenkt werden. Langfristig müßte das zu einer Aufhebung der uns vertrauten Ordnung im Sonnensystem führen; aber nach Newton tritt das nie ein, weil Gott den einst von ihm selbst auf die Bahn gebrachten Planeten und Kometen von Zeit zu Zeit einen neuen Bewegunsgsimpuls erteilt, um die fraglichen Unregelmäßigkeiten auszugleichen. Leibniz, der Newtons Lehre von der wechselseitigen Abstoßung zwischen allen Massen, die Newton bei der Einführung der anziehenden Zentralkräfte als Paradigma gedient hatte, scharf ablehnte 15 , wandte dagegen außerdem ein, daß es eines Gottes unwürdig wäre, seine Werke nachzubessern. Seiner Ansicht nach hat Gott vielmehr alles ein für allemal im voraus festgelegt »Beim Menschen und auch sonst ist also alles vorbestimmt und gewiß. Selbst [unsere] Seele ist [danach nichts weiter als] eine Art geistiger Automat; [denn die] göttliche Tat bestand einzig und allein in dem Beschluß, nach einem Vergleich zwischen [den Plänen für alle] möglichen Welten die beste auszuwählen und dieser samt ihres Inhalts durch sein allmächtiges 'Hat' die Existenz zu verleihen«16. In den Schreiben von Leibniz und Clarke stellen die beiden Kontrahenten immer wieder von neuem ihre Vorstellung von Gott und dessen großen Werken vor, ohne daß es dabei jemals zu einer Annäherung zwischen den einmal bezogenen Standpunkten gekommen wäre 17 , und die dadurch gestellte Frage versuchte der junge Kant schließlich mit Hilfe eines physikotheologischen Gottesbeweises zu beantworten. Alle Versuche dieser Art, die Existenz Gottes unabhängig von jeder Offenbarung zu erweisen, beginnen mit einer dem Wissen des betreffenden Autors 13 Isaac Newton: Principia philosophiae naturalis mathematica. The third edition (1726) with variant readings assembled and edited by Alexandre Koyre and I. Bemard Cohen with assistance of Anne Whitman, vol. I-lI, Cambridge (Mass.}/Cambridge (Engl.) 1972 (Praefatio ad lectorem, unpaginiert). 14 Isaac Newton: Opticks, or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections, and Colours of Light. Based on the fourth edition, London 1730. With a Foreword by Albert Einstein, an Introduction by Sir Edmund Wittaker, aPreface by I. Bemard Cohen and an Analytical Table of Contents prepared by Duane H. D. Roller, New York 1952, Query 31 (S. 397-402). 15 GOitfried Wilhelm Leibniz: Essais de Theodicee sur la honte de dieu, la liberre de l'homme et l'origine du mal. Chronologie et introduction par Jacques Brunschwig, Paris 1969 (zuerst Amsterdarn 171O), Teil I, § 9 (S. 108-109). 16 Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Theodicee, § 52 (S. 132). 17 Dazu verweise ich auf Hans-Joachim Waschkies: Physik und Physikotheologie des jungen

Kant. Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmel, Amsterdam 1987, S. 440-485.

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entsprechenden Darstellung von geordneten oder gar gesetzmäßig erfaßten Phänomenen aus einem Bereich der vom Menschen erfahrungsgemäß nicht gezielt beeinflußten Natur, also etwa mit der Beschreibung des Körpers eines Insekts oder auch mit der Skizze des nach den Keplerschen Gesetzen umlaufenden Planetenkreisels unserer Sonne, und danach wird dann (oft mit einem begleitenden Hinweis auf technische Produkte wie Uhren, die bekanntlich auch nicht von ungefahr entstehen), auf die Existenz eines göttlichen Wesens geschlossen, das jene erstaunlich funktionsfahigen Strukturen geplant und installiert oder gar erschaffen haben soU. In der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels dient als empirisch fundierte Prämisse für einen solchen, dort mit großem Pathos vorgetragenen Schluß auf Gottes Existenz eine Kosmogonie nach Newtonischen Grundsätzen, aus denen Kant ableitet, wie sich die im Raum anfangs chaotisch ausgebreitete Materie unter dem Einfluß von anziehenden und abstoßenden Kräften zu einem Kosmos mit Planeten - und Fixsternsystemen ausdifferenziert. Langfristig führen allerdings vielerlei Slöreffekte dazu, daß dieser Kosmos wieder kollabiert; aber eine daran anschliessende, von einem gewaltigen Feuer bewirkte Zerstreuung der Materie über den ganzen Raum führt schließlich wieder den Zustand herbei, in dem die Materie am Ersten Tag über den ganzen Raum verteilt war, und danach kann der Weltprozeß periodisch weiterlaufen, ohne daß es Gott jemals nötig hätte, mit ad hoc zu treffenden Hilfsaktionen regulierend in den Weltlauf einzugreifen. 18 Damit hatte der junge Kant gezeigt, daß ein physikotheologischer Gottesbeweis, in den eine Kosmogonie nach Newtonischen Prinzipien als Prämisse eingeht, auf die Existenz eines Gottes Leibnizscher Prägung schließen läßt, und somit war gezeigt, daß Newton als Physiker recht zu geben war, während Leibniz den Vorzug im Hinblick auf das Gottesbild verdiente, und ganz in diesem Sinne erklärt der alte Kant in seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden aus dem Jahre 1795, der seine Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aus dem Jahre 1784 wieder aufgreift und weiter expliziert, man widerspreche sich geradezu, wenn man »den, der selbst die vollständige Ursache der Weltveränderungen ist, seine eigene prädeterminierende Vorsehung während dem Weltlaufe ergänzen [läßt]«19. Im Jahre 1763 hat Kant in seinem Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes dann aber alle bis dahin abgefaßten physikotheologischen Gottesbeweise, zu denen somit insbesondere sein eigener, 18 Siehe Ha/'lS-Joachim Waschkies: Kosmogonie als Physikotheologie beim jungen Kant, in: Geisteshaltung und UmwelL Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Büttner, hrsg. Wemer Kreisel, Aachen 1988, S. 183-227. 19 IfN1I/IIIUilI Kam: Zum ewigen Frieden (Vill 361.42-362.22).

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oben skizzierter Gottesbeweis aus der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels gehörte, einer grundlegenden Kritik unterzogen_ 20 Sein Einwand ging damals allerdings noch nicht dahin, daß es sich bei einem solchen Argument um ein bloßes Denken in Analogien und damit um keinen zwingenden Beweis handelt Kant hielt den Schluß von einem uns als zweckmäßig imponierenden Ding oder Prozeß aus dem vom Menschen erfahrungsgemäß unbeeinflußten Bereich der Natur auf einen zugehörigen göttlichen Urheber nämlich weiterhin für zulässig. Er gab nun jedoch zu bedenken, daß die Wissenschaftler mit ihren Theorien immer nur von der übrigen Umwelt isolierte Teilbereiche der Natur beschreiben, und daher ließ keiner der ihm bekannt gewordenen physikotheologischen Gottesbeweise erkennen, daß es nur einen einzigen (und damit den) Gott (der christlichen Religion) gibt. Eine Theorie, die beschreibt, wie das Sonnensystem unter dem dirigierenden Einfluß einiger von Newton ermittelter bzw. postulierter Gesetze aus einem Chaos entstanden ist, läßt demnach zwar auf einen zugehörigen göttlichen Planer schließen, doch das besagt keineswegs, daß dieser Gott auch irgendeines der vielen, erstaunlich funktionstüchtigen Lebewesen konstruiert hat, denen wir auf Schritt und Tritt begegnen; denn »der Bau der Pflanzen und Thiere zeigt eine solche Anstalt, wozu die allgemeine[n] und nothwendige[n] Naturgesetze [der Newtonschen Physik anscheinend] unzulänglich sind«21, und somit tragen sie vielleicht die 'Handschrift' eines anderen Wesens als das Sonnensystem. 22 Kants Programm zu einer Physikotheologie nach einer verbesserten Methode aus dem Einzig möglichen Beweisgrund läuft daher darauf hinaus, den durch geeignete, bislang allerdings größtenteils noch unbekannte Gesetze geregelten universellen Prozeß darzustellen, der ganz im Sinne der Leibnizschen Lehre von der prästabilierten Harmonie zeigt, daß die Natur in toto nach dem Plan eines einzigen Gottes koordiniert ist. Daraus hätte man dann auf die Existenz des christlichen Gottes schließen dürfen; aber Kant glaubte damals schon nicht mehr, daß sich dieses Programm zu einer Revision der Physikotheologie jemals realisieren lassen würde. In der Kritik der reinen Vernunft hat er dann bekanntlich alle, und damit insbesondere den physikotheologischen Gottesbeweis als unhaltbar zurückgewiesen 23 ; doch mit der Einsicht, daß sich aus der Beobachtbarkeit von uns zweckmäßig erscheinenden Strukturen und Prozessen, die sich (mindestens 20 Immanlul Kant: Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gones

(II 116.1-137.6). 21

1mmalllUli Kant: Einzig möglichen Beweisgrund (II 114.15-17).

22 Dazu verweise ich ergänzend auf die Zeilen V 439.5-9 aus ImmanlUll Kanl: Kritik der Ur-

teilskraft, § 85. 23 ImmalllUll Kafll: Kritik der reinen Vernunft (IIl392.10-419.29; A 583/B611, A 630/B658).

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zum Teil) als Effekte von gesetzmäßig wirkenden Kräften deuten lassen, nie logisch zwingend auf die Existenz eines göulichen Wesens schließen läßt, hat Kant seine Vennutung, daß alle Ereignisse in Raum und Zeit durchgängig und wechselseitig gesetzmäßig miteinander verknüpft sind, keineswegs aufgegeben. Sie erscheint in der Kritik der reinen Vernunft als Idee von einer primär ganzheitlichen, allen Einzelerfahrungen zu Grunde liegenden »möglichen Erfahrung in ihrer absoluten Vollständigkeit [in der] alle existierende[n] Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen insgesammt«24 gegeben sind. Auf der Folie dieser Gesamteinheit der Erfahrung werden nach dieser Erkenntnistheorie, die von Hennann Schmitz als Empiriototalismus bezeichnet worden istz5, »alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt«26, und dieser Erfahrungsbegriff ist auch noch für den ältesten Kant charakteristisch; denn wie Vittorio Mathieu festgestellt hat27 , betont Kant in den heute im allgemeinen als Opus postumum bezeichneten handschriftlichen Aufzeichnungen aus seinem Nachlaßwerk28 immer wieder, daß der Erfahrungsbegriff entweder in dem eben angeführten Sinne einheitlich oder gar nicht wissenschaftlich zu vertreten ist. Eine bekanntere Variante dieser zum Empiriototalismus säkularisierten Physikotheologie nach verbesserter Methode aus dem Einzig möglichen Beweisgrund sind Kants Ausführungen zur Teleologie aus der Kritik der Urteilskraft. Er skizziert dort seine Idee von »der gesammten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Principien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen), untergeordnet werden muß«29. Gegen den naheliegenden Verdacht, daß er damit versucht habe, die erfahrbare Natur um uns auf das Wirken einer übernatürlichen Ursache zurückzuführen, wendet sich Kant gleich darauf mit dem Hinweis, daß man zwar von der Natur spricht, ))als ob die Zweckmäßigkeit in ihr absichtlich sei, aber doch zugleich so, daß man der Natur, d. i. der Materie, diese Absicht beilegt; wodurch man ... anzeigen will, daß dieses Wort hier

24 Il7II1IQIJlud Kant: Kritik der reinen Vernunft (111341.24-28; A 495/B523-524). 25 HermaM SchnUlz: Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 230-249. Kritik der reinen Vernunft (IV 83.23-24; A 110).

26 117II1IQIJ1U1 Kant:

27 Vittorio Matme": Kants Opus postumum, Frankfurt a. M. 1989, S. 1l3; daru verweise ich ergänzend auf Hans-Joachim Waschkies: Wissenschaftliche Praxis und Erkenntnistheorie in Kants Opus posturnum, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Irnmanuel Kants. Frankfurt a. M. 1991, S. 185-207.

28 Kants Opus postumum umfa& die Bände XXII und xxm der Akadernieausgabe. 29 ImmanlUl Kant: Kritik der Urteilskraft (V 379.1-4).

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nur ein Princip der reflectirenden, nicht der bestimmenden Urtheilskraft bedeute und also keinen besondern Grund der Causalität einführen solle«30. Bei diesem System der Zwecke handelt es sich also nur noch um ein regulatives Prinzip, an dem wir uns bei der wissenschaftlichen Erforschung unserer Umwelt orientieren sollen; denn wie Kant ein wenig später im gleichen Kontext betont, müßte der Mensch in sich »selbst Allwissenheit voraussetzen, um die Zwecke der Natur in ihrem ganzen Zusammenhange einzusehen und noch obenein alle andere mögliche Plane denken zu können, mit denen in Vergleichung der gegenwärtige als der beste mit Grunde beurtheilt werden müßte«3!. Hier zeigt sich wieder auf das deutlichste, daß Kants Teleologie nichts weiter als eine säkularisierte Version der theologischen Spekulationen von Leibniz ist. Dabei nimmt die Natur den Platz von Gott ein, und schließlich zeichnet sich in den soeben angeführten Zeilen auch schon ab, daß der alte Kant eine Variante des leibnizschen Theodizeedenkens in seine Teleologie integriert hat; denn er unterstellt wie Leibniz, daß ein Vergleich der Welt in toto mit jeder denkbaren Alternative den universellen Prozess, von dem wir gegenwärtig einige Phasen erleben, als den besten unter allen möglichen erweisen würde. Die Tatsache, daß der Mensch nicht in der Lage ist, den gesamten Weltlauf zu übersehen oder gar in seinem von Naturgesetzen regulierten Ablauf theoretisch zu beschreiben, hatte Kant im Einzig möglichen Beweisgrund vor allem zu der resignierenden Feststellung veranlaßt, daß es allen Anschein nach unmöglich ist, einen, oder wie es genauer heißen müßte, den physikotheologischen Gottesbeweis zu führen. Trotzdem scheint Kant die Hoffnung, daß er dereinst vielleicht doch gelingen könnte, damals aber noch nicht völlig aufgegeben zu haben. Wenn man die dafür erforderliche universelle Weltdeutung nicht gleich als ein Programm auffaßt, daß sofort bis in alle Einzelheiten realisiert werden muß, sondern in ihm vorerst nur die Forderung sieht, für möglichst viele und dabei möglichst umfangreiche Teilbereiche unserer Umwelt nachzuweisen, daß die dort beobachtbaren Strukturen und Prozesse gesetzlich geregelt sind, können nämlich zumindest schon die ersten Schritte hin zu dem fraglichen Beweis getan werden. In diesem Sinne sah Kant in der statistisch erstaunlich gesetzmäßigen Entwicklung der Weltbevölkerung, über die er sich 1763 offenbar gerade an Hand von Johann Süßmilchs Monographie über Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt. dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen informiert 30 Immanuel Kanl: Kritik der Urteilskraft (V 383.8-15).

3! Immanuel Kanl: Kritik der Urteilskraft (V 441.17-20).

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hatte, einen von Gesetzen detenninierten Prozeß, der sich dereinst in eine universelle Theorie des Weltlaufs einbetten lassen könnte32, und wie ich weiter oben bereits angedeutet habe, ist dieses Programm zu einer vorläufigen Behandlung des physikotheologischen Gottesbeweises von Kant dann später säkularisiert und als regulative Idee zu einer universellen Weltdeutung in seine kritische Philosophie integriert worden. Zu den Prozessen, die sich gesetzlich auf ein Ziel hin entwickeln dürften, rechnete Kant offenbar schon früh die Geschichte der Menschheit; denn die Gothaischen Gelehrten Zeitung berichtete ihren Lesern am 11. Februar 1784: »Eine Lieblingsidee des Hm. Prof. Kant ist, dass der Endzweck des Menschengeschlechts die ErreichWlg der vollkommensten StaatsverfassWlg sei, Wld er wünscht, dass ein philosophischer Geschichtsschreiber es Wlternehmen möchte, uns in dieser Rücksicht eine Geschichte der Menschheit zu liefern, und zu zeigen, wie weit die Menschheit in den verschiedenen Zeiten diesem Endzweck sich genähert, o~er von demselben entfernt habe, und was zur ErreichWlg desselben noch zu thun sei« 3.

Daraufhin sah sich Kant genötigt, seine Überlegungen zu diesem Thema in dem Aufsatz über eine Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zu explizieren, und es ist sicherlich kein Zufall, daß er dort gleich zu Beginn als ein erstes Indiz für die Richtigkeit seiner These, nach der »die menschlichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt«34 sind, auf das oben bereits erwähnte demographische Hauptwerk von Süßmilch verweist. 35 Süßmilch versucht dort nämlich, das Gesetz zu beschreiben, nach dem die Menschheit seiner Ansicht nach seit Anbeginn im Verlauf eines nach und nach die ganze Erde erfassenden Prozesses dem göttlichen Befehl 'Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde und machet sie euch untertan' folgt. Dabei soll die Weltbevölkerung zunächst gesetzmäßig anwachsen; aber schließlich wird diese dynamische Entwicklung nach Süßmilch in einen quasi statischen Endzustand 32 Nach ArthIlF Warda: Imrnanuel Kanu Bücher, Berlin 1922, S. 44, besaß Kant ein Exemplar der 1762 erschienen zweiten Auflage von Johann Peter Süßmilchs UntersuchWlg über Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des f7II!flSchlichen Geschlechts, aus der GebllFt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, auf die in Immanuel K(JI1t: Einzig MÖglichen Beweisgrund zweimal kurz angespielt wird (II 111.19-28 Wld 122.6-31). 33 Gothaischen Gelehrten Zeitung von 11. Februar 1784 (zitiert nach Heinrich Maier: Einleitung Wld sachliche ErläuterWIgen zu Kants Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Immanuel K(JI1t: Gesammelte Schriften, Bd. vm, Berlin 1923, S. 468-469 (Vill 468). 34 /mM(J11uel Kam: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Vill17.3-4).

35 Wie ein Vergleich zwischen den Zeilen vm 17.12-21 der Idee zu einer allgef7ll!inen Geschichte und den entsprechenden Passagen aus dem Einzig MÖglichen Beweisgrund zeigt (II 111.19-28 Wld 122.6-31), bezieht sich Kant zu Beginn seiner Idee zu einer ailgef7ll!inen Weltgeschichte ohne Zweifel auf die demographischen UntersuchWlgen des dort nicht namentlich genannten Johann Peter Süßmilch.

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übergehen, in dem der Erdball überall mit einer den Ressourcen seiner einzelnen Regionen entsprechenden Bevölkerungsdichte besiedelt ist36 , und wie ich gleich noch etwas ausführlicher erläutern werde, hat der alte Kant diese Überlegungen von Süßmilch auf die historisch-politische Entwicklung der Menschheit zu übertragen versucht 37 Meinen Ausführungen dürften hinlänglich deutlich gemacht haben, daß es Kant bei diesem Unternehmen darum gehen mußte, die Entwicklung des Menschengeschlechts als Effekt von Gesetzen zu beschreiben, die zumindest unter einem übergreifenden Gesichtspunkt denjenigen Gesetzen gleichen, die andere Details des universellen WeltpTOzesses um uns regeln. Außerdem hatte ich bereits erwähnt, daß es Kant schon 1755 gelungen war, die Entstehung des Makrokosmos aus einem Chaos auf die kombinierte Wirkung von anziehenden und abstoßenden Kräften zurückzuführen, und eben dieses Schema hat er konsequenterweise auf seine Theorie der Weltgeschichte zu übertragen versucht. »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller [Anlagen der Menschen] zu Stande zu bringen, ist [nach Kant nämlich] der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. [Dabei versteht er unter diesem Antagonismus genauer] die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher die Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist«38. Kant beschreibt die zwischen den Menschen wirksamen, seiner Ansicht nach zu deren Natur des Menschen gehörigen, einander entgegenwirkenden und dabei doch zusammenarbeitenden Kräfte im folgenden auch als »Neigung, sich zu vergesellschaften [und] Hang sich zu vereinzeln«39. Außerdem soll die Natur 36 Dazu verweise ich ergänzend auf Hans-Joachim WaschJcies: Physikotheologische Wurzeln der Bevölkerungsstatistik in Deutschland, in: Manfred Büttner I Udo Krolzik I Hans-Joachirn Waschkies (Hrsg.), Religion and Environment I Religion und Umwelt. Proceedings of the Symposium of the XYlllth International Congress of History of Science at Hamburg-Munich, I. 9. August 1989. Abhandlungen zur Geschichte der Geowissenschaften und Religion I Umwelt Forschung, Bd. 4. Bochum 1990, S. 75-103. 37 Wie die nachstehend angeführten Zeilen aus der Schrift Zum ewigen Frieden zeigen, in denen der von Süßmilch angeführte Gou des Allen Testaments durch die despotische Natur ersetzt ist, wollte Kant mit seiner Theorie der Weltgeschichte genauer Süßmilchs Lehre von der Besiedlung des Erdballs durch die Menschen säkularisieren und ergänzen; denn dort schreibt er (Vill 364.610):

»Indem die Natur nun dafür gesorgt hat, daß Menschen allerwärts auf Erden leben könnten, so hat sie zugleich auch despotisch gewollt, daß sie allerwärts leben sollten, wenn gleich wider ihre Neigung und selbst ohne daß dieses Sollen zugleich einen Pflichtbegriff voraussetzte, der sie hiezu vermittelst eines moralischen Gesetzes verbände.«

38 Immanuel Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll20.26-33).

39 Immanuel Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll20.34-21.2).

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des Menschen einen ganz entsprechenden Antagonismus zwischen den einzelnen Staaten induzieren, dessen Effekt am Ende sein wird, daß die Menschen »aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus .. gehen und in einen Völkerbund .. treten; wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit«40 fmden wird. »Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung alter neue Körper zu bilden, die sich aber wieder entweder in sich selbst oder neben einander nicht erhalten können und daher neue, ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal theils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, theils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der ... wie ein Automat sich selbst erhalten kann«41. Kant war sich wohl bewußt. daß seine Idee zu einer allgemeinen Geschichte allenfalls dann Anerkennung finden würde, wenn sich zeigen ließe, daß »die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdeck[t]«42. Nach historischen Daten, die zur Stützung der eben referierten Thesen dienen könnten, sucht man bei ihm jedoch vergebens. Seine Hinweise auf die Geschichte der Griechen und die Bildung des römischen Staatskörpers sowie dessen Zerstörung durch die Barbaren bleiben nämlich ganz im allgemeinen43 , und eine Analyse der Idee zu einer allgemeinen Geschichte zeigt denn auch, daß die dort vertretene Lehre von den antagonistischen Kräften, die den Lauf der Geschichte in Gang halten sollen, nicht so sehr in einem Studium der Geschichte, sondern weit eher in Kants Lektüre des Leviathan von Thomas Hobbes fundiert ist Hobbes und sein Hauptwerk werden dort zwar nirgends angeführt; aber ganz abgesehen davon, daß es zu den Ausführungen über die Beziehungen zwischen Menschen und Staaten aus der Idee zu einer allgemeinen Geschichte und dem Leviathan eine ganze Reihe von Parallelen gibt44 , merkt Kant gegen Ende seiner Reflexion Nr. 6593 zur Moralphilosophie, in der er zunächst auf

40 ImmanlU!l Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll24.22 -24). 41 ImmanlU!l Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll24.35-25.8). 42 ImmanlU!l Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll27.11-12), dazu verweise ich ergänzend auf VllI 29.6-16. 43 /mmanlU!/ Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIll29.16-22). 44 Das zeigt sich insbesondere bei einem Vergleich zwischen Kants Ausführungen zu den Sätzen 4-8 aus seiner /du zu ewr allgemeinen GeschichJe (Vill 20.25-28.37) und den Kapiteln 6 (S. 39-48), 13 und 14 (S. 94-109) aus Thomas Hobbes: Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1976 (zuerst 1651).

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Hans-Joachim Waschkies

den im Leviathan als bellum onnium in omnes45 beschriebenen Naturzustand verweist, sogar expressis verbis an, daß es nach Hobbes »nicht willkürlich sey, aus dem Stande der Natur herauszugehen, sondern nothwendig nach Regeln«46. Das ist ein gutes Indiz dafür, daß Kant bei der Abfassung seiner Lehre von gewissen, antagonistischen Kräften zwischen Menschen und Staaten, die den »geheimen Mechanism [unterhalten, durch den] die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht«47 wirkt, unter dem Einfluß von Hobbes stand48 ; aber nichtsdestoweniger unterscheidet sich der Staat, in dem sich die Menschen nach Hobbes schließlich einem Souverän unterwerfen, seinem Wesen nach grundlegend von dem von Kant vorgestellten Völkerbund, der »wie ein Automat sich selbst erhalten kaOO«49. Wie ich weiter oben erläutert habe, hat Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Weltgeschichte in weltbürgerlicher Absicht ein Schema aus seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Hirrunels wieder aufgenommen, nach dem der Makrokosmos unter dem kombinierten Einfluß von anziehenden und abstoßenden Kräften zyklisch aus einem Chaos, in das sich die Materie periodisch auflöst, immer wieder neu entsteht. In der Idee zu einer allgemeinen Weltgeschichte ist dieses Schema jedoch dahingehend abgewandelt, daß der Prozeß, den die Geschichte der Menschheit unter dem Einfluß antagonistisch wirkenden Kräften durchläuft, in einen stabilen Zustand übergehen soll, wobei der Völkerbund, der dann entsteht und sich danach wie ein Automat selbst erhält, nach Kants Entwurf Zwn ewigen Frieden aus dem Jahre 1795 genauer durch »einen Vertrag der Völker unter sich gestiftet [wird, der] auf keinen Erwerb irgendeiner Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten«50 ausgeht. Wie Kant damals emphatisch betonte, läßt sich ))die Ausführbarkeit dieser Idee der Föderalität, die sich allmählig über alle Staaten erstrecken soll und zum ewigen Frieden hinführt«51, darstellen, während er den Gang der Weltgeschichte kurz zuvor noch weit weniger optimistisch beurteilt 45 Dazu vergleiche man den Hinweis von Kant aus der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft darauf. daß »Hobbes' Satz: status horninum naturalis est bellum omnium in ornnes ... weiter keinen Fehler [hat). als daß es heißen sollte: esl slalus belli ecl« (VI 97.25-26). 46 Immanuel Kanl: Reflexion Nr. 6593 zur Moralphilosphie (XIX 100.2-3). 47 Immanuel Kan/: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Vill 29.11-14).

48 Dazu paßt Immanuel Kan/: Reflexion zur Logik Nr. 1684. nach der Hobbes ein treffendes Beispiel dafür bietet. daß »die Idee eines Buches [kann) gut seyn. wenn das Buch gleich voll Fehler ist« (XVI 82.10-11). 49 Immanuel Kanl: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Vill25.8). 50 Immanuel Kanl: Zum ewigen Frieden (Vill 356.5-12). 51 1mmanuel Kanl: Zum ewigen Frieden (Vill 356.14-17; siehe auch 360.1-9).

Naturgeschichte und Geschichte bei Kant

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hatte; denn nach einer Anmerkung in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft durchläuft die Menschheit in ihrer historischen Entwicklung ganz so wie der Makrokosmos nach der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels einen zyklischen Prozeß. der sie immer wieder in einen chaotischen ZustandS2 zurückfallen läßt.S3

S2 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (VIII 26.35).

53 Immanuel Kam: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 34. 22-38).

11. Kooperation

Bilder vom Menschen bei Thomas Hobbes Von Bettina Wahrig-Schmidt

Vorbemerkung

Die folgenden Seiten verstehen sich nicht als Versuch, die Anthropologie des Thomas Hobbes darzustellen; sie nehmen nicht einmal Stellung zu der von Manfred RiedeIl aufgestellten Behauptung, der archimedische Punkt des Hobbes'schen Systems sei weder die Physik noch die Politik sondern die Anthropologie, also das, was im zweiten Teil des Systems unter dem Titel ))De homine« 1658, chronologisch gesehen als dritter Band, erschien. Ob man überhaupt einen archimedischen Punkt braucht, um ein philosophisches System zu konstruieren oder ob der ))Anfang« nicht immer nur der uns gerade nächstliegende Punkt im Nachvollzug eines ))Kreises von Kreisen«2 ist - diese Frage kann damit offenbleiben. Ich mächte hier stattdessen einen Zugang zum Denken von Hobbes ausprobieren, der im weitesten Sinne metaphorologisch 3 zu nennen ist. Vorgestellt und untersucht werden sollen Textabschnitte aus dem Werk von Hobbes, in denen der Mensch oder seine Tätigkeiten mit ))etwas anderem« verglichen werden, ferner die Zusammenhänge zwischen diesen Vergleichen sowie Abhängigkeiten zwischen ihnen und dem begrifflichen Instrumentarium, das Hobbes' Philosophie zur Verfügung stellt. - In der Metapherndiskussion der letzten 30 Jahre ist die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen eigentlicher und übertragener Bedeutung als Basis der Definition der Metapher

1 Manfred Riedei: Metaphysik des Staates. Hobbes' Theorie des politischen Körpers im sprachlichen Kontext der 'ersten Philosophie', in: ders., Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt a. M. 1975, S. 171-191. 2 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 6: Wissenschaft der Logik II, Frankfurt a. M. 1969, S. 571. 3 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 1969,6, S. 7-142, S. 301-305.

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immer wieder in Frage gestellt worden4 ; Ersatzkonstruktionen wurden, wenn sie nicht überhaupt abgelehnt wurdens , etwa in einer Theorie der Spannung zwischen beiden Bedeutungen6, in einer »Theorie der Uneigentlichkeit«7 oder in einer Vernetzung beider Bedeutungsarten in einem »Bildfeld«8 gesucht Vor diesem Hintergrund ist mein Titel mit Absicht zweideutig formuliert: »Bilder vom Menschen« können Bilder für den Menschen sein, aber auch solche, die von ihm und seinen Eigenschaften ausgehen und für etwas anderes gesetzt werden. Im Gegensatz zu Weinrich und Blumenberg sehe ich das Bildfeld, in das ich einige Striche einzeichnen möchte, nicht als kulturell, existentiell oder vorbegrifflich bedingten »Untergrund« der mit ihm zusammenhängenden Wortfelder (von denen es metaphorisch entlehnt wurde), sondern als Teil eines Gewebes, dessen Struktur aus seinen Verdichtungen, seinen Webfehlern, wenn man will, erkannt werden kann. In diesem Gewebe ist ein innerer Zusammenhang nicht nur zwischen den Bildern, sondern auch zwischen der in »eigentlicher Rede«9 vorgetragenen philosophisch-systematisch abgesicherten Begrifflichkeit, der Hobbes'schen Auffassung von Metaphern und seiner Metaphorik vorhanden. Es versteht sich von selbst, daß eine so weitreichende These im vorgegebenen Rahmen nicht vollständig bewiesen werden kann; ich hoffe jedoch, daß der Mensch mit seinen Bildern ein geeigneter Ausschnitt ist, anhand dessen über die Fruchtbarkeit eines solchen Vorgehens diskutiert werden kann.

4 Vgl. rur Diskussion Gerhard KUTZ: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1983. 5 So JacqlU!s Derrida: La mythologie blanche (La metaphore dans le texte philosophique), in: Poetique, 1971,5, S. 1-52.

6 Vgl. z. B. Ma;c Blacle: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithacal London 1962; PauJ RicoeUT: Die lebendige Metapher, übersetzt von Rainer Rochlitz (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, hrsg. von Richard Grathoff und Bemhard Waldenfels, Bd. 12), München 1986 (zuerst 1975). 7 Hans Blunumberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurta. M. 1979. 8 Harald Weinrich: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld, in: Romanica. Festschrift für Gernard Rohlfs, hrsg. von H. Laesberg u. H. Weinrich, Halle 1958, S. 508-521 (erweiterte Fassung in: ders.: Sprache in Texten, Stuttgart 1976).

9 Zur Problematik der eigentlichen Rede im philosophischen Diskurs vgl. vor allem Hans Heinz Holz: Das Wesen metaphorischen Sprechens, in: Festschrift Ernst Bloch zum 70. Geburtstag, hrsg. von Rugard Otto Gropp, Berlin 1955, S. 101-120 und ders.: Metapher, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Bd. 3, Hamburg 1990, S. 377 -383 und seine Diskussion des Begriffs der absoluten Metapher.

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1. Der Mensch als Wolf Neben dem »Krieg aller gegen aller« ist Hobbes' angebliche Behauptung, der Mensch sei »dem Menschen ein Wolf« wohl der geläufigste Gemeinplatz über den Philosophen aus Malmesbury. Sehen wir uns das Zitat einmal an: »Nun sind sicher beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gottfür den Menschen und: Der Mensch ist ein Wolffür den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht«!O. Der Satz steht auch nicht in der Anthropologie, also in 'Oe homine' oder am Anfang des Leviathan', sondern im Widmungsschreiben zu 'Oe cive'. Er bestimmt nicht die Natur des Menschen, sondern grenzt ab, was sein Gattungswesen umfaßt und was nicht. So verweist er auf die Verse aus der Dias: »Wie kein Bund die Löwen und Menschenkinder befreundet, Auch nicht Wölf und Lämmer in Eintracht je sich gesellen, sondern bitterer Haß sie ewig trennt voneinander, ... « (XlIII. Gesang, 384). Der Mensch hat von Natur aus kein Gattungswesen, das ihn in die Gesellschaft einbindet; Gesellschaftlichkeit ist vielmehr Resultat eines vernünftigen Entschlusses. Gerade die so verstandene Wolfsnatur des Menschen ermöglicht diese radikale Umkehr gegenüber seiner natürlichen Verfassung. Und so ist der Wolf aus dieser Perspektive nicht nur das Schafe reißende, einzelgängerische Biest, als das er im 17. Jahrhundert zu erleben war, sondern auch das Wappentier der Gründung Roms: »Nicht minder weise als dieser Ausspruch des Cato war daher der des Pontius Telesinus, welcher in der Schlacht an dem Collinischen Tore gegen Sulla, als er die Reihen seines Heeres durcheilte, ausrief, Rom selbst müsse verwüstet und zerstört werden, denn die Wölfe, die Räuber der italienischen Freiheit, würden immer wiederkehren, solange nicht dieser Wald, ihr Zufluchtsort, gefällt sei.« 11 Die Rollen von Wolf und Schaf sind zwischen den Individuen austauschbar, da noch der schwächste Mensch den stärksten töten kann. 12 Die Schafe in ihrer

10 Thomas Hobbes: Thomae Hobbes Malmesburiensis Opera philosophica quae latine scripsit omnia. hrsg. von William Molesworth. 5 Bde.• London 1839-1845 (Reprint Aalen 1966). S. 135 {Übersetmng: Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger (Elemente der Philosophie llJIII). eingeleitet und hrsg. von Günter Gawlick auf der Basis der Ausgabe von M. Frischeisen-Köhler. Hamburg 1959. S. 59); vgl. PauJ J. JOMsOfl: Hobbes and the Wolf-man. in: Thomas Hobbes. His View of Man. hrsg. von J. v. d. Bend. Amsterdam 1982. S. 31-44. Übersetzungen der lateinischen Zitate in Hobbes' Schriften stammen entweder von mir oder von Max Frischeisen-Köhler, was jeweils vermerkt wird.

n.

11 Thomas Hobbes: Vom Menschen ....• S. 59. 12 Thomas Hobbes: Opera philosophica. S. 162. » ... wie leicht es selbst dem Schwächsten ist. den Stärksten m töten« (Thomas Hobbes: Vom Menschen....• S. SO); vgl. Thomas Hobbes: Levia-

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traditionellen Bedeutung als Mitglieder der Gemeinde Christi l3 werden von hab- und machtgierigen Bischöfen bei Bedarf geschoren und geschlachtet. 14 Daß das Gattungswesen des Menschen Gemeinschaft l5 nur in der Vermittlung durch seine Vernunftfahigkeit beinhaltet, erhellt auch aus den Bezugnahmen auf Ameisen und Bienen l6 , mit denen Hobbes die aristotelische Auffassung der Menschen als zoon politikon diskutiert. Das »ratiocinare« ist differentia specifica der Menschen gegenüber den anderen Tieren; hier geht er mit Aristoteies konform. Für Hobbes ist aber von zentraler Bedeutung, daß diese Fähigkeit den Menschen zwar in einen privilegierten Bezug zu Gott bringt,I7 aber nur, indem sie an das jeweilige Individuum gebunden bleibt und von diesem in Aktion gesetzt wird. Eine überindividuelle Vernunft, so wird er nicht müde zu betonen, gibt es nicht. Um sich zu verwirklichen, benötigt sie die Gemeinschaft, in der nach dem Modell des Vertrags die Individuen dem in der Vernunft schlummernden Phantasma des Allgemeinen eine wirkliche, wenn auch immer an Einzelne und deren Realität zurückgebundene Gestalt geben. Wird die an die Vernunft gekoppelte Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens nicht verwirklicht, so kann allerdings der Mensch mit den wildesten Raubtieren verglichen werden, da ihn im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen auch schon der zukünftige Hunger hungrig machl l8

than, Kap. 13 in: Thomas Hobbes. The English Wodes of Thomas Hobbes of Malmesbury, ed. William Moleswonh, 11 Bde., London 1839-1845, m, S. 110 (Reprint Aalen 1966). 13 Thomas Hobbes: The English Wodes, VI, S. 180 f. 14 Thomas Hobbes: The English Wodes, V, S. 37 f. 15 vgl. Franfois Tricaud: Hobbes's Conception of the State of Nature from 1640 to 1651. Evolution and Ambiguities, in: Perspectives on Thomas Hobbes, hrsg. von G. A. 1. Rogers / Alan Ryan, Orlord 1988, S. 107-123. 16 Thomas Hobbes: The English Wodes, II, S. 66 f; m, S. 156f.; IV, S. 244 f.; V, S. 78, SO, 87 f.; Thomas Hobbes: Opera philosophica, II, S. 91, 211 ff., m, S. 129. 17 Diesen privilegierten Bemg sieht Hobbes auch schon in der Schöpfungsgeschichte ausgedrückt: Gott bringt die von ihm geschaffenen Tiere m Adam, damit er ihnen Namen gebe (Thomas Hobbes: Opera philosophica, S. 89). 18 »... denn so gewiß Schwerter und Spieße, die Waffen der Menschen, Hörner, Zähne und Stacheln, die Waffen der Tiere, übertreffen, so gewiß ist auch der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht, raublustiger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr Hunger und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind.« (Thomas Hobbes: Opera philosophica, II, S. 91; Übersetmng: Thomas Hobbes: Vom Menschen, S. 17).

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2. Der Mensch als Automat Obwohl ihn also die Vernunft vom Tier unterscheidet, hat der Mensch doch die Eigenschaften des Lebewesens mit diesem gemeinsam. Blutkreislauf, Bewegung der spiritus animales, Leidenschaften, Ernährung, Verdauung: hier handelt es sich um Prozesse im Körperinneren, die bei allen Lebewesen statthaben. Neben der Vernunft sind es nur die Leidenschaften der Neugier l9 und des Machtstrebens, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Auf diesem Hintergrund wird der doppelte Vergleich des Tiers mit einem Automaten und des Staates mit einem Menschen kohärent: »Nature, the art whereby God hath made and govems the world, is by the art of man, as in many other things, so in this also imitated, that it can make an artificial animal. For seeing life is but a motion of limbs, the beginning whereof is in some principal part whithin; why may we not say, that all automata (engines that move themselves by springs and wheels as doth a watch) have an artificial life? For what is the heart, but aspring; and the nerves, but so many strings; and the joints, but so many wheels, giving motion 10 the whole body, such as was intended by the artificer? Art goes yet further, imitating that rational and most excellent work of nature, man. For by art is created that great Leviathan called a commonwealth, or state, in Latin civitas, which is but an artificial man; [ ...].«20

Die Mensch-Tier-Metapher, die im vorigen Abschnitt dargelegt wurde, geht hier sozusagen organisch über in die Tier-Automat- oder Mensch-Automat-Metapher. In meiner Analyse dieser Metaphorik hat bis jetzt jener Prozeß stattgefunden, den Weinrich und Blumenberg theoretisch begründet und anhand zahlreicher Beispiele vorgeführt haben: Eine Metapher hängt mit der anderen zusammen; und die Rollen von Bildsender und Bildempfanger werden austauschbar, wenn man beginnt, diese Zusammenhänge nachzuvollziehen. In diesem neuen Kontext kehrt sich der Vergleich des Menschen mit einem Tier um: Der Wolfs-Mensch, der, angetrieben durch eine ins Unendliche gesteigerte Leidenschaftlichkeit, reißend in Schafsherden einfällt, selbst wenn er keinen Hunger hat, ergibt das Bild eines völlig unberechenbaren Wesens. Gerade aber insofern er Tier ist, so sagt uns nun die Einleitung des 'Leviathan', können wir ihn verstehen, so wie wir das Funktionieren von Uhren verstehen, weil wir sie selbst herstellen können. 21 Im Tier-Automaten hat Hobbes einen Sprengsatz versteckt, der genau dieses Umschlagen artikuliert: Auf der einen Seite werden Automaten definiert als »engines that move themselves«, auf der anderen Seite 19 Thomas Hobbes: The English Works, vrr, S. 456 f.

20 Thomas Hobbes: The English Works, m, S. IX.

21 Vgl. Thomos Hobbes: The English Works, m, S. XI; vgl. Marlin A. Berlmann: Regulative and Coostitutive Rules in Hobbes, in: Thomas Hobbes, His View of Man, hrsg. von J. v. d. Bend, Amsterdam 1982, S. 9-15, S. 11.

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ist die Intention des Konstrukteurs (»such as was intended by the artificer«) notwendige Vorbedingung für die Z.B. mittels der Uhrfeder bewirkte Selbstbewegung. Die Spannung zwischen der Selbstbewegung und der Steuerung durch den Konstrukteur fmdet sich auch in Hobbes' physiologischen Theorien wieder, wo auf der einen Seite der physikalische 'conatus' (»Streben«2~ in der belebten wie in der unbelebten Natur wirkt und auf der anderen Seite die einmal in Gang gesetzte innere Bewegung den Organismus in die Lage versetzt, von außen kommende Einflüsse so zu 'verarbeiten', daß diese innere Bewegung immer weitergeht. Der Vergleich des Herzens mit der Uhrfeder ist charakteristisch; hier ist der »prinicipal part within« zu sehen. Schon bei der ersten Entwicklung der Lebewesen im Mutterleib beginnt dort die Eigenbewegung23 , und sie erhält sich bis zum Tod, muß allerdings ständig von außen neu vermittelt werden, indem bestimmte Partikel aus der Luft ihre Eigenbewegung in der Lunge dem Blut mitteilen, was im Herzen zur Diastole und dann reaktiv zur Systole führt. 24 Da für Hobbes auch die Leidenschaften bestimmte Arten des conatus sind, wird klar, daß der Erschaffer der Lebewesen, der hier »Natur« genannt wird, durch die Konstruktion des Organismus und die 'Regulationsmechanismen', besonders im Herzen, das Funktionieren des Tieres in einen ganz bestimmten Rahmen einfügen kann, so wie der Uhrmacher durch die Konstruktion der Uhr und durch die Einstellung der Federspannung ihre Funktion bestimmen und regulieren kann. 25 So hat Gott bestimmten Tieren Leidenschaften »ankonstruiert«, die sie 22 Vgl. Howard R. Bernstein: Conatus, Hobbes and the Young Leibniz, in: Studies in the History and Philosophy of Science, 1980, 11. S. 25-37. 23 Thomas Hobbes: Opera philosophica, n, S. 6. 24 Werfen wir einen Blick auf zwei zeitgenössische Physiologien. die Hobbes mit Sicherheit bekannt waren, so ergeben sich interessante Anknüpfungspunkte und Differenzen: Auch für Descartes ist das Herz der Ursprung der organismischen Bewegung; in ihm beftndet sich ein »feu sans lumiere«, das durch eine An Gärung die Diastole bewirlc.t und die spiritus animales »rarifizien« (Reni Descartes: Traite de l'homme, in: OEuvres de Descanes, hrsg. von Otarles Adam und Paul Tannery. Bd. XI, Paris 1986, S. 119-202; vgl. AMie Bilbol-Hespüies: Le principe de vie chez Descanes, Paris 1990; Richard Tuelc: Hobbes and Descartes, in: Perspectives on Thomas Hobbes, hrsg. von G. A. 1. Rogers I Alan Ryan, Oxford 1988, S. 11-41). Die Systole ist reaktiv. Dagegen sieht Harvey, für den ebenfalls das Herz zusammen mit dem Blut die arche des Körpers ist, in der Systole einen aktiven muskulären Prozeß. Das Herz ist für ihn eine Pumpe; die Frage nach der Ursache für die Herzbewegung bleibt offen (William Harvey: Die Bewegung des Herzens und des Blutes, übersetzt und eingeleitet von Richard von Töply, Leipzig 1910 [zuerst 1628); vgl. Walter Pagel: William Harvey's Biological Ideas. Selected Aspects and Historical Background, BasellNew York 1967) und wird in den 1650er und 1660er Jahren besonders Oxford diskutien (vgl. Robert G. Frank jr.: Harvey and the Oxford Physiologists. Scientific Ideas and Social Interaction, Berkeley/Los AngeleslLondon 1980).

