Europäischer Hochadel: König Johann von Sachsen (1801-1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation 9783050086712, 9783050043449

Der Hochadel erscheint im Blick über Europa hinweg als eine Sozialformation mit einem eigenen Selbstverständnis und mit

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Europäischer Hochadel: König Johann von Sachsen (1801-1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation
 9783050086712, 9783050043449

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Silke Marburg Europäischer Hochadel

Silke Marburg

Europäischer Hochadel König Johann von Sachsen

(1801-1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation

Akademie Verlag

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Staatlichen Schlösser, Burgen, Gärten Sachsen, Referat Museen und Schloss Weesenstein. Abbildungen auf dem Einband: Schreibfeder des Königs Johann von der Grundsteinlegung der Felsenkellerbrauerei am 15. April 1857, Städtische Sammlungen Freital auf Schloss Burgk, Papierarchiv, Foto: Janos Stekovics, Eigentum Schloss Weesenstein. Brief König Johanns von Sachsen an seine Tochter Elisabeth Herzogin von Genua vom 15. April 1857, Archivio Arcivescovile di Torino.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004344-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Mandy Scheffler, Ingo Scheffler Satz: Mandy Scheffler Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Dieses Buch erinnert an meinen Sohn Milan 2004-2005

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung 10

1 Einleitung 11 1.1 Motive einer Biografie 13 1.2 Hoher Adel als Forschungsgegenstand 23 1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung 27 1.3.1 Obenbleiben und Obensein 27 1.3.2 Europäische Dimension 33 1.3.3 Inhomogenität 35 1.4 Fragestellung und Durchführung - Binnenkommunikation 39 1.5 Stand von Forschung und Deutung - Johann und die Dynastie 43 1.6 Quellen 51

2 Texte und Konzepte - Privatbriefe 53 2.1 Privatbriefe als Textsorte der Binnenkommunikation 53 2.2 Schreibintention - eine vielstimmige Gesamtkorrespondenz 60 2.3 Briefe als geronnene Muße 65 2.4 Das Briefgeheimnis 66 2.5 Briefaufbau und Thematik 71 2.6 Sozialspezifik - Die Symbolisierung des Standesunterschiedes 77

3 Begriffe - Differenz und Distinktion 85 3.1 Gruppenkonzepte: Einige Begriffe 85 3.2 Handlungsorientierung: Pflicht und Gewissen 101 3.3 Legitimationskonzepte: Gottesgnade und Menschenpflicht 109 3.3.1 Gott 109 3.3.2 Pflichten und Prinzipien 112 3.3.3 Das Gebet 118 3.3.4 Theologische Weiterung 121

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Inhaltsverzeichnis

3.4 Konzepte der Binnenkommunikation 132 3.4.1 Felder sozialer Distinktion: öffentliche Stellung und private Existenz 132 3.4.2 geniren 134 3.4.3 Verwandtschaftlichkeit und Verwandtschaft 141 3.4.4 Freundschaft und Freundschaft 150

4 Begegnungen - Gesellschaft und Geselligkeit 160 4.1 Im Kräftefeld der Residenz 160 4.1.1 Exil 162 4.1.2 Bildungseinrichtungen 171 4.1.3 Durchreise 173 4.1.4 Außerhöfische Geselligkeit 176 4.2 Der Rang bei Hof 186 4.2.1 Tendenzen der Zeremonialentwicklung 186 4.2.2 Der Rang: Albertiner unter sich 191 4.2.3 Der Rang: Die Standesherren 194 4.2.4 Der Rang: Die Souveräne und ihre Hausangehörigen 204 4.3 Besuche 209 4.3.1 Ankunft und Anwesenheit fremder Allerhöchster und Höchster Herrschaften 209 4.3.2 Empfang und Begrüßung 215 4.3.3 Aufwartung, Equipage und Quartier 219 4.3.4 Zwischen Hoffestlichkeiten und Hofalltag 222 4.3.5 Besichtigungen und Ausflüge 225 4.3.6 Jahnishausen und Weesenstein in der Besuchstopografie 227 4.3.7 Erfahrungen sozialer Zugehörigkeit: Infrastrukturentwicklung und face to yizce-Kommunikation 231

5 Heiraten - eine Zukunft und acht Lösungen 235 5.1 Ebenbürtigkeit - Semantik der Endogamie 236 5.2 Eheanbahnung für die Kinder König Johanns 240 5.2.1 Eintritt in die Heiratsplanung 240 5.2.2 Brautschau 245 5.2.3 Jawort und weitere Schritte 252 5.2.4 Informationssystem 253

Inhaltsverzeichnis

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5.3 Heiratskalkül für die Kinder König Johanns von Sachsen 260 5.3.1 Ehe als Zielvorstellung 260 5.3.2 Das Kriterium des Standes 263 5.3.3 Das Kriterium der Konfession 279 5.3.4 Das Kriterium der Ressourcen 284 5.3.5 Politische Optionen 289 5.3.6 Kombination der Kriterien 297

6 Zusammenfassung

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7 Anhang 303 7.1 Quellentexte 303 7.1.1 „Über die Wichtigkeit meiner öffentlichen Berufspflichten" 303 7.1.2 „Charakteristik des Grossherzogs Leopold II. von Toskana." 306 7.2 Tabellen und Übersichten 307 7.2.1 Tabelle: Zivilliste und Staatseinkünfte aus Domanialvermögen im Vergleich 307 7.2.2 Übersicht: Die Kinder König Johanns von Sachsen und ihre Ehepartner 309 7.2.3 Finanzielle Ausstattung der Paare nach den Eheverträgen der Kinder Johanns 310 7.2.4 Übersicht: Hochadlige Einwohner Dresdens 1854 312 7.2.5 Übersicht: Hochadlige Einwohner Dresdens 1873 313 7.3 Verzeichnisse 314 7.3.1 Abkürzungsverzeichnis 314 7.3.2 Verzeichnis der benutzten Quellen 317 7.3.3 Literaturverzeichnis 320

8 Register 341 8.1 Orte 341 8.2 Personen 344

Vorbemerkung

Dieses Buch entstand aus der Dissertation, die ich am 14. Juli 2004 an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden verteidigt habe. Allen am Promotionsverfahren Beteiligten sei für ihre Beiträge gedankt, insbesondere Winfried Müller sowie Gerd Schwerhoff und Eckart Conze für ihre Gutachten. Für Forschungsstipendien danke ich dem Freistaat Sachsen und sehr herzlich Heinz Duchhardt stellvertretend für das Institut für Europäische Geschichte Mainz. Die Drucklegung der Studie unterstützten dankenswerter Weise die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie die Staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen, Referat Museen und Schloss Weesenstein. Die wissenschaftliche Diskussion, zu der dieses Buch beitragen soll, war für mich auch eine Kette eindrucksvoller Begegnungen, die ich an dieser Stelle leider nicht ausreichend würdigen kann. Das Thema Adel machte mir Josef Matzerath zuerst plausibel und ermutigte mich, die in der Debatte befindlichen Konzeptionen auf ihre Prämissen hin zu überdenken. Was die spannenden neuen Quellen betrifft und auch für manche Hilfe bei meinen italienischen Studien bin ich Romualdo Chiavarino und Giuseppe Tuninetti verbunden. Wichtig ist mir auch der Dank an meine Mitstipendiaten und Kollegen am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Mit ihrer Kompetenz, mit ihrer Diskussionsfreude und nicht zuletzt mit ihrer Weltoffenheit sind sie ein anregendes Umfeld gewesen. Für ihre Geduld, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Hilfe in schwerer Zeit danke ich insbesondere den Mitstreitern des Projekts HGIS Germany, allen voran Andreas Kunz, sehr herzlich. All den vielen Freunden, die mich soweit getragen haben, dass dieses Buch nun erscheinen kann, vermag ich keinen eigentlichen Dank zu sagen. Mehr denn je fühle ich mich ihnen verbunden. Mäxi und Milan, Joris und Steffen haben ihr Leben mit mir und deswegen auch mit Johann, Elisabeth und all den anderen Figuren dieser Arbeit geteilt. Ich hoffe, es hat ihnen so gut gefallen wie mir.

Silke Marburg

Dresden, im September 2007.

1 Einleitung

Im Auftrag König Johanns von Sachsen veröffentlichte Edouard Duboc 1873 Auszüge aus den Tagebüchern der 1863 verstorbenen Schwester des Monarchen, Prinzessin Amalie. Dabei stellte er fest: „Uebrigens ist die [...] Annahme: ,die Grundlage für die dramatischen Arbeiten der Prinzessin sei das bürgerliche Leben in Deutschland' keineswegs eine nur im Auslande verbreitete Ansicht. Im Gegentheil ist sie überhaupt die herkömmliche [...]. Ein Blick in die Personenregister der Stücke genügt, um jene Auffassung als eine in ihrer Allgemeinheit unrichtige erkennen zu lassen. Von den sämmtlichen im Druck erschienenen Stücken der Prinzessin bewegen sich nur 3 in rein bürgerlichen Verhältnissen [...]. In 4 weiteren Stücken [...] mischt sich Adeliges und Bürgerliches. Die sämmtlichen übrigen Stücke beschäftigen sich mit Vorgängen in adeligen oder fürstlichen Kreisen."1 Duboc gab auch eine Erklärung für diese offensichtliche Fehleinschätzung: „Der Grund, so scheint es, liegt darin, daß die Verfasserin die Standesunterschiede als solche in den Motiven ihrer Dramen völlig ignorirt. Nie ist von einer besonderen Standesehre die Rede, nie kommt der Ausdruck vor: ,wir sind der erste Stand'; und ebenso ist keinem Bürgerlichen ein bitteres Wort gegen den Adel in den Mund gelegt. [...] Gewiß liegt aber gerade in diesem Hinausheben der Gegenstände aus der Sphäre derjenigen Zustände, welche durch das Hervortreten der Standesunterschiede verstimmend getrübt werden, das Geheimniß der harmonischen, künstlerischen Beleuchtung, welche die meisten Stücke der Prinzessin auszeichnet."2 Ob König Johann selbst Duboc zu dieser „Richtigstellung" angeregt hat, bleibt unklar.3 In jedem Fall erteilte er dem öffentlichen Dementi einer „bürgerlichen Vereinnahmung" der Prinzessin sein Imprimatur. Dubocs Argumentation ist insofern ein guter Startpunkt, als es auch ihm um die Zuschreibung sozialer Gruppenzugehörigkeit ging. Wenn auch Prinzessin Amalie offenbar nicht intendierte, mit ihren Dramen zu einem Diskurs über Standesfragen beizutragen, so 1 Es handelt sich um weitere etwa 28 Stücke. Waldmüller, Robert [i. e. Duboc, Edouard], Dramatische Werke der Prinzessin Amalie, Herzogin zu Sachsen, Im Auftrage Seiner Majestät des Königs Johann von Sachsen aus dem Nachlasse vervollständigt und herausgegeben von Robert Waldmüller, Bd. 1, Leipzig 1873, S. XXIIIf. 2 Ebda. 3 Der Briefwechsel zwischen Fürst und Schriftsteller, der der Edition 1872 vorausging, gehörte zum Privatarchiv der Wettiner, vgl. SächsHStA Dresden Findbuch Fürstennachlass Johann, Briefwechsel Nr. 236. Dieses Archiv ist nicht überliefert. Duboc war seit 1855 als Privatier in Dresden ansässig, ohne dass sein dichterisches Werk zu Lebzeiten König Johanns irgendeine überregionale Beachtung fand. Vgl. Dresdensia, Wochenzeitschrift für Kritik, Chronik, Satire und Humor auf lokalem Gebiete 2 (1893) Nr. 24 vom 11.6.1893, S. lf. sowie Adressbuch der Stadt Dresden 1873.

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1 Einleitung

war es doch offensichtlich ein Fehlgriff, Ideen sozialer Nivellierung zu unterstellen, weder den Protagonisten ihrer Dramen noch der Autorin selbst. Die vorliegende Untersuchung zielt - obwohl auch über König Johann ähnliche Fehlurteile im Umlauf sind - allerdings nicht auf eine Richtigstellung ä la Duboc. Vielmehr lässt sich der kontroverse Gedanke in zwei Richtungen empirisch-analytisch weiterdenken. Zunächst wäre nach den Gründen für solche offenbar traditionsreichen Fehlperzeptionen zu fragen. Wann und wie erhielt Johann das Attribut des Bürgerlichen? Hing diese Einschätzung mit den Leistungen zusammen, die das Johann-Bild in der öffentlichen und historiografischen Debatte zu erbringen hatte? Der Akzent der vorliegenden Arbeit liegt aber in anderer Richtung, nämlich auf der Frage nach den Projektionen des Protagonisten selbst: Worauf projizierte Johann selbst seine hochadlige Standeszugehörigkeit? Wie sahen solche Projektionen im Wandel seiner Biografie aus? Wie war er in seinen Stand eingebunden? Die neuere Adelsforschung hat Fragen sozialkultureller Praxis, Fragen nach „Adligkeit" bzw. „Hochadligkeit", zu ihren Kernfragen erhoben. In diesem Sinn wäre es für Historiker des 21. Jahrhunderts sicherlich aufschlussreich, Stücke aus der Feder der Prinzessin, deren Titel etwa „Der Krönungstag" lauten, „Die Fürstenbraut" oder „Der Graf von Beaujolais", daraufhin zu untersuchen, wie hochadlige Lebenswelt in den Kunstwerken selbst repräsentiert war und welche Rolle die Produktion und Aufführung der Stücke im Leben der fürstlichen Autorin spielte. Im Gegensatz zu Prinzessin Amalies Dichtungen führen uns die im Folgenden genutzten Quellen auch in interne Diskurse über standesgemäße Lebensführung und deviantes Verhalten, über Handlungsoptionen und Standesmaximen ein. Briefe aus der Feder König Johanns und seiner engsten Familie erschließen uns soziale Sinnproduktion innerhalb einer Gruppe, die durch ihre Exklusivität historiografisch zuweilen durchaus sperrig anmutet. Diese Korrespondenz entspann sich ausschließlich familien- und damit standesintern und transportierte daher keine Legitimationen für eine allgemeinere Leseöffentlichkeit. Dass die Korrespondenten gerade in der Frage standesgemäßen Handelns zunächst von einem Konsens ausgehen konnten, lag im erziehungsintensiven Zusammenleben der Dresdner Kernfamilie begründet. Von dort aus gewann sie im verschiedenfarbigen Licht der unterschiedlichen Lebenssphären in Sachsen und Italien je eigene Konturen. Letztlich aber verknüpften sich mit den textuell fassbaren Interpretamenten der Standeszugehörigkeit mehrere sozial integrierte hochadlige Biografien. Die Annäherung von außen, d. h. über höfische Quellen, offizielle Verlautbarungen und Kunstwerke, an dieselbe Thematik lässt uns zudem erkennen, wie die Akteure von der exklusiven Sphäre in die Öffentlichkeiten der Presse, des Hofes bzw. der Politik übersetzten. Die Einleitung stellt zunächst den Protagonisten der Untersuchung vor und lässt dann drei miteinander zusammenhängende Schritte folgen. Sie umreißt das Desiderat einer systematischen Behandlung des Hochadels. Es folgt eine Diskussion von Implikationen

1.1 Motive einer Biografie

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der bisherigen Adelsforschung, die den Zugriff der Studie inhaltlich schärft. Daran anschließend werden Fragestellung und Vorgehen der Arbeit dargelegt. Es folgt ein Abriss zum Forschungsstand über König Johann und die Albertiner, wobei dieser Abschnitt auch eine forschungsgeschichtliche Antwort auf die angesprochene Frage nach der Genese und Funktion des historischen Johann-Bildes gibt. Abschließend werden die Hauptquellen der vorliegenden Arbeit vorgestellt.

1.1 Motive einer Biografie Die vorliegende Untersuchung ist keine Biografie und behebt daher auch nicht den Mangel an einer umfassenden und belastbaren Lebensbeschreibung des Prinzen und Königs Johann. Um den Protagonisten der folgenden Ausführungen vorzustellen, seien an dieser Stelle jedoch zumindest die biografischen Leitmotive der Johann-Literatur zusammengetragen und kommentiert.4 Johann Herzog zu Sachsen kam am 12. Dezember 1801 als sechtes Kind bzw. dritter Sohn des Prinzen Maximilian (1759-1838) und seiner Frau Caroline Prinzessin von Parma (1770-1804) in Dresden zur Welt. Als nachgeborener Enkel des regierenden Königs von Sachsen war seine Thronfolge weder ausgemacht noch ausgeschlossen. Für wichtig hielt man einen dritten Prinzen in jedem Fall, um der Dynastie ihre Fortpflanzung zu sichern. So galten für Johanns Ausbildung dieselben Standards wie für die seiner älteren Brüder Friedrich August (1797-1854) und Clemens (1798-1822). Nach dem Tod der Mutter 1804 wuchs Johann als Halbwaise auf. Vater Maximilian engagierte sich für die Erziehung seiner Kinder und unterrichtete sie in den Anfangsjahren selbst im Lesen, Rechnen und Schreiben und in Religion.5 Im Wesentlichen aber lagen Betreuung und Bildung der Kinder wie üblich bei Hofangestellten. Auch später erhielt Johann seine Ausbildung gemeinsam mit seinen Brüdern Friedrich August und Clemens. Im Jahr 1816 wurde die Prinzenausbildung umstrukturiert und unter die Leitung von Karl v. Watzdorf (1759-1840) gestellt.6 Die Brüder im Alter von 14 bis 19 Jahren führten nun 4 Zum Stand der Forschung über König Johann von Sachsen und die Gründe für das Fehlen einer Biografie vgl. Abschnitt 1.5 Stand von Forschung und Deutung - Johann und die Dynastie. 5 Rretzschmar, Hellmut (Hg.), Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen, Eigene Aufzeichnungen des Königs über die Jahre 1801 bis 1854 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; 42), Göttingen 1958 (im Folgenden: Kretzschmar, Lebenserinnerungen), S. 40. 6 Johann selbst wies immer wieder daraufhin, dass ihre Erziehung nicht ausschließlich von katholischen Lehrern geleitet wurde, sondern seit 1816 von dem Protestanten General Karl v. Watzdorf. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 55ff. Allerdings erwähnt er auch, dass v. Watzdorf diese Funktion nicht ohne einen katholischen Assistenten ausübte. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 8 Eigenhändige Aufzeichnungen Seiner Majestät des Königs Johann für die Ausarbeitung eines biographischen Aufsatzes

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1 Einleitung

einen separaten Hausstand. Sie erhielten vielfach neue Lehrer und erstmals auch die Gelegenheit, ihre sozialen Fertigkeiten an einer Tafel mit selbst geladenen Gästen zu entwickeln. Die Jugendlichen nannten den Sommer 1816 daher ihren „ersten Sommer".7 Zum Lehrprogramm gehörten selbstverständlich Französisch und Latein, die naturkundlichen Fächer und Geschichte sowie Italienisch und Englisch. Johann selbst interessierte sich besonders für historische, juristische und linguistische Fächer.8 Vor allem die Jurastudien führte der Prinz mit Engagement durch und ließ sich dabei insbesondere für das Strafrecht begeistern. Von seinem juristischen Lehrer Christoph Karl Stübel (17641828) gab Johann an, er habe „den meisten Einfluss auf meine ganze Richtung" gehabt.9 Er berichtete außerdem von kriegswissenschaftlichen Studien und unter den „körperlichen Übungen" - die üblicher Weise Tanzen, Reiten und Fechten umfassten - über das neu eingeführte Voltigieren.10 Den physischen und geographischen Unterricht übernahm v. Watzdorf selbst. Zur betont militärischen Prinzenausbildung gehörte für Johann seit 1815 das Kommando des Königlich Sächsischen Regiments Prinz Johann Husaren. Von Oktober 1821 bis März 1822 reisten Johann und sein Bruder Clemens nach Italien. Diese Reise vereinte mehrere Ziele miteinander: klassische Bildung, Verwandtenbesuche und die Brautschau. Der Tod des Bruders in Pisa am 4. Januar 1822 bedeutete für Johann ein direktes Nachrücken, nicht nur in der dynastischen Rang- und Erbfolge, sondern auch in der Rollenkonzeption des Fürstenhauses. Sein noch vor der Abreise aus Dresden diskutierter Eintritt in den auswärtigen Militärdienst war vom Tisch und Johann sah sich ganz unmittelbar mit der eigentlich für Clemens arrangierten Familiengründung konfrontiert. Entsprechend verlobte er sich auf der Rückreise am 13. März in München auch mit der zuvor seinem Bruder zugedachten Braut. Die Hochzeit mit Amalie Auguste Prinzessin von Bayern (1801-1877) fand im folgenden November statt. Zwischen seiner Rückkehr aus Italien und seiner Hochzeit machte Johann 1822 noch einen Kursus durch die sächsischen Behörden. Wie bereits seine älteren Brüder lernte er das Geschäftsleben der beiden wichtigsten sächsischen Regierungsbehörden kennen, der Landesregierung und des Geheimen Finanzkollegiums. Darüber hinaus besuchte er auch Sitzungen der Kriegsverwaltungskammer und des Appellationsgerichts. Erst die Trupdurch den Schrifsteller Α. E. Brachvogel in Berlin 1872, pag. 104, 108. Zwischen Hof und Ritterschaft bestand während der Regierungen von König Friedrich August I. und Anton Dissens über den Usus, Katholiken als Hofchargen zu bevorzugen, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 97. Vermutlich trug v. Watzdorfs Berufung zum Erzieher für die Thronfolger auch dieser Kontroverse Rechnung. 7 Diese Formulierung bildet eine Analogie zum „ersten Winter", unter dem die Zeitgenossen die Saison nach der ersten Präsentation bei Hof verstanden. Dies bedeutete den sog. „Eintritt in die Welt", d. h. die Einbindung in das öffentliche gesellschaftliche und gesellige Leben der Erwachsenen. 8 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 8, pag. 108. 9 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 57. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 8, pag. 104-104ν sowie 108v. 10 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 54, 58.

1.1 Motive einer Biografie

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penübungen des Herbstes erbrachten dann die endgültige Erkenntnis, dass das Militär nicht das geeignete Fach für den Prinzen war. Stattdessen wurde nach der Hochzeit entschieden, dass sein Arbeitsplatz in der staatlichen Verwaltung sein würde. Ende 1822 kam Johann als wirkliches Mitglied in das Geheime Finanzkollegium und beteiligte sich am Geschäftsleben des Departements für Domänen-, Forst-, Berg- und Ämtersachen. Im Jahr 1825 erhielt Johann das frei gewordene Direktorium des Departements für Steuersachen, Salzmonopol, Chausseen, Uferbau und Post, jedoch nicht ohne einen Kodirektor, der ihm insbesondere die Beaufsichtigung der Kanzlei abnahm. Diese „Karriere" verdankte Johann primär dem eigenen Wunsch nach vertiefter und verantwortungsvollerer Beteiligung an der Verwaltungsarbeit.11 Johanns Aktivität in der politischen Öffentlichkeit Sachsens erhöhte sich im unmittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 1830. Die längst erwartete innenpolitische Veränderung konnte erst in Folge der Septemberunruhen dieses Jahres durchgesetzt werden. Sachsen erhielt eine Verfassung und ein Zweikammerparlament, und der betagte und kaum ambitionierte König Anton seinen Neffen Friedrich August zum Mitregenten. Auch Prinz Johann übernahm zusätzliche Funktionen. Die zwischenzeitliche Aufgabenhäufung gab sich dann aber wieder durch den Übergang zu den neuen Verfassungs- und Verwaltungsstrukturen. Noch im Oktober 1830 rückte Johann als Präsident an die Spitze des Geheimen Finanzkollegiums und leitete auch weiterhin dessen erste Abteilung. Gleichzeitig erhielt er den Beisitz im Geheimen Rat. Er übernahm das Generalkommando der Kommunalgarden des Landes und darüber hinaus den Vorsitz in einer Kommission, die mögliche Einsparungen im Militärhaushalt ermitteln sollte - ein weitgehend fruchtloses Unternehmen. Diese Ämter- und Geschäftsfiille war jedoch vorübergehend. Ende 1831 wurde die grundlegende Umstrukturierung der Ministerien umgesetzt. Dabei wurden sowohl das Geheime Finanzkollegium, das Johann bereits im Laufe des Sommers verlassen hatte, als auch der Geheime Rat aufgelöst. Johann nahm nun an den Sitzungen des neu gebildeten Gesamtministeriums teil, „obgleich ich natürlich nicht wirkliches Mitglied desselben sein konnte", wie er formulierte.12 Denn im Gegensatz zu den vorherigen Konstellationen in der Verwaltung war die konstitutionelle Stellung eines Prinzen des königlichen Hauses mit einer einem verantwortlichen Ministerium subordinierten Tätigkeit nicht mehr zu vereinen. Der dem Prinzen übertragene Vorsitz des neuen Staatsrates stellte sich in den gegebenen politischen Strukturen als überflüssig heraus. Denn da die Beratung der Gesetze im Wesentlichen in den Kammern erfolgte, erwies sich dieses Amt als Sinecure. Dagegen verblieb Johann der Oberbefehl der Kommunalgarden auch in den Folgejahren. Einen Prinzen des königlichen Hauses an der Spitze der Bürgerwehren zu positi11 Kretzschmar, Lebenserinneningen, S. 13f., 80. 12 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 123.

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1 Einleitung

onieren, gehörte zu den Bemühungen, deren Eigenständigkeit als politischer und militärischer Faktor zu beschränken.13 Mit einer Kommission erarbeitete Johann zunächst eine Gesetzesgrundlage für die Kommunalgarden und reiste außerdem von nun an jährlich zu Truppeninspektionen. Letztere Tätigkeit erwies sich als heikel, denn Johanns Auftreten in der Öffentlichkeit war und blieb ungeschickt. Gab es bereits 1830 Vorfalle, bei denen ein Blutvergießen Johann persönlich angelastet wurde,14 so galt die Parade in der Nähe von Leipzig 1838 als weiterer Tiefpunkt in dieser Funktion. Endgültig haftete ihm der Ruf des „Kartätschenprinzen" dann seit 1845 an, weil bei der Routineinspektion in Leipzig gegenüber einer vor Johanns Hotel demonstrierenden Menge wiederum Schusswaffen zum Einsatz kamen. Eine politische Einflussnahme Johanns auf die Regierung war bis 1830 weitgehend ausgeschlossen. Das „Ancien Regime" der Könige Friedrich August I. und Anton, das noch bis zum Generationswechsel auf dem Thron dauerte, bedeutete für Johann ein „politisches Stilleben" - so die Überschrift dieses Abschnittes seiner Memoiren. Durch die stabile Lage jener Jahre ergab sich für ihn keine Notwendigkeit, im tagespolitischen Geschäft aktiv zu werden. Allenfalls episodische Bedeutung hatte der 1829 und 1830 an den Prinzen von Seiten des in dieser Angelegenheit federführenden Frankreichs herangetragene Vorschlag, König von Griechenland zu werden. Obwohl ihn der Gedanke an eine „so ruhmvolle Aufgabe" durchaus reizte, veranlassten ihn vor allem dynastische bzw. familiäre Gründe abzusagen.15 Das meiste Interesse brachte er selbst seiner neuen parlamentarischen Arbeit entgegen. Nach der neuen Verfassung stand auch in Sachsen jedem volljährigen Prinzen des königlichen Hauses in der Ersten Kammer der Ständeversammlung eine Virilstimme zu. Ob er sie allerdings wahrnahm, war nicht unumstritten. Ungeachtet der Besorgnisse in der Regierung, dass Johann sich als Mitglied des königlichen Hauses und möglicher Thronfolger in der Kammer zu stark exponieren könne, nahm der Prinz die Position ausgesprochen aktiv an und arbeitete mit Eifer. Der Forschungsstand lässt es derzeit nicht zu, Johanns parlamentarische Arbeit zu beurteilen.16 Die Beteiligung des Prinzen setzte aber offensichtlich voraus, 13 Ruhland, Volker, Prinz Johann als Generalkommandant der sächsischen Kommunalgarden, SäHBll 1 (1992), S. 13-20, hier S. 16. 14 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 117,119. 15 Johann war noch immer selbst ein möglicher Thronfolger im Königreich Sachsen und hätte zudem seinen 1828 geborenen Sohn Albert als Thronerben in Dresden lassen müssen, während seine eigene Anwesenheit in Athen erfordert wurde. Das von Johann ebenfalls angesprochene Konfessionsproblem scheint nicht von ausschlaggebender Bedeutung gewesen zu sein. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 91f. 16 Bislang lediglich die Blütenlese Schwerdfeger, Otto, König Johann von Sachsen als Vorkämmpfer für Wahrheit und Recht, Reden und Sprüche aus 20 Jahren seines parlamentarischen Wirkens, Dresden 1884, sowie Petzholdt, Julius, Die ständische Wirksamkeit des Königs als Prinzen, in: Freiherr v. Falkenstein, Johann Paul, Johann König von Sachsen, Ein Charakterbild, Dresden 1878. Neuere Beiträge: Wyduckel,

1.1 Motive einer Biografie

17

dass er in weitgehender Übereinstimmung mit den anderen Kammermitgliedern agierte und auch mit den Vertretern der Regierung nicht in öffentlichen Widerspruch geriet. Dies spiegelt sich zum einen darin wider, dass er bei Abstimmungen in der Regel mit der Mehrheit votierte.17 Zum anderen belegen seine Äußerungen, wie sorgfältig er darauf bedacht war, jede Konfrontation mit den anderen Abgeordneten zu vermeiden. Eine etwaige kontroverse Verwicklung konnte für ihn der Grund sein, aus der Kammerarbeit auszusteigen. Politische Tätigkeit bedeutete für Johann also alles andere als ein öffentliches Eingreifen in den politisch-weltanschaulichen Richtungsstreit, der bereits mit dem Landtag 1836/1837 auch in den sächsischen Parlamentarismus einzog.18 So lag ihm viel daran, dem Eindruck entgegenzutreten, er habe in einer Diskussion „meine Ansichten und Meinungen der Kammer aufdrängen [...] wollen".19 Gerade im Zuge der fortgesetzten Parteibildung in den Kammern und gänzlich dann in der Kulmination der Revolutionsperiode wurde es für den Prinzen allerdings immer schwieriger, eine solche neutrale Haltung als Parlamentarier durchzuhalten. Über das Ja oder Nein einer Beteiligung an der Ständeversammlung stimmte er sich im Zweifelsfall mit der

Dieter, Prinz Johann als Jurist und Mitglied der Ersten Kammer des Sächsischen Landtages, in: König Johann von Sachsen, Zwischen zwei Welten, Halle an der Saale 2001, S. 125-129; Greiling, Werner, „Mislingt eine gewaltsame Unterdrückung, so ist das Schicksal aller Fürsten Deutschlands entschieden.", Prinz Johann von Sachsen in der Revolution von 1848/49, in: Müller, Winfried/Schattkowsky, Martina (Hgg.), König Johann von Sachsen - Zwischen Tradition und Modernität (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 8), Leipzig 2004, S. 53-68, beruht auf der Durchsicht der Redebeiträge des Prinzen auf dem Landtag 1848, bietet jedoch keinen Vergleich zur vorherigen Kammerarbeit des Prinzen. So kann das Urteil, 1848/49 sei ein „Schlüsseljahr" (S. 54) für Johanns spätere Regierungstätigkeit gewesen, wohl fur dessen Person nicht spezieller gelten als für politische Akteure der Reaktionsperiode allgemein. Wenig fruchtbar auch die ähnliche These, die Revolution 1848/49 sei „eine Art Lemlabor fur die Aufgaben, die nach 1854 auf [Johann] als König zukamen" gewesen, vgl. Blasius, Dirk, Das Jahr 1848 in den Königsbiografien Johanns von Sachsen und Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, in: Müller/Schattkowsky (Hgg.), König Johann von Sachsen - Zwischen Tradition und Modernität, wie oben, S. 45-52, hier S. 49. Matzerath, Josef, Index der „Landtagsreden" des Prinzen Johann 1848-1850, in: Ders. (Hg.), Der sächsische König und der Dresdner Maiaufstand, Tagebücher und Aufzeichnungen aus der Revolutionszeit 1848/49, Köln etc. 1999, S. 266-268; Ders., pro fide rege et lege, Prinz Johann auf dem Landtag 1848, in: Ders. (Hg.), Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Umbrüche und Kontinuitäten 1815 bis 1868, Dresden 2000, S. 58-61. 17 Wyduckel, Prinz Johann als Jurist und Mitglied der Ersten Kammer des Sächsischen Landtages, wie Anm. 16. 18 Flathe, Theodor, Geschichte des Kurstaates und Königreiches Sachsen, Bd. 3, Gotha 1873, S. 519. Zur Parteienentwicklung in Sachsen vgl. Geyer, Curt, Politische Parteien und öffentliche Meinungen in Sachsen von der Märzrevolution bis zum Ausbruch des Maiaufstands 1848-1849, Leipzig 1915; Matzerath, Josef, Parteien und Parlament, Das politische Vereinswesen und seine parlamentarischen Gegner, in: Ders. (Hg.), Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Umbrüche und Kontinuitäten 1815 bis 1868, Dresden 2000, S. 50-53. Allgemein Botzenhart, Manfred, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 18481850, Düsseldorf 1977; Ritter, Gerhard Α., Die deutschen Parteien 1830-1914, Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985. 19 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 28g, pag. 1, undatiertes Briefkonzept Johanns an Friedrich Ernst von Schönfels von Ende Mai 1848.

