Die Schule von New Haven: Darstellung und Kritik einer amerikanischen Völkerrechtslehre [1 ed.] 9783428501342, 9783428101344

Die Schule von New Haven zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Völkerrechtslehren des 20. Jahrhunderts. Sie wurde vo

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Die Schule von New Haven: Darstellung und Kritik einer amerikanischen Völkerrechtslehre [1 ed.]
 9783428501342, 9783428101344

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SANDRA VOOS

Die Schule von New Haven

Schriften zum Völkerrecht

Band 141

Die Schule von New Haven Darstellung und Kritik einer amerikanischen Völkerrechtslehre

Von Sandra Voos

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Voos, Sandra: Die Schule von New Haven : Darstellung und Kritik einer amerikanischen Völkerrechts lehre / von Sandra Voos. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 141) Zug!.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10134-0

Alle Rechte vorbehalten 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ~

ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-10134-0 Gedruckl auf a1lerungsbesländigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Vorwort Die vorliegende Abhandlung wurde im Sommersemester 1999 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Das Thema geht auf eine Anregung von Herrn Prof. Dr. Christian Tomuschat zurück. Ihm gilt mein aufrichtiger Dank für seine wertvollen Ratschläge und Hinweise und die große Geduld und Freundlichkeit, mit der er meine Doktorarbeit betreut hat. Herrn Prof. Dr. Gerd Seidel danke ich herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch bei den hilfsbereiten Mitarbeitern des Instituts für Völkerrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Besonderen Dank schulde ich meinem Mann, Herrn Dr. Stefan Bauernfeind, der mich nicht nur in dem Wunsch zu promovieren bestärkt hat, sondern der durch seine Anregungen, tatkräftige Hilfe und persönliche Ermutigung sehr viel dazu beigetragen hat, daß diese Arbeit fertiggestellt wurde. Dasselbe gilt für meine Eltern. Ferner möchte ich mich bei meinen Freunden, Frau Dr. Shu-Fang ehen und Herrn Dr. Thomas Pastor, sowie bei meinen Schwestern für ihre geduldige Unterstützung herzlich bedanken. Die Arbeit ist meinen Eltern gewidmet. Berlin, im März 2000

Sandra Voos

Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................

15

Teil A

Darstellung der Schule von New Haven Kapitel I

Einführung I. Die New Haven School als rechtstheoretische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

2. Die führenden Repräsentanten der Schule von New Haven ............... a) Myres S. McDougal ............................................. aa) McDougals Biographie ....................................... bb) McDougals Werke ........................................... b) Harold D. LassweIl .............................................. aa) Biographie und Werke ........................................ bb) Lasswells Rolle in der New Haven School und sein Verhältnis zu McDougal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) W. Michael Reisman ........ . . . . . . . . . . . .. . .. . .. .. . . . . . . . . . . . .. . ..

20 20 20 24 26 26 27 29

3. Die wichtigsten Schüler McDougals ................................... 31 a) Lung-chu ehen .................................................. 31 b) Richard A. Falk ................................................. 31 c) Rosalyn Higgins ................................................. 33 4. Reaktion der Völkerrechtswissenschaft auf die New Haven School . . . . . . .. 34 a) Aufnahme durch die amerikanische Völkerrechtslehre ................ 34 b) Aufnahme durch die europäische Völkerrechtslehre .................. 39

Kapitel 11

Die Definition des Völkerrechts 1. Die Definition des Völkerrechts als ..process of decision" ................

41 a) Kritik an der traditionellen Völkerrechtsdefinition ................... 41 aa) Einleitung ................................................... 41

8

Inhaltsverzeichnis bb) Wiedergabe der Wirklichkeit .................................. cc) Nutzen der Definition bei der Erfüllung juristischer Aufgaben ..... b) Neue Völkerrechtsdefinition der New Haven School ................. aa) Das Völkerrecht als "process of decision" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Erläuterungen zu "process" . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. .. . .. . .. . .. cc) Erläuterungen zu "decision" ................................... dd) Folgen dieser Definition ......................................