25 Zur Regulation vgl. Otto Mayr: Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit, aus dem Amerik. übersetzt von F. Griese, München 1987 (zuerst 1986); Georges Canguilhem: Die Herausbildung des Konzeptes der biologischen Regulation im 18.

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zur Bildung von Gemeinschaften nötigen; im menschlichen Herzen fehlt jedoch eine solche »Feder«. 3. Der Mensch als Landschaft In seiner Antwort auf William Davenants 'Preface before Gondibert' lobt Hobbes die Konzeption des Poems, in dem die vielfältigen Seitenhandlungen schließlich in zwei Hauptströme münden. so wie sich in der Lombardei die zahlreichen Flüsse im Po und der Adige vereinigen. Er fährt fort »It hath the same resemblance also with a man's veins, which proceeding from different parts. after the like concourse. insert themselves at last into the two principal veins of the body.«26 Hier wirkt wahrscheinlich noch eine Reminiszenz an die in der Renaissance üblichen Vergleiche der vier Hauptgefaße des Herzens mit den Flüssen des Vierstromlandes. 27 Der Text. der im Gegensatz zu anderen von Hobbes verfaßten Schriften mit Metaphern nicht spart. fügt im nächsten Schritt eine aufschluß- und traditionsreiche Parallele an: »But when I considered that also the actions of men. which singly are inconsiderable. after many conjunctures. grow at last either into one great protecting power. or into two destroying factions. I could not but approve the structure of your poem. which ought to be no other than such as an imitation of human life requireth.«28 Man denkt vor allem an den von Hobbes bewunderten Royalisten William Harvey. der in der Vorrede zu 'De motu cordis' den Herrscher eines Staates mit dem Herzen vergleicht. Die Auffassung. daß sich im Organismus für sich nicht wahrnehmbare Bewegungen zu wahrnehmbaren Veränderungen aufsummieren. läßt sich zurückbeziehen auf die oben erwähnte Konzeption des 'conatus', der auf der Ebene des Organismus als »kleinster Anfang einer Bewegung«29 bezeichnet werden kann.

4. Der Mensch als Reisender und Sammler Aus dem bisher Gesagten ist schon herausgeklungen. daß für Hobbes die Bewegung ein zentraler Begriff ist. Galileis neue Physik ist keineswegs spurlos an ihm vorbeigegangen. Und so wie er den Menschen und seinen Organismus und 19. Jahrhundert, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, übersetzt von M. Bischoffu. W. Seilter, hrsg. von Wolf Lepenies, Frankfurt a. M. 1979, S. 89-109.

26 Thomas Hobbes: The English Works, IV, S. 450.

27 vgl. Waller Pagel: William Harvey's Biological ldeas. 28 Thomas Hobbes: The English WorIcs, IV, S. 450 f. 29 Thomas Hobbes: The English Works, m, S. 3.

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als in sich bewegtes Ganzes auffaßt, so ist für ihn der Mensch selbst auch in ständiger Bewegung. Der Prozeß der Erkenntnis wird häufig mit Metaphern des Wegs, der Bewegung und der Reise erläutert So bezeichnet er im 'Leviathan' die Vernunft als den Schritt, Wissenschaft und ihre Vermehrung als den Weg und das Wohl der Menschheit als Ziel.3o Täuschungen sind demnach Irrlichter, durch die die Menschen vom Weg der Wahrheit abgebracht werden können. Dasselbe gilt für philosophische oder religiöse Irrlehren.31 Hecken als Regeln des Vernunftgebrauchs und als Eingriffe des Staates in die Lehrmeinungen der Universitäten sollen die Reisenden/Erkennenden daran hindern, vom Weg abzukommen.32 Verwandt mit dieser Metapherngruppe sind die Bilder, die Hobbes im ersten Kapitel von 'De corpore' benutzt: »Die Philosophie scheint mir heutzutage unter den Menschen dieselbe Rolle zu spielen, wie nach der Überlieferung in uralten Zeiten Kom und Wein in der Welt der Dinge. Im Anfang der Dinge gab es nämlich Weinreben und Kornähren nur zerstreut auf den Äckern, Aussaaten aber gab es nicht Daher lebte man von Eicheln, und jeder, der gewagt hätte, unbekannte oder zweifelhafte Beeren zu probieren, tat dies auf die Gefahr hin, krank zu werden.«33 Erfahrungen, die die Menschen auf diese Weise sammeln, seien der natürlichen Vernunft zu vergleichen; die mit Methode angewandte Philosophie dagegen gleiche dem Ackerbau, bei dem die Menschen Nutzpflanzen bewußt aussäen. 34 5. Der Mensch als Stein Der Staat, jener große Leviathan, dessen Entstehungsbedingungen Hobbes beschreibt, wird nicht nur von den Menschen konstruiert, sondern er besteht auch aus Menschen. In diesem Sinne ist ein Mensch ungefüge oder »unbequem«, wenn er für den Bau des Staates nicht taugt: »[ ... ] daß die Menschen entsprechend der Verschiedenheit ihrer Leidenschaften verschieden dazu geeignet sind, eine gesellschaftliche Verbindung einzugehen, Verschiedenheiten, wie man sie ähnlich in Stoff und Form der Bausteine findet. So pflegt man einen Stein als ungefüge wegzuwerfen, wenn er wegen seiner rauhen und ecki30 Thomas Hobbes: The English Works, III, S. 36 f.

31 Thomas Hobbes: The English Works, III, S. 37. 32 Thomas Hobbes: The English Works, III, S. 37.

33 Thomas Hobbes: Opera philosophica, I, S. I, Übersetzung: Thomos Hobbes: Vom Körper. Elemente der Philosophie I, ausgewählt und übersetzt von Max Frischeisen-Köhler, Hamburg 1967,

S.5.

34 Thomas Hobbes: Opera philosopbica, I, S. 1.

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gen Gestalt den andern mehr Platz wegnimmt, als er selbst einnimmt, dabei wegen seiner Härte sich weder leicht zusammenpressen noch behauen läßt und deshalb zum Zusammenfügen des Gebäudes nicht taugt«35 Robbes hat hier die biblische Rede von Menschen als Stein im Gebäude der Gemeinde Gottes36 abgewandelt und auf den Staat angewandt.

6. Der Mensch als Architekt Ausdrücklich ist im Staat der Mensch jedoch Baumaterial und Architekt, »the matter [...J, and the artificer«.37 Um ein so großes Gebäude wie den Staat zu bauen, bedarf es eines »sehr tüchtigen Architekten« (»a very able architect«38). Daß nicht die Vernunft, sondern die Erfahrung in Verbindung mit der Vernunft in der Staatswissenschaft zu sicherem Wissen führt, erläutert ein auf den ersten Blick etwas erstaunlicher Vergleich: Wenn, so Robbes, die Indianer versicherten, es sei aus Vernunftgründen nicht möglich, ein festes Gebäude zu errichten, während ihnen doch nur die Erfahrung fehlt, so sei das genauso verstiegen wie die Meinung einiger Europäer, die aus den Mängeln der bisherigen Staaten den Schluß zögen, es sei prinzipiell unmöglich, einen Staat zu errichten, der so lange dauere wie das Material, aus dem er beschaffen sei. 39 Nicht der Staat allein ist ein Gebäude; auch die Wissenschaften werden so verglichen, besonders die Geometrie40 , aber auch die Optik.41 Zuweilen ist es nötig, im Gebäude der Wissenschaft Schutt abzuräumen42, also die Irrlehren der Gegner zu widerlegen. 35 Thomas Hobbes: Opera philosophica, II, S. 186. Thomas Hobbes: Vom Menschen, S. 103. Der lateinische Ausdruck für »ungefüge« ist »incomrnodus«; aufgrund des Kontextes scheint mir die freie Überset711ng gerechtfertigt. Vgl. Heinz Berthold: Die Metaphern und Allegorien vom Staats schiff, Staatskörper und Staatsgebäude in der römischen literatur der ausgehenden Republik und frühen Kaiserzeit, in: Antiquitas Graeco-Romana ac tempora nostr, hrsg. von J. Burian / L. Vidman, Prag 1968, S. 95-105. 36 »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist mm Eckstein geworden.« (psalm 118,22) - »Zu ihm kommt als 711 dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch mm geistlichen Hause und 7llT heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus ... « (1. Petrus 2, 5-8; vgl. Jessaja 28,16, Offenbarung Johannes II, 12, Apostelgeschichte 4,11). 37 Thomas Hobbes: The English Worb, III, X.

38 Thomas Hobbes: The English Worb, III, S. 308. 39 Thomas Hobbes: The English Worb, III, S. 325. 40 Thomas Hobbes: The English Worb, VII, S..242 41 Thomas Hobbes: The English Worb, VII, S. 46. 42 Thomas Hobbes: The English Worb, VII, S. 469.

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Die Tätigkeit der Konstruktion ist für das Hobbes'sche System eine zentrale Metapher. Hobbes hat genaue Vorstellungen darüber, wie der Mensch auf der einen Seite das Gebäude der Wissenschaft - in der damaligen Zeit noch synonym mit Philosophie - und auf der anderen Seite dasjenige des Staates dessen Fundament wiederum die Staatswissenschaft ist - konstruiert. Am Ende des nächsten Abschnitts werde ich noch etwas dazu bemerken.

7. Der Mensch als Bildhauer Der Mensch tritt in der Metaphorik des Thomas Hobbes dem Stein nicht nur als Architekt gegenüber; er behandelt ihn nicht nur als Element einer größeren Einheit, die er aus ihm zusammensetzt, sondern auch als Bildhauer, der die äußere Gestalt des Materials nach der in ihm selbst wohnenden Vorstellung verändert und formt Der Leser von 'De Corpore' soll an sich selbst den Prozeß nachvollziehen, der in der Entstehung der Welt vorgegeben und Vorbedingung sowie Geschwistergestalt seines eigenen Erkennens ist »Die Philosophie, die Tochter deines Geistes und der ganzen Welt, ist in dir selbst; wenngleich noch nicht geformt, sondern ähnlich der ungeformten Erzeugerin Welt, wie sie am Anfang war. Du mußt es also so machen wie die Bildhauer, die, indem sie überflüssige Materie ausmeißeln, das Bild nicht machen, sondern erfmden.«_43 Ausdrücklich wird der Mensch aufgefordert, im Erwerb eines soliden philosophischen Wissens die Schöpfung nachzuahmen. 44 Ja, er soll sich über den »verworrenden Abgrund« der eigenen Spekulationen und Erfahrungen durch seine Vernunft hinwegtragen lassen.45 Man muß an den Geist Gottes denken, der am Anfang der Genesis über dem Wasser schwebt. Im Erwerb der richtigen Philosophie, so lockt der Autor seinen Leser weiter, wird er den Prozeß nachvollziehen, der den sieben Tagen der Schöpfung entspricht: Die Kapitel von 'De Corpore' werden in eine Parallele zu ihnen gebracht. Wir sind jetzt schon dort angekommen, wo die Vergleiche zwischen dem Menschen und Gott beginnen. Bevor ich mich diesem Thema zuwende, möchte ich jedoch noch einige kurze Bemerkungen zur Verzahnung zwischen den Metaphern und den Begriffen im System von Hobbes machen. 46 43 Thomas Hobbes: Opera philosophica. I, Oe corpore, Ad lectorem. »Mentis ergo tuae et totius mundi filia Philosophia in te ipso est; nondum fortasse figurata, sed genitori mundo qualis eral in principio informi similis. Faciendum ergo tibi est, quod faciunt statuarii qui materiam exulpentes supervacaneam, imaginem non faciunt, sed inveniunt.« - Übersetzung: Thomas Hobbes: Vom Körper, S. 3. 44 »Vel irnitare creationem« - Thomas Hobbes: Opera philosophica, Oe Corpore, Ad lectorem.

45 Thomas Hobbes: Opera philosophica, I, De corpore, Ad lectorem.

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Wie bekannt. beginnt Wissenschaft für den Denker aus Malmesbury mit den Namen; diesen liegt eine Fähigkeit des Menschen zugrunde, die sozusagen die Basis seiner Vernünftigkeit ausmacht, nämlich die Fähigkeit des Schaffens von Zeichen. Durch diese Fähigkeit unterscheidet er sich allein von den Tieren, die wie der Mensch Wahrnehmung, Gedächtnis und Leidenschaften haben. Robbes unterscheidet zwei Arten von Zeichen, die nota und das signum. Die erste ist die ursprünglichere; sie ist ein beliebiger Gegenstand der Wahrnehmung, der vom Individuum willkürlich gesetzt wird, um die Erinnerung an eine andere Wahrnehmung in ihm selbst wachzurufen. 47 Wird dieser Vorgang mehrfach wiederholt, so kann sich im Individuum Wissen ansammeln; die Funktion des Gedächtnisses wird sozusagen optimiert Das signum dagegen steht von vornherein unter der Ägide des Lektüre. Ein signum ist entweder wiederholt wahrgenommenes Antezedens einer Konsequenz oder umgekehrt Konsequenz seines Antezedens. 48 Z.B. ist eine Wolke Zeichen möglichen künftigen Regens und umgekehrt der Regen Zeichen vorangegangener Wolkenbildung. Es gibt natürliche signa - wie im genannten Beispiel - und künstliche. Ein künstliches signum wäre etwa eine Efeuranke, die vor einem Raus hängt, in dem Wein ausgeschenkt wird.49 Der wichtige Unterschied zur nota ist, daß ein künstliches Zeichen von einem Individuum in Nachahmung der Naturvorgänge gesetzt wird, damit ein anderer es liest. Hier liegt die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den Individuen und der Übertragung des Wissens von einem Menschen auf den anderen; und erst durch diese Möglichkeit wird Wissenschaft denkbar, als ein Gebäude, das von mehreren gebaut wird und über die Möglichkeiten eines Einzelnen weit hinausweist. Interessanterweise verwendet nun Robbes den Ausdruck »invenire« in diesem Zusammenhang, und zwar anläßlich der Erläuterung des Begriffs der nota: Der Mensch erfindet/schafft notae und baut sie zusammen. 50 Er ist Bildhauer und Architekt der Sprache, und da-

46 Ausführlicher zu diesem Thema Bel/ina Wahrig-SchmidJ: Thomas Hobbes und der Doppelcharakter des Zeichens, in: liechtensteiner Exkurse, hrsg. von Norbert Haas I Reiner Nägele I Hans-Jörg Rheinberger, München 1993, S. 74-93 (im Druck). 47 »Hujusmodi monimenta sunt quas vocamus notas; nimirum, res sensibiles arbitrio nostra 00hibitas. ut illarum sensu cogitaJiones in animum revocari possunt similes iis cogitationibus quorum gratia sunt adhibitlP..« (Thomas Hobbes: Opera philosophica, I, S. 12). Thomas Hobbes: Vom Körper, S. 14. 48 »Signa autem vocari solent antecendentia consequentium, et consequentia antecendentium, quoties plerumque ea simili modo praedere et consequi experti sumus.« (Thomas Hobbes: Opera philosophica, I, S. 12). 49 Thomas Hobbes: Opera philosophica, I, S. 13. 50 homo, »partim notas ad memoriam adjuvandam inveniendo atque ediscendo« (Thomas Hobbes: Opera philosophica, I, S. 12).

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mit verfügt er über das Instrumentarium, das ihm das Reich der Wissenschaften erschließt. Mit der Ausbildung des wissenschaftlichen Denkens wird es ihm dann möglich, auch den Staat nach wissenschaftlichen/vernünftigen Prinzipien zu konstruieren und den Naturzustand endgültig zu überwinden. Auf diesem Hintergrund gewinnt eine rhetorisch anmutende Bemerkung über den Turmbau zu Babel eine tiefere Bedeutung: In 'De homine' wird diskutiert, ob die Namen, die die Menschen den Dingen geben, in irgendeiner Weise von Gott vorgegeben sind. Für Hobbes ist es sehr wahrscheinlich, daß auch die ersten Namen, die Adam auf Anweisung Gottes den Tieren gegeben hat, nicht von Gott, sondern von Adam selbst stammten. Endgültig vorbei mit jeder Komplizenschaft zwischen Ding und Wort muß es aber nach dem Turmbau zu Babel gewesen sein: »Denn seit dieser Zeit sind die Sprachen unterschiedlichen Ursprungs und von einzelnen Menschen auf einzelnen Stämmen herabgekommen.«51 Seitdem der Mensch also angefangen hat, sich als Baumeister zu betätigen, hat auch seine Sprachlichkeit die vollständige Autonomie gegenüber Gott erlangt 8. Der Mensch als Gott Wie wir gesehen haben, wird der Mensch in zweierlei Hinsicht mit Gott verglichen: zum einen als Erkennender, der in der Entwicklung der richtigen Philosophie in abstracto den Schöpfungsprozeß nachvollzieht, zum anderen als Architekt des Staates. Er kann aus dem Chaos eigener Gedanken und Erfahrungen den Kosmos eines philosophischen Systems wie des Hobbes'schen entstehen lassen, er kann wie Gott »Menschen machen«, denn der Leviathan wird bezeichnet als »künstlicher Mensch« oder »sterblicher Gott«. Gott schafft nach seinem Bild den Menschen, der Mensch nach seinem Bild den Staat. Gott kann aus dem Chaos die Welt entstehen lassen; aber er kann aber auch kraft seiner Allmacht direkt eingreifen. Genauso kann der Mensch den Staat aus dem Naturzustand heraus oder aus einem anderen, bereits bestehenden Gemeinwesen schaffen. Die göttliche Allmacht ist repräsentiert in der Fähigkeit des Staates, die Macht des Individuums bei weitem zu übertreffen; ja der Staat kann sogar ein künstliches ewiges Leben haben; das göttliche Allwissen wird repräsentiert in der Fähigkeit der Menschen, auf einigen Gebieten absolutes Wissen52 zu erlangen. Gott hat die Erde geschaffen und Lebewesen entstehen lassen, der Mensch baut Gebäude und konstruiert Maschinen und Automaten. 51 Thomas Hobbes: Opera philosophica, n, S. 90. »Nam ex eo tempore linguae ortae sunt diversae, et a singulis hominibus in singulas gentes derivatae.« 52 In der Geometrie und in der Staatswissenschaft, weil er hier durch eigenes Tun von der Ursache auf die Wirkung schließen kann und nicht, wie in der Erforschung der Natur, darauf angewiesen ist, von bekannten Wirlmngen auf mögliche Ursachen zu schließen.

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9. Der Staat als Mensch Der Vergleich des Staates mit einem Menschen durchzieht den gesamten Leviathan'; seine wichtigsten Elemente sind jedoch bereits in 'De cive' vorhanden; auch in den Elements of Law finden sich Vorstufen. Wenden wir uns jedoch zunächst noch einmal der Einleitung des 'Leviathan' zu: »For by art is created that great Leviathan called a Commonwealth, or State, in Latin Civitas, which is but an artificial man; though of a greater stature and strength than the natural, for whose protection and defence it was intended; and in which there is an artificial soul, as giving life and motion to the whole body; the magistrates, and other officers of judicature and execution, artificial joints; reward and punishment, by which fastened to the seat of the sovereignty every joint and member is moved to perform his duty, are the nerves, that do the same in the body natural; the wealth and riches of all the particular members, are the strength; salus poluli, the people's safety, its business, counseUors, by whom all things needful for it to know are suggested unto it, are the memory; equity, and laws, an artificial reason and will; concord, health, sedition, sickness, and civil war, death. Lastly, the pacts and covenants, by which the parts of this body politic were at first made, set together, and ~yited, resemble that fiat, or the let us make man, pronounced by God in the creation.«

Die lange Geschichte der Staats-Organismus-Metaphorik kann hier nicht ausgebreitet werden;54 konzentrieren wir uns zunächst auf die Frage, wie die Zentralgewalt in diesem Vergleich angesiedelt ist. In traditionellen Staats-Organismen ist die Souveränität immer mit einem zu jener Zeit aktuellen Zentralorgan verbunden: mit dem Kopf bzw. Gehirn, mit dem Herzen oder, wie in der bekannten Fabel von Menenius Agrippa, mit dem Magen. 55 In den 'Elements of Law' wird der Souvereign entsprechend dieser Tradition auch noch mit dem Kopf verglichen. Ab 'De cive' wählte Hobbes jedoch mit der Seele einen Begriff, dessen Materialität zumindest zweifelhaft war. Schon aus der zitierten Passage lassen sich einige Schlüsse auf Hobbes' Auffassung der Seele ziehen. Sie gibt. so heißt es, dem ganzen Körper Leben und Bewegung; für diese bedient sie sich der Nerven. Es wird der Sitz der Souveränität erwähnt; zumindest kann also nicht ausgeschlossen werden, daß auch die Seele für ihn einen Sitz hat. Was die Frage der Materialität angeht, so läßt Hobbes an anderen Stellen keinen Zweifel daran, daß es für ihn überhaupt nichts Unkörperliches gibt. Ge53 Thomas Hobbes: The English Works, III, IX f.

54 Vgl. 0110 Gieru: Die Staats- und Korporationslehre des Alterthwns und Mittelalters und ihre

Aufnahme in Deutschland (= Otto Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3), Berlin 1881; F. W. Cour: Organismic Theories of the State. Nineteenth Century Interpretations of the State as Organism or as Person, New York 1910 (Studies in History, Economics and Public Law, 38); Frank Baumann: Der Staat als Kunstwerk. Zur Interpretation des Leviathan von Thomas Hobbes. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des M. A. der Universität Hamburg 1990; HelmuJ Rolle: Hobbes' Leviathan - der Staat als Maschine, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1980, 28, S.934-942. 55 Vgl. Owsei Temkin: Metaphors of Human Biology, in: Science and Civilization, hrsg. von Robert Clintor Stauffer, Madison, S. 169-194.

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gen Descartes wendet er ein, gerade das, was denke, müsse etwas Körperliches sein,56 und an anderer Stelle, von einer Seele hätten wir keine Idee, da wir von ihr keine Anschauung haben, »sondern wir schließen auf etwas, das dem menschlichen Körper einwohnt und ihm die Lebensbewegung gibt«.57 An anderer Stelle wird Gott mit einem Körper gleichgesetzt,58 wenn auch mit einem sehr feinen, materiell nicht darstellbaren, was den Vergleich zu den spiritus und der Seele nahelegt. Konfrontieren wir nun diese Auffassungen mit dem Vergleich zwischen dem Herzen und Feder und orientieren uns außerdem an den im Werk verstreuten physiologischen Bemerkungen, etwa zum sensorium commune (z. B. 'De eorpore', Kap. 25), so ergibt sich folgendes Bild: Die Bewegung des Herzens ist eine von außen ständig unterhaltene, trotzdem weitgehend autonom ablaufende Selbstbewegung, die auch die Bewegung der Lebensgeister, der spiritus, unterhält Diese sind verantwortlich für alle Sinneswahrnehmungen und vermitteln diese im Herzen mit den anderen innerorganismischen Prozessen, im Gehirn mit anderen Wahrnehmungen; es entstehen Vorstellungen und aus ihnen Gedächtnis und Wille. Die Addition und Subtraktion von Vorstellungen ist die Basis des Denkens und damit der Vernunft. Aus dieser in sehr groben Zügen geschilderten 'Physiologie' von Hobbes geht hervor, daß er zum einen bemüht ist, mit dem Gedanken der Materie als einer Kombinatorik von Körper und Bewegung ernstzwnachen, und daß auf der anderen Seite das Aufsummieren oder auch gegenseitige Aufheben innerorganismischer Bewegungen die Denkfigur ist, mit der er Vorgänge im menschlichen Körper zu erklären versucht. Aus diesem Grund scheint es mir unwahrscheinlich, daß Hobbes neben dem Sitz der Souveränität auch einen Sitz der Seele annahm. Die frappante Ähnlichkeit mit den Descartes'schen Ausführungen im Traitt de I'homme'59 bleibt jedoch bemerkenswert. Ein wichtiger Aspekt des Vergleichs zwischen Souvereign und Seele60 ergibt sich meines Erachtens aber aus folgender Überlegung. Wenn die Tätigkeit der Seele wesentlich über die spiritus vermittelt wird (unabhängig von der 56 ThOfNJS Hobbes: Opera philosophica, V, S. 253. 57 Thomas Hobbes: Opera philosophica, V, S.263. Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, S. 173. 58 Z. B. ThOfNJS Hobbes: The English Worb, IV, S. 383. 59 Rene Desearles: Traite de l'homrne, vgl. besonders Abb. 28 und 29. 60 Cicero übernimmt den von der Stoa geschaffenen Begriff corpus rei publicae (Marcus TuJlius Cicero: Oe officiis, zuerst Köln o. J. [vor 1465), I, 25, 85) - Marcus TuJlius Cicero: De re publica, zuerst Straßburg o. 1. [nicht vor 1485), m, 25, vergleicht die staatliche Hernchaft mit der Regulation des Körpers durch die Seele; vgl. 0110 Gier/ce: Die Staats- und Korporationslehre, S. 22 f., Anm.48.

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Frage, ob sie einen Sitz hat), so bedeutet das, daß sie überall im Körper ihre Wirkung entfalten kann, und das trifft sich mit der Entstehung des künstlichen Menschen, die in der Einleitung zum 'Leviathan' nur angedeutet, andernorts aber ausgeführt ist: Im Gegensatz zu den Tieren ist der Mensch, so Hobbes, nicht von der Erde hervorgebracht, sondern durch göttliches Wort direkt geschaffen worden. Der Staat wird durch die »pacts and covenants«, also ebenfalls durch Worte, der Menschen gegründet. Mit der Fähigkeit, einen Vertrag überhaupt abzuschließen, hängt aber die Entstehung eines künstlichen Menschen als Vertragssubjekt zusammen, wie dies am Ende von 'De homine' im Kapitel 'De homine fictitio' erklärt wird. Das konkrete Individuum wird also einem Abstraktionsprozeß unterworfen, der in der Entstehung der Sprache als spezifisch menschlicher Fähigkeit seinen Usprung hat. Aus diesem Zusammenhang scheint mir hervorzugehen, daß die 'Überleitung' des Souvereigns vom Kopf in die Seele genau diesen Abstraktionsprozeß repräsentiert. Übertragen auf die Staatswissenschaft: Der Staat, so wie ihn sich Hobbes vorstellt, ist weniger starr-formalen Prinzipien der Konstruktion als vielmehr rationalen Grundsätzen überantwortet, die eine Pluralität von Formen zulassen. Aus dieser Perspektive scheinen die drei Möglichkeiten der konkreten Verstofflichung der Souveränität - Aristokratie, Demokratie und Monarchie - systematisch notwendig zu sein. Der Vergleich von Gerechtigkeit und Gesetzen mit Vernunft und Willen ist aufschlußreich im Zusammenhang mit Hobbes' wiederholter Behauptung, es gebe keine überindividuelle Vernunft; deshalb kann Gerechtigkeit auch niemals absolut sein; die Vernunft des Souvereigns ist genauso störanfällig wie die eines seiner Untertanen. Und der Wille ist niemals vollständig von der Vernunft, sondern zumindest anteilig von den Leidenschaften gesteuert. Weitere Details - wie z.B. die konkreten Krankheiten, die Hobbes mit Leiden und Gebrechen des Staates in Zusammenhang bringt (v. a. Leviathan, Kap. 29)61 - würden ähnlich aufschlußreiche Verbindungen zwischen wissenschaftlichen Überzeugungen, philosophisch-systematischen Positionen und den Metaphern bei Hobbes zutage fördern. - Hobbes selbst hat vor der Einführung von Metaphern in den wissenschaftlichen Diskurs gewarnt: »And, on the contrary, metaphors, and senseless and ambiguous words, are like ignes fatui; and reasoning upon them is wandering amongst innumerable absurdities; and their end, contention and sedition, or contempt.«62

61 Vgl. Bel/ina Wahrig-Schmidt: Staatspathologie und Staatstherapie bei Thomas Hobbes, in: Focus, MUL 8, S. 247-253. 62 Thomas Hobbes: The English Works, m, S. 37. \3 FS Görland

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Aber der innere Zusammenhang zwischen seinen eigenen Metaphern und ihre häufige Wiederholung sprechen für sich: Vielleicht ist es an der Zeit, den Wüsten staub unter die Füße zu nehmen und die Angst vor den irrlichternden Metaphern, vor denen uns Robbes am Leitfaden der körperlichen Vernunft bewahren wollte, zu verlieren.

Konsequenzen aus Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« für Fragen der politischen Theorie Von Cornelius Bickel

1.1 Die konstitutive Rolle von Symbolen rur politische Institutionen im Licht von Cassirers Symboltheorie Das Interesse dafür, welche Rolle Symbole in der Politik, besonders in politischen Institutionen, spielen, ist in letzter Zeit gewachsen. In der Politikwissenschaft ist der Symbolbegriff dabei vor allem in einem ideologiekritischen Sinne verwendet worden. 1 Die Funktion des Symbols in der Politik wird hier vorwiegend unter dem Aspekt des nur symbolischen Handeins, das reale Inaktivität verschleiern soll, betrachtet Die manipulative Verwendung von Symbolen in den Massenkommunikationsmitteln wird in dieser Perspektive zu einem wichtigen Thema. Eine ganz andere Betrachtungsweise hinsichtlich der Funktion von Symbolen in der kulturellen, sozialen und politischen Sphäre ist in der philosophischen Anthropologie der zwanziger Jahre angelegt Hier geht es um die konstitutive Rolle von Symbolen für die historisch-kulturelle Welt Erkenntnis und Orientierung des Handelns sind danach notwendigerweise auf Symbole angewiesen. Damit ist auf erkenntnistheoretischer Ebene die Verbindung zu einem zeichentheoretischen Vernunftbegriff hergestellt. der in der Philosophie um die Jahrhundertwende, besonders im amerikanischen Pragmatismus entwickelt wurde. Unter den philosophischen Anthropologen in Deutschland eröffnet z. B. Helmuth Plessner mit seiner Theorie der »exzentrischen Positionalität«2 den Blick auf die zugleich kontingente und apriorische Rolle von Symbolen beim 1 Vgl. z. B. Murray EckIman: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen HandeIns, Frankfurt a. M. 1990 (zuerst 1964 und 1971). 2 Helmmh Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Einleitung in die philosophische Anthropologie, Bonn 1928.

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Aufbau der jeweiligen Kulturkörper. Arnold Gehlen, ein weiterer Protagonist dieser philosophisch-anthropologischen Denkrichtung, unterscheidet zwischen der instrumentalen und der rituell-darstellenden, also auf Symbolverwendung beruhenden Funktion von Institutionen.3 Eine besondere Stellung nimmt in diesem Rahmen Ernst Cassirer ein. Er ist der einzige unter den Philosophen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der eine alle Wirklichkeitsebenen umfassende, systematisch angelegte Theorie des Symbols entwickelt hat.4 Er ging von erkenntnistheoretischen Fragen im Sinne des Neukantianismus aus, entfernte sich aber von dieser Tradition im Marburger Schulsinne und näherte sich Problemen der zeitgenössischen Lebensphilosophie. Er nahm auch Motive der Gestaltpsychologie in sein Denken auf. Er selbst hat unter dem Eindruck der Zeitgeschichte seine Symboltheorie auf Geschichte und Politik anzuwenden versucht. 5 Die kulturanthropologischen Konsequenzen seiner als neue »Phänomenologie des Geistes« gedachten Symboltheorie liegen offen zutage. Für die Frage nach der Rolle von Symbolen in politischen Institutionen sind aber die immanenten, systematischen Aspekte seiner Symboltheorie wichtiger als die historisch-politischen Anwendungsversuche. Die Kritik (im Kantischen Sinne) der Formen symbolischer Bildungen steht im Mittelpunkt seiner Konzeption. Cassirers Symboltheorie ist werkgeschichtlich aus seinen Untersuchungen zur Entwicklung vom Substanz- zum Funktionsbegriff entstanden. 6 Mit diesen Studien setzte eine Entwicklung in Cassirers Denken ein, in deren Verlauf der neukantianische Erkenntnisbegriff durch den umfassenderen Sinnbegriff ersetzt wurde. Damit rückten die verschiedenen symbolischen Formen der Welter3 Vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg: Eine Grundlagentheorie der Institutionen: Amold Gehlen. Mit systematischen Schlußfolgerungen für eine kritische Institutionentheorie, in: Gemard Göhler, Kurt Lenk und Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Die Rationalität politischer Institutionen, Baden-Baden 1990, S. 115-145. Eine entsprechende Unterscheidung für die Zwecke einer modemen Theorie politischer Institutionen entwickelt Gemard Göhler mit seiner Konzeption der Ordnungs- und der Orientierungsfunktion politischer Institutionen. Letztere ist auf Symbole angewiesen. Vgl. Gerhard Göhler: Politische Institutionen und ihr Kontext Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen, Manuskript 1993 im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramrns zur Theorie politischer Institutionen. Aus dem Zusammenhang dieses DFG-Schwerpunktprogramms sind zum Teil auch die hier festgehaltenen Überlegungen zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen hervorgegangen. 4 Ernst Cassiur: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Bd. I: Die Sprache, Bd. 2: Das mythische Denken, Bd. 3: Die Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1964 (zuerst 19231929). 5 Ernst Cassiur: Der Mythus des Staates, Zürich/München 1978 (zuerst: The Myth of the State, New Haven 1946); ders.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt a. M. 1990 (zuerst: An Essay on Man, New Haven 1944). 6 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt 1969 (zuerst 1921).

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schließung in Cassirers Blickfeld. Die Wissenschaft ist dabei nur eine Form neben anderen. Der transzendentale Aspekt ist seit den spezifisch neukantianischen Anfängen nicht verschwunden, sondern hat sich vielmehr gewandelt zur Konzeption der »symbolischen Prägnanz«, d. h. zur Reflexion über die apriorischen Voraussetzungen dafür, daß empirische Phänomene symbolhafte Bedeutung annehmen können. Empirische Erscheinungsform und repräsentierter Sinn sind nicht voneinander zu trennen. »Das Symbolische ist Immanenz und Transzendenz in einem, sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äußert.«1 Aus Cassirers Symboltheorie lassen sich also Aufschlüsse gewinnen zum Verhältnis zwischen den Sphären von Geltung und historisch kontingenter empirischer Erscheinung. Darauf bezieht sich aber auch die Institutionentheorie, wenn sie nach der legitimierenden, über die Einzelfälle hinausgehenden Idee von Institutionen fragt Von den symbolischen Formen, die Cassirer darstellt, kommen für die Politik vor allem die Formen des Mythos, des Rechts und der Technik in Frage. Kunst und Religion sind aufgrund ihrer Nähe zum Mythos wichtig. Sprache und Wissenschaft bilden den allgemeinen intellektuellen Hintergrund. Die symbolischen Fonnen bewegen sich zwischen drei Stufen (Mimesis, Analogie und reine Symbolik) und beziehen sich auf drei Funktionen (Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung). Die symbolischen Formen sind den damit bezeichneten Aufgaben jeweils in unterschiedlicher Weise gewachsen. Der Mythos ist um die Funktion der expressiven Bedeutung aufgebaut. Die Wissenschaft mit ihren Zeichensystemen konzentriert sich dagegen auf die reine Bedeutungsfunktion. Die Sprache schließlich hat alle genannten Stufen und Funktionen in ihrem Reservoir. Für politische Institutionen ist vor allem die darstellende und die rein symbolische Funktion (als Steuerungssymbolik) von Bedeutung. Der Mythos als Form bleibt aber stets im Spiel, denn er ist der Ursprung aller übrigen symbolischen Fonnen, die sich aus ihm herausentwickelt haben. Gefährlich kann diese Konstellation durch die Möglichkeit einer neuerlichen Inthronisierung und Verabsolutierung der mythischen Motive werden. Die symbolischen Formen zeigen nach Cassirer alle eine Tendenz zur Dominanz, was apriori ein Irrweg ist, denn es kann keine Hierarchie der symbolischen Formen geben. Durch die Betonung des Eigenrechts der einzelnen symbolischen Formen ergibt sich bei Cassirer eine Analogie zu Habermas' Abwehr der »Kolonisierung« der »Lebenswelt« durch die Geltungsprinzipien der »Systeme«. Der Bezug zur Zeit ist für Cassirers Symboltheorie wichtig. Das Symbol dient dazu, den empirischen Einzelfall zu übersteigen. Es repräsentiert eine all1 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Bd., S. 449 f.

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gemeine Bedeutung in empirischer Gestalt. Das Problem der Repräsentation durch Symbolbeziehung ist für Cassirer also wesentlich. Eine politisch bedeutsame Anwendung dieser Position fmdet sich in seiner Rechtstheorie. 8 Darin deutet er Motive der Naturrechtstradition durch Verwendung seines Symbolbegriffes um. Die symbolische Form des Rechts beruht demnach auf der Prämisse, daß Menschen Verpflichtungen für die Zukunft eingehen können und im Verhältnis einer freien Willensgemeinschaft zueinander stehen. Damit gibt Cassirer - ähnlich wie der Semiotiker Peirce - eine sinnkritische Um formulierung dogmatischer, in diesem Falle rechtsdogmatischer Begriffe. Aus Cassirers Theorie der Formen und der symbolischen Stufen lassen sich Aufschlüsse zum Verhältnis von Rationalität und Symbolbildung gewinnen. Das Verhältnis der verschiedenen symbolischen Formen zueinander läßt sich auf dieser Grundlage systematisch bestimmen und entwicklungsgeschichtlich verfolgen. Ein zentrales Problem, das sich mit Cassirers Begriffen überhaupt erst systematisch fassen läßt, ist das Kooperationsverhältnis oder gegebenenfalls das Konfliktverhältnis, das zwischen den verschiedenen Formen, aber auch zwischen den Entwicklungsstufen innerhalb einer Form bestehen kann. Wichtig ist auch die besondere Perspektivenlehre, die in der »Philosophie der symbolischen Formen« enthalten ist. Cassirer spricht von dem jeweils spezifischen »Brechungsindex« der einzelnen symbolischen Formen. Es ist die Frage nach dem gleichsam transzendental sich auswirkenden Bedeutungshorizont, den jede der symbolischen Formen auf ihre Weise eröffnet. 2. Cassirer im Vergleich mit einigen zeitgenössischen Strömungen in den Kultur- und Sozialwissenschaften Der institutionentheoretische Gehalt von Cassirers Symboltheorie läßt sich deutlicher fassen, wenn man Cassirer mit verwandten zeitgenössischen Strömungen vergleicht: mit Durkheims religionssoziologischer Symboltheorie9 und mit der Zeichentheorie des amerikanischen Pragmatismus lO • Der Bezug zu Par8 Ernst Cassirer: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie, in: Göteborgs Högskolas Arsskrift, 1939,45, S. 1-119. 9 Enule DlITlliim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981 (zuerst 1912). 10 Vgi. z. B. George Herbert Mead: Mind, Self and Society, hrsg. von Charles Wright Morris, Chicago 1934; Chor/es Sanders Peirce: Schriften, I und n, hrsg. von Karl-Otto Ape1, Frankfurt a.M.1967.

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sons symboltheoretischen Überlegungen und zu Haurious institutionentheoretischer Konzeption ergibt sich aus dem Vergleich Cassirer - Durkheim. Ein weiterer Vergleich ergibt sich aus dem Umstand, daß Cassirer Teile seiner Symboltheorie im Kontakt mit dem Warburg-Kreis entwickelt hat. 11 Arbeiten aus diesem Kreis, besonders Panofskys Ikonentheorie12 sowie Percy Ernst Schramms 13 und Ernst Kantorowicz' 14 Untersuchungen zur Symbolik des mittelalterlichen Königtums zeigen symbol theoretische Parallelen zu Cassirers Denkentwicklung. Auf das Verhältnis von Cassirer zu Durkheim, Parsons, der Warburg-Schule und dem französischen Rechtstheoretiker Hauriou sollen im folgenden einige Streiflichter fallen. 2.1 Cassirer und Durkheim Durkheim hat sein Spätwerk zur Religionssoziologie 15 und der damit verbundenen Symboltheorie mit philosophischen Überlegungen 16 begleitet. Er bewegt sich dabei zwischen Anleihen bei der französischen Variante des Neukantianismus und der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Pragmatismus, wobei er sich besonders an William James orientiert. Cassirer und Durkheim gehören also beide in den Zusammenhang einer Zurückführung von Vernunftkategorien auf eine in Symbolen sich äußernde pragmatische Dimension. Diese Parallele in der philosophischen Grundlegung deutet auf eine gewisse intellektuelle Verwandtschaft zwischen Cassirer und Durkheim in Fragen der Symboltheorie hin. Die Gewichte sind aber verschieden verteilt. Durkheim entwickelt eine soziologische Theorie des Symbols mit anthropologischen und politischen Konsequenzen. Was bei Durkheim fehlt, ist das Interesse an verschiedenen apriorisch sich auswirkenden »Fonnen« der

11 Zu Aby Warourg vgl. Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1970; Stephall Füssel: Mnemosyne. Beiträge zum SO. Todestag von Aby Warburg, Göttingen 1979; Silvia Fermi: Cassirer, Panofsky, and Warburg. Symbol, Art and History, New Haven/Londoo 1989. 12 Erwin Panofsky: Studies in lconology. Humanistic Themes in the Art of Renaissance, New York/Evanston 1939 (dt: Köln 1980). 13 Percy Ernst Schramm: Herrschaftzeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom 3. bis zum 16. Jalubundert, 3 Bde., Stuttgart 1954, 1955, 1956 (mit Beiträgen verschiedener Verfasser) (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 23/I-III). 14 Ernst Ka1ltorowicz: Tbc King's Two Bodies. A Study in Mcdiaeval Theology, Princeton 1957 (dt: München 1990). 15 Emile Durlcheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens.

16 Emile Durlcheim: Schriften rur Soziologie der Erkennntis, hrsg. voo Hans Joas, Frankfurt a. M. 1987 (posthum zuerst 1955; ursprünglich eine Vortragsreihe aus dem Winter 1913/14).