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1 Einleitung

Regierung ab. Zu den Bemühungen des Katholiken Johann um Neutralität in der Ständekammer gehörte es auch, dass er sich aus kirchenpolitischen Debatten und Konfessionsfragen gänzlich heraushielt. Dagegen entfaltete er bei Problemen der Gesetzgebung, des Strafrechts und in Verfahrensfragen sowie bei der Leitung der I. Deputation einige Aktivität. Sicher ist, dass Johann sich auch durch die parlamentarische Tätigkeit, ebenso wie durch sein Auftreten bei den Kommunalgarden, in der Öffentlichkeit ausgesprochen unbeliebt machte. Zudem - und dies wog angesichts der besonderen Brisanz der Kirchen- und Konfessionsfragen schwer - genoss er den Ruf eines katholischen Eiferers und Feindes der lutherischen Kirche.20 Dieses negativen Images war er sich wohl bewusst. Trotz der nach 1845 noch verstärkten und im Frühjahr 1848 für seine Kammerarbeit zur Methode erhobenen öffentlichen Zurückhaltung nahm Johann an den Landtagen auch weiterhin teil.21 Dem Landtag von 1849 - nach dem auch mit Johanns Votum beschlossenen Wahlgesetz vom 15. November 1848 zusammengesetzt - blieb Johann fern.22 Während des Dresdner Maiaufstands 1849 flüchteten Johann und seine Familie mit dem gesamten Königshaus auf die Festung Königstein.23 Dem Landtag von 1849/50 dagegen schloss er sich wieder aktiv an. Gut zwei Monate nach Johanns letzter Teilnahme an der Kammerarbeit erfolgte Anfang Juni 1850 der Staatsstreich. Die Pläne dazu waren ihm bereits im Vorfeld bekannt. Sein ausführliches Rechtsgutachten mündete in den Zweifel, „daß wenn die Sache einmal an ein künftiges Reichsgericht käme[,] die Regierung Recht behält wenn sie die alten Stände zusammenberiefe".24 Überdies lehnte Johann die Idee auch grundsätzlich ab: „In einem Wort man beginnt sich vom Rechtsboden zu entfernen um den Weg des Staatsstreichs einzuschlagen.

20 In dieser Beurteilung stimmen die Zeitgenossen überein. Sprechende Nachweise bringt Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 174f. Vgl. auch Freiherr v. Falkenstein, Johann Paul, Johann König von Sachsen, Ein Charakterbild, Dresden 1879 (im Folgenden: Freiherr v. Falkenstein, Charakterbild), S. 11 ff. Seit eineinhalb Jahrhunderten zieht sich das Bemühen topisch durch die Literatur, Johann gegen ungerechtfertigte Vorwürfe und falsche Urteile der Zeitgenossen in Schutz zu nehmen, vor allem in der Konfessionsfrage. 21 Johann ließ sich nicht wie üblich in eine Deputation wählen. Wie unsicher er vor und zu Beginn des Landtags 1848 über seine Rolle auf dem Landtag war, geht aus seiner vorherigen Abstimmung mit dem Ministerium hervor sowie aus Johanns Absicht, wegen einer Kammerdebatte aus dem gerade begonnenen Landtag gänzlich auszuscheiden. Vgl. Johanns Briefwechsel mit dem Präsidenten der Ersten Kammer Friedrich Ernst von Schönfels (1796-1878), SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 28g, sowie Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 200. 22 Johann schildert als Anlass für sein Ausscheiden die Nachwahl eines Abgeordneten, der wegen seiner Betätigung beim Maiaufstand 1849 inhaftiert war. Darin kam für ihn eine unerträglich „illoyale Gesinnung" der Kammermehrheit zum Ausdruck. Vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 236f. 23 Vgl. hierzu Matzerath, Der sächsische König und der Dresdner Maiaufstand, wie Anm. 16, insbesondere „Die Begebenheiten im Mai 1849", S. 3-32. 24 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 28n Gutachten über die provisorische Natur des Wahlgesetzes vom 15 Nov. 1848 und die Frage der Berufung der alten Stände [etwa Febr. 1849], pag. 18. Ob und welche(n) Adressaten das durchaus auch lediglich zur Selbstvergewisserung geeignete Papier gehabt haben könnte, geht aus dem Text nicht hervor.

1.1 Motive einer Biografie

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Dieser Rechtsboden aber ist eben das Einzige was bis jetzt unsere schwierigen Verhältniße noch erträglich gemacht hat."25 Auf das Terrain jenseits des „Rechtsbodens" kehrte Johann dann jedoch gut gelaunt und aktiv zurück. ,Alle fühlten sich wie von einem Alpdrücken befreit", berichtet er. „Selbst mancher sonst ziemlich links stehende theilte diese Gefühle. [...] Gott gebe Bestand."26 Johanns politische Anschauungen hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt deutlich gewandelt. Zunächst weitgehend liberal eingestellt, wird ihm nun eine gemäßigt konservative, gemessen am Meinungsspektrum in der Kammer jedoch keine reaktionäre Haltung attestiert. Johann selbst bezeichnete diejenige unter den fünf „Meinungsabteilungen in Europa", der er sich selbst zurechnete, als „konservative liberale Partei, zusammengesetzt aus der alten liberalen Opposition".27 Als Motiv dieser Meinungsentwicklung benennt Johann selbst seine Erfahrungen als sächsischer Rittergutsbesitzer. Denn seit dem Erwerb des Rittergutes Jahnishausen 1826 sammelte er nicht nur landwirtschaftliche Erfahrungen, sondern trat auch in Kontakt zu den Rittergutsbesitzern der Umgegend. Zusätzlich übernahm er 1838 das Rittergut Weesenstein, das er noch 1871 durch Zukauf des benachbarten Rittergutes Köttewitz erweiterte. Als konservative Einflüsse werden außerdem Johanns Freundschaft mit König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen genannt sowie seine Kontakte zu Hof und Staatskanzlei in Wien.28 Zum Regenten, seinem Bruder Friedrich August II., stand Johann in einem persönlich engen und weitgehend konsensualen Verhältnis. In allen politisch relevanten Angelegenheiten stimmte er sich mit dem König ab, wie dies auch dem Hausgesetz entsprach. Durch den Beisitz im Gesamtministerium war Johann über die sächsische Politik informiert. Eine eigene politische Beraterstimme gegenüber seinem Bruder hat er nicht geführt.29 Bei Friedrich August hatten sich Ende des Jahres 1824 erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung bemerkbar gemacht.30 Dass seine Regierungstätigkeit vergleichsweise wenig davon beeinträchtigt wurde, resultierte zu einem Gutteil aus einem relativ selbstständigen Ministerium, insbesondere aus der Ambitioniertheit des leitenden Ministers Friedrich Fer25 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 28n Gutachten über die provisorische Natur des Wahlgesetzes vom 15 Nov. 1848 und die Frage der Berufung der alten Stände [etwa Febr. 1849], pag. 6. Vgl. auch Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 240. 26 J-E 24.7.1850, d. h. Brief von Prinz Johann von Sachsen (1801-1873) an seine Tochter Elisabeth Herzogin von Genua (1830-1912) vom 24.7.1850. Ein Schlüssel zu den im folgenden verwendeten Kurzbezeichnungen und Archivsignaturen des Familienbriefkorpus findet sich in Anhang 7.3.2. 27 Brief Johanns an George Ticknor vom 3. September 1848, zitiert nach Freiherr v. Falkenstein, Charakterbild, S. 148f. Die anderen vier „Meinungsabteilungen" sind „die anarchische Partei", „die Republikaner", „die Männer für die Monarchie" sowie jenseits „die alte aristokratische Partei". 28 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 15, 80. 29 Diese Meinung teilt auch Kretzschmar, Die Zeit König Johanns von Sachsen 1854-1873 mit Briefen und Dokumenten (= Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 105, Heft 4), Berlin 1960 (im Folgenden: Kretzschmar, Die Zeit König Johanns), S. 17. 30 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 79.

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dinand Freiherrn v. Beust (1809-1886). Beim Unfalltod Friedrich Augusts II. 1854 zeigte sich Johann - entgegen Annahmen, er werde zu Gunsten seines Sohnes Albert verzichten - sofort entschlossen, die Regierung selbst anzutreten. Johanns anfangliche Reserviertheit wich dann nach und nach einem vertrauensvollen Zusammenwirken mit dem dominanten Minister. Beide Männer stimmten in ihren politischen Zielen überein. Zusätzlich schweißte die zunehmende Brisanz der von Beust favorisierten Außenpolitik die beiden zusammen. Beust verlor sein Amt nach der militärischen Niederlage von 1866 auf Druck der preußischen Regierung. Die Worte, mit denen der sächsische König die Entlassung seiner Tochter Elisabeth gegenüber kommentierte, spiegeln, welch hohe Wertschätzung der Minister bei ihm genoss: „Sehr schwerf,] wie du glauben kannst, ist mir die Trennung von Beust geworden[.] Er ist [nicht] nur ein höchst bedeutender Staatsmann[,] sondern hat sich auch namentlich in dieser letzten Periode als ein wahrhaft treuer und edelgesinnter Mann gezeigt".31 Die politischen Wirkungsmöglichkeiten des Monarchen verringerten sich nach 1866 fühlbar. Wichtige Kompetenzen lagen von nun an beim Norddeutschen Bund, außenpolitische Entscheidungsprozesse des Bundes bzw. des Reiches gingen am sächsischen König jetzt vorbei, da sie in den Händen von Kaiser und Reichskanzler lagen. Sowohl der Berliner Hofals auch Bismarck selbst bemühten sich mit Höflichkeiten darum, ein freundschaftliches Verhältnis zum Dresdner Fürstenhaus herzustellen. Die neuen Quellen lassen weniger die angeblich wiederhergestellte „Freundschaft" erkennen, als vielmehr eine anhaltende persönliche Reservierheit Johanns. Innenpolitisch bedeutete das neue Wahlrecht von 1868, dass Sachsen zu einem von politischen Parteien dominierten System überging. Johann sah darin den Abschied von einem jahrzehntelang geschätzten System politischer Repräsentation, aber auch einen Abschied von der Kooperation mit einer Korporation vertrauter Honoratioren-Politiker.32 Da das biologische Altern das Aktionsfeld des Königs in dieser Zeit beschränkte, musste Johann seine monarchische Rolle nicht noch einmal neu definieren. Sein monarchischer Legitimationsglaube hingegen blieb ungebrochen. Johann von Sachsen wird bis heute gern für ein sog. „kulturelles Königtum"33 bzw. für Sachsens Profilierung als „Kulturstaat"34 in Anspruch genommen. Die Gründe dafür

31 J-E 29.8.1866. 32 Marburg, Silke, „Die Thronrede war diesmal keine leichte Aufgabe.", König Johann spricht zur Landtagseröffhung am 15. November 1866 und zum Landtagsschluss am 30. Mai 1868, in: Matzerath, Josef (Hg.), Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte, Varianten der Moderne 1868-1952, Dresden 2003, S. 9-12. 33 Kroll, Frank-Lothar, Monarchen als Gelehrte, Zum Typus des homme des lettres in den deutschen Fürstenstaaten des 19. Jahrhunderts, in: König Johann von Sachsen, Zwischen zwei Welten, Herausgegeben von der Sächsischen Schlösserverwaltung und dem Staatlichen Schlossbetrieb Weesenstein, Halle an der Saale 2001, S. 135-140, hier S. 135. Kroll vermutet eine legitimatorische Funktion der verschieden ausgeprägten Gelehrtenattitüde von Monarchen des 19. Jahrhunderts, sieht hier jedoch ein Forschungsdesiderat. 34 Zimmermann, Ingo, Johann von Sachsen, Die Zeit vor der Thronbesteigung, München etc. 2001, S. 8.

1.1 Motive einer Biografie

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liegen in erster Linie in seinem persönlichen Bildungsehrgeiz und - damit teils zusammenhängend - in einigen präsidialen Funktionen im Kulturleben, die ihm als Agnaten des Königshauses in mehr legitimatorischem Sinn übertragen wurden. Als Kulturpolitiker oder Kunstmäzen profilierte er sich nicht.35 Als Heranwachsender zwar sorgfältig, jedoch in keiner Richtung herausragend ausgebildet, beschäftigte sich Johann in den Jahren nach seiner Eheschließung intensiv mit Sprachen, Literatur, Geschichte und Naturwissenschaften. Mit jahrelanger Ausdauer betrieb er eine deutsche Übersetzung von Dantes Divina Commedia. In diesem Projekt bündelten sich wissenschaftliche Interessen mit Aspekten katholischer Frömmigkeit und Johanns touristischen Erfahrungen. Gleichzeitig hatte er damit mittelbar teil am Diskurs um die italienische Nation, in dem Dante als zentrale Referenzgröße fungierte.36 Für die Übersetzung nutzte Johann auch die Ressourcen der höfischen Geselligkeit, die er um seine Person entfaltete. In einem regelmäßigen abendlichen Diskussionskreis ließ er u. a. auch seine Übersetzungen von Dantes Commedia verlesen und von den Teilnehmern debattieren.37 Die deutsche Version erschien zwischen 1828 und 1849 nach und nach im Druck, erlebte 1865/66 eine Gesamtauflage und machte Johann zu einem bekannten Übersetzer.38 Da ihm eine Veröffentlichung unter dem eigenen Namen eines 35 Weigand, Katharina, Der gelehrte Monarch und die Kulturpolitik, Johann von Sachsen und Maximilian II. von Bayern im Vergleich, in: Müller, Winfried/Schattkowsky, Martina (Hgg.), König Johann von Sachsen - Zwischen Tradition und Modernität (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 8); Leipzig 2004, S. 189-202. 36 Schulze, Thies, Dante Alighieri als nationales Symbol Italiens (1793-1915) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; 109), Tübingen 2005. 37 Die Runde schmolz über die gesamte Projektdauer bis Ende der vierziger Jahre allerdings stark zusammen. Äußerungen von Johann selbst und von anderen Teilnehmern belegen, dass sich die Gespräche um „mannigfaltigste Gegenstände" drehten, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 86. Primär handelte es sich also nicht um ein spezifisches „Dante-Kränzchen" oder gar eine „Accademia Dantesca" wie dies später häufig akzentuiert wird. Auch der „literarische Salon im Stil der Franzosen des 17. Jahrhunderts" ist wohl kaum als Vorbild der Veranstaltung heranzuziehen, wie Neumeister, Sebastian, Philalethes: König Johann als Dante-Übersetzer, in: Müller, Winfried/Schattkowsky, Martina (Hgg.), König Johann von Sachsen - Zwischen Tradition und Modernität (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 8), Leipzig 2004, S. 205, dies behauptet. Die Kette historischer Vorbilder von Piatons Philosophenschule bis insbesondere zu den Florentiner Gesprächskreisen des 15. Jahrhunderts hatte auch Johann zweifellos vor Augen. Der höfische Charakter erhellt aus den Dresdner Hoftagebüchern, die Soireen als eine übliche Hofveranstaltung ausweisen, deren Ausgestaltung variierte. Auch in Johanns - allerdings auf Männer beschränkten - Kreis überwogen Hofchargen, Hoffähige sowie hoffähige Fremde. 38 Würdigung dieser Übersetzung durch Neumeister, Philalethes: König Johann als Dante-Übersetzer, wie Anm. 37; Roddewig, Marcella, König Johann von Sachsen und die Danteforschung, in: Frank-Rutger Hausmann in Zusammenarbeit mit Michael Knoche und Harro Stammeljohann (Hgg.), „Italien in Germanien", Deutsche Italien-Rezeption von 1750-1850, Akten des Symposiums der Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Schiller-Museum 24.-26. März 1994, Tübingen 1996, S. 215-231. Mit Sicherheit war die Arbeit an Übersetzung und Kommentar keine mentale Flucht aus einem von „Unsicherheits- und Bedrohungsgefühl, schwer benennbaren Ängsten vor einem aufsteigenden, noch unbekannten Neuen" geprägten „Lebensgefuhl der Restaurationszeit" in eine politisch und sozial vermeintlich unproblematische Vergangenheit des Mittelalters, so u. a. Zimmermann, Ingo, Zwischen Pflicht

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Fürsten unangebracht vorkam, firmierte er von Anfang an als „Philalethes" - als „Freund der Wahrheit".39 Für seine Dante-Übersetzung wurde Johann 1869 in die Friedensklasse für Wissenschaften und Künste des Ordens „Pour le Merite" aufgenommen. Diese Ehrung gehörte allerdings in die Reihe der gezielten politischen Höflichkeiten, die der Berliner Hof nach 1866 Richtung Dresden erwies. Dies war auch Johann selbst bewusst, er kommentierte: „Freilich muß man sich immer sagen daß die Ehre nicht sowohl dem Schriftsteller als dem König gilt."40 Johann verfasste auch eigene Dichtungen, trat aber als Autor nicht selbst an die Öffentlichkeit. Erst posthume Publikationen des Dresdner Hofes versuchten dem König dann auch die Dichterkrone zu winden und trugen damit zu den Bemühungen bei, ihn als „Friedensfürsten" unter den Albertinern zu profilieren. Seinen Ruhm konnte man - begreiflicher Weise - nicht auf militärische Interessen oder Erfolge gründen, sondern leitete ihn stattdessen aus seinen intellektuellen Neigungen und moralischen (Herrscher-)Tugenden ab.41 Auch Johanns Austausch mit dem amerikanischen Wissenschaftler George Ticknor (1791-1871), Historiker und ebenfalls Dante-Freund, wurde nun in dieses öffentliche Profil Johanns als intellektueller Kopf eingebracht. Ticknor besuchte Johann mehrmals in Dresden und wechselte immer wieder Briefe mit ihm.42 Als weitere Funktion im Kulturleben sei der Vorsitz des Königlich Sächsischen Altertumsvereins genannt. Bei der Gründung des Vereins 1824 war Johann Vizedirektor an der und Neigung, Der bedeutendste sächsische König des 19. Jahrhunderts, in: König Johann von Sachsen, Zwischen zwei Welten, Halle an der Saale 2001, S. 25-31, hier S. 27. 39 Johann kritisierte u. a. auch unter diesem Aspekt die poetischen Veröffentlichungen König Ludwigs I. von Bayern unter fürstlichem Namen, vgl. Brief Johanns an Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.) von Preußen vom 9. April 1829 in Herzog zu Sachsen, Johann Georg (Hg.), Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, Leipzig 1911, S. 54. 40 J-E 19.1.1869. 41 Die Veröffentlichungen begannen erst nach seinem Tod. Eine Auswahl brachte bereits Freiherr v. Falkenstein, Charakterbild. Dann [Petzholdt, Julius (Hg.),] Die Dichtungen des Königs Johann von Sachsen, Dresden 1880. Mehr Titel enthält: Königinwitwe von Sachsen, Carola (Hg.), Dichtungen des Königs Johann von Sachsen, Leipzig 1902. Aussagekräftig zur Interpretation Johanns als eines „Friedensfürsten" sind die Debatten um Johannes Schillings Johann-Denkmal im Zentrum eines von Kulturbauten geprägten „Friedensforums" auf dem Dresdner Theaterplatz. Vgl. Stephan, Bärbel, Das Denkmal für König Johann von Sachsen in Dresden, SäHBll 38 (1992), S. 70-80. Mergen, Simone, Die Enthüllung des König-Johann-Denkmals in Dresden anlässlich der Wettin-Feier 1889, Jubiläum und Denkmal im monarchischen Kult des 19. Jahrhunderts, in: Müller, Winfried/Schattkowsky, Martina (Hgg.), König Johann von Sachsen - Zwischen Tradition und Modernität (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 8), Leipzig 2004, S. 425-448. 42 Adam, Thomas, Germany Seen through American Eyes: George and Anna Eliot Ticknor's German Travel Logs, in: Keil, Hartmut (Hg.), Transatlantic Cultural Contexts, Essays in Honor of Eberhard Brüning, Tübingen 2005, S. 151-163. Herzog zu Sachsen, Johann Georg, Briefwechsel König Johanns von Sachsen mit George Ticknor (= Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte), Leipzig etc. 1920. Aber auch Freiherr v. Falkenstein, Charakterbild wies nicht nur auf Johanns Kontakt zu Ticknor hin, sondern druckte auch Briefe ab.

1.2 Hoher Adel als Forschungsgegenstand

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Seite des Direktors, seines Bruders Friedrich August. Und von 1830 bis zur Thronbesteigung nahm er den Direktorenposten wahr. Seinem persönlichen Geschichtsinteresse entsprechend betätigte er sich intensiver als es die bloße Ehrenstellung eines fürstlichen Protektors erfordert hätte. Die praktischen Möglichkeiten als Mitglied des Königshauses und seine fürstliche Reputation nutzte er, um die Gründung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine voranzutreiben und wurde dessen erster Vorsitzender.43 Während er sich aus diesen Funktionen bei seiner Thronbesteigung zurückzog, übernahm er 1865 die Schirmherrschaft der neu gegründeten Deutschen Dante-Gesellschaft. Mehrere Facetten der bisherigen (auto)biografischen Arbeit pointieren Johanns Zugehörigkeit zu einer deutschen und europäischen Fürstengesellschaft. Ganz unmittelbar ergab sie sich zunächst aus der Genealogie sowie aus dem Bild von seinem Familienleben. Auch die Italienreisen der Jahre 1820/21,1838,1851,1857 und 1872 warfen Schlaglichte auf Johanns Kontakte mit dem dort lebenden Hochadel. Außenpolitisch war Johann unter den Fürsten des Deutschen Bundes besonders aktiv, denn das von Dresden verfochtene Konzept eines „Dritten Deutschlands" zwischen den Großmächten fokussierte nicht nur Wien und Berlin, sondern fußte auch auf dem Zusammenwirken der mittleren und kleineren Bundesstaaten - und damit auch ihrer Monarchen. In diesem Zusammenhang stand Johann 1863 im Rampenlicht, als ihn der Frankfurter Fürstentag mit dem letzten Versuch beauftragte, den abwesenden preußischen König Wilhelm I. noch persönlich zur Teilnahme zu bewegen. Wie ambivalent sich gerade die Beziehungen zum preußischen Königshaus durch die Verschränkung dieser außenpolitischen Problematik mit persönlichen Bindungen darstellten, verdeutlicht seit 1911 die Edition der Korrespondenzen Johanns mit Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen.

1.2 Hoher Adel als Forschungsgegenstand Obwohl die Erforschung des neuzeitlichen Adels in den vergangenen Jahren eine beachtenswerte Breite erreicht hat, ist der hohe Adel bislang nicht systematisch behandelt worden.44 Dies hat mehrere Gründe. Der wichtigste dürfte in der Annäherungsrichtung

43 John, Uwe, Romantischer Geist und historischer Sinn, Johann von Sachsen und die deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, Blätter für deutsche Landesgeschichte, N.F. 137 (2001), S. 199-221. 44 Und dies, obwohl die Auftaktbände der Adelsforschung zu Beginn der 90er Jahre immer wieder auf die Existenz eines hohen Adels als Merkmal der Adelsgeschichte verweisen, vgl. Anm. 46. Eine Initiative zu den Fürsten, die jedoch ohne größeren Widerhall blieb, ergriff Weber, Wolfgang (Hg.), Der Fürst, Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln etc. 1998. Unter Adelsforschung sei hier jene Forschung verstanden, die ein über den Einzelfall hinausgehendes, deutendes Interesse an der Geschichte „des Adels" oder einer seiner Teilgruppen geltend macht.

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der Sozialgeschichte liegen, die von „unten" nach „oben" erfolgte, nämlich auf dem Weg von der Arbeiterklasse über das Bürgertum zum Adel. Die vertikale Gesellschaftsvorstellung blieb auf diesem Weg terminologisch präsent, da man zunächst die Unterschichten behandelte, dann das „aufstrebende" Bürgertum und schließlich das „Obenbleiben" des Adels thematisierte. Dabei blieb die Legimitation der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem „Oben", d. h. mit traditionalen Eliten, eine offenbar stets heikle Angelegenheit.45 Trotzdem erstaunt - nachdem sich ein Zeitverzug für das Forschungsthema zunächst erwarten ließ - das in der Literatur zur Schau getragene Desinteresse an einer systematischen Betrachtung des Hochadels in der Moderne. Natürlich hätte sich der hohe Adel in einer an gesellschaftlichen Großgruppen interessierten und von der Arbeiterklasse hergeleiteten historiografischen Tradition merkwürdig klein ausgenommen. Angesichts dieses außerordentlich geringen Bevölkerungsanteils bestand offenbar die Sorge, im Verfolg solcher quantitativen Kleinteiligkeit etwa von den großen Linien „der Geschichte" „des Adels" abzukommen. Neben dieser legitimatorischen Schwierigkeit hat auch die Fragestellung, die die neuere Adelsforschung bislang dominierte, eine systematische Betrachtung des Hochadels nicht erfordert. Man interessierte sich nämlich für den zunächst unter wiederholtem Verwundern festgestellten Eingang des Adels in die moderne Elite und bekräftigte den Erklärungsbedarf für dieses frappierende sog. „Obenbleiben" des Adels. Ganz offensichtlich widersprach es dem Selbstbild der Gesellschaft, dass Adlige bis ins 20. Jahrhundert hinein regelmäßig in Führungspositionen zu finden waren, die sie nach den gängigen Denkmustern zu Gunsten von Angehörigen anderer gesellschaftlicher Gruppen zu räumen gehabt hätten. Das in seinem Aufstieg nicht nur als weit erfolgreicher, sondern auch als epocheprägend geltende Bürgertum hatte sich offenbar doch nicht vollständig durchgesetzt. Stets aber ging die Forschung dabei von einer dualen Konstellation dieser beiden Sozialgruppen aus, in der diese eine wesensbedingte Konkurrenz untereinander austrugen.46 In dieser angenommenen Konkurrenzsituation erschien wenig oder nichtkompetitives Zusammenwirken zwischen Adligen und Bürgerlichen allenfalls als vorsätzlicher Kompromiss zwischen Gegnern, als sog. Elitenkompromiss. Die Formierung der gesellschaftlichen Elite stellte sich als ein teils kohäsives, teils adhäsives Wechselspiel zweier gesellschaftlicher Großgruppen dar, dessen 45 Man beachte die durchgängig ausführlichen Legitimationsbemühungen der neueren Adelsforschung. 46 Entsprechend rückte man das Zusammenwirken des Adels mit dem Bürgertum ins Blickfeld. Dieses Ziel wird in nahezu allen Sammelwerken formuliert, die am Auftakt der adelsgeschichtlichen Hausse zu Beginn der 1990er Jahre stehen. Vgl. beispielsweise die entsprechende Zusammenfassung bei Fehrenbach, Elisabeth, Einführung, in: Dies. (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien; 31), München 1994. Ebenso Birke, Adolf/Kettenacker, Lothar (Hgg.), Bürgertum, Adel und Monarchie (= Prinz-Albert-Studien; 7), Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München etc. 1989 und Reif, Heinz (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Bd. I und II, Berlin 2000 und 2001.