2. Definition des Völkerrechts als Zusammentreffen von "authority" und "effective control" .................................................. a) Voraussetzungen für das Vorliegen von Völkerrecht ..... . . . . . . . . . . . .. aa) "Authoritative and controlling decisions" ....................... bb) Erläuterungen zu "authority" .................................. cc) Erläuterungen zu "effective control" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. dd) Auseinanderfallen beider Komponenten ....... . . . . . . . . . . . . . . . . .. ee) Gegenseitige Beeinflussung beider Komponenten ................ ff) Zusammenfassung............................................ b) Das Verhältnis des Völkerrechts zu Macht und Politik ............... , aa) Kritik an den traditionellen Auffassungen zu diesem Verhältnis .... bb) Die Sicht der Schule von New Haven ..........................

42 45 50 50 51

52 52 55 55 55 56 60 61 62

64 64 64 65

3. Rechtsnatur des Völkerrechts und Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Das Völkerrecht als wirkliches Recht .............................. b) Die Bindungswirkung völkerrechtlicher Normen. . . . . . . . . . .. . . .. ... ..

67 67 68

4. Die Entstehung von Völkerrecht ...................................... a) Kritik am traditionellen Konzept der Quellen des Völkerrechts ........ b) Das Konzept der "prescription" ................................... c) Das Modell von "claims and counterclaims" ........................

70 70 72

5. Der Regelungsbereich des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Abgrenzung zu verwandten Rechtsgebieten und Disziplinen .......... b) Die Völkerrechtssubjekte .........................................

79 79 80

74

Kapitel III

Die Methodik der Schule von New Haven 1. Einführung ......................................................... a) Funktionale Sicht des Völkerrechts und die Reform des Völkerrechts .. b) Die Reform der Völkerrechtswissenschaft ..........................

82 82 87

2. Die "policy-orientation" ............................................. a) Erläuterungen zum Begriff der "policy" ............................

93 93

Inhaltsverzeichnis

9

b) Unvermeidlichkeit eines "policy choice" ........................... c) Bedeutung von "policies" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

95 97

3. Die "value-orientation" .............................................. a) Begriff der "values" ............................................. b) Notwendigkeit einer "clarification of values" ....................... c) Funktion der "values" ............................................ d) Die von der New Haven School angestrebten Werte ................. aa) Die acht Werte .............................................. bb) "Human dignity" ............................................. cc) Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. dd) "Common interest" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ee) "Minimum world public order" ................................ e) Begründung für die Wahl dieser Werte .............................

98 98 100 101 103 103 106 107 108 108 109

4. Die Wissenschaftlichkeit ............................................. 112 a) Empirische Forschung ............................................ 112 b) Interdisziplinarität ............................................... 113 5. Die Bedeutung des Kontexts ......................................... 114 6. Das "framework of inquiry" .......................................... 116 a) Zweck und Charakteristika des "framework of inquiry" .............. 116 b) Die Kategorien des "framework of inquiry" ......................... 119 7. Exkurs: a) Die b) Die c) Die

Die Auslegung völkerrechtlicher Vereinbarungen ................ Auslegungstheorie der New Haven School ...................... Auslegungsziele ............................................. Bedeutung von Text und Kontext bei der Auslegung .............

121 121 122 125

Teil B Studien der New Haven School zu konkreten Problemrällen Kapitel I

Die amerikanischen Wasserstoßbombentests im Pazifik 1. Einleitung.......................................................... 129 a) Allgemeines .................................................... 129 b) Sachverhalt ..................................................... 130 2. Argumentation von McDougal und Schlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Einleitung ...................................................... b) Zulässigkeit von Atombombentests ................................ c) Die Freiheit der Meere ...........................................

133 133 134 135

10

Inhaltsverzeichnis aa) Zulässigkeit von Beeinträchtigungen der Meeresfreiheit ........... bb) Kein Verstoß gegen das Hoheitsverbot ........ : ................. cc) Vergleichbare Fälle ........................................... dd) Besonderes Gewicht von Sicherheitsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Prüfung der "reasonableness" in diesem konkreten Fall ........... d) Das Verschmutzungsverbot ........................................

135 137 l38 l39 140 143

e) Kein Verstoß gegen die Charta und das Treuhandabkommen .......... 145 f) Das Schlußwort ................................................. 147 3. Kritik von McDougals Artikel ........................................ a) Allgemeine Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen ................. b) Die Freiheit der Meere ........................................... c) Das Verschmutzungs- und Schädigungsverbot ....................... d) Treuhandabkommen und Charta ................................... e) Ergebnis der Kritik ..............................................