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symbolischen Weltansicht. Gerade von diesem Interesse wird nun aber Cassirer bei seinen Untersuchungen geleitet Beide, Cassirer wie Durkheim, führen soziale und politische Symbole auf archaische Bedingungen zurück. Auch die Geltung aktueller Symbole bleibt demnach an die fortdauernden Wirkungen dieser Quelle gebunden. Für Cassirer ist es der Mythos, für Durkheim die Religion, oder besser: das Sakrale, das nach wie vor - vermittels Analogie - allen sozialen Zusammenhängen zugrundeliegt. Beide können von ihren Voraussetzungen her die Fortdauer archaischer Motive auch in modemen Symbolbildungen feststellen. Beide wollen durch diese Einsichten die Sache der Ratio nicht schwächen, sondern stärken. Gegenüber diesen Gemeinsamkeiten gibt es den bereits erwähnten Unterschied, daß Cassirer verschiedene symbolische »Formen« unterscheidet Auf der Grundlage der damit gegebenen Formprinzipien lassen sich systematische und entwicklungsgeschichtliche Fragen stellen, die für Durkheims Position nicht sichtbar werden. Zum Beispiel: Gibt es eine Vorherrschaft bestimmter symbolischer Formen in bestimmten Epochen? Gibt es illegitime Vermischungen und Grenzüberschreitungen zwischen den symbolischen Formen? Lassen sich Sinn und Bedeutung von Symbolen durch Rückgriff auf die jeweils wirksamen Formprinzipien bestimmen? Am Beispiel der NS-Herrschaft zeigt Cassirer,17 wie schon aus symboltheoretischen Gründen der ideologische Status des NSProgramms dadurch festgelegt wird, daß zwei kategorial getrennte symbolische Formen miteinander kombiniert werden sollen: der Mythos soll durch Anwendung von (Herrschafts- und Kommunikations-) Technik reaktiviert werden. Eine Symboltheorie, die Cassirer und Durkheim kombiniert, erlaubt es, das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Symbolisierung und Rationalisierung bei der Bildung von Institutionen zu erkennen. Dieser Zusammenhang ist für eine Theorie demokratischer Institutionen wichtig. Cassirer kann zur Klärung der damit gegebenen Fragen Wesentliches beitragen. Sein ursprünglich erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt schafft dafür die Voraussetzungen. Rationalität kann sich für Cassirer nur innerhalb der symbolischen Formen, niemals unabhängig davon entwickeln. Von diesen Voraussetzungen her kann Cassirer, anders als Durkheim, die spezifisch modeme Spannung zwischen fortschreitenden Rationalisierungsprozessen und fortdauernden Bedürfnissen nach Symbolen besonders im Falle politischer Institutionen mit seinen Kategorien erfassen.

17 Ernst Cassiur: Der Mythus des Staates.

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2.2 Cassirer und Parsons Von Durkheim aus führt die Linie über Parsons Klassiker-Rezeption von 1937 18 in dessen Systemtheorie von 1951 19 mit ihren folgenden Verästelungen. Parsons braucht aus elementaren wissenschaftstheoretischen Gründen den Symbolbegriff zur Abgrenzung des Gegenstandsbereiches der Soziologie. Darüber hinaus aber benötigt er ihn zur Begründung seiner Mehrfunktionsschemata möglicher Handlungsorientierungen. Sein Interesse gilt aber nicht symboltheoretischen Fragen im engeren Sinne. Daß Werte symbolisiert werden, ist ihm sozusagen eine Tatsache und kein Problem. Ihn interessieren die Folgen, die sich daraus ergeben. Genau diese Frage aber, wie Werte und Ideen in Symbolen Ausdruck gewinnen, steht im Zentrum von Cassirers Untersuchungen und ebenfalls im Zentrum von Durkheims Spätwerk. Ein wichtiger Bezugspunkt zwischen Parsons und Cassirer ergibt sich aber aus der für beide wichtigen Frage nach dem zunehmenden Abstraktionsgrad von Symbolbildungen. Parsons spätere Theorie »symbolisch generalisierter Medien«2o fmdet eine deutliche Entsprechung in Cassirers Bestimmung einer »rein symbolischen«, d. h. nicht mehr anschaulichen, sondern abstrakten Stufe der Symbolbedeutung und der Symbolfunktion. 21 Vorbild für Cassirer waren dabei die mathematischen Zeichensysteme. In seiner Rechtstheorie22 hat er diesen Abstraktionsgrad, der dennoch der symbolischen Sphäre verhaftet bleibt, im sozialen Regelsystem des modemen Rechts dargestellt.

2.3 Cassirer und der Warburg-Kreis Stärker als Durkheim interessiert sich Cassirer für Probleme einer Ästhetik der Symbolbildung. Im intellektuellen Austausch mit dem Warburg-Kreis widmet er sich den Formprinzipien bildhafter Symbole. Die Konsequenzen dieser Betrachtungsweise für eine Deutung politischer Symbole hat der Historiker Percy Ernst Schramm, selbst dem Warburg-Kreis nahestehend, mit seinen großen Untersuchungen zur Herrschaftssymbolik des Mittelalters gezogen?3 Warburgs zentrales Interesse war es, in der Symbolsprache der europäischen 18 Talcolt Parsons: The Struclure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recenl European W riten, New YorklLondon 1937.

19 Taicolt Parsons: The Social System, New York/London 1951. Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, hrsg. von Stefan Jensen, Opladen 1980. 21 Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmsladl 1956. 20 Taleott Parsons:

22 Ernst Cassirer: Axel Hägerslröm. 23 Ernst Percy Schramm: Hemchaftzeichen und Staats symbolik.

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Kunst das Nachleben der Antike zu verfolgen. 24 Von diesem Interesse ließ sich auch P. E. Schramm bei seiner Darstellung der Herrschaftsinsignien leiten. Auf der Grundlage von Schramms Werk läßt sich im Cassirerschen Sinn das Zusammenwirken der vier symbolischen »Formen« Mythos, Religion, Kunst und Recht bei der Entstehung und bei dem Gebrauch von Herrschaftssymbolen verfolgen. In Ernst Kantorowicz' Untersuchung zum mittelalterlichen Bild von den »Zwei Körpern des Königs«2S läßt sich erkennen, wie das Zusammenwirken der symbolischen Formen von Mythos, Religion und Kunst bei der Entstehung des Korporationsgedankens für den Staat als abstrakte Rechtsform mitgewirkt hat. Aby Warburg stellte selbst zwei Theoreme auf: das der Polarität in Symbolen und das der Pathosformeln. Symbole können sich demnach zwischen den beiden Polen des Irrationalismus und des »humanen Rationalismus« in ihrer Bedeutung entwickeln - bei gleicher oder analoger Bildgestalt Die Formensprache großer, öffentlich zum Ausdruck gebrachter Emotionen (eben die Pathosformeln) hat sich bei variablem Inhalt von der Antike bis zur Neuzeit erhalten und hat seither neue, den antiken Ursprüngen ganz fremde, z. B. christliche Gehalte aufnehmen können. In dieser Ästhetik des bildhaften Symbols ist ein zu Cassirers Theorie analoger transzendentaler Aspekt enthalten. Die Bildelemente legen eine gleichsam apriori sich auswirkende Grammatik des öffentlichen, also politisch folgenreichen Ausdrucks fest. In Berührung mit Warburgs Gedanken hat Panofsky im Rahmen der Kunstgeschichte seine Ikonentheorie entwickelt,26 deren Konsequenzen für eine Theorie politischer Symbole vor allem im Bereich der Forschungen zur Massenkommunikation wahrgenommen worden sind. Die Bezüge zwischen den im Warburg-Kreis entwickelten Gedanken und dem späteren französischen Strukturalismus fallen sogleich auf und wurden in Frankreich, z. B. bei der Aufnahme der Forschungen von E. Kantorowicz, auch gesehen.

24 Aby Warburg: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Bibliothek Warburg durch Gertrud Bing, Bd. 2: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge rur Erneuerung der heidnischen Antike, Leipzig/Berlin 1932. 2S Ernst Kantorowicz: The King's Two Bodies.

26 Erwin Panofslcy: Studies in lconology.

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2.4 Cassirer und Hauriou Von der intellektuellen Beziehung zwischen Durkheim und Cassirer ausgehend, läßt sich die Verbindung zu einem der Klassiker der Institutionentheorie, zu Hauriou, herstellen. Hauriou hat seine Konzeption politischer Institutionen in bewußtem Gegensatz zu Durkheim auf den Kerngedanken der »Leitidee«27 aufgebaut An Durkheim bemängelt er den »Soziologismus«28 und übernimmt damit einen schon früh bestehenden Vorbehalt gegen die Durkheimsche Soziologie. Eine intellektuelle Verwandtschaft Haurious mit Cassirers Symbol theorie - die ihrerseits auf dem apriorischen, also selbständigen Status der symbolischen Formen besteht - fällt sogleich auf. Dennoch bleibt Cassirers Nähe zum späten Durkheim dadurch unangefochten. Sie besteht grundsätzlich darin, daß beide - Cassirer und Durkheim im Gegensatz zu Hauriou - einen zeichentheoretischen Vernunftbegriff haben. Die Ratio in der Gesellschaft wird bei Durkheim durch die sakrale Sphäre gebildet, ist also mit der symbolisch-rituellen sozialen Wirklichkeit verflochten. Bei Cassirer bleibt die Ratio ebenfalls an die Formensprache der Symbole gebunden. Auch die Wissenschaft ist eine symbolische Form. Die Formen können sich ihrerseits aber nur in der historisch-kulturellen Welt entfalten. Trotzdem hält Cassirer an der transzendentalen Perspektive auf die Sphäre der Symbolbildung fest, indem er den apriorischen Status der Formprinzipien betont Konsequenterweise verbindet Cassirer mit Hauriou die Vorstellung, daß Institutionen an »apriorische« Kriterien gebunden sind (Leitideen im Falle Haurious, symbolische Formen im Falle Cassirers). Alle drei genannten Autoren haben nun wiederum, ungeachtet der unterschiedlichen philosophischen Begründung, die Auffassung gemeinsam, daß Institutionen sich nicht in einer instrumentalen Rolle erschöpfen. Sie betonen alle - wenn auch auf unterschiedliche Weise - einen symbolisch zum Ausdruck gebrachten ideellen Gehalt Cassirer kann z. B. vom Boden seiner mit dem Begriff der symbolischen Form arbeitenden Rechtstheorie aus den Formalismus und Positivismus Kelsens zurückweisen, ohne sich auf eine ontologische Wertphilosophie zurückziehen zu müssen. Die freie WiUensgemeinschaft ist für Cassirer eine anthropologisch bedingte symbolische Form zur Auffassung sozialer Zusammenhänge. Die Evolution der Rechtssymbolik verläuft dabei über drei Stufen: Es handelt sich um die mimetische Stufe (Abbildung naturhafter, mythisch aufgefaßter Prozesse), um die analoge Stufe (Orientierung am Bild Gottes als des Gesetzgebers) und 27 Maw;u Hawiow: Die Theorie der Institution, mit Einleitung und Bibliographie hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1965. 28 Maw;u Hanr;ow: Die Theorie der Institution, S. 44.

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schließlich um die Stufe der »rein symbolischen« Bildungen (abstrakt wie der modeme StaatsbegrifO. Cassirer sieht aber auch, daß das rechtstheoretische Symbol der freien Willensgemeinschaft an die Sprachgemeinschaft der Menschen gebunden ist, also ein zeichentheoretisches Fundament hat Damit nimmt er eine Komponente der späteren Diskursethik vorweg. Für eine Theorie demokratischer politischer Institutionen ergibt sich die Frage: Welche einzelnen Symbole entsprechen dieser symbolischen Form des (Natur-) Rechts, das sich auf das zentrale Symbol der freien Willensgemeinschaft gründet? Welche offenen oder verdeckten Sinnkonflikte und logischen Widersprüche können in der politischen Symbolik auftreten, wenn man sie an diesen Kriterien mißt? Lassen sich symboltheoretisch ermittelte Widersprüche dieser Art als Indikatoren für die Instabilität politischer Institutionen verwenden? Lassen sich institutionelle Reformen durch bewußten Einsatz von Symbolen fördern? Daß im politischen Kampf Symbole instrumental eingesetzt werden können, ist bekannt. Revolutionen und politische Umbrüche sind auf die Durchsetzung neuer politischer Symbole angewiesen. Die SPD-Gruppierung um Carlo Mierendorff (»Eiserne Front«) z. B. hat 1932 noch einmal versucht, einen programmatisch so genannten »Symbolkampf«29 gegen die politischen Inszenierungen der NS-Bewegung zu führen. Mit Cassirer lassen sich Bewegungen dieser Art auch daraufhin untersuchen, welche symbolische ))Form« sie jeweils in Anspruch nehmen. Das NS-Symbol kommt aus der symbolischen Form des Mythos, das damals verwendete Pfeilsymbol der ))Eisemen Front« eher aus der symbolischen Form der Technik. 30 Aus dieser Konstellation läßt sich mit Cassirer die Frage ableiten: Kann man mythische Symbole überhaupt mit nicht-mythischen bekämpfen? 3. Grundsätzliche Gemeinsamkeiten Cassirers mit der zeitgenössischen Kulturtheorie in Deutschland Cassirer gehört in die ))klassische« Phase der deutschen Kulturwissenschaften, die vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts reicht. In dieser Phase wird ein Grundgedanke des Historismus erkenntniskritisch und kulturtheoretisch weiter entwickelt Es handelt sich dabei um die Annahme der Historischen Schule des 19. Jahrhunderts, daß 29 Richard Albrechl: Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Eine Biographie, BerlinlBonn 1987, S. 120 ff. 30 Zur Technik vgl. Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache, hrsg. von Emst-Wolfgang Orth, lohn Michael Krois unter Mitwirkung von losef M. Werle, Hamburg 1985, bs. S. 39-93.

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auch kollektive Gebilde wie Kulturen oder Nationen Individualitäten sind und ein unverwechselbares Bildungsprinzip jeweils in sich tragen. Dieser Perspektive begegnet man auch nach der Jahrhundertwende in gewandelter Form überall dort, wo von Weltanschauungstypen, von grundsätzlichen »Willensstellungen« zur Welt oder von grundsätzlich verschiedenen Bezugssytemen der Weltauffassung die Rede ist, also z. B. im Werk von Max Weber, Dilthey31 oder Cassirer. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die genannten Autoren natürlich wesentlich. Auch bei Tönnies läßt sich diese Blickrichtung erkennen. Mit der Anwendung seiner Theorie der beiden Willensformen zur Charakterisierung ganzer Epochen wie des »wesenwilligen« Mittelalters und der »kürwilligen«, also vom Prinzip der Zweckrationalität beherrschten Neuzeit, gibt er auf seine Weise ebenfalls eine kritische Rekonstruktion der Konstruktionsprinzipien ganzer Kulturkörper. 32 Dieser gemeinsame Blick für Formen der Welterschließung, die einerseits historisch kontingent, andererseits aber für die Dauer ihrer Geltung »apriorisch« sich auswirken, fehlt bei den zeitgenössischen Kulturtheoretikem in Westeuropa und den USA. In den USA ist bezeichnenderweise Cassirers im Kantischen Sinn kritische Frage nach Geltungsgrund und Logik der symbolischen Formen kaum zur Kenntnis genommen worden. StaU dessen wurde er während seiner akademischen Tätigkeit in den USA vorwiegend als Ideenhistoriker eingeschätzt. Auf diese Weise blieb sein philosophisches Programm unbeachtet 33 Die amerikanische Variante der Entschlüsselung des kategorialen Aufbaus von Zivilisationsepochen will auf Universalien hinaus, die in beliebiger Weise kombiniert werden können, um alle denkbaren Handlungsdispositionen zu erfassen. Das wird besonders deutlich in den Kategorientafeln von Talcott Parsons.34 Die Tendenz der erwähnten deutschen Theoretiker und der ihnen verbundenen Autoren geht dagegen darauf, das Wesentliche historischer Epochen zu erfassen. Sie zielen dabei über die Darstellung der historischen Fakten hinaus auf die Rekonstruktion grundsätzlicher, dabei aber historisch variabler Möglichkeiten des Menschen. Die Leistungsethik der Neuzeit z. B. ist nach 31 Z. B. Wilhelm DiJthey: Weltanschauung und ~alyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Stuugart 1957; ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7, Stuttgart/Göuingen 1973. 32 Ferdinand Tö""iu: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 81979 (zuerst 1887); ders.: Fortschriu und soziale Entwicklung. Geschichtsphilosophische Ansichten, Karlsruhe 1926; ders.: Geist der Neuzeit, Leipzig 1935 (die Entstehung dieses Buches geht auf die Jahre 1907/08 zuJÜck). 33 Vgl. auch dazu das für die Cassirer-Forschung zentrale Buch von 10M MicluJel Krois: Ernst Cassirer. Symbolic Forms and History, New HavenlLondon 1987. 34 Z. B. Talcolt Parsons: The Social System.

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Max Weber35 bekanntlich aus einem Geflecht historischer »Zufälle« entstanden, in dem die protestantische Ethik eine ausschlaggebende Rolle spielte. Nachdem sie sich aber durchgesetzt hatte, bestimmte sie Denken und Handeln der Menschen bis in die letzten Nuancen hinein, wirkte also gleichsam als apriorische Bedingung für den Typus des neuzeitlichen Menschen bis das 'Licht der Ideen weiterziehen' wird Durkheim scheint mit der soziologischen Ableitung von Kategorien in seiner Religionssoziologie36 in die Nähe des Interesses seiner deutschen Kollegen an den zugleich historischen und apriorischen Bedingungen des »Gehäuses« einer Kultur zu kommen. Er biegt dann aber doch auf die Seite der ausschließlich empirischen Betrachtungsweise ab. Ihm geht es gerade nicht um die im kulturtheoretischen Sinne transzendentale Frage verschiedener und gleichberechtigter symbolischer Bezugssysteme der Weltauffassung. Genau darauf aber richtet sich, wie erwähnt, Cassirers Hauptinteresse. Die Kulturtheorie der hier in den Blick genommenen Periode von der Jahrhundertwende bis in die zwanziger Jahre hat von ihren Prämissen her eine immanente Tendenz zu den Fragen einer Theorie der Rationalität Eine solche Theorie ist natürlich auch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen enthalten. Die Ratio ist Cassirer zufolge immer in symbolische Formen eingelassen. Damit wird die Ratio auf verschiedene Bezugssysteme mit einem jeweils spezifischen Geltungsgrund und Geltungssinn relativiert Die symbolischen Formen ihrerseits aber werden dadurch gleichsam für die Ratio gerettet Die Begrenzung der wissenschaftlichen Vernunft auf eine symbolische Form neben anderen dient Cassirer als Mittel gegen den Irrationalismus in der Frage ethischer und politischer Werte. Die symbolischen Formen haben grundsätzlich ihre immanente Rationalität, so auch die der politischen Sphäre besonders nahe stehenden Formen des Rechts 37 und der Technik38 . Innerhalb dieser historisch schwebenden,39 in sich konsistenten Bezugssysteme gibt es nach Cassirer die Möglichkeit einer rationalen Begründung von Werten und Normen. Diesen Standpunkt vertritt Cassiretw besonders deutlich in seiner Auseinandersetzung

35 Max Weber: Die prostestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920. 36 Emue Dwr/cheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 37 Ernst Cassirer: Axel Hägerström.

38 Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. 39 Vgi. zum Ausdruck und zur Sache Kwrt Hübner:

Freiburg 1978, S. 338. 40 Ernst Cassirer: Axel Hägerström.

Kritik der wissenschaftlichen Vernunft,

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mit Hägerströms Versuch, die Sphäre von Werten und Normen auf Gefühle zu reduzieren und damit dem Irrationalismus preiszugeben. Cassirer zeigt besonders deutlich einen Zug, der für diese ganze Phase der Kultur- und Gesellschaftstheorie in Deutschland charakteristisch ist das Hervorheben der vielfachen Bedingtheit der Vernunft durch außerrationale Faktoren dient nicht dem Irrationalismus, sondern ganz im Gegenteil dem Festhalten an der Ratio in den Grenzen ihrer anthropologischen und historischen Voraussetzungen.

Ein neuer Feiertag Merkzettel für eine Ansprache mit einem Nachtrag!

Von Lars Clausen

1. Jede Feier ist eine Weise, mit etwas sehr Schwierigem fertigzuwerden: Sie muß einen lobenswerten Alltag auf den Punkt bringen. Sie muß ihn feiern ohne doch zu verleugnen, wieviel Mühevolles, Gefährliches und widerlich Profanes er enthält. Sonst ist sie hohl. 1.1 Kann die Landeshauptstadt oder können 'wir' eine solche unermüdete Mühe um ein einiges Deutschland aufweisen? Also ein Arbeits-Jubiläum? Sehr prekär, hier von 'Mühe' für die Nation zu reden. Die Generation der Leute mit einer vor-'45er Landkarte im Kopf ist lange abgetan. Allgemeines Kopfschütteln über Willy Brandts »Nun wächst zusammen, was zusammen gehört«. (Als Jahrgang 1935 kann ich mich gerade noch hineinfühlen: Ich war im Vorigen Frieden schon Kind, und alles, was man da lernt, sind zunächst Ewige Wahrheiten. So auch: Es gäbe ein Deutschland.) Gänzlich von der Vereinigung überrascht sind jedoch die bislang von völlig anderen Horizonten umstellten, die heute lebenden und wirkenden Generationen. Sie haben ja nicht einmal ein Lied, es fröhlich jetzt zu singen, weil sie sich soviel Mühe gegeben hätten. Haben sich etwa unsere Berufspolitiker gemüht - die sich doch an keinem 17. Juni mehr selber zuhören mochten? Oder die Verfassungsrichter, die in dieser Frage das Grundgesetz fast nur noch als Verfahren hüteten? Wer hat sich denn feiernswÜfdig angestrengt und darf heute Genugtuung fühlen? 1.2 Oder: Feiern wir anstatt langer Mühe Lohn den - riskanten - Bruch mit einer Vergangenheit, wie ihn eine jede Hochzeit ausschmückt? Hier heiraten doch zwei lange schon Geschiedene? Und unter welchen Umständen geschieden! ! Anläßlich der Veranstaltung der Stadt Kiel zum 3. Oktober 1990. 14 FS Gör1.nd

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1.3 Oder weder Kontinuität noch Wagnis, sondern 'Erhöhung': Feiern wir das Beste in uns, worüber wir werktags so leicht wegtreten? Wie man sich am christlichen Sonntag oder islamischen Freitag dessen inne werden soll, daß wir alltäglich schuftenden Menschen ein Meisterstück seien? Soll man sich jetzt inmitten von 'Profanem' des 'Heiligen' erinnern? Claus v. Stauffenberg, nach dem 20. Juli 1944 an die Wand gestellt, rief als Letztes: »Es lebe das heilige Deutschland!« Ist es das? Wer sein Leben so aufs Spiel gesetzt hat, er verdient doch mehr als Achselzucken. Verdient er nicht Überlegung? 2. Eine Nation ist ein Kollektiv, das sich in bestimmten Werten einig behauptet, es ist eine besondere Form, in der sich eine komplex organisierte 'Gesellschaft' selbst verstehen soll. Warum soll denn nicht ein Kollektiv unser Bestes verkörpern und gegen uns selbst durchsetzen? An dieser großen Frage hat sich das 19. Jahrhundert abgearbeitet, und eine Musterlösung hat uns ein Vater der Soziologie, der Franzose Emile Durkheim (1858-1917), für unser Jahrhundert vorgeben wollen: 2.1 Menschen müssen - so Durkheim - miteinander umgehen und damit fertig werden, daß sie in je und je unterschiedlicher Mischung egoistisch sind, also einander feind, und doch auch altruistisch, also füreinander opferwillig. Beide Aspekte organisieren uns zueinander. Im Egoismus zeigen sich unsere organischen Bedürfnisse, und so seien wir im Kleinen, im Alltag, einander 'profan' entgegen. Das Opferwillige sei demgegenüber unser Moralisches, unser 'Sakrales'. Dies stecke in den Gesetzen und Regeln, diese beruhten auf unseren Verfassungen und Gesellschaftsverträgen und seien eben nicht nur Egoistenverträge, sondern wirkten, weil sie in etwas Außervertraglichem eingebettet seien, in unserem Bestem. Im Willen, moralisch zu handeln. Der wirke in uns, äußere sich dann in den Wert-Kollektiven. Das könnten Sippe, Religion, Staat oder eben auch eine Nation sein. 2.2 Dies ist ein weithin akzeptiertes Analysemuster. Es erklärt gut, warum wir einerseits in unserm Miesen Alltag des Übervorteilens, anderseits in unseren Besten Momenten des Höchsten fähig seien. Von diesem Denkmuster hat auch das Konzept 'Nation' seine Kraft bezogen. 3. Die 'Nation' erzog im 18. und frühen 19. Jahrhundert die deutschen Bürger über ihren Alltag hinaus. Ihre Feinde waren die Fürsten, ihre Freunde - noch - die Nachbamationen mit den gleichen Feinden: Alle Menschen werden Brüder. Ein Konzept, von Bürgern angesonnen, die nach Oben und Draußen wollten, die aber dann oben nur mitnisteten sowie draußen eine Kriegsflotte in Tsingtau bejubelten und von Samoa träumten. Für Patri-

Ein neuer Feiertag

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oten - das kam sehr gelegen - parlierte man 1750 da 'oben' adelig-französisch, 'unten' aber sangen die Burschenschaften noch 1850 bürger-deutsch: Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu ... 3.1 Für das Konzept der Nation haben ehdem brüderlich Verbundene überall in Europa ihre Existenz riskiert und feiern unbedenklich heute nationale Feiertage: Die Niederlande, Frankreich, Finnland. Sie ist heute noch letzte Wortzuflucht von Unterdrückten: von Armeniern, von Iren, von Esten. 3.2 Die deutsche Nation ist aber eine der Niederlagen: 1815 keine Verfassung, 1849 kein Parlament, 1871 eine preußische Scheinlösung, 1914-18 eine Zivilisationszermalmung, 1923 eine die Wölfe loslassende Inflation, 1938 die Sündenbock-Vernichtung eines eigenen Volksteils, der Juden, 1944 die Weiße Rose ausgerottet, die Revolte der Verschworenen gescheitert, 1990 Deutschland als Fundsache. Können wir also diesen 3. OktoQer als etwas 'Heiliges' feiern? Als unser Bestes? 4. Ist die Denkform, im Kleinen sei jedermann profan, ehrwürdig aber im Großen, nicht vielleicht ebenso einleuchtend wie falsch? 4.1 Deutschland hat seinen nationalen Wert im Wertehimmel immer weiter verschoben: Der Kaiser floh - die Kraft brach - die Ehre besudelten wir selbst - den Bruder steckten wir ins KZ ... Soll man, wie Einigungskritiker, die noch demselben Muster anhangen, man nehme etwa Günter Grass, in der 'Kultur-Nation' - also ganz fern am Firmament unserer Wortwelt - Feiernswertes finden? Trifft eine solche Wortverlegenheit etwas anderes, als daß Kinder hierzulande zerrütteten Deutschunterricht haben? 4.2 Hier, jetzt, soll nicht die deutsche Frage beantwortet werden. Doch sollte man Durkheims Denkfigur einmal versuchen umzukehren: Vielleicht versteckt sich unser Bestes doch in der profanen Nähe, unsere gelegentliche Tüchtigkeit - wenn wir alltags pflegen, alltags verzeihen, alltags opfern? Warum sich davon los und ledig schreiben, um feiertags am Wertehimmel nach dem Kollektiv zu suchen? Die Kollektive könnten doch auch nichts Besseres sein, als eine Oberliga der Egoismen? Die man eben deshalb durch kluge Vorausschau zu aller Besten kehre: verredliche, demokratisiere und humanisiere, kurz: bändige. Nicht also wäre dann in der Nation die Teufelin zu fürchten, noch die Göttin zu erhoffen: Kluge Bändigung ziemt den Kollektiven. Nicht also: fromme Bändigung (Soutanen vor dem Berliner Reichstag fehlten auch und wurden nicht vermißt); noch auch: gewaltsame Bändigung (es fehlten endlich einmal auch die Uniformen). Klugheit? Dann liegt ein anstrengender Alltag vor uns.

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5. Also folgt als Schluß: Erst in einer Generation werden wir wissen, ob der 3. Oktober ein Feiertag sein wird. Nachtrag Gern hätte ich der Philosophin und Kollegin Ausführlicheres beigesteuert, also einen ausgearbeiteten Text, wie es unser Beruf verlangt. Doch kann es ihn nicht geben. Als dem Professor der Soziologie, ein Wochenende vor jenem 3. Oktober 1990, Kiel ehrenvoll genug eine Festrede abverlangte, als ihm aber auch die geballten Verlegenheiten einer lange schon der Deutschen Frage überdrüssigen, in Strukturfragen ohnehin selbstgehemmten parteipolitischen Klasse angesagt wurden (konzertanter Haydn, weil das gemeinsame Deutschlandlied unfroh ausfallen mochte, und honettes Blumendekor, weil wohl keiner welche in Händen trüge) - als ich meinen gewiß Stolz jener dem Soziologen wohl bemerkbaren liturgischen Ratlosigkeit anzupaaren hatte, da war mein Kopf zwar nicht leer, wohl aber mein Schub. Ich sagte also Ja und beschloß, frei zu sprechen. Daher gibt es nur dieses mein Croqui einer Analyse. Es wäre ein subtiler Betrug, nachsalzend auszuformulieren, was man damals teils fest, teils als Aside, teils suchend nach dem Wort und Ton vorgetragen hat. Mancher Dialogpartien mit dem in kleinen Zeichen antwortenden Publikum im Rathaussaal erinnere ich mich auch besser als meines Wortlauts. Als ich vom »Verzeihen« und »Opfern« sprach, entstand zwischen uns eine sprechende Pause, das zum Beispiel weiß ich noch. Der Rest ist die unbarmherzige Frage danach, was solch ein Beitrag taugt. Mit Sicherheit ließen sich damals das kommende Versagen antizipierende, weher tuende Dikta formulieren, die Soziologie ist dafür reich genug. So oder so hätte freilich, wer als Politikerin oder Politiker protokollgetreu dabei war, ihre wie seine professionellen Attituden selektiven Weghörens oder gar Anstoßnehmens aktiviert. (Solches Publikum ist nach meiner Erfahrung in vergleichbaren Situationen die schwierigste Zuhörerschaft überhaupt.) Doch bildeten sie damals gar nicht die Mehrzahl, und was oblag mir für die anderen? War ich zu behutsam? Es war am Ende ihre Feier. Wohl doch nicht verkehrt, daß man sich in den verkanteten Geschiebelagen allgemeiner Empfindungen dessen erinnert, wofür man die Wissenschaften auch hat, und daß sich unsereiner dem nicht entzieht. So lebt ja auch Ingtraut Görland.

Der Mythos der Gewalt Sore): Vom Syndikalismus zum Faschismus

Von Wilfried Röhrich

Ein englischer Denker meinte einst sagen zu können: »Georges Sorel is the key to all contemporary political thought«l. Der Ausspruch erscheint überspitzt, doch er trifft einen wahren Kern. Immerhin g"b Sorel den verschiedensten Bewegungen seiner Zeit zündende Stichworte. Und nicht von ungefähr haben sich deren Führer auf den französischen Theoretiker berufen: vor allem auf dessen Mythos der Gewalt. Namentlich zwei geschichtsträchtige Bewegungen bedienten sich des Begriffs, und Sorel wurde von seinen Interpreten als Metaphysiker des revolutionären Syndikalismus und als Wegbereiter des Faschismus apostrophiert. Der vielleicht wesentlichste Grundzug seiner geistigen Haltung kam dabei nur sporadisch zum Tragen - der revolutionäre Konservatismus. Für diese Hypothese - den revolutionären Konservatismus in Sorels Grundanschauungen - spricht seine tiefgreifende Feindschaft gegen die französische Republik und die ihr zugrunde liegende Ideologie, die Sorel wechselweise von links wie von rechts bekämpfte. Selbst dem Bürgertum angehörend, hat er dieses vor allem darum verachtet, weil er in ihm die politische Energie und den sittlichen Ernst vermißte, die es einmal besessen hatte. Dem Liberalismus und der parlamentarischen Demokratie galt seine Kritik; und der liberalen Aufklärung hat Sorel stets vorgeworfen, einen AufIösungsprozeß eingeleitet zu haben, an dessen Ende das pure Nichts stehen müsse, wenn kein neuer Glaube an die Stelle des alten trete. Es läßt sich hierin der letzte Sinn von Sorels Versuch sehen, dem Mythos der Gewalt die ihm gebührende Rolle beim Heraufzug eines neuen Zeitalters zu verschaffen. Und um ein solches ging es letztlich dem »revolutionären Konservativen« Georges SoreI.

1 Wyndham Lewis: The Art of Being Ruled, London 1926, S. 128.

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War sich derart der französische Denker in der Sache treu geblieben, so wechselten in verwirrender Reihenfolge Sorels öffentliche Stellungnahmen zu den Problemen seiner Zeit, denen ich hier nachgehen will: Der 1847 geborene Sorel, der mit 45 Jahren seinen Beruf als Straßen- und Brückeningenieur aufgab, um sich dem Privatstudium zu widmen, hat - was sicherlich seine Feindschaft gegen den Liberalismus und die parlamentarische Demokratie mitbedingte - zunächst die Zeit bis zur Pariser Kommune miterlebt. Auf die Junirevolution von 1848, die Niederlage der Arbeiterschaft, folgte 1851 der Bonapartismus, der »die einzige mögliche Regierungsform zu einer Zeit« darstellte, wo das Bürgertum »die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren und wo die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte«2. So verzichtete das von Sorel als energielos beschriebene Bürgertum bereits damals auf seine politische Existenz, um seine soziale zu retten. Aber auch die französische Arbeiterbewegung, der sich Sorel in einer markanten Phase seines Lebens zuwenden sollte, war noch weit davon entfernt, eine geschichtsträchtige Rolle übernehmen zu können. Es erübrigt sich hier, auf die näheren Entstehungsumstände der Pariser Kommune einzugehen, welche die Arbeiterbewegung noch weit mehr schwächte. Nach nahezu zweimonatiger Belagerung und achttägigem Barrikadenkampf war bekanntlich die Kommune besiegt worden. Wieder einmal hatte die französische Arbeiterbewegung, wie im Juni 1848, durch die Erschießungen der blutigen Woche ihre aktivsten Mitglieder und fähigsten Führer verloren, und zwar nicht nur in Paris, sondern auch in Lyon, St. Etienne, Marseille, Toulouse, Narbonne, Limoges und überall dort, wo die Bewegung der Kommune proletarische Impulse wachgerufen hatte. Die französische Arbeiterbewegung erholte sich von der Niederlage der Pariser Kommune nur langsam. Begleitet von heftigen inneren Kontroversen entfaltete sie sich in der Zeitspanne von 1880 bis 1900 neu. Innerhalb der parteimäßig ausgerichteten Arbeiterbewegung entzündeten sich die Divergenzen an der Frage einer Politik der Wahlbündnisse mit den bürgerlichen Demokraten und der schrittweisen Teilhabe an der Regierungsgewalt. Einzig die Anarchisten widmeten sich dem ökonomischen Kampf und gewannen dabei die Sympathien vieler Arbeiter; »es bildete sich allmählich jene absolute Verachtung der Politikanten aus, welche später eine Zeitlang, in der Blütezeit des Syndikalismus, so elementar zum Durchbruch gelangte«3. 2 Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Marx-Engels-Welke, Berlin 1956 ff., Bd. 17, S.338. 3 Max Nelllau: Fernand Pelloutien Platz in der Entwicklung des Syndikalismus in: Internationale (kurzfristig enchienenes Presseorgan des revolutionären Syndikalismus in Berlin), 1927(28, S. 50.

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In der Tat sollte diese Tendenz zunehmend in der neuen syndikalistischen Bewegung ihren Ausdruck finden - in jener Bewegung, die schneller als die sozialistischen Parteiorganisationen an Umfang gewann und in Fernand PeUoutier einen Organisator und Sekretär fand, der auf den revolutionären Syndikalismus den wohl stärksten Einfluß ausübte. Von ihm stammte die Idee des Generalstreiks, die Sorel übernahm. Und mit dem revolutionären Syndikalismus, mit dieser seiner spezifischen Idee, war sowohl dem demokratischen und refonnistischen Sozialismus von Jean Jaures wie dem »orthodoxen« Marxismus von Jules Guesde eine Konkurrenz erwachsen, die nicht mit dem Putschismus eines Blanqui oder dem bloßen Anarchismus eines Bakunin gleichgesetzt werden konnte. Ich vennag und brauche im Rahmen dieses Festschriftbeitrags nicht die näheren Erscheinungsfonnen des revolutionären Syndikalismus Frankreichs nachzuzeichnen; um Sorels Haltung deutlich werden zu lassen, genügt es, wenige Grundgedanken stichwortartig zu nennen: Eindeutig herauszustellen ist die auf den Generalstreik zielende Leitidee des Syndikalismus: »11 [le syndicalisme] preconise comme moyen d'action la greve generale«4, so die Charte d'Amiens. Damit erklärte sich der Syndikalismus zu einer revolutionären Organisation mit dem Ziel, durch direkte, im Generalstreik gipfelnde Aktionen die ökonomische und politische Macht zu ergreifen. Das Solidaritätsgefühl der Arbeiterschaft mußte sich auf der Grundlage der stärksten Bindung - der ökonomischen - entwickeln. Auf wirtschaftlichem Boden war der Kampf zu führen. Er hatte entgegen der parlamentarischen oder indirekten Aktion die direkte Aktion zu betonen. Diese umschloß die wohl wichtigste syndikalistische Forderung, daß die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein müsse. Interessanter noch als diese Gesamtintention ist eine gewisse Umdeutung des Generalstreiks: Die vom revolutionären Syndikalismus als Signal zur Revolution propagierte greve generale wurde weniger zu einem Moment revolutionärer Technik als in steigendem Maße zu einem - auf die schöpferischen Kräfte der Arbeiterschaft gerichteten - sozialen Mythos, der ein irrationales Ideal der »Vollkommenheit« beinhaltete. Kurz, er erfuhr eine mehr symbolische Bedeutung, nicht zuletzt durch den Versuch Sorels, der syndikalistischen Bewegung ein theoretisches Fundament zu verleihen. Der vom Bürgertum immer mehr abgestoßene Georges Sorel hatte sich dem revolutionären Syndikalis-

4 Congres National des Syndicats de France: Comte rendu des traveaux du congres, Amiens 1906, S. 30 f.

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mus zugewandt, wobei nicht das Erlebnis proletarischer Not entscheidend war, sondern der Anblick des moralischen Verfalls der herrschenden Klassen. Von diesem Ursprung her erklärt sich die Zielsetzung der Betrachtungen über die Gewalt, die das Gedankengut des syndikalistischen Sorel einbeschlieBen. Die Reflexions sur la violence beinhalten die charakteristische Forderung, aus der Arbeiterbewegung müsse eine schöpferische proletarische Elite erwachsen, die sich gegen die parlamentarische Herrschaft zu erheben und zugleich das gegnerische Bürgertum zu ermannen häue, um nicht selbst zu ermaUen. Ausschlaggebend wurde das Bewußtsein, daß die revolutionäre Energie der Arbeiterschaft sich am Widerstand des Bürgertums entfachen mußte und die Bewegung nur durch einen ricorso der proletarischen Gewalt im Sinne von GiambaUista Vicos Theorie der corsi e ricorsi voranzutreiben war. Der Syndikalismus hatte sich gegen das diplomatische Bündnis zwischen dem Staat und den Parteisozialisten zu richten. Deren Gestaltlosigkeit war durch die Leidenschaft des Handelns zu überwinden. Hierin lag der Appell an die heroische Haltung der Arbeiterschaft, verbunden mit der entschiedenen Absage an die optimistische Schule des Reformismus, die, wie es einmal der Elitentheoretiker Vilfredo Pareto formulierte, sich einbilde, »daß die herrschende Klasse, inspiriert •durch reine Nächstenliebe ... , sich für das Wohl der unterworfenen Klasse« einsetze5. Insgesamt trachtete Sorel danach, dem Parteisozialismus mittels des Generalstreiks die kriegerisch-proletarische Solidarität entgegenzurichten: »Der syndikalistische Generalstreik weist die stärkste Verwandtschaft mit dem System des Krieges auf: Das Proletariat organisiert sich für die Schlacht, ... indem es sich als die große Triebkraft der Geschichte ansieht und jegliche soziale Rücksicht der Rücksicht auf den Kampf unterordnet.«6

Es waren für Sorel die großen Schlachtbilder, die diesen Kampf entfachen sollten, es war der Mythos der grhe generale, der als spontaner Ausdruck der Gruppenüberzeugungen eine intellektuell nicht zu widerlegende Einheit darstellte. Das sozialistische Handeln sollte als eine innerseelische Forderung verstanden werden, als eine Philosophie der Aktion in Anlehnung an Henri Bergson? Der den elan vital betonende Sorel griff die Philosophie der schöpferischen Entwicklung auf, die für ihn die proletarische war. Der Sozialismus -

5 Vilfredo Parelo: Les systemes socialistes, Paris 1926, S. 421 (zuerst 1902103). 6 Georges Sorel: Reflexions sur la violence, Paris 1907, S. 198 (hier und im folgenden zitiert nach der von L. Oppenheimer übersetzlen deutschen Ausgabe: Über die Gewalt, Innsbruck 1928).

7 Vgl. Henri Bergson: Sur les donnres immediates de la conscience, in: OEuvres, Paris 1959, S. 151.

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une vertu qui nazt - mußte aus den energetischen Willensimpulsen der Arbei-

terschaft erwachsen.

Mehr als von Bergson war Sorel von Proudhon beeinflußt, insbesondere hinsichtlich der proletarischen Ethik und dem damit verbundenen Begriff der Gerechtigkeit. Sicherlich, viele Ideen dieses »ersten wahrhaft proletarisch-sozialistischen Theoretikers« (Edouard Berth) blieben bei Sorel unbeachtet Die Zukunft des Sozialismus hing inzwischen mehr als zu Proudhons Zeiten von der scala dei capitalisrrw ab - und aus dieser Erkenntnis resultierte dann auch die genannte Forderung Sorels, den Kampf der Arbeiterschaft mit einem starken Bürgertum unter Gleichen auszutragen. Der anti-parlamentarisch gesinnte Georges Sorel hat das Werk Proudhons mit dem von Marx zu verschmelzen versucht. Sorel, der bereits in seiner Abhandlung Le pro ces de Socrate (1889) proudhonistisch begonnen hatte, blieb auch in seiner revolutionär-syndikalistischen Phase dem Denken Proudhons verbunden. Die Idee der Gerechtigkeit war, wie die der bataille napoleonienne, eine auf Proudhons Gedanken fußende Interpretation des Sozialismus, der als Manifestation des proletarischen Gewissens verstanden wurde, im Sinne eines herben, männlichen Moralismus. Beide Denker richteten sich an den homme revolte und forderten von ihm, sich gegen die autoritären Mächte aufzulehnen; beide betonten die existentielle Dialektik im Sinne der anima appassionata. Allein die revolutionäre Energie der Arbeiterschaft konnte Sorel zufolge »den Bürgern die revolutionäre Wirklichkeit zeigen und ihnen die humanitären Plattheiten verleiden«·8. Der französische Theoretiker, der davon sprach, Marx »ein wenig moralisiert« zu haben,9 deutete den Sozialismus als eine innere Spannung und als einen hiermit verbundenen kriegerischen Geist. Marx schien nicht daran gedacht zu haben, »daß eine Revolution vorkommen könnte, deren Ideal der Rückschritt oder selbst nur die Erhaltung des sozial Gegebenen wäre«lO. Marx konnte sich eine solche Revolution nicht vorstellen. Nun aber strebte man nach dieser, nun entwickelte sich die ursprünglich als eigenständige Klasse gesehene Arbeiterschaft bzw. deren Parteiorganisation zu einer vagen Interessengemeinschaft Und schon angesichts dieser Erscheinung mußten die Betrachtungen über die Gewalt auch jenseits der Barrikade vernommen werden, in der Intention, den gesellschaftlichen Antagonismus erneut zu entfachen. Nicht zuletzt deshalb sollte die Gewalt in spontaner Aktivität auf die proletarischen Willens8 Georges Sorel: Über die Gewalt, S. 87. 9 Brief Georges Sorels an Benedetto Croce vorn 27. 5. 1899, in: La Critica, 1927,25, S. 304. 10 Georges

Sorel: Über die Gewalt, S. 96.