1.2 Hoher Adel als Forschungsgegenstand

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irritierende und häufig für den Verlauf der deutschen Geschichte als verhängnisvoll angenommene Eigenschaft es aber im Verlauf des 19. und des 20. Jahrhunderts blieb, dass es die Gruppenidentitäten niemals gänzlich nivellierte. Was den Hochadel betrifft, so nahmen wesentliche Teile an den primär fokussierten Ausleseprozessen in Verwaltung und Militär jedoch gar nicht teil, und er hielt auch im Ab und Auf der Verteilung des Ritteigutsbesitzes keine interessante Quote. Daher gerieten etwa Regenten allenfalls als Protektoren bzw. Reformer des niederen Adels in den Fokus, d. h. wenn sie eine Adelsschutzpolitik initiierten oder eine Adelsreform konzipierten.47 Ging es um die soziale Identität der Monarchen, so beschrieb man diese zunächst eher als verbürgerlicht oder apostrophierte sie später als adlig, ohne dass eine separate Sozialformation thematisiert worden wäre, in der sich diese Akteure selbst verortet hätten. Damit musste nicht nur in Kauf genommen werden, dass sich eine Diskrepanz zu den Selbst- und Fremdzuschreibungen der Akteure ergab, deren soziales Handeln man zu erfassen gedachte. Zweifelhaft scheint vor allem auch die Schlussfolgerung, hoher und niederer Adel hätten grundsätzlich eine gemeinsame Mentalität, gemeinsame Interessenlage und gleiche Strategien des Obenbleibens gehabt.48 Beim Überblick über die Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts subsumierte man Hochadlige dann entweder stillschweigend unter „Adel". Oder die hierarchisch konzipierte Binnendifferenzierung zwischen hohem und niederem Adel wurde als eine unter mehreren gängigen Differenzierungen der Adelsgesellschaft zumindest benannt, blieb dann jedoch ohne weiteres Eingehen.49 Diese Differenzierung, so hieß es, sei allenfalls in der Selbstsicht 47 Reif, Heinz, Friedrich Wilhelm IV. und der Adel, Zum Versuch einer Adelsreform nach englischem Vorbild in Preußen 1840-1847, ZfG 43 (1995), S. 1097-1111 und Fehrenbach, Elisabeth, Adel und Adelspolitik nach dem Ende des Rheinbundes, in: Ulimann, Hans-Peter/Zimmermann, Clemens (Hgg.), Restaurationssystem und Reformpolitik, Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, S. 189-198. Vorstellungen einer Adelsreform formulierte auch der Protagonist der vorliegenden Untersuchung, vgl. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 19k) Gedanken und Betrachtungen über die künftige Stellung des Adels im Königreich Sachsen, pag. 34-36. Vgl. dazu auch Matzerath, Josef, Adelsprobe an der Moderne, Sächsischer Adel 1763-1866, Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation (= VSWG Beihefte; 183), Stuttgart 2006, S. 82-86. Weder der preußische Monarch noch sein sächsischer Schwager lieferten Reformmodelle, in denen sich die Autoren in irgendeiner Weise selbst unter „den Adel" subsumiert hätten bzw. subsumieren ließen. Auch die anderen in Sachsen diskutierten Adelsreformmodelle gingen nie von einer solchen Indifferenz aus, vgl. Marburg, Silke, ... sub estos signis militamus, Adlige Selbstsymbolisierung in der Genossenschaft des Johanniterordens im Königreich Sachsen, in: Dies./Matzerath, Josef (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln etc. 2001, S. 17-44. 48 So firmierten in der Forschungspraxis beispielsweise Kaiser Wilhelm II. und seine adeligen Offiziere und Beamten sogar als „Standesgenossen". Kohlrausch, Martin, Die Flucht des Kaisers - Doppeltes Scheitern adlig-bürgerlicher Monarchiekonzepte, in: Reif, Heinz (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland II, Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 65-101, hier S. 67. 49 Ausdrücklich Dilcher, Gerhard, Der alteuropäische Adel - ein verfassungsgeschichtlicher Typus? in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950 (= GG Sonderheft; 13), Göttingen 1990, S. 5786, hier S. 64, 85 und ebenso Press, Volker, Adel im 19. Jahrhundert, Die Führungsschichten Alteuropas

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des Adels von Belang gewesen, für die Historiografie aber nicht ähnlich relevant wie die Abgrenzung zwischen Adel und Bürgertum.50 Gestützt wurde diese Handhabung zudem durch den Blick auf das Ende eines - langen - Jahrhunderts. Denn hier, so die bislang unwidersprochene Meinung, erwies sich, dass dem Hochadel unter vielfältigen Binnendifferenzierungen des Adels die marginale Rolle eines vorübergehenden, mit dem Ende der deutschen Monarchien schließlich nivellierten Phänomens zukam.51 Damit fiel man hinter die Befunde von Heinz Gollwitzer zurück, der eine deutliche Fortschreibung des Standesunterschiedes zwischen hohem und niederem Adel im 19. Jahrhundert als zentral und evident eingeschätzt hatte.52 Für die von ihm untersuchte Gruppe der Standesherren hatte er bereits herausgearbeitet, dass es sich nicht allein um eine Funktion einer staatsrechtlichen Sonderqualität handele. Der Begriff eines hohen deutschen Adels, der 1815 inhaltlich neu gefüllt worden war, habe - so Gollwitzer - in den Augen der Standesherren selbst weniger an den staatsrechtlichen Qualifikationen der Bundesakte als an ihren Traditionen gehaftet.53 Dieser Befund wird zweifellos auch für die Angehörigen der regierenden Fürstenhäuser gelten. Auch für sie bildeten das Haus und seine Tradition die primäre Referenzgröße sozialer Legitimation, und diesen Traditionen war die Differenz zum niederen Adel eingeschrieben. Derzeit muss man in diesem vor allem auf empirische Befunde verweisen, die die wieder häufigeren Biografien einzelner Fürsten und Fürstinnen erbringen, auch wenn sie meist eine eher quasi-natürliche Geltung von Standesunterschieden und spezifischen Traditionskonstrukten innerhalb des Adels voraussetzen.

im bürgerlich-bürokratischen Zeitalter, in: von Rehden-Dohna, Armgard/Melville, Ralph (Hgg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung Universalgeschichte; Beiheft 10), Stuttgart 1988. S. 1-19, hier S. 2f. sowie Reif, Heinz, Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert (= EDG; 55), München 1999, S. 2. 50 Wienfort, Monika, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 12. 51 Reif, Heinz, Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 49, S. 2. Wienfort, Monika, Der Adel in der Moderne, wie Anm. 50, S. 20, führt die angenommene Auflösung des Hochadels auf den Mangel an ebenbürtigen Ehepartnern zurück. Bislang ist ein etwaiger Wandel dieser Abgrenzung im 20. Jahrhundert jedoch noch nicht untersucht, etwa ob das Abgrenzungskriterium der Ebenbürtigkeit in der Praxis evtl. von anderen Kriterien abgelöst wurde, ζ. B. vom Fokus auf bestimmte Traditionen der Häuser, deren Angehörige nach wie vor einen Hochadel bildeten. Zur ähnlichen Entwicklung des niederen Adels im Verlauf 19. Jahrhunderts vgl. Abschnitt 5.1 Ebenbürtigkeit - Semantik der Endogamie. 52 Gollwitzer, Heinz, Die Standesherren, Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, Stuttgart 1957, S. 276-280. 53 Gollwitzer, Die Standesherren, wie Anm. 52, S. 124.

1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

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1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

1.3.1 Obenbleiben und Obensein In der, wie schon gezeigt, nahezu kanonischen Frage nach dem Obenbleiben erhielt der hohe Adel bereits von Reif eine relativ gute Note. Er habe, so hieß es, seine Vorzugsstellung besser gewahrt als der niedere Adel.54 Die fachgerechte Analyse der Privilegien, Positions- und Vermögensentwicklung, mit der sich das Obenbleiben des Hochadels fassen ließe, steht jedoch noch aus. Für den fraglichen Zeitraum sind bislang kaum Studien zur Ressourcenverfügung innerhalb des Hochadels bekannt.55 Das ergangene Urteil kalkuliert demnach weniger mit Überschlagsrechnungen als mit dem „Anschein" des Obenseins. Genauer betrachtet handelte es sich um je spezielle ökonomische und juristische Gemengelagen. Denn die ökonomische Position bestimmte sich sowohl über Einzelpersonen als auch über die Institutionen der fürstlichen Häuser.56 In Betreff der letzteren war die Frage, ob es sich wie im vorliegenden Fall um ein regierendes Haus handelte, nicht unerheblich. Denn dessen Ausstattung durch Zivillisten, Krondotationen, Apanagen etc. sowie mit Repräsentationsbedarf trug auch unter konstitutionellen Bedingungen zweifellos dazu bei, der Regentenfamilie einen fürstlichen Lebensstil zu sichern. Schon die Bewertung je unterschiedlicher Kombinationen von staatlichen Geldund Sachleistungen mit fideikommissarisch gebundener Repräsentationsausstattung, mit fideikommissarischen Hausvermögen und Stiftungen und schließlich einer wechselnden Anzahl privater Vermögen bislang zumeist unbekannter Größe verdeutlicht das Problem, die materiellen Ressourcen zu quantifizieren. Die dem Haus über den Staatsetat zufließenden Gelder waren zweckgebunden, d. h. für die fürstliche Lebensführung und die

54 Reif, Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 49, S. 3. Der Terminus „Obenbleiben" stammt von Werner Sombart und gehört zur begrifflichen Grundausstattung der neueren Adelsgeschichtsschreibung. Im Hinblick auf die Umsetzung offenes Rahmenkonzept: Braun, Rudolf, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950 (= GG Sonderheft; 13), Göttingen 1990, S. 87-95. 55 Grillmeyer, Siegfried, Habsburgs Diener in Post und Politik, Das „Haus" Thum und Taxis zwischen 1745 und 1867 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte; 194, Mainz 2005. Vgl. auch Stekl, Hannes/Wakounig, Marija, Windisch-Graetz, Ein Fürstenhaus im 19. und 20. Jahrhundert, Wien etc. 1992. Meyer, Stefan, Georg Wilhelm Fürst zu Schaumburg-Lippe (1784-1860), Absolutistischer Monarch und Großunternehmer an der Schwelle zum Industriezeitalter (= Schaumburger Studien; 65), Bielefeld 2007. 56 Obwohl hier in keiner Weise der Anschluss an die oikodiale Lesart des „ganzen Hauses" gesucht wird, ist doch evident, dass die Ressourcenverteilung des Hochadels zu erheblichen Teilen innerhalb des jeweiligen Hausverbandes erfolgte.

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1 Einleitung

Unterhaltung des Hofs bestimmt.57 Daher hatte der Fürst nicht die Chance, solche Ressourcen etwa in kapitaltragenden Wirtschaftszweigen einzusetzen. Ebenso waren Wohnund Nutzungsrechte in dem Staat gehörigen Schlossbauten ökonomisch nicht verwertbar. Gollwitzers auf die Standesherren gemünzte Einschätzung, das Ringen um Besitz habe sich, abgesehen von der Besitzform des Stammguts, für den hohen Adel prinzipiell nicht anders dargestellt als für andere soziale Gruppen, ist daher mit Blick auf die regierenden Häuser nicht voll zuzustimmen.58 Im Königreich Sachsen trennte die Verfassung von 1831 das Staatsvermögen erstmals konsequent vom fürstlichen Privat- und Familienvermögen sowie dem Hausvermögen. Als Laufzeit der jeweils beim Regierungsantritt eines Königs festzulegenden Zivilliste galt dessen gesamte Regierungszeit. Und auch die Höhe der Apanagen war 1837 gesetzlich festgeschrieben worden. Dass dieses Prinzip nicht durchgehalten werden konnte, lag daran, dass man sich vollständig auf diese fixen Zahlungen aus der Staatskasse festgelegt hatte. Der rasche Verfall des Geldwertes der 1831 vereinbarten Beträge brachte den Dresdner Hof daher schon vor der Revolution in eine heikle Finanzsituation. Anders als andere deutsche Monarchen fügte der sächsische König nicht über regelmäßige Einnahmequellen, deren Ertrag selbst mit der Zeit anstieg.59 Trotz einer 1845 erfolgten Sonderbewilligung für Hofbauten hatten die Hoffinanzen Ende 1847 einen katastrophalen Punkt erreicht.60 Aber erst beim Regierungsantritt Johanns 1854 folgte eine verfassungsgemäße Anhebung der Zivilliste. Auch 1863 und 1872 gab es weitere nominelle Anhebungen um 45.000 bzw. um nochmals 30.000 Taler jährlich für die Anpassung der Hofbedientengehälter an die der Staatsdiener. So wahrte man das Ansehen des Hofes und die Attraktivität des Hofdienstes. Über Zivilliste und Apanagen hinaus bewilligte der Landtag dem Hof auch 57 Im Königreich Sachsen bestimmte § 22 der Verfassungsurkunde die Verwendung der Zivilliste, die dem König „zu seiner freien Disposition" stand, für „die Chatullgelder des Königs und seiner Gemahlinn, die Unterhaltungs- und Erziehungskosten seiner Kinder, die Gehalte aller Königlichen Hofbeamten und Diener, die künftig auszusetzenden Pensionen derselben, so wie ihrer Witwen und Kinder, de[n] gesammtefn] Aufwand für die Hofhaltung, den Stall, die Hofjagd und die dazu gehörigen Inventarien, den katholischen und evangelischen Hofgottesdienst, für letztern nach der Höhe des zeitherigen Beitrags, die Hofcapelle und Hoftheater, die Unterhaltungskosten der nach § 17 dem Könige zur freien Benutzung bleibenden Schlösser, Paläste, Hofgebäude und Gärten, endlich alle hier nicht erwähnte[n] ordentlichefn] und außerordentliche[n] Hofausgaben, deren Bestreitung nicht ausdrücklich auf das Staatsbudget gewiesen ist". 58 Gollwitzer, Die Standesherren, wie Anm. 52, S. 261. 59 Zu dieser Einschätzung vgl. SächsHStA Dresden, Ministerium des Königlichen Hauses, Loc. 5 Nr. 8 Acta, die Königliche Civilliste in specie deren Erhöhung betrfd: 1854-1871, Vol Π, pag. 8. Zimmermann, Friedrich Wilhelm Rudolph, Die Zivilliste in den deutschen Staaten (= Finanz- und volkswirtschaftliche Zeitfragen; 60), Stuttgart 1919. 60 Die daraufhin vorbereitete zehnprozentige Anhebung der Zivilliste für 1849 unterblieb allein wegen der Umwälzung von 1848/49, vgl. SächsHStA Dresden, Ministerium des Königlichen Hauses, Loc. 5 Nr. 8 Acta, die Königliche Civilliste in specie deren Erhöhung betrfd: 1854-1871, Vol II, pag. 3-38, insbesondere der Generalabriss pag. 18-27. Als ruinös galt insbesondere auch die Baupolitik Friedrich Augusts II.

1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

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nach 1845 weitere Sonderbeträge für bestimmte Verwendungszwecke. Seit 1873 gab es dann erstmals regelmäßig 15.000 Taler für Neubauten und Hauptreparaturen an den Hofgebäuden, obwohl die Unterhaltung dieser Bauten eigentlich von der Zivilliste zu bestreiten gewesen wäre. Andere Einzelbewilligungen setzten die Tradition der vormaligen ständischen Geschenke an den Monarchen fort.61 Der fixe Betrag für die Königin, den der zweite Landtag auf Dauer gebilligt hatte, wurde ebenso wie die Zivilliste mit jeder neuen Regentschaft erhöht.62 Die in der Verfassung behauptete Äquivalenz zwischen der Zivilliste und den Domanialeinkünften entwickelte sich in der Praxis kontinuierlich zu Ungunsten des Hofes, v. a. während der Regierungszeit Johanns.63 Während im Jahr 1834 die Zivilliste 70,1% der Domanialeinkünfte betrug, und 1837 - als man die dauerhaft angestrebte Höhe der Zivilliste erreicht hatte - immerhin noch 65,7%, so waren es gegen Ende der Regentschaft Friedrich Augusts II. nur noch 56,0%. König Johanns Zivilliste startete mit 58,7%, lag aber 1873 gerade noch bei 29,3% der Domänenerträge. Die regelmäßige Hoffinanzierung insgesamt - d. h. Zivilliste, Apanagen und der Unterhalt der Sammlungen - nahm 1833 einen Anteil von 15,2% des Staatsbudgets ein und sank dann während der Amtszeit Friedrich Augusts II. auf 8,9%. Nach dem Regierungsantritt Johanns kam man wieder auf 9,9%, lag aber trotz aller Erhöhungen 1873 lediglich noch bei 6,7%. Insgesamt war der Hof also mehr und mehr auf die ständischen Erhöhungen und Sonderbewilligungen angewiesen. Die 1831 behauptete Äquivalenz zwischen Domanialgut und Zivilliste war zum Mythos geworden. Im Zuge des Anwachsens des Staatsbudgets hatte das Hofbudget stark an Bedeutung verloren. Die sog. Sekundogenitur nach § 23 der Verfassungsurkunde und §§ 42-54 des Hausgesetzes alimentierte die Nebenlinie des Hauses. Diese fideikommissarische Stiftung ging auf die Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis von Sachsen (1724-1780) zurück. Sie hatte ihre Ansprüche an den bayrischen Allodialnachlass an ihren Sohn Kurfürst Friedrich August III. abgetreten, dabei aber eine Stiftung für ihre nachgeborene Deszendenz ausbedungen. In Folge des Bayrischen Erbfolgekrieges erhielt die sächsische Seite für den Verzicht auf diesen Erbanspruch 6.000.000 Taler, ein Betrag, der später durch das Testament des Prinzen Carl von Sachsen, Herzog von Kurland (1733-1796) anwuchs. Diese Stiftung wurde nach 1830 ebenso wie das Domanialgut auf die Staatskasse über-

61 Es handelt sich um die Einrichtung der Königin-Amalie-Stiftung (200.000 Taler) und die Erweiterung des Großen Gartens (90.000 Taler), die im Zusammenhang mit der Goldenen Hochzeit des Königspaares 1872 standen. 62 In der Regierungszeit Friedrich Augusts II. betrug dieser zusätzliche Posten für die Königin 28.000 Taler, während die Zivilliste des Königs seit 1836 bei 500.000 Talern lag. Für die Regierungszeit Johanns wurde die Zivilliste auf570.000 Taler angehoben (im 14Talerfiiß verglichen von 513.889 auf570.000 Taler), und für die Königin wendete man nun 30.000 Taler auf. 63 Vgl. Anhang 7.2.1 Tabelle: Zivilliste und Staatseinkünfte aus Domanialvermögen im Vergleich.

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1 Einleitung

wiesen. Die Berechtigten erhielten dafür Apanagen, Wittümer sowie eine Ausstattung bei der Hochzeit. Aussteuern für die Nebenlinie übernahm ebenfalls die Staatskasse. Dieses Fideikommiss wurde, wie Johann selbst anregte, mit dem Hausgesetz zu einem Majorat bestimmt. Daneben bestanden noch ein oder mehrere Fideikommisse zu Gunsten des Inhabers der Sekundogenitur.64 Die Überlieferungslage lässt ihre Rekonstruktion jedoch ebensowenig zu wie die der einzelnen Privatvermögen.65 So liegt auch das Privatvermögen Johanns mehr oder minder im Dunkel.66 Das Hausfideikommiss war eine Gründung des Kurfürsten Friedrich Augusts I. (16701733). Bereits 1737 eingerichtet, war es 1747 erweitert worden und umfasste neben dem Grünen Gewölbe auch die von Kurfürst Friedrich August II. (1696-1763) angelegten Sammlungen.67 Grundsätzlich „von dem Lande unzertrennbar und unveräußerlich" sicherte das Hausfideikommiss auch nach 1831 das Handwerkszeug für die Repräsentation der sächsischen Monarchie. Als solches betrachtete man nun kurzgefasst Schlossinventar, Stall, Jagd und Sammlungen. Die Aufsicht über das Hausfideikommiss teilten sich das Innenministerium und das Ministerium des Königlichen Hauses.68

64 Diesem Fideikommiss war 1836 der Nachlass König Antons zugefallen. Erst 1838 ordnete Prinz Johann als neuer Inhaber das Vermögen. Bei der dafür notwendigen Schätzung wurde das Fideikommissvermögen auf insgesamt 25.000 Taler berechnet und dieses Kapital auf das Rittergut Weesenstein festgelegt. Damit übernahm Johann alle materiellen Verpflichtungen aus Antons Testament. Zu solchem anderweiten Sekundogeniturvermögen gehörte das sog. Palais der Sekundogenitur auf der Langen Gasse in Dresden. Dass es sich bei den beiden sog. „Sekundogenituren" auch nach den Festlegungen von 1831/37 um separate Dinge handelt, geht auch aus § 23 des Hausgesetzes hervor. Eine Überweisung von Grundstücken zur Benutzung konnte demnach nicht als hausgesetzmäßige Leistung an den Sekundogeniturinhaber gelten. 65 Die entsprechenden Akten waren 1925 dem Verein Haus Wettin übergeben worden und gelten seit Kriegsende als verschollen. Einblicke in den vormaligen Bestand des Privatarchivs nach Ende der Monarchie bieten die Findbücher Fürstennachlass Johann und Ministerium des Königlichen Hauses im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden. Dass sich sonst keinerlei Hinweise auf die Einkünfte finden, bestätigt das Bestreben des Hauses, sowohl die Hof- als insbesondere auch die Privatfinanzen von der Öffentlichkeit abzuschirmen. 66 Lediglich der Wert seiner Rittergüter lässt sich teilweise erfassen. Jahnishausen erwarb er 1826 für einen Betrag von 140.000 Talern. (Zu diesem Zeitpunkt betrug seine jährliche Apanage 50.000 Taler.) Ein Vergleichswert für Weesenstein, das Johann 1838 aus dem Nachlass seines Vaters erwarb, ist nicht zu ermitteln. 1874 lag der angenommene Preis bei 204.000 Talern. SächsHStA Dresden, Lehnhof, Grund- und Hypothekenbuch, Bd. J, Band W. Trotz des auf diesem Rittergut ruhenden Kapitals von 25.000 Talern zu Gunsten des Sekundogeniturfideikommisses bedeutete das Erbe für Johanns Finanzverhältnisse eine entschieden positive Wendung, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 151. Der Erwerb des Weesenstein benachbarten Köttewitz 1871 kostete 55.000 Taler. 67 Vötsch, Jochen, Um Einheit und Erhalt, Die kurfürstlichen Sammlungen als Hausfideikommiß 1737/47, Dresdener Kunstblätter 6/2000, S. 181-185. 68 Umstritten war seit 1831 die Verwaltung der Sammlungen sowie die Frage, ob ihr Finanzbedarf in die Zivilliste aufzunehmen sei. Der Betrag erschien in den ständischen Budgets stets separat. Als sich das Hausministerium in Auseinandersetzung mit dem Gesamt- und dem Innenministerium 1853 schließlich die Verwaltung erstritten hatte, sah der Hof darin primär eine Manifestation des Eigentumsrechts des Königs-

1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

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Auch unter konstitutionellen Verhältnissen wahrten die regierenden Fürstenhäuser eine nicht geringe Anzahl von Reservatrechten.69 Das zentrale Recht darunter stellte die ungeschmälerte Akzeptanz des Erbprinzips bei der Sukzession dar. „Obenzubleiben" war so auch eine Frage der Generativität der Fürstenfamilie sowie der vornehmlich unter machtpolitischen Prämissen stehenden Thronbehauptung bzw. sogar eines Thronerwerbs. Während sich das kollektive deutsche Abdankungsszenario von 1918 vor dem Hintergrund der noch heute in Europa bestehenden Monarchien relativiert, muss man sich für das 19. Jahrhundert auch vergegenwärtigen, dass die Mediatisierungen von 1815, die Depossedierungen von 1866 und schließlich die Abdankungen von 1918 einen eklatanten politischen Bedeutungsverlust markieren, nicht aber in der Verlaufslogik eines kollektiven sozialen Abstiegs standen.70 Gerungen wurde um Finanzen durchaus auch mit Regierungen und Parlamenten, in denen der niedere Adel vertreten war. Die jeweilige Verfassungssituation konnte sich für das Regentenhaus daher auch sehr unmittelbar als ökonomischer Faktor erweisen.71 Die Spannbreite ökonomischer Potenz muss innerhalb des hohen Adels als erheblich angenommen werden. Auch im Fall des hohen Adels erscheint das „Obenbleiben" als mehrdimensional zu fassendes Phänomen, dessen einzelne Entwicklungen nicht zwangsläufig gleichsinnig verliefen. Auf zwei Beschreibungs- und Erklärungsmodelle, die in der Historiografie des Obenbleibens genutzt werden, ist an dieser Stelle einzugehen: auf das Haus und auf das Netzwerk. Dass das agnatisch strukturierte und mit einer diachronen Dimension ausgestattete Haus gleichsam als der institutionalisierte Erfolg im Ringen ums Obenbleiben behandelt wurde, liegt zum einen an der Tatsache, dass das Haus das ökonomische, politische und soziale Handeln seiner Mitglieder zu einem guten Teil institutionalisierte, aber auch daran, dass es sich auf Grund seiner zeitgenössisch zentralen Legitimationsfunktion mit einer gewissen Unmittelbarkeit als Referenzebene wie als Kategorie anbot.72 Die Analyse der hauses. Auch danach wurde der Unterhalt der Sammlungen jedoch nicht in die Zivilliste aufgenommen. SächsHStA Dresden, Ministerium des Königlichen Hauses, Loc. 1 Nr. 5 (1842), unpaginierte Einlage. 69 Heffter, August Wilhelm, Die Sonderrechte der souveränen und der mediatisierten vormals reichsständischen Häuser Deutschlands, Berlin 1871. 70 Eher scheint ein etwa feststellbarer sozialer Abstieg einzelner Häuser die Folge ihres Thronverlusts als sein Indiz. Doch stünde vor einem solchen Urteil zur Untersuchung an, welche Privatvermögen die Fürstenhäuser besaßen bzw. akkumulierten und wie sich diese nach den Fürstenabfindungen im Vergleich darstellten, schließlich welche neuen Ertragschancen dieses Startkapital eröffnete. Theodor, Günther, Die Fürstenentschädigung, Leipzig 1928. Vermögensverhältnisse, Die der früheren regierenden Fürstenhäuser, Als Manuskript gedruckt, Berlin 1926. 71 Zu Modellen der Kräfteverteilung zwischen Monarchen und Parlamenten aus verfassungsgeschichtlicher Sicht vgl. Kirsch, Martin, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp - Frankreich im Vergleich (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 150), Göttingen 1999. 72 Dezidiert dem Haus gewidmet etwa Grillmeyer, Habsburgs Diener in Post und Politik, wie Anm. 55. Mit dem polyvalenten Begriff ließ sich eine polyvalente Struktur beschreiben. Daher habe das Haus das Obenbleiben des Hochadels im 19. Jahrhundert gewährleistet. Das dort verwendete vierdimensionale Modell stammt von Derks, Hans, Über die Faszination des „Ganzen Hauses", GG 22 (1996), S. 221-242.

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Binnenkommunikation innerhalb des Hochadels ist hier dagegen als Analyse sozialer Beziehungen zwischen Einzelnen zu verstehen. Der Protagonist Johann wird also nicht synonym oder stellvertretend für sein Fürstenhaus behandelt. Indem die binnenkommunikativen Prozesse sowohl innerhalb des Hauses als auch darüber hinaus zusammenhängend beobachtet werden, wird darin auch die Prägekraft deutlich, die das Haus auf die Einzelnen ausübte. Johann stand bereits vor seinem Regierungsantritt 1854, danach aber als Hauschef noch deutlicher im Schnittpunkt der für das Haus relevanten Diskurse und nahm selbst Einfluss auf die Positionierung aller Albertiner in diesen Diskursen.73 Seine Position genau zu kennen ist daher gewissermaßen Voraussetzung für das Verständnis des Handelns der anderen Hausmitglieder. Andererseits wird in der Literatur gern auf Netzwerke des Adels und zuweilen des Hochadels rekurriert, wenn der Begriff auch in vielen Fällen konzeptionell kaum ausgeschöpft wird.74 Traditionell dienen Netzwerkanalysen der Untersuchung von Verhaltensmustern, die bei gesellschaftlichen Freisetzungsprozessen im Übergang zur Moderne überkommene Strukturen kontinuierten bzw. kompensatorisch wirkten. Damit widerspiegelt es wohl primär den Bedarf an adäquater Modellbildung angesichts der offensichtlichen Fortschreibung sozialer Phänomene, die eigentlich als obsolet beurteilten Paradigmen der Vergesellschaftung zugeordnet werden: „Das ,Projekt der Moderne' hat in diesem ,Freisetzungsprozess' aus traditionellen Vergesellschaftungsmustern die letzten Reservate ständischer Lebensformen fast aufgelöst. Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit dem, was aus dem Zustand quasi-natürlicher Gegebenheiten herausfällt und sie beschäftigen sich deshalb zunehmend mit dem Bereich der sozialen Beziehungen, weil der den Status selbstverständlicher Gegebenheit verloren hat."75 In der Tat konnte eine bestimmte Konstellation sozialer Beziehungen insbesondere innerhalb des Hochadels von entscheidendem Einfluss auf die erfolgreiche Positionierung eines gesamten Hauses sein, vor allem wenn es darum ging, an politisch schicksalhaften Angelpunkten zu bestehen oder historische Krisen und Brüche erfolgreich zu meistern. Die sozialen Beziehungen, die im Folgenden analysiert werden, ließen sich auch als Elemente eines hochadligen Netzwerks ansprechen. Dass es jedoch nicht um die umfassende Rekonstruktion eines Ausschnitts einer solchen Netzstruktur geht und auch nicht allein um den Nachweis standesinterner Vernetzung, wird insbesondere durch die semantische Analyse deutlich. Diese 73 Unter den im Paradigma von Walker, K. W./McBride, A./Vachon, M. L. S., Social support networks and the crisis of bereavement, Social Science and Medicine 11 (1977), S. 35-41, genannten fünf Netzwerkleistungen ist von affektiver, instrumenteller und kognitiver Unterstützung die Rede, darüber hinaus aber auch von Aufrechterhaltung sozialer Identität und der Vermittlung sozialer Kontakte. 74 Grillmeyer, Habsburgs Diener in Post und Politik, wie Anm. 55. 75 Keupp, Heiner/Röhrle, Bernd (Hgg.), Soziale Netzwerke, Frankfurt am Main etc. 1987, S. 34. Welche Anknüpfungschancen das bei Weyer ausführlich dargelegte Entwicklungspotenzial der Geschichtswissenschaft bietet, bleibt abzuwarten. Vgl. Weyer, Johannes, Soziale Netzwerke, Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München etc. 2000.

1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

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soll vielmehr Strukturen und Konzepte hochadliger Binnenkommunikation herausarbeiten, ihre Mechanismen ausleuchten und damit einen Blick auf die historischen Möglichkeitsbedingungen für die Existenz und Fortschreibung eines Hochadels eröffnen.

1.3.2 Europäische Dimension Die Annahme eines regionalen oder nationalen Untersuchungsrahmens, wie sie Studien zur Geschichte des niederen deutschen Adels sinnvoll einhegen, eignet sich für eine Gruppengeschichte des Hochadels nicht in jeder Hinsicht. Bereits für diese beiden Beschreibungsebenen ergab sich ein sinnvolles Nebeneinander. Denn da regionale Adelsidentitäten im Verlauf der Genese des Nationalstaats nicht vollständig nivelliert wurden, war Adelsgeschichte, die sich bis dahin primär als Vergleich segmentärer Adelsgesellschaften dargestellt hatte, nunmehr sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene zu erzählen. 76 Wenn eine europäische Dimension des Hochadels in der adelsgeschichtlichen Literatur zuweilen angesprochen wurde, dann zumeist ohne näheres Eingehen. Beim Durchgang durch die Geschichte einzelner Dynastien dagegen ergab sich ein europäischer Akzent mitunter sinnfällig. 77 Thematisch kristallisierte sich der Fokus auf die europäisch übergreifenden Heiratsverbindungen des hohen Adels heraus, die dabei vornehmlich unter dem Aspekt der Heiratspolitik bzw. dynastischen Politik analysiert wurden, d. h. im Sinne eines Ringens um politische Einflusssphären in der europäischen Mächtekonstellation. 78 76 Das segmentäre, primär auf räumlichen Vergleich angelegte Konzept spiegelt auch die Struktur vieler Tagungsbände, etwa bei von Rehden-Dohna, Armgard/Melville, Ralph (Hgg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung Universalgeschichte; Beiheft 10), Stuttgart 1988. Größtenteils ebenso strukturiert Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950 (= GG Sonderheft; 13), Göttingen 1990 sowie Asch, Ronald G., Nobilities in Transition 1550-1700, Courtiers and Rebels in Britain and Europe (= Reconstructions in Early Modem History), London 2003. Gebrochen wurde das einzel- bzw. nationalstaatliche Modell lediglich bei den Untersuchungen über die Standesherren, obwohl der süddeutsche Schwerpunkt den Charakter einer adelslandschaftlichen Besonderheit vermittelt. 77 Beispielsweise Franz, Eckart G., Das Haus Hessen, Eine europäische Familie, Stuttgart 2005; Erbe, Michael, Die Habsburger 1493-1918, Eine Dynastie im Reich und in Europa, Stuttgart 2000. 78 So etwa Demel, der „zumindest auf der Ebene des Hochadels, wahrhaft .europäische' Verflechtungen" konstatiert, vgl. Demel, Walter, Der europäische Adel, Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005, S. 16-19, besonders S. 19. Wienfort, Monika, Der Adel in der Moderne, wieAnm. 50, S. 12. Auch de St. Martin fuhrt den über nationale Grenzen hinwegreichenden Korpseffekt auf die Heiratspraxis „namentlich bei der Großaristokratie" zurück, vgl. de St. Martin, Monique, Der Adel, Soziologie eines Standes (= edition discours; 8), Konstanz 2003, S. 31. Vgl. auch die Beiträge des Jahrbuchs für Europäische Geschichte 8 (2007), die sich durchweg mit „Heiratspolitik" bzw. fürstlichen Eheschließungen beschäftigen. Für das 19. Jahrhundert hier: Marburg, Silke, Herrschaft und Heirat, Der europäische Hochadel in den Dynastischen Informationen des historischen Informationssystems HGIS Germany, Jahrbuch für Europäische Geschichte 8 (2007). S. 135-150, sowie Nicklas, Thomas, Von der Regionalität zum europäischen Konnubium, Sachsen-Coburgs Heiratspolitik zwischen Früher Neuzeit und 19. Jahrhundert, wie oben, S. 103-119.