148 148 150 163 164 166

Kapitel 11

Die Kuba-Blockade 1. Einleitung.......................................................... 170

a) Einführung...................................................... 170 b) Sachverhalt ..................................................... 171 2. McDougals Argumentation ........................................... 173 a) Das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht ............ 173 b) Auslegung von Art. 51 der Charta ................................. 176 c) Kontext der Kuba-Krise .......................................... 180 3. Kritik von McDougals Artikel ........................................ a) Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 der Charta ............................ b) McDougals Argumentation zur Freiheit der Meere ................... c) Rechtfertigung der Quarantäne als Selbstverteidigung ................ aa) Das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht ........

183 183 183 184 184

bb) Auslegung von Art. 51 der Charta ............................. cc) Einordnung der Kuba-"Quarantäne" als Selbstverteidigung ........ d) Sonstige Rechtfertigungsgründe ................................... aa) Rechtfertigung durch den Rio-Vertrag und die OAS-Resolution .... bb) Sonstige Überlegungen ....................................... e) McDougals Schlußwort ...........................................

189 195 201 201 203 204

Inhaltsverzeichnis

11

Kapitel III Die Bombardierung Baghdads I. Einleitung und Sachverhalt .......................................... . 205 2. Reismans Argumentation ............................................ a) Theoretische Grundlagen ......................................... b) Abgrenzung von Selbstverteidigung und Repressalie ................. c) Kriegsvölkerrecht ................................................ d) Verbot der Ermordung fremder Staatsoberhäupter .................... e) Botschaft an Nordkorea ..........................................

207 207 210 214 214 215

3. Kritik von Reismans Artikel .......................................... a) Theoretische Grundlagen ......................................... b) Die allgemeine Rechtmäßigkeit von .. unilateral coercive action" ....... aa) Die Rechtmäßigkeit des ..continuing claim" der USA ............ bb) Völkerrechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien .................. c) Rechtmäßigkeit der Bombardierung Baghdads ....................... d) Kriegsvölkerrecht ............................................... . e) Verbot der Ermordung fremder Staatsoberhäupter und Berücksichtigung von Nebenzielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung ...............................................

215 215 219 219 221 226 228 229 230

Kapitel IV Ergebnisse 1. Charakteristika der untersuchten Artikel ............................... 232 2. Zusammenfassung der Kritik ......................................... 237

Teil C

Kritik der Schule von New Haven Kapitel I Kritik der Definition des Rechts als "process

oe decision"

1. Der Normskeptizismus der New Haven School ......................... a) Zur Natur von Normen ........................................... b) Zur Rechtsanwendung ............................................ aa) Prüfung der Geltung von Normen ............................. . bb) Einfluß von außerrechtlichen Umständen des faktischen Kontexts ..

241 241 246 246 247

12

Inhaltsverzeichnis cc) Gleichzeitige Anwendbarkeit entgegengesetzter Prinzipien 251 c) Gesamtbewertung des Normskeptizismus der New Haven School ...... 253

2. Definition des Völkerrechts als Entscheidungen ......................... 256 3. Definition des Völkerrechts als Prozeß ................................ a) Das Völkerrecht als sich ständig wandelndes Recht ................. . b) Das Modell von "claims and counterclaims" ........................ c) Die Entstehung von Völkerrecht ...................................

259 259 261 264

Kapitel 11

Definition des Völkerrechts als Verbindung von "authority" und "effective control" 1. Kritik dieser Definition .............................................. 265 2. Das "incidents"-Konzept ............................................. 270 3. Rechtsnatur des Völkerrechts und Bindungswirkung von Völkerrechtsnormen ............................................................... 272

Kapitel III

"Policy-orientation" und" value-orientation" 1. Die funktionale Sicht des Völkerrechts ................................ 273

2. Die "policy-orientation" ............................................. a) Die Unvermeidlichkeit eines "policy choice" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) "Policies" als Orientierungshilfe und Rechtmäßigkeitsmaßstab ........ c) Der Maßstab der "reasonableness" .................................