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impulse zielen, eingedenk des zu führenden »Krieges« als des ))tiefsten und erhabensten Phänomens des moralischen Lebens«ll. So wurde die aus revolutionärer Gesinnung erwachsende und auf die Napoleonische Schlacht gerichtete Gewalt sanktioniert Die Arbeiterschaft erschien als Held eines Dramas; die greve generale wurde zu einer accumulation d'exploits hiroiques (SoreI), entsprechend der von Proudhon unterstrichenen Freiheit des Willens und des damit verbundenen ))Gefühls des Schönen und Erhabenen«12. An Stelle der force, dem Machtinstrument des Bürgertums, verwies die violence, die Manifestation des Klassenkampfes, auf die Methode des proletarischen Generalstreiks. Die der bürgerlichen Gesellschaft transzendente violence zielte auf die reale Eventualität eines Kampfes, bezogen auf die großen schöpferischen Momente, aus denen nach Carlyle die ))Wahrheit« hervorgeht. Eine Scheidung der Gesellschaftsklassen wurde durch den Mythos des Generalstreiks intendiert; doch er galt auch schon dann als unschätzbar wertvoll, wenn er den Syndikalismus heldenhafter zu machen vermochte. Hier lag die Bedeutung des Mythos der Gewalt, hier das, was Sorel dahingehend aussprach: »Man muß Gesamtheiten von Bildern aufrufen, die imstande sind, als Ganzes und durch die bloße Intuition ... die Gesinnungen hervorzurufen, welche den verschiedenen Kundgebungen des vom Sozialismus gegen die modeme Gesellschaft begonnenen Krieges entsprechen.,,13

Damit sind Georges Sorels Grundgedanken zum Syndikalismus umrissen. Der revolutionäre Konservative vertrat sie nur über wenige Jahre hinweg, um allmählich zu der Einsicht zu gelangen, daß - wie Sorel anläßlich Croces Abhandlung La morte dei socialismo vermerkte - der Sozialismus tot sei. 14 Bereits zu dem Zeitpunkt (1909), als der Sozialist Mussolini in seiner eingehenden Rezension über die Reflexions sur la violence unterstrich, wieviel der ))zeitgenössische Sozialismus der lateinischen Länder« Sorel verdanke,15 hatte dieser seine Hinwendung zum Nationalismus vollzogen, die sich bis 1914 verstärkte. Er befand sich dabei im Einklang mit den Ideen seiner Zeit. Auch die syndikalistische Bewegung hatte vor den stärkeren nationalen Triebkräften ka-

11 P~rre J. Proudhon: La guerre et la pm, in: OEuvres completes, Bd. 13, Paris

1869, S. 38.

12 Pierre J. Proudhon: Oe la justice dans la revolution et dans l'eglise, in: OEuvres completes, Bd. 12, Paris 1869, S. 214.

13 Georges Sorel: Über die Gewalt, S. 136 f.

14 Brief Sorels an Benedeno Croce vom 19. 2. 1911, in: La Critica, 1928,26, S. 347. 15 Benito Mussolini: Lo sciopero generale e la violenza (Rezension), in: Opera Omnia, Horenz 1951 ff., Bd. 2, S. 167.

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pituliert. Allgemein überlagerte die Idee der Nation die verschiedenen bisher vorherrschenden Solidaritätshorizonte. In Frankreich wandten sich mehrere Syndikalisten der Action jrarn;aise zu, und in Italien hatten bereits beim Gründungskongreß der Associazione Nazionalista in Florenz (1910) revolutionäre Sozialisten und Syndikalisten mit Irredentisten und Nationalisten zusammengefunden. Entscheidend war hierbei gleichermaßen der Mythos der Gewalt, der nun nicht mehr der des Generalstreiks, sondern der des nationalistischen Aktes höchster Solidarität sein sollte. Auf der Suche nach revolutionärer Energie und spontaner Aktivität richtete sich die Intention auf eine neue Gedankenverbindung, eingedenk dessen, daß nach Georges Sorel die Idee des Kampfes bewahrt bleiben mußte, wenn die Spannkraft und die Impulse des Daseins nicht verloren gehen sollten. Im Sinne seiner »heroischen Epen« erinnerte man sich seiner nicht zuletzt in Italien. Hier war es der Nationalismus um Enrico Cotradini, der »den Mann des nationalen Kampfes ... dem Mann des Klassenkampfes die Hand reichen« ließ, »wie es Sorel getan hatte«16. Corradini, den Mussolini später einmal als den ))Faschisten der allerersten Stunde«17 bezeichnete, verkündete ähnlich Sorel den Mythos der Nation. Und wenn man einmal isoliert die dem Nationalismus und dem Faschismus gleiche Ideologie betrachtet, so zeigt sich bereits hier ein für den Faschismus entscheidendes Movens. Auch an dieser Stelle läßt es der Rahmen des Festschriftbeitrages nicht zu, auch nur Elemente der komplexen Entwicklungsgeschichte des Faschismus aufzuzeigen. Ich erinnere deshalb ganz allgemein daran, daß der Faschismus allein dadurch die politische Macht erobern konnte, daß die maßgeblichen Fraktionen der herrschenden Klasse dies wünschten. Max Horkheimers berühmter Ausspruch, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen,18 verweist auf den wohl relevantesten Zusammenhang zweier Phänomene. Nimmt man zu dieser sozialökonomischen Funktion des Faschismus noch die durch die Revolutionsdrohung der italienischen Maximalisten geförderte Ideologie des Anti-Kommunismus sowie jene Massenbasis hinzu, welche vor der Machtergreifung durch die Sozialgruppen mit mittelständischer Mentalität gegeben war, so zeigen sich geschichtsträchtige Konturen der faschistischen Epochenerscheinung.

16 Michael Freund: Georges Sorel. Der revolutionäre Konservativismus, Frankfurt a. M. 1932,

S.256.

17 BeflitoMwssolini: Enrico Corradini, in: Opera Omnia, Bd. 25, S. 69 f. 18 Mtu Horkheimer: Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1939, 8, S. 115.

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Diese Konturen lassen sich durch eine Geisteshaltung ergänzen, wie sie sich im Denken Georges Sorels - der französische Theoretiker starb kurz vor der Machtergreifung Mussolinis - widerspiegelt Dabei erweisen sich die anti-parlamentarischen und die anti-demokratischen Dominanten als ebenso bedeutsam wie der Mythos in Gestalt der Gewalt, des Generalstreiks oder der Nation. Sorel berührt sich hier aufs engste mit Vilfredo Pareto, der bereits in seinem Trattato di sociologia generale (1916) die energetische Elitenherrschaft vertreten und jegliche demokratische Regierungsweise als Demagogie verurteilt hatte. In seinen späteren Schriften fmdet sich dann auch die enge geistige Verwandtschaft mit Sorel unterstrichen; gemeinsam mit diesem betonte Pareto die »Nichtigkeit der parlamentarischen und demokratischen Dogmen«, verwies er auf den »absurden Gedanken der Hälfte plus eins«19, wie ihn Mussolini verhöhnte: »Oh köstliche Naivität der Zeit, in der man an die meta piu uno glaubt«20. Die den Elitengedanken vertretenden beiden Denker zielten dabei auf eine transjormazione della democracia, dem schlagwortartigen Titel entsprechend, unter dem Pareto seine Artikel zusammentrug, die er in dem für Italien geschichtsträchtigen Jahr 1920 in der Rivista di Milano veröffentlichte. Mit der anti-demokratischen Elitentheorie verband sich bei Sorel das Moment des auf die schöpferischen Kräfte gerichteten Mythos, der in seiner syndikalistischen Version die sozialistische Bewegung in Bildern einschloß, die en bLoc et par La seule intuition - die einzelnen Akte des proletarischen Kampfes beleben sollten. An die Stelle des Appells an die heroische Haltung der Arbeiterschaft brauchte nur der an die großen Machtinstinkte von nationalen Eliten zu treten. Man vermochte sich also auf Sorel zu berufen, wenn man wie der Faschismus den Mythos als spontanen Ausdruck von Gruppenüberzeugungen auf die Nation übertrug. Mussolini selbst, der als Duce bekennen sollte, bereits als Sozialist - beseelt vom Tragischen der Gewalt - innerlich Faschist gewesen zu sein, betonte stets erneut den Mythos der Nation und unterstrich die Bedeutung der Begriffe azione und sentimento, von denen letzterer auf die Dominante des Mythos verwies. 21 Zweifelsohne überwog hierbei die taktische Erwägung, idealisierte Hoffnungen zu nähren, wie auch die vagen programmatischen Äußerungen die unterschiedlichsten Gruppen ansprechen sollten. Doch auch unabhängig von taktischen Fragen blieben in Mussolini die »heroischen Epen« des Autors der Reflexions sur La violence lebendig, und nicht von ungefähr sollte er noch in der Dottrina del F ascismo die von Sorel abzweigenden 19 Vilfredo Parelo: Georges Sorel, in: La Ronda, 1922,4, S. 542 und 546 f. 20 Benito Mussolini: Quando il mito tramonta, in: Opera Omnia, Bd. 17, S. 323.

21 Benito Mussolini: Discorso a Trieste (20. 10. 1920), in: Opera Omnia, Bd. 15, S. 218.

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»Adern« im Faschismus hervorheben: »Nel grande fiume del fascismo troverete i moni che si dispartirono dal Sorel ... «12. Die Dialektik zwischen der Praxis und der Theorie Mussolinis zeigt sich wohl am deutlichsten in der Antwort auf die Frage eines Redakteurs des Madrider A. B. C., welcher Einfluß auf ihn entscheidend gewesen sei: }>Der von SoreI. Für mich war die Hauptsache: handeln. Aber ich wiederhole, daß ich Sorel am meisten verdanke«23. Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß es der auf die nationalen Energien zielende Mythos der Gewalt Sorels war, auf den sich Mussolini berief. Wie vorsichtig man auch immer mit Deutungen sein sollte, die Denker als »geistige Väter des Faschismus« bezeichnen, so läßt sich doch auch andererseits Sorels Option für den Faschismus nicht leugnen. In mehreren Artikeln der Nachkriegszeit begrüßte er das Wiedererwachen des nationalen Gewissens Italiens; und als der mit Sorel befreundete Robert Michels im März 1922 den französischen Theoretiker in Paris zum letzten Mal traf, vermochte er sich, wie er in seinem Tagebuch vermerkte, von Sorels »Vertrauen« in die neue Bewegung zu überzeugen. »Mit großer Sympathie sprach er von Benito Mussolini. 'Weiß man, wohin er gehen wird? Auf jeden Fall wird er weit gehen'.«24

Diese Äußerung Sorels kennzeichnete seine Hoffnung auf Mussolini. Hier zeigt sich das, was er im Faschismus erkannte: die Entschlossenheit der Tat, die, was Sorel nachdrücklich herausstellte, entgegen dem maximalistischen Revolutionsexperiment auf die nationalen Energien zielte. Weder in den »roten Signorien« noch in der überkommenen classe dirigente sah Sorel, der die »Demütigung der Demokratie« noch zu erleben hoffte,25 das Gefühl für die »historische Stunde«. Und nicht von ungefähr wurde seine Aussage: »Le gouvernement par l'ensemble des citoyens n'a jamais ete qu'une fiction; mais cette fiction etait le dernier mot de la science democratique«26 vom Faschismus gegen die »korrupte parlamentarische Demokratie« stets erneut aufgegriffen. 27

22 Benilo Mussolini: La Dottrina del Fascismo (1932), in: Opera Omnia. Bd. 34, S. 122. 23 Gailßn Pirou: Georges Sorel, Paris 1927, S. 53.

24 Eintragung im Tagebuch Robert Michels' vom 22. 3. 1922, in: Leuere di Georges Sorel a Roberto Michels, in: Nuovi studi di Diriuo, Economia e Politica, 1929,2, S. 293.

25 So die Schlußworte von Georges Sorel: Pour Unine, in: Reflexions sur la violence. 26 Georges Sorel: Avenir socialiste des syndicats et annexes (1914), in: Mareriaux d'une theorie

du proletariat, Paris 1921, S. 118 (zuerst 1919).

27 Benilo Mussolini: Ne fasta! (10. 6. 1920), in: Opera Omnia, Bd. 15, S. 26.

Hannah Arendt: »Woman in Dark Times«! Eine biographische Collage

Von Ursula Pasero

»Es fallt mir schwer, mir für den Rest meiner Tage eine Welt ohne Hannah Arendt vorzustellen,« sagte der Philosoph Hans Jonas während der Trauerfeier in New York im Dezember 1975. »Ich war mehr als fünfzig Jahre lang einer ihrer Freunde, seit sie mit achtzehn Jahren als Erstsemesterstudentin der Philosophie unter den vielen jungen Leuten auftauchte, die aus ganz Deutschland in Scharen nach Marburg strömten ... Intellektueller Glanz war damals kein seltener Artikel. Aber bei ihr war es eine Intensität, eine innere Richtung, ein Instinkt für Qualität, eine Suche nach dem Wesentlichen, ein Eindringen in die Tiefe, das einen Zauber um sie herum verbreitet. Sie war leidenschaftlich moralisch, aber überhaupt nicht moralistisch. Was sie auch immer zu sagen hatte, war wichtig, oft provokativ, manclunal auch falsch, aber nie trivial, nie gleichgültig, nie mehr zu vergessen. Selbst ihre Irrtümer waren lohnender als die Wahrheit vieler weniger bedeutender Geister. Sie hatte natürlich gern recht und konnte gelegentlich ganz furchtbar streitsüchtig werden, aber glaubte nicht, wie sie mir gestand, daß wir heutzutage im Besitz der 'Wahrheit' sein könnten. Sie glaubte vielmehr an den ständigen und immer nur vorläufigen Versuch, diejenige Facette zu erblicken, die sich uns zufällig unter den heutigen Verhältnissen zeigt. Das bis zu Ende denken, darin liegt die Belohnung selbst, denn wir werden danach me~ verstehen als vorher. Wir werden mehr Licht, aber noch nicht die Wahrheit haben.«

Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren. Ihre Eltern, Martha Cohn und Paul Arendt, die aus Königsberg kamen, sympathisierten mit der sozialistischen Bewegung und hatten fortschrittliche Erziehungsideen, in denen Erziehung zum Selbstbewußtsein, zur Vorurteilslosigkeit und Bildung mit allen Möglichkeiten eingeschlossen waren. Wie die Familie Cohn gehörte auch die Familie Arendt dem Reformjudentum an. Die Vorfahren waren aus Rußland in das Klima der Königsberger Auf1 Der Titel stammt von Alfred Kazin: The New York Review of Books, 33, 24. 6. 1982, und bezieht sich auf den Essay-Band von Hannah Arendt: Men in Dark Times, siehe Wolfgang HelU!r: CiUzen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Berlin 1992, S. 82. 2 Wolfgang HelU!r: Hannah Arendt, Reinbek 1987, S. 7.

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klärung seit der Zeit Mendelsohns gekommen. Die Perspektiven der Aufklärung, der Sozialdemokratie und die Selbstverständlichkeit, Juden zu sein, waren im Alltagsleben der Kindheit von Hannah Arendt gegenwärtig. »Es gab Verhaltensmaßregeln, in denen ich sozusagen meine Würde behielt und geschützt war, absolut geschützt zu Hause ... [wo] eine allumfassende Menschlichkeit und eine echte, fast naive Verachtung für alJe sozialen und nationalen Unterschiede als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde.«

Mit vierzehn Jahren begann das philosophische Interesse Hannah Arendts, die sich damals bereits mit den Hauptwerken von Kant, Kierkegaard und dem frühen Werk von Jaspers sowie mit der griechischen Dichtung vertraut machte. Dieser exzeptionelle Weg eines jungen Mädchens während der umwälzenden Jahre seit 1918 - in denen sich im Haus der Mutter gemäßigte sozialdemokratische Kreise trafen und zugleich Rosa Luxemburg bewundert wurde - war den nahen Verwandten und Freunden nie ein Problem: »Das lag zum Teil an der häuslichen Erziehung. Es wurde nie darüber gesprochen. Es wurde nie über Zensuren gesprochen. Das galt als minderwertig. Jeder Ehrgeiz galt als minderwertig.,,4

Mitte der zwanziger Jahre begann Hannah Arendt mit dem Studium der Philosophie und geriet in die Rebellion gegen die herkömmlichen Lehrmeinungen. Mit den philosophischen Rebellen aus der Schule Husserls, Heideggers und Jaspers' bewegte sich Hannah Arendt im ))Traditionsbruch« der neuzeitlichen Philosophie mit dem Satz: ))Denken ist wieder lebendig geworden.« Gemeint war, wie ))Denken als reine Tätigkeit, und das heißt weder vom Wissensdurst noch vom Erkenntnisdrang getrieben, zu einer Leidenschaft werden kann.« Dieses leidenschaftliche Denken ))mag sich Aufgaben stellen, es mag mit 'Problemen' befaßt sein ... aber man kann nicht sagen, daß es ein Ziel hat.« Dieses Denken liegt gerade quer zu einer Instrumentalisierung, es trägt unabdingbar ))den Stempel des Versuchs.«5 Zwei Philosophen, Martin Heidegger und Karl Jaspers, waren in dieses leidenschaftliche Denken Hannah Arendts eng verwoben und begleiteten ihre ganze Lebensgeschichte mit unterschiedlichem Einfluß und dramatischer Intensität bis hin zu einer tiefen Liebesbeziehung zu Heidegger in den zwanziger Jahren, der nach dem Zweiten Weltkrieg äußerte, daß sie ))nun einmal die Passion seines Lebens gewesen sei.«6 Sie hingegen litt unter den Verstrickungen

3 Wol/gang He/U!r: Hannah Arendt, S. 13. 4 Wol/gang He/U!r: Hannah Arendt, S. 17.

5 Wolfgang He/U!r: Hannah Arendt, S. 20. 6 Wol/gang He/U!r: Hannah Arendt, S. 20.

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Heideggers mit den Nazis, die sie als Ausdruck völliger Charakterlosigkeit faßte. Mit Karl Jaspers verband sie eine lebenslange Freundschaft, dessen Familie zu Arendts »europäischem Zuhause« nach dem Zweiten Weltkrieg wurde. Sie schätzte ihn unumschränkt als Lehrer und Weltbürger: »Als ich jung war, waren Sie der einzige Mensch, der mich erzogen hat. Als ich Sie nach dem Krieg als erwachsener Mensch wiederfand und eine Freun~chaft zwischen uns entstand, haben Sie mir die Kontinuität meines Lebens gegeben.«

Ihre Lebensgefährten waren Günther Stern und Heinrich Blücher. 1929 ging sie mit Günther Stern, den sie in Marburg kennengelernt und der bei Husserl promoviert hatte, nach Berlin, wo sie wenig später heirateten. In dieser Zeit entstand die Niederschrift ihres Werkes über Rahel Vamhagen. 1936 lernte sie in Paris ihren späteren Lebensgefährten Heinrich Blücher kennen, den sie als Staatenlose gegen Ende ihrer französischen Emigration heiratete. Diese Lebensgemeinschaft enthielt alle Elemente, die Hannah Arendt am meisten schätzte: endlose Gespräche, die Lebensweise als Außenseiter, strittige Diskurse ohne existentielle Gefährdungen. Heinrich Blücher, ein undogmatischer Kommunist, wurde von Elisabeth Young-Bruehl ausführlich porträtiert: »Blücher - kein Universitätsmann, sondern ein Proletarier, kein Theoretiker, sondern ein Mann der Tat, kein Jude, sondern ein Mann, für den das Denken eine Art Religion war - Hannah Arendts Neue Welt Zehn Jahre nachdem sie sich kennenlernten, faßte sie als Antwort auf lobende Worte, die Jaspers ihr für ihre eigene kosmopolitische und vorurteilsfreie politische Vision ausgesprochen hatte, zusanunen, was Blilcher ihr geistig bedeutete: ... 'daß ich dank meines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe, und daß ich andererseits nicht davon abgelassen habe, mich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren,.«8

Das Ungewöhnliche an dieser Beziehung war, das Heinrich Blücher die Rolle des Inspirators, der virilen Muse, des hinreißenden Geschichtenerzählers einnahm, während Hannah Arendt die Werke verfaßte, die ihren gemeinsamen Gesprächen und Auseinandersetzungen entsprungen waren. Er war Anhänger von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki; er war Spartakist und ein Autodidakt, der das Lernen liebte und als Jugendlicher Klassiker der Literatur ebenso verschlang wie die Klassiker der Revolution. Er war als Nichtjude Mitglied einer zionistischen Jugendgruppe gewesen, gehörte später bis in das französische Exil hinein zur KPO Brandlers, dessen Freund er gewesen war. Er war begei7 Hannah Arendt: Brief an Jaspers vom 18.11. 1957, in: Lotte Köhler I Hans Saner (Hrsg.), Hannah Arendt - Karl Jaspers Briefwechsel 1926-1969, München 1985, S. 368.

8 Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 187. 15 FS Görland

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sterter Kinogänger und haUe sich in Kreisen der Expressionisten der zwanziger Jahre bewegt 9 Die Verwandlung der europäischen kommunistischen Bewegung in totalitäre Verbände, die Abschaffung der innerparteilichen Demokratie, die Unterwerfung der unterschiedlichen revolutionären Strömungen unter die Komintern wie vor allem die Moskauer Prozesse beendeten die kommunistischen Perspektiven von Heinrich Blücher, machten ihn zu einem ehemaligen Kommunisten. Hannah Arendt und Heinrich Blücher verband ihre Unabhängigkeit gegenüber materiellem Besitz und festen Einstellungen, ihr gemeinsames Vertrauen auf die ))Heilkräfte des Unerwarteten«, ihre schlichte Freundlichkeit und Scheu vor Sentimentalitäten. lO Jenseits eines herkömmlichen Arrangements der Geschlechter ähnelten sich beide in der ))Fähigkeit, sich leidenschaftlich für einen Standpunkt einzusetzen und sich nicht darum zu scheren, ob man aufs falsche Pferd gesetzt hat oder was es kosten könnte!« - so lautete eine Charakterisierung ihres amerikanischen Freundes Dwight Macdonald. 11 Heinrich Blücher starb am 30. Oktober 1970, er war 71 Jahre alt geworden. Die Erinnerungen der Freunde, der Gefährten, der Studenten zeigten ))Cinen Mann, der nicht für verschiedene Menschen Verschiedenes war, sondern für alle der gleiche Mann in unterschiedlicher Intensität.«12 Hannah Arendt wurde zu einer der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, die zahlreiche Kontroversen ausgelöst hat. Sie galt als konservativ bei den Linken, weil sie den dogmatischen Marxismus ablehnte, der das Unerwartete ausschloß - und als radikal bei den Konservativen, weil sie ihre Vorliebe für Rosa Luxemburg und die Rätebewegungen nicht verheimlichte. Hannah Arendt lehnte solche Charakterisierungen schlicht ab: »Und ich muß sagen, nichts interessiert mich weniger. Ich glaube nicht, daß die wirklichen Frafen dieses Jahrhunderts durch so etwas auch nur im geringsten aufgehellt werden.«1

Ihre Begeisterung für die antike Polis wurde häufig und gründlich als restaurativ mißverstanden und nicht als das, was sie unter Denken verstand: ))das Abwesende vergegenwärtigen«. Ihre Kritiker übersahen dabei, daß Hannah

9 Elisabelh Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 202. 10 Elisabelh Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 200. 11 Elisabelh Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 589. 12 Elisabelh Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 589. 13 Elisabelh Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 613.

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Arendt die der Vergessenheit anheim gefallenen »verborgenen Traditionen« des Denkens neu erzählte - und sie damit auch radikalisierte. Ihre »Einmischungen in die Zeit«, ihr hartnäckiger und unverstellter Blick auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts, auf die Fonnen des Totalitarismus und die »Banalität des Bösen« im Eichmann-Prozeß in Jerusalem waren von der übergreifenden Vorstellung bestimmt, daß die Tatsachen, und seien sie auch noch so grauenhaft, bewahrt werden, nicht, damit wir »nicht vergessen«, sondern damit wir urteilen können. Bewahren und Urteilen rechtfertigen nicht die Vergangenheit, sondern sie enthüllen ihre Bedeutung. 14 »Alle Sorgen sind zu ertragen, wenn man sie in eine Geschichte packen oder eine Geschichte über sie erzählen kann« schrieb Hannah Arendt in ihrem Essay von 1968 über die Erzählerin Isak Dinesen. »Die Geschichte enthüllt die Bedeutung dessen, was ansonsten eine unerträgliche Folge nackter Ereignisse bliebe«. Geschichten »erzählen immer wieder davon, wie uns am Ende das Recht auf Urteil zukommt ... «15

Hannah Arendt hat ihre eigene Lebensgeschichte in der Öffentlichkeit kaum bekannt gemacht und keine Autobiographie verfaßt. Für sie waren Selbstdarstellungen und Selbstbefassungen Reflexionen, die mit der Eigenart der Isolierung von der Welt einhergehen. In ihrem Werk über Rahel Vamhagen beschreibt sie einen solchen Zustand der Selbstbefassung eindringlich: »Schlägt das Denken in sich selbst zurück und fmdet an der eigenen Seele seinen einzigen Gegenstand, wird es zur Reflexion, so erzwingt es allerdings, sofern es vernünftig bleibt, einen Schein unbegrenzter Macht, indem es sich eben von der Welt isoliert, an ihr sich desinteressiert, sich schützend vor den eigenen 'interessanten' Gegenstand stellt: das eigene Innere. In der durch Reflexion geleisteten Isoliertheit wird es unbegrenzt, weil kein Außen es mehr behelligt; weil kein Handeln mehr verlangt wird, dessen Konsequenzen auch den Freiesten einschränken ... «16

Unübersehbar sind jedoch in ihrem Werk 'Vita Activa' die Passagen über die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen: »Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch auf einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfaßt ist. Der einzige Jemand, den sie enthüllt, ist und bleibt der Held der Geschichte, dessen Wer sich nur im Medium des Erzählbaren und daher ex post facto in einer Greifbarkeit und Bedeutungsfülle darstellt, die der ungreifbar flüchtigen und doch unverwechselbar einzigartigen Manifestation entspricht, in der die Person durch Handeln und Sprechen einer Mitwelt gegenwärtig ist. Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie; was immer wir sonst von ihm wissen mögen und von den Werkef' deren Verfasser er ist, karm uns höchstens darüber belehren, was er ist oder war.«1 14 Elisabeth Young.Bruehl: Hannah Arendt, S. 518. 15 Hannah Arendl: Menschen in fmsteren Zeiten, hrsg. von Ursula Ludz, München 1989, S.124L 16 Hannah Arendt: Rahe! Vamhagen, München 1985, S. 21. 17 Hannah Arendt: Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1985, S. 178.

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Eben nur in der Konstellation der Handelnden und Sprechenden offenbaren Menschen für Hannah Arendtjeweils, wer sie sind, und zeigen so aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, wobei dieses Wer »dem Zeigenden selbst gerade und immer verborgen bleibt, als sei es jener Daimon der Griechen, der den Menschen zwar sein Leben lang begleitet, ihm aber immer nur von hinten über die Schulter blickt und daher nur denen sichtbar wird, denen der Betreffende begegnet, niemals ihm selbst.«18 Die Spanne zwischen Geburt und Tod formiert sich zwar zu einer erzählbaren Geschichte mit Anfang und Ende, aber der »Held, um den sich eine Geschichte zentriert und dessen Person die Geschichte aufdeckt«19, bedarf eines Erzählers, der die Geschichte überhaupt erst verlaßt, weil sie vom Helden nicht verlaßt sein kann. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Der Held, von dem in jeder Geschichte berichtet wird, benötigt keine heroischen Eigenschaften. Der Mut, den wir mit dem Helden in Verbindung bringen, besteht nach Hannah Arendt einzig darin, zu handeln und zu sprechen, er besteht »nämlich in der Initiative, die wir ergreifen müssen, um uns auf irgendeine Weise in die Welt einzuschalten und in ihr die uns eigene Geschichte zu beginnen. Dieser Mut entspringt keineswegs notwendigerweise oder primär der Bereitschaft, für ein Getanes die Konsequenzen auf sich zu nehmen; des Mutes und sogar einer gewissen Kühnheit bedarf es bereits, wenn sich einer entschließt, die Schwelle seines Hauses, den Privatbereich der Verborgenheit, zu überschreiten, um zu zeigen, wer er eigentlich ist, also sich selbst zu exponieren«.20 Dennoch gibt es eine verschlüsselte Form biographischen Erzählens, die Hannah Arendt hinterlassen hat: ihr Werk »Rahel Vamhagen« - Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, wie der Untertitel lautet. Diese Nacherzählung ist doppeldeutig und könnte auch gefaßt werden als der Bericht einer Jüdin des 20. Jahrhunderts über die Suche einer Jüdin des 18. Jahrhunderts nach einer Heimat und nach Freundschaft - wie es Elisabeth Y oungBruehl formulierte. 21 Die Sprache, mit der Hannah Arendt die Geschichte Rahel Vamhagens nacherzählt, verwandelt zugleich das Einzelne, von dem gesprochen wird, in ein Allgemeines, weil Sprache nicht nur als ein Mittel der Darstellung eines bestimmten Sachverhaltes genutzt wird, sondern diesen viel-

18 Haflnah Arendl: Vita Activa, S. 169. 19 Haflnah Arendl: Vita Activa., S. 178 20 Haflnah Arendl: Vita Activa, S. 178.

21 Elisabeth Yormg-BrlUhl: Hannah Arendt, S. 140.

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mehr transzendiert, die Sprache wandelt in Heimat wn, mit den Worten Hannah Arendts: »Die Sprache soll bewahren, in ihr soll das Dargestellte bleiben können, länger in der Welt bleiben, als es der vergängliche Mensch vermag. Damit wird von vornherein das Dargestelltt;, das so zum Bleiben bestimmt ist, seiner Einzelheit entrissen, wird zum Inbegriff.«,,2

Das Buch beginnt mit den letzten Worten Rahel Varnhagens auf ihrem Sterbebett: »Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht' ich das jetzt missen ... Dreiundsechzig Jahre hat sie gebraucht zu lernen, was 1700 Jahre vor ihrer Geburt begann, zur Zeit ihres Lebens eine entscheidende Wendung und hundert lahre nach ihrem Tode - sie starb am 7. März 1833 - ein vorläufiges Ende nahm.«2

Das Ende, von dem hier die Rede ist, meint das Jahr 1933, das Jahr der Machtergreifung Hitlers, das Jahr, das für Hannah Arendt das Ende der Geschichte der Assimilation der deutschen Juden bedeutete. »Am Beginn dieser Epoche stand die Generation Rahel Varnhagens, die versuchte, ihr Judentum durch Konversion zum Christentum und durch Mischehen abzuschütteln. Sie endete, als der Rassismus zur deutschen Staatspolitik wurde und alle Auswege versperrte.«24

Hannah Arendt war eine deutsche Jüdin. 1933 wurde sie für achtzehn Jahre ein staatenloser Flüchtling - bis zur Annahme der Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten. Sie beschloß, in einem Land zu leben, in dem das Bürgerrecht gerade nicht mit dem Preis der Assimilation beglichen werden mußte. Die einzige Kontinuität, die ihr erhalten blieb, war die deutsche Kultur und die Muttersprache, die ihr bis zum Ende ihres Lebens Heimat bedeutet hatte: »Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das kann und muß ich einstehen.«25 Vor 1933 fragte sie sich, wie man mit der Judenfrage leben konnte - ohne Emigration. Ihre Biographie Rahel Varnhagens war ein Modell für diese Fragestellung mit mehrdeutiger Auskunft: weder für die Assimilation noch unumschränkt für den Zionismus. 26 Diese Erzählung war zugleich eine »emphatische Berichterstattung«27, weil sie die tragische und existentielle Seite des 20. Jahrhunderts vorwegnahm, die in den Vernichtungslagern der Nazis endete. 22 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen, S.112. 23 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen, S. 15.

24 Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 140.

25 Hannah Arenat: Brief an Jaspers vom

I. I. 1933, in: Lotte Köhler / Hans Saner, S. 52. 26 Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 144.

27 Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 143.

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In aller Schärfe dachte sie die Konsequenzen der Assimilation der europäischen Juden zu Ende: »Denn will man sich wirklich assimilieren, so kann man sich nicht von außen aussuchen, woran man sich assimilieren möchte, was einem gefällt und was einem mißfällt; dann darf man das Christentum so wenig auslassen wie den zeitgenössischen Judenhaß. Beides sind integrierende Bestandteile der geschichtlichen Vergangenheit der europäischen Menschheit und lebendige Elemente der damaligen Gesellschaft. Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft - und das waren bis in unser Jahrhundert hinein alle Länder, in denen Juden lebten - kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.«28

Bevor Hannah Arendt 1933 aus Berlin floh, hatte sie die ersten elf Kapitel abgeschlossen. Die letzten zwei schrieb sie im Sommer 1938 in Frankreich. Die Schlußkapitel haben einen bemerkenswert anderen Ton, den sie gegenüber Karl Jaspersbegründet Das Buch 'Rahel Varnhagen' » ... ist geschrieben aus der zionistischen Kritik an der Assimilation heraus, die ich mir zueigen machte und die ich auch heute noch für wesentlich berechtigt halte. Nur ist diese Kritik politisch so ahnungslos wie es dasjenige war, was sie kritisierte.«29

Die Nazis trieben die Philosophin in die Politik; ihre Zugehörigkeit zum Judentum war eine politische Frage geworden. Hannah Arendt selber datiert ihren Wendepunkt zum Widerstand mit dem Reichstagsbrand im Februar 1934 und der anschließenden Welle illegaler Verhaftungen: »Sie wissen, die Leute karnen in Gestapo-Keller oder in Konzentrationslager ... Dies war für mich ein unminelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, daß man jetzt einfach zusehen kann.«30

Obwohl ihr damaliger Lebensgefährte Günther Stern bereits von Berlin nach Paris geflohen war, und sie monatelang über Emigration nachgedacht hatte, blieb Hannah Arendt vorerst in Berlin. Sie gab fliehenden Gegnern des Hitler-Regimes Quartier und machte Recherchen für eine zionistische Organisation, die sie in Lebensgefahr brachte. Darin offenbarte sich eine Seite, die ihr ihre Mutter schon von Kindheit an eingeprägt hatte: »Man darf sich nicht

28 Hannah ArendJ: Rahel Vamhagen, S.208. Das Scheitern des Emanzipationsgedankens ebenso wie des Gedankens der Assimilation waren bereits exemplarisch und radikal thematisiert worden: durch Duo Weininger, der als Jude die Traumata der Assimilation bereits 1903 mit antisemitischem Pathos in »Geschlecht und Charakter« formuliert und die Ausweglosigkeit der Assimilation durch Selbstmord vollstreckt hane - und durch Theodor Lessing, der 1930 einer Sammlung von Portraits über Juden in Deutschland den Titel: »Der jüdische Selbsthaß« gegeben hatte. 29 Hannah Arend/: Brief an Jaspen vom 7.9. 1952, in: Lotte Köhler I Hans Saner (fing.), S. 233. 30 Gaus-IntelView 1964, siehe Elisabeth Young.Bruehl: Hannah Arendt, S. 166.

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ducken! Man muß sich wehren!«3! Diese Haltung versuchte sie nicht nur während der Dauer ihres Lebens zu bewahren, sondern auch anderen Juden zu vermitteln, zu dieser Haltung zu ermutigen. Ein weiterer nachhaltiger Schock sollte die Begeisterung ihrer früheren intellektuellen Gefahrt.en und Freunde für das Nazi-Regime werden: ,.Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete ... «32

Hannah Arendt zog den Schluß, daß insbesondere die Intellektuellen durch eine »deformation professionelle«33 für die Zusammenarbeit mit den Nazis anfällig geworden waren. Genannt seien Benno von Wiese, der ihr in Berlin verkündete: »Das sind große Zeiten«, und Martin Heidegger, der im Frühjahr 1933 das Rektorat der Freiburger Universität übernahm, nachdem sein sozialdemokrat;scher Vorgänger sein Amt verlor, weil er sich geweigert hatte, die sogenannte Judennotiz zu verschicken. Heidegger hielt eine Rektoratsrede, in der er die ))Größe und die Ehrenhaftigkeit dieses nationalen Erwachens« feierte. 34 Ihre Einschätzung dieser intellektuellen ))deformation professionelle« führte sie vorerst aus der theoretisch und philosophisch getragenen Tätigkeit heraus in den unmittelbaren politischen Widerstand gegen Hitler: ))Jetzt war die Zugehörigkeit zum Judentum mein eigenes Problem geworden. Und mein eigenes Problem war politisch ... Ich wollte in die praktische Arbeit und - ich wollte ausschließlich und nur in die jüdische Arbeit. Und in diesem Sinne habe ich mich dann in Frankreich orientiert«,35 ihrer längsten Station als Staaten- und Rechtlose in Europa. In Frankreich erneuerten und verschärften sich die ambivalenten Erfahrungen der Assimilation. Hannah Arendt beschrieb damals die verzweifelten Versuche der jüdischen Flüchtlinge, sich so unauffällig wie möglich in Franzosen zu verwandeln. In ihrem Essay ))Wir Flüchtlinge« zeigte sie mit brillanter Schärfe die Aussichtslosigkeit und Preisgabe der Menschen durch die 3! Gaus-Interview 1964, siehe Elisabelh Young-Brw:hl: Hannah Arendt, S. 46. 32 Gaus-Interview 1964, siehe Elisabelh Young-Brw:hl: Hannah Arendt, S. 167. 33 Hannah Arendl: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: dies., Menschen in finsteren

ten, S.IS4.

34 Elisabelh Young-BrlU!hl: Hannah Arendt, S. 168.

35 Gaus-Interview 1964, siehe Elisabeth Young-Brueh1: Hannah Arendt, S.

169.

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Versuche einer weiteren Assimilation. Sie analysierte die existentielle Hilflosigkeit gegenüber einem Mechanismus, der den jüdischen Flüchtlingen nicht nur ihre gesellschaftliche Position, sondern vor allem ihre eigene Geschichte versagte.3 6 1940 kam es in Frankreich zu einer neuen Katastrophe für die vor den Nazis geflohenen Menschen: Sie wurden zu feindlichen Ausländern und in Internierungslager verbracht. »Offensichtlich will niemand wissen (so kommentierte Hannah Arendt), daß die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat - Menschen, die von ihren Feinden in Konzentrationslager und von ihren Freunden in Internierungslager gesteckt werden ... 37 ... Wir waren die ersten 'prisonniers volontaires', die die Geschichte je gesehen hat. Nach dem Einmarsch der Deutschen mußte die französische Regierung nur den Namen der Firma ändern; man hatte uns eingesperrt, weil wir Deutsche waren, jetzt ließ man uns nicht frei, weil wir Juden waren.«3g

Die Folgen für falsches Vertrauen und für die Weigerung zu handeln, das heißt, die Flucht zu ergreifen, in den Untergrund zu gehen, illegal zu werden, waren in zahllosen Fällen nicht nur die Auslieferung an die Nazis sondern auch der sichere Tod in den Vernichtungslagern. 39 Hannah Arendt wählte zwei Figuren für die Kennzeichnung der jüdischen Geschichte in Europa: die des Paria und die des Parvenü. Die Rolle des »bewußten Paria« bedeutete seinerzeit für Hannah Arendt, die wenigen Chancen aufs Spiel zu setzen, »die sogar ein Vogelfreier in dieser verkehrten Welt noch besitzt«.40 Beide Figuren sind nach Hannah Arendt: »Kinder des 19. Jahrhunderts, das zwar politische und juristische Vogelfreiheit nicht kannte, um so besser aber gesellschaftliche Parias und deren Gegenstück, die Parvenüs. Die moderne jüdische Geschichte, die mit Hofjuden begonnen hatte und sich mit jüdischen Millionären und Philantrophen fortsetzt, unterschlägt leicht diese andere Richtung jüdischer Tradition - die Tradition, in der Heine, Rahel Varnhagen, Scha10m Aleichem, Bernard Lazare, Franz Kafka und Charly Chaplin stehen. Es handelt sich um die Tradition einer Minderheit unter den Juden, die keine Emporkömmlinge sein wollten und den Status des 'bewußten Paria' vorzogen«.41

36 Marie-Louise KnolI: Nachwort, in: dies. (Hrsg.), Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 180. 37 Hannah Arendt: Wir flüchtlinge, in: Marie-Louise Knott (Hrsg.), Hannah Arendt, S. 9. 38 Hannah Arendt: Wir flüchtlinge, S. 15. 39 Exemplarisch gemeint sind die Opfer Breitscheid und Hilferding, siehe Elisabeth YoungBruehl: Hannah Arendt, S. 232 f. 40 Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge, S. 20. 41 Hannah Arendt: Wir flüchtlinge, S. 20.

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Ihr großes Werk von 1951: ))E1emente und Ursprünge totalitärer Herrschaft« endet im Vorwort der englischen Ausgabe mit einer radikalen Einschätzung: ,.Alle Versuche, dem Grauen der Gegenwart durch die Sehnsucht nach einer unbelasteten Vergangenheit oder durch die antizipierte Tröstung einer besseren Zukunft zu entfliehen, sind zum Scheitern verurteilt."

Damit war Hannah Arendt aus der unmittelbar politischen Tätigkeit gegen Hitler - als Staatenlose und politisch Rechtlose, als politischer Flüchtling, als Internierte in Frankreich, der 1941 die Flucht in die Vereinigten Staaten gelang - zur intellektuellen Tätigkeit zurückgekehrt. Aber die tödlichen Wirkungen des Faschismus hatten ihre Perspektive der Darstellung gründlich geändert, sie war zur politischen Denkerin geworden, die im Nationalsozialismus eine totalitäre Kraft am Werk sah, die auf den Kern der ))Human Condition«42 zielte: Im Totalitarismus und in den damit einhergehenden Weltkriegen sah sie den Verlust der gemeinsamen Welt, der seine Wurzeln in der Geschichte der industriellen Modeme selbst hat. ))Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich selbst zwingende Denken auf modeme Menschen ausübt, liegt in seiner Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung.«43 Dieser Befund macht auch keinen Halt vor demokratischen Formen der Massengesellschaft, weil selbst dort politisches Handeln absterben kann, wenn die Orte der Versammlung, der Initiative und der Pluralität verkommen. Um diese Diagnose zu verstehen, muß man auf ihre emphatisch formulierten Begriffe von Öffentlichkeit und Weltlichkeit zu sprechen kommen, wie sie in )Nita Activa« ausgearbeitet worden sind: »Der öffentliche Raum wie die uns gemeinsame Welt, versammelt Menschen und verhindert gleichzeitig, daß sie gleichsam über- und ineinanderfallen. Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft so schwer erträglich macht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst; es handelt sich vielmehr darum, daß in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden.,,44

Für die politische Denkerin Hannah Arendt galt es, aus dem Kampffeld des Totalitären, der Heimat- und Welüosigkeit und dem Verlust des öffentlichen Raumes bewußt herauszutreten. Den ))Elementen und Ursprüngen« nicht nur des Totalitarismus, sondern den Bewegungsformen der modemen Gesellschaft auf den Grund zu kommen, um sich mit ihnen zu konfrontieren, war ihre durchgängige Haltung. Sie hat es vermieden, mit institutionalisierbaren Modellen auf 42 Titel der amerikanischen FassWlg von »Vita Activa«. 43 HanMh ArendJ: Ideologie und Terror, in: Offener Horizont. Festschrift für Kar! Jaspers, München 1953, S. 247 f. 44 HanMh Arendt: Vita Activa, S. 52.