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Indizien für eine etwaige europäische Dimension der modernen Adelsgeschichte lieferte eine Untersuchung von Europakonzepten im Elitendiskurs der Weimarer Republik.79 Die vermeintlich „adlig-bürgerliche" Diskussion hatte allerding zwei hochadlige Protagonisten: Karl Anton Prinz Rohan stand stellvertretend für den Europäischen Kulturbund und Richard Graf Coudenhove-Kalergi für die Paneuropa-Union. Erkennbar wurde, wie hochadlige Elemente dabei erfolgreich in eine zeitgenössische Diskussion eingebracht wurden, die nicht zuletzt auch Zielvorstellungen eines neuen europäischen Geistesadels formulierte.80 Immerhin aber deutete sich auch in diesem Fall an, dass hochadlige Kommunikationsstrukturen bereits vormodern - und d. h. auch vornational - europäisch dimensioniert waren. Als gesellschaftliche Strukturen kristallisierten sich „Netzwerke und Ringe, Salons und Komitees"81 heraus, womit bereits angesprochen ist, dass die Muster einer europäisch zugeschnittenen, scheinbar losen Vergesellschaftung durchaus mit Mustern identisch waren, die von anderen Gruppen genutzt wurden, um Kohäsion herzustellen. Dass andererseits die Europaforschung bislang den Stellenwert hochadliger Gruppenvergesellschaftung zurückhaltend bewertete, liegt vermutlich in ihrem Selbstverständnis als Vorgeschichte des „Europas der Bürger"82 begründet. In Analogie zur Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalstaats macht sich bereits thematisch eine gewisse Reserve „Gegen die Dynastien" spürbar.83 Trotzdem erfüllt der hohe Adel zentrale Forderungen an eine sinnvolle Europa-Geschichte - „voneinander wissen, kommunizieren, rudimentäre 79 Müller, Guido, Jenseits des Nationalismus? - „Europa" als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen, in: Reif, Heinz (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland II, Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. 80 Während diese Ableitung ihre Legitimität also ganz offenkundig vor dem zeitgenössischen Hintergrund hochadliger Lebenswelten gewann, steht Rohans autobiografische Selbstdeutung unter dem Titel „Heimat Europa" doch viel zu klar im Kontext kulturbündischer Bestrebungen, als dass eine solche „Heimat"-Projektion hier etwa zu einem überzeitlichen „Mentalitätskern" des Hochadels erklärt werden sollte. Vgl. auch Richter, Emanuel, Die Paneuropa-Idee, Die aristokratische Rettung des Abendlandes, in: Jürgen Nautz/ Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende, Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien 1993, S. 788-812; Conze, Vanessa, Richard Coudenhove-Kalergi, Umstrittener Visionär Europas, Gleichen 2004; Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita, Botschafter Europas, Richard Nikolaus CoudenhoveKalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004. 81 Müller, Jenseits des Nationalismus? wie Anm. 79, S. 267. 82 So charakterisiert dieses Selbstverständnis etwa Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas, Wien etc. 2001, S. 169. Vgl. auch Burke, Peter, Did Europe exist before 1700? History of European Ideas 1 (1980), S. 21-29; Duchhardt, Heinz/Kunz, Andreas (Hgg.), „Europäische Geschichte" als historiografisches Problem, Mainz 1997; Salewski, Michael, Geschichte Europas, Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000; Schilling, Heinz, Siedler Geschichte Europas, Die neue Zeit, Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten, 1250 bis 1750, Berlin 1999; Schmale, Wolfgang, Europäische Geschichte als historische Disziplin, Überlegungen zu einer Europäistik, ZfG 46 (1998), S. 389-405; Schulze, Hagen, Siedler Geschichte Europas, Phoenix Europa, Berlin 1998. 83 Wehler, Hans-Ulrich, Gegen die Dynastien, Der Nationalstaat entsteht, Spiegel Special Geschichte 12.2.2007, S. 56-64. Offenkundig polemischer Titel, aber gerade daher als Positionierung umso interessanter.

1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

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Vernetzungen ausbilden".84 Die Fürsten wussten systematisch voneinander, kommunizierten miteinander und hatten mehr als nur rudimentäre Vorstellungen voneinander. Ohne den hohen Adel also zum eigentlichen, hegemonialen „Europa-Macher" erklären zu wollen, ist doch nicht zu übersehen, dass die „Europäisierung Europas" über weite Strecken der Geschichte zu nicht unwesentlichen Teilen auch durch die Kanäle fürstlicher Interaktion flutete.85 Logik und Wirkung hochadliger Binnenkommunikation erschöpften sich nicht im Bereich des i. e. S. Politischen. So greift die vorliegende Arbeit denn auch über jenen Ausschnitt der hochadligen Binnenkommunikation hinaus, der innerhalb der Kulturgeschichte des Politischen Relevanz beansprucht. Weitere Forschungen zum Kulturtransfer könnten dies sicherlich besser ausleuchten. Denn bei der Fokussierung von „Referenzen zwischen Sozialgruppen" und von „individuellen oder sozialen Kommunikationsnetzwerken" wird man den hohen Adel dort letztlich nicht ausklammern können, wo bisher „Kaufleute, Künstler, Handwerker, Gelehrte usw." als Trägergruppen firmieren.86 Das prinzipielle Aufeinanderausgerichtetsein von Hochadligen innerhalb ihrer sozialen Gruppe wäre somit eine Form der Einheit auf fundamentaler Ebene, die als Voraussetzung für Kulturtransferprozesse gilt.87 Für das gewählte Beispiel ist ein europäischer Horizont nicht nur plausibel, sondern sogar unverzichtbar.

1.3.3 Inhomogenität Die Traditionen der dem Hochadel zuzurechnenden Häuser führten nicht auf eine vormalige Einheitlichkeit eines Hochadels zurück. Denn auch im ausgehenden Ancien Regime hatte die Problematisierung der Standesgrenze zwischen hohem und niederem Adel keine einheitliche Rechtsbasis vorausgesetzt. Darauf verweist bereits der juristische Diskurs um den reichsgräflichen Stand im 17. und 18. Jahrhundert. Demnach stand die Formierung eines hohen Adels bereits innerhalb des Alten Reiches zur Debatte. Hochadel war dabei selbst

84 Schmale, Geschichte Europas, wie Anm. 82, S. 169. 85 Burke, Peter, Die Geschicke des „Hofmann", Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996, S. 8. Burke, Did Europe exist before 1700? wie Anm. 82. Vgl. auch Grass, Jochen, Ein thüringischer Vermittler europäischer Dimension - zum 101. Todestag des Großherzogs Carl Alexander von Sachsen am 5.1.2002, Blätter für deutsche Landesgeschichte, N.F. 137 (2001), S. 117-134 sowie Weber, Wolfgang, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln etc. 1998, S. 1-26, S. 4. 86 Schmale, Geschichte Europas, wie Anm. 82, S. 169. 87 Schalenberg, Marc (Hg.), Kulturtransfer im 19. Jahrhundert (= Les travaux du Centre Marc Bloch, Histoire et Sociologie Europeennes comparees; 12), Berlin 1998, S. 12. Dazu noch einmal aus landesgeschichtlicher Perspektive Schmale, Wolfgang, Historische Komparatistik und Kulturtransfer, Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte, Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Landesgeschichte (= Herausforderungen. Historisch-politische Analysen; 6), Bochum 1998.

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1 Einleitung

ein Fusionsbegriff, in dem eine Annäherung zwischen Reichsfürsten und Reichsgrafen aufschien.88 Die Altgrafen reklamierten erfolgreich Rechte für sich, die sie mit den Fürsten auf Augenhöhe brachten, während gegenüber dem niederen Adel „der Graben [...] juristisch zementiert wurde."89 Diese gemeinsamen Rechte waren vor 1806 Sitz und Stimme auf den Reichstagen, superioritas territorialis, Präzedenζ und Ebenbürtigkeit. Auf diese Traditionen konnte sich nach 1806 natürlich nur der Hochadel des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation berufen, nicht aber andere europäische Fürstenhäuser, etwa Bourbonen oder Savoyer. Dieser juristische Diskurs gibt einen wichtigen Hinweis auf die sich herausbildende Struktur eines hohen Adels in mehrfacher Abgrenzung zum niederen Adel. Die einzelnen der genannten gemeinsamen Rechte eines im Entstehen begriffenen hohen Adels unterlagen mit bzw. nach dem Ende des Alten Reiches einem sehr unterschiedlichen Schicksal und spielten daher in der Legitimation des deutschen Hochadels später auch eine unterschiedliche Rolle. Das erstgenannte Vorrecht, Sitz und Stimme auf den Reichstagen, war 1806 unwiederbringlich verloren. Während viele nunmehrige Souveräne eine Traditionslinie vom Reich zum Deutschen Bund zeichnen konnten, fiel dieser Traditionsbruch für die Mediatisierten herb aus. Mit dem Verlust der superioritas territorialis waren sie von der entsprechenden Korporation der Regenten ausgeschlossen. Die Standesherren bildeten zudem bald eigene Institutionen aus, mithilfe derer sie Rechte einforderten und ihre Lage zu verbessern versuchten. Gerade indem sie gemeinsam den Anschluss an die souveränen Fürsten wiederherzustellen trachteten, verfestigte sich wiederum ihre eigene Gruppe.90 Dagegen war Präzedenz nach dem Ende des Alten Reiches kein toter Ast der internationalen politischen Kultur.91 Die Fortentwicklung, die von den wenigen european players dominiert wurde, führte allerdings nicht dazu, dass das Medium für die Gruppenbindung gänzlich irrelevant geworden wäre. Die entsprechenden Inszenierungen fanden teils gänzlich abseits von „Pomp und Politik" der Großmächte statt, teils in höfischen Räumen, die der Logik der intermediären Institutionen und mittleren Staaten unterlagen und eine politische Relevanz im internationalen Wettbewerb um Einfluss bewahrten.92 Die Ehrzuweisung 88 Stollberg-Rilinger, Barbara, Der Grafenstand in der Reichspublizistik, in: Wunder, Heide (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit (= ZhF Beihefte; 28), Berlin 2002, S. 29-53. 89 Stollberg-Rilinger, Der Grafenstand in der Reichpublizistik, wie Anm. 88, S. 52. 90 Gollwitzer, Die Standesherren, wie Anm. 52. Urbach, Karina, Diplomat, Höfling, Verbandsfunktionär, Süddeutsche Standesherren 1880-1945, in: Denzel, Markus/Schulz, Günther (Hgg.), Adel im 19. und 20. Jahrhundert (= Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, Deutsche Führungsschichten der Neuzeit; 26), St. Katharinen 2004, S. 353-375. Dies., Zwischen Aktion und Reaktion, Die süddeutschen Standesherren und der Erste Weltkrieg, in: Conze, Eckart/Wienfort, Monika (Hgg.), Adel und Moderne, Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln etc. 2004, S. 323-351. 91 Paulmann, Johannes, Pomp und Politik, Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Anicen Regime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000, insbesondere S. 42-47,66-78. Eine zeitgeschichtliche Perspektive eröffnet beispielsweise Hartmann, Jürgen, Staatszeremoniell, Berlin etc. 2000. 92 Auf die intermediären Institutionen und mittleren Staaten verweist auch Paulmann, Pomp und Politik, wie Anm. 91, S. 134f.

1.3 Implikationen gegenwärtiger Adelsforschung

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im Rahmen der Präzedenzkultur verlor aus Sicht von Hochadligen ihre Bedeutung jedoch nicht in dem Moment, in dem die wesentlichen Beziehungen des europäischen Mächtesystems nicht mehr von ihrem bevorzugten Auftritt tangiert waren. Der „Vortritt" spielte als eine tradierte, primär höfische Variante der Symbolisierung von Hochadligkeit durchaus weiterhin eine Rolle. So lange der einzelne Hochadlige erwarten konnte, dass ihm an einer Anzahl von Höfen gegenüber dem niederen Adel und den staatlichen Funktionsträgern eine besondere Ehre erwiesen wurde, fielen diese Symbolisierungsräume nicht gänzlich aus der Distinktionsrechnung. Auf der anderen Seite - und dies wird sich im Laufe dieser Untersuchung verdeutlichen - galt auch auf Handlungsfeldern jenseits der höfischen Inszenierung eine Symbolik von sozialem Vorrang, von Exklusivität und spezifischer Ehrzuweisung, die komplementär verfügbar war und von der Sozialformation ggf. auch kompensatorisch genutzt wurde. Die Ebenbürtigkeit schließlich war 1815 in der Bundesakte festgeschrieben worden, wenngleich ohne Rechtsverbindlichkeit: Artikel XIV formulierte, die Mediatisierten seien auch ferner als den souveränen Häusern ebenbürtig zu betrachten. Damit war eine Ebene benannt, auf der die hochadlige Gruppe kulturelle Kontinuität wieder finden konnte. Ebenbürtigkeit blieb gleichzeitig weiterhin Gegenstand eines juristischen Diskurses, der unter das sog. Privatfürstenrechtfiel,das wiederum innerhalb des Privatrechts eine gewisse Autonomie besaß.93 In seinem Geltungsbereich fand sich ein deutscher Hochadel weiterhin vereint, denn das Privatfiirstenrecht galt sowohl für altfürstliche als auch für altgräfliche Häuser und beruhte auf der Grundlage des deutschen Herkommens und der Summe der Hausverträge. Die von den Fürsten in diesem Punkt ausgeübte Austrägalgerichtsbarkeit symbolisierte eine gruppeninterne Regulierung von Standesfragen. Innerhalb des Privatfürstenrechts schrieb sich demnach mit den Fragen der Ebenbürtigkeit ein wesentlicher Inhalt fort, der bereits den Hochadel gegen Ende des Alten Reiches konturiert hatte.94 Welche Bedeutung diesem Kriterium in der sozialen Praxis zukam, d. h. ob auch die Partnerwahl in altfürstlichen Häusern dieser Gleichstellung Rechnung trug und sich aus der Rechtsgemeinschaft tatsächlich nach und nach eine übergreifende Endogamie ableitete, das ist bislang empirisch nicht untersucht. Über die oben bereits angesprochene Formenvielfalt und Spannbreite der ökonomischen Situation innerhalb des Hochadels hinaus lassen sich weitere Inhomogenitätsdimensionen benennen. So traten weder der Hochadel noch die Monarchen politisch als einheitliche Kraft in Erscheinung. Die Parteinahmen verliefen quer durch den Hochadel zwischen den verschiedenen konservativen und liberalen Spielarten. Mit einem versichernden Blick nach England konstatierte Gollwitzer„de[n] klassische[n] Fall einer Hinwendung zahlreicher 93 Die bisher unbearbeitete Sphäre dieses autonomen Adelsrechts zeigt bereits Dilcher, Der alteuropäische Adel - ein verfassungsgeschichtlicher Typus? wie Anm. 49. 94 Näher dazu Abschnitt 5.1 Ebenbürtigkeit - Semantik der Endogamie.

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1 Einleitung

Angehöriger des hohen und reichen Adels zu liberaler Politik, ohne daß dadurch eine Verbürgerlichung ihrer Lebensführung und -haltung eingetreten wäre."95 Die gemeinsame soziale Zugehörigkeit wurde demnach von solchen politisch-weltanschaulichen Divergenzen nicht in Frage gestellt. Dies galt in gleicher Weise für die europäischen Monarchen und ebenso für all jene Hochadligen, die keine Regenten waren.96 Und auch in konfessioneller Hinsicht gab der Hochadel kein homogenes Bild ab. Schließlich konstatierten die Zeitgenossen je regional und national kulturelle Verschiedenheiten. Alter und Art der Zugehörigkeitstradition der einzelnen Häuser zum Hochadel blieben den Familien stets präsent - ein Wissensbestand, der für die Bemessung interner Ehrzuweisung wichtig war. Die genannten Inhomogenitäten manifestierten sich auch im gemeinsamen Agieren unterschiedlicher Teilgruppen des hohen Adels, doch verliefen solche Furchungen immer wieder quer zueinander, so dass der Hochadel dadurch nicht gänzlich fragmentiert wurde. Wenn der Adel unter dem Aspekt der Homogenität der Sozialformation beurteilt wurde, so spielte diese Bewertung in den Abstiegsszenarien, die für den Adel im Übergang zur Moderne nachgezeichnet wurden, eine signifikante Rolle. Die Analogie in Besitzverhältnissen und Lebensumständen war es demnach, die ein gleichgerichtetes Zusammenwirken als Gruppe begünstigte und es ihr auf diese Weise auch erlaubte, sich selbst zu erneuern. So bewertete bereits Gollwitzer die Inhomogenität als hauptsächlichen Grund dafür, dass die Aristokratie nicht mehr in der Lage war, sich grundlegend zu reformieren.97 Es hat sich jedoch gezeigt, dass der Wandel des Adels auch einen Übergang von der Legitimation als einer kollektiven Person zu einer Legitimation als Gemeinschaft von Adligen bedeuten konnte, die sich auf den Glauben an die Unterschiedlichkeit zwischen Adligen und NichtAdligen stützte.98 Nimmt man diese Beoachtung, dass ein Adel fortexistierte, während sich der soziale Geltungsbereich von „Adel" verengte, ernst, dann relativiert sich auch der histo-

95 Gollwitzer, Die Standesherren, wie Anm. 52, S. 163. 96 Dies gilt ungeachtet aller Allianzen und Solidaritäten zwischen den Monarchen, vgl. etwa Freiherr v. Aretin, Karl Otmar, Das Problem der monarchischen Solidarität an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Ders., Nation, Staat und Demokratie in Deutschland, Ausgewählte Beiträge zur Zeitgeschichte, Zum 70. Geburtstag des Verfassers (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung Universalgeschichte; Beiheft 27), Mainz 1993, S. 1-6. Paulmann, Pomp und Politik, wie Anm. 91; Ders., Searching for a „Royal International", The mechanics of monarchical relations in nineteenthcentury Europe, in: Geyer, Martin/Paulmann, Johannes (Hgg.), Mechanics of internationalism. Culture, society and politics from the 1840s to the First World War, Oxford 1994. 97 Gollwitzer, Die Standesherren, wie Anm. 52, S. 335. Dass, wie Gollwitzer meint, die wesentliche Kraftquelle des Adels aber darin bestanden habe, im Zuge der Nobilitierung die Creme aller aufsteigenden Elemente fortwährend abzuschöpfen und sich dadurch zu ergänzen und seine Kraft zu bewahren, erscheint heute unwahrscheinlich. Dem steht mittlerweile auch der Befund entgegen, dass sich die Nobilitierungspraxis in den einzelnen deutschen Territorien durchaus sehr unterschiedlich darstellte und mitunter so restriktiv gehandhabt wurde, dass die Anzahl der Nobilitierungen kaum nennenswert war. Reif, Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 49, S. 12. 98 de St. Martin, Der Adel wie Anm. 78, S. 13.

1.4 Fragestellung und Durchführung - Binnenkommunikation

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riografische Homogenitätsanspruch an die Gruppe." Da die neuere deutsche Forschung sich stark darauf festgelegt hat, Landbesitz als materialisiertes Residuum gelebter Adeligkeit und damit als Homogenitätskriterium zu betrachten, stellt sie auch die Geschichte des Adels im 20. Jahrhundert unter das Zeichen wachsender Inhomogenität zwischen landbesitzenden und landlosen Adligen. Ein Schwenken der Projektion Adeligkeit auf andere Kulturpraktiken wird folgerichtig als Abgleiten vom - solcher Art substanziiert verstandenen - eigentlichen Adligen ins Private bewertet.100 Die beachtliche Spannweite in den einzelnen der genannten Dimensionen muss und kann schließlich auch nicht a priori als Auflösungserscheinung einer zuvor einheitlicher konturierten Gruppe angesehen werden. Studien zum Mittelalter und zur Frühneuzeit verdeutlichen, dass Homogenität auch vormodern keine Eigenschaft des Adels war. Asch weist anhand der frühneuzeitlichen Abschließungsprozesse in den europäischen Adelsgesellschaften sogar darauf hin, dass „attempts to create a legally more homogeneous elite actually produced even greater social, economic and cultural differentiation within the ranks of the nobility [...] identity and coherence of the nobility as a social group was as much of a problem in the eighteenth century as it had been in the sixteenth despite, or in some ways because of. the attempt to replace customary with statuatory definitions of nobility."101 Die Flexibilität einer sozialen Gruppe in ihrer Reaktion auf die eigene Binnendifferenziertheit lässt sich also ebenso als Folge wie als kompensatorisches Pendant von Abschließungsprozessen verstehen. Hier gilt die Annahme, dass die Integration über Vermögens-, Konfessions- und Traditionsunterschiede sowie über divergierende politische und kulturelle Prägungen hinweg auch vom Hochadel bewältigt werden konnte. Insofern wird ein starrer, substanziierter Hochadelsbegriff vermieden, der sich etwa auf so zweifellos wichtige Projektionen festlegen könnte wie die Frage ebenbürtiger Abstammung oder die Ausübung monarchischer Herrschaft. Ob und wie sich Inhomogenitäten auf die Gruppenintegration auswirkten, bleibt zunächst offen und wäre in den Grenzen des Beispiels empirisch nachzuvollziehen.

1.4 Fragestellung und Durchführung Binnenkommunikation Als Monique de St. Martin Adel als eine Frage des „Glaubens" behandelte, d. h. als individuelle und gleichzeitig gesellschaftlich wirksame Projektion sozialer Zugehörigkeit, ging sie von einem allseitigen Legitimationsinteresse aus: Wichtig für die Produktion dieses 99 de St. Martin, Der Adel, wie Anm. 78, S. 17. 100 Wienfort, Der Adel in der Moderne, wie Anm. 50, S. 19f. 101 Asch, Nobilities in Transition, wie Anm. 76, S. 29, Hervorhebung von mir.

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1 Einleitung

Glaubens sei für den Einzelnen sowohl die Anerkennung seines Adels von anderen Adligen als auch die Anerkennung des Adels durch Nicht-Adlige. Die vorliegende Studie stellt in den Vordergrund, wie sich Hochadlige gegenseitig diesen „Glauben" an ihren Hochadel bestätigten. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass im 19. Jahrhundert der Legitimationsanspruch eines Hochadligen, der nicht als solcher von anderen Hochadligen anerkannt wurde, auf Dauer auch an das Umfeld nicht erfolgreich zu vermitteln war. Der Rekurs auf die soziale Anerkennung durch die Gruppe war nicht nur ein gutes Argument, sondern schon eher eine Voraussetzung dafür, diesen Anspruch durchzusetzen. Und auch die negative Variante bestätigt dies: Aus dem hohen Adel ausgeschlossen wurde der Einzelne von seinen Standesgenossen, sowohl adelsrechtlich als auch im gesellschaftlichen Verkehr.102 Dass diese Integrationsfragen durchaus für weitere Kreise Bedeutung hatten als nur innerhalb des Hochadels selbst oder für den niederen Adel, wird am Beispiel der zweiten Eheschließung von Johanns Tochter Elisabeth 1856 plastisch. Zwei Staatsbürokratien und weitere europäische Diplomaten waren mit der Frage ihrer Mitgliedschaft befasst. Nicht nur für ihre Person selbst und für die höfischen „Umgebungen", sondern sehr konkret auch für die italienische, deutsche und sogar für eine europäische Öffentlichkeit ging es um die konsequenzenreiche Frage, in welcher Standesqualität Elisabeth von nun an auftrat - als Herzogin von Genua oder als Frau Rapallo. Die besondere Standesehre beruhte also primär auf dem Anspruch des Individuums, von der Gruppe als zugehörig anerkannt zu werden und an deren interner Ehrzuweisung Teil zu haben. Noch bevor Identität durch Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen definiert wurde, war sie daher eine Frage der Orientierung, Selbstverortung und Akzeptanz des Einzelnen innerhalb der Gruppe. Sich mit der Lebensweise seines eigenen Standes und mit dessen Normen auseinanderzusetzen bedeutete internes Kommunizieren des Hochadels. Exemplarisch untersucht wird hier, wie die Gruppe eine gemeinsame Kultur herstellte. Das Interesse gilt gemeinsamen Projektionen sozialer Zugehörigkeit, aber auch den Mechanismen der internen Kommunikation, die den Austausch, den Abgleich und die gegenseitige Legitimation dieser Projektionen umsetzte. Denn gerade dadurch wurde es möglich, Gruppenidentität flexibel zu reinterpretieren, sie anzupassen an neue Generationen und eine sich verändernde Gesellschaft. Binnenkommunikation war in diesem Sinn Voraussetzung für eine permanente Reinvention der Gruppe.103 Sie sicherte

102 Zur Bedeutung der Binnenkommunikation für die juristische Einhegung des hohen Adels vgl. S. 1 Ebenbürtigkeit - Semantik der Endogamie. 103 Dieser Terminus der permanenten „Wiedererfindung" durchzieht die neuere adelsgeschichtliche Literatur. Er wurde für den Adel angesichts des sozialen Wandels im 19. Jahrhundert kreiert, nunmehr findet er sich aber auch in der Frühneuzeitliteratur, vgl. beispielsweise Brelot, Claude-Isabelle, La noblesse reinventee, Nobles de Franche-Comte de 1814 ä 1870,2 Bde., Besan^on 1992; Reif, Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 49; Asch, Nobilities in Transition 1550-1700, wie Anm. 76.

1.4 Fragestellung und Durchführung - Binnenkommunikation

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auch dem Hochadel das historische Bestehen als Erinnerungsgruppe eigener Prägung.104 Über die Gruppenbegrifflichkeit, die einer Darstellung zum Hochadel zu Grunde gelegt werden kann, ist sich die Literatur noch uneinig. Benutzt wurde bislang ζ. B. ein Begriff des hohen Adels, der die fürstlichen, nicht aber die gräflichen Adligen umfasst.105 Plausibler dagegen klingt es, unter einem hohen deutschen Adel die regierenden, zum Reichstag berechtigten Häuser zusammenzufassen, von denen sich der niedere Adel dadurch unterschied, dass er den verschiedenen Landesherren untergeordnet und in ihren Territorien landsässig war.106 Eine Vorentscheidung - etwa für einen Hochadelsbegriff, der dem zeitgenössischen Privatfürstenrecht entsprach - wird hier jedoch nicht getroffen. Da es sich um eine Erinnerungsgruppe handelte, die sich überwiegend auf historische Strukturen des Alten Reiches bezog, d. h. auf Traditionskonstrukte, kann über die Geltung etwa konkurrierender Begrifflichkeiten nicht mittels adels- oder verfassungsrechtlicher Prämissen entschieden werden, sondern nur im Zuge der empirischen Untersuchung. Zeitgenössische Begriffe werden insofern zu Rate gezogen, als sich in ihnen bereits Kohäsionsvorstellungen widerspiegeln.107 Der zentrale Strang der Untersuchung ist die Textanalyse der Familienbriefe Johanns. Auf diese Weise wird fassbar, wie die Vorstellungen der Probanden von der Welt des Hochadels, deren Verfasstheit und der entsprechenden sozialen Praxis konturiert waren. Die Binnenkommunikation zwischen Hochadligen war eingebettet in einen in vieler Hinsicht von latenten Anforderungen standesgemäßen Verhaltens geprägten Alltag. Als Alleinstellungsmerkmale eines Hochadels erweisen sich diese zumeist nicht. Dies galt nicht nur für den Hochadel, so dass sich für das allgemeine Verständnis (traditionaler) sozialer Formationen profitieren lässt.108

104 Zum Konzept des Adels als Erinnnerungsgruppe vgl. bereits Marburg, Silke/Matzerath, Josef, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe, Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Dies./Ders. (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln etc. 2001, S. 5-15, hier S. 9f. 105 Weber, Einleitung, wie Anm. 85, S. 4, Anm. 6. Wie der Autor zu dieser Abgrenzung gelangt, expliziert er leider nicht. 106 Reif, Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 49, S. 2. Ebenso Schulze, Hermann, Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, Bd. 1, Jena 1862, S. VI: „alle bis 1806 landesherrlichen und reichsständischen Familien". 107 Den Wandel solcher Konstruktionsbegriffe für den niederen Adel vom 18. bis zum 20. Jahrhundert etwa Godsey, William D., Vom Stiftsadel zum Uradel, Die Legitimationskrise des Adels und die Entstehung eines neuen Adelsbegriffs im Übergang zur Moderne, in: Hartmann, Anja Victorine/Morawiec, Malgorzata/Voss, Peter (Hgg.), Eliten um 1800, Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten (= Historische Beiträge zur Elitenforschung; 1), Mainz 2000; Godsey, William D., Nobles and Nation in Central Europe, Free Imperial Knights in the Age of Revolution, 1750-1850, Cambridge 2004. 108 Die Begriffsbildung von „Hochadligkeit" - analog zu Adeligkeit und Bürgerlichkeit - diskutiert bereits Marburg, Silke, Hochadlige Binnenkommunikation als Voraussetzung für die Generierung von Hochadligkeit, Das Beispiel König Johanns von Sachsen (1801-1873), in: Denzel, Markus/Schulz, Gün-

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1 Einleitung

Erwägt man Chancen der Kontinuierung einer Sozialformation, dann ist auch die Entwicklung ihrer allgemeineren „Randbedingungen" einzubeziehen. Bislang wurden gesamtgesellschaftliche Konjunkturen benannt, die, unter den Stichworten Romantik, Historismus und Restauration subsumiert, den Adel gegenüber anderen sozialen Gruppen begünstigten. Die großen Entwicklungen der Modernisierung aber - Urbanisierung, Professionalisierung, Demokratisierung und Pluralisierung des Wertesystems - seien ausnahmslos zu Lasten des Adels gegangen. Die vorliegende Untersuchung hofft zu plausibilisieren, dass gerade auch in diesen „großen Entwicklungen" nicht allein ein Mahlwerk zu sehen ist, das traditionale soziale Identitäten erbarmungslos zu Staub der Geschichte zerrieb. Das Beispiel lässt zumindest in Reflexen erkennen, dass sich beispielsweise aus Urbanisierungsprozessen und aus der Infrastrukturentwicklung neue Vergesellschaftungschancen ergaben - nicht nur zu Gunsten neuer Eliten, sondern auch für den Fortbestand einer traditionalen Sozialformation.109 Ein Gesamtpanorama solcher „großer Entwicklungen" lässt sich aus dieser Fallstudie gleichwohl nicht zeichnen. Ohne also interpretatorische Überlast zu laden, steht im Hintergrund die Frage, in welcher Weise „große Entwicklungen" sich für die Binnenkommunikation des Hochadels spürbar machten. Die Arbeit ist den Methoden der Historischen Semantik verpflichtet.110 Die Textarbeit wird als ein rekonstruktives Kontextualisieren historischen Sprachhandelns aufgefasst. Eine einheitliche semantische Methode für alle Teile der Arbeit festzulegen erscheint dagegen nicht nötig. Diese allgemeine Positionierung lässt sich mit Blick auf die empirische Arbeit v. a. textsortenspezifisch konkretisieren. Das in erster Linie auf verschiedene Varianten autobiografischer Narration angewendete Konzept narrativer Identität lässt sich sinnvoll adaptieren, betont es doch den Einfluss des primären Rezipienten auf die Identitätskonstruktion.111 Diese Rezipientenseite lässt sich für den untersuchten Briefwechsel sehr genau bestimmen. Dazu gehört es auch, die Einbettung dieser Texte in eine Gesamtkorrespondenz zu berücksichtigen. Letztlich liegt auch dieser Korrespondenz der Impetus zu Grunde, „Zeit ther (Hgg.), Adel im 19. und 20. Jahrhundert (= Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, Deutsche Führungsschichten der Neuzeit; 26), St. Katharinen 2004, S. 301-318. 109 Andere Folge von Pluralisierung war in jedem Fall auch die limitierte, aber legitime Fortgeltung überkommener Wertesysteme - auch dies eine Chance für den Adel. 110 Den jüngsten Überblick über das Feld kontextsemantischer Ansätze, in dem der der Historischen Semantik im Sinne Busses eigentümlicher Weise fehlt, bietet Bödeker, Hans Erich (Hg.). Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; 14). Göttingen 2002. Zu ergänzen wäre demnach zumindest Busse, Dietrich, Historische Semantik, Analyse eines Programms (= Sprache und Geschichte; 13), Stuttgart 1987. 111 Zum Begriff der narrativen Identität vgl. Ricoeur, Paul, Die erzählte Zeit (= Zeit und Erzählung; 3), München 1991. Literatur über narrative Verfasstheit bieten mittlerweile die verschiedensten Disziplinen. Wegen des textsortenspezifischen Fokus ebenso wie der Orientierung auf die Durchführung empirischer Untersuchungen sei an dieser Stelle auf Beiträge aus der empirischen Sozialforschung und der Sprachwissenschaft verwiesen, etwa Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf, Rekonstruktion narrativer Identität, Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews (= Lehrtexte Soziologie), Opladen 2002.