276 276 277 282

3. Die "value-orientation" .............................................. a) Bei der Rechtsanwendung ........................................ b) Die von der New Haven School angestrebten "goal values" ........... aa) Empirische Nachweisbarkeit der "goal values" .................. bb) Die Auslegung dieser "goal values" durch die New Haven School .

284 284 289 289 292

Kapitel IV

Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School I. Einordnung in das Spektrum rechtstheoretischer Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Prüfung der Einordnung als rechtssoziologische Theorie ................ . 299

Inhaltsverzeichnis

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Kapitel V Kritik der Methode der Schule von New Haven 1. Die Terminologie der New Haven School . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Das "framework of inquiry" ......................................... . a) Die Werteanalyse ................................................ b) Die Phasenanalyse ............................................... c) Die fünf intellektuellen Aufgaben der Völkerrechtsgelehrten .......... d) Die sieben Entscheidungsfunktionen ............................... e) Gesamtbewertung des "framework of inquiry" ......................

311 311 312 313 314 316

Kapitel VI Thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse

320

Literaturverzeichnis ................................................... 323 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

Abkürzungsverzeichnis AFDI AJIL AVR BYIL CanYIL EJIL EPIL FS Georgia 1. of Int. and Comp. Law GYIL ICJ Reports ILC ICLQ

IJIL JuS ÖZöR Proc ASIL RdC RGDIP VJIL Yale L. J. WVR ZaöRV

Annuaire Fran~ais de Droit International The American Journal of International Law Archiv des Völkerrechts The British Yearbook of International Law The Canadian Yearbook of International Law European Journal of International Law Encyclopedia of Public International Law Festschrift Georgia Journal of International and Comparative Law German Yearbook of International Law International Court of Justice Reports International Law Commission International and Comparative Law Quarterly Indian Journal of International Law Juristische Schulung Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht Proceedings of the American Society of International Law Recueil des Cours de I' Academie de Droit International Revue Generale de Droit International Public Virginia Journal of International Law Yale Law Journal Wörterbuch des Völkerrechts Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Einleitung "When I was a law student in Cambridge in the 1960s, two things were forbidden: one was not permitted to entertain (sie!) women in one's rooms overnight and one was not allowed to make referenee to the eopious writings of Myres S. MeDougal and his associates. MeDougal, so it was put about, 'had a theory' mueh as one might speak in the same depreeating way about someone who 'had a theory' that the Earth was flat or that the bad weather was eaused by the Germans. Under the eurious morality that prevailed in Cambridge, it was all right to engage in earnal aetivities during the hours of daylight (... ). However, MeDougal was as dangerous by day as by night." (Colin Warbriek, Introduetion, in: Theory and International Law - An Introduetion, Hrsg.: Allott/Carty/Koskenniemi/Warbriek, S. XI)

Myres S. McDougal und die von ihm zusammen mit Harold D. LassweIl begründete und von W. Michael Reisman fortgesetzte völkerrechtliche Lehre stehen in vielerlei Hinsicht in fundamentalem Kontrast zu der traditionellen Völkerrechtslehre. Diese ist eher positivistisch geprägt im Sinne einer Orientierung an vorgegebenen Normen zur Lösung von Rechtsfragen und einer grundsätzlichen Trennung zwischen geltendem Recht einerseits und Werten andererseits. Dementsprechend rief die in den 50er Jahren an der Yale Law School entstandene sogenannte Schule von New Haven heftige Gegenreaktionen hervor, die teilweise bis heute andauern. Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob die an dieser Völkerrechtsschule geäußerte Kritik berechtigt ist. Da die New Haven School selbstverständlich scheinende Grundlagen der hergebrachten Völkerrechtslehre in Frage stellt - zum Beispiel die Definition des Rechts als System von Normen - kann die Beschäftigung mit ihr dabei helfen, sich über die dem eigenen Rechtsverständnis zugrunde li egen den Annahmen klarer zu werden. Die New Haven School stellt eine der wichtigsten amerikanischen Völkerrechtsschulen dieses Jahrhunderts dar. Sie hat viele amerikanische Völkerrechtsgelehrte und Praktiker der internationalen Beziehungen beeinflußt - und sei es auch nur, indem sie zu Diskussionen reizte. Über Jahrzehnte hinweg prägten ihre Methode und ihre spezielle Terminologie die völkerrechtliche Debatte in den USA. Als Professoren an einer der führenden amerikanischen Universitäten kamen McDougal, LassweIl und Reisman in Kontakt mit einer großen Anzahl später erfolgreicher Studenten, so daß die Thesen der New Haven School in der amerikanischen Völkerrechtslehre, aber auch unter denjenigen weit gestreut wurden, die später maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung der amerikanischen Außenpolitik ausübten.