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die industrielle Modeme zu antworten. Ihre eigene Position offenbart zugleich Methode und Denken: »Ein einzelner kann die Antwort nicht geben, sie kann nur ausgehandelt werden.«45 Ihre Vorstellung war vielmehr vom Moment des Beginns getragen, vom Neuanfang, vom Recht der Nachgeborenen auf Rekonstitution von Weltlichkeit und Öffentlichkeit.46 Von daher ist es kein Zufall, daß ihre Sympathien immer wieder den Rätesystemen galten, die in zahlreichen Revolten und Revolutionen spontan »aus der Erfahrung des Miteinander-Handelns und aus dem Mitbestimmen-Wollen«47 entstanden. An dieser Stelle findet auch die Vorstellung der Marx'schen »freien Assoziation« noch ihren Ort. Die »Lust am Handeln« fand sie in diesen spontanen Assoziationen der Räte, in der Studentenbewegung der 60er Jahre, die für sie erneut einen »vorläufig noch nicht aufgebrauchten Vorrat an Vertrauen in die Möglichkeit, durch Handeln die Welt zu verändern«48, offenbarten. Hannah Arendts Biographie ist gekennzeichnet durch »Einmischungen in die Zeit«, wobei die politischen Essays, politische Vorlesungen, ihre großen Werke Zeugnis von der Einsicht geben, »daß Politik nichts Selbstverständliches ist, daß um die Existenz eines öffentlichen Raumes beständig gestritten werden muß. Um erhalten zu bleiben, bedarf er der ständigen Erneuerung«.49 Das eigentliche Wagnis ihres Experimentes, das Versprechen der politischen Öffentlichkeit ernst zu nehmen, lag im Vertrauen, das Hannah Arendt im Streit öffentlicher Rede beanspruchte: »Wenn andere Menschen verstehen - in dem Sinne, wie JCh verstanden habe dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.«5

Dabei kann dieses Verstehen nur in der Begegnung von Verschiedenen stattfinden, nicht auf der Ebene einer Zwangsgemeinschaft, die allemal nur das vorweggenommene Einverständnis kennt Der gemeinsame Ort, das, was Hannah Arendt mit Heimat umfaßte, kann eben nur öffentlich zu haben sein und schließt die Kontroverse, den Streit mit ein. Um der Leidenschaft des Gedankens willen, der öffentlich dargestellt wird, muß das Kalkül der Wirkung zurücktreten: » ... das Ärgerliche ist, daß ich unabhängig bin. Damit meine ich einerseits, daß ich zu keiner Organisation gehöre und immer nur für mich selber rede, und andererseits, daß ich großes Vertrauen habe in Lessings Selbstdenken, für das meiner Meinung nach 45 Mar~-Louise KnolI: Nachwort, S_ 183_

46 Insbesondere in: HanfUJh Arendt: Vita Activa. 47 HanfUJh Arendt: Macht und Gewalt, München 1985, S. 131. 48 HanfUJh Arendt: Macht und Gewalt, S. 19. 49 Mar~-Louise KnolI: Nachwort, S. 184.

50 Gaus-Interview 1964, siehe Marie-Louise KnolI: Nachwort, S. 185.

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keine I~eologie, keine öffentliche Meinung und keine 'überzeugung' ein Ersatz sein kann.« 1

Hannah Arendt - »woman in dark times« - hat gegen Ende ihres Lebens »Vom Leben des Geistes«52 erzählt Der Anlaß, über das Denken, das Wollen und das Urteilen zu berichten, war kein geringerer als der Eichmann-Prozeß in Jerusalern. Konfrontiert mit der »Banalität des Bösen« stellte sich Hannah Arendt die ungewöhnliche Frage, ob das Böse nicht einfach in Gedankenlosigkeit bestehe. Gerade die düstere Seite des 20. Jahrhunderts regte Hannah Arendt dazu an, uns Nachgeborene in die Abenteuer der Aporien des Denkens und der Kontingenzerfahrung einzuführen und gegen die Gedankenlosigkeit das Denken als Unterbrechung von Interdependenzen zu empfehlen. Eine erhellende Erbschaft in finsteren Zeiten.

51 Brief an Gershorn Scholem, siehe Marie·Louise K1IolI: Nachwon, S. 185. 52 Hannah Arendl: Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, Bd. 2: Das Wollen, München 1979; dies.: Das Uneilen. Texte m Kants Politischer Philosophie, hrsg. von Ronald Beiner, München 1985.

Integration durch Kooperation Die Eingliederung der Vertriebenen in Schieswig-Hoistein

Von Uwe Carstens

Wenn Kooperation als das allgemeine gesellschaftliche Verhältnis, das besagt, daß die Menschen in ihrem Zusammenleben aufeinander angewiesen sind, verstanden wird, dann war die Zeit nach 1945, als die Lösung von Aufgaben und die Befriedigung sozialer Bedürfnisse nur durch die Zusammenarbeit vieler Menschen möglich war, eine geradezu 'klassische Zeit' der Kooperation. Die Begegnung der Antipoden Flüchtlingel und Einheimische verlief allerdings nicht konfliktfrei. Eine Reihe struktureller Gegebenheiten in der Nachkriegssituation Schleswig-Holsteins wirkten zusammen mit der kaum steuerbaren Dynamik des Vertreibungsvorganges dahin, daß der überwiegend ländlich-bäuerliche Lebensbereich über die Maßen stark für die Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlingsmassen in Anspruch genommen werden mußte. Zu welchen Formen des Zusammenlebens und der Konfliktaustragung diese Intrusion sozial entwurzelter Bevölkerungsmassen in das noch immer relativ geschlossene, von konservativen Normen und Mentalitäten dominierte bäuerliche Sozialmilieu führte, soll hier in Umrissen dargestellt werden. Das Flüchtlingsproblem in Schleswig-Holstein läßt sich unter dem Gesichtspunkt seiner Genese in zwei zeitlich aufeinander folgende Phasen gliedern. Die erste Phase der Herausbildung eines Flüchtlingsproblems in Schleswig-Holstein setzte bereits im Jahr 1944 ein, nachdem die deutsche Bevölkerung vor der vorrückenden Roten Armee aus den neu eingegliederten Gebieten im Osten (Generalgouvernement, baltische Staaten, Memelland) flüchten mußte. Mit der russischen Großoffensive Mitte Januar 1945 aus der Frontlinie Weichsel-Narew östliches Grenzgebiet Ostpreußens ging die Absetzbewegung der deutschen Zivilbevölkerung nach Westen in eine Massenflucht über. 2 1 Der ab 1947 aufkommende Begriff des 'Vertriebenen' wird in diesem Text synonym zum 'Hüchtling' gebraucht, d.h. es wird damit nicht auf die darin an sich implizierte Unterscheidung zwischen dem Schicksal der Rucht und dem der Vertreibung eingegangen.

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Nach der Kapiwlation Deutschlands im Mai 1945 bemühten sich die Besatzungsmächte, den Flüchtlingsstrom zunächst einmal dort zum Stehen zu bringen, wo er gerade angelangt war. Die Geflüchteten wurden zu Vertriebenen, als die Siegermächte auf der Konferenz in Potsdam Anfang August 1945 endgültig beschlossen, das Staatsgebiet Polens nach Westen zu verlagern und die restliche deutsche Bevölkerung auszuweisen, die noch in den Polen und der Sowjetunion zugesprochenen Gebieten Deutschlands östlich der OderNeiße-Linie sowie in Altpolen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben war. Die Wohnbevölkerung Schleswig-Holsteins erhöhte sich von 1.589.000 (17.5. 1939) auf 2.590.000 (29. 10. 1946). Der Flüchtlingszustrom nach Schleswig-Holstein aus dem Osten kam also zur Hauptsache in den Jahren 1945 und 1946. Alle anderen Phasen der Zuwanderung veränderten in Schleswig-Holstein das Bild des 1945/46 Geschehenen weder vom Umfang noch von der Struktur her wesentlich. 3 Alle Flüchtlingspolitik, soweit sie über die bare Nothilfe als soziale Pflicht schlechthin oder als Schutz der Schwachen, im Sinne der Moral des Mitleids oder der Nächstenliebe als Gebot der Menschlichkeit, oder das reine Katastrophenmanagement zur Bewältigung eines akuten Staatsnotstandes - über all das also, was die einzelnen Landesverwalrungen ohnehin unternehmen mußten - hinauswies, begann zunächst unter dem Diktat der britischen Militärregierung. (Mit der Anweisung Nr. 10 für die britische Zone vom 21. November 1945 ('Organisation der Flüchtlingsbewegung durch die deutsche örtliche Verwaltung') legte das Oberste Hauptquartier der Kontrollkommission für Deutschland (Britischer Sektor) die Grundlagen für die Einschaltung deutscher Dienststellen fest).4 Nicht nur hatten die deutschen Länderregierungen die Vertreibung und die daraus folgende Verpflichtung zur Aufnahme der Flüchtlinge im Restgebiet des besiegten Deutschland als Willensakt der Besatzungsmächte fraglos hinzunehmen, auch die Generallinie für die weitere Behandlung dieses Problems - man denke nur an die für den Status der Flüchtlinge im Aufnahmeland so bedeutsame Anordnung der britischen Militärregierung, daß die 2 Vgl. hierzu das grundlegende Werk von Theodor Schieder (Hg.): Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, 5 Bde., München 1984. 3 Sämtliches Zahlenmaterial aus Statistisches Landesamt Schleswig-Hoistein (Hg.): Das Hüchtlingsgeschehen in Schleswig-Holstein infolge des Zweiten Weltkriegs im Spiegel der amtlichen Statistik, Kiel 1974. 4 Zur britischen Hüchtlingsplitik vgl. Falk Wiesemann und Ulrich Kleinert: Flüchtlinge und wirtschaftlicher Wiederaufbau in der britischen Besatzungszone, in: Dieter Petzina und Walter Euchner (Hg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besetzungsgebiet 1945-1949, Düsseldorf 1984, S. 297-326_

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Flüchtlinge und Ausgewiesenen grundsätzlich genauso zu behandeln seien wie die einheimischen Bürger - wurde ihnen von diesen vorgegeben. Jede Untersuchung der schleswig-holsteinischen Flüchtlingspolitik muß also stets der Tatsache eingedenk sein, daß die zur Gestaltung dieser Politik berufenen Instanzen die grundsätzliche Entscheidung, ob sie das Flüchtlingsproblem via Integration lösen wollten, gar nicht zu fällen, vielmehr 'nur' noch das Eingliederungsgebot der Besatzungsmacht zu erfüllen hatten, ohne sich dabei mehr als verbale Unterstützung erwarten zu dürfen. Ein Schritt von prinzipieller Bedeutung (wenn auch geringem unmittelbarem Effekt) auf dieses heteronom gesetzte Ziel der Eingliederung zu war die Formulierung eines umfassenden Gesetzeswerks, das, über die verschiedenen rechtlichen ad-hoc-Regelungen, die seit Kriegsende im Zusammenhang mit der Betreuung der Flüchtlinge getroffen worden waren, weit hinausgehend, das staatliche Handeln in der Flüchtlingsfrage nach Zweck, Umfang und Methode definieren und die Stellung der Flüchtlinge als neue Bürger des aufnehmenden Landes und ihre Ansprüche auf Eingliederungshilfen fundieren sollte. Mit dem 'Gesetz zur Behebung der Flüchtlingsnot', das am 27. November 1947 erlassen wurde, mußte vom Landtag, der sich am 26. Februar 1946 im 'Neuen Stadttheater' in Kiel konstituiert hatte, programmatisch der Schritt vollzogen werden von der primär Fürsorgecharakter tragenden, immer noch eigentlich unverbindlichen, weil nicht in die Zukunft weisenden 'Nothilfe' zur Eingliederungshilfe' als einer gezielten Unterstützung der Flüchtlinge bei der Wiedergewinnung einer dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Existenz im Aufnahmeland - ein Schritt, der, unvermeidlich wie er auch immer sein mochte, ob seiner auf allseitige und umfassende Partizipation der Flüchtlinge gerichteten Implikationen für manchen norddeutschen Politiker dennoch einem Sprung über den eigenen Schatten gleichkam.5 Der Wandel in der Einstellung zum Flüchtlingsproblem läßt sich dahingehend definieren, daß die schleswig-holsteinische Regierung sich im Grundsätzlichen mit der Notwendigkeit einer auf Dauer angelegten Aufnahme der Flüchtlinge und ihrer Eingliederung in Schleswig-Holstein abgefunden (oder zumindest sich abzufmden begonnen) hatte und bereit war, auch die erforderlichen Konsequenzen daraus zu ziehen. Das konnte indes nicht bedeuten, daß die Landesregierung gewillt gewesen wäre, sich ihrer eigenen kritischen Auto5 Zu diesem Schema der rechtssoziologischen Entwicklung von der Nothilfe über die Eingliederungshilfe zum Eingliederungswerk, das dann auch die Selbsthilfe der Flüchtlinge umgreift, vgl. Heinrich Rogge: Vertreibung und Eingliederung im Spiegel des Rechts, in: Die Vertriebenen in Westdeutschland. Thre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, hrsg. v. Eugen Lemberg und Friedrich Edding, Band I, Kiel 1959, S. 174-245.

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rität bei der Gestaltung dieses Problemkreises zu begeben und sich Bedingungen und Modalitäten der Eingliederung diktieren zu lassen. Die Entschlossenheit, die Kontrolle auch über Detailaspekte des Integrationsprozesses nicht aus der Hand zu geben, war bei der schleswig-holsteinischen Regierung unverkennbar. Die Eingliederungsbemühungen sollten darauf abzielen, innerhalb der Flüchtlingsbevölkerung eine Sozialstruktur herzustellen, die jener der einheimischen Bevölkerung äquivalent wäre - also eine Angleichung der wesentlichen Strukturmerkmale der beiden Bevölkerungsteile (es ist als Faktum evident und angesichts der existentiellen wirtschaftlichen Notlage der Jahre nach 1945 nicht weiter erklärungsbedürftig, daß, wenn von der Eingliederung der Flüchtlinge gesprochen wird, in erster Linie die wirtschaftliche Eingliederung gemeint ist). Gleichberechtigte Eingliederung, wenn konsequent und unverzüglich eingefordert, bedeutete aber ganz konkret, daß, solange der verfügbare Bestand an ökonomisch-materiellen Existenzgrundlagen von der Wohnung bis zur Arbeitsstätte noch nicht um den für die Befriedigung auch der Flüchtlingsbedürfnisse erforderlichen Betrag vermehrt war, das Vorhandene geteilt werden mußte. Da unter den wirtschaftlichen und politischen Auspizien vor allem der Zeit vor, im Grunde aber auch noch der ersten Jahre nach der Währungsreform an eine entsprechende Expansion des Wirtschaftspotentials und eine hinreichende Aufstockung des Volksvermögens nicht zu denken war, hätte den Flüchtlingen eine stante-pede-Partizipation nur um den Preis eines Eingriffs in die Vermögenssubstanz der eingesessenen Bevölkerung gewährt werden können. Unter den Verhältnissen der neu installierten parlamentarischen Demokratie in Schleswig-Holstein wäre dieser Weg kaum gangbar gewesen, einmal abgesehen davon, daß hier der politische Wille zu einem solchen Lösungsansatz auf der Basis eines rigorosen Lastenausgleichs weder bei den einheimischen Politikern (sieht man einmal vom BHE ab) noch bei den Besatzungsmächten vorhanden war. 6 Dies war jenseits aller organisatorischen, administrativen und finanziellen - letztlich aber nur funktionalen - Schwierigkeiten der Kern des Problems, dem sich die schleswig-holsteinische Regierung der ersten Nachkriegsjahre gegenübersah. Unter diesem Aspekt war das Flüchtlingsproblem nicht nur ein technischer, sondern ein struktureller Störfaktor in dem notwendigen Bemühen um Rekonstruktion und Re-Stabilisierung des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systems in Schleswig-Holstein. Als man nach einigen Jahren ziemlich dilatorischer Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsproblem auch im Regierungszirkel zu der Einsicht gelangte, daß die Anwesenheit der Flüchtlinge in Schleswig-Holstein keine vorübergehende sein 6 Vgl. hierm Heinz losefVarain: Parteien und Verbände. Eine Studie über ihren Aufbau, ihre Verflechtung und ihre Wirken in Schleswig-Holstein 1945-1958, Köln/Opladen 1964.

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würde und an ihrer dauerhaften Aufnahme als gleichberechtigte Staatsbürger kein Weg vorbeiführe, hatte die einheimische Bevölkerung - sicher nicht immer ganz freiwillig - längst schon mit der Integration der depossedierten Menschen begonnen. Das Diktat der Beschaffung individuellen Wohnraums führte bei der Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Schleswig-Holsteins nicht nur im Hinblick auf eine rasche wirtschaftliche Wiedereingliederung zu schwerwiegenden Disproportionalitäten. Eine andere, kaum weniger problematische Folge dieser Verteilung nach Maßgabe des verfügbaren Wohnraums war, daß die einzelnen Teile der einheimischen Bevölkerung in höchst unterschiedlicher Intensität mit den sozialen Belastungen des Flüchtlingszustroms konfrontiert wurden. Aufgrund des hohen Zerstörungsgrades der Städte hatte die bäuerliche Bevölkerung Schleswig-Holsteins einen überproportional großen Anteil an der sozialen Belastung zu tragen, die sich für die Wirtsgesellschaft aus der Aufnahme der Flüchtlinge ergab.7 Anzumerken wäre allerdings, daß es ein nicht zu bestreitendes Faktum ist, daß die Landbevölkerung per saldo doch sehr viel weniger unter den Zerstörungen und den materiellen Folgen des Krieges zu leiden hatte als die Bevölkerung der Städte. Insbesondere war ihre Ernährungsbasis aufgrund der Nähe zu den Nahrungsquellen deutlich günstiger. Die dadurch gegebene größere Unterbringungskapazität der ländlichen Gebiete und der Fremdenverkehrsregionen war allerdings zu einem gewissen Teil schon vor dem Einsetzen des eigentlichen Flüchtlingszustroms in Anspruch genommen worden durch die während des Krieges in die Landgemeinden evakuierten Bewohner bombengefahrdeter Städte aus dem ganzen Reich. 8 Nach einer Übersicht der Parteileitung der NSDAP über den Stand der Umquartierung aus Luftschutzgründen gab es in Schleswig-Holstein bereits am 25. 11. 1944 fast 200.()()() Evakuierte, darunter 110.000 aus Hamburg und 79.000 aus SchleswigHolstein selbst. Während jedoch im Falle der Einquartierung von Evakuierten die betroffenen Bauernfamilien sich mit der Hoffnung auf eine nicht allzu ferne Rückkehr dieser Zwangsgäste in ihre Heimatstädte trösten mochte, gewann aus der Sicht der bäuerlichen Quartiergeber die Anwesenheit der Flüchtlinge wegen 7 Die Bilanz für Kiel sah z. B. folgendennaßen aus: 90 Luftangriffe waren während des Krieges auf Kiel erfolgL Insgesamt in 633 Fällen wurde sog. Vollalann gegeben. Die Zeiten der Alanne betragen zusammengerechnet 29 Tage, 17 Stunden und 41 Minuten. Von den 1939 vorhanden gewesenen 21205 Wohnhäusern waren 34,7 % zerstört, 40,1 % beschädigt und zum Teil nicht wieder aufzubauen, nur 25,2 % blieben unbeschädigL 5 Millionen qm Trümmer bedeckten die Stadt. Angaben aus Hans Voigt: Veränderung der Großstadt Kiel durch den Luftkrieg, Kiel 1950, S. 19. 8 Vgl. hierzu Gabriele Stüber: Der Kampf gegen den Hunger 1945-1950. Die Emährungslage in der britischen Zone Deutschlands, insbesondere in Schieswig-Hoistein und Hamburg, Neumünster

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ihrer nicht abschätzbaren Dauer über die Störung des Lebensalltags hinaus den Charakter einer nachhaltigen Bedrohung der überkommenen Lebensweise schlechthin. Für das Verhältnis des einheimischen Bauern zu den Flüchtlingen, die er in Haus und Hof aufzunehmen hatte, war deren vormaliger und in ihrer subjektiven Bewußtseinslage auch weitgehend konservierter sozialer Status ein eher marginales Kriterium. Primär sah der bäuerliche Quartiergeber zunächst ganz situationsbezogen in dem Flüchtling nichts anderes als den mittellosen Eindringling. 9 Der auf dem Lande einquartierte Flüchtling geriet in ein zwar in einem säkularen Prozeß allmählicher Umformung begriffenes, insgesamt aber nichtsdestoweniger noch fest in der Tradition verhaftetes und relativ geschlossenes Sozialmilieu, dessen Normen, Leitbilder und mentale Eigenheiten - Ortsbeständigkeit, engste Bindung an den in der Familie vererbten Grundbesitz sowie eine Tendenz zur Abschließung gegenüber allem Fremden, um nur einige der wichtigsten zu nennen - in scharfem Gegensatz standen zu den spezifischen sozialen Charakteristika, die das Schicksal von Flucht und Vertreibung dem Flüchtling angeheftet hatte. Dieser, wenn auch nur situationsbedingt und für begrenzte Zeit die Inkarnation des Heimat- und Besitzlosen, des Unsteten und Entwurzelten, wurde im Zwang der Umstände in engsten Kontakt gebracht mit gerade dem bodenständigsten Teil der Bevölkerung des aufnehmenden Landes. Daß die Einquartierung Hunderttausender von Flüchtlingen in die Privathäuser ein enormes Potential an sozialen Konflikten in sich barg und die schleswig-holsteinische Bevölkerung, massiv betroffen, wie sie war, die Aufnahme der Flüchtlinge kaum anders denn als erdrückende Last wahrnehmen konnte, läßt sich auch vor der Analyse der historischen Quellen allein aus der allgemeinen Erfahrung vermuten und verstehen. Die Hektik des Verteilungsalltages in der Phase der forcierten Einschleusung des Jahres 1946 ließ eine sinnvolle Dislokation der Flüchtlinge nicht zu. Ohne Berücksichtigung ihrer Berufs struktur wurden die Ausgewiesenen dorthin geleitet, wo gerade Unterkunft für sie gefunden oder geschaffen werden konnte. So war denn auch der größere Teil der Flüchtlinge nicht nur im trivial landsmannschaftlichen, sondern auch und gerade im berufssoziologischen Sinne der schleswig-holsteinischen Landbevölkerung 'fremd'. Da es zudem der Flüchtlingsverwaltung, obwohl sie die Problematik durchaus erkannt hatte, nicht möglich gewesen war, die Flüchtlingsströme nach beruflichen Kriterien aufzugliedern und von vornherein zu 9 »Flüchtling int Dörp, das mag manchem Alteingesessenen damals genau so schrill in den Ohren geklungen haben wie einst der Schreckensruf: Feurio!« - Alfred Jastrow: Vertriebene und Flüchtlinge in Nordfriesland, Husum 1978, S. 117 f.

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verteilen, wurde der Bauer auf seinem Hof nicht nur mit zwar depossedierten, aber immer noch in landwirtschaftlichen Kategorien denkenden 'Berufsgenossen' konfrontiert, sondern in überwiegendem Maße mir Personen, deren Mentalität eher gewerblich-industriell geprägt war, die der bäuerlichen Welt weitgehend verständnislos gegenüberstanden und wieder in ihre vormaligen Betätigungsbereiche zurückstrebten. Es ist allerdings fraglich, ob eine größere Kongruenz der beruflichen Struktur das Flüchtlingsproblem in Schleswig-Holstein wesentlich hätte entschärfen können. Immerhin liegen Hinweise darauf vor, daß eingesessene Bauern gleich zu Beginn der Flüchtlingseinweisung die Aufnahme von Flüchtlingen auch dann ablehnten, wenn es sich um eine Landarbeiterfamilie handelte. Generell hätte man wohl trotz des Mangels an Arbeitskräften auf die Mitarbeit von Flüchtlingen gerne verzichtet, wenn man damit auch ihre Einquartierung hätte umgehen können. IO Primäre Quelle des Mißvergnügens bei der Flüchtlingseinquartierung war aber nicht nur die räumliche Beschränkung, die der quartiergebenden Familie auferlegt wurde. So war es eines der konfliktträchtigsten Phänomene, daß sich die Wirtsfamilie und die Gastfamilie häufig in die Benützung des einzigen Küchenherdes teilen mußten. Nicht allein enstanden aus arbeitspraktischen Gründen ganz banale Reibungen zwischen den zur gleichen Zeit die Mahlzeiten für ihre Familien zubereitenden Fauen; sehr viel schwerer für das Verhältnis der beiden Gruppen zueinander wog, daß bei der Begegnung am Küchenherd die soziale Kluft zwischen Einheimischen und Flüchtlingen besonders augenfällig wurde, wenn sich die Speisen in den Töpfen der Quartiergeberin und der Flüchtlingsfrau nach Menge, Gehalt und Qualität allzu stark voneinander abhoben. 11 Die bisherige Darstellung der Begegnung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen könnte den Eindruck erwecken, als habe sie einzig aus Konflikten bestanden, als habe es Fälle gütlichen Zusammenlebens, wechselseitigen Verstehens und der Kooperation so gut wie nie gegeben. Tatsächlich ist dies das Bild, wie es die einschlägigen Quellen fast einhellig vermineln. Aus dem Fehlen überlieferter Belege zu schließen, daß die nach Maßgabe des Möglichen 10 Soziahnilieu wird hier analog zu Lepsius' 'soziahnora1ischem Milieu' verstanden als »BezeiclmWlg für soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrere Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtenspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden.« M. Rawr Lepsius: Parteiensystem Wld Sozialstruktur, in: Gemard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-SO. 11 »Jedes Haus steht dem Zugriff offen«, schrieb Elisabeth Pfeil, »man fmdet das fast schon selbstverständlich, muß sich aber doch einmal klarmachen, wie Wlgeheuerlich die Belegung der Häuser und Wohnungen mit fremden Familien im Sinne bürgerlichen Rechtsempfindens ist.« Elisabeth Pfeil: Der Flüchtling, Hamburg 1948, S. 24.

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harmonische Begegnung zwischen Einheimischen und den Fremden in der historischen Wirklichkeit nicht vorgekommen sei, wäre dennoch unzulässig. Es hat sie vielfältig und in unterschiedlichster Form gegeben, doch gilt auch dafür die vertraute Regel, daß positiven Erfahrungen offensichtlich wesentlich weniger Impetus innewohnt, sich in überlieferungsfähiger Form zu äußern, als negativen. Daß insgesamt gesehen die Begegnung überwiegend problematisch war, ist angesichts der vielfältigen Belastungen, unter denen sie stattfand, alles andere als verwunderlich. Es hätte außerordentlicher Einsicht und Feinfühligkeit auf beiden Seiten bedurft, das Verhältnis so zu gestalten, wie es nach den Kriterien einer abstrakten Ethik wünschenswert erscheinen mochte. Bei den Flüchtlingen gereizte Empfindlichkeit, starres Festhalten an den Verhaltensnormen eines durch die Vertreibung zumindest vorläufig vernichteten sozialen Status und das Gefühl, mit diesem Verlust stellvertretend auch für die beati possidentes im Aufnahmeland gebüßt und dadurch einen uneingeschränkten Anspruch auf deren konnationale Solidarität erworben zu haben, auf seiten der Einheimischen eine gewisse Indolenz gegenüber dem Los derer, die wenig gut 'davongekommen' waren, der Wunsch, nun, da der Krieg endlich zu Ende war, mit Nachwirkungen und Nachforderungen nicht mehr behelligt zu werden, und schließlich auch Angst um die soziale wie die landsmannschaftliche Identität setzten zusammen mit den äußeren Bedingungen einer extremen Notlage einen Handlungs- und Verhaltensrahmen, der Kollisionen fast unausweichlich machte. In seinem Buch 'Die Schleswig-Holsteinische Gemeinschaft 1950-1958' schreibt Thomas Schäfer über das Verhältnis zwischen Einheimischen und Flüchtlingen: »Viele einheimische Schleswig-Holsteiner fürchteten (zudem) eine kulturelle Überfremdung durch die Vertriebenen. Diese Furcht war z.B. in Kreisen des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes weit verbreitet ... zweifellos haUen die Vertriebenen im allgemeinen ein schwereres Los als die einheimische Bevölkerung, ausgenommen vielleicht die Bewohner der zerstörten Städte. Die Vertriebenen mußten nicht nur mit dem Verlust ihrer Heimat und ihres Besitzes fertig werden, sondern auch die Tatsache, daß ein Neuanfang im gleichen Beruf und in der gleichen sozialen Stellung oft unmöglich war. So sahen sich z.B. viele ehemals selbständige Bauern dazu gezwungen, Landarbeiter zu werden, ein Beruf mit nur geringem sozialen Prestige. Zu den Berufsproblemen kam die katastrophale Wohnsituation hinzu. Das Gefühl, Fremder zu sein, war sicherlich weit verbreitet. Besonders schwer muß es den Vertriebenen gefallen sein, ihre Lage zu ertragen, weil sie sie ja nicht selbst, zumindest nicht in stärkerem Maße als die einheimischen Schleswig-Holsteiner, verschuldet hatten. In beiden Bevölkerungsgruppen war wohl eher ein Gefühl

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weit verbreitet: Gemeinsam fühlte man sich vom übrigen Westdeutschland im Stich gelassen, war sich aber gleichzeitig der Tatsache bewußt. daß man auf Hilfe von außen angewiesen war. Dieses Gefühl der Ohnmacht, die Verhältnisse schnell und durchgreifend verbessern zu können, hat mit Sicherheit zur Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen in Schleswig-Holstein beigetragen. «12 Zu den bekanntesten Begleiterscheinungen der Flüchtlingsperiode gehören zweifellos die Flüchtlingslager - jene seltsamen Konzentrate einer 'Welt unter sich', die deutlichen Zentren eines frühen Gruppenlebens und einer gewissen Eigengesetzlichkeit. 13 Hier bilden sich am greifbarsten und viel profilierter als in den Dachkammern und in der Wohngemeinschaft mit den Einheimischen jene Elemente an Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen der Flüchtlinge aus, welche für die erste Entwicklungsphase des Abseitsstehens und Zuwartens so charakteristisch sind. Die Masse der Flüchtlingslager (in Schleswig-Holstein gab es am 1.10.1950 noch 786 kriegsbedingte Lager) hatte eine örtliche Lage, welche eine räumliche Isolierung, ein stärkeres 'Aufsichgestelltsein' bedeutete und das Eigenleben förderte. Die Ursache dafür ist in der ursprünglichen Zweckbestimmung der einzelnen Lager zu suchen, die ja meist während des Zweiten Weltkrieges oder kurz vorher errichtet wurden und ganz anderen Aufgaben zu dienen hatten, die für ihren Standort fern von Dorf und Stadt maßgebend waren. Zur Typologie und Topik der Flüchtlingslager gehörte, daß sich aus dem Nullpunkt des Neubeginns bald bestimmte Wesenszüge und Sonderheiten herauskristallisierten, die jedem Lager eine eigentümliche Note verlieh. Symbol dafür war der Kreidestrich, waren die gelegten Ziegelsteine, welche die Wohnfläche einzelner Familien gegenüber den Nachbarn markieren sollten. Dasselbe besagten die Scheinwände aus Packpapier oder Wolldecken, die man hinhängte, um wenigstens blickmäßig allein zu sein. Jedermann war durch das gemeinsame 'Hausen', den Essenempfang, die Teilhabe an Tisch, Stuhl, Ofen und Licht unablässig der Gruppe ausgeliefert, mußte mit ihr denken und handeln, ob er wollte oder nicht Dazu kommen weitere Belastungen. Auch die Bewertung der Lagerinsassen durch die Umwelt ist kollektiv gebunden: der Einzelne wird nach dem Ganzen beurteilt und nicht nach seinem persönlichen Verhalten. Die Vertriebenen übernahmen zusätzlich eine psychologische Hypothek, welche ihnen Kriegsgefangene, Fremdarbeiter oder sonstige nicht besonders geachtete Vorgänger hinterließen. Trotzdem hat die Flüchtlingsfamilie 12 Thomos Schäfer: Die Schleswig-Holsteinische Gemeinschaft 1950-1958, Newnünster 1987, S. 21 f. 13 Vgl. hierzu: Uwe Carslens: Die Flüchtlingslager der Stadt Kiel. Sammelunterkünfte als desintegrierender Faktor der Flüchtlingspolitik, Kiel 1992.

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nach dem einstimmigen Urteil von Helmut Schelsky, Elisabeth pfeil, Karl Valentin Müller und anderen die schweren äußeren Gefährdungen erstaunlich gut überstanden. Das Familienleben blieb 'in Ordnung' .14 Schelsky und pfeil sprechen sogar von einer spürbaren Verfestigung und Verinnerlichung des Familienlebens unter den Heimatvertriebenen. Es erwies sich auch, daß die menschliche Annäherung von Einheimischen und Flüchtlingen von Jahr zu Jahr zunahm (der ungeahnt rasche wirtschaftliche Wiederaufstieg Westdeutschlands unterstützte entscheidend die Absorption der Vertriebenen, da er die materiellen Lebensgrundlagen so stark vermehrte, daß auch den Vertriebenen ihr Teil daran gegeben werden konnte, ohne daß er aus der Substanz der einheimischen Bevölkerung genommen werden mußte). Lagerjahre, Zeiten der Arbeitslosigkeit und isolierte Flüchtlingssiedlungen waren spürbare Hemmnisse für das Zusammenfinden beider Bevölkerungsteile. Unterschiede der sozialen Herkunft spielten eine größere Rolle als beispielsweise konfessionelle, noch schwerer zugänglich aber waren bäuerliche oder kleinbürgerliche Gesellschaften mit stärkerer Traditionsbindung und einem lebendigen Gruppenbewußtsein. Hier konnte häufig nur durch gezieltes Kooperieren mit den Vertriebenen ein nachbarliches Beziehungsnetz geknüpft werden. Heute existieren die Fronten Einheimische und Vertriebene nicht mehr. Das Flüchtlingsproblem, soweit es die Aufnahmeländer anging, ist ohne Rest gelöst. Einheimische und Vertriebene haben - von residualen, meist regionalund schichtenspezifischen Animositäten abgesehen - im großen und ganzen längst ihren Frieden miteinander gemacht.

14 Vgl. hierzu HelmMJ Schelslcy: Die Flüchtlingsfamilie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 3. Jg., 1950/51,S. 169 f.

Die Philosophie und das Allgemeine Warum Philosophie in der Schule notwendig ist

Von Johannes Ratzek

Um die Möglichkeiten und Grenzen des Faches Philosophie in der Unterund Mittelstufe des Gymnasiums zu untersuchen, wurden auf Anregung des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein philosophische Arbeitsgemeinschaften eingerichtet. Seit dem Schuljahr 1992/93 ist Philosophie als Ersatzfach für Religion in der Unter- und Mittelstufe eingeführt. Die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von kindlichem und philosophischem Denken und Fragen sind aus meiner Arbeit in der Lehrplankommission und der konkreten Arbeit mit Kindern entstanden. Philosophie ist als eine Form des Strebens nach Erkenntnis die prüfende und begründende umfassende Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten der menschlichen Existenz. Ihre Methode besteht im rationalen, kritischen und radikalen Fragen und Argumentieren, wie es im idealen sokratischen Gespräch zum Ausdruck kommt. Philosophie ist damit ihrem Wesen nach Aufklärung. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügend, überschreitet sie die Fragehorizonte der Einzelwissenschaften, indem sie einerseits ihrem Charakter nach fächerübergreifend ist und sich andererseits wesentlich auch am Alltäglichen und unmittelbaren Lebensprozeß entzündet. In einem Prozeß des Bedenkens des scheinbar Selbstverständlichen und der Hinwendung zum Grundsätzlichen und Prinzipiellen kommt es zur Bewußtwerdung und Distanzierung vom Gegebenen. Philosophie »wird in diesem Sinne zur kritischen Selbstbestimmung des Menschen, bezogen auf die Problemsituation, die sich ihm aus seiner Verflechtung in gesellschaftliche, sittliche, geschichtliche Zusammenhänge, in die Struktur eines von Wissenschaft und Technik bestimmten Daseins ergeben«! .

! Lehrplan 'Philosophie des Landes Schleswig-Holstein', Oberstufe, Erprobungsfassung 1984,

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Philosophie aber verstanden als die akademische Frage nach dem Sein des Seienden oder den Bedingungen der Möglichkeiten von Erfahrung, kann nicht der Philosophiebegriff sein, den man in der Schule favorisieren sollte. Unselige deutsche Tradition ist es, daß das für philosophisch gehalten wird, was von der Erschaffung der Welt oder vom Sinn des Lebens/der Welt in möglichst unverständlichen Ausdrücken handelt Natürlich gesteht man sich auch im gleichen Atemzug ein, daß man immer schon mitdenken muß, daß eine Lösung dieser Fragen nicht vorhanden ist oder gar nicht erreicht werden kann. Viel eher also trifft die oft verschmähte und ironisch verspottete Definition der Philosophie als Spezialistin für das Allgemeine zu. Philosophie reflektiert die fundamentalen Prinzipien unseres alltäglichen Denkens und Handeins, betrachtet all die Dinge, die wir schon immer als selbstverständlich vorausdenken oder die nur in Krisensituationen ins Bewußtsein gehoben werden. Dies gilt entsprechend für den Philosophieunterricht. So wird zum Beispiel an Tolstois »Tod des Ivan Iljitsch«2 nach den Möglichkeiten richtigen Lebens gefragt. Oder bei der Untersuchung von staatlichen Institutionen, wenn etwa die Weisen der politischen Willensbildung erörtert werden, bleibt als philosophischer Restbestand die Frage, warum denn überhaupt Staat sei oder die Frage nach der Begründung des staatlichen Gewaltmonopols. Und hier sehe ich die Chance und Aufgabe der Philosophie als ein notwendiges Unterrichtsfach schon in der Sekundarstufe I, denn nur solange der Staat keine Legitimationsprobleme hat und die Lebensführung der Menschen sich an tradierte Muster des Rollenverhaltens hält, Leben also geregelt wird, kann und darf die philosophische Frage, wie oben skizziert, eine Frage der Spezialisten bleiben, die im stillen Kämmerlein diskutieren und gedanklich experimentieren. Dies ist allerdings in meiner Sicht heute nicht mehr möglich. Überall klagt man über steigende Kriminalität, Drogenabhängigkeit, Suizide, Sektenzulauf. Ebenso kritisiert man den zunehmenden Zynismus und Egoismus und vor allem die rücksichtslose Durchsetzung eines ungehemmten Lustprinzips gerade bei Jugendlichen. Die Rationalisierung, die das abendländische Denken geprägt hat, zerstört alle Selbstverständlichkeiten des Denkens und Handeins. Dazu stellt es das Subjekt vor eine unendliche Freiheit, eine Wahlfreiheit überlieferter Denkformen und auch Lebensformen. So ist zu beobachten, daß immer mehr Menschen und gerade Jugendliche an dieser Wahlfreiheit zerbrechen oder sich stark affirmativ in ein vorgegebenes Ordnungsgefüge zucückflüchten. Andere wiederum pflegen eine Art 2 Der Inhalt der Erzählung ist folgender: Ein Mann kommt über die schrittweise Erkenntnis seiner tödlichen Krankheit zur Einsicht, daß er sein Leben verpfuscht habe.

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postmoderner Ironie und können die Arena ihres eigenen Selbst nicht verlassen. In diesem Sinne läßt sich das zu beobachtende Phänomen aus verschiedenen Perspektiven betrachten und analysieren: erstens als eine brutale Form von Fortschrittsgläubigkeit oder zweitens als Kulturpessimismus oder endlich und dies ist häufig zu lesen - als Wertezerfall. Dagegen ist es notwendig und dabei kann die Philosophie als Wegweiserin zum Allgemeinen große Hilfe leisten - , sich zurückzubesinnen, die eigene Lage zu reflektieren. Diese Reflexion, geführt in einer systematischen Form, hat ihren Ort traditionellerweise in der Philosophie. und sie hat da einzusetzen, wo der Einzelne zögernd und tastend seine Stellung im gesellschaftlichen, sittlichen und geschichtlichen Verflochtensein zu bestimmen versucht: in der Schule. Wenn aber alle Selbstverständlichkeiten verlorengegangen sind, wie soll man dann Schülern diese Werte und Normen vermitteln? Jede doktrinäre Setzung wäre der falsche Weg, denn dies hieße ja Lehren zu verstehen als ein müheloses Transferieren einer Wissensmasse aus dem Kopf des Lehrers in die Köpfe der Schüler. Das Modell des Nürnberger Trichters halte ich für die falsche Prämisse aller Didaktik. 3 Tatsächlich aber - dies ist auch bei Schülern so - hat jeder zu den Grundfragen immer schon eine mehr oder weniger fundierte Meinung, hat also schon Philosophie betrieben. Der Philosophieunterricht sollte diese immer schon vorhandene Meinung mit den tradierten Theorien und Positionen in Beziehung setzen, ja diese miteinander konfrontieren. Philosophie und Schule Für das Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen in der Schule sollten demzufolge folgende Grundsätze bzw. Vorüberlegungen berücksichtigt werden. Zuerst einmal gibt es eine Korrespondenz zwischen kindlichem und philosophischem Fragen. Beide erstreben eine möglichst umfassende WelterheIlung. So sollte der Philosophieunterricht an das der Altersstufe angemessene Problembewußtsein anknüpfen, d. h. die Alltagserfahrung ansprechen. Dem Lehrer fallt dabei die Rolle zu, originär philosophische Fragestellungen von anderen interessanten abzuheben. Eine Anknüpfung an die in anderen Schulfachern erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten ist geboten. Dies soll natürlich nicht heißen, daß Fächer wie Biologie oder Physik nicht auch philosophische Implikationen enthalten können. Es ist jedoch zu beobachten, daß - gerade im 3 Es seien nur zwei Didaktiken hervorgehoben: Wuli! D. RehfwfJ: Didaktik der Philosophie. Düs· seldod 1980; ElcJcehard Martens: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, Hannover 1979. Rehfuß ist der platonischen Theoria verpflichte, ihm gilt die »Elkenntnis der Idee« als Ziel allen Philosophieunterrichts, wogegen Marlens eine vage an Habermas orientierte dialogische Praxis vorschwebt, deren Ziel Wissen und Können gemeinsamer Selbstbestimmung ist.