1.5 Stand von Forschung und Deutung - Johann und die Dynastie

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zu erzählen" und das erlebte Geschehen gleichzeitig zusammenfassend und detailliert zu übermitteln.112 Diese serielle, rezipientenbezogene Konstruktion von Identität vermittelt uns das historische Verständnis sozialer Spezifik. Ein erster Abschnitt der Untersuchung analysiert die Textsorte des seriellen Privatbriefes in ihrer Bedeutung für die Binnenkommunikation des hohen Adels. Er fundiert gleichzeitig die folgende semantische Analyse der Brieftexte, die den begrifflichen Horizont Johanns von der Zugehörigkeit zum hohen Adel, von der monarchischen Position und standesadäquatem Handeln ausleuchtet. Der folgende Abschnitt widmet sich aus unterschiedlichen Perspektiven derface to/ace-Kommunikation innerhalb des Hochadels. Hier kommen ebenso genuin höfische Aspekte des Zeremonials zur Sprache als auch außerhöfische wie das Hochadelsleben innerhalb der Dresdner Residenz, das eine breite Motivationslage hochadliger Binnenkommunikation widerspiegelt. Schließlich bemühen sich die Ausführungen darum, die Semantik fürstlicher Besuchsprogramme unter diesen Umständen näher zu erschließen und die dabei genutzten Kommunikationsräume deutend zueinander in Beziehung zu setzen.113 Hier geht es auch um die Erfahrung sozialer Zugehörigkeit unter den Bedingungen historischen Wandels. Schließlich wird das Heiraten als ein Spezialfall der Einbindung in die Gruppe einer eingehenden Untersuchung unterzogen und seine Bedeutung für die Gruppendefinition ebenso beleuchtet wie die Eheanbahnungspraxis und das konkrete Heiratskalkül im Dresdner Fall. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst.

1.5 Stand von Forschung und Deutung Johann und die Dynastie Die Forschung zu Leben, Werk und Bedeutung König Johanns umfasst zunächst eine „Grauzone" kleinerer Einzelpublikationen, die sich aus dem Nachlass und häufig auch noch aus der persönlichen und dienstlichen Bekanntschaft mit dem Monarchen speisten und als Lebensskizzen bzw. sog. Charakterbild oder als thematische Artikel vorliegen. Bis heute prägen die Lebenserinnerungen des Monarchen und dessen darin kondensierte Selbstsicht sowie die Interpretationen des Memoiren-Herausgebers Hellmut Kretzschmar das nur wenigen Schwankungen unterworfene Johann-Bild. Diese Memoiren beschreiben Johanns Leben bis zur Thronbesteigung 1854. Die autografen Niederschriften sind bisher

112 Vgl. besonders Abschnitt 2.2 Schreibintention - eine vielstimmige Gesamtkorrespondenz. 113 Die Gliederung nach dem Korrespondenz-, dem Besuchswesen und der Heiratspraxis beansprucht nicht, eine Typologie nach einheitlichen Kriterien zu sein.

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1 Einleitung

nicht genauer zu datieren als zwischen 1868 und 1870. 114 Johann ließ - vermutlich aus Gründen der Leserlichkeit - bereits zu Lebzeiten durch seinen Adjudanten General Wolf Dietrich Benno v. Witzleben (1808-1872) eine Abschrift herstellen.115 Für eine Fortführung dieser Autobiografie liegen lediglich noch Stichpunkte über die Jahre 1854 bis 1856 vor.116 Denn die zeitgeschichtliche Problematik der Regierungsperiode König Johanns von 1854 bis 1873 hatte den Monarchen selbst daran gehindert, eben diese Jahre zu behandeln. 117 Insbesondere das Ringen um die Reform des Deutschen Bundes, die sächsisch-preußische Konfrontation und die Reichseinigung hätte Johann nicht beschreiben können, ohne politisches und diplomatisches Hintergrundwissen einzubringen und ohne persönliche Wertungen über - teilweise sogar noch amtierende - ehemalige Antagonisten zu formulieren. Diese zeitgeschichtliche Nähe war auch noch Jahre nach Johanns Tod problematisch genug, um Johann Paul Freiherrn v. Falkenstein (1801 -1882), den Verfasser eines sog. „Charakterbildes" des Monarchen, davon abzuhalten, eine eigentliche Biografie zu schreiben. 118 Es folgten zunächst noch Publikationen aus dem Königshaus selbst, das

114 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 7a-c Lebenserinnerungen, Eigenhändige Aufzeichnungen des Prinzen Johann, 1801 -1854. Oskar Stübel gibt 1873 an, die Niederschrift sei „innerhalb der letzten 10 Jahre - so viel ich weiß - " geschehen, vgl. SächsHStA Dresden, Familiennachlass Stübel, Nr. 197, Erinnerungen aus Pillnitz, die letzten Monate mit dem kranken König Johann, pag. 30. Auch Kretzschmar, datiert auf das Ende der sechziger Jahre. Hier sei auf die Erwähnung eines Gesetzes vom 3. Dezember 1868 verwiesen, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 121. 115 Diese Abschrift und ihr Schreiber waren durch die Erinnerungen Oskar Stübels bekannt. Vgl. SächsHStA Dresden, Familiennachlass Stübel, Nr. 197 Erinnerungen aus Pillnitz, die letzten Monate mit dem kranken König Johann, pag. 25. 116 Vgl. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann, Nr. 8 Eigenhändige Aufzeichnungen Seiner Majestät des Königs Johann für die Ausarbeitung eines biographischen Aufsatzes durch den Schrifsteller Α. E. Brachvogel in Berlin 1872, pag. 119-120v. Die Zuordnung dieser Stichpunkte zu Notizen für den biografischen Aufsatz des Schriftstellers Brachvogel überzeugt nicht. Vgl. Brachvogel, König Johann. Brachvogels Unternehmen unterlag zwar derselben Problematik wie die Memoiren, der zeitliche oder noch anderweite Entstehungszusammenhang beider Texte bleibt bislang unklar. Laut handschriftlicher Anmerkung wurde dieser Teil der Akte auch nicht an Brachvogel abgegeben. Die Stichpunkte sind sowohl ihrem Inhalt als auch ihrer Form nach mit Sicherheit nur für die eigene Verwendung niedergeschrieben. 117 Kretzschmar, Lebenserinnerungen, u. a. S. 5, meint, die Fortführung der Lebenserinnerungen sei ohne erkennbaren Anlass „unterbrochen" worden. Die Problematik klingt jedoch in Johanns Antwort an den Schriftsteller Brachvogel an, die der nur teilweisen Beantwortung des an ihn gerichteten Fragenkatalogs beilag: „Ueber persönliche Verhältisse Auskunft zu geben ist man gern erbötig, dagegen wird der Antragsteller sich wohl bescheiden daß das gleiche nicht von politischen Verhältnissen gilt." Vgl. SächsHStA Dresden, Füstennachlass Johann, Nr. 8 Eigenhändige Aufzeichnungen Seiner Majestät des Königs Johann für die Ausarbeitung eines biographischen Aufsatzes durch den Schrifsteller Α. E. Brachvogel in Berlin 1872, pag. 108. 118 Freiherr v. Falkenstein rechtfertigt seinen Verzicht auf die politische Seite der Johann-Biografie so: „Eine eigentliche Biographie dagegen müßte das ganze äußere und innere Leben des Mannes mit allen seinen Umgebungen umfassen, also auch [...] eine Menge von Momenten beachten und eingehend darstellen, welche in direkter oder indirekter Verbindung stehen mit politischen Ansichten oder Ereig-

1.5 Stand von Forschung und Deutung - Johann und die Dynastie

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einen Bibliothekar und Archivar mit der eigentlichen Arbeit betraute.119 Die Veröffentlichungen, die auf Initiative von Johann Georg Herzog zu Sachsen (1869-1938) erfolgten, waren offenbar Vorarbeiten zu einer Biografie Johanns, von der man 1911 annahm, eine solche „trotz aller noch heute bestehenden Bedenken" nunmehr doch in Angriff nehmen zu können, da „die politischen Fragen, die auf das Leben König Johanns so oft trübe Schatten warfen, [...] zum großen Teil gelöst" seien.120 Das Interesse an einer Behandlung eines sächsischen Monarchen des 19. Jahrhunderts ging im Verlauf des 20. Jahrhunderts dann spürbar zurück. Hellmut Kretzschmar, der in den 1940er Jahren verschiedene Publikationen auf diesem Gebiet projektierte, erhielt vom Direktor des Dresdner Verlags v. Baensch-Druckerei im Februar 1941 die Absage: „Ich befürchte, es wird sehr schwer fallen, in der heutigen Zeit, die zwar für deutsche Geschichte aufgeschlossen ist, aber erfahrungsgemäß gerade der jüngeren deutschen Geschichte vor dem Weltkrieg nur mit Vorbehalten entgegenkommt, eine genügend große Anzahl von Interessenten für ein solches Buch zu gewinnen."121 Dabei schwebte Kretzschmar zunächst Folgendes vor: „Seit längerer Zeit beschäftigt mich der Gedanke an eine Darstellung der sächsischen Könige des 19. Jahrhunderts. Aufgabe wäre, das Wesen des territorialen Könissen, die noch in der Entwicklung begriffen sind oder wenigstens noch nicht sicher beurteilt werden können. Kurz, die Biographie eines solchen Mannes ist von der Zeitgeschichte nicht zu trennen; über diese aber läßt sich für jetzt noch nicht so objektiv berichten und urtheilen, wie es erforderlich ist [...]. Es ist daher nach meiner Ueberzeugung [...] noch nicht an der Zeit, eine eigentliche Biographie des Königs zu schreiben [...]." Freiherr v. Falkenstein, Charakterbild, S. 3. Dagegen verdeckt Johanns Auskunft an seinen Privatsekretär Oskar Stübel während seiner Sterbewochen diese Problematik wohl eher. Stübel: „Der König hat mir selbst mitgetheilt, daß die weitere Fortsetzung dadurch gehindert worden sei, daß ihm das dazu nothwendige actenmäßige Material nicht bequem zur Hand gewesen sei." Vgl. SächsHStA Dresden, Familiennachlass Stübel, Nr. 197 Erinnerungen aus Pillnitz, die letzten Monate mit dem kranken König Johann, pag. 31. Außerdem verfasste Freiherr v. Falkenstein den Beitrag über Johann in der ADB: Freiherr v. Falkenstein, Johann Paul, Johann, König von Sachsen, in: ADB, Bd. 14, S. 387-399. 119 [Königinwitwe von Sachsen, Carola,] Dichtungen des Königs Johann von Sachsen, herausgegeben von Carola Königin-Witwe von Sachsen, Leipzig 1902. Herzog zu Sachsen, Johann Georg, Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, wie Anm. 39. Die Arbeiten an der Edition führte Hubert Ermisch durch, vgl. Ermisch, Hubert. König Johann und König Friedrich Wilhelm IV., NASG 32 (1911), S. 89-135, sowie Ders., König Johann und Kaiser Wilhelm I., NASG 32 (1911), S. 317-349; Herzog zu Sachsen, Johann Georg, König Johann und Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg 1829-1868, NASG 35 (1914), S. 1-24; Ders., König Johann als Danteforscher, NASG 43 (1922), S. 201-220; Ders., Briefwechsel König Johanns von Sachsen mit George Ticknor (= Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte), Leipzig etc. 1920. 120 Ermisch, Hubert, König Johann und König Friedrich Wilhelm IV., wie Anm. 119, hier S. 89f. Vgl. auch Lehmann, Jana, Hubert Ermisch 1850-1932, Ein Beitrag zur Geschichte der sächsischen Landesgeschichtsforschung (= Geschichte und Politik in Sachsen; 14), Köln etc. 2001, S. 203f. Zu einem unausgeführten Plan, den Briefwechsel zwischen Friedrich August II. und Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zu edieren, vgl. Lippert, Woldemar, Friedrich Augusts II. Entwicklung, Fragment einer Selbstbiographie, NASG 45 (1924), S. 80-103, hier S. 80. 121 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 183, unpaginiert, Brief Deßbrüggers an Kretzschmar vom 13. Februar 1941.

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nigtums im Rahmen des deutschen politischen Gemeinschaftslebens der Zeit zu erfassen und dabei Bereich und Begrenztheit, Leistung und Versagen des landesherrlichen Wirkens am Beispiele Sachsens zu untersuchen, das sich dazu besonders gut eignet durch seine geschichtliche Stellung im deutschen Leben und dank der Verschiedenheit der Herrscherpersönlichkeiten, [...]. Thema würde immer der monarchische Territorialstaat bleiben, nicht der jeweilige Repräsentant der Staatsform. [...] Es handelt sich weder um eine Werbung für den monarchischen Gedanken noch um eine Apologie des Partikularismus, sondern um die kritische Darstellung einer abgeschlossenen der Vergangenheit angehörenden Epoche und politischen Lebensform."122 Bereits sein Schreiben an den Chef des Vereins Haus Wettin Albertinischer Linie enthielt neben einer allgemeinen Archivalienanfrage aber auch den Gedanken an eine separate Publikation über König Johann. „[...] von den Tagebüchern des Königs Johann besitzt das Hauptstaatsarchiv den älteren Teil im Original, die Familie aber eine Abschrift des Ganzen. Bei der schweren Lesbarkeit der originalen Handschrift wäre es für mich eine große Erleichterung, wenn ich diese, wohl verläßliche Abschrift benutzen könnte. Man könnte übrigens vielleicht auch an eine SonderveröfFentlichung dieser Tagebücher in Auswahl denken."123 Das ehemalige Königshaus kooperierte, und so lag bereits 1943 das Manuskript für die Publikation der Lebenserinnerungen vor. Von Anfang an meinte Kretzschmar, dass „die Erinnerungen selbst nur in ihren geschichtlich bedeutsamen Teilen veröffentlicht werden können".124 Daher hatte er den Text um ein rundes Drittel der Kindheitsbeschreibung und um ca. ein Zehntel des restlichen Manuskripts gekürzt.125 Doch machten die Kriegsumstände eine Publikation zunächst unmöglich.126 Die ursprünglich anvisierte Gesamtdarstellung der sächsischen Monarchie anhand ihrer Monarchen brachte Kretzschmar 1950 in der Historischen Zeitschrift unter.127 Ab 1954 verhan-

122 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 183, unpaginiert, Brief Kretzschmars an das Bibliografische Institut A.-G. Leipzig vom 27. November 1940. 123 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 183, unpaginiert, Briefkonzept Kretzschmars vom 27. April 1941. 124 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 183, unpaginiert, Brief Kretzschmars an das Thüringische Hauptstaatsarchiv Weimar vom 4. Juni 1941. 125 So seine eigene Schätzung, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen, S. 6. 126 Die Erinnerungen sollten als Band 2 der „Sächsischen Forschungen zur Geschichte" der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften erscheinen. Rudolf Kötzschke meinte zu dem Verlagsangebot: „Nach meiner Meinung dürfte das Werk nicht in einer Gestalt erscheinen, die allzu dürftig sich ausnimmt, sondern ein gewisses repräsentatives Äußere haben. Ich gehe sogar so weit zu überlegen, ob die Kommission nicht lieber die Veröffentlichung hinausschieben soll, wenn der Band in nächster Zeit nur in einer Weise hergestellt werden kann, die nicht ganz würdig ist." Vgl. SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 32, unpaginiert, Brief Kötzschkes an Kretzschmar vom 22. September 1943. Danach wurde die Angelegenheit nicht mehr aufgenommen. 127 Kretzschmar, Hellmut, Das sächsische Königtum im 19. Jahrhundert, Ein Beitrag zur Typologie der Monarchie in Deutschland, HZ 170 (1950), S. 457-493 (im Folgenden: Kretzschmar, Das sächsische Königtum).

1.5 Stand von Forschung und Deutung - Johann und die Dynastie

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delte er mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über das vorliegende Manuskript der Lebenserinnerungen und eine anschließende, mit Quellen ergänzte biografische Skizze über die Regierungszeit König Johanns. Die Abteilung „Quellen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" entschied, lediglich die Lebenserinnerungen zu publizieren.128 Dieses Manuskript reichte Kretzschmar dann am 1. November 1957 bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften ein, es erschien 1960 im Akademie-Verlag Berlin.129 Neben diesen Publikationen bietet eine unveröffentlichte Biografie, die ca. 1957 entstand, noch einmal ein Komprimat von Kretzschmars Interpretation der historischen Figur Johann.130 Bis heute dominieren Kretzschmars und Freiherr v. Falkensteins Interpretationen die Sicht auf König Johann.131 Im Zuge der Aufmerksamkeiten zu Johanns 200. Geburtstag entstand einige populäre Literatur132 sowie eine Zusammenschau alltagsweltlicher Exponate im Rahmen einer Ausstellung über Person und Zeit Johanns.133 Der in einem Sammelband bestehende wissenschaftliche Ertrag des Gedenkjahres erübrigte die Präliminarschriften der Voijahre, erbrachte jedoch keine kritische Neubewertung der historischen Person Johanns.134 Für die Zeit vor 1989 erscheint eine inhaltliche Stagnation verständlich, mangelte es doch in der DDR an einem wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang. Denn Monarchie und Monarchen

128 Für Kretzschmars Darstellung der Regierungszeit orientierte man auf eine separate Publikation bei den „Mitteldeutschen Forschungen". SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 71, unpaginiert, Brief Peter Rassows an Kretzschmar vom 18. Mai 1856. 129 Kretzschmar, Die Zeit König Johanns. Nach freundlicher Auskunft von Detlef Döring, Archiv der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, existiert keine Überlieferung über eine etwaige Diskussion über oder eine Einflussnahme auf das Manuskript. 130 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 163. Kretzschmar verweist darin auf den Tod des Historikers Johannes Haller (1865-1947) „vor einem Jahrzehnt". 131 Symptomatisch in dieser Hinsicht die Johann-Biografie von Reiner Groß, Johann 1854-1873, in: Frank-Lothar Kroll, Die Herrscher Sachsens, Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089-1918, München 2004. Groß überlässt die Bewertung Johanns gänzlich älteren Zitaten, nämlich Eingangs einer Bewertung von Hellmut Kretzschmar, aus Kretzschmar, Das sächsische Königtum, S. 263, und abschließend der Ansicht von Freiherr v. Falkenstein, Charakterbild, S. 278. 132 Zimmermann, Ingo, Johann von Sachsen, Die Zeit vor der Thronbesteigung, München etc. 2001, basiert in erster Linie auf der Selbstdarstellung des Monarchen, vgl. Kretzschmar, Lebenserinnerungen sowie Schladebach, Julius, Johann König von Sachsen, Sein Leben und Wirken bis zu seiner Thronbesteigung, Eine biographische Skizze, Leipzig 1854; Praschl-Bichler, Gabriele, Allianz der Dynastien, Habsburger und Wettiner, München 2001; sogar Günther, Ralf, Der Leibarzt, München 2001. Zwischen den Jubiläen verorten sich Klecker, Christine/Wintermann, Klaus-Dieter, Wahre Geschichte um König Johann, Taucha 1994. Die historiografischen Implikationen dieser Titel bleiben dahingestellt. 133 König Johann von Sachsen, Zwischen zwei Welten, Herausgegeben von der Sächsischen Schlösserverwaltung und dem Staatlichen Schlossbetrieb Weesenstein, Halle an der Saale 2001. 134 Müller, Winfried/Schattkowsky, Martina (Hgg.), König Johann von Sachsen - Zwischen Tradition und Modernität (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 8), Leipzig 2004. Den langen Anlauf zur Ehrung dokumentieren König Johann, SäHBll 38 sowie König Johann von Sachsen 1801/1854-1873, Ein Blick auf Deutschland (= Saxonia, Schriftenreihe des Vereins für sächsische Landesgeschichte e.V.; Bd. 7), Dresden 2000.

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stellten - abgesehen von den Reflexen in der Erbediskussion um Friedrich Π. von Preußen 1986 - für die Geschichtswissenschaft der DDR keinen Forschungs- und Diskussionsgegenstand dar, sondern dienten allenfalls als Projektionsfläche von Ideologemen. Die Gründe dafür, dass die in Kretzschmars sach- und quellenkundigen Publikationen transportierten Deutungen noch weitgehend unreflektiert Gültigkeit beanspruchen, sind darüber hinaus auch inhaltlicher Natur: Sie enthielten vergleichsweise wenig völkische Ideologisierungen und griffen Terminologie und Geschichtsdeutungen der DDR-Historiografie nur ausgesprochen distanziert auf. Quellenpublikationen waren in dieser Hinsicht weniger problembelastet. Die Darstellung von persönlichen und Charaktereigenschaften bedurfte ebenfalls kaum einer Revision. So wurde das präsente Johann-Bild zwar weiter ausgestattet und zuweilen überhöht, aber nicht hinterfragt. Für Kretzschmar war König Johann zunächst ein Repräsentant der sächsischen Monarchie, in zweiter Instanz einer der beiden, die in der Monarchen-Reihe „über das Normalmaß hinausragen und allgemeine geschichtliche Bedeutung erlangt haben", nämlich neben Johann selbst noch dessen Sohn und Nachfolger Albert.135 Kretzschmar stellte bei seinen Wertungen vor allem auf die Charaktereigenschaften der Könige ab, die diese dann mehr oder weniger zu den Aufgaben befähigten, die s. E. dem sog. neuzeitlichen deutschen Königtum oblagen. Die Signatur dieses Königtums lag für ihn ganz wesentlich in dessen Fokussierung auf die deutsche Nation. Und dies bedeutete eine Abkehr von „übernationalen Gedankengängen", die noch der sächsisch-polnischen Verbindung eigen waren,136 zugleich aber auch eine „innere Abkehr von Frankreich und überhaupt vom ausländischen Wesen".137 Kretzschmar attestiert Johann - ähnlich wie dessen Bruder Friedrich August II. - eine „grunddeutsche, aus dem Herzen kommende Einstellung", eine „Liebe zu Deutschland".138 Explizit wandte er sich nicht nur gegen Heinrich v. Treitschkes unausgewogenes Urteil gerade über Johann, sondern forderte Akzeptanz für die Eigenheit nationalen Selbstverständnisses in Deutschland: „Die später von Treitschke verspottete deutsche Situation des Besitzes von zwei Vaterländern, nämlich einem engeren und einem weiteren, findet in Johann nicht nur eine instruktive Verkörperung der Wirklichkeit, sondern stellt einen harmonischen Ausgleich dar, der durchaus gesund erscheint und keine krampfhaften Spannungen einschließt. Der Organismus des Deutschen Bundes ist für ihn

135 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar, Nr. 183 unpaginiert, Brief Kretzschmars an das Bibliografische Institut A.-G. Leipzig vom 27. November 1940. Eine Zuspitzung dieser Auswahl dann Zimmermann, Zwischen Pflicht und Neigung, Der bedeutendste sächsische König des 19. Jahrhunderts, wie Anm. 38. 136 Kretzschmar, Das sächsische Königtum, S. 460. 137 Kretzschmar, Das sächsische Königtum, S. 461. 138 Kretzschmar, Das sächsische Königtum, S. 466.

1.5 Stand von Forschung und Deutung - Johann und die Dynastie

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lebensfähig und auf das Nebeneinander der Dynastien und Staaten gegründet."139 Das Schlaglicht auf dieses monarchische Nationaldenken wirft Kretzschmar mit Johanns gegen das burschenschaftliche Nationaldenken gerichteten Toast „Deutschland wie wir es meinen" und verweist auf die Johanns Worten nach „nationalen" Gefühle der Sachsen beim Tod König Friedrich Augusts I.140 Die Koexistenz eines sächsischen und eines deutschen Nationalgefühls - so deutet Kretzschmar an - entsprang zu einem Gutteil der Orientierung der Bevölkerung auf die albertinische Dynastie.141 Neben der Thematik von Nation und Nationalstaat nimmt sich das in Kretzschmars DDRPublikationen schließlich eingeführte Motiv der Fortschrittlichkeit nur wenig konturiert aus. Als Biografie eines zur Jahrhundertwende Geborenen wurde Johanns Leben daraufhin befragt, wie sich in ihr der enorme gesellschaftliche Wandel niederschlug, wieviel Altes und wieviel Neues in seinem Handeln zu erkennen waren - wieviel Ancien Regime und wieviel Moderne. Kretzschmar machte seinen Protagonisten nicht komplett zur Forschrittsfigur, markierte aber in dessen Denken und Handeln immer wieder relativ progressive Elemente. So heißt es etwa: „Wie sein Bruder Friedrich August [...] ist auch Johann eine für ihre Tage fortschrittliche Gestalt, der durchaus dem Kreise lebendiger, bewusst neuzeitlich gesonnener Männer angehört, deren Gedankengut als altliberal angesprochen werden kann [...]." Oder an anderer Stelle: „Zu wiederholten Malen hat Johann dem gemäßigten Fortschritt öffentlich gehuldigt [...]".142 Johanns Einordnung in der Geschichte seiner Dynastie gab der Interpretation seiner Person keinen neuen historiografischen Impuls. Aus epochenübergreifender Perspektive widmete sich Karlheinz Blaschke der Thematik.143 Er betonte die mehrere Jahrhunderte 139 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar Nr. 163 König Johann von Sachsen 1801-1873, pag. 7a. 140 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar Nr. 163 König Johann von Sachsen 1801-1873, pag. 7a, 3. 141 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar Nr. 163 König Johann von Sachsen 1801-1873, pag. 3. 142 SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar Nr. 163 König Johann von Sachsen 1801-1873, pag. 3, 4, 7a. Die vor allem rhetorische Bemühung um Terminus belegt insbesondere die handschriftliche Korrektur von „biedermeierlich fortschrittliche Gestalt" zu „für seine Tage fortschrittliche Gestalt". 143 Beispielsweise Blaschke, Karlheinz, Hof und Hofgesellschaft im Königreich Sachsen während des 19. Jahrhunderts, in: Möckl, Karl (Hg.), Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (= Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1985 und 1986; = Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit; Bd. 18), Boppard am Rhein 1990, S. 177-206; Ders., Die Wettiner, Thesen zur neunhundertjährigen Geschichte des ehemaligen sächsischen Fürstenhauses, in: SäHBll 35 (1989), S. 69-70; Wiederabdruck unter dem Titel: Die Wettiner, Die Thesen zur neunhundertjährigen Geschichte des Hauses Wettin, in: v. Polenz, Hans Assa/v. Seydewitz, Gabriele (Hgg.), 900-Jahr-Feier des Hauses Wettin, Regensburg, 26.4.-1.5.1989,1089-1989, Festschrift des Vereins zur Vorbereitung der 900-Jahr-Feier des Hauses Wettin e.V. Bamberg 1989, S. 15-18; Ders., Die geschichtliche Leistung der Wettiner, SäHBll 35 (1989), S. 197-204; Ders., Dynastiegeschichte in unserer Zeit, Das Beispiel der Wet-

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umfassende Herrschaftstradition des Hauses und interpretierte sie primär als eine Akkumulation von historischem Verdienst, zu der der einzelne Fürst jeweils einen kritisch beleuchteten historischen „Beitrag" leistete. In diesem „Fürstenzug" wies er Johann im Wesentlichen dieselbe Position, die Kretzschmar ihm bereits in der Monarchenreihe des 19. Jahrhunderts zugedacht hatte.144 Eine neuere systematische Behandlung, wie sie anderen Dynastien derzeit gewidmet wird, steht noch aus. Ein Vergleich mit vorliegenden Studien zu binnenkommunikativen Prozessen innerhalb des wettinischen Fürstenhauses insbesondere im Mittelalter bietet sich als epochenübergreifender Bezug prima vista nicht an. Die Fokussierung der entsprechenden Studien verdeutlicht vor allem die historische Distanz zum 19. Jahrhundert. Denn die Herrschaftsweitergabe innerhalb der Dynastie und die Regelung damit verbundener Konflikte unter den Agnaten können historiografisches Interesse insofern nicht erwecken, als Konflikte um die Ausübung fürstlicher Herrschaft nicht mehr durch innerdynastische Machtpotenziale entschieden wurden.145 Zum Thema innerfamiliärer Emotionalität wurde zumindest u. a. auch an Beispielmaterial der Wettiner nachgewiesen, dass enge familiäre Bindungen kein Produkt der Neuzeit darstellten und in keiner Weise für ein „bürgerliches Familienleben" zu vereinnahmen sind, das in grundsätzlicher Opposition zu fürstlichen Familien stünde.146 tiner, in: Sachsen und die Wettiner - Chancen und Realitäten, Internationale wissenschaftliche Konferenz, Dresden vom 27. bis 29. Juni 1989, Ausgerichtet von der Forschungsgemeinschaft zur Kulturgeschichte des Dresdner Raumes beim Rat des Bezirkes Dresden, Abt. Kultur unter Vorsitz von R. Groß (= Dresdner Hefte, Sonderausgabe), Dresden 1990, S. 37-44; Ders., Die Bedeutung der Wettiner für die sächsische Kirchengeschichte, in: Sachsen und die Wettiner - Chancen und Realitäten, wie oben, S. 167-173; Ders., Die Wettiner und der sächsische Bergbau, in: M. Bachmann/H. Marx/E.Wächtler (Hgg.), Der silberne Boden, Kunst und Bergbau in Sachsen, Stuttgart etc. 1990, S. 67-69; Ders., Die Frauen der Wettiner, SäHBll 40 (1994), S. 257-262; Ders., Der Fürstenzug zu Dresden, Denkmal und Geschichte des Hauses Wettin, Leipzig etc. 1991. 144 Auf populäre Darstellungen der albertinischen Dynastie kann hier nicht eingegangen werden, etwa Herzog zu Sachsen, Albert, Die Albertinischen Wettiner, Geschichte des Sächsischen Königshauses 17631932, Gräfelfing 3 1995. v. Polenz, Hans Assa/v. Seydewitz, Gabriele (Hgg.), 900-Jahr-Feier des Hauses Wettin, Regensburg, 26.4.-1.5.1989; 1089-1989, Festschrift des Vereins zur Vorbereitung der 900-JahrFeier des Hauses Wettin e.V., Bamberg 1989. 145 Rogge, Jörg, Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel, Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 2002. Schon das zu Grunde gelegte Sample handlungsleitender dynastischer Interessen entzieht sich einer Übertragung in den Untersuchungszeitraum, vgl. Spieß, Karl-Heinz, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1993. 146 Rogge, Jörg, muterliche liebe mit ganzen truwen allecit, Wettinische Familienkorrespondenz in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Heimann, Heinz-Dieter (Hg.), Adelige Welt und familiäre Beziehung, Aspekte der „privaten Welt" des Adels in böhmischen, polnischen und deutschen Beispielen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (= Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur Brandenburg-Preußens und des Alten Reiches), Potsdam 2000. In dem außerordentlich häufigen Trugschluss verbindet sich das Klischee biedermeierlichen, als „bürgerlich" aufgefassten Familienlebens mit der Unkenntnis früherer Epochen. Unzutreffend werden entsprechende Verhaltensweisen häufig als vom Bürgertum adaptiert bezeichnet, beispielsweise bei Kell, Eva, Bürgertum und Hofgesellschaft, Zur Rolle „bürgerlicher Höflinge"

1.6 Quellen

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1.6 Quellen Die vorliegende Arbeit wählt die über 1.000 Briefe umfassende Korrespondenz König Johanns von Sachsen mit seiner Tochter Elisabeth Herzogin von Genua (1830-1912) zu ihrer Basisquelle, zieht aber auch Briefe anderer Familienmitglieder aus diesem Bestand heran.147 Die Prinzessin heiratete 1850 Ferdinand Herzog von Genua (1822-1855). Sie lebte von da an im Piemont und hielt regelmäßige Korrespondenzen mit ihren Eltern und Geschwistern lebenslang aufrecht. Im Falle König Johanns selbst liegt eine fast lückenlose Überlieferung vor. Diese VaterTochter-Korrespondenz weist vor allem in den Zeiträumen Lücken auf, in denen sich Eltern und Tochter persönlich begegneten, d. h. während der gegenseitigen Besuche in Dresden und Italien oder während der Familientreffen im Ausland. Unter den Briefen der Königin Amalie dagegen sind nicht unerhebliche Verluste eingetreten.148 Die Briefwechsel Elisabeths mit den Schwestern Sidonie, Anna, Margarethe und Sophie sowie mit dem Bruder Georg weisen nicht dieselbe Frequenz auf, waren aber doch zumindest als regelmäßige Korrespondenzen konzipiert. Sie endeten mit demfrühenTod der Schwestern Anna 1859, Margarethe 1858 und Sidonie 1862. Ziel der Untersuchung ist es allerdings nicht, die Briefwechsel Johanns und seiner Familie vollständig zu rekonstruieren. Während für eine politische Biografie Johanns auch anderweite Archivstudien nötig wären, ist der primäre Blick der Fallstudie Richtung Italien im Sinne der Fragestellung aussagekräftig genug. Allerdings lässt sich aufzeigen, wo Anschlüsse in andere Himmelsrichtungen inhaltlich sinnvoll sind.149

an kleineren deutschen Fürstenhöfen (1780-1860), in: Fehrenbach, Elisabeth (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien; 31), München 1994, S. 187201. Vgl. hierzu ebenso Schattkowsky, Martina (Hg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit, Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 6), Leipzig 2003. 147 AAT 20.7.1 bis 20.7.15. Vgl. auch Briacca, Giuseppe, Archivio arcivescovile di Torino, Torino 1980, S. I l l , 114f.,626f. 148 Der Verbleib der Jahrgänge 1868, 1869 und 1871 ist derzeit nicht bekannt. Sie befinden sich nicht im Bestand des Archivio Arcivescovile di Torino. Ob sie als Totalverlust zu betrachten sind, ist bislang nicht zu klären, vgl. Chiavarino, Romualdo, L'archivio della casa ducale di Genova trai fondi depositati presso l'archivio arcivescovile di Torino (SEZIONE XX), Unveröffentlichtes Manuskript 2001. 149 Hierzu äußert sich bereits Hellmut Kretzschmar: „Für letzteren [den gesamten Briefwechsel Johanns] lässt sich eine Vollständigkeit kaum erreichen; ich müsste dazu die Archive von München und Wien, wahrscheinlich auch Turin und Rom heranziehen, aber auch die Korrespondenz mit Königin Viktoria von England und Napoleon III. würde wichtig sein." SächsHStA Dresden, Personennachlass Hellmut Kretzschmar (1893-1965) Nr. 71, unpaginiert, Schreiben Hellmut Kretzschmars an Peter Rassow vom 16.8.1954. Lohnenswert wäre aus der hier behandelten Fragestellung beispielsweise die Beschäftigimg mit der Korrespondenz der Dresdner Wettiner mit den Angehörigen des Hauses Habsburg-Toscana zu nennen, vgl. Gregorovicovä, Eva/Nemimovä, Petra, Skryty püvab dopisü toskanskych Habsburkü, II fascino nascosto del carteggio di Granduchi di Toscana, Praha 2003. Schon das Gesamthaus Wettin auf der Basis seiner internen Korrespondenzen umfassend auszuleuchten, würde einen eigenen Forschungsaufwand beanspruchen.