16

Einleitung

Daher ist eine Beschäftigung mit dieser Schule hilfreich, um amerikanische Positionen und Argumentationswege im Bereich der internationalen Beziehungen besser nachvollziehen zu können. Für das Verständnis der Lehre dieser Schule ist es wichtig, sich die Zeit vor Augen zu halten, in der sie begründet wurde und in der die Hauptwerke ihrer Vertreter entstanden. Die Nachkriegszeit mit dem eskalierenden Konflikt zwischen den bei den Supermächten, die die Welt in ihre Hegemonialbereiche aufteilten, prägte Themen, Tonfall und Sichtweisen insbesondere von McDougal und Lassweil. Die drohende Katastrophe einer atomaren Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion und der Kalte Krieg schufen eine bedrohliche Situation, in der die Begründer der New Haven School ihre Aufgabe darin sahen, die Position der USA und damit der "freien Welt" zu stärken. Obwohl Lasswell verstorben und McDougal schon seit Jahrzehnten emeritiert ist, ist die Befassung mit den Lehren der New Haven School heutzutage nicht nur von rechtsgeschichtlichem Interesse. Zwar ist die Debatte über die Thesen der Schule von New Haven leiser geworden, doch reicht der Einfluß dieser Schule bis in die Gegenwart. Reisman als dem jüngsten Vertreter der New Haven School fällt die Aufgabe zu, das Werk von McDougal und Lasswell fortzusetzen und ihre Lehren den neuen Entwicklungen des Völkerrechts anzupassen. Die wichtigsten Thesen der New Haven School betreffen rechtstheoretische und methodische Fragen, die heute nicht weniger aktuell sind als im Zeitpunkt der ersten Formulierung dieser Thesen. Auch bleibt die Forderung dieser Schule nach stärker interdisziplinar ausgerichteter Forschung, die durch die Zusammenarbeit des Juristen McDougal mit dem Soziologen Lasswell teilweise in die Tat umgesetzt wurde, auf der Tagesordnung. Die folgende Darlegung gliedert sich in drei Teile: Zuerst wird die Schule von New Haven beschrieben, danach werden Arbeiten von McDougal und Reisman zu einzelnen völkerrechtlichen Konfliktfällen analysiert und im dritten Teil folgt schließlich eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Schule. Dabei sollen im ersten Teil zunächst die Gründer der New Haven School und ihre wichtigsten Schüler kurz vorgestellt werden, bevor die wesentlichen Kennzeichen und Hauptthesen dieser Schule dargelegt werden. Im zweiten Teil wird anhand von Zeitschriftenartikeln zu den amerikanischen Wasserstoffbombentests, zur Kuba-Blockade sowie zur Bombardierung Baghdads untersucht, welche Konsequenzen die Anwendung der Lehre der New Haven School auf konkrete völkerrechtliche Probleme hat. Abschließend wird im dritten Teil gefragt, ob die dargestellten Charakteristika und Thesen der Schule von New Haven zu überzeugen vermögen.