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Vergleich von Sextanern und Primanern - mit zunehmendem Alter die spontane Neugier, Fragebereitschaft und Konfrontationsbereitschaft erlahmen. Vielleicht liegt dies an der oben erwähnten falschen Prämisse der Didaktik, die die Spontaneität verkümmern läßt und Fonnen angepaßten Verhaltens bevorzugt. Man könnte sogar sagen, Spontaneität wird abtrainiert, weil sie bei der Wissensvennittlung stört Deshalb wird man im Philosophieunterricht verstärkt mehr als in anderen Fächern - ästhetische, narrative Dimensionen eröffnen müssen, d. h. konkret Kurzgeschichten, Anekdoten, Märchen, Mythen, Parabeln, Presseberichte und andere Sachtexte, sowie Bilder jeglicher Art verwenden. 4 Diese Medien erleichtern den Einstieg in das Philosophieren und sensibilisieren dafür, das Gewohnte und scheinbar Selbstverständliche philosophisch zu betrachten, sich dem Allgemeinen anzunähern. Das bedeutet aber nicht, daß den Kindern die philosophischen Fachtennini beigebracht werden, um sie dadurch für einen akademischen Diskurs fit zu machen. Es kommt vielmehr darauf an, eine sach- und altersgemäße Reflexion in Gang zu setzen, die aber sprachlich präzise sein sollte.5 So kann man einem Handbuch zum Philosophieunterricht mit Kindern folgende Tips entnehmen. 6 ))Achten Sie darauf, - die Jugendlichen zu ennutigen, auf ihren eigenen Ideen aufzubauen - den Jugendlichen den tieferen Sinn dessen, was sie sagen, klarzumachen - den Jugendlichen ihre eigenen Annahmen bewußtzumachen - die philosophischen Begriffe durch ihren Gebrauch einzuüben - den Jugendlichen bewußt zu machen, daß man philosophische Probleme nicht durch Abstimmungen lösen kann - daß die Jugendlichen nach Gründen zur Rechtfertigung ihrer Überzeugungen suchen. 4 Vgl. Julta Köhler / Swsanne Nordhofen: Philosophie ist kein Fach wie Mathe. Praktische Erfahrung mit einem Projekt in der Klasse 6 des Gymnasiums, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 1991, Heft I, S.24. Weiter Beispiele für anwendbare Texte liefern Hans-Ludwig Freese (Hrsg.): Gedankenreise. Philosophische Texte für Jugendliche W1d Neugierige, Reinbek 1990; ders.: Kinder sind Philosophen, Berlin 1990; Care/h B. Mallhews: Philosophische Gepräche mit Kindern, Berlin 1989; Barbara Briining: Mit dem Kompaß durch das Labyrinth der Welt, Bad Münder 1990. 5 Der Aufassungsgabe gemäß wird die Arbeit am Begriff Vorrang vor der Auseinandersetzung mit komplizierten Gedankenkeuen erhalten. Ziel des Unterrichts, wenn Philosophie Aufklärung sein soll, ist es, dem einzelnen Schüler seine individuelle Reßexionsfähigkeit erfahrbar werden zu lassen. Denken W1d Entscheiden müssen vom Schüler selbst erlebt werden (vgl. Wal/er Amold / Johannes Ra/zek: Arbeitsgemeinschaften im Fach Philosophie für Schüler der Untersekunda. Bericht an das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Kiel 1990, S.4). 6 Mal/hew Lipman: Pixie, Philosophieren mit Kindern. Handbuch 2ll Pixie, Wien 1989, S. 138 ff.

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Bitte venneiden Sie, - auf ihren eigenen Ansichten zu bestehen, anstatt die Jugendlichen zum Selbstdenken zu ennutigen - mit Jugendlichen ungeduldig zu werden, die immer weiter fragen - das Gespräch so zu steuern, daß ihre eigenen Ansichten immer als die besten erscheinen - den Jugendlichen nicht zuzuhören, denn dadurch fordern Sie sie heraus, auch einander nicht aufmerksam zuzuhören - darauf zu bestehen, daß die Jugendlichen so lange diskutieren, bis sie 'eine Antwort' gefunden haben - zu lange Diskussionen über relativ unwichtige Themen - jeden philosophischen Begriff ausführlichst zu erklären, anstatt das philosophische Verständnis der Jugendlichen aus ihrem eigenen Gespräch erwachsen zu lassen.« Unabhängig von den rein unterrichtstechnischen Gesichtspunkten wird ein Philosophieunterricht mit Jugendlichen nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, bewußt zu machen, daß ein wichtiges Ziel des Unterrichts bereits im Klären von Fragestellungen und Problemen besteht und nicht allein in deren Beantwortung oder Lösung. Frustrationen über aporetische, paradoxe und andere uneindeutige Ergebnisse müssen toleriert werden und sind eher Anlaß zum Weiterdenken als ein Signal für Indolenz. Dies gilt auch für erfolgreiche Problemlösungen, die immer zu einer erneuten Prüfung anstehen. Philosophie ist ein unendlicher Prozeß (philosophia perennis), der nicht zwangsläufig zu einer Haltung führen muß, die einen allumfassenden Relativismus predigt oder auch in eine Gleichgültigkeit mündet. So kann und darf Philosophieunterricht in der Schule keine Berufsphilosophen züchten. Vielmehr sollte der Schüler in seinem späteren Leben einen philosophischen Blick behalten, um nicht zum Sklaven der Sachzwänge zu werden, sondern reflektierend, distanzfähig und mit Lust am Denken sein Leben gestalten zu können. Philosophie und das Allgemeine Der oben vorgestellte Philosophieunterricht darf aber nicht, und dies sollte klar geworden sein, bloßer »Lebenskundeunterricht« sein, mit dem man auf die Herausforderungen einer veränderten Welt reagieren möchte. Philosophie wäre dann nicht mehr die Spezialistin für das Allgemeine, sondern eine Fluchthelferin aus dieser sich verändernden Welt. Überläßt man Schüler im Grundlegenden, d. h. im Allgemeinen sich selbst, schlägt die Stunde der falschen Pro-

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pheten, und ein Philosophieunterricht, der nur auf das Moralische beschränkt ist (»Wir müssen alle tolerant sein!«), läßt den Schüler allein. Deshalb sollte man nicht das Gefühl vor die Vernunft und die Moral vor die Politik stellen. Die Schüler müssen dagegen in der Welt, in der sie leben und in der sie Orientierung suchen, lernen zu leben. Je mehr das traditionelle gesellschaftliche Gefüge, sei es moralisch oder politisch, zerfällt, Selbstverständliches seine Gültigkeit verliert, um so mehr muß man Schülern aller Alterstufen die Möglichkeit eröffnen, ihre eigenen Positionen und Meinungen in der Auseinandersetzung mit philosophischen Denkmodellen zu bestimmen und zu entwickeln. Hier liegt die Aufgabe der Philosophie als Unterrichtsfach an den Schulen, da sie Spezialistin und Schlüssel für das Allgemeine ist. Letztlich, dies bedeutet Philosophie als Aufklärung, muß der Schüler in seiner Freiheit allein wählen, aber daß er wählen muß, kann ihm bewußt gemacht werden.

Die Funktion der Bestärkung im pädagogischen Bezug Von WernerLoch

Das Akzeptieren oder Annehmen des Klienten in dem Zustand, in dem er sich befmdet, ist die Grundbedingung für das Zustandekommen jeglicher helfenden Beziehung und damit auch der pädagogischen. In diesem Sinn ist mit Akzeptieren die für jeden pädagogischen Bezug grundlegende Leistung der Erzieherinnen und Erzieher gemeint, die ihnen zur Erziehung anvertrauten Menschen zunächst so, wie sie sind, »anzunehmen«, ganz gleich, ob sie ihnen sympathisch sind oder nicht, ob sie abstoßende Eigenschaften haben oder verwerfliche Neigungen. Erziehen kann man einen Menschen nur, wenn man ihn in der Lage annimmt, in der er sich befindet, d. h., in der Verfassung in das Erziehungsverhältnis aufnimmt, in der er einem begegnet. Denn die erzieherische Bemühung kann ja nur dann greifen, wenn sie dort ansetzt, wo sich der Zögling wirklich befindet Deshalb muß die zu erziehende von der erziehenden Person stets in dem Zustand angenommen werden, der geändert werden soll.! Zu sagen: Du mußt zuerst dein Verhalten ändern, damit ich dich in das Erziehungsverhältnis aufnehmen kann, wäre bereits im Ansatz die Negation der Erziehungsaufgabe. Der Erzieher verlangt dann vom Zögling das als Bedingung für die Aufnahme in den pädagogischen Bezug, was er ihm erst beibringen soll. Dieser Selbstwiderspruch des Erziehers ist der Grundfehler des pädagogischen Bezuges, der immer wieder gemacht wird: Der Erzieher möchte den Zögling nur unter Bedingungen akzeptieren, die dieser in der Lage, in der er sich (z. B. aufgrund seiner sozialen Herkunft oder seiner Entwicklungsstufe) befindet, nicht erfüllen kann. Ein solches bedingtes Akzeptieren ist von dem unbedingten Akzeptieren scharf zu unterscheiden, das für die helfende Beziehung und damit auch für den pädagogischen Bezug grundlegend ist. Zur Grundlegung solcher zwischenmenschlicher Beziehungen hat das Akzeptieren oder Annehmen nur als unbedingtes Sinn. ! Martin Brmer: Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954, S. 279; Garl R. Rogers: Entwicklung und Persönlichkeit, Stuugart 1973, S. 76 f.

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Aus der Sicht des Zu-erziehenden entsteht der pädagogische Bezug so aus der Erfahrung des vom Erzieher Angenommenwerdens. Insofern ist das Angenommenwerden die primäre Bestärkungserjahrung der erziehungsbedürjtigen Person. Sie nimmt wahr, daß sie nicht zurückgewiesen, sondern so, wie sie ist, in das Erziehungsverhältnis aufgenommen wird. Deshalb konnte Buber2 den Grund des erzieherischen Verhältnisses in der »konkreten, aber einseitigen Umfassungserfahrung« sehen. Indem der Erzieher den Zögling um faßt, erlebt dieser sich im Sinne seiner Selbsterhaltung als angenommen und aufgenommen, geborgen und gehalten. Diese Situation muß vom Betroffenen nicht immer als Bestärkung erlebt werden. Denn nicht selten möchte das Kind gar nicht erzogen werden, sind ihm seine Erzieher lästig, möchte es sie loswerden. Aber gerade dann, wenn der Edukand erfährt, daß der Erzieher ihn in Phasen der Schwäche, der Abwehr, der Selbstzerstörung nicht losläßt, daß er ihm unter allen Umständen die Treue hält, selbst wenn er gegen ihn revoltiert oder sich infam verhalten hat, wird er die Stärke eines derart beständigen Erziehers im Gefühl der eigenen Schwäche als Chance der Bestärkung verstehen können. Die Erfahrung des Angenommenwerdens durch den Erzieher ist für das Kind oder den Jugendlichen ein grundlegender Beitrag zu seiner Selbsterhaltung. Auf dem Boden dieser erzieherischen »Vorleistung« haben die Zu-erziehenden die Chance, im Zuge weiterer Bestärkungserlebnisse selbständig zu werden und Selbstvertrauen zu gewinnen. In dem Zusammenhang ist wichtig zu bemerken, daß das Annehmen oder Akzeptieren sowohl eine Komponente der Kontakt- als auch der Bestärkungsfähigkeit des Erziehers ist 3 Indem der Erzieher den Zu-erziehenden annimmt, beginnt der pädagogische Bezug zwischen ihnen, d. h. ein spezifischer sozialer Kontakt, und gleichzeitig beginnt der Edukand die Stärke des Erziehers zu spüren, die ihm Halt gibt und in diesem Sinn seiner Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung dient. Das ist der Grund, weshalb Nohl, der Entdecker des »pädagogischen Bezuges«, in diesem Zusammenhang - lange vor Rogers - die Bedeutung der Kategorie des Annehmens erkennen mußte. Schon 1926 hat er in einem Vortrag »Gedanken für die Erziehungstätigkeit des Einzelnen - mit besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen von Freud und Adler« durch Vergleich und Unterscheidung von Arzt und Erzieher folgendes Bezeichnende dazu ausge2 Martin Buher: Reden über Erziehung, Heidelberg 1986, S. 42. 3 Werner Loch I Jalcob Muth (Hrsg.): Lehrer und Schüler 1990, S. 106 ff., 116 ff.

alte und neue Aufgaben, Essen

Die Funktion der Bestärkung im pädagogischen Bezug

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führt: »Wie nun das Vertrauen des Patienten in seinen Arzt vor allem in dieser seiner GrundeinsteIlung begründet ist, die ihn in seinem Lebenswillen bejaht und die ihr eigentümliches Verhältnis zueinander bedingt, so ist solche pädagogische GrundeinsteIlung und das unbedingte Vertrauen des Zöglings dem Erzieher gegenüber, daß er von ihm in der Tiefe seiner Person absolut bejaht wird, die Voraussetzung des eigentümlichen Verhältnisses zwischen ihnen beiden.«4 Natürlich müssen Erzieherinnen und Erzieher stark sein, um bestärken zu können, gleich in welcher Rolle sie fungieren. Schwache Menschen können keine Erzieher sein. Diese Behauptung ist mißveIständlich, aber sie muß gleichwohl im Blick auf alle gesagt werden, die einen pädagogischen Beruf ergreifen möchten, ohne sich geprüft zu haben, ob sie seinen Anforderungen gewachsen sind. ErzieherInnen müssen nicht nur im Hinblick auf die Zu-erziehenden, die sie zu akzeptieren haben, viel aushalten können. Deshalb ist Stärke eine unabdingbare Komponente ihrer Selbsterhaltungsfahigkeit. In der Dimension der Aktivierung kommt sie als Vitalität zum Tragen; in der Dimension der Bestärkung als Geduld. 5 Durch seine Geduld macht der Erzieher seine Stärke gegenüber dem ihm Anvertrauten sanft. Sie verhindert, daß er ihn durch seine Stärke schwächt, und ermöglicht, daß er ihn in der Form erträgt, in der er ihn angenommen, aber auch in der, zu der er sich entwickelt hat. Von der pädagogischen Grundleistung des Akzeptierens oder Annehmens ist in der Dimension der aktuellen Bestärkung das Phänomen der Achtung zu unterscheiden. 6 Bei der Achtung geht es um die Würde eines Menschen als Menschen. Die aktuell bestärkende Funktion der Achtung liegt in der Würde, die sie allen Menschen, Erwachsenen wie Kindern, gleichermaßen zuschreibt. Im pädagogischen Bezug, als einem Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, ist die Achtung für die Kinder deshalb besonders bestärkend, weil ihnen von den Erwachsenen, deren Achtung sie erfahren, eine Würde gegeben wird, die sie sich als Kinder selbst nicht geben können. Zu dieser bestärkenden Funktion der Achtung gehört z. B. schon, wenn ein Lehrer allen Kindern seiner Klasse das Gefühl gibt, daß er jedem die gleiche Aufmerksamkeit schenkt. Kein Kind darf aufgrund irgendwelcher Merkmale benachteiligt oder begünstigt werden. Hier wird auch im pädagogischen Bezug der enge Zusammen4 Herman NohJ: Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurta. M. 1949, S. 153. 5 Werner Loch I Jakob Mulh: Lehrer und Schüler, S. 116, 122. 6 Werner Loch: Die Funktion der Achtung im pädagogischen Bezug, in: Günther Groth (Hrsg.): Horizonte der Erziehung, Stuttgart 1981, S. 24-50.

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hang zwischen Achtung und Gerechtigkeit deutlich. Aus diesen Gründen ist die von ihren Erziehern erfahrene Achtung für Kinder so anspornend. Demgegenüber ist die Erfahrung des Angenommenwerdens für Kinder überhaupt nicht anspornend. Während es sich beim Annehmen darum handelt, den Zu-erziehenden nicht verkommen, verwahrlosen oder verwildern zu lassen, sondern ihm in einer Art von Nächstenliebe durch Aufnahme in das Erziehungsverhältnis seine Bildungschancen zu erhalten, sucht die Achtung, die der Erzieher seinen Zöglingen entgegenbringt, diese als zur Selbstbestimmung nach moralischen Grundsätzen fahige Wesen zu würdigen im Sinne eines Anspruchs, den er an sie stellt, auch wenn sie diesem Anspruch noch nicht oder nicht immer gerecht werden könnenJ Annehmen und Achten stehen in einem Spannungsverhältnis, das vom Erzieher schwer auszuhalten ist, zumal jede dieser beiden pädagogischen Grundleistungen bereits an und für sich schwierig genug ist. Das Annehmen bezieht sich auf die manchmal traurige Realität des Edukanden; das Achten auf seine Idealität, d. h. auf das, was aus ihm Gutes werden kann und soll. Beide Perspektiven sind für das erzieherische Bewußtsein und Verhalten unabdingbar: »Die GrundeinsteIlung, mit der der Pädagoge dem Kinde gegenübersteht, ist ... eine eigentümliche Mischung von realistischem und idealem Sehen.«8 Es gibt nicht nur die Gruppe der aktuell bestärkenden Erziehungsmiuel wie Unterstützen und helfendes Einspringen, Stellvertretung und Erfolgserlebnisvermittlung, Annehmen und Achten,9 sondern auch retrospektiv und prospektiv bestärkende Erziehungsmittel. Sie werden in dem Buch ))Erziehungsmittel« von GeißlerIO ausführlich beschrieben. Deshalb kann ich mich hier etwas kürzer fassen, obgleich die spezifischen kommunikativen Funktionen und pädagogischen Intentionen dieser Bestärkungsformen noch gründlicher erklärt werden müssen. Prospektiv bestärkende Erziehungsmittel sind Hoffnung und ErwartunglI, Vertrauen und Zutrauen l2, Neugier und Interesse, Ehrgeiz und Leistungsstreben, Ermunterung und Ermutigung l3 , Ermahnung und Appell l4 . 7 Janusz Korczak: Das Recht des Kindes auf Achtung, Göttingen 1970 (merst polnisch 1929). 8 HermanNohl: Charakter und Schicksal, Frankfurt a. M. 1949, S. 16.

9 Wemer Loch: Die Beanspruchung des Pädagogen in erschwerten Situationen des Lemens, in: P. Gehnnann I B. Hüwe (Hrsg.): Forschungsprofile der Integration von Behinderten, Essen 1993,

S.173-181.

10 Erich E. Geißler: Erziehungsmiuel, Bad Heilbrunn 1982. 11 Rohert Rosen/hall unore Jacobson: Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler, Weinheim/Berlin/Basel 1971.

Die Funktion der Bestärkung im pädagogischen Bezug

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Retrospektiv bestärkende Erziehungsmittel sind Anerkennung und Kritik, Lob und Tadel, Belohnung und Strafe. Bei diesen Äußerungen des Erziehers geht es um die Beurteilung von Leistungen, die der Zu-erziehende erbracht hat. Es handelt sich um Leistungen, die in der nahen Vergangenheit liegen oder vollendete Gegenwart sind, weshalb Lehrer und Schüler auf sie zurückblicken. Der Schüler will wissen, ob er gut oder schlecht, wie gut oder schlecht er gewesen ist, welchen Stand er erreicht hat, was er noch besser machen kann und soll usw. Der Erzieher will dessen Leistungen, erlangte Fertigkeiten oder Geschicklichkeiten, gezeigte Fähigkeiten oder Begabungen, zugrundeliegende Gesinnungen oder Einstellungen im Hinblick auf mehr oder weniger klar formulierte Erziehungsziele und damit zusammenhängende weitere Lernaufgaben bewerten. Der pädagogische Sinn dieser Mitteilungen des Erziehers liegt darin, dem Zu-erziehenden eine Selbsteinschätzung zu vermitteln bzw. zu bestätigen, die ihn im Hinblick auf das Erreichte sowohl selbstsicher als auch selbstkritisch macht und ihm im Blick auf die Zukunft Selbstvertrauen und Verbesserungswillen gibt. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, daß Kritik, Tadel und Strafen des Erziehers der Bestärkung des Zöglings dienen bzw. in den bestärkenden Mitteilungen aufgehoben werden. Die bestärkende Intention des Erziehers sollte immer gegenüber der schwächenden das Übergewicht haben. Mit anderen Worten: Die unvermeidliche Kritik sollte zwischen den Polen von Akzeptanz und Achtung mit einer prinzipiellen Bereitschaft zur Anerkennung der anerkennenswerten Leistungen verbunden sein, weil hierdurch Selbsterhaltung, Selbstvertrauen und Selbstverwirklichungsstreben des Edukanden bestärkt werden. Da der Lernende sich meistens in dem, was er zu lernen im Begriff ist bzw. gerade gelernt hat, zunächst noch nicht sicher fühlt und auch nicht in der Lage, die eigene Lernleistung richtig einzuschätzen, ist er selbst am Urteil und vor allem natürlich an der Anerkennung seiner Erzieher existentiell interessiert. So ist die Erfahrung des Anerkanntwerdens für das heranwachsende, lernend seine Anlagen entwickelnde Individuum grundlegend, weil sie ihm auf jeder Stufe seines lebensgeschichtlichen Bildungsprozesses die Spiegelung und Bestätigung des erreichten Zustandes im anerkennenden Verhalten für es bedeutungsvoller Anderer (und darunter nicht zuletzt seiner Erzieher) vermittelt und ihm 12 0110 Friedrich Bollnow: Die pädagogische Atmosphäre, Heidelberg 1964, S. 44 ff. 13 Werner Loch: Die Ermunterung, in: Bildung und Erziehung, 18, 1965, S. 401-408; ders.: Pädagogik des Mutes, in: Bildung und Erziehung, 18, 1965, S. 1-15. 14 0110 Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik, Stuttgart 1959, S. 60 ff. 17 FS Görland

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dadurch Rückhalt und Bestärkung für den weiteren Lebensweg und Bildungsgang gibt Obwohl sie auf vergangene Leistungen gerichtet sind, erlangt in den retrospektiv bestärkenden Äußerungen des Erziehers das Vergangene Bedeutung für die Zukunft des Zu-erziehenden. Durch Belohnung, Anerkennung und Lob können vergangene Leistungen Bedeutung als motivierende Kraft künftiger Handlungen gewinnen. Besonders Anerkennung und Lob, als sprachliche Bestärkungen, versehen das Selbstverständnis des Zöglings mit positiven Interpretationen seiner gezeigten Leistungen und darin zum Vorschein kommenden Begabungen. Hierdurch geben sie ihm Grund, sich selbst im Hinblick auf seine Zukunft optimistisch zu konzipieren. Als erzieherische Rede/ormen gewinnen Anerkennung und Lob ihre spezifische pädagogische Bedeutung dadurch, daß sie - direkt oder indirekt das Selbstkonzept des Edukanden ansprechen, indem sie seinen Entwurf von sich selbst bestätigen oder verbessem. 15 Indem sie die Selbsteinschätzung des Erzogen-Werdenden erhöhen, wirken Anerkennung und Lob anspornend auf ihn zurück. Er bemüht sich zu erfüllen, was sein Erzieher sich von ihm versprochen hat. Deshalb setzt die Anerkennung des Erzogenen durch den Erzieher dessen Anerkennung durch den Erzogenen voraus. »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.«16 Wenn die anerkennenden Worte des Erziehers dem Erzogenen glaubhaft bleiben sollen, muß ihm der Erzieher und, wenn er mündig geworden ist, der Erzogene sich selbst Erfolgserlebnisse verschaffen, die den ausgestellten Schecks Deckung geben. Im Unterschied zur zumeist formelhaft ausgesprochenen Anerkennung ist der sprachliche Aufwand des Lobes größer: es will die Leistung zum Leuchten bringen; es ist ein rühmendes Reden mit der Gefahr der Übertreibung; nicht von ungefähr wurde es in der antiken Rhetorik das »genus demonstrativum« genannt. Das Lob ist das retrospektiv bestärkende Erziehungsmittel mit dem größten Darstellungsaufwand: es stellt mit erhebenden Worten zur Schau und bringt dadurch in Schwung. Das Lob beschreibt die Merkmale oder erzählt die Geschichte einer Leistung (z. B. einer vorzüglichen Arbeit oder einer guten Tat) und hebt dabei die darin zum Ausdruck kommenden Qualitäten des gelobten Menschen im Hinblick auf ihre Musterhaftigkeit hervor. Das gepriesene Verhaltensmuster bekommt so einen maßgebenden Zug. Der Gelobte wird im Blick auf sein künftiges Verhalten sich selbst zum Vorbild erhoben. Darin liegt für den Edukanden das oft unangenehm Verpflichtende des erzieherischen 15 Werner Loch: Die Sprache als Instrument der Erziehung, in: Dieter Spanhel (Hrsg.), Schülersprache und Lernprozesse, Düsseldorf 1973, S. 31-48. 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 147.

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Lobes - und für den Erzieher die Verführung, das Lob als Motivationsmittel zu mißbrauchenP Zur Venneidung solcher pädagogischer Entgleisungen sei abschließend noch einmal darauf hingewiesen, daß das Lob eine evaluative Redeform ist, deren primäre Funktion - auch im pädagogischen Bezug - in der auszeichnenden Beurteilung einer erbrachten Leistung liegt Die anspornende Wirkung, die das Lob, wie beschrieben, als sekundäre Funktion haben kann, bleibt auf aktuelle Bestärkung durch Erfolgserlebnisse angewiesen. Wenn ein Lob den Gelobten dazu bewegt, sich stärker als zuvor zu bemühen, wird der dabei erzielte Erfolg der im Lob ausgesprochenen Deutung seines Könnens eine von ihm selbst erfahrene tatsächliche Bestätigung geben. Eine solche Selbsterfahrung - aus eigener Kraft das in einem Lob ausgesprochene Fähigkeitskonzept verwirklicht zu haben - wird nonnalerweise in hohem Maße bestärkend wirken. Die »Bedeutungsintention« des Lobes: die Bestärkung durch Worte, bekommt ihre »Bedeutungserfüllung«: die Bestärkung durch Taten, die der Gelobte im Sinne des Lobes selbst vollbracht hat. ls Wenn die Bemühungen, die in einem Lob ausgesprochenen Erwartungen zu erfüllen, jedoch scheitern, werden diese Mißerfolgserlebnisse nicht nur den Glauben des Edukanden an sich selbst, sondern auch an die Urteilsfähigkeit des Erziehers schwächen, und zwar um so mehr, je häufiger solche Fehlurteile vorkommen. Aus diesen Überlegungen läßt sich die pädagogische Maxime begründen: Das Lob des Erziehers sollte realistisch sein, d. h. nicht übertrieben. Nur dann bewahrt das Lob als Grundfonn pädagogischer Interpretation die ))Erinnerung als das Bedeutung Wirkende« und vennittelt dadurch eine vergangene Leistung als für den Lebenslauf bedeutend, diese ))Bedeutung« als ))Kraft« für den künftigen Werdegang l9 und so ein Selbstverständnis als »Immer-besser-können -Wollen «20.

17 Zur Kritik der pädagogischen Funktion von Anerkennung und Lob vgl. David H. Hargreaves: Interaktion und Erziehung, Wien/Köln/Graz 1976, S. 117 ff.; Wolfgang Memmerl: Die Führung einer Schulklasse, München 1987, S. 60 ff. 18 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, 2. Bd., 2. Teil, The Hague!Boston!Lancaster 1984 (Husserliana, Bd. XIX/2, S. 544-581). 19 Wilhelm Di/lhey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Vll. Bd., Stuttgart/Göttingen 1973, S. 199-204. 20 0110 Friedrich Bollnow: Vom Geist des Übens, Freiburg 1978, S. 31 ff.

Scham Soziopolitologische Gedanken zu einer unsichtbaren Ordnung

Von Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer

»'Schämen Sie sich denn gar nicht?' fragte der Kannibale Herrn Gast, als dieser zauderte, an der angebotenen Mahlzeit teilzunehmen. 'Müssen Sie denn immer unsolidarisch sein und immer tmkonfonnistisch und immer eine Extrawurst haben?' Woraufhin Herr Gast, der es sich nicht verhehlen konnte, daß er sich wirldich ein wenig schämte, zugriff und am Ende sogar 'gesegnete Mahlzeit' wünschte.« Günther Anders l

Orientierung Das Schamgefühl genießt in den modemen westlichen Gesellschaften der Gegenwart eine nur geringe Aufmerksamkeit2, sieht man von pädagogischen Sozialisationsmaßnahmen und -irritationen ab. Günther Anders spricht sogar von einer »Scham über Scham« - als die die Scham aber paradoxerweise »nun ... hektisch zu akkumulieren beginnt«3 - , und Sighard Neckel registriert in seiner materialreichen soziologischen Analyse Status und Scham derzeit geradezu ein »Scham-Tabu«4, womit Scham auch der Sichtbarkeit quasi systematisch entzogen wird. Gleichwohl ist aber, wie ein philosophischer Beobachter soeben notierte, noch »der Erwachsene .. bisweilen quälenden Anfallen einer Scham, über die er sich zugleich erhebt, auf dem erlangten Niveau personaler 1 GünJher Anders: Wurzel der Scham [19601. in: ders., Der Blick vom Tunn. Fabeln, Frankfurt a. M./Wien o. 1., S. 47 (zuerst München 1968). 2 Vgl. AnJhony Giddens: Eine Typologie des Suizids, in: Reiner Welz und Hennann Pohhneier (Hrsg.), Se1bstmordhandlungen. Suizid und Suizidversuch aus interdisziplinärer Sicht, Weinheirn/ Basel, S. 43-63, S. 60. 3 GünJher Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 71, vgl. S. 69 ff. und insbes. S. 28 f. 4 Sighard Necket: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a. M. 1991, S. 178 ff.

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Emanzipation ausgesetzt; es kann sich z. B. um eine im Augenblick oder in der Erinnerung 'siedend heiß' aufsteigende Scham wegen einer unscheinbaren Blöße handeln, die man sich in der Gesellschaft - vielleicht bis zur Lächerlichkeit oder auch nur einem Anflug davon - gegeben hat. Auf die gesellschaftliche Geschliffenheit, solche Blößen immer zu vermeiden, kommt für den personal emanzipierten Erwachsenen nicht unbedingt sehr viel an, und doch kann er sich oft auch dann dem Bann der von da her aufsteigenden Scham nicht ganz entziehen. Zugleich aber steht er darüber, lächelt vielleicht über sich oder schämt sich gar seiner Unterwerfung unter die Autorität einer solchen 'kindlichen' Scham, über die er andererseits hinausgewachsenen ist ... «5. Wovon soll nun die Rede sein, wenn wir das Schamgefühl thematisieren? Von Autorität, Konformität, Inferiorität, Schande, Ehre, Reue, Zorn, sozialer Ungleichheit, Selbstbewußtsein, Emanzipation, Sittlichkeit oder gar Moral? Scham wird in der Literatur der letzten zwei Jahrhunderte bestimmt etwa durch ein ihr zugehöriges elementar-leibliches Betroffensein6 , als aid6s 7, als Gebot ))der unsichtbaren Ordnung der themis«8, als soziales Fühlen sozialer Minderbewertung9 , als ))Empfindung von großer Profanität«, als ))mentales Inventar unserer Sozialisation«lO, als ))Scheidung des Menschen von seinem natürlichen und sinnlichen Sein«!! - oder gar als tiefster und einfachster Ausdruck des Gewissens!2. Selbst die rationale Moralphilosophie Kants kennt das Schamgefühl inmitten der Analytik der 'Kritik der praktischen Vernunft', wenn das rational begründete Sittengesetz in der Erscheinungswelt praktisch werden soll. Triebfeder' hierfür ist zwar die Achtung der Bürgerinnen und Bürger 5 Hermann Schmitz: Der Wlerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S.346f.

6 Vgl. Hermann SchmilZ: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 163. 7 Vgl. Ferdinand Tönnies: Der Tatbestand Gewissen, unveröffentlichtes 43-seitiges Typoskript mit handschriftlichen Zusätzen, in: Tönnies-Nachlaß der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, Kiel, Cb 54.34:55, S. 2. 8 Klaus Peler Koepping: Lachen Wld Leib, Scham Wld Schweigen, Sprache und Spiel, in: Hans Peler Duerr (Hrsg.), Der Wissenschaftler Wld das Irrationale, Bd. I, Frankfurt a. M. 1981, S. 269329, S. 300 f. (ebenfalls in der Neuausgabe in 4 Bänden, 1985, Bd. II, S. 119-152, S. 124). 9 Vgl. We Dur/cJr.eim: Der Selbstmord, Frankfurt a. M. 1983, S. 366 (zuerst 1897); Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studie, in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Ouhein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1983, S. 131139, S. 135 (zuerst 1895). !O Sighard Neclu!l: Status Wld Scham, S. 25. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1970, S. 89. !2 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 81979, S. 132 (ruerst 1887).

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zweier Welten für das Sittengesetz, die unmittelbar aus der Erkenntnis und dem Bewußtsein desselben folge 13 ; obgleich rational verursacht, stellt Kant im zur Demonstration seines Arguments angenommenen Gegenbild in konjunktivischer Redeweise ein aus einem Bewußtsein der Pflichtverletzung resultierendes Gefühl als ein Sich-Schämen-Müssen vor - das somit der negativen Seite im moralischen Gefühl der Achtung entspricht, also der Demütigung der Eigenliebe aus der Erkenntnis und Anerkennung des Sitttengesetzes: Der rechtschaffene Mann (!) wird auch im größten Unglück durch die Gewißheit nachhaltig bestärkt, »daß er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe«14. Wir anerkennen die Kantische Intention der autonomen kognitiven Begründung der Moral, die ihre Autorität nur aus der Vernunft selbst beziehen darf, wenn sie nicht u. U. unter der Hand wieder heteronom begründeten Interessen folgen will und dann eine Waffe ist, die als Moral von 'politischen Moralisten'15, wie es doch bis heute nachdrücklich und häufig geschieht, nur etikettiert wird. Gleichwohl scheint uns mit dem Linkskantianer Adorno hier zumindest ein Tribut an einen psychosomatischen Impuls aufgezeichnet zu sein, ohne den Praxis schlechthin nicht möglich ist. 16 Diese Vielfalt der Auffassungsweisen zeigt die Komplexität der Sache an, der dieser kurze Beitrag nicht gerecht werden kann, für die er aber einige Betrachtungsweisen anbieten will. Wie Georg Simmel seine knappe, populäre Darstellung der Scham damit beginnt, auf eine völlig heterogene »Mannigfaltigkeit der Veranlassungen« des Schamgefühls hinzuweisen, die von »leichter Derangierung des Anzugs« bis zum »Eingeständnis schwerster sittlicher Verfehlung« reichen 17 , so bieten auch uns die Gegenstände und Anlässe der 13 Wie Lewis White Beck treffend bemerkt, wurde im Unterschied zur 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' die »Zuweisung der Triebfedern an die sinnliche Seite unserer Natur ... wieder fallen« geltssen. - Lewis While Beck: Kants 'Kritik der praktischen Vernunft'. Ein Kommentar, München 1975, S. 204; vgl. Immanuel Kanl: Grundlegung zur Metaphysik der Sitt~, (zuerst 1785), in: ders., Werkausgabe, Bd. vrr, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1980, S. 1-102, S. 97ff, BA 122ff. 141mmanuel Kanl: Kritik der praktischen Vernu~t, (zuerst 1788), in: ders., Werkausgabe, Bd. 1980, S. 105-302, S. 211, A 157. 15 Vgl. Immanuel Kanl: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, (zuerst 1795), in: ders., Werkausgabe, Bd. XI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 191-251, S. 233, B 76, A 71. 16 Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1975 (zuerst 1966), z. B. S. 229,274 f., 281, 253, 262; Carslen Schlüur: Adomos Kritik der apologetischen Vernunft, Bd. 1: Der Fortschritt des Selbst zur Selbstlosigkeit, Zweiter Teil, Würzburg 1987. 17 Georg Simmel: Zur Psychologie der Scham, in: ders., Schriften zur So~ologie. Eine Auswahl, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1986, S. 140-150, S. 140 (zuerst 1901).

vrr, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M.

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Scham ein schwer aufzugliederndes Ensemble, in dem sich zudem moralische mit ganz sozialen Anlässen der Scham angelegentlich durchdringen, was durch das Wort soziomoralisch nur unzulänglich erhellt wird. Zudem lassen sich die Gründe, weshalb sich die Menschen in moralischer Hinsicht schämen müßten (und es z. B. angesichts von täglich ca. 40.()()() verhungernden oder an durch Hunger verursachten Krankheiten sterbenden kleinen Vernunftwesen: Menschenkindern doch kaum je tun), moralphilosophisch systematisch begründen; die in diesem Sinne universalistische Moral kann aber nicht anders ausgedrückt werden als durch sozialisierte Menschenwesen, deren Gefühlsmodellierung prinzipiell phylogenetischen und sozialen Prozessen mit überantwortet bleibt - gegen die u. U. die Vernunfteinsicht ein kritisches Potential bietet - , und deren reale moralische und soziale Äußerungen (somit auch Gefühle 18) universalistische Einsichten immer kontextualisieren, womit uns wieder das in Reflexionen über Scham offenbar unabweisliche Spannungsverhältnis einholt, das Kant mit seinen Triebfederkonstruktionen so aporetisch zu lösen suchte. 19

Scham und Beschämung Angesichts des Millionenheers der in der Bundesrepublik derzeit Langzeitarbeitslosen und der attachierten Modemisierungsverlierer - deren ))soziale Mangellage« nach einer aktuellen Studie ))zU einem Element der Sozialstruktur« derart geronnen ist, daß sich heute mit Fug, je nach Erhebungsmethode, zwar noch nicht von einer Zwei-Drittel-Gesellschaft', aber immerhin von einer ))80-90 %-Gesellschaft«20 begründet sprechen läßt - ist die häufig geäußerte Vennutung naheliegend, daß individuelle Zuschreibungsmuster2 1 und eine sich 18 »Gefühle der Verpflichtung wie Scham oder Schuld [stehen] in einer internen Beziehung rur sozialen Welt.« -JÜTgen Habermas: Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a. M. 1981, S. 138. 19 Weswegen Kant übrigens seine GrundJeglUlg mit der gemeinen siulichen Vernunfterkenntnis beginnt (und womit die ihm im Zusammenhang des Versuchs einer Rehabilitierung der praktischen Vernunft vorgewodene naturalistic fallacy eine gänzlich andere Kontur gewinnt, jedenfalls keine defizitäre!). 20 Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur sozialstrukturellen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland, Opladen 1992, S. 181 ff. 21 Individuelle Zuschreibungsmuster lassen sich in diesem Fall für unsere Zwecke grob in zumindest zwei Gruppen teilen: Die Arbeitslosen, die sich schämen, weil sie ihre Freiheit, Edolg haben zu können, nicht nutzen konnten und deshalb beschämt dastehen; und die Arbeitslosen, die nach ihrem Selbstverständnis nicht genug für das Kollektiv, für das Ganze leisten und sich folglich schämen. Während erstere sich vor ihrem Ideal nicht bewähren konnten, schämen letztere sich wohl weniger wegen ihrer vermeintlichen Defizite im Konkurren7kampf, sondern eher davor, in ihrer Sicht nicht gerechtfertigte Leistungen beanspruchen zu sollen. Obwohl angesichts des 'melting pots' der Gefühle derartige Distinktionen immer künstlich anmuten - und auch künstlich sind: nämlich analytisch - , müssen wir diese Unterscheidung vornehmen, wenn wir nicht unter der Hand ganz Gegenläufiges dem Bild des modemen rationalen Individuums zuschlagen und dieses, abgelöst vom

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damit verbindende 'Sozialscham' manifest dazu beitragen, diesen anhaltenden und sich verschärfenden Prozessen sozialer Desintegration einen politischen Ausdruck zu entziehen; und somit würde Scham erheblich zur politischen Stabilität der zweiten deutschen Demokratie gehiJren. Ein Vergleich mit den politischen Reaktionen vieler von Arbeitslosigkeit Betroffener in der Weimarer Republik könnte die Grenze solcher Scham markieren helfen: Nackte, nicht mehr kaschierbare Not Gegenwärtig dürfte das Absinken von über 10 % der derzeitigen bundesrepublikanischen Bevölkerung unter die relative Armutsschwelle im Unterschied zur Weimarer Republik keine Gefahr für das reine physische Überleben darstellen, so daß Scham soziale Anomie und politische Auseinandersetzungen noch abdämpfen kann. Es gibt nun ein mindestens zweifach kompliziertes Gemenge solcher Sozialscham mit moralischer Schamlosigkeit in derselben Bundesrepublik, die einerseits in der demokratischen Legitimation von Politiken durch eine Mehrheit von Wahlberechtigten besteht, die anhaltend eine große Minderheit von Mitbürgern in sozial aussichtslose Lagen bringt - und der Exekution solcher Politiken - , wobei auch die letztere Gruppe andererseits als Teil der Gesamtbevölkerung ebenfalls eine Teilmenge abgibt mit den moralisch schamlosen billigenden Schweigern zu fremdenfeindlichen Hetzjagden, zu Terror und Morden. Im ersten Halbjahr 1993 verzeichnet das Bundeskriminalamt 3365 fremdenfeindliche Delikte. Wandschmierereien nicht eingerechnet, kommt das Bundesamt für Verfassungsschutz für den gleichen Zeitraum zu 1180 schweren kriminellen Gewalttaten, davon sind 245 Brand- oder Sprengstoffanschläge und 7 Morde, mit vermutetem oder erwiesenem rechtsextremen Hintergrund. 22 Ebendiese Schamlosigkeit evozierte wiederum die Bekundung einer moralischen Scham, die sich als politische Manifestation artikuliert. Als Antithese zur ethnisch-politischen Demonstration »Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu

erkenntnisleitenden Zweck, einfach für real nehmen wollen. Wir unterscheiden also auch bei individuellen Zuschreibungen, die - weil sie dem Einzelwesen eigentümlich sind - neuzeitliche Züge haben, ein eher gesellschaftliches und ein eher gemeinschaftliches Muster. Daß im obigen Beispiel individuelle Zuschreibungsmuster ganz offenbar vorliegen, muß also nicht heißen, daß allein eine Perspektive für die Analyse von Scham angemessen wäre, nach der die Scham primär resultiert aus der Position des Unterliegens, das wesentlich als persönliches Scheitern im offenen Konkurrenzkampf, in dem eben jeder seines Glückes Schmied sei oder auch nicht, erkannt und akzeptiert wird (dazu vgl. Sighard Nech/: Status und Scham, S. 146 ff. und insbes. S. 170 ff.). Die These von der zweiten Individualisierung besagt auch keineswegs, daß diese bruchlos durchgeführt isL hn Hinblick auf den affektuellen, emotionalen Bereich mögen sozial und historisch 'ältere' Gefühle sich zudem mit neueren individuellen Zuschreibungsmustern und damit verbundenen Gefühlen überlappen! 22 »Gewalt gegen Ausländer mehr als verdoppelt« 49 Jg., Nr. 173,30. Juli 1993, S. 2.

DPA-Meldung. in: Süddeutsche Zeitung,

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sein«23 wurden Transparente gefertigt und getragen mit der Aufschrift: »Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein«. Hier wird die Äußerung moralischer Scham - eine Art intellektueller Errötung - , unterstellen wir ihre Authentizität, als eine Scham tür das politische Kollektiv vorgetragen, dem die SichSchämenden angehören. Ihre Scham weist also über die Sphäre der ich-Monaden wieder hinaus und ist Bestandteil einer mit den Schamverursachern geteilten Situation.24 Die Paradoxien der Artikulation dieser Scham25 könnten sich wohl auch auf das Unvermögen der Sich-Schämenden beziehen, durch ihre politische Präsenz eine Lage zu garantieren, in der diese Gewaltakte nicht möglich sind, der primäre Sinn der Manifestation ist aber offenbar, das moralisch Beschämende der Situation ins Bewußtsein zu heben und die Schamlosen durch die Artikulation in einer Sprache, die ihre Sprache geschickt aufnimmt (»Ich bin stolz, ... «), zu beschämen sowie den Einwohnern der Bundesrepublik insgesamt das Beschämende der Situation, die sie überwiegend schweigend oder inaktiv mit zu verantworten haben, ins Bewußtsein zu rufen. Diese moralische Beschämung kehrt tendenziell die ebenso tendenzielle Ausrichtung der oben angeführten Sozialscham um: Fühlen sich Arbeitslose wegen ihrer vermeintlichen DefIzite im Konkurrenzkampf vor dem Kollektiv beschämt oder schämen sie sich gar wegen ihres mangelnden Beitrags zur wirtschaftlichen Gesamtleistung, so wird nun das schambekennende Individuum zum Ankläger des Kollektivs und gestattet sich eine historisch seltene politische und soziale Freiheit, die zu gewährleisten im übrigen eine der Hauptaufgaben der Demokratie ist Das Bekenntnis wirkt durch seine Imponierung von Verletztlichkeit und moralischer Sensibilität in einer Lage der Gewalt zugleich verwirrend, verstörend, was Nachdenklichkeit provozieren kann, vielleicht aber mit seinem Emotivismus etc. an dem Vielen zur zweiten Natur gewordenen coolen Habitus vorbeigeht, in deren Selbstdarstellung moralische und soziale Schamlosigkeit zum aufgeklärten Kalkül des kompetitiven Egoisten zu gehören hat26 - eine Haltung, die sachlich durch viele Institutionen und durch die von ihnen gene-

23 Siehe dazu Sighmd Neckei: Status und Scham, S. 168 ff. 24 Vgl. zu diesem Phänomen auch die Darstellung von Hermann Schmitz: »Scham ist eine Atmosphäre, und ihre Autorität erweist sich ... an der Ausstrahlung auf Beteiligte, die nicht die primär Betroffenen sind«, in: ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 335, vgJ. 336, S. 383 ff.; Georg Sinrmel: Zur Psychologie der Scham, S. 148; Sighard Neckei: Status und Scham, S. 98 f. 25 Vgl. hierzu z. B. Klaus Lebe-Herlwsl: Möglicher, aber fiktiver Antwortbrief von Husemann Junior an Husemann Senior, in: Erziehung und Wissenschaft, 1993, Heft 7/8, S. 43 [zu Friedrich W. Husemann: Brief an einen Zehnjährigen, in: Erziehung und Wissenschaft, 1993, Heft 6, S. 40]. 26 Vgl. Carslen SchlÜler / Lars Clausen: Einleitung - Anfragen bei »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, in: dies. (Hrsg.), Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme, Berlin 1990, S. 9-16, S. 10.