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1 Einleitung

Außer dem genannten Korrespondenzbestand, der nicht nur quantitativ und qualitativ beeindruckt, sondern auch die Voraussetzung erfüllt, der Forschung frei zugänglich zu sein, wurde der Fürstennachlass Johann im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden benutzt sowie die im selben Haus verwahrte Überlieferung des Dresdner Hofes. Insbesondere gewährt der Bestand Oberhofrnarschallamt Einblicke in das Alltagsleben der königlichen Familie und in diesem Bestand besonders die „Diaria", d. h. die Dresdner und Pillnitzer Hoftagebücher. Für Normative und Praxis des Hofreglements waren die „Ceremonialia" im selben Bestand besonders auskunftsträchtig. Auch die Akten des Ministeriums des königlichen Hauses, der zentralen Schnittstelle zwischen Hof- und Staatsbehörden, konnten zu Rate gezogen werden. Tagebücher, Briefe und Gesandtschaftsberichte, auch aus aus anderen Archiven, lieferten ergänzendes Quellenmaterial.150

150 Zur vollständigen Übersicht vgl. 7.3.2 Verzeichnis der benutzten Quellen.

2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

2.1 Privatbriefe als Textsorte der Binnenkommunikation Die Beschäftigung mit Briefen hat, je nach ihrem wissenschaflichen Sparteninteresse, zu sehr verschiedenen Lesarten des Briefes geführt. „Man kann ihn als sozialgeschichtliche Quelle auffassen, als literarhistorische Quelle, als biographische Quelle, als Psychogramm eines Schreibers, sicher auch als ein Stück Literatur, gerade wenn er von einem Dichter geschrieben wurde. [...] Doch ist der Brief in erster Linie Gebrauchstext, er ist Kommunikationsmedium, und als solches hat er neben der Informationsvermittlung eine bestimmte Funktion, die im metasprachlichen Bereich liegt: ein Beziehungsnetz zu etablieren, Kontakte zu knüpfen, diese in Gang zu halten, innerhalb dieser Kontakte bestimmte Aufgaben wahrzunehmen - kurz: eine Gemeinschaft zu konstituieren und [...] soziale Handlungen zu koordinieren."1 Die Konstituierung von Gemeinschaft - nämlich einer hochadligen Gemeinschaft mit ihrem speziellen Profil - kann als Thema der kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte gelten. Das Bedingungsgefüge des Briefwechseins, d. h. das Ob, Wer und Wie der hier behandelten Korrespondenzen interessiert daher nicht nur ebenso wie das bloße Was, sondern es bestimmt die Deutung der Briefinhalte mit. Welcher kulturellen Praktik bedienten sich also diese Menschen? Die Briefkultur der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts wird als eine NachGellert-Ära beschrieben, das heißt als Wirkungsgeschichte zweier Werke Johann Fürchtegott Gellerts (1715-1769): eines 1742 erschienenen Aufsatzes „Gedanken von einem guten deutschen Briefe" und - weit wichtiger - des Briefstellers „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen" von 1751.2 Zumindest im breit fokussierten Sinne, nämlich als „Anfang einer neuen Briefkultur", die auf den direkten Konnex mit Gellerts Texten später verzichten konnte, lässt sich diese Periodisierung aufgreifen. Denn die - oft verächtlich kommentierte - unglaubliche Breitenwirkung von Schriften und Lehre des „praeceptors germaniae" betraf auch dessen Briefreform. Sowohl der umständliche zeremonielle Brief im Kanzleistil als auch der nun des Schwulstes bezichtigte galante Brief dankten zu Gunsten des ungezwungenen, natürlichen, freundschaftlichen Plauder1 Arto-Haumacher, Rafael, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, Der Anfang einer neuen Briefkultur, Wiesbaden 1995, S. 24f. 2 Geliert, Christian Fürchtegott, Gedanken von einem guten deutschen Briefe, in: Ders., Gesammelte Schriften, kritische, kommentierte Ausgabe, hg. von Bernd Witte, Bd. IV, Berlin 1989, S. 97-110; Ders., Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in Ders., Gesammelte Schriften, S. 105-221.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

briefes ab - so jedenfalls der in der Literatur idealisierte Übergang von einem Typus zum anderen, der angesichts von Briefquellen aus der Verwaltung des 19. Jahrhunderts nicht ganz überzeugen wird. Mit der ungeahnten Entfaltung des Bereichs privater Schriftlichkeit jedoch hatte der neue Briefstil durchschlagenden Erfolg. Diesem Geltungsbereich entsprechend hatten jedenfalls auch die Konversationslexika Gellerts Programmatik um 1827 bereits gänzlich adoptiert. Die zentralen Forderungen nach Natürlichkeit und Lebhaftigkeit, nach Regellosigkeit und Gesprächsnähe waren primär als Barockkritik zu verstehen. Geliert rief nicht die stilistische Anarchie aus, sondern stand sowohl mit diesen Prinzipien als auch mit der beispielgesättigten Lehrhaftigkeit seines Briefstellers durchaus ganz innerhalb der Rhetorik-Tradition.3 Ein breiter stilistischer Durchbruch blieb es allemal. Wenn Geliert die Sphäre des Hofes noch als idealtypische Negativschablone sozialer Identifikation diente, so integrierte er doch Adlige in seine Kommunikation neuer Prägung. Entsprechend seiner moralischen Motivation sah Geliert sowohl das Ziel als auch die prinzipielle Möglichkeit, jeden aus der Praxis der Unmoral herauszulösen, unabhängig von seiner Standeszugehörigkeit. Ganz im Sinne der historiografisch bekannten Adels- und Hofkritik projizierten seine Texte diese Unmoral stets deutlich auf den Hof und den dort verkehrenden Adel, dagegen blieb die Tugend hinsichtlich ihrer sozialen Zuschreibung undeutlich und damit offen. Gegen 1760 hat sich Geliert damit ein europäisches Publikum erschlossen - sowohl an den Höfen wie auch jenseits huldigten ihm Adlige wie Bürgerliche. Wenn Gruppenkonstitution über Briefschaften von der Forschung zunächst als bürgerliches Phänomen bzw. als Konstitutivum einer bürgerlichen Öffentlichkeit behandelt wurde, dann gibt bereits die Sicht auf Gellerts vielfach adlige Briefpartner daran Zweifel, und das ambivalente Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit dieser Schriftwechsel entzieht sie gänzlich der schematischen Einordnung.4 Das 19. Jahrhundert stellt in der Entwicklung der Briefkultur ein bislang nur wenig beleuchtetes Intervall dar.5 Es war vor allem von einer allgemeinen - sozialen und quanti3 Arto-Haumacher, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, wie Anm. 1, S. 19. 4 Detailliert nachzulesen bei Arto-Haumacher, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, wie Anm. 1, hier S. 143-158. 5 Baasner, Rainer, Briefkultur im 19. Jahrhundert, Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1-36, widmet sich dezidiert dem „mehr oder weniger privaten Briefwechsel" (S. 13). Kaum ergiebig Steinhausen, Georg, Geschichte des deutschen Briefes, Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. 2 1891, ND Dublin etc. 1968. Dann folgt chronologisch erst Ettl, Susanne, Anleitung zu schriftlicher Kommunikation, Briefsteller von 1880 bis 1980 (= Reihe Germanistische Linguistik; 50), Tübingen 1984. Analysen zum literarischen Brief bzw. zum Briefroman behandeln eine von den hier behandelten Privatbriefen völlig verschiedene Thematik. Hierzu gehört auch der noch bis 1830 zielende Beitrag von Anderegg, Johannes, Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830, Mit einem Beitrag von Edith Anna Kunz, Göttingen 2001. Speziell diese Andersartigkeit behandeln aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Beiträge in Strobel, Jochen (Hg.), Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern, Figuren der Autorschaft in der Briefkultur (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 229), Heidelberg 2006, besonders Ders., Einleitung, S. 7-32, sowie Bun-

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tativen - Ausweitung privaten Briefverkehrs geprägt. Trotz der starken gattungs-, stil- und situationsüberschreitenden Bezüge der Briefe entwickelte sich die Briefkultur so zu einer „im kommunikativen Handeln [...] selbständig organisiertefn] und somit eingegrenztefn] Domäne".6 Im Zuge dieser Entwicklung prägte sich der Bedarf nach sozialer Differenzierung auch innerhalb des BriefVerkehrs aus.7 Die kommunikative Überschreitung sozialer Grenzen verschiedener Art behielt bzw. erhielt eigene Ausdrucksformen. Das bestätigt sich von der anderen Seite darin, dass die „Förmlichkeit" von Familienbriefen extrem gemildert erscheint. Gesichert ist, dass fur die deutsche Konversationskultur die französische noch nach der Jahrhundertmitte als Vergleichsmaßstab eigener Prägung galt.8 Völlig unerforscht ist dagegen das Verhältais zwischen deutscher und französischer Privatkorrespondenz. In unserem Einzelfall wird greifbar, dass das Französische nicht nur im nationalen Rahmen in seiner sozial abgrenzenden Funktion als vornehmes Hof- und Gesellschaftsidiom zu erfassen ist, sondern dass es am Dresdner Hof um 1800 für mehrere Kernfamilien schon deswegen sinnvoll war, sich des Französischen zu bedienen, weil die Ehepartnerinnen der Agnaten das Deutsche nicht ebensogut beherrschten. Über Prinzessin Luise von Lucca (1802-1857), die Anfang November 1825 als zweite Ehepartnerin des Prinzen Maximilian nach Dresden gekommen war, berichtet ein Zeuge im folgenden Januar etwa: „Prinzeßin Luise gefällt aller Welt mehr und mehr und Sie werden sich freuen sie einst bey Hofe zu sehen. Die Angst[,] die sie hat[,] an iemanden zu kommen, der nicht Französisch spricht, abgerechnet, benimmt sie sich mit einer Liebenswürdigkeit und Anspruchslosigkeit^] die ihr alle Herzen gewinnt. Prinz Max veriüngt sich. Gestern fuhren sie mit mehreren im großen Garten von dem RutschBerge und StuhlSchlitten, ein für die Prinzeßin ganz neues Vergnügen. Der Prinz ohne Huth und in seidenen Strümpfen."9 Die Quellen belegen, dass in der Familie Johanns bereits eine Generation zuvor eine deutschsprachige Korrespondenzkultur gepflegt wurde. Zwischen dem jungen Johann und zel, Wolfgang, Schrift und Leben, Formen der Subversion von Autorschaft in der weiblichen Briefkultur um 1800, S. 157-176, besonders S. 158f. Der Formulierung von Michel Foucault folgend manifestiert sich diese Grenze in der Unterscheidung zwischen „Schreiber" und,Autor". 6 Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert, wie Anm. 5, S. 13. 7 Anders die Deutung bei Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert, wie Anm. 5, S. 26. Er vertritt die These, nach 1830 sei die Briefkultur vor allem von Konformitätsanforderungen geprägt worden, die sich auf Briefsteller beziehen. Diese Konformitätsanforderungen zeigen die Ausweitung der Korrespondenzkultur an, sind aber sicherlich nicht deren allgemeines Signum. 8 Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert, wie Anm. 5, S. 15. 9 SächsHStA Dresden, Personennachlass Georg August Graf von Solms-Tecklenburg (1790-1827) Nr. 78, unpaginiert, Brief eines Unbekannten an Solms vom 23.1.1826.

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seinen zwischen 1794 und 1803 geborenen Geschwistern sind Briefe mitteilsamer und im Sinne der Briefreform auch „einfacher" und „natürlicher" Diktion überliefert. Überdies wurden sie ausnahmslos auf Deutsch abgefasst und entsprachen auch darin dem neueren Briefideal.10 Aber bereits die Briefe des Vaters Maximilian (* 1759) an seine Kinder gehören diesem Paradigma an.11 Seinem Sohn Johann schrieb er „Liebster Knabe [...]" und schloß „indeßen grüße ich dich und die Kinder, gebe euch meinen Seegen, und bin auf ewig Dein zärtlicher Vater Max"12 Und an alle Kinder hieß es: „Liebe Kinder. [...] Gebet allen Nachrichten von mir, und vergeßt nicht die T:[ante] Kunigunde.13 Ich gebe euch meinen Seegen. Max" Umgekehrt war die Diktion der Kinder ebenfalls intim codiert - Josefa schrieb etwa „Liebstes Papachen" - stilistisch operierte sie aber noch mit dem „Ihr". Josefa schloss ihre Schreiben aus Madrid mit der schlichten Wendung „Ihr Kind".14 Unter den Brüdern Friedrich Augusts I. bzw. zwischen ihren Familien wurde dagegen auf Französisch korrespondiert.15 Friedrich August war bekannt für sein Festhalten an den Formen seiner bereits 1768 angetretenen Regierung und galt persönlich als „in steifen Ceremonien und alten Gewohnheiten befangen".16 Prinz Max trat seinem Bruder in entsprechender Form gegenüber und schloß beispielsweise seinen Brief: ,Je vous prie en meme tems de me conserver Vos bontes et d'etre persuade que je serai toute ma vie avec

10 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 4a 13 Briefe der Großherzogin Maria von Toscana an den Prinzen Johann, späteren König von Sachsen, 1821-1857. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 365 29 Briefe der Großherzogin Maria Anna von Toscana an den Prinzen Johann, späteren König von Sachsen Johann aus den Jahren 1842, 1847, 1857, 1858, 1861, 1862 und o. D. Vgl. auch die Briefauszüge in Haebler, Konrad, Maria Anna Josefa, Herzogin zu Sachsen, Königin von Spanien, Dresden 1892. 11 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 363 Brief des Prinzen Maximilian aus Florenz an seinen Sohn Johann, nach 1821. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Prinz Maximilian Nr. 14 Brief des Prinzen Maximilian aus Bayreuth an seine Kinder, o. J. und Nr. 15 17 Briefe von Maria Josepha Königin von Spanien an ihren Vater Maximilian 1823, 1827. 12 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 363 Brief des Prinzen Maximilian aus Florenz an seinen Sohn Johann, nach 1821. 13 Prinzessin Kunigunde von Sachsen (1740-1826), Sie war 1776-1802 Äbtissin von Essen und lebte danach wieder am sächsischen Hof. 14 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Prinz Maximilian Nr. 15 17 Briefe von Maria Josepha Königin von Spanien an ihren Vater Maximilian 1823,1827. 15 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Prinz Maximilian Nr. 2 Briefe des Prinzen Anton von Sachsen an seinen Bruder Maximilian und dessen Gemahlin Luise, Nr. 3 Zwei Briefe König Antons von Sachsen an seinen Bruder Maximilian 1828 und o. J.; SächsHStA Dresden Geheimes Kabinett Loc. 2554/9 Ein Schreiben des Prinzen Maximilian an seinen Bruder König Friedrich August I. von Sachsen vom 4.1.1815. 16 Mittheilungen aus dem Leben und Wirken des Königs von Sachsen Friedrich Augusts des Gerechten. Leipzig 1829, S. 10-12. Die interessante Rechtfertigung lautet hier: „Die Beibehaltung der scheinbar steifen Etiquette war von dem Könige wohl mehr auf strenge Ordnung und Zeiterspamiß berechnet [...]" Die Transkription folgt - wie stets - der Schreibweise des Originals.

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le plus profond respect Mon tres eher Frere Votre tres humble et tres obeissant Serviteur etfidele frere Max",17 Die Haushaltungen von Maximilian und Anton waren zwar nicht gänzlich von der Repräsentation, aber doch von der regierungsbezogenen Hofhaltung deutlich abgekoppelt. In diesem Punkt entsprach der Herrschaftsstil König Friedrich Augusts I. seiner autoritären Familien- und Hauspolitik. Aber auch seine Brüder drängten sich bei Hof nicht gerade auf: „Sowohl Prinz Anton wie Prinz Max entzogen sich nach Möglichkeit dem strengen Zeremoniell des Hofes, wurden auch in den Straßen zu Fuß gesehen, zumeist im dunklen Hofkleide mit Kniehosen, seidnen Strümpfen und Schnallenschuhen, barhaupt, den Chapeaubas unter dem Arm [.. .]"18 Damit bestand also in den Kernfamilien von Anton und Maximilian eine gute Chance, dass sich ein eigenständiger, offenbar auch zeitgemäßerer Kommunikationsstil ausprägte - bei Maximilian eben auch im Verhältnis zu seinen Kindern.19 Bis in die Generation von Elisabeth (1830-1912) und ihrem Bruder Albert (1828-1902) veränderte sich der Stil noch einmal. Von seinen Enkeln erhielt Maximilian deutschsprachige Briefe, die sich auf die Kontaktaufnahme und Informationen aus dem Familienkreis konzentrierten. Sie beginnen „Lieber Großpapa" und enden „Ich bin Dein Dich liebender Albert"20 bzw. „Bitte, denke recht oft an mich. Deine Dich liebende elise [!]". Anderer Art sind dagegen Kinderbriefe von Elisabeth an ihre Mutter Amalie sowohl in französischer als auch in deutscher Sprache. Diese Briefe weisen sich deutlich als frühe Schreib- und später als Stilübungen aus.21 Die aus der Zeit nach 1841 überlieferten Briefe Elisabeths an Eltern und Geschwister sind wiederum ausschließlich in deutscher Sprache abgefasst und entsprechen inhaltlich und formal dem Stil der Schreiben an den Großvater.22 Von Anfang an beabsichtigten Johann und Amalie eine gewandte deutsch-französische Zweisprachigkeit bei ihren Kindern. Das schlug sich darin nieder, dass stets eine franzö17 SächsHStA Dresden Geheimes Kabinett Loc. 2554/9 Ein Schreiben des Prinzen Maximilian an seinen Bruder König Friedrich August I. von Sachsen vom 4.1.1815, pag. 2h-2i. Es handelt sich um ein regelrechtes Devotionsschreiben an seinen in dieser Zeit noch bedrängten, arrestierten Bruder. 18 Waldmüller, Robert [i. e. Duboc, Edouard], Dramatische Werke der Prinzessin Amalie, Herzogin zu Sachsen, Im Auftrage Seiner Majestät des Königs Johann von Sachsen aus dem Nachlasse vervollständigt und herausgegeben von Robert Waldmüller, Bd. 1. Leipzig 1873, hier S. 33. 19 So waren es auch Friedrich August und Johann, die erstmals ohne Zopf erschienen, vgl. Waldmüller, Dramatische Werke der Prinzessin Amalie, wie Anm. 18, S. 31. Keines der vier Kinder von Prinz Anton wurde älter als vier Jahre. Nach dem Tod der Mutter lebte Johanns Schwester Amalie bei Anton und seiner Frau Therese (1767-1827). 20 AAT 20.7.15. [IV.] Una lettera di Alberto di Sassonia (1828-1902), re di Sassonia dal 1873, al nonno principe Massimiliano di Sassonia (1759-1838) 1836 (?). Una lettera di Elisabetta di Sassonia (1830-1912) al nonno principe Massimiliano di Sassonia (1759-1838) 1836. 21 AAT 20.7.4. [IV.] Dieci lettere dell'infanzia di Elisabetta d Sassonia (1830-1912) alla madre Amalia Augusta (1801-1877) all'incirca degli anni 1835-1840. 22 Die Datierung folgt der Überlieferungslage: AAT 20.7.15 [IV.] Una lettera di Elisabetta di Sassonia (1830-1912) al fratello Alberto di Sassonia (1828-1902) 1841. Die Überlieferung an die Eltern setzt erst 1850 wieder ein.

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sische Gouvernante beschäftigt war, und ebenso darin, dass die Eltern mit ihren noch jungen Kindern auch französisch sprachen.23 Dies war schon deshalb nötig, weil die Kommunikation an vielen Höfen auf dem Französischen basierte, zumal an jenen außerhalb Deutschlands, die sich im Dresdner Blickfeld befanden. Ein grundlegender stilistischer Unterschied ist mit den beiden Briefsprachen hier nicht mehr verbunden. Auch in der europäischen Verkehrssprache Französisch beherrschten Elisabeth und ihre Geschwister einen intim codierten Stil. Für diesen Stil findet sich ebenfalls bereits in den älteren französischen Briefen ihres Großonkels Anton an ihren Großvater Maximilian eine Entsprechung.24 Dieses Nebeneinander wird auch bei Königin Elisabeth von Preußen und ihrem Mann König Friedrich Wilhelm IV. deutlich. Während die Korrespondenz der Schwäger Johann und Friedrich Wilhelm auf Deutsch erfolgte, schrieben sich ihre Ehefrauen, die Zwillingsschwestern Elisabeth und Amalie französisch.25 Ebenso tauschte die Berliner Königin mit ihrer Wiener Schwester Erzherzogin Sophie (1805-1872) französische Briefe.26 Die Wittelsbacherinnen hatten offenbar eine andere, französische Korrespondenzkultur erlernt.27 Es wäre daher nicht ganz richtig, die Privatbriefe der Fürstenfamilie in (fremdsprachlicher und stilistischer Hinsicht ausschließlich in den Zusammenhang der deutschen bzw. deutschsprachigen Briefkultur zu stellen. Die Fürstenfamilien kommunizierten nicht nur mit Höflingen und fürstlichen Gästen auf Französisch, sondern auch mit Verwandten, die eine Korrespondenz auf Deutsch nicht bewältigten. Das Französische ist damit auch als ein europäisch gängiges Idiom des Hochadels gegenüber geografisch enger begrenzten Varianten zu verstehen. Als Verkehrssprache befand es sich aber offenbar auch in München auf dem Rückzug. So sah es jedenfalls Königin Amalie von Sachsen 1864, als Prinzessin Sophie von dort einen französisch geschriebenen Brief ihrer künftigen Hofdame erhalten hatte und sich bei seiner Beantwortung von ihrer Schwägerin 23 Französische Gouvernanten waren Zoe de Roger und später „Mde: Roman:", vgl. auch AA-E 4.5.1850 und AA-E 22.4.1850. Sowohl bei Elisabeths Kindern in Italien als auch bei Prinz Georgs Kindern in Dresden wurde im frühen Kindesalter das Französische wiederum sowohl von der französischen bonne als auch von den Eltern vermittelt. 24 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Prinz Maximilian Nr. 2 Briefe des Prinzen Anton von Sachsen an seinen Bruder Maximilian und dessen Gemahlin Luise. An seinen Bruder Maximilian separat schreibt er „Mon tres chere frere" und schließt mit „Votre fidele frere Antoine", vgl. SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Prinz Maximilian Nr. 3 Zwei Briefe König Antons von Sachsen an seinen Bruder Maximilian 1828 undo. J. 25 AA-E 24.8.1850. 26 GStA PK BPH Rep. 50 Τ 43 Briefe der Erzherzogin Sophie von Österreich (1805-1872) an ihre Schwester Elisabeth (1801-1873) 1840-1872 sowie Rep. 50 Τ 44 Briefe Elisabeths an ihre Schwester Sophie 1823-1872. 27 Einen von seinen vornehmlich aus dem mittel- und norddeutschen Raum stammenden Beispielen abweichenden Befund für den süddeutschen, katholischen Raum, namentlich für München, vermutet Arto-Haumacher, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, wie Anm. 1, S. 23. Dieser wird auf das völlige Mangeln einer Aufklärung zurückgeführt. Ob es sich in der Briefpraxis tatsächlich um das angeführte „Nord-Süd-Gefälle" handelt, das sich bei den erst 1801, 1805 und 1808 geborenen Töchtern von König Maximilian I. von Bayern (1756-1825) auswirkte, bleibt an dieser Stelle dahingestellt.

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Carola unterstützen ließ. In diesem Fall beurteilte Amalie erstmals die Französischkenntnisse eines ihrer Schwiegersöhne skeptisch und schrieb ihrer Tochter Elisabeth: „Die künftige Hofdame v.[on] Sophie heißt Esbeck u.[nd] ist aus Zweybrücken, ihre Mutter war aber aus Bayern. Z.[u] der Entschuldigung ihres franz. [ösischen] Briefes muß ich sagen d[a]ß: ihre Großmutter eine Französin war, u.[nd] sie wohl dadurch gewöhnt ist französisch z.[u] sprechen u.[nd] z.[u] schreiben. Sophie wird[,] fürchte ich, diese Sprache ganz vergessen; Karl spricht es nie, u.[nd] überhaupt spricht man es wenig mehr in München. Uebrigens muß Karl doch mit R:[apallo] franz:[ösisch] gesprochen haben; frage ihm doch wie er sich aus der affaire zog?"28 Die Abhängigkeit der Sprache vom Heirats- und Verwandtenkreis bestätigt sich umgekehrt auch im Briefwechsel zwischen Johann und seiner Turiner Tochter. Er überliefert nur einen einzigen französisch geschriebenen Brief Johanns. Seiner an Masern erkrankten Tochter begründete er den vorsorglichen Wechsel: „Je Vous ecris en Fran9ais pour qu'en tout cas Vous puissiez Vous faire lire ma lettre par quelqu'un d'autre car il est fort essentiel de menager ses yeux apres la rougeole et je me suis bien effraye de l'idee que Vous voulez dejä recommencer ä nous ecrire[.] Vous pouvez gäter Vös yeux ä fond par une seule imprudence".29 Johann wusste, dass sich in Elisabeths Umfeld - weder in der Familie selbst noch unter den sog. „Umgebungen" - eine Person fand, die ihr einen deutsch geschriebenen Familienbrief hätte vorlesen können. In mehrfacher Hinsicht befand man sich also ein gutes Stück jenseits der deutschen Briefreform des 18. Jahrhunderts. So hatten sich auch die Gruppenspezifika, die im „,Netzwerk' Briefwechsel" verhandelt wurden, entschieden gewandelt. Damals hatten die Korrespondenten auf das ,empfindungsvolle Herz', auf einen speziellen Tugend- und Moralkatalog, auf Lektüre und Literaturinteresse rekurriert. Sonst aber hatte man das Freundschaftsnetzwerk noch als prinzipiell offen begriffen, so dass es leicht auch auf zuvor gänzlich Fremde ausgedehnt werden konnte.30 Demgegenüber intendierten die Briefpartner der vorliegenden Korrespondenz keine Offenheit in diesem Sinne, geschweige denn ein gedankliches Spiel mit Öffentlichkeit oder gar Veröffentlichung, wie es der viel besprochenen Briefkultur des 18. Jahrhunderts unterlag.31 Im vorliegenden Fall galt es eher, das Pensum

28 29 30 31

AA-E 10.12.1864. J-E 26.12.1866. Arto-Haumacher, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, wie Anm. 1, S. 158-181. Vgl. auch Abschnitt 2.4 Briefgeheimnis.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

der ständigen Korrespondenzen zu begrenzen. Als im Anschluss an den Turinbesuch der Eltern von 1851 in Dresden mehrere Briefe der Königinmutter Marie Therese eingegangen waren, gab Johann seiner Tochter zu verstehen: ,^4vec un plaisir mele de confusion sehe ich[,] daß p.fetite] M.famanf2 einen förmlichen Briefwechsel mit uns einzurichten denkt. Ich habe sie sehr lieb[,] aber am Ende wird man doch nicht mehr wissen was man schreiben soll."33 Man beschränkte sich darauf, indirekt aber permanent Freundlichkeiten zu übermitteln.34 Hier klingt noch ein weiterer Unterschied an: Inhaltsleere war in den Briefen nur dann akzeptiert, wenn sie innerhalb der Korrespondenzroutine eine begründete Ausnahme bildete. Solche „Platzhalter" finden sich auch in den Briefwechseln mit Elisabeth. „Verzeih diesen kurzen Brief;" schrieb Johann etwa, „aber ich habe heute so viel zu lesen[,] daß ich garnicht dazu kam."35 Der Kontakt aber war hergestellt, der Wille zur weiteren Korrespondenz bekräftigt und das Gegenüber auch hinsichtlich des Befindens beruhigt.36

2.2 Schreibintention - eine vielstimmige Gesamtkorrespondenz Ihren über ein Vierteljahrhundert währenden Briefwechsel nahmen Elisabeth und ihre Eltern auf, indem sie explizit an die bislang praktizierte Mündlichkeit anschlossen. Johann eröffnete seine Korrespondenz mit den Worten: „Liebste Lillif.] So muß ich mich denn jetzt und auf lange hinaus begnügenf,] mich schriftlich mit dir zu unterhalten",37 und eine Woche später schreibt er ihr: „Meine gute Lilli[.] Ich kann der Sehnsucht nicht widerstehen^] mich wenigstens schriftlich mit dir zu unterhalten^] da ich es - Gott weiß wie lange - nicht mehr mündlich thun kann."38 Die Tradition der Forderung nach der Gesprächsähnlichkeit von der Briefreform des 18. Jahrhunderts bis ins Jahr 1850 kann hier nicht nachgezeichnet werden. Dieses Leitmotiv war vermutlich auch für den zeitgenössischen privaten BriefVerkehr ein Gemeingut. Allerdings lässt sich für das Beispiel angeben, was man sich als gesprächsähnlich vorstellte. Denn 32 petite maman: Spitzname für die Königinmutter Marie Therese (1801-1855), Prinzessin von Habsburg-Toscana, Witwe des Königs Carlo Alberto von Sardinien (1789-1849). 33 J-E 5.1.1852. 34 In der Regel lässt sich Johann zum Abschluss seines Briefes an Elisabeth den Königinnen Marie Therese und Adelaide „zu Füßen legen". Diese indirekten Freundlichkeiten durchziehen den Dresdner Briefwechsel mit Elisabeth während der Lebenszeit der beiden Königinnen bis 1855. 35 J-E 13.9.1854. 36 Zur doch deutlich anderen „Funktion des .inhaltsleeren' Briefes im Netzwerk Briefwechsel" vgl. auch Arto-Haumacher, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, wie Anm. 1, S. 159f. 37 J-E 10.5.1850. 38 J-E 18.5.1850.