Teil A

Darstellung der Schule von New Haven Kapitel I

Einführung 1. Die New Haven School als rechtstheoretische Schule Die Schule von New Haven, die auch "policy-oriented approach" genannt wird, vertritt eine eigenständige, sich von herkömmlichen Vorstellungen in der Völkerrechtslehre erheblich unterscheidende völkerrechtliche Theorie und Methodik. Sie wurde von zwei amerikanischen Professoren der Yale Law School in New Haven (US-Bundesstaat Connecticut), Myres S. McDougal und Harold D. LassweIl begründet und wird von einem weiteren Professor der Yale Law School, Michael W. Reisman, fortgeführt. Die Gruppe dieser Professoren, ihrer Schüler und Anhänger wird als Bewegung I oder Schule 2 bezeichnet, mit McDougal und LassweIl als ihren "leaders and prophets'.3. Die Begründer und Anhänger der New Haven School werden durch gemeinsame rechts theoretische Grundanschauungen, ähnliche Ziele, eine ähnliche Sicht der Welt und des Völkerrechts sowie eine einheitliche Methodik verbunden. Diese Schule zeichnet sich nicht nur durch von der traditionellen Sicht des Völkerrechts abweichende Auffassungen über Definition, Entstehung und Auslegung des Völkerrechts aus, sondern auch durch eine neuartige Methodik für völkerrechtliche Untersuchungen. Die I Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, s. 572; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 17. 2 Almond, AJIL Bd. 84 (1990), S. 593; Boyle, AJIL Bd. 83 (1989), S. 404; D'Amato, International Law: Prospect and Process, S. 12; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 117; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 459; McWhinney, CanYBIL Bd. 23 (1985), S. 322; Schachter, International Law, S. 55 f.; Simma, FS Kolb, S. 344; ders., Das Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, S.30. 3 Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 572; ähnlich Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 5, Fußn. 6, der bei einigen von McDougals Schülern eine Tendenz zur Gründung eines Kultes diagnostiziert. 2 Voos

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Schule von New Haven hat sich zum einen das Ziel gesetzt, eine eigenständige und in sich schlüssige Völkerrechtstheorie und -methodik auszuarbeiten, und zum anderen, diese neue Sichtweise und Methode auf einzelne Gebiete des Völkerrechts sowie auf konkrete völkerrechtliche Streitfragen anzuwenden 4 . Der Beitrag der Schule von New Haven zur rechts theoretischen Diskussion in den Vereinigten Staaten und zur Methodik des Völkerrechts wird als sehr wesentlich angesehen 5 . In der Tat dürfte die New Haven School eine der wichtigsten und einflußreichsten rechtstheoretischen Richtungen der Nachkriegszeit in den USA sein 6 . Diese Schule ist sowohl von ihren Zielen als auch vom Umfang der von ihr bearbeiteten Materie her groß angelegt7 ; LassweIl selbst meinte: "The purpose is not, and has never been, modest"s. Myres S. McDougal, der sowohl von der traditionellen Völkerrechtslehre als auch von der amerikanischen Theorie des "legal realism" enttäuscht war, begründete zusammen mit dem ebenfalls an der Yale Law School unterrichtenden Politologen Harold D. LassweIl eine eigene Schule9 . Durch ihre Lehrveranstaltungen machten sie vielversprechende junge Studenten 4 Vgl. O'Brien, Yale L. J. Bd. 72 (1963), S. 415; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 75 f. 5 Chen, Introduction, S. 22; Falk, The Role of Law in World Society. in: Towards World Order, S. 147 u. 160 sowie Fußn. 24 auf S. 163; Freeman, AJIL Bd.58 (1964), S. 711; Henkin, Diskussionsbeitrag, Proc ASIL Bd.57 (1963), S. 167 f.; Higgins, AJIL Bd.66 (1972), S. 646; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 585; Weston, Diskussionsbeitrag, Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 186. 6 Macdonald/Johnston, International Legal Theory, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonaldl1ohnston, S. 5; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335; Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 67; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 40; Weston. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd.78 (1984), S. 99. Die American Society of International Law bezeichnete das Werk der New Haven School 1962, als sie McDougal und seinen Mitarbeitern das ..Certificate of Merit" verlieh, als "one of the most significant contributions of our time to international law" (zitiert bei Chen, Introduction, S. 22, Fußn. 2). 7 Johnson, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 20; O'Brien, Yale L. 1. Bd. 72 (1963), S. 413; Rostow, Afterword, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 573; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 163; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 537; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 68. Vgl. z. B. McDougal, Mississippi L. J. Bd.20 (1948-49), S. 261 f.; McDougal, Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 109; McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/II (1965), S. 810 f.; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. XXI ff. 8 LassweIl, On Collaboration with McDougal, in: Jurisprudence for a Free Society, S. XXXV; vgl. ferner McDougal, On LassweIl, ebenda, S. XXIX. Katzenbach, Foreword, Yale L. J. Bd. 84 (1975), S. III meint dazu: ..McDougal's scholarship is untouched by modesty."