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rierten Zwänge in modemen westlichen Industriegesellschaften gestützt wird, etwa durch »institutionelle Vorgaben, die an der Oberfläche neutral sind, de facta aber das Familienleben erschweren« wie Anforderungen der partikularen Rationalität des Arbeitsmarktes, die »Imperative der Berufsarbeit« etc. 27 Es spricht auf der Ebene der 'vormaligen Sichtbarkeit' der Scham also viel dafür, daß Scham als sogenannte falsche ScharrJ28 vereinnahmt und halb aufgeklärt zugunsten von gar keiner Scham des Konsumenten und homo oeconomicus wegrationalisiert bzw. instrumentalisiert nutzbar gemacht wurde - ganz im Widerspruch zur historischen Grundlegung des bürgerlichen Tugenddiskurses, aber im Einklang mit dem von Max Weber analysierten Schicksal des protestantischen Geistes, wobei doch »das Verdikt über die Gefühle .. in der Formalisierung der Vernunft schon eingeschlossen« war, wie Horkheimer und Adorno resÜffiieren. 29 Das elementare Gefühl Scham hat so insgesamt wohl das Flair des Rückständigen und Überholten erlangt und vermag deutlich nur noch in Teilen zwar sozial randständig oder im Rahmen einer Virtuosen-Moral sich zu artikulieren, aber es ist noch nicht eliminiert und steigt vielleicht immer wieder 'siedend heiß' aus eigener Kraft in das Wissen und Gewissen. Die Verhaltensmuster früherer Kulturstufen durchdringen nach wie vor das soziale Leben, und Gefühle haben weiterhin an sozialer Geschichte teil,30 die oben geschilderten Situationen fordern aber eine Abwehr »dissolutiver Tendenzen des modemen Individualisierungs- und Rationalisierungsprozesses sowohl auf philosophischer als auch auf soziopolitischer Ebene«31.

27 V gl. die schlagende Polemik von Elisabelh Bec/c-Gernsheim: Das individualistische Mißverständnis in der Individualisierungsdebatte, in: Heiner Meulemann und Agnes Elting-Camus (fIng.), 26. Deutscher Soziologentag. Lebensverhältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa. Sektionen, Arbeits- und Ad-hoc-Gruppen, Opladen 1993, S. 107-109, S. 109. 28 Hier ist nicht die 'falsche' Scham gemeint, von der Sartre bei der Empfmdung des Gefühls Abwesenheit eines anderen spricht Vgl. lean-Paw SarIre: Das Sein und das Nichts, Reinbek 1985, S. 366 (zuerst 1943).

trolZ

29 Ma:c Horlc.heimer I Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1977, S. 83 (zuerst 1944).

30 Während die amerikanische Soziologie seit ca. 20 Jahren systematische Ansätze m einer Soziologie der Emotionen entwickelt, »verhält sich die deutschsprachige Soziologie auch weiterhin dem Thema Emotionen gegenüber abstinent« - lÜTgen Gerhards: Soziologie der Emotionen. Ein literaturbericht, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1986,38. Jg., S. 760771, S. 760; vgl. auch Gerd Kahle (fIng.): Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle, Frankfurt a. M. 1981. 31 Rolf Fechner I Carslen Schliüer-Knauer: Tönnies' Begründung einer 'Ersten Soziologie' als Beitrag zur Selbstaufklärung der Aufklärung, 1. Teil, in: Tönnies-Forum, 1993,2. Jg., Heft I, S.5568,S. 56.

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Scham und Nutzen Am Beispiel der Scham soll nun gezeigt werden, wie »die Rückwendung

auf ein Selbst«32 Konsequenzen für die soziale Ordnung und ein in der gesellschaftlichen Realität häufig nur hypostasiertes moralisch autonomes Subjekt hat,33 das kraft seiner Vernunft seine Zwecke selbst setzen kann und nach Gewinn strebt und Verlust zu vermeiden trachtet. Das Streben nach Gewinn »bewirkt, nicht mit Notwendigkeit, aber mit grosser Wahrscheinlichkeit, Gleichgültigkeit gegen Qualitäten der Mittel«34 Und deswegen wird auch bei der Rückwendung auf das Selbst und beim Auftauchen von Scham gefragt, ob und inwieweit beides lohnend ist - und wie die Fragen beantwortet werden, gibt tiefen Aufschluß über den Zustand der sozialen Befindlichkeit. Deutlich ist uns jedenfalls, daß ein häufig als ursprünglich angesehenes Gefühl wie Scham in der modemen Gesellschaft überwiegend in einer befremdlichen Art und Weise erscheint. Die Authentizität und Autorität dieses Gefühls ist damit unter den veränderten sozialen Bedingungen weitgehend fraglich geworden_ Die Konzeptionen Georg Simmels und Norbert Elias', die darauf verweisen, daß das Gefühl mit der Individualisierung gleichsam individuell modelliert wird und hier erst seine Konjunktur erlangt35 , koppeln das Schamgefühl zugleich an Genese und Schicksal des Individuums_ Wenn Adorno von »der Schwächung des Ichs durch eine vergesellschaftete Gesellschaft«36 spricht, wäre dies auch ein Hinweis darauf, warum trotz der Plausibilität der Theoreme Simmels und Elias' - der Koppelung der Rationalisierung an die Gefühlsdiffe32 Max SeMler: Über Scham und Schamgefühl, in: ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, Bem 1957, S. 65-154, S. 78. 33 So charakterisiert Tönnies denn auch den modemen Menschen, der im Händler seinen Ausdruck findet, der in niemandens Auftrage handelt und weiß was er will, der als Subjekt seines Kürwillens seine Zwecke setzt und die Mittel abwägt »so weit möglich mit ausschliesslicher Rücksicht auf die Zweckmässigkeit dieser Mittel, ohne Rücksicht auf ihre sonstige Beschaffenheit, also auch ungeachtet etwanigen, ausgesprochenen Widerwillens, folglich etwaniger Gewissensbedenken ... dagegen. Diese 'Skrupel' müssen (so denkt was 'aufs Ganze geht') überwunden werden, düden nicht Steine des Anstosses sein ... Das Gewissen wird so in der Regel nur schwach oder gamicht sich regen, wenn das Untemonunene, Gewagte, gelingt, gelungen ist: die etwanigen Selbstvorwürfe verschwinden noch leichter als die Vorwürfe anderer vor dem Edolg; vor dem Genuss, dem Glanz, vor der Schmeichelei und Herrlichkeit, die er mit sich bringt.« - Ferdinand Tönnies: Der Tatbestand Gewissen, S. 20. Hiermit stellt Tönnies die Entschämungs- und Rechtfertigungsstrategien des modemen Gesellschaftsmenschen treffend dar.

34 Ferdinand TÖMies:

Der Tatbestand Gewissen, S. 19.

35 Vgl. Norber/ Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische

Untersuchungenl!2. Bd.: Wandlungen der GesellschafL Entwud zu einer Theorie der Zivilisation Frankfurt a. M. 1982, S. 398 ff. (gegen Elias resümiert die Reichhaltigkeit und Differenziertheit von Scham in alten Gesellschaften HaIE Pe/er Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit Wld Scham, Frankfurt a. M. 1968); vgl. ferner Georg Simmel: Psychologie der Scham. 36 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 279.

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renzierung - die Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft keineswegs zu den schamhafteren Wesen der Menschheitsgeschichte gehören. 37 Auch wenn sich die Anlässe der Scham nur geändert haben sollten - etwa in Hinblick auf die gegenwärtige Akzeptanz von Nacktheit oder außerehelicher Sexualität - , werden ältere kollektive Bedeutungen des Schamgefühls - nämlich von seinem Platz verrückt zu sein38 - , die sich heute in der Scham der Arbeitslosen und Sozialhilfeanspruchsberechtigten auch noch ausdrücken mögen, politisch und sozial in den Dienst genommen. Letztlich ist eine paradigmatische - zugespitzte - Gestalt der Entwicklung des Schamgefühls in 'modem times' in der Skizzierung der Scham durch die negative Konstellation in Sartres frühem Werk Das Sein und Nichts eingefangen, das Scham im Fokus von Machtkalkillen thematisiert und mit dieser Restriktion zugleich auch eine These über die Scham in der Modeme vertritt 39 Inwieweit Gewissen und Scham überholte Atavismen aus alter resp. frühmoderner Zeit sind, muß gerade dann gefragt werden, wenn das Gefühl der Scham Gefahr läuft, durch das des Verlustes mit der Empfindungsqualität regret dominiert oder ersetzt zu werden. 40 Hieran 37 Die wachsende Anzahl von Organisatoren und Konsumenten der medialen Schlachtfeste, genannt seien hier Extreme: horne-videos mit Kleinkinder-Vergewaltigungen und 'snuff-movies', gibt einen Hinweis auf das nunmehr erreichte Niveau der Modellierung von Affekthaushalten. 38 In der antiken griechischen Mythologie zieht die Göttin Themis die Grenze für das Handeln der Menschen und weist jedem seinen Platz zu; wer diesen verläßt, ist segregiert, was in Mangelgesellschaften bekanntlich das baldige individuelle Ende signalisiert. - Vgl. H. Vos: 8EMIl:, Assen 1956 (Bibliotheca Classica Vangorcumiana, Bd. VII), S. 30. 39 Die 'Kritik der dialektischen Vernunft' gelangt dann aber zu einer u. E. regulativen Utopie der Gemeinschaftsbildung als der subjektbezogenen Aktionslogik der Bildung von Einzelnen zur Gruppe - gegen ein Verbleiben der entfremdeten und sich gegenseitig verdinglichenden Subjekte in ihnen äußerlichen Kollektiven - , die die realistische Fassung des Sartreschen Frühwerks komplementiert. Vgi. Ingtraud Görland: Die konkrete Freiheit des Individuums bei Hegel und Sartre, Frankfurt a. M. 1978, S. 6, S. 38 ff.; lean PauJ Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. 1: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek 1967, etwa S. 405 f., S. 464. 40 Wir entleihen bei lohn Rawls, sicher gegen seine Intention, für den Zweck dieser den gegenwärtigen Menschen u. E. sehr entgegenkommenden Annahme den Begriff Regret. Diese »Empfindung triu beim Verlust fast jeder Art von Gut auf, etwa wenn man etwas unüberlegt oder versehentlich getan hat, was einem selbst Schaden gebracht hat. Hier stehen verpaßte Gelegenheiten und vertane Mittel im Vordergrund.« -lohn Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 482 (merst 1971). Rawls unterscheidet nun regret etwa wegen des möglichen Fehlens des Selbstwertgefühls von der Scham als einer »Empfindung, die durch Beeinträchtigungen unserer Selbstachtung ... geweckt wird.« Selbstachtung ist für Rawls ein zentrales Gut innerhalb seiner Theorie des Guten. Insofern gehört Scham wegen Beinträchtigung der Selbstachtung ebenfalls hier hinein. Die schwache Theorie des Guten ist durchaus vereinbar mit den Kalkulationen des seine egozentrierten Pläne verfolgenden Individuums, das nur aus der Logik seiner Kalküle unter gewissen restriktiven Annahmen - die Rawls unter dem Namen Urzustand heuristisch zusammenfaßt zu einer Vereinbarung über Grundsätze der Gerechtigkeit gelangt Hier erst setzt die vollständige Theorie des Guten ein, von der die des Rechten ihren Ausgang nimmt. Moralische Scham und Schuldgefühl gehören hier hin. Im Rahmen seiner politischen Theorie der Gerechtigkeit hat das Schamgefühl bei Rawls also einen wohlbestimmten Platz, sowohl systematisch als auch im Rahmen der Erörterung der Menschenbildung und ihrer Voraussetmngen im Rahmen seiner Zielbestimmung auf der Grundlage einer Stufentheorie der Moralentwicklung.

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knüpft sich unsere These: daß sich der Gehalt des Schamgefühls tendenziell so den in der Konkurrenzgesellschaft erforderlichen Funktionsweisen des rationalisierten Kleinbetriebs namens Individuum anpaßt, daß ein den subjektiven Kalkülen näherer Name aus der ökonomischen Bilanzierungskunst die Sache wohl besser bezeichnet Verlust resp. regret. Eine veränderte Konstruktion von Sozialscham hingegen, die sich an das Theorem der zweiten Individualisierung heftet, bietet Sighard NeckeIs kritische Theorie der Scham als Bilanzierung von jeweiligen Anerkennungsverhältnissen.41 Durch die Scham, dem Leitbild eines selbständigen Individuums nicht genügen zu können und sich dies selber als Versagen zuschreiben zu müssen, würden heute die sozialen Unterschiede mitsamt ihrer Ungleichverteilung von Ressourcen perpetuiert und deren Akzeptanz erzeugt So ist Scham gefühlte Minderwertigkeit durch internalisierte NichtAnerkennung, und externe Beschämung tut ein übriges. Mithilfe der Kategorien Zweck und Mittel und anhand eines ausgewählten Bestandes von Theorien soll deshalb noch versucht werden, Wandlungen in den theoretischen Konzeptionen von Scham vorzustellen. Dabei wollen wir, um mit Robert K. Merton42 zu sprechen, zwecks weiterer Orientierung also, auf die Schultern von Riesen steigen und die hier schon eingeführten Autoren Tönnies, Simmel und den frühen Sartre in erneutem Anlauf präzisierend bemühen. Zweck: Die Scham und der Wesenwille Während Ferdinand Tönnies die kürwillige Freiheit in ihrem höchsten Ausdruck als Bewußtheit versteht, nämlich sich »nicht nach blinden und dummen Gefühlen, sondern allein nach deutlich begriffenen Gründen seine Handlungen einzurichten«, offenbart sich ihm der höchste Ausdruck der Gemeinschaft, das Gewissen, als ))unbedingterweise gültige Autorität, welche immer recht hat, 41 Vgl. Sighard Neckei: Status und Scham. Nach Neckel gehört gerade eine verschwiegene Persistenz zu der heutigen Charakteristik des Schamgefühls, das sich auf das als individuell begriffene und verantwortete Verlaufs schicksal der personalen Biographien fokussiere und auch als uneingestandene Sozialscham zur Aufrechterhaltung der sozialen Distanzen beitrage, was gerade, wenn diese ein komplexeres hnage und eine vielfältigere Struktur haben, zur sozialen Kontrolle erforderlich und insofern heute keineswegs irrelevant sei. Ob aber die Sozialscham sich nicht einerseits selbst wenn sie als Modus der SozialintegratiOll der mit David Riesman wieder eher außengeleiteten Einzelwesen zur Herstellung von Konformität Bedeutung hat - an älteren Schamverständnissen orientiert und weniger an dem Habitus der Yuppie-Moden?, und die affektiven Bilanzrechnungen der kalkulierenden Konkurrenten mit dem Begriff Scham andererseits wirklich angemessen zu fassen sind?, diese Anfragen wollen wir vorbringen. Siehe zur Sozialintegration und Konformität David Riesman, Reuel Denney und Nalhan Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, übers. von Renate Rausch, Hamburg 1977 (zuerst 1958); vgl. Sighard Neckei: Status und Scham, S. 199 ff. 42 Siehe Robert K. Merlon: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, übersetzt von Roland Kaiser, Frankfurt a. M. 1989 (zuerst 1980).

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immer recht behält43«. Diese Autorität, an der ein Handelnder sich wie an einer Norm auszurichten scheint, drückt sich am einfachsten und tiefsten als Scham44 aus. Scham transzendiert die Grenzen der eigenen Freiheit45 , erstreckt sich auf »alles unbescheidene, unmäßige, schrankenlose Tun und Reden«46. Scham ist nun für Tönnies stets »eine Kraft des Wesenwillens, welche zurückhält, verwehrt, wozu andere Antriebe drängen möchten«47. In der Scham erscheint das Gewissen als eine Manifestation des individuellen Willens »in seiner historisch frühen Phase, als ausgebildete, an die Religion gebundene 'Moralität' in seiner späten Phase«48. Dabei ist Scham aber »nicht fremder Wille«, sondern »eine Gestaltung des eigenen Wesenwillens, welche mit dem gemeinschaftlichen Willen übereinstimmt, gegen eine Gestaltung desselben Wesenwillens, oder gegen den Kürwillen, der in eine andere Richtung strebt«49. Scham hat als autonome Gestalt des Selbst doppelten Charakter: einerseits »die mit Schmerz empfundene eigene Mißbilligung und die der Genossen, oder die Furcht davor, gleich jeder Furcht ein vorausgefühlter Schmerz«, und andererseits »die ursprüngliche und auch die ausgebildete Idee der Moralität«50 selbst Scham ist damit einerseits »eine Verminderung der eigenen Kraft, ist empfundene Ohnmacht, Geringheit«, Verletzung und Besudelung der Ehre, die »als Realität empfunden und gedacht«51 wird. In diesem Sinne ist Scham die erlebte Erfahrung eigener und sozialer Mißachtung und selbsterlebter Ehrlosigkeit aufgrund einer erfolgten Handlung, der der Handelnde und die übrigen Mitglieder seiner Gemeinschaft nicht zustimmen können; einer Handlung also, die nicht gebilligt und verstanden werden kann, weil sie nicht in der Tradition gesitteten, üblichen Handeins steht. Andererseits ist Scham nicht nur Folge praktischer Übung und tatsächliche Reaktion auf eine Normenverletzung, son43 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 132; vgl. ders.: Der Tatbestand Gewissen, S. 24: >>das Gewissen wird gedacht als beruhend in der Kenntnis des Guten und Bösen wenngleich es im einzelnen irren möge, so sei doch in der Regel eine Gewissheit vorhanden und diese sei in hohem Grade den Menschen gemeinsam, um so mehr je mehr sie ethisch denken gelernt, dh. die Bedeutung und Bedeutsamkeit ihrer Handlungen und Handlungsweisen, also auch ihrer Denkweisen erkannt, kennen gelernt haben.« 44 Vgl. F erdinand T önnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 132. 45 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 132. 46 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 133. 47 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 132. 48 Harm-Peer Zimmermann: Sitte und Konvention. Ferdinand Tönnies' Version einer DichOlomie von Oberlebenslogik und Herrschaftslogik (feil 1), in: Zeitschrift für Volkskunde, 1992,88. Jg., I, S. 67-99, S. 93. 49 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 133. 50 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 133. 51 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 133.

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dem Ausdruck des sozialen Willens selbst, indem das Individuum zeigt, daß es »Anteil hat an dem Guten«52. Dieses natürliche Verstehen 53 dessen was gut ist, obwohl dieses Verstehen in der schamauslösenden Situation ignoriert wurde, kann potentiellen oder tatsächlichen Mitwissem54 - und das »Bedürfnis sich mitzuteilen, das auszusprechen was man weiss oder doch zu wissen meint, ist in den meisten Menschen, zumal weiblichen stark«55 - nicht mittels Gedanken ausreichend mitgeteilt werden und bedarf der Unterstützung durch natürliche Zeichen, so z. B. hier bei der Scham dem Erröten. 56 Dieser soziale Wille geht dem Urteil und der bloßen Meinung voraus57 , gilt also bereits, wo die Norm Geltung nur fordert. 58 Denn der Wille ist für Tönnies 52 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 133.

53 »Verstehen ist selbst eine Art des Willens. ist der Wille der Anerkennung. der Annahme, d. h.

Aneignung, und so wird gemeinsames Verstehen einem gemeinsamen Besitze ähnlich. Durch das Verstehen wird also aus dem individualen ein sozialer Wille« - Ferdinand Tönnies: Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht, Leipzig 1906, S. 6 f. Damit sind die Anerkennungsverhältnisse, überhaupt die Bejahung, und d. h. die Intersubjektivität von Anerkennung als ein Grund für die Möglichkeit des Sozialen bestimmt. 54 Wie Ferdinand Tönnies etymologisch analysiert, weist das Wort Gewissen nicht auf einen Bewu&seinsaspekt hin, sondern »dass im individualen Bewusstsein selber eine Mitwisserschaft enthalten« ist. - Ferdinand Tönnies: Der Tatbestand Gewissen, S. I. 55 Ferdinand Tönnies: Der Tatbestand Gewissen, S. 3. 56 »Alles Wissen ist, wie das psychische Dasein überhaupt, seinem Wesen nach geheim, es ist unmittelbar ein ausschliessliches Eigentum ... Das Leidgefühl der Scham beruht nicht in erster Linie auf der Furcht vor dem Mitwissen, wohl aber auf dem Wunsche, bei gewissen intimen Tätigkeiten ... nicht gesehen zu werden: daher heisst die Scham bei den Griechen Aid6s, das Wort enthält die Hinweisung auf den Wunsch des Nicht-gesehen-werdens.« - Ferdinand Tönnies: Der Tatbestand Gewissen, S. 2. In der Gesellschaft dagegen, die von der ÖffenJlichen Meinung dominiert wird, kann Nicht-gesehen-werden, Nicht-wahrgenommen-werden teuer zu stehen kommen; Scham wäre dann tatsächlich völlig fehl am Platz. In Törulies' umfangreichem Werk KritiJc der öffentlichen Meinung (Berlin 1922) tauchen Wörter wie Scham, Schamgefühl, Schamlosigkeit oder schämen dann auch kaum noch auf (siehe S. 40, 58,181,346,445,449,476,513,561). Vgl. dazu die Stellung der Scham in den Triebfederkonstruktionen der praktischen Vernunft Kants (s.o.). 57 Vgl. Ferdinand Tönnies: Die Sitte, Frankfurt a. M. 1909, S. 75. 58 Tönnies, der Altphilologie studiert haue, orientierte sich offensichtlich am griechischen Begriff Themis, der nicht nur die Rechtsordnung, sondern auch die soziale Ordnung und die Naturordnung bezeichnete und umfassende und ontische Realität besaß. Thernis ist das, »was einem seinem Wesen nach zukommt, aber bedeutet auch, was einer seinem Wesen nach tut und tun soll ... ist die natürliche und selbstverständliche Lebenshaltung«. - H. Vos: 9EMIl:, S. 30. Die interessante Verschiebung von »nicht-normaJiven Aufträgen der Götter in der nias« zu »normativen Richtlinien für das Handeln«, also zu allgemeingültigen Geboten und Gesetzen für das soziale und politische leben in der Odyssee spiegelt das Nachdenken der Menschen des antiken Griechenlands über das rechte Handeln und das Infragestellen der geltenden Ordnung als »'ein über die Menschen stehendes Objektives, von dessen eigentlich subjektivem Charakter man sich noch nicht Rechenschaft gegeben hat'.« - Siehe H. Vos: 9EMIE, S. 20 ff., S. 24 - hier zitierend: F. Heinimann: Nomos und Physis, in: Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft, Basel 1945, S. 62, 63 Anm. 15 - und S. 49: Themis »bezeichnete für Hesiod«, dem Rechtsdenker, »das alte archaische Recht. Die Herrschaft des Zeus ist bei Hesiod die Herrschaft der Dike«. Beachte auch die BedeutungsverschiebWlg von Nomos als Struktur der Seins weise zu Nomos als sittlicher Regel. Daß in der griechischen Mythologie die Horen, die Töchter der Themis und Göttinnen der Regelmäßigkeit in der Natur sind, bei Hesiod identisch werden mit Eunomia, Dike und Eirene als Göttinnen des

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das grundlegende Vennögen, während die Vernunft nur spezifische Modifikation dieses Vennögens istS9 Die individuellen Qualitäten des Willens nennt Tönnies Naturell, welches in Reaktion auf Außenreize das Verhalten steuert Das Naturell differenziert sich für ihn als Gesinnung, Gemüt und Gewissen. 60 In der Gemeinschaft fungiert nach Tönnies das Gewissen als »die höchste Stufe des Sich-Innewerdens der Verpflichtung gegenüber der Erhaltung des Sozialverbandes«61, der für seine Dauer und seinen Zusammenhalt die Einheit des Differenten gewährleisten muß: »Mit anderen Worten: auch beim sozialen Zusammenhalt sind die einzelnen Kräfte letztlich 'Erfüllungshilfen' zum Bestand des Ganzen. Zwar steht dem Denken die kritische Frage, d. h. die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, durchaus offen, nur ist die dabei anzurufende Vernunft als solche vorgeprägt Denn sie repräsentiert, eingedenk ihrer Herkunft, ausschließlich die Prinzipien des Organischen, und ihre höchste Erscheinung ist das 'Gewissen', mithin die Instanz, die über die Entsprechung der Willenskräfte gegenüber dem Ganzen wacht. Der der Vernunft offenstehende Reflexionshorizont fmdet seine Grenze in der Gestaltung sowie der Variation der zum Bestand des Ganzen notwendigen, und in diesem Sinne funktionalen Leistungen. Die Bestimmung dessen, woran sich die Funktionalität der Leistungen selbst bemißt, ist der Vernunft dagegen entzogen.«62

In seiner Kritik an Georg Jellineks Theorem der nonnativen Kraft des Faktischen' differenziert Tönnies die »Macht der sozialen Gewohnheit«, die ihre ))nonnative Kraft nicht nur aus dem Gegenwärtigen, sondern weit mehr aus

Rechts, weist auf das entwickelte Legitimationsbedürfnis für die geltende 'gerechte' Herrschaft des Zeus hin. 59 Vgl. Ferdinand Tönnies: Einführung in die Soziologie, Stuugart 1981, S. 6: »Ich betrachte vielmehr die Entwickelung des Wesenwillens in den drei Stufen, von denen die des überwiegend durch Denken bestimmten Wollens die höchste und vollendete ist«. Siehe dazu näher Manfred Wallher: Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies und in der Sozialphilosophie des 17. Jahrhunderts oder: Von Althusius über Hobbes zu Spinoza - und l1Irück, in: Lars aausen I Carsten Schlüter (Hrsg.), Hundert Jahre »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, S.83-106, S. 90. 60 Ferdinand Tönnies: Einführung in die Soziologie, S. 7: » ... das gewissenhafte Handeln vereinigt in sich das Handeln aus der Gesinnung und aus dem Gemüte, schließt aber außerdem die Ideen der Selbstbeurteilung und Selbstbilligung oder Mißbilligung ein, die Ideen des forum inlernum, woraus Kanl den epochemachenden Begriff des kategorischen Imperativs gebildet hat, der etwas in seiner Vollendung darstellen soll, was in jeder Gewissensregung, in jedem guten wie bösen Gewissen, jeder Gewissensruhe, wie jedem Gewissensbiß sich äußert, wenngleich es seinem Inhalte nach sehr verschieden ist, je nachdem, was eben ein Mensch weiß und denkt, also was er für 'gut' und für 'böse' hält.« 61 Peler-Ulrich Merz-Benz: Das Werden der Sozialwelt aus dem Allzusammenhang der natürlichen Lebenserhaltung. Die Tönniessche Variante einer emanatistischen Erkenntnistheorie, in: »Ausdauer, Geduld und Ruhe«. Aspekte und Quellen der Tönnies-Forschung, hrsg. von Lars aausen und Carsten Schlüter unter Mitarbeit von RoIf Fechner, Hamburg 1991, S. 31-48, S. 42. 62 Peler-Ulrich Merz-Benz: Die Entstehung der sozialen Gemeinschaft als Entnaturisierung der Natur- ein Aspekt der Begriffstheorie von Ferdinand Tönnies, in: Carsten Schlüter I Lars aausen (Hrsg.), Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme, Berlin 1990, S. 47-63, S.62. 18 FS Görland

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dem Vergangenen« bezieht, von der »Nötigung des Gefühles«63 und betont dann gegen Rudolf von Jhering, >)(jaß es für die Gefühle der Menschen regelmäßig einen großen Unterschied macht, ob sie mit ihresgleichen oder mit Ungleichen verkehren«64. Erst »die übereinstimmende Billigung« macht ein gewisses Verhalten »zur mehr oder weniger unverbrüchlichen Regel«, verbietet oder ahndet anderes Verhalten.65 Damit wird deutlich, daß Tönnies in Verbindung mit der Scham nicht von ideellen Maßstäben spricht, an denen sich das wirkliche Verhalten zu messen und entsprechend zu reagieren habe und deren Wert und Geltung unabhängig von der Befolgung gedacht werden, sondern von der Praxis des sozialen Willens, von den geltenden Anschauungen dessen, was anständig, schicklich, höflich u. dgl. ist66 : »Nicht nach ihren Gegenständen, sondern nach den Gesichtspunkten, unter denen sie betrachtet werden, unterscheiden wir Sitte und Sittlichkeit. Der Unterschied kann in einem kurzen Satze ausgedrückt werden: 'Sitte ist Tatsache, Sittlichkeit ist Idee'. Darum wird Sitte als die eines Volkes oder Landes gedacht, Sittlichkeit als etwas allgemein Menschliches. Es ist Sitte, aber Sittlichkeit verlangt. Wir sagen zwar auch 'Sitte gebietet', aber damit ist die Meinung verbunden, daß es in der Regel wirklich geschehe, ja diese Bedeutung ist die vorwaltende, und Sitte als Wille mußte uns erst daraus erschlossen werden; die Moral dagegen wird gedacht als Forderungen stellend, strengere oder laxere Ge- und Verbote erlassend, die aber allzuoft nicht erfüllt werden, die ihre Geltung behaupten, auch wenn sie nicht einmal erkannt und anerkannt werden. Den Unterschied von Sitte und Sittlichkeit vergleiche ich mit dem Unterschiede von Geld und Kredit; und ihr Gemeinsames wird zugleich dadurch beleuchtet. Auch Geld enthält ja, wenn es gezahlt wird, eine Forderung in sich, sei es die Forderung, daß Ware gegeben oder daß Quittung geleistet werde. Die Obligation aber ist ihrem Wesen nach Forderung; und so ist die Moral nicht eben selten ein Wechsel, der nicht honoriert wird. Und doch sind auch Geld und Kredit einander so nahe verwandt, daß es nicht wenige Vermittlungen und Übergänge zwischen ihnen gibt; ein guter Wechsel ist wie bar Geld, und unsere Kassenscheine zirkulieren als Geld, obschon sie nichts als Forderungen an eine Bank (.. ) bedeuten. Ebenso sind Sitte und Sittlichkeit nicht nur Namensvettern. sondern echte Vettern, ja sie verhalten sich zuweilen wie Geschwister zueinander.«67 63 Ferdinand Tönnies: Einführung in die Soziologie, S. 247 f.; siehe auch Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 349,388. 64 Ferdinand Tönnies: Einführung in die Soziologie, S. 248. 65 Ferdinand Tönnies: Einführung in die Soziologie, S. 248 (Hervorhebung von den Verfassern).

66 Vgl. Ferdinand Tönn~s: Die Sitte, S. 70; ferner H. Vos: 8EMIl:, S. 28. 67 Ferdinand Tönnies: Die Sitte, S. 42 f. Klaus Frerichs hat bereits ausgeführt, wie Tönnies »die subjektive und die objektive Natur der Sitte« zusammengedacht haben wollte: »Sitte ist Norm und sozialer Wille, sofern sie Tat-Sache isL Subjekt der Sitte ist die Gemeinschaft, deren Mitglieder sich in der Tat nach dem richten, was üblich ist, und darin sich wechselseitig bestätigen. Die Handelnden behaupten sich als Mitglieder einer Gemeinschaft, indem sie das Übliche zu tun pflegen. Das Übliche aber erweist sich als das Übliche allein in der Nachfolge derer, die vor uns gehandelt haben, und in der Bestätigung resp. Berichtigung durch jene, die nach uns handeln. Was Sitte ist, entscheidet und entwickelt sich nur in dem, was - so Tönnies - übereinstimmende Billigung fmdet. Für diesen Bestimmungsversuch ist charakteristisch, daß er ohne den Regel-Begriff, auch ohne den Begriff einer 'impliziten Regel', auskommt. Er verwendet als Grundbegriffe vielmehr: 'tatsächliche Übung' ('das Übliche'), 'Sich-Richten-nach' und 'Bestätigung resp. Berichtigung'. Dabei ist, dies sei

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Erstarrt diese Tatsache, diese tatsächliche Übung, jedoch und wird konventionell, dann wird der Paradigmen wechsel im kürwilligen Einsatz seine Opfer fmden: »wenn nur auf dem Markte ein jeder nach der Maxime handeln will, daß Ehrlichkeit die beste Politik sei, so kann es wohl gleichgültig sein, ob er ehrliche Gesinnungen hege, und wenn nur im Salon einer auf artige, demütige, verbindliche Weise sich benimmt, so genügt das, und nur Unerfahrene weigern sich, solches Papiergeld anzunehmen, obgleich es wirklich durch Konvention den gleichen Wert mit barer Münze erhalten hat«68. So wird im sozialen Prozeß auch dem Schamlosesten die Aussage »Ich schäme mich ... « zur Währung im sozialen 'Zahlungsverkehr', die den Wechselkursen entsprechend eingelöst werden kann. Soziale Anpassung, sozialer Widerstand und soziale Kompetenz überhaupt lassen sich entsprechend billig oder, je nach Kurs und Situation, teuerer, aber immer möglichst effektiv - demonstrieren und begründen; das Erröten erscheint gleichsam als Forderung. Was gut ist, wird seinesgleichen gegenüber ausgehandelt. Ungleichen gegenüber durchzusetzen versucht - eine gewußte und gebilligte Tatsache erhebt sich zur Norm und verlangt Autorität, deren Stärke und Dauer ebenfalls zu regeln oder zu behaupten sind. Dieser an Tönnies' Werk gewonnene Schambegriff faßt Scham im Kontext einer eigenständigen Werthaltung, die zugleich Lebensweise und als solche Zweck ist Scham steht damit der sozialen Wirklichkeit nicht gegenüber, ist kein anzustrebender Wert oder bloßes Mittel zur sozialen Kontrolle. Wenn sinnvoll von Scham als in diesem Zusammenhang 'alter Scham' gesprochen werden soll, dann kann Tönnies für eine solche 'Kollektivscham' gute Hinweise geben, die wir nun benutzt haben, um einen Wandel in der Sicht auf das Schamgefühl verständlich zu machen.

im Vorgriff gesagt, weder das Sich·Richten-nach als richtige Deutung, noch die Bestätigung als zu-

stimmendes Urteil zu verstehen. Sitte behauptet sich in der Bestätigung derer, die sich nach dem richten, was üblich ist. Das Übliche ist jedoch keine selbständige Größe außerhalb dieser Stuktur, kein Gegenstand, auf den der Handelnde sich beziehen oder an dem die übrigen Mitglieder das Handeln messen könnten. Was üblich ist, entscheidet sich ja allerdings im Handeln derer, die sich danach richten und darin bestätigt werden. Die so verstandene Sitte nimmt eine eigentümliche Mittelposition ein zwischen der Regelhaftigkeit von Naturprozessen und der Befolgung einer Regel, die als Maßstab, als Richtschnur des Handelns dienL Nur weil dies so ist, kann ein objektivierender Beobachter 'Regelmäßigkeiten des Verhaltens' feststellen.« - Klaus Frerichs: Sitte, Gesetz und Bedeutung. Eine semiotisch-logische Denkfigur bei Ferdinand Tönnies und Ludwig Wittgenstein, in: Lars Gausen I Carsten Schlüter (Hrsg.), Hundert Jahre »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, S. 267-285, S. 270 ff. 68 Ferdinand TönllÜs: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 133 f. Beachte zum Vergleich der ehrlichen Gesinnung mit barer Münze und des Papiergeldes mit Ehrlichkeit als beste Politik die Ausführungen von H. Walter Schmilz: Sind Worte für bare Münze zu nehmen? Ferdinand Tönnies über Geld als Zeichen und Zeichen als Werte, in: Kodiaks I Code. Ars Semeiotica, 1986, vol. 9, no. 1/2, S. 137-154.

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Mittel I: Die Scham und die Betonung des Ich Georg Simmel integriert dagegen die Konzeption der Scham insgesamt lediglich in eine Analyse sozialer Konkurrenz: »eine Art von Schamgefühl hindert uns im unmittelbaren Antagonismus manchmal, unsere Energien ganz vorhaltlos zu entfalten, alle unsre Karten aufzudecken, in einem Kampf, in dem Persönlichkeit gegen Persönlichkeit steht, das Ganze der unseren einzusetzen.«69 In der exponierten und diskrimierten Situation »fühlt man das eigene Ich in der Aufmerksamkeit anderer hervorgehoben und zugleich, daß diese Hervorhebung mit der Verletzung irgendeiner Norm (sachlichen, sittlichen, konventionellen, personalen) verbunden ist«70. Abhängig vom Individualitätsniveau des handelnden Subjekts wird ))der gefühlte Gegensatz unserer Subjektivität gegen eine Norm«71 als Scham erlebt. Derartiges deviantes Verhalten ermöglicht anderen Menschen Rückschlüsse sowohl auf einzelne Kompetenzen wie auch auf die gesamte Identität eines Individuums; erst letztere läßt das ))Manko gegenüber der vollständigen und normativen Idee seiner selbst«72 als Scham fühlbar werden. » Wenn die Betonung des Ich die eigentliche Voraussetzung alles Beschämtseins ist, so bedarf es dazu eines FÜTsichseins, einer Selbständigkeit dieses Ich. Die tiefe Alternative, die das Leben nach allen Richtungen hin erfüllt: ob das Individuwn der Teil eines Ganzen oder selbst ein Ganzes ist - muß entschieden sein, wenn es zum Schamgefühl kommen soll. Nur das ganz selbständige, für sich verantwortliche Ich gibt den Rahmen ab, innerhalb dessen nun die Betonung und die Herabsetzung seiner selbst in jene charakteristische Reibung miteinander treten können.«73

Die durch Dritte bewirkte negative Selbsteinschätzung soll einerseits die persönliche Identität durch die erlebte Nicht-Identität in der Scham situation regenerieren und somit die Rede vom kontingenten Charakter ermöglichen.14 Sie soll aber andererseits gültige Verhaltensnormen reetablieren und zur Konformität gegenüber diesen gültigen Normen auffordern. 75 69 Georg Simnui/: Soziologie der Konkurrenz, in: ders., Schriften zur ~ziologie. Eine Auswahl, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1986, S. 173-193, S. 192 (zuerst 1903).

70 Georg Simnui/: Zur Psychologie der Scham, S. 141.

71 Georg Simnuil: Zur Psychologie der Scham, S. 141. 72 Georg Simnuil: Zur Psychologie der Scham, S. 142. 73 Georg Simnuil: Zur Psychologie der Scham, S. 147. 74 Siehe auch Georg Simnuil: Das individuelle Gesetz, in: ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. von Michael Landmann, Frankfurt a. M. 1987, S. 191. 75 Sehr schön resümiert Sighard Neckel die Simmelsche Konzeption: )Als emotionale Folge von Interaktionen entsteht das Schamgefühl aus den besonderen Eigenschaften bestimmter sozialer Wechselwirlc.ungen heraus. Diese sind fundamental durch die Verletzung einer Norm charakterisiert, die vom Individuum als persönlich vemindlich internalisiert worden ist, so daß der Normbruch als defizitäre Verwirklichung des eigenen Ich-Ideals interpretiert werden kann. Zur Scham

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Während für die Gruppe, in der der Einzelne verschwindet, ein Mangel an Schamgefühl bezeichnend ist76 , ennöglichen die »Schranken zwischen den Ichs«77 die Reibung mit der Idee des nonnalen und des nonnierenden Ich. Das aktive Individuum wird in diesem Spannungsverhältnis als wesentliche Bestimmung seiner individuellen Existenz versuchen, eben diese seine Individualität zu bewahren und zu stärken - oder aber im Konkurrenzkampf schüchtern und enttäuscht werden. 78 Das Vorrücken von Scham und Beschämungen kann, wo es um Gewinn und Verlust geht, nicht verwundern, ebensowenig die Bemühungen, tatsächliche und künftige Interaktionsmacht anderer zu reduzieren. Der Wechsel von Scham als Zweck zur Scham als Mittel ist vollzogen und der soziologischen Analyse anheimgestellt. Mittel 11: Die Scham und der Blick Die Profanität einer existentiellen Empfindung wie Scham wandelt sich in der Theorie des frühen Sartre und wird - zugespitzt - in der Konzeption des Sozialen als Geständnis79 zur Schlüsselszene des reflexiven cogito. In Sartres Ontologie der Intersubjektivität in Das Sein und das Nichts, die die Bedingung der Möglichkeit einer intersubjektiven Begegnung zwischen Subjekten untersucht, provoziert die Scham subjektive Reaktionen, die als Defizite objektivierender Entgegnungen das tragische Schicksal sozialer Interaktionen aufzeigen. Ausgehend von der Frage, })wie jenes in einem Zustand präreflexiver Bewußtveranlaßt der Normbruch inuner dann, wenn entweder fremde oder - ... - eigene Erwartungen an das Verhalten enttäuscht und einem diese Enttäuschung von anderen oder/und einem selbst als ursächlich zugerechnet werden kaM .... Scham basiert also auf der faktischen wie 'normativen Anwesenheit' Dritter, wobei aufgrund des menschlichen Vermögens zur Rollenübernahme die nonnative Präsenz der Dritten sich auch nur im Individuum allein zu repräsentieren braucht, um ... ein Schamgefühl auslösen zu kÖMen .... Für die Entstehung von Schamgefühlen prädisponiert sind daher besonders solche Interaktionen, in denen die Beteiligten bestimmte Elemente der interagierenden Persönlichkeiten schon unterstellen und daher die Typisierung der beschämten Person Ansatzpunkte in ihrem 'eigentlich' erwartbaren Verhalten fmden kann.« - Sighard NeckeI: Status und Scham, S. 104 f.

76 Vgl. Georg Simmel: Zur Psychologie der Scham, S. 147. 77 Georg Simmel: Zur Psychologie der Scham, S. 146.

78 »Eine Rudimentärerscheinung der Scham ist die Schüchternheit, die in der Herabdrückung des Ichbewußtseins vennittels einer Betonung, der es sich nicht gewachsen fühlt, entsteht. Es handelt sich hier aber nicht um ein Werturteil, um das Gegenhalten gegen eine Norm, wie bei der Scham, sondern um ein rein dynamisches Verhältnis: die Seele kann die andringenden Vorstellungen und Gefühle, die durch die Zumutungen oder die Aufmerksamkeit anderer in ihr angeregt werden, nicht bewältigen, d. h. nicht unter dem zentralen Bewußtsein des Ich organisieren; daher die Verwirrung, die hier nur einem Mangel an Kraft oder innerer Organisationsfähigkeit entspringt« - Georg Simmel: Zur Psychologie der Scham, S. 145, FN. 79 Jeafl-Paw SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 348.