2.2 Schreibintention - eine vielstimmige Gesamtkorrespondenz

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der gewünschte Effekt einer quasi-mündlichen Kommunikation war offenbar in befriedigendem Maß eingetreten, als Johann seine Tochter Ende Juli desselben Jahres wissen ließ: „Ueberhaupt macht es mir sehr viel Freudef,] daß du so fleißig und detaillirt schreibst und unsere Correspondenz jetzt einen geregelten Gang genommen hat. Es ist ordentlich als ob man mit einander spräche."39 Der „geregelte Gang" meinte die Regelmäßigkeit des Briefverkehrs, aber auch die möglichste zeitliche Unmittelbarkeit des Austausche. Eiserne Disziplin der Korrespondenten vorausgesetzt, hing man in dieser Hinsicht auch von der Postbeförderung ab. Die normale Postlaufzeit zwischen Dresden und Turin lag im gesamten Zeitraum bei sechs Tagen. Das Intervall des Schriftverkehrs wurde von Anfang an mit einer Woche angenommen. Bereits am 22. Mai 1850 hatte sich Vater Johann auf Mittwoch als den Tag seines Schreibens an die Tochter festgelegt.40 Aus dem im Umfeld der Korrespondenten vermutlich üblichen Intervall von sieben, mitunter auch 14 Tagen ergaben sich fixe wöchentliche „Korrespondenztage". Im vorliegenden Briefwechsel lösten sich Elisabeths Schwestern Anna und Sidonie am selben Wochentag ab, so dass auch diese Kontakte zusammen den Charakter einer „stehenden Leitung" erhielten, die in ein festes wöchentliches Korrespondenzschema integriert war. Idealiter wollte Johann in Dresden einen aus dem Piemont eintreffenden Brief umgehend beantworten, damit die Tochter ihren folgenden Brief bereits in Kenntnis der väterlichen Antwort abfassen konnte. Aufgrund dieses zeitlich engen Rahmens brachte jede Störung im Postverkehr das „Gespräch" der Korrespondenten zum Stocken. In einem solchen Fall versuchte man Unregelmäßigkeiten abzugleichen, um den Zeitplan einzuhalten.41 Zumeist am Dienstagnachmittag traf ein Brief von Elisabeth ein, der am Mittwoch der Vorwoche in Turin aufgegeben war. Diesen beantwortete Johann mittwochs, so dass seine Antwortpost wiederum zumeist am folgenden Dienstag bei Elisabeth eintraf. Die Mutter schrieb zumeist sonnabends einen Brief, der gegen Ende der Folgewoche in Turin eintraf. Die Tochter antwortete am Freitag, so dass ihr Brief am Mittwoch oder Donnerstag der zweiten Folgewoche wieder in Dresden ankam und in dem Brief beantwortet werden konnte, den Königin Amalie an dem Sonnabend 14 Tage später zu Papier brachte. Inhaltlich schloss sich der Briefwechsel also innerhalb eines zweiwöchigen, vier Briefe umfassenden Zyklus. Auch die Korrespondenzen der Geschwister mit Elisabeth waren als regelmäßige Briefwechsel gedacht, allerdings mit einem verlängerten Schreibzyklus. Es liegen Briefe der 39 J-E 24.7.1850. 40 J-E 22.10.1850. Eine versuchsweise Abänderung des Korrespondenztages von Mittwoch auf Freitag mit J-E 17.6.1859 stellte sich auf Grund der postalischen Gegebenheiten als unpraktisch heraus, und so kehrte Johann bereits am 29.6.1859 auf Wunsch seiner Tochter zum Mittwoch zurück. 41 Z.B. J-E 5.12.1850 oder J-E 11.12.1850.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

Schwestern Sidonie,42 Anna,43 Margarethe,44 Sophie45 sowie des Bruders Georg46 vor. Selbst Prinzessin Maria (1827-1857) war trotz ihres Anfallsleidens und geistiger Behinderung in der Lage, Briefe zu schreiben, doch urteilte Johann: „ein Brief ist bei ihr ein ungeheures Geschäft".47 Elisabeth schrieb zumindest 1852 auch einen Brief an Maria, damit einer Bitte des Vaters genügend.48 Keinerlei Anzeichen gibt es dagegen dafür, Kronprinz Albert habe eine Korrespondenz mit der Schwester unterhalten. Entsprechend ist auch die Bemerkung Vater Johanns über Alberts Korrespondenz mit seiner Braut zu verstehen: „Was am meißten für seine Liebe briefit ist[,] daß er schon am Sonntag an Carola geschrieben hat[,] und niemand besser als du weiß[,] daß das nicht seine starke Seite ist."49 Bruder Georg schrieb zunächst nicht mehr als Gratulationsbriefe sowie Dankbriefe auf die erhaltenen Gratulations- und Kondolenzschreiben Elisabeths. Nachdem aber mit Königin Amalie das letzte Elternteil gestorben war, übernahm Georg die „Nachrichtenleitung" mit seinen von jetzt an wöchentlichen Briefen an die Schwester. Gerade darin, wie sich Albert und Georg als Briefpartner unterschieden, erscheint nicht nur individuelle Neigung zur oder gegen Korrespondenz als ausschlaggebend, sondern auch dass die Eltern-Kind-Beziehung (die sich wegen der agnatischen Hausstruktur in der Praxis häufiger als Beziehung der Eltern zu einer auswärtigen Tochter darstellte) und die Beziehung von Schwestern untereinander im Briefhetzwerk wichtiger waren als die von Brüdern. Frauen verließen bei einer Eheschließung zumeist das Haus und korrespondierten, wie auch in vorliegendem Fall, am intensivsten mit Frauen, d. h. mit Müttern, Großmüttern, Schwestern, Cousinen, Tanten etc. Elisabeths Briefe hatten zwar jeweils einen einzelnen Adressaten in Dresden und waren an diesen auch thematisch angepasst, der Inhalt sollte aber die gesamte Familie unterrichten.50 Man zählte auf die familieninterne Kommunikation. Dass die Eltern die eingehenden Briefe stets untereinander austauschten, belegen häufige Bemerkungen folgender Art, hier von Prinz Johann: „Ich bekam gestern spät abends deinen lieben Brief vom 9ten[,] als ich 42 AAT 20.7.1. 43 AAT 20.7.6. 44 AAT 20.7.6. 45 AAT 20.7.11., 20.7.7., 20.7.8. sowie 20.7.6. 46 AAT 20.7.2,20.7.3. 47 J-E 24.3.1852. 48 J-E 3.3.1852, J-E 17.3.1852. Überliefert ist allerdings weder der Brief von Elisabeth noch eine Antwort aus der Feder der Prinzessin Maria. Mitunter ließ Maria auch von den Eltern Grüße an Elisabeth ausrichten. 49 J-E 15.12.1852. 50 Zur inhaltlichen Struktur der Gesprächsähnlichkeit vgl. Abschnitt 2.6 Briefaufbau und Thematik.

2.2 Schreibintention - eine vielstimmige Gesamtkorrespondenz

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von Mama herüber kam[,] um mich auszuziehen und brachte ihn ihr nach diesem letzteren[,] als ich zu Bette gingt,] s o daß sie ihn noch vor dem Einschlafen lesen konnte."51 Auch wenn die Eltern voneinander getrennt waren, erhielten sie diesen Austausch aufrecht, indem sie sich die eingegangenen Briefe gegenseitig zusandten.52 Eine Mitteilung eines Elternteils, die dem anderen Elternteil nicht zur Kenntnis kommen sollte, wurde mit der Bitte versehen, Elisabeth möge auf diesen Punkt in ihrem folgenden Brief nicht oder auf einem separaten Blatt antworten, das sich vor der Weitergabe des Briefes entfernen ließ. Daraus lässt sich schließen, dass die Eltern die ausgehenden Texte nicht gegenseitig zur Kenntnis nahmen.53 Ganz offensichtlich hatten Johann und Amalie auch laufend Kenntnis der Schreiben Elisabeths an ihre Schwestern.54 Ihre eigene Post teilten die Eltern den Geschwistern dagegen nur auszugsweise mit, indem sie geeignete Passagen, ggf. auch den gesamten Brief vorlasen.55 Johann ließ seine Tochter beispielsweise wissen: „Deinen Brief vom 7ten erhielt ich gestern Abend und Mama den ihrigen extraordinairen heute[,] während sie auf der Chaiselongue war und ich bei ihr. Daß er den Schwestern nur theilweise mitgetheilt werden konnte, wirst du dir erklären können."56 Elisabeth war in ihrem Brief auf das problematische Verhältnis zwischen König Vittorio Emanuele und seiner Frau Adelaide sowie auf ihre eigene glückliche Ehe eingegangen, was offenbar nicht als geeignetes Thema für die jungen Prinzessinnen angesehen wurde. Die einzelnen Briefwechsel zeigen inhaltlich durchaus unterschiedliche Wichtungen. Bestimmte Themen wurden nur zwischen Mutter und Tochter schriftlich erörtert, da Vater Johann andeutete, es handle sich um Dinge, die „ich dir Anstands wegen nicht schreiben darf'. 57 Dabei ging es zumeist um Aspekte der körperlichen Entwicklung der Schwestern, von deren „merkwürdigen Abschnitten"58 der Vater zwar stets genaue Kenntnis hatte, sich aber der Erörterung mit der Tochter enthielt. Andererseits wurden politische Gedanken wiederum intensiver zwischen Vater und Tochter ausgeführt. Intendiert war also ein mehrstimmiger Gesamtbriefwechsel mit der nunmehrigen Herzogin von Genua.59 Er setzte die temporären Korrespondenzen fort, die in Dresden mit Ver51 J-E 15.1.1851. 52 Z . B . J-E29.9.1853. 53 Z . B . J-E 16.8.1872. 54 Ζ. B. J-E 17.7.1850. 55 Z . B . A A - E 3.8.1850. 56 J-E 13.1.1852. 57 J-E 31.7.1950. 58 Z . B . J-E 13.3.1854. 59 Auch mit den anderen ausheiratenden Töchtern, Margarethe Erzherzogin von Österreich, Anna Erbgroßherzogin von Toscana und Sophie Herzogin in Bayern begannen die Eltern 1856 bzw. 1865 ähnliche

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

reisten unterhalten wurden.60 Der Charakter als „stehende Datenleitung" kommt auch darin zum Ausdruck, dass Ersatzschreiber bzw. Ersatzkorrespondenten in den Briefwechsel einsprangen, wenn es einem der beiden Schreiber unmöglich war, seine Briefe selbst abzufassen. Wichtig war vor allem, die Korrespondenzroutine und mit ihr den Nachrichtenfluss aufrecht zu erhalten. Am deutlichsten wird dies an dem Fall der Masernepidemie zum Jahreswechsel 1860/61. Sowohl König Johann als auch Königin Amalie waren schließlich korrespondenzunfähig. Seit Ende November Kronprinzessin Carola an den Masern erkrankt war, hatten sich bis in den Januar hinein nacheinander Kronprinz Albert, Königin Amalie, König Johann, die Prinzessinnen Sophie, Sidonie und die zu diesem Zeitpunkt in der Familie lebende Enkelin Erzherzogin Antonietta infiziert, und auch Königinwitwe Marie wurde „unwohl". Für die Eltern sprang nun zunächst Prinzessin Sophie in den Briefwechsel ein. Nachdem sie selbst erkrankt war, übernahm Königinwitwe Marie, und nach deren Erkrankung übermittelte schließlich die Obersthofmeisterin der Königin, Louise Freiin von Friesen (1794-1870), die regelmäßigen Nachrichten aus Dresden.61 Noch einmal kam Prinzessin Sophie 1862 als Ersatzfrau zum Einsatz, als ihre Schwester Sidonie erkrankte. Sie übernahm deren Briefwechsel mit Elisabeth.62 Als Sidonie am 1. März verstarb, erklärte sich Sophie dauerhaft zur Korrespondentin und berichtete nun alle 14 Tage aus Dresden, nach eigenem Bekunden so, „wie es die liebe Sidonie that".63 Sophie, die beim Weggang ihrer 20-jährigen Schwester selbst fünf Jahre alt gewesen war, begann ihren Briefwechsel also nicht, um ihre persönlichen Gespräche mit Elisabeth fortzusetzen, sondern weil sie in die Briefkultur der Familie hineingewachsen war.64 Nach dem Tod König Korrespondenzen, die jedoch durch den frühen Tod der Prinzessinnen 1858 und 1859 bzw. 1867 endeten. Die quantitative Dimension, die ein solcher fortgesetzter Briefwechsel zu Lebzeiten aller verheirateten Prinzessinnen mit den Eltern und untereinander erreicht hätte, ist leicht hochzurechnen. 60 In diesen Fällen schrieben nicht nur die Töchter oder Prinz Georg an die Eltern, sondern sogar Kronprinz Albert berichtete regelmäßig an seinen Vater. So gab Vater Johann regelmäßig Nachrichten an Elisabeth weiter, die seine Söhne von Kurreisen oder dem auswärtigen Studium brieflich an die Eltern nach Dresden übermittelten. 61 AAT 20.7.7. Sei lettere della baronessa Louise von Friesen (1794-1870). Die in der Familie als „Spinster" bezeichnete Frau hatte in der Familie seit Jahren eine Vertrauensstellung inne. 62 So-E 23.2.1862. 63 So-E 9.3.1862. 64 Mit der Brieflcultur war Prinzessin Sophie einerseits durch das Vorlesen eingehender Briefe vertraut. Sie erlebte andererseits von Anfang an auch die schreibende Mutter und Schwestern. Überliefert ist eine Szene vom August 1850, vgl. AA-E 2.8.1850. Amalie schreibt über ihre fünfjährige Tochter: „Sophiechen sizt neben mir u. schreibt Dir; sie will durchaus ich soll Dir ihr Geschmier schickende veux done lui faire ce plaisir". Sophies eigenhändig verzierte Karte lautet: „libe lilli wie geht es Dir, heute ist es schlechtes wetter es regnet immer fort, adieu libe lilli Deine Sophie". Danach ist ein Briefwechsel zwischen Sophie und Elisabeth weder überliefert noch belegt. Das unterschiedliche Schreibpensum, das die angehenden Schwiegersöhne Erbgroßherzog Ferdinand von Toscana (1835-1908) und Erzherzog Carl Ludwig von Österreich (1833-1896) 1856 an den Tag legten, führte Johann denn auch auf das elterliche Vorbild zurück: „Sehr schreibselig ist der gute Junge [Ferdinand] nicht gewordenf,] im Gegensatz zu Carl[,] welcher

2.3 Briefe als geronnene Müsse

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Johanns 1873 glich Königin Amalie zumindest in quantitativer Hinsicht die Lücke aus, die im Gesamtbriefwechsel entstanden war und kommentierte dies: „Ich hatte dir jetzt auch Mittw:[ochs] geschrieben, weil Papa dir an diesem Tage schrieb, u.[nd] ich dachtet,] d[a]ß: du die zweymaligen Nachrichten in jeder Woche vermissen würdest."65 Und auch Elisabeth behielt ihren zweiten wöchentlichen Korrespondenztag bei. Prinz Georg bewahrte nach dem Tod der Mutter 1877 den Kontakt bis zu seinem eigenen Tod im Jahr 1904. Die Korrespondenz mit Elisabeth erweist sich damit im Laufe und Wandel der Jahre immer wieder als ein Gesamtbriefwechsel, an dem die Familienmitglieder mitarbeiteten. Korrespondenten sprangen ein, halfen aus oder führten fort, damit der Austausch bestehen blieb.

2.3 Briefe als geronnene Muße Der hohe weibliche Anteil an der Briefkommunikation erklärt sich nicht unmittelbar aus einer fixen Rollenkonzeption, in der Privatkorrespondenz etwa weiblich konnotiert gewesen wäre. Korrespondenzen dieser Prägung erforderten jedoch einen erheblichen regelmäßigen Zeitaufwand. Hochadlige Frauen verfügten über einen Bereich von Muße, der oft weiter gefasst war als der der Männer. Insbesondere ist hier auch an ledige, kinderlose und verwitwete Frauen zu denken. Entsprechend ihres Freizeitbudgets gehörten zum Kreis derer, die Muße zu ausgiebiger Korrespondenz hatten, auch männliche Agnaten, die keine oder nur eingeschränkte repräsentative, militärische oder politische Funktionen in der Monarchie wahrnahmen. Dafür gibt Johann wiederum selbst das beste Beispiel, der ja vor 1854 den Großteil seiner Zeit mit den Mitteln kultivierter Muße frei gestalten konnte. Die meisten Klagen über den Zeitmangel, der die Korrespondenz einschränkte, stammen zunächst folgerichtig aus den Phasen der Landtagsarbeit. Während seiner Regierungszeit entschuldigte er sich später ebenfalls fast ausschließlich mit seinen Regierungs- und Repräsentationsverpflichtungen. Dass Johann die Korrespondenz mit seiner Tochter trotzdem über die zwei Jahrzehnte seiner Regentschaft fortführte, ist auch seiner Vorliebe fürfixeRoutinen zuzuschreiben, die sich mit seinem Verpflichtungsdenken die Hand reichte. Nicht umsonst bezeichnete es der Vater als

beinahe täglich achtseitige Briefe vom Stapel laufen läßt. Er hat das von seiner Mutter[,] welche immer äussern soll, man müsse sich mit Correspondenzen nicht binden.", vgl. J-E 16.9.1856. Dass Neffe Carl Ludwig offenbar eher den Dresdner Erwartungen entsprach, wundert kaum, wenn man als Hintergrund das „Briefimperium" der wittelsbachischen Schwestern bedenkt, an dem auch Carls Mutter, Erzherzogin Sophie, beteiligt war. Ferdinand dagegen folgte dem Beispiel seiner Mutter Maria Antonietta di BorboneDue Sicile(1814-1898).Soliegtes nahe, den - derzeit auch nicht nachweisbaren - etwaigen normativen Einfluss zeitgenössischer Briefsteller nicht zu hoch zu veranschlagen und eher den der familiären Praxis zu betonen. 65 AA-E 3.1.1874.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

seine „Mittwochspflicht", den wöchentlichen Brief an die Tochter aufzusetzen.66 Und nach dem Regierungsantritt ließ er durch seine Frau den Entschluss mitteilen: „Papa läßt dir sagen er würde dir immer an den gewöhnlichen Tagen schreiben, aber außerordentliche Briefe könnte er nicht schreiben, da es ihm an Zeit gebricht. Er sieht recht übel aus!"67 Leichter wurde dem König dieses Vorhaben durch die Mehrstimmigkeit des Gesamtbriefwechsels, denn er konnte sich stets darauf verlassen, dass die Briefe anderer - vor allem die wesentlich längeren und detailreicheren Briefe seiner Frau - seine eigenen Episteln ergänzten und ihre Verständlichkeit unterstützten.

2.4 Das Briefgeheimnis Wichtig für die Bewertung der Texte ist auch der Umstand, dass das Postgeheimnis nicht durchgängig gewahrt wurde. Von diesem altbekannten Problem der Postgeschichte waren auch fürstliche Korrespondenzen nie ausgenommen.68 Diese Indiskretionen gingen bei den vorliegenden Briefen durchweg auf das Konto der sardinischen bzw. italienischen Seite. Der erste Hinweis auf eine Postüberwachung findet sich in der Korrespondenz am 26. Oktober 1856. Elisabeth bat mit einem nicht überlieferten Brief an den Vater vom 24. September 185669 die Eltern überraschend um die Zustimmung zu einer unerwarteten zweiten Hochzeit.70 Obwohl dieser Brief am 30. September noch nicht in Dresden eingetroffen war, hatte Johann noch vor seinem Antwortbrief vom 2. Oktober 1856 ein zustimmendes Telegramm abgeschickt. Die eklatante Verzögerung des in diesem Zusammenhang stehenden Briefes,

66 Ζ. B. J-E 30.8.1871. Zu den Pflicht-Konzepten vgl. Abschnitt 3.3 Legitimationskonzepte: Gottesgnade und Menschenpflicht. 67 AA-E 28.8.1854. 68 Eine neuere Zusammenfassung hierzu mit Literatur bietet Grillmeyer, Siegfried, Habsburgs Diener in Post und Politik, Das „Haus" Thum und Taxis zwischen 1745 und 1867 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte; 194), Mainz 2005, S. 44ff. Empirische Befunde zum Postgeheimnis in der Korrespondenz von Maria Pavlovna Erbgroßherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach (1786-1859) vgl. auch Dmitrieva, Katja/Klein, Viola (Hgg.), Maria Pavlovna, Die frühen Tagebücher der Erbherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Köln etc. 2000, S. 1-40. Für die italienische Seite liegen offenbar keine Studien zum Problem vor. 69 J-E 2.10.1856. 70 Zu dieser Verbindung vgl. Abschnitt 5.3.2 Das Kriterium des Standes sowie Abschnitt 3.1 Gruppenkonzepte: Einige Begriffe.

2.4 Das Briefgeheimnis

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den Elisabeth am 18. September 1856 geschrieben hatte,71 ging darauf zurück, dass die Regierung die Korrespondenz zu diesem Zeitpunkt schon überwachen ließ.72 Selbst begriff die junge Frau erst im Zuge der letzten geheimen Hochzeits vorbereitungen, dass sie gezielt ausspioniert wurde. Ihr Brief vom 3. Oktober 1856 reflektiert das Problem.73 Elisabeth stellte sich auf die mögliche Briefspionage ein, musste aber ihren Brief vom 5. Oktober sogar zurückziehen, obwohl sie ihn „aus Angst vor Indescretion auf der turiner Post [...] durch eine zuverlässige Person [...] an die Gränze" geschickt hatte.74 Dieser Brief enthielt die den Eltern versprochenen Details über die Hochzeit selbst und das weitere Geschehen in Aglie sowie ein Schreiben des neuen Schwiegersohnes an König Johann. Der Brief Elisabeths an den Vater vom 7. Oktober klammerte folgerichtig alle prekären Inhalte aus und rief damit in Dresden Unverständnis hervor. Johann antwortete: „Liebste Lillif.] Als ich Sonntag deinen lieben Brief erhielt[,] war ich ganz verwundert[,] in demselben nicht ein Wort von dem[,] was am Sonnabend vor 8 Tagen vor sich gegangen seyn solltef,] zu finden und doch hätte ich gern einige details darüber gewünscht. Ich glaubte fast im ersten Augenblickf,] es müsse etwas dazwischen gekommen seyn[,] da auch Mama keinen Brief bekommen hat[,] während du mir gesagt hattest[,] du würdest sofort nach der Trauung an sie schreiben. Doch hättest du mir dann gewiß etwas davon erwähnt[,] so daß ich nicht nun [!] fast vermuthen möchte dein Brief sey verlohren gegangen; doch wäre es auffallend[,] wenn gerade dieser Brief verlohren wäre[,] was sonst nie geschieht. Je ne sais pas ce que cela ont dire."15 Als die zurückgehaltene Sendung dann am 15. Oktober in Dresden eintraf, begriffen auch die Eltern, dass auf dem Postweg nun keinerlei Briefgeheimnis mehr galt. Den Korrespondenzkanal per Post erhielten die Dresdner Eltern zwar weiterhin aufrecht, doch unterscheiden sich diese Schreiben deutlich von denen, die der nach Turin beorderte Gesandte Carl 71 Im Gegensatz zu der zweiten Verzögerungsmeldung Johanns vom 30.9.1856 gibt er unter demselben Datum an, dass ihm der Brief „von voriger Woche" nunmehr vorliege. 72 Damit ist es wahrscheinlich, dass das undatierte Billet Camillo Cavours bereits von Ende September stammt, und nicht, wie die Editoren meinen, unmittelbar vor dem 8. Oktober 1856 geschrieben wurde. Hier heißt es: „La triste affaire matrimoniale parait s'arranger. Nous sommes arrives ä tems pur l'empecher", vgl. Cavour, Camillo, Epistolario, Bd. 16/2, hg. von Carlo Pischedda, Maria Luigia Sarcinelli, Firenze 1992, S. 770. Die Datierung der Editoren ist schon deshalb unplausibel, da die Hochzeit, die am Sonnabend, den 4. Oktober, stattfand, dann bereits Tatsache gewesen wäre. Das Hochzeitsdatum geht nunmehr erstmals genau aus den Akten des Archivio Vescovile d'Ivrea, diocesi d'Ivrea, comune d'Aglie, parchochia di San Massimo, atto di matrimonio Marchese Nicolo Giuseppe Efisio Rapallo e S. A. R. Elisabetta di Sassonia hervor. Für die freundliche Mitteilung dieser Archivalie danke ich Romualdo Chiavarino. 73 E-AA 3.10.1856. 74 E-AA 5.10.1856. Vgl. auch E-AA 10.10.1856. Aufweiche Weise der Brief oder auch der Bote abgefangen wurde, ist aus den Briefen nicht zu entnehmen. 75 J-E 15.10.1856.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

Graf Vitzthum von Eckstädt (1819-1895)76 und der nach Dresden reisende Rechtsbeistand Elisabeths, Prina,77 überbrachten sowie die ebenfalls als „sichere Gelegenheit" geltenden diplomatischen Depeschen.78 So vermied man, dass die Briefe „von Unberufenen gelesen werden".79 Nach den Gründen dafür befragt, warum Minister Cavour als so harter Gegenspieler in der Eheangelegenheit auftrat, formulierte Elisabeth am 29. November zutreffend: „Das wird Euch Vitzthum nachher mündlich ordentlich auseinandersetzen, mit der Post kann man auf so etwas sich nicht schriftlich einlassen, denn jetzt bis die Sache aus ist[,] werden sie gewiß alle aufgemacht."80 Nachdem die Affare mit dem Familienrat in Turin am 9. Dezember ihren Abschluss gefunden hatte und Elisabeth am folgenden Tag nach Schloss Govone übergesiedelt war,81 funktionierte die Post von dort aus wieder regelmäßig.82 Ob die Überwachung gänzlich eingestellt wurde, lässt sich weder aus den Briefen selbst noch aus den Akten schließen. Gut zwei Jahre später machten sich wieder Postkontrollen bemerkbar. Sie standen in unmittelbarem Zusammenhang mit der militärischen Konfrontation zwischen Turin und Wien 1859. König Johann brachte seine Empörung in seinen folgenden Briefen unmissverständlich zum Ausdruck, in der Gewissheit, dass die Kontrolleure auch diesen Protest zur Kenntnis nehmen mussten.83 Elisabeth nahm zwar zu dieser Zeit noch nicht wieder am Turiner Hofleben teil und lebte in Folge ihrer EheschließungsafFäre nicht nur in räumlicher Distanz, sondern auch in verschiedenen latenten Antagonismen insbesondere zur dortigen Regierung. Dennoch oder gerade deswegen galt ihre Privatkorrespondenz mit Dresden als relevanter und damit kontrollbedürftiger Informationskanal. Die persönlichen Bindungen zwischen Dresden und dem Turin nun feindlich gegenüberstehenden Wien waren bekanntermaßen eng. Das Problem war aber auch allgemeiner Natur, denn Elisabeth hatte bereits 1857 erstaunt festgestellt, dass kein Telegramm im Königreich Sardinien geheim blieb:

76 J-E 21.10.1856. Der zurückkehrende Graf Vitzthum überreichte König Johann darüber hinaus am 23.12.1856 einen Brief Elisabeths. 77 J-E 16.11.1856. Johann erhielt durch Prina auch einen Brief von Elisabeth vom 12.11.1856. 78 J-E 22.11.1856. Der Brief Elisabeths E-J 19.11.1856 wurde ebenfalls auf diese Weise befördert. 79 J-E 16.11.1856. 80 E-AA 29.11.1856. Auch E-AA 6.12.1856 enthält den Hinweis, dass mündliche Nachrichten den Korrespondenzinhalt ergänzen würden: „Nur möchte ich Euch bittenf,] mich nicht gar so hart zu beurtheilen, ehe Ihr mündlich von so manchen unterrichtet sein werdet, was man unmöglich schreiben kann. Vielleicht würde es Euch dann leid thun[,] mir so harte Worte geschrieben zu haben, die in meinem Kummer mich am meisten geschmerzt haben." 81 E-J 9.12.1856. 82 J-E 7.1.1857. 83 J-E 28.3.1860.

2.4 Das Briefgeheimnis

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,Λ propos, wenn Ihr jemals mir etwas thelegraphiren lassen wollt, ohne daß man es in Turin erfährt, so lasst nur nach Magadino oder Mailand thelegraphiren, denn jetzt, wo ich aller Augenblicke Depeschen aus Florenz bekam,84 habe ich entdeckt, daß man den Inhalt derselben immer nach Turin dem Minister des Innern schicken muß. Es ist das eine unerhörte Masregel u.[nd] so eine Indiscretion. Keine Privatperson ist so eines Geheimnisses sicher."85 Johann und Elisabeth erwarteten, dass ihnen „als Privatperson" beim Briefwechseln die Rechte von Privatpersonen gewährt wurden, u. a. auch Nachrichten geheim auszutauschen. Wenn auch politische Diskussionen nicht in den Briefen geführt wurden, so versagten sich die Dresdner Verwandten doch nie, wenigstens unmissverständlich auf ihre - ohnehin bekannte - Einstellung zu den politischen Entwicklungen in Italien anzuspielen. Einen geöffneten Brief, dem ein Foto von Elisabeths Tochter beigelegen hatte, beantwortete Johann so: „Der Brief war übrigens richtig wieder geöffnet und man hat die arme Kleine für eine Staatsgefährliche Correspondenz gehaltenf.] Ich finde es eine Impertinenz sonder gleichen. Warscheinlich trifft diesen Brief das gleiche Schicksal[,] denn ich füge demselben eine Photographie von Tante Auguste86 bei[,] die sie dir schickt. Ich denke[,] du wirst sie sehr ähnlich und angenehm aufgefaßt finden[.] Wenn sie übrigens die Tante für ein politisch gefährliches Wesen halten[,] so haben sie von ihrem Standpunct aus so unrecht nicht[,] soweit es sich wenigstens um die Gesinnung handelt."87 Seine scharfe Kritik an der italienischen Politik deutete Johann in einer Praeteritio lediglich an, um für einen Brief „ä coeur ouvert488 den „chemin de Suisse"89 oder gelegentlich einen persönlichen Überbringer90 zu nutzen. In einem solchen Schreiben vom April 1860, in dem der König Gelegenheit hatte, sich freimütig zu äußern, kamen in erster Linie die aktuellen politischen Vorgänge zur Sprache: „Du kannst dir leicht denken[,] wie sehr mich die jetzigen politischen Verhältnisse bekümmern und ärgern. Das Benehmen eures Hofes[,] der erst die Nachbahrländer durch seine 84 Wegen des Gesundheitszustands ihrer Schwester, der Erbgroßherzogin Anna von Toscana. 85 E-J 11.11.1857 86 Prinzessin Auguste von Sachsen (1782-1863), eine Cousine Johanns, lebte unverheiratet in Dresden und Pillnitz. 87 J-E 16.5.1860. 88 J-E 14.4.1860. 89 J-E 5.1.1859. 90 J-E 14.4.1860: „Ich benutze die Abreise des Generals [v.] Reitzenstein [...] der seine Frau aus Niza abhohlt um dir einmal mehr ά coeur ouvert zu schreiben als ich es durch die Post thun kann."