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heit sich bewegende Subjekt überhaupt ein Bewußtsein seiner selbst erlangen kann ... , entwickelt Sartre eine Logik des notwendigen Mißlingens der zwischenmenschlichen Interaktion«80. Im Erblicktwerden durch den anderen wird das Subjekt auf einen einzigen Handlungsentwurf hin fixiert und zum »Gegenstand von Wertungen«81 anderer. Dies bedeutet für das Subjekt, letztlich nur das zu sein, was es für den Anderen ist, d. h. den Tod der eigenen Möglichkeiten82. Die Freiheit des Ichs wird in der beschämenden Situation reduziert. Fixiert als Objekt eines Anderen 83 , übernimmt das Individuum die fremde Selbstbeschreibung und erkennt sich darin wieder. 84 Im Konflikt der Intersubjektivität wird der Andere zum »unerreichbaren Subjekt«85, das dem Subjekt den Status eines Objekts zuweist und selbst der Reziprozität »einer negativen Dynamik«86 anheimfällt. »Im Schamgefühl, dessen Gegenstand mein eigenes Tun ist«, resümiert Sighard Neckel diese Position, ))schäme ich mich dessen, was ich bin - und ich bin das, was der Andere im Moment des Erblicktwerdens von mir gesehen hat Ich erkenne das Urteil des Anderen in der Scham an, weil dieses Urteil nur zum Ausdruck bringt, wie ich selbst in der Situation desjenigen, der einen Anderen erblickt, geurteilt hätte. «87 Das ursprüngliche Gefühl, das eigene ))Sein draußen zu haben«88, indem die Komplexität der eigenen Persönlichkeit durch den Blick des Anderen auf ein Für-Andere-Sein reduziert wird, bedeutet für das Subjekt das Erleben der unendlichen Freiheit des Anderen. Die Anwesenheit dieses Anderen, der sich in einer situational vorteilhaften Situation befindet, ermöglicht eine Deutung des eigenen Selbstverständnisses, die dem Ich-Ideal der Autonomie widerspricht: ))die Bemächtigung eines Subjekts gleicht seiner Beschämung«89. In dieser 80 AMI Honnelh: Kampf wn Anerkennung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität, in: Traugou König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongreß, Reinbek 1988, S. 73-83, S. 75 f.

81 Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 356. 82 Vgl. Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 352. 83 »Diese Frau, die ich auf mich zukommen sehe, dieser Mann, der auf der Straße vorübergeht,

dieser Bettler, den ich vor meinem Fenster singen höre, sind für mich ObjekJe, daran besteht kein Zweifel.« - Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 338.

84 Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 381. 85 Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 384. 86 AMI Honnelh: Kampf um Anerkennung, S. 76.

87 Sighard Neckei: Status und Scham, S. 29 88 Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 381. 89 Sighard Neckei: Status und Scham, S. 35. Vgl. Sartre: »Denn die Leute, die ich sehe, lasse ich zu Objekten erstarren, ich bin in bezug auf sie wie ein Anderer in bezug auf mich; indem ich sie

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»unvenneidlichen Negativität zwischenmenschlicher Beziehungen«90, in der Ego und Alter einander unerreichbare Subjekte sind, die sich gegenseitig den Status eines Objektes zuweisen, hat ein »wechselseitiges Handeln in Freiheit keinen Platz«91, »dringt die skeptische, ja negativistische Annahme, daß intersubjektive Beziehungen gewissennaßen von Haus aus zum Scheitern verurteilt sind, ... allmählich als eine lebensweltIiche Hintergrundüberzeugung in immer mehr soziale Gruppen unserer Gesellschaft ein«92. Axel Honneths Kritik an der fehlenden Ausstattung der Sartreschen Subjekte mit persönlicher Identität und an ihrer »unentwegte(n) Offenheit«93 zielt gegen Sartre auf das Konzept des Kampfes um wechselseitige Anerkennung statt des Kampfes »um die Erhaltung der puren Transzendenz des Fürsich«, »also die Möglichkeit einer persönlichen Identitätsfindung«94. Dieses »gesellschaftliche« Subjekt Sartres, wie es Ferdinand Tönnies bezeichnen würde, wird geprägt durch sein Sich-Entwerfen, durch Freiheit. Freiheit bedeutet zwischen absoluter Bindungslosigkeit und libertt engage95 sich verantworten zu müssen, ohne ens causa sui zu werden,96 mithin nur Bewußtheit der Lebensansicht. Kooperative Tätigkeiten »welche aus einer apriori und notwendigerweise vorhandenen Einheit abgeleitet werden können«, finden nicht statt, sondern jeder ist hier für sich allein und »im Zustande der Spannung gegen alle übrigen«97. Aus der Innenperspektive des Bewußtseins eines derartigen Individuums, »das in seinem existentiellen Entwürfen stets schon über sich hinaus ist und also nie mit sich übereinstimmt«98, ist Kooperation hier nur äußerlich als Fiktion eines gemeinsam vorgestellten Zweckes, deren Reziprozität in Das Sein und das ansehe, ennesse ich meine Macht. Aber wenn ein Anderer sie und mich ansieht, verliert mein Blick seine Kraft ... «. -Jean-PauJ Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 354. 90 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 73. 91 Alfred Schütz: Sartres Theorie des Alter Ego, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. I,: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 207-234, S. 234. 92 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 74. 93 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 81 94 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. SO, vgl. S. 77. 95 Vgl. Jean-PauJ Sartre: Les chemins de la Iiberte, Paris 1945-1949 (d!.: Die Wege zur Freiheit, 1949-1951). 96 Siehe dazu auch Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jeanf.aul Sartres L'~tre etle Neant, (zuent 1948), in: den., Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt a. M. 1968, S. 4684, S. 55 ff. 97 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 34: »Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleibend trotz aller Verbundenheiten.«. 98 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 75.

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Nichts noch im Horizont der gegenseitigen Verdinglichung bleibt. Die Kooperation als tragender Grund menschlichen Seins ist für das Handeln des gesellschaftlichen Menschen so lediglich Ermöglichungsgrund. 99 Sartres Intersubjektivitätsanalyse muß deshalb sogar den Nachweis erbringen, »daß die soziale Welt aus den Beziehungen sich wechselseitig verdinglichender Subjekte zusammengesetzt ist«l00, denn seine Untersuchung radikalisiert und verabsolutiert die von Tönnies beschriebene tendenziell solipsistische Position des Menschen der »Gesellschaft«, indem der kontraktuellen Transaktion zwischen den Subjekten der »Gesellschaft« der gemeinsame einheitliche Wille entzogen wird, so daß der »/nhalt des fingierten Sozialwillens«l0l ersetzt wird durch die Situation des Erblicktwerdens. Die Optik-Metapher ist von vornherein distanzierend - sie prolongiert zudem eine von der Differenz Außen-Innen lebende Ontologie. In dieser Situation des Erblicktwerdens durch einen Anderen ist die Voraussetzung gegeben für die Erlangung des Selbstbewußtseins. Das Sartresche Selbstbewußtsein bedarf zwar der Intersubjektivität, da »die Fähigkeit des Sich-selbst-Bewußtseins«102 nur derart passiverwerbbar ist, nicht jedoch der sozialen »Resultante aus zwei divergierenden Einzelwillen, die sich in einem Punkte schneiden«103. Im »Mikrokosmos«l04 des intentionalen Bewußtseins muß )>>die Gefahr der Vergegenständlichung, die im Gefühl der Scham oder der Furcht sich eröffnet«, negiert werden, indem »gewissermaßen die Verdinglichungsrichtung der Interaktionsbeziehung«los umgekehrt wird. So bleibt als Grundverhältnis zwischen sich aufeinander beziehenden Subjekten nur der Konflikt. Wo Tönnies von Autorität sprach, erscheint im Verständnis Sartres »das Soziale generell als Universum objektivierender und reobjektivierender Machtstrategien, für die es keine anderen Regeln gibt als die der Erlangung situationaler Vorteile. Scheinbar konturlos sind die Machtressourcen bei jedem einzelnen gleich verteilt, Macht und Scham sind sozial amorph, da sie unter die gleiche ontologische Idee subsumiert werden können«.l06 Herbert Marcuse hat in seiner ideologiekritischen Analyse das Subjekt der Sartreschen Philosophie 99 Siehe dazu Roll Fechner I Carslen SchlÜler-KnalUlr: Tönnies' Begründung einer »Ersten Soziologie«.

100 Axel Honnelh: Kampf um Anerkennung, S. 76.

101 Ferdinand Tönnüs: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 35.

102 Axel Honnelh: Kampfurn Anerkennung, S. 75.

103 Ferdinand Tönnüs: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 39.

104 Jean-PauJ SarIre: Das Sein und das Nichts, S. 359. lOS Axel HOnMlh: Kampfurn Anerkennung, S. 76. 106 Sighard Neckei: Status und Scham, S. 36.

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»in einem eisernen Zirkel von Enttäuschung und Mißerfolg«l07 verortet und »die Entfremdung meiner Welt und meiner Freiheit durch den Anderen, als die Unterordnung des 'Für-sich' unter die genormten Techniken des Alltags, als die Auswechselbarkeit des Individuums«lo8 bezeichnet: »In der Philosophie Sartres ist dieses Subjekt [das in einer absurden Welt der Demütigung und des Scheiterns seine letzte Zuflucht im 'Für-sich' sucht - Verf.] noch mit all dem Prunk ausgestattet, den die sich entwickelnde individualistische Gesellschaft einmal verlieh. Das 'Für-sich' erscheint mit den Attributen absoluter Autonomie, ewigen Besitzes und ewiger Aneignung (genauso wie der Andere als derjenige erscheint, der meine Welt ursurpiert, sich aneignet und sie taxiert, als der 'Dieb' meiner Möglichkeiten). Hinter der nihilistischen Sprache des Existentialismus verbirgt sich die Ideologie der freien Konkurrenz, der freien Initiative und der für jeden gleichen Chance. Jedermann kann seine Situation 'transzendieren', seinen eigenen Entwurf ausführen: jedermann hat seine absolut freie Wahl. Wie ungünstig die Bedingungen auch sein mögen, der Mensch muß sie hinnehmen und aus dem Zwang seine Selbstverwirklichung machen. Jedermann ist Herr seines Schicksals.«I09

Perspektiven Autorität und Kalkül stehen uns damit paradigmatisch für zwei Sichtweisen auf das Schamgefühl, denen in Analysen von Scham in der Modeme differenziert Rechnung getragen werden muß. Der Gedanke an Scham als Ausdruck einer unsichtbaren Ordnung kann durch derart unterscheidende Analysen (wie am Beispiel individueller Zuschreibungsmuster hervorgehoben wurde) einen Erklärungswert gewinnen, der etwas zur Bestimmung der politisch-moralischen Beanspruchung von Scham in der Gegenwart beitragen und somit eine Seite ihrer Realität, die in einer Verallgemeinerung des Kalküls zur alleinigen Realität unterzugehen droht, erhellen kann. In der Scham erscheint eine Ordnung, die nicht normativ ist, nicht in einem Regelwerk verzeichnet wurde, sondern im Verborgenen existiert und nur mit geneigtem, verschämtem Blick erfaßt werden kann.ll° Letzterer Teilnehmerperspektive beim unfreiwilligen Entbergen des Verborgenen steht nun eine Beobachterperspektive gegenüber, die diese Ordnung, gleichsam ihres Wesens entkleidet, analysiert, nutzt und zu verbessern trachtet Diesem quasi pornographischen Blick entgeht dann - um im Bild zu bleiben - in der Regel jedwede Erotik: der soziale Grund der Scham ist damit stets prekär.

107 Herbert MarellSe: Existentialismus, S. 50. 108 Herbtrt MarellSe: Existentialismus, S. 67.

109 Herbtrt MarellSe: Existentialismus, S. 66. 110 Aid6s wird treffend ja auch als Scheu übersetzl; vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 135: ,.Scheu vor dem Nackten, Offenbaren, Bekannten«; und ders.: Der Tatbestand Gewissen, S. 4: ,.das Wort enthält die Hinweisung auf den Wunsch des Nicht-gesehen-werdens.«.

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Es bliebe zu leisten: Mit bzw_ gegen Sartre der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Überganges von der abstrakten Freiheit der entfremdeten und sich gegenseitig verdinglichenden kompetetiven Individuen zur konkret individuellen Freiheit der Gruppe nachzugehen; auf Parallelen zur Wiederbegründung der Ordnung der Gemeinschaft zu weisen, die »als kooperative Basis für jede Sozialform unvermeidlich und unverzichtbar ist« 111 , während die Umstellung noch der letzten gemeinschaftlichen Impulse der menschlichen Beziehungen, also etwa der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, zwischen Nachbarn und Freunden auf - einerseits - die geld- und marktvermittelte und - andererseits - auch auf die macht- und rechtsförmige 'gesellschaftliche' Steuerung dieser Beziehungen alles Soziale überhaupt gefahrdet. ll2 Eine politisch-soziale 'Rückgewinnung' der Scham etwa in Hinblick auf ökologische Orientierungen (Scham ob exzessiven energieverbrauchenden Luxuskonsums, Beteiligung an einer Vergrößerung des Ozonlochs durch übermäßige Benutzung des Automobils etc.) scheint uns nur im Kontext einer Argumentation ohne Rückfalle in vormoderne und antipluralistische Gebärden, die politisch gefährliche Postulate sind, sinnvoll zu sein.

111 Ralf Fuhner / Carslen SchIiiJer-KNllUr: Tönnies' Begründung einer »Ersten Soziologie«, S.66. 112 Vgl. Ralf Fechner / Carslen SchIiiJer-Knauer: Tönnies' Begründung einer »Ersten Soziologie«, S. 66 f.

Abenteuer des Verstehens Ingtraud Görland als akademische Lehrerin

Von Detlef Brandenburg

Die Schaubilder an der Tafel- merkwürdig: Aber wenn ich an all die Vorlesungen zurückdenke, die ich Semester für Semester gehört habe bei Ingtraud Görland, dann fallen mir zuallererst diese Tafelbilder ein. Die Zeitlichkeit des Daseins in weißen Kreidestrichen auf zwei schwarzgrünen Quadratmetern. Oder Fichtes Ich tief verschlungen in ein Gewirr aus Pfeilen vom Nicht-Ich her und zum Nicht-Ich hin. Und wenn wir dann das Wirrwarr folgsam, aber auch ein wenig erheitert zu unseren Akten nahmen, dann konnte sich bisweilen auch Ingtraud Görland ein dezentes Kichern nicht mehr ganz verkneifen, trat zurück, warf noch einen amüsiert resignierten Seitenblick auf die didaktische Malerei, zuckte ein wenig die Schultern und kehrte zum Pult zurück, um mit Worten zu vollenden, was sich partout ins Bild nicht bannen lassen wollte. Nein: Tafelbilder waren ihre Sache nicht damals in jenen Vorlesungen, die ich miterlebt habe. Und vermutlich hat sie's bis heute nicht gelernt Denn Bilder sollen ja vereinfachen, sollen anschaulich machen. Philosophie aber ist nun einmal keine einfache Sache, und besonders anschaulich ist sie meistens auch nicht. Das wußte Ingtraud Görland nur zu gut. Und so malte sie ihre Botschaft an die Tafel in der Hoffnung, der didaktischen Pflicht damit Genüge zu tun, obwohl ihr der Glaube fehlte, daß es der Wahrheit diene. Und ich habe während meines Studiums durchaus Dozenten kennengelernt, die viel bessere Bilder malen und viel einprägsamere Merksätze formulieren konnten als Ingtraud Görland. Kants transzendentale Deduktion kam einem dann manchmal furchtbar einfach vor und Heideggers Daseins-Hermeneutik geradezu lächerlich. Damit lebte man gut, solange man es mit der Lektüre der Texte nicht allzu genau nahm und sich brav darauf beschränkte, das herauszulesen, was an der Tafel gestanden hatte. Stieg man aber wirklich ein ins Verstehen und ins Nachdenken, dann konnte es einem passieren, daß man vor einem solchen Text

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plötzlich wie der Ochs vonn Berge stand, weil die Sache selbst viel verwickelter war als die handlichen Seminarfonneln und die schönen Schaubilder. Nun war es natürlich nicht so, daß Ingtraud Görland ihren Studenten solche Erfahrungen der Fremdheit und Rätselhaftigkeit gegenüber philosophischen Texten ersparte. Das wahrlich nicht Aber sie ersparte uns die illusion des leichten Verstehens, bewahrte uns vor den wohlfeilen Vereinfachungen. Wir haben oft wie jener Ochs vonn Text gestanden. Aber da stand Ingtraud Görland dann bei uns und erzählte uns nicht, daß das alles im Grunde ganz einfach ist und gar nicht so schlimm, sondern sie ließ uns spüren, wie schwierig das auch für sie selbst ist. Da ist sie ohne alle Eingeweihten-Eitelkeit, das Imponiergehabe der Allwissenden ist ihre Sache nie gewesen. Zusammen haben wir dann an solchen Texten geknackt, manchmal schon arg mühsam, manchmal auch vergeblich. Trotzdem: Dieser Weg führte auf lange Sicht weitaus sicherer zum Ziel als die fürsorglichen pädagogischen Abkürzungen - vorausgesetzt, die Sicht reichte länger als bis zum nächsten Prüfungstennin. Mich hat es jedenfalls mitunter weit mehr Mühe gekostet, bei der Lektüre des Originals irreführende SimplifIzierungen wieder rückgängig zu machen, als komplexe Argumente genuin zu verstehen. Ingtraud Görland als Lehrerin: Wer bei ihr studierte, der mußte die Anstrengung des Begriffs ertragen, mußte sich der Kompliziertheit philosophischer Argumentation ungeschützt aussetzen, die nun einmal zum gemeinsamen Nachdenken über letzte Dinge gehört In Hinsicht auf Prüfungen war das natürlich ganz schön unpraktisch, und für Einsteiger war die Schwelle ganz schön hoch. Ihre Proseminare unterschieden sich im begrifflichen Niveau ja kaum von den Hauptseminaren, und ich habe die nervenzerfetzende Vorbereitung auf mein Examen, ehrlich gesagt, bis heute nicht in der allerbesten Erinnerung. In der mündlichen Prüfung schickte sie mich dann auf eine Tour de force durch Descartes' Erkenntnistheorie, daß mir Hören und Sehen, aber, Gott sein Dank, nicht das Reden verging, und als alles überstanden war, da war Ingtraud Görland, so schien es mir, mindestens ebenso erleichtert wie ich selbst. So war das damals bei ihr, und es ist vennutlich bis heute nicht anders geworden: In der Sache gab's keine Kompromisse, und eine Prüfung war noch lange kein Grund, den angesprochenen Fragen nicht restlos auf den Grund zu gehen. Im übrigen wünschte sie dem Prüfling selbstredend von Herzen alles Gute. Ich habe kaum sonst irgendwo Seminare erlebt, wo mit einer derartigen Inständigkeit um den sprachlichen Ausdruck für einen Gedankengang gerungen wurde. Da gab es wunderbare Mißverständnisse, die Ingtraud Görland mit unnachahmlichem Humor parierte. Und es gab da wunderbare Verständnisse, die

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nicht auf dem Austausch konfektionierter begrifflicher Schablonen beruhten, sondern die in der Spontaneität des hier und jetzt sich ereignenden Diskurses wurzelten. In diesem Sinne ist die Hermeneutik wahrlich ihr Metier: Nicht nur als Fachgebiet, in dem sie sich auskennt, schon gar nicht als Dogma, sondern vor allem als Methode des Forschens, als praktizierte Philosophie. Was Hermeneutik ist, das erfuhr man in ihren Seminaren jedenfalls viel unmittelbarer, als man es aus den Büchern Diltheys, Heideggers oder Gadamers lernen konnte. Der Vorgriff der Vollkommenheit: Daß man ein zu Verstehendes nicht schon im Vorwege auf das bereits Bekannte, das schon immer Verbürgte reduzieren darf, daß man den Wahrheitsanspruch einer Rede zunächst einmal ernst zu nehmen hat, das war der Seminarleiterin Ingtraud Görland eine Selbstverständlichkeit, auch wenn dieses zu Verstehende die noch ziemlich ungeschliffene Rede eines ihrer Studenten war. Schliff und Brillanz gelten ihr ohnehin nicht viel - daß sie das Talent dazu gleichwohl hat, das merkte man an der Schlagfertigkeit, mit der sie rhetorische Finten und Renommiergesten abwehrte. Richtig schnippisch konnte sie damals bei solchen Gelegenheiten werden, und wer es mit ihr nicht verderben wollte, der war gut beraten, redlich zur Sache zu reden. Philosophie ist ihr eben eine ernste Sache und eine ernste Suche. Die Eitelkeiten der Selbstdarstellung und falschen Vorwitz hält sie da durchaus für ziemlich fehl am Platze. Die Offenheit der Frage: Wenn wir uns mit einem Text auseinandersetzten, dann gab da es da viele Vorurteile, aber keines, das nicht revidierbar, aufs Spiel zu setzen gewesen wäre. Ich erinnere mich noch gut an ein Hauptseminar über Karl-Otto Apel und an die altkluge Skepsis, mit der wir Apels angeblich unhintergehbarem Gültigkeitsanspruch begegneten. Ingtraud Görland aber gelang es, uns an diese spröde, terminologisch immer ein bißchen über ihre Verhältnisse lebende Philosophie heranzuführen, ohne kraft Amtes eine allein seligmachende Auslegung zu präokkupieren - sie ließ uns den Wahrheitsanspruch der Apelschen Texte in unserer eigenen begrifflichen Auseinandersetzung erfahren, stachelte die sprachliche Bewegung zwischen Text und Studenten an, bis wir diesem Geltungsanspruch nicht mehr ausweichen konnten. Und ich fand mich damals unversehens in der Rolle eines Anwalts von Apels Argumenten wieder, obwohl ich noch daheim im stillen Kämmerlein ziemlich schnell fertig gewesen war mit diesem merkwürdigen Philosophen, der Kants transzendentales Ich durch Heideggers jemeiniges Dasein ersetzen und gleichwohl den Gültigkeitsanspruch der transzendentalen Deduktion in die modeme Philosophie herüberretten wollte. Das ist mir geblieben: Ich bin bis heute ein heimlicher »Apelianer« und komme mir inzwischen - inmitten all der postmodernen

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Skeptiker, Chaos-Anbeter und Streiter wider den Methodenzwang altmodisch vor damit. Das habe ich Ingtraud Görland zu verdanken.

ziemlich

Übrigens ist es ja typisch, daß jemand, der viele Semester Philosophie bei ihr gelernt hat, sich gleichwohl nicht als Anhänger ihrer Philosophie fühlt und ausgibt Der Grund ist einfach: Ingtraud Görland hat keine »eigene« Philosophie. Oder vielleicht doch? Nun - ihr Metier ist das Verstehen. Verstehen aber bedeutet ihr Verständigung, nicht gläubiges Nachvollziehen. Und das hatte zur Konsequenz, daß wir, wann immer wir uns mit Hegel, Heidegger, Gadamer oder Apel auseinandergesetzt haben, diese »verstanden« haben, indem wir ihren Argumenten unsere Einwände entgegengehalten haben. Insofern war Verstehen immer auch ein Weiterdenken und der Ansatz zu einer kritischen Verwandlung und Synthese der verschiedensten gedanklichen Modelle. Und so resultierte in den Gesprächen dann doch ein Eigenes, aber nie ein Endgültiges. Vielleicht ist das der Grund, warum Ingtraud Görland dieses Eigene kaum einmal defmitiv festgehalten hat - vielleicht hatte sie aber auch einfach nicht den Ehrgeiz, es namentlich für sich zu reklamieren. Sie publizierte jedenfalls kein System der Philosophie und brachte ihre jeweils neuesten Ansichten über Kant & Co. nicht fleißig zwischen Buchdeckeln unter. Was ja erstens sympathisch und bei ihrer »diskursiven« Methode des Philosophierens zweitens auch irgendwie konsequent ist. Aber manchmal fmde ich das heute doch auch ein bißchen schade. Es wäre schön, manches von dem, was wir damals unter ihrer Anleitung erarbeitet haben, heute noch einmal nachzulesen. Aber ach - das wäre ein furchtbar dickes Buch. Dies sind Erinnerungen eines Abtrünnigen. Ein Philosoph ist leider nicht aus mir geworden - daher steht hier vieles im Präteritum, einer Zeitform, die ja fatalerweise immer einen leisen Dunst von Nachruf verbreitet, wenn man von Personen schreibt. Aber für mich ist dies ja gewissermaßen wirklich ein Nachruf: einer auf eine vergangene Zeit Meine Jahre an der Universität haben sich verklärt zu Bildern einer femen schönen Zeit, als man noch Muße hatte, gründlich nachzudenken und ohne Rücksicht auf baldige Verwertbarkeit ziemlich lange über ziemlich entlegene Fragen zu diskutieren. Aber nicht alles verklärt sich gleichermaßen, es gibt schöne und häßliche Erinnerungen. Dazu, daß mein Studium überwiegend zu den schönen zählt, hat Ingtraud Görland sehr viel beigetragen. Und wenn ich zurückdenke an all die Diskussionen und Erkenntnisse, an die Abenteuer des Verstehens und an die Bauchlandungen desselben, dann kommen mir unweigerlich jener Seminarraum und all die philosophischen Ko-Subjekte in den Sinn, die Ingtraud Görland da um sich versammelt hatte: Block N 40 D, Raum 401/2, hoch droben und gleich unterm Dach natürlich, denn da gehören die Philosophen hin. Heute kommt es mir so vor, als

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sei das damals die ideale Kommunikationsgemeinschaft auf Erden gewesen, die uns Karl-Otto Apel so wortreich und vehement als Bedingung möglicher Wahrheit ans Herz gelegt hatte. Ich weiß: mit solchen Anwandlungen und Aussagen käme ich bei Ingtraud Görland garantiert nicht durch die Zwischenprüfung. Aber schöne Erinnerungen haben eben ihre eigene Wahrheit. Vielleicht keine philosophische, aber eine poetische ganz gewiß.

Ingtraud Görland: Bibliographie Die Kantkritik des jungen Hegel, Frankfurt a. M. 1966 Die Entwicklung der FIÜhphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt a. M. 1973 Die konkrete Freiheit des Individuwns bei Hegel und Sartre, Frankfurt a. M. 1978 Transzendenz und Selbst Eine Phase in Heideggers Denken, Frankfurt a. M. 1981 Streitpunkt Erwerbsarbeit, in: Carsten Schlüter (Hrsg.), Politik als Diskurs: Schleswig-Holsteiner Beiträge und Materialien für ein neues Grundsatzprogramm der SPD, Marburg 1989 (zuerst in: Semester, 1987, Nr. 35) Transzendenz und Dialektik, in: Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer (Hrsg.), Existenz und Kooperation. Festschrift für Ingtraud Görland, Berlin 1993 Herausgaben: Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Marburger Vorlesung Wintersemester 1927 /28), Frankfurt a. M. 1977 (Gesamtausgabe, Bd. 25) Martin Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1930/31), Frankfurt a. M. 1980 (Gesamtausgabe, Bd. 32)

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Autorenverzeichnis Biekel, Cornelius, geb. 11. 2. 1945, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Mitherausgeber der Tönnies-Gesamtausgabe. - Ferdinand Tönnies' Weg in die Soziologie, in: Otthein Rammstedt: Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt a. M. 1988, S. 86-162. - »Gemeinschaft« als kritischer Begriff bei Tönnies, in: Carsten Schlüter und Lars Clausen (Hrsg.), Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme, Berlin 1990, S. 17-46 - Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen 1991 Brandenburg, Detle/. geb. 6. 7. 1956; Staatsexamen in Philosophie und Germanistik; Kulturredakteur der Kieler Nachrichten. Zahlreiche Aufsätze in Musikund Theaterfachzeitschriften. Carstens, Uwe, geb. 24. 11. 1948, Dr. phil.; Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Geschäftsführer der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft - Das Lager Solomit, in: Demokratische Geschichte VI, Kiel 1991 - Die Flüchtlingslager der Stadt Kiel. Sammelunterkünfte als desintegrierender Faktor der Flüchtlingspolitik, Kiel 1992 - Chronik der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, Kiel 1993 Clausen, Lars, geb. 8. 4. 1935; Prof. Dr., Dipl.-Kaufmann, Direktor des Instituts für Soziologie und der Katastrophenforschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Präsident der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft Federführender Herausgeber der Tönnies-Gesamtausgabe und Mitherausgeber der Begleitreihe »Tönnies im Gespräch - Studien und Entwürfe«. - Tausch. Entwürfe zu einer soziologischen Theorie, München 1978 - Produktive, destruktive Arbeit, Berlin/New York 1988 - Der Januskopf der Gemeinschaft, in: Lars Clausen und Carsten Schlüter

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Autorenverzeichnis

(Hrsg.), Hundert Jahre »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991

Deppert. Wolfgang, geb. 6. 8. 1938, Dr., Theoretischer Physiker, Privatdozent für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Lehrbeauftragter an der Musikhochschule in Lübeck. - Hermann Weyls Beitrag zu einer relativistischen Erkenntnistheorie, in: W. Deppert, K. Hübner, A. Oberschelp, V. Weidemann (Hrsg.), Exakte Wissenschaft und ihre philosophische Grundlegung, Frankfurt a. M. 1988 - Das Reduktionismusproblem und seine Überwindung, in: W. Deppert, H. Kliemt, B. Lohff, J. Schaefer (Hrsg.), Wissenschaftstheorien in der Medizin Berlin 1992 - Die Alleinherrschaft der physikalischen Zeit ist abzuschaffen, um Freiraum für neue naturwissenschaftliche Forschungen zu gewinnen, in: H. M. Baumgartner (Hrsg.), Das Rätsel der Zeit, Freiburg 1993 Fechner. Rolf, geb. 30. 5. 1948; Dr. phil., M. A., Wissenschaftlicher Referent der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, Lehrbeauftragter an der Universität der Bundeswehr Hamburg; Mitherausgeber der Tönnies-Gesamtausgabe. - »Sie fragen vielleicht, mit welchem Recht ich mich als sympathischer Leser anmelde«. Ein Kommentar, in: Ferdinand Tönnies - Harald Höffding. Briefwechsel, hrsg. und komm. von Cornelius Bickel und Rolf Fechner, Berlin 1989, S. 195-293 (zusammen mit Cornelius Bickel) - Ferdinand Tönnies Werkverzeichnis, BerlinlNew York 1992 - Tönnies' Begründung einer »Ersten Soziologie« als Beitrag zur Selbstaufklärung der Aufklärung (1. Teil), in: Tönnies-Forum, 1993, 1, S. 55-67 (zusammen mit Carsten Schlüter-Knauer) Görland. Ingtraud, geb. 2. 12. 1933, Dr. phil., Professorin am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ausgehend vom Deutschen Idealismus entwickelten und erweiterten sich die Arbeitsschwerpunkte: Existenzphilosophie, Kritische Theorie und Politische Philosophie. Großheim. Michael, geb. 11. 4. 1962, Dr. phil., wissenschaftlicher Angestellter am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. - Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/Berlin 1991 - Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993 (Hrsg. zusammen mit Hans-Joachim Waschkies) - Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1993. Günther. Gerhard, geb. 1946, Studium der Philosophie und Germanistik in Kiel, Gymnasiallehrer (philosophie und Deutsch) in Rendsburg.

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293

Loch, Werner, geb. 11. 5. 1928, Dr.; Prof. am Institut für Pädagogik der Chri-

stian-Albrechts-Universität zu Kiel. - Lebenslauf und Erziehung, Essen 1978 - Für Lehrer erforderliche Fähigkeiten, in: Lehrer und Schüler - alte und neue Aufgaben, hrsg. von W. Loch und J. Muth, Essen 1990, S. 101-130 - Die Konstellation der bedeutungsvollen Anderen im Bewußtsein des Kindes, in: Pädagogische Anthropologie, biographische Erziehungsforschung, pädagogischer Bezug, hrsg. von Peter Brozio und Edgar Weiß, Hamburg 1993, S. 12-70

Pasero, Ursula, geb. 1943, Dr. phil., M. A, Soziologin, hat die wissenschaft-

liche Geschäftsführung des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel inne. - Familienkonflikte in der Migration. Eine rechtssoziologische Studie anhand von Gerichtsakten, Wiesbaden 1990. - Frauenforschung in universitären Disziplinen - Man räume ihnen Kanzeln und Lehrstühle ein, Opladen 1993 (Hrsg. zusammen mit Friederike Braun) - Soziale Zeitmuster, Kontingenzerfahrung und das Arrangement der Geschlechter, in: Christian Püttjer und Uwe M. Schnierda (Hrsg.), Kontaktforum: Soziologie in Schleswig-Holstein, Kiel 1993

Prahl, Hans Werner, geb. 1944, Dr. phil., Dipl.-Soziologe, Privatdozent am In-

stitut für Soziologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Lehrstuhlvertreter an der Pädagogischen Hochschule Kiel. Diverse Forschungen und Publikationen zur Hochschulgeschichte, Freizeit, Soziologiegeschichte, Maritimen Soziologie, DDR, zum Tourismus, Nationalsozialismus, zu Prüfungen, Gartenzwergen und Langzeitstudenten.

Ratzek, Johannes, geb. 25. 1. 1956; Studienrat z. A (Deutsch, Philosophie und

Katholische Religion) am Gymnasium im Schulzen trum Glinde. - Arbeitsgemeinschaften im Fach Philosophie für Schüler der Untersekunda. Bericht an das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Kiel 1990 (zusanunen mit Walter Arnold) - Philosophie in der 10. Klasse eines Gymnasiums, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 1991, Heft 2 - Sind wir schon die Herren? oder: Wie bereite ich mich ethisch auf das 21. Jahrhundert vor, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 1993, Heft 3

Ringleben, Joachim, geb. 24. 7. 1945, Dr. theol., Universitätsprofessor (Lehr-

stuhl für Systematische Theologie der Georg-August-Universität zu Göttingen). - Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, BerlinlNew York 1977

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Aneignung. Die spekulative Theologie S0ren Kierkegaards, BerlinlNew York 1983 Interior intimo meo. Die Nähe Gottes nach den Konfessionen Augustins, Zürich 1988.

Röhrich. Wilfried, geb. 1936, Dr. phil., Professor und Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. - Die Demokratie der Westdeutschen. Geschichte und politisches Klima einer Republik, München 1986 - Denker der Politik. Zur Ideengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Opladen 1989 - Eliten und das Ethos der Demokratie, München 1991 Rüdiger. Anja, geb. 1966, cand. phi I. der Politikwissenschaft, Philosophie und Anglistik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Indiana University zu Bloomington. Diverse Zeitschriftenveröffentlichungen. Schlüter-Knauer. Carsten, geb. 2. 2. 1955; Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politische Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Mitherausgeber der Tönnies-Gesamtausgabe. - Nachwort: Nominalistische Sozio-Logie als Vorschule kritischer PhiloSophie: Ein Vorschlag, wie Tönnies zu lesen sei, in: ders. (Hrsg.), Symbol, Bewegung, Rationalität. Zum 50. Todestag von Ferdinand Tönnies, Würzburg 1987, S. 234-258 - Adornos Kritik der apologetischen Vernunft, 2 Bände, Würzburg 1987 - Neue Heimkehr zu den Müttern - Rettung der Ethik als Bio-Ontologie? Aufgaben und Begründungsprobleme der Zukunftsethik Hans Jonas mit einem Verweis auf Fragestellungen Ferdinand Tönnies', in: »Ausdauer, Geduld und Ruhe«. Aspekte und Quellen der Tönnies-Forschung, hrsg. von Lars Clausen und Carsten Schlüter unter Mitarbeit von Rolf Fechner, Hamburg 1991, S. 197-244 Schmitz. Hermann, geb. 16. 5. 1928; Prof. Dr., Direktor des Philosophischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Viele Veröffentlichungen, u.a. 25 Bücher. - System der Philosophie, 10 Bände, Bonn 1964-1980 - Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990 - Die Liebe, Bonn 1993 Wahrig-Schmidt, Bettina. Dr. med., Assistentin am Institut für Medizin- und Wissenschafts geschichte; Forschungsgebiete: Philosophie in der Medizin des 19. Jahrhunderts, Staats- und Organismusmetaphorik bei Thomas Hobbes, Theorie der Metapher.

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Der junge Wilhelm Griesinger im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Physiologie. Anmerkungen zu den philosophischen Wurzeln seiner frühen Psychiatrie, Tübingen 1985 Philosophischer Taschenkalender. Jahrbuch zum Streit der Fakultäten, Bd. 1: Aufklärung, Lübeck 1991; Bd. 2: Das Denken der Bilder, Lübeck 1992/93 (Hrsg. zusammen mit Rüdiger Schmidt) Was soll die Metapher in der Wissenschaft?, in: Philosophischer Taschenkalender, Bd. 2, Lübeck 1992;93, S. 186-204

Waschldes, Hans-Joachim, geb. 16. 6. 1939, Prof. Dr. phil., apl. Professor am Philosophischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. - Von Eudoxos zu Aristoteles. Das Fortwirken der Eudoxischen Proportionentheorie in der Aristotelischen Lehre vom Kontinuum, Amsterdam 1977 - Physik und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Amsterdam 1987 - Anfänge der Arithmetik im Alten Orient und bei den Griechen, Amsterdam 1989 Weiß, Edgar, geb. 30.3. 1957, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. - Ethik, Psychoanalyse und Pädagogik. Studien zur Grundlegung mündigkeitsorientierter Moralerziehung, Frankfurt a. M./Bern/New York 1987 - Tönnies und Paulsen - Konsonanzen und Dissonanzen einer nicht unkomplizierten Freundschaft, in: »Ausdauer, Geduld und Ruhe«. Aspekte und Quellen der Tönnies-Forschung, hrsg. von Lars Clausen und Carsten Schlüter unter Mitarbeit von RolfFechner, Hamburg 1991, S. 115-132 - Pädagogische Anthropologie und Kantsche Ethik, in: Pädagogische Anthropologie, biographische Erziehungsforschung, pädagogischer Bezug, hrsg. von Peter Brozio und Edgar Weiß, Hamburg 1993, S. 266-283 Worpenberg, Jochen, geb. 1963, Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Integriertes Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1975 (zuerst 1966) AlbrechJ, Richard: Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Eine Biographie, BerlinlBonn 1987 Althusser, Louis: Elemente der Selbstkritik, Berlin 1975 Freud und Lacan, Berlin 1976 Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, HamburglBerlin 1977 Antwort an John Lewis, in: Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, hrsg. von Horst Arenz, Joachim Bischoffund Urs Jaeggi, Berlin 1973, S. 35-76 Bemerkungen zu einer Kategorie: 'Prozeß ohne Subjekt und ohne Ende I Ziel', in: Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, hrsg. von Horst Arenz, Joachim Bischoff und Urs Jaeggi, Berlin 1973, S. 89-94 Für Marx, Frankfurt a. M. 1968 Althusser, Louis / Halibar, Etienne: Das Kapital lesen. 2 Bde., Reinbek 1972 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Frankfurt a. M. 1956 Wurzel der Scham [1960], in: ders., Der Blick vom Turm. Fabeln, Frankfurt a. M./Wien o. J. (zuerst 1968) Angehrn, Emil: Geschichte und Identität, Berlin 1985 Der Begriff des Glücks und die Frage der Ethik, m: Philosophisches Jahrbuch, 1985,92, S. 35-52 Apel, Karl-Ouo: Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1973 Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 40, 1986, S. 3-31 Diskurs und Verantwortung. Das Problem des übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988 Apel, Karl-Ouo et al.: » ... so habe ich mich immer redlich bemüht, auch ein Verfechter der Kritischen Theorie ... zu sein«. Karl-Otto Apel in einem Gespräch mit Cornelius Bickel, Carsten Schlüter und Edgar Weiß, in: Ingtraud Görland, Ethikkonzeptionen der Moderne, Opladen (im Erscheinen) Arendt, Dieter: Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums. Vorarbeiten zu einer soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart 1974 Arendt, Hannah: Ideologie und Terror, in: Offener Horizont, Festschrift für Karl Jaspers, München 1953 Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976 (zuerst 1948) Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, Bd. 2: Das Wollen, München 1979

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Integriertes Literaturverzeichnis

Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. von Roland Beiner, München 1985. Vita Activa oder vom tätigen Leben. München 1985 Rahel Vamhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1985 Macht und Gewalt, München 1985 Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. von Marie Louise Knott, Berlin 1986 Menschen in finsteren Zeiten, hrsg. von Ursula Ludz, München 1989 Aristoteles: Metaphysik (zuerst lat., Venedig 1483; gr. 1498) Politika (zuerst lat., Straßburg o. J.; gr. Venedig 1498» Arnold, Walter I Ratzek, lohannes: Arbeitsgemeinschaften im Fach Philosophie für Schüler der Untersekunda. Bericht an das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Kiel 1990 Augustinus: De trinitate. Patrologiae cursus completus (hrsg. von J.-P. Migne), Series prima, Bd. 42, Paris 1845, S. 819-1098 (zuerst o. O. o. J.) Ave-Lallemant, Friedrich ehr. B.: Das Deutsche Gaunerthum in seiner social=politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande, 3 Bde., Hildesheim 1980 (zuerst 1858 ff.)

Barrow, lohn D.: Theories of Everything. The Quest for Ultimate Explanation, Oxford 1990 (dt.: Theorien für Alles. Die philosophischen Ansätze der modernen Physik, Heidelberg 1992) Barrow, lohn D. I Tipier, Frank l.: Tbe Antbropic Cosmological Principle, Oxford 1986 Baumann, Frank: Der Staat als Kunstwerk. Zur Interpretation des Leviathan von Thomas Hobbes. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des M.A., Universität Hamburg 1990 Bechstein, Ludwig: Die Manuscripte Peter Schlemihl's, 2 Bde., Berlin 1851 Beck"Lewis White: Kants 'Kritik der praktischen Vernunft'. Ein Kommentar, München ~1975

Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das individualistische Mißverständnis in der Individualisierungsdebatte, in: Heiner Meulemann und Agnes Elting-Camus (Hrsg.), 26. Deutscher Soziologentag. Lebensverbältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa. Sektionen, Arbeits- und Ad-hoc-Gruppen, Opladen 1993, S. 107-109 Benn, Gott/ried: Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. I, Gedichte, München 1975 Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 3, Essays und Aufsätze, München 1975 Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 4, Reden und Vorträge, München 1975 Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 5, Prosa, München 1975 Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. 8, Autobiographische Schriften, München 1975 Benton, Ted: The Rise and Fall of Structuralist Marxism. Althusser and His Influence, New York 1984 Bergson, Henri: Sur les donnees immediates de la conscience, in: OEuvres, Paris 1959 Bernstein, Howard R. : Conatus, Hobbes and the Young Leibniz, in: Studies in the History and Philosophy of Science, 1980, 11, S. 25-37

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300

Integriertes Literaturverzeichnis

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Deppert, Wolfgang: Zeit. Die Begründung des Zeitbegriffes, seine notwendige Spaltung und der ganzheitliche Charakter seiner Teile, Stuttgart 1989 Systematische philosophische Überlegungen zur heutigen und zukünftigen Bedeutung der Unitarier, in: Wolfgang Deppert et a1. (Hrsg.), Der Einfluß der Unitarier auf die europäisch-amerikanische Geistesgeschichte, Frankfurt a. M. 1990 Derrida, Jacques: La mythologie blanche (La metaphore dans le texte philosophique), in: Poetique, 1971,5, S. 1-52 Randgänge der Philosophie, Wien 1988 Descartes, Rene: Traite de l'homme, in: Charles Adam und Paul Tannery (Hrsg.), OEuvres de Descartes, Bd. XI, Paris 1986, S. 119-202 Descombes, Vincent: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich. 1933-1978, Frankfurt a. M. 1981 Diels, Hermann / Kranz, Walther: Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 61952 Dilthey, Wilhelm: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Stuttgart 51957 Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen und Gesellschaft und der Geschichte. Gesammelte Schriften, Bd. 19, Göttingen 1982 Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7, Stuttgart, Göttingen 1973

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301

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302

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