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

Gesandten revolutionirt[,] sich dann derselben auf Kosten seiner nächsten Verwandten und der geheiligten Rechte des Römischen Stuhls bemächtigt und sich davon selbst durch nur übernommene Friedensbedingungen nicht abhalten läßt, dann ferner sein eigenes Stammland abtritt[,] ist so[,] daß man keinen Namen dafür finden kann und es nur die heimtückische Schändlichkeit seines grossen Alliierten91 erreicht[,] wo nicht übertreffen wird. Das schmerzlichste dabei ist mir[,] dich gewisser Maassen an diese Schändlichkeit gekettet zu wissen und ich freue mich nur[,] dass man Tomi's Namen92 nicht dazu misbraucht hat. [.. .]"93 Daneben ging es auch um Elisabeths Stellung in den neuen Verhältnissen: „[...] Dir kann ich nur rathen[,] mit Vorsicht dich zu benehmen und ohne[,] so weit es möglich ist, anzustossen doch alles zu vermeiden^] was dich mit deinem Gewissen in Conflict bringen oder bei den Gutdenkenden compromittiren könntef.] Ich werde daher sehr froh seyn[,] wenn ich dich wieder in Stresa94 weiß, denn weit davon ist gut von dem Schuß[.] Sehr froh bin ich auch[,] daß keine Rede davon war[,] dich mit nach Florenz zu nehmen; obgleich ich hoffe[,] du würdest das zu vermeiden gewußt haben. Gott nehme dich in seinen heiligen Schutz u[nd] gebe dir Weisheit und Einsichtf,] stets das Rechte zu thun und auch dein Gewissen als Katholikin zu wahren[,] denn handelt es sich auch hier nur um den weltlichen Besitz der Kirche[,] so ist doch der Bannspruch derselben bei so widerrechtlichem Eingriff gewiß gerechtfertigt und nicht zu verachten[.] Gott sey Dank[,] daß du nichts damit zu thun hast[.]".95 Auch strategische Überlegungen in Vorbereitung auf Elisabeths ersten Besuch nach der Eheaffäre in Dresden 1859 waren ein Thema für den sicheren Korrespondenzweg. Hier ging es darum, ein gemeinsames Vorgehen gegenüber dem Turiner Hof zu verabreden. Denn einerseits musste Elisabeth für sich selbst und für ihre Kinder die offizielle Reisegenehmigung von König Vittorio Emanuele erlangen. Das war insbesondere für den Sohn Tommaso durchaus prekär, der Elisabeths Erziehung nominell entzogen worden war. Andererseits hieß es, Peinlichkeiten in der Behandlung des neuen nicht standesgemäßen Ehepartners in Dresden zu vermeiden. Als dann zwischen Frühjahr 1859 und Sommer 1867 die gegenseitigen Besuche der Dresdner und Elisabeths durch die politische Lage unmöglich waren,96

91 Frankreich. 92 Elisabeths Sohn Tommaso Herzog von Genua (1854-1931) spielte in den strategischen Erwägungen der sardinischen bzw. italienischen Monarchie eine entscheidende Rolle. Akut wurde dies allerdings erst im Zuge der Verhandlungen um die spanische Thronkandidatur seit 1868. 93 J-E 14.4.1860. 94 Elisabeths neuer Wohnsitz am Lago Maggiore. 95 J-E 14.4.1860. 96 Vgl. Abschnitt 5.3.5 Politische Optionen.

2.5 Briefaufbau und Thematik

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stellten die Briefe die einzige regelmäßige Austauschmöglichkeit dar. Aus gleichem Grund kamen aber auch immer wieder bereits geöffnete Briefe an. Obwohl man also davon ausgehen musste, dass unberufene Dritte mitlasen, nahmen die Eltern - ebenso wie bereits 1856 - auch diesmal offenbar wenig Anstoß daran, alltagsweltliche und innerfamiliäre Themen zu erörtern. Gerade in Perioden, in denen die Familie sicher von permanenter Indiskretion ausging, enthielten die Briefe auch intim anmutende Details über die Hochzeiten der Schwestern Margarethe97 und Anna 185698 und Sophie 1865.99 Briefspionage ist demnach in bestimmten, abgrenzbaren Phasen bei der Interpretation der Korrespondenz einzukalkulieren. Die Reaktionen belegen, dass die Familie ihre Briefe ausschließlich den jeweiligen Adressaten und ggf. von diesen autorisierte Dritte aus dem Familienkreis zudachte und nicht mit dem Gedanken an eine wie auch immer geartete breitere Veröffentlichung spielte.

2.5 Briefaufbau und Thematik In formaler Hinsicht genügten die Briefe bis auf wenige Ausnahmen folgendem Muster: Nach der Datierung des Schreibens folgte zumeist die Nummerierung Briefes. Diese Zählung diente den Korrespondenten dazu, die Ordnung des Briefwechsels festzustellen. So konnte der Empfänger sehen, ob er alle Schreiben fortlaufend erhalten hatte. Und auch der Absender bewahrte den Überblick, indem er ein sog. Einschreibebuch führte.100 Gezählt wurde im vorliegenden Fall fortlaufend von einer persönlichen Begegnung bis zur nächsten, ohne dass Kalendergrenzen einen Ausschlag gaben. Auch in dieser Intervallgebung drückt sich aus, wie stark die Korrespondenz als Stellvertretung bzw. Aufrechterhaltung der face to/ace-Kommunikation angesehen wurde. Zwischen Anrede und Unterzeichnung, die bei Johann stets „Dein treuer Papa" und bei Amalie zumeist „Deine alte Mama" lautete, verlief der Haupttext. Grüße und Empfehlungen folgten unmittelbar vor, neben oder nach der Unterschrift. Die Hauptschwerpunkte der Korrespondenz lassen sich gut an einem Brief demonstrieren, bei dem thematische und formale Gliederung miteinander übereinstimmen.101 Den zweiten der beiden Abschnitte dieses Schreibens leitete Johann mit den Worten ein: „Diesmal habe ich recht lang geantwortet^] ehe ich dir irgend Nachrichten von hier gebe[.]" Es 97 J-E 5.11.1856. AA-E 22.11.1856. Margarethes Hochzeit fand am 4. November 1856 statt. 98 J-E 26.11.1856. AA-E 29.11.1856. Annas Hochzeit fand am 24. November 1856 statt. 99 Etwa AA-E 25.2.1865. Sophies Hochzeit fand am 11. Februar 1865 statt. 100 AA-E 2.1.1858. Leider sind solche Einschreibebücher für die vorliegende Korrespondenz nicht überliefert. 101 Die folgenden Passagen betreffen J-E 4.2.1857 und E-J 27.1.1857.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

ging also darum, sich mit den Inhalten des erhaltenen Briefs zu beschäftigen und einen eigenen neuen Gesprächsbeitrag zu formulieren. Elisabeths Schreiben, auf das der Vater dabei einzugehen hatte, las sich wie folgt: „Govone den 27. Jan[uar] 1857. Liebster Papa, Deinen gütigen Brief vom 21. erhielt ich heute früh zu gewöhnlicher Stunde, was mich sehr wunderte, denn wir haben so viel Schnee, daß die Pferde an manchen Stellen bis an den Bauch im Schnee gingen; freilich schneit es nun auch seit 4 Tagen fast ununterbrochen fort. Dabei haben wir einen so dichten Nebel, daß man kaum die Haüser [!] vom Dorfe sehen kann. Bei solchem Wetter ist ein Landaufenthalt doch gar so melancholisch. - Sonntag hatten wir den Besuch von Giba,102 der mich hatte bitten lassen, kommen zu dürfen. Am Besuche des Individuums nach allen Vorgefallenen war mir nicht viel gelegen, aber abschlagen konnte ich es nicht gut[,] und dann wünschte ich so sehr direkte Nachrichten von Anna103 zu haben. Er erzählte mir[,] dieselbe sei hübscher, wie je und sehe so animirt aus. Am Neujahrstag soll sie allgemein gefallen haben. Neben ihrer Schwiegermutter soll sie sehr vortheilhaft erscheinen, weil sie etwas viel fürstlich vornehmeres hat. Ihre Schwiegerm. [utter] soll recht gemein aussehen und so hässlich grüßen, während Anna so freundlich und graziös [!] grüßen soll. Er sagte mir, daß man in Florenz erzähle, der Großh. [erzog] ließe das junge Paar nie allein[,] und ohne die Schwiegereltern sehe man sie nie. Ich erlaubte mir zu sagen, daß ich es nicht glaube, und daß es nur Stadtgeklatsch sei. Er versicherte mir aber, daß er selbst in 3 Wochen sie nur immer mit den Eltern habe ausfahren sehen. Ich muß gestehen[,] ich wünsche das nicht fur Anna's haüsliches [!] Glück. Ihr Mann ist gar so jung und lebhaft und möchte diese Controle doch am Ende satt bekommen[,] und dann wäre es gerade dort gar vielen Gefahren ausgesetzt. Über Giba's Anwesenheit waren die alten Diener, die ich von Turin hierherbrachte, außer sich. Sie behauptetenf,] er sei zum Spioniren hierhergeschickt worden und sie rieben sich alle die Hände[,] als sie Montag früh erfuhrenf,] daß er weg sei. Das zeigt die gute Meinung, die man von meiner Umgebung von Ehemals hat. Heute ist Gr[ä]f.[in] Monticelli104 in Turin und ich habe Margarethe den ganzen Tag bei mir, was mir sehr lieb ist und da ich wieder wohl bin[,] ermüdet 102 Offenbar einfrühererAngehöriger von Elisabeths Hofstaat, denn sie zählt ihn zu „meiner Umgebung von Ehemals", vgl. unten. 103 Giba wurde am Neujahrstag am Florentiner Hof vorgestellt. Prinzessin Anna hatte darüber an ihre Schwester geschrieben: „Denke Dir bei dieser Gelegenheit wurde Giba vorgestellt, ich freute mich den guten Jungen zu sehn u[n]d frug ihn natürlich nach Dir." Vgl. Anna-E 4.1.1857. 104 Clelia contessa Monticelli di Casalrosso (1833-1885), Erzieherin von Elisabeths Tochter Margherita.

2.5 Briefaufbau und Thematik

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sie auch nicht. Jetzt habe ich sie auf eine Stunde mit R.[apallo]105 spatzieren geschickt. So kann ich doch ungestört schreiben. - Wäre nur Einigkeit im lieben Vaterlande. Die unglückliche schweizer Geschichte hat wieder zu unerquicklichen Streit Anlaß gegeben. Man schämt sich so den Ausland gegenüber. Gott sei Dank, daß wenigstens Krieg vermieden worden ist. Unsere Presse speit Feuer und Flammen über den kaiserlichen] Besuch in M.failand] um zu beweisen, daß er misslungen, ich glaube aber[,] das Toben beweist gerade das Gegentheil. Man schämt sich, wenn man die Gemeinheiten liest. Nun lebe wohl, Dir die Hand küssend, bleibe ich Deine gehorsame Tochter Elisabeth. R.[apallo] legt sich unterthänigst zu Füßen."106 Johann hatte auf dieses Schreiben folgendermaßen geantwortet: „[...] Der Badeaufenthalt im Winter muß allerdings nicht lieblich seyn und ich wundere mich nur[,] daß er bei euch dies Jahr so streng ist; denn wir haben im Ganzen mässige Kälte und mäßigen Schnee. Daß Giba ein Spion seyn sollte[,] amüsirt mich. So sieht er mir doch keines Falls aus, eher wie ein Stadtklatscher. Was er von Annchen erzählt hat[,] mag in sofern wahr seyn als sie meist mit der Schwiegermutter ausfahren[.] Sonst aber scheint mir[,] genirt man sie nicht mehr als es der Mangel eigener Häuslichkeit mit sich bringt. Die Abende wenigstens haben sie meistens ganz frei[.] Eines viel [!] mir in deinem Brief auf[,] Du schreibst mir[,] daß Margarethchen mit R.[apallo] spatziren gegangen ist. Ich hoffe[,] dies ist nur ausnahmsweise geschehen^] weil Gräfin Monticelli nicht da war; denn wenn er zu viel den Papa spielte, so könnte dies die Möglichkeit der Wiedererlangung Tomi's Schaden thun.107 Verzeihe diese wohlgemeinte Warnung. Deinen Politischen Betrachtungen stimme ich vollkommen bei. Die bei Gelegenheit der Neufchatteller [!] Sache zu Tage gekommene Uneinigkeit in Teutschland ist sehr betrübt[!]. Ich kann nur das Zeugniß geben[,] daß ich möglichst dagegen gearbeitet habe. Aber die Misstimmungen aus den vergangenen Jahren sind zu stark[.] Das Gelingen des Mailänder Besuchs ist insofern erfreulich[,] als es zeigt[,] daß die Besseren wieder Muth bekommen haben. Auf die Dauer des gewonnenen Resultats kann man freilich nicht rechnen. Eure Posse ist ekelhaft[.]"108

105 Niccolö Rapallo (1825-1882), seit 1856 zweiter Ehemann und gleichzeitig Hofmeister von Elisabeth. 106 E-J 27.1.1857. 107 Elisabeths Sohn Tomasso war der Erziehung seiner Mutter de jure entzogen worden. Elisabeth und die sächsische Seite arbeiteten jedoch an einer von König Vittorio Emanueles Entscheidung direkt abhängigen Verbesserung, die Tomasso de facto wieder mit seiner Mutter zusammen brachte. Vgl. im Einzelnen dazu Abschnitt 5.4.2 Das Kriterium des Standes. 108 J-E 4.2.1857.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

Damit hatte Johann exakt alle Themen aus Elisabeths Brief vom 27. Januar aufgegriffen: das Wetter in Govone, den Besuch Gibas und dessen Bericht über Elisabeths Schwester Anna in Florenz, das Verhältnis des zweiten Ehemanns von Elisabeth, Rapallo, zu ihrer Tochter Margherita und schließlich das politische Tagesgeschehen. Solche Antworten waren häufig emotional markiert, d. h. als „Mitfühlen" formuliert, als fiktive Anwesenheit beim Korrespondenzpartner oder indem die Gefühle bei der Lektüre des angekommenen Briefes angesprochen wurden. Das stärkte den Beziehungsaspekt der Korrespondenz, zu dem im Zitat auch die Ratschläge beitrugen. Als wichtigen Erfolg meldeten die Partner, wenn es möglich geworden war, sich das Leben des Gegenübers „vorzustellen". Das erleichterte eine emotionale Stellungnahme, das „Mitfuhlen". König Johann lobte seine Tochter beispielsweise: „Deine Beschreibung war übrigens so lebendig^] daß ich mir Menschen[,] Ort und Umstände ganz deutlich vorstellen kann."109 Außer dem verbalen Detailreichtum arbeitete man mit visuellen Hilfen wie beigefügten Fotografien, Lageskizzen, Stadtplänen und Enterieurs. Zu diesen Abbildungen gingen Fragen und Erläuterungen oft mehrmals hin und her. Johann erhielt 1851 beispielsweise Stadtansichten von Turin und Genua und freute sich: „Diese [...] namentlich die Ansicht von Turin[,] haben mich ganz besonders gefreut[,] weil ich mir nun vielmehr den Ort versinnlichen kann[,] wo mein liebes Kind wohnt und lebt. Es ist[,] als ob Du mir dadurch um etwas näher gerückt wärest. Ich muß nun sehen[,] daß ich sie an einem Ort anbringet,] wo ich sie öfters sehen kann [.. .]" uo Dieser Ort war bald gefunden: „Die Ansichten von Turin und Genua habe ich in meinem kleinen toilettencabinet rechts und links von den Marmorbüsten Dante's aufgehangenf,] so daß ich gleich früh immer den Ort vor Augen habe[,] wo ich weiß[,] daß du hausest."111 Das ständige Eintreffen der Briefe, von denen weitere im selben Augenblick geschrieben wurden bzw. die man gleichzeitig auf dem Postweg wusste, legte fast täglich neu Zeugnis von der Gemeinschaft ab. In den Erinnerungsstücken fanden sie vor Ort einen Bezug, da diese eben jene Gemeinschaft auf Distanz permanent vergegenwärtigten. Auch für den angesprochenen zweiten Teil, den Nachrichtenteil des Briefes, sei das Beispiel vom 4. Februar 1857 zitiert:

109 J-E 4.5.1852. 110 J-E 12.3.1851. 111 J-E 25.3.1851.

2.5 Briefaufbau und Thematik

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„Sonntag hatten wir einen kleinen Thee mit [v.] Berlepsch's[,] [v.] Tschirsky's und Seladon[.]112 Er war recht angenehm und an dem zweiten Tischf,] wo die jungen Leute saßen[,] wurde viel gelacht. Gestern hatte ich eine große Ceremonie[,] indem mir ForthRouen"3 die Ehrenlegion überbrachte[.]114 An sich war ich davon mediocrement touchirt. Er war aber selig und bei der Tafel[,] welche dann statt fand[,] höchst gesprächich [!] und aufgeregt. Heute haben wir einen sehr vollen Tag[.] Der Grosfürst Constantin115 ist nemlich angekommen; kommt Vormittag bei uns und ißt dann bei uns und Abends haben wir Hofball[,] bei dem er aber nicht erscheint wegen der Trauer für die Grosmutter seiner Frau. Zwei Todesfalle habe ich dir auch zu melden[,] erstens den alten König Lear v[on] Pillnitz116 (:ein Unglück für seine Familie[,] für den Hof zu verschmerzen:) und 2t den Kammermusicus Kotte[,] den guten Clarinetist[,] der mir sehr leid thut. Wir hatten gestern viele alte Legionsritter bei Tisch[,]117 unter anderm [v.] Schreibershofen, die beiden [v.] Holzendorfe, [v.] Mandelsloh. Es war wie Gestalten aus vergangenen Zeiten[.] Von der armen Louise v[on] Toscana118 haben wir gestern ängstliche Nachrichten bekommen^] Sie war sehr krank[,] doch ging es wieder beßer[.] Es thut mir sehr leid für sie und auch etwas für Anna[,] wenn sie ganz um ihren Carneval käme und so die Gesellschaft nicht kennen lernte.119 Ich höre von allen Seiten[,] daß sie sehr gefällt. Forth Rouen hatte einen Brief von dem dortigen Gesandten[,] der das auch bestädtigt und schrieb[,] man fände sie hätte ein so schönes Profil wie von einer Camee".120 Dieser chronistische Teil des Briefes reflektierte die vergangene Woche und gab zuweilen einen Ausblick auf die folgenden Tage. Die HofVeranstaltungen, Unternehmungen, Besichtigungen, Besuche, Wechsel des Hoflagers, die Personen des königlichen Dienstes etc. erfuhren dabei meist eine persönliche Wertung. Viel Raum nehmen stets die In-

112 „Seladon", häufig auch „Celadon" (engl.: Keramik mit blassgrüner Glasur, auch für blasse graugrüne Farbe gebräuchlich): Spitzname für Julius Bernhard von Könneritz (1827-1883), Kammerherr und Obersthofmeister der Prinzessin Auguste von Sachsen (1782-1863). 113 Alexandre baron de Forth-Rouen (1809-1886), der französische Gesandte in Sachsen. 114 Die Ehrenlegion: Der französische „Ordre d'honneur", 1802 nach dem Vorbild anderer monarchischer Orden Europas von Napoleon Bonaparte gestiftet. 115 Konstantin Großfürst von Russland (1827-1892), Bruder des seit 1855 regierenden Zaren Alexander II. (1818-1881). 116 „König Lear": unbekannter Spitzname. 117 Ein Diner mit Rittern des Ordre d'honneur aus Anlass der Ehrung. 118 Prinzessin Luise von Toscana (1798-1857), unverheiratete Schwester von Leopold II. Großherzog von Toscana (1797-1870). Sie starb am 15. Juni. 119 Der Tod von Luise hätte eine längere Hoftrauer zur Folge gehabt. Die Karnevalsbälle bei Hof wären ausgefallen, so dass die erst im November nach Florenz verheiratete Prinzessin Anna von Sachsen (1836-1859) nicht die Chance gehabt hätte, die dort verkehrende Gesellschaft bei diesen Gelegenheiten kennenzulernen. 120 J-E 4.2.1857.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

formationen über Geburten, Todesfalle, Verlobungen, Eheschließungen, Scheidungen, Krankheiten, Rang- und Dienstangelegenheiten usw. ein. Als eine Art von Hof- und Gesellschaftsnachrichten aus dem personellen Umfeld des Monarchen - dem eigentlichen Hofstaat, dem sog. Publikum und dem Hochadel - kann man diese regelmäßigen Berichte zu einem dynamischen Gesellschaftspanorama zusammenfugen. Das hatte zur Folge, dass Elisabeth die ihr bekannten Personen und deren Familien von fern weiterverfolgen konnte. Sie nahm am gesellschaftlichen Leben der Dresdner Familie gewissermaßen teil und war daher auch in der Lage, sich bei einem Besuch schnell wieder zu integrieren. Nicht nur die Eltern und Geschwister selbst blieben ihr vertraut, sondern auch die gesamte Szenerie, in der sie agierten und in der sie ihre soziale Identität herstellten. Insbesondere gaben sich die Dresdner und Elisabeth gegenseitig ein Bild davon, was die über Europa - und zeitweise darüber hinaus - verteilte Fürstengesellschaft gerade tat. Hier kam es häufig zu Rückschlüssen über Personen, die sowohl hier als auch dort ins Blickfeld gerieten oder Kontakt aufnahmen. Trotz aller Disziplin und aller Bemühungen um Anschaulichkeit bestätigte sich, dass wiederkehrende persönliche Begegnungen Voraussetzung für die gewünschte gegenseitige Wahrnehmung blieb. Johann bekannte im Mai 1864: „Der Gedanke dich einmal wiederzusehen beschäftigt mich öfters. Man wird sich am Ende ganz fremd[,] wenn man sich so lange nicht sieht; wenigstens gehen eine Menge gemeinschaftliche Interessen verlohrenf,] wenn auch das Herz dasselbe bleibt."121 Drei Jahre waren zu diesem Zeitpunkt seit der letzten Begegnung mit der Tochter in Luzern vergangen. In die Anlage dieser Korrespondenz waren die gegenseitigen Treffen als Bestätigungen oft monatelangen Briefschreibens von Anfang an eingeplant und daher wichtige Zäsuren.122 Die Quasi-Mündlichkeit konnte der Mündlichkeit, des gegenseitigen „Aussprechens", nicht gänzlich entbehren - Briefe erforderten Besuche.

121 J-E 18.5.1864. 122 Folgende Berichtslücken entstanden durch Elisabeths Besuche in Dresden: 26.4.-4.6.1851; 26.4./8.7.1853 Besuch zur Hochzeit Prinz Alberts; 9.6.-8.8.1855; 25.5.-5.8.1856; 14.3.-11.5.1859; 2.7.18.9.1867; 29.4.-2.7.1870; 13.9.-18.12.1872; [?].2.-9.4.1873 sowie 3.9.-29.11.1873. Die Daten geben den jeweils letzten Brief vor bzw. den ersten Brief nach dem Besuch an, der entweder von König Johann oder von Königin Amalie verfasst ist. Folgende Berichtslücken entstanden durch Besuche der Eltern bei Elisabeth: 11.10.-9.12.1851 beim Besuch der Eltern in Turin zur Geburt der Enkelin Margherita; 16.5.27.6.1857 beim Besuch der Eltern in Stresa; durch das Treffen vom 8./9.5.1872 in Stresa ergab sich keine Korrespondenzlücke. Durch die Treffen der Familie mit Elisabeth im Ausland ergaben sich folgende Berichtslücken: 27.7.-28.8.1861 Treff von König Johann, Königin Amalie sowie der Töchter Sidonie und Sophie mit Elisabeth in Luzern; 17.8.-6.9.1864 Treff von König Johann, Königin Amalie sowie der Tochter Sophie mit Elisabeth in Zürich; 21.7.-10.8.1869 Treff von König Johann und Königin Amalie mit Elisabeth in Schwalbach.

2.6 Sozialspezifik - Die Symbolisierung des Standesunterschiedes

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2.6 Sozialspezifik - Die Symbolisierung des Standesunterschiedes An den Äußerlichkeiten der Briefe ist die soziale Zugehörigkeit der Schreiber nur höchst selten erkennbar, nämlich dann, wenn in das Briefpapier eingeprägte Familienwappen die Zuordnung zu einem Fürstenhaus herstellen. König Johann nutzte in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Doppellage mit Goldrand. Die von Frauen benutzten Briefpapiere waren mit den unterschiedlichsten Drucken und Prägungen geschmückt, u. a. mit Blumenmotiven und Stadtansichten. Diverse Trauerfälle brachten es mit sich, dass auch oft Trauerbriefpapier beschrieben wurde, das offenbar ebenfalls im freien Verkauf erworben wurde.123 Auch das Textmuster von Antwort und Chronik ist nichts genuin Hochadliges. Nicht einmal die exklusiven Möglichkeiten der Höfe, die Briefe über diplomatische Kanäle zu übermitteln, spielten hier eine nennenswerte Rolle. Da man die Priorität auf Schnelligkeit setzte, benutzte man zwischen Dresden und Turin ausdrücklich die Post und nicht die Gesandtschaften.124 Im Gegensatz zum äußeren Anschein der materiellen Überlieferung lässt die Briefkultur in den Inhalten aber durchaus Sozialspezifik erkennen. Auf die Begriffe von Familie, Verwandtschaft und Freundschaft, die auch den Geltungsrahmen der Korresponenz klar absteckten, wird an anderer Stelle eingegangen.125 Hier sei ein Blick auf die Anredepraxis geworfen. Denn die damit einhergehende Codierung einer besonderen Intimität kalkulierte - wie zu zeigen ist - mit dem Standesunterschied und bildete ihn ab.126 In der offiziösen fürstlichen Post genügten Anrede bzw. Titulatur einem klar normierten und hierarchisch differenzierten Muster. Vorgaben hierfür lieferten zuletzt die Festlegungen des Deutschen Bundes, die nach den Mediatisierungen auch Fragen der künftigen sog. Courtoisie behandelten. Hierzu gehörten auch Titulaturfragen. Die im Gefolge in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes erlassenen Bestimmungen fügten sich jedoch in eine jeweils sehr unterschiedliche Politik gegenüber den Standesherren ein.127 Für fürstliche Handschreiben, die per se mit semantischen Optionen ausgestattet waren, galten darüber hinaus weitere Konventionen, darunter auch die Rekurrenz auf Verwandtschaft, die beispielsweise in der Anrede „besonders lieber Vetter und Bruder" durch König Georg V. von Hannover (1819-1878)128 oder in dem „gnädigster König, theuerster Neffe" für die 123 Papeterien waren u. a. auch ein beliebtes Geschenk an die jungen Prinzessinnen, wie aus der Korrespondenz hervorgeht, ζ. B. Sid-E 28.12.1856. 124 AA-E 14.6.1850: „Meiner [d. h. mein Brief] war durch die Gesandschaft, u.[nd] darum so spät gekommen, schreibe nur ja immer durch die Post, es geht schneller." 125 Vgl. auch Abschnitt 3.4 Konzepte der Binnenkommunikation. 126 Vgl. unten Abschnitt 3.4.3 Verwandtschaftlichkeit und Verwandtschaft. 127 Zum Königreich Sachsen und seinen Standesherren vgl. auch Abschnitt 4.2.3 Die zeremonielle Behandlung der Standesherren. 128 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 83 Korrespondenz König Georg von Hannover 1857,1859,1860-1863,1866,1868,1869.

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2 Texte und Konzepte - Privatbriefe

Könige Maximilian II. (1811-1864)129 und Ludwig II. (1845-1886)130 von Bayern zu Tage tritt. Solcher Art „Verwandtschaft" zu indizieren beinhaltete niemals bereits den Ausweis von Intimität.131 In diesen Anreden kam vielmehr die gemeinsame Standeszugehörigkeit zur Sprache. Die Verwandten erschienen hier in ihrer Eigenschaft als Agnaten. „Verwandtschaftlichkeit" im Sinne von Johann war dies noch nicht.132 Entsprechend gilt in den zitierten Briefen ebenfalls die Anrede „Majestät". Die intime Korrespondenz dagegen, für die der vorliegende Fall ein Beispiel gibt, setzt in ihrer vergleichsweisen Schlichtheit eine jahrhundertelange Tradition fort.133 So kam man bei der Anrede etwa gleichaltriger Vertrauter völlig ohne Titulatur aus. Hier standen ζ. B. „Liebstes Knäbchen",134 „Marl",135 „Hansy",136 oder „Dicky".137 Für ihre Kinder dagegen verwendeten Johann und Amalie Kosenamen138 und „liebes Kind",139 Johann redet seine

129 Enthalten in SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 83 Briefe von König Georg von Hannover 1857,1859, 1860-1863, 1866, 1868, 1869, hierpag. 48-51. 130 SächsHStA Dresden, Fürstennachlass Johann Nr. 73/74 Korrespondenz König Ludwig II. von Bayern 1864,1866, hierpag. 4-5. 131 Dazu für das Mittelalter bereits Althoff, Gerd, Verwandte, Freunde und Getreue, Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 31-84; Rogge, Jörg, muterliche liebe mit ganzen truwen allecit, Wettinische Familienkorrespondenz in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Heimann, Dieter (Hg.), Adelige Welt und familiäre Beziehung, Aspekte der „privaten" Welt des Adels in böhmischen, polnischen und deutschen Beispielen vom 14.-16. Jahrhundert (= Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur Brandenburg-Preußens und des Alten Reichs), Potsdam 2000, und Ders. Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel, Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 2002; Nolte, Cordula, Familie, Hof und Herrschaft, Das verwandtschaftliche Beziehungs- und Kommunikationsnetz der Reichsfürsten am Beispiel der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach (1440-1530) (= Mittelalterliche Forschungen; 11), Ostfildern 2005. 132 Vgl. Abschnitt 3.4.3 Verwandtschaftlichkeit und Verwandtschaft. 133 Vgl. etwa die Beispiele in Rogge, muterliche liebe mit ganzen truwen allecit, wie Anm. 131. 134 Maria Anna Großherzogin von Toscana (1799-1832) an ihren Bruder Johann von Sachsen. Vgl. SächsHStA Dresden Fürstennachlass Johann Nr. 4a 13 Briefe der Großherzogin Maria [Anna] von Toscana an den Prinzen, späteren König von Sachsen. 135 Johann von Sachsen an Maria Anna Großherzogin von Toscana (1799-1832). Vgl. SächsHStA Dresden Fürstennachlass Johann Nr. 4a 13 Briefe der Großherzogin Maria [Anna] von Toscana an den Prinzen, späteren König von Sachsen. 136 König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) an Prinz/König Johann von Sachsen. Vgl. Herzog zu Sachsen, Johann Georg (Hg.), Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, Leipzig 1911. 137 Prinz/König Johann von Sachsen an Prinz/König Friedrich Wilhelm von Preußen (1795-1861), vgl. Herzog zu Sachsen, Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, wie Anm. 136. 138 Prinzessin Marie von Sachsen: Mani. Prinzessin Sidonie: Sido/Weibl. Prinzessin Anna von Sachsen: Annecy/Änsi, Ipp/Ippi/Ippchen. Prinzessin Sophie: Sophielieb/Klein Söph. 139 Elisabeth Herzogin von Genua (1830-1912).

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Lieblingstochter auch mit „liebe Alte" an.140 Den Eltern gegenüber unterzeichnete Elisabeth stets als „gehorsame Tochter". Ein ganz normales Familienleben - und doch zeigte sich auch darin die Standesgrenze, wenn man den Usus der Anrede über diese Standesgrenze hinweg nach und von „außen" in die Betrachtung einbezieht. Das verbale Hantieren mit Spitznamen beschränkte sich nicht auf Standesgenossen. Auch für Angehörige des niederen Adels kursierten innerhalb der Dresdner Fürstenfamilie Spitznamen. Der Briefwechsel überliefert eine Fülle phantasievoller, teils ironischer Decknamen. Anders als für verwandte Hochadlige waren diese nur ausnahmsweise als chiffreartige Abkürzungen der Vornamen gebildet. Beispiele hierfür sind „Bulldog" bzw. „Bulldogene"141, „Amöna",142 „becassine",143 „Celadon",144 und „Fau