Kapitel I: Einführung

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und Graduierte mit ihrem Ansatz bekannt lO und begründeten so ein "network of sympathizers .. 11 , um ihre Lehre zu verbreiten 12 und an gemeinsamen Projekten zu arbeiten. Zu den Anhängern dieser Schule gehörten bzw. gehören unter anderem Lung-chu ehen, Richard Falk, Rosalyn Higgins, John Norton Moore, Oscar Schachter und Bums H. Weston. McDougal beschrieb die Gruppe von Mitarbeitern um ihn herum als "a larger group of associates who share certain perspectives and are making varying individual contributions .. 13 . Dabei durften McDougals Schüler durchaus anderer Meinung sein als ihr Mentor 14 - und waren es häufig auch l5 . Manche der von McDougal und seiner Schule beeinflußten Autoren haben nur einige Ansätze von ihm übernommen, während sie in anderen Punkten ganz und gar nicht mit ihm übereinstimmten 16. McDougal, LassweIl, Reisman und ihre Mitarbeiter veröffentlichten mehrere Monographien sowie eine große Anzahl von Artikeln, die sich durch eine einheitliche Tenninologie und Zielsetzung sowie durch einen ähnlichen Aufbau auszeichnen. Die gemeinsamen Arbeiten weisen eine erstaunliche Homogenität hinsichtlich Schreibstil und Methodik auf17 , so daß es trotz des jeweils verschiedenen Hintergrundes der Beteiligten keinen Unterschied macht, mit welchen Mitarbeitern zusammen McDougal ein Werk verfaßte l8 . Insgesamt ist der Umfang des von den Vertretern der New Haven School seit den vierziger Jahren produzierten Werkes gewaltig l9 ; u. a. veröffentlichten Schüler McDougals mehrere Spezialstudien, in denen sie die Theorie und Methode der New Haven School auf verschiedene 9 Vgl. Lasswell, On Collaboration with McDougal, in: Jurisprudence for a Free Society, S. XXXVI. 10 Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 49; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 555 f. 11 Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 583; vgl. auch Freeman, AJIL Bd.58 (1964), S. 711. 12 Chen, Introduction, S. X; Diskussionsbeitrag von Weston, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 186; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 577 u. 583 f. 13 McDougal, AJIL Bd. 66 (1972), S. 81. 14 Rostow, Afterword, in: Toward WorId Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 565; Reisman, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd.78 (1984), S. 100; ähnlich Chen, Introduction, S. 22. 15 Vgl. z. B. die Diskussionen in Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 59 ff., insbes. S. 99 ff. und in Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 266 ff. 16 Shaw, International Law, S. 56 f. 17 Falk, The Status of Law, S. 643 u. 649; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 323 u. 336; ders., CanYBIL Bd. 13 (1985), S. 322; Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 17. 18 Vgl. Falk, The Status of Law, S. 643; McWhinney, CanYBIL Bd. 23 (1985), S. 323; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 232.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Gebiete des Völkerrechts anwandten 2o . Die Schule erlangte ihre größte Bedeutung im Bereich des Völkerrechts und der "international relations theory,,21, auch wenn sie ihre Grundaussagen nicht auf diesen Bereich beschränkt 22 .

2. Die führenden Repräsentanten der Schule von New Haven a) Myres S. McDougal

aa) McDougals Biographie Myres Smith McDougal wurde am 23. November 1906 in Burtons (Mississippi) geboren 23 . Er studierte an der Universität von Mississippi und lehrte dort zwei Jahre lang die Klassiker, d. h. Latein, Griechisch, Philosophie etc. 24 . Ende der 20er Jahre absolvierte er ein dreijähriges Graduiertenstudium in Oxford25 , wo er sich hauptsächlich mit Sachenrecht sowie mit Rechtsgeschichte beschäftigte 26 . McDougal promovierte 1930/31 an der Yale Law School; dort wurde er, der bis dahin eher traditionelle Rechtsauffassungen kennengelernt hatte, von den Vertretern des "legal realism" - dessen Hochburg Yale war27 - maß19 Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 49; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200; Simma, FS Kolb, S. 344; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973174), S. 535 u. 577; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 41. 20 Vgl. z. B. die Aufsätze in Towards World Order and Human Dignity. Ferner: lohnston. The International Law of Fisheries: A Framework for Policy-Oriented Inquiries (1965); Murty. Propaganda and World Public Order: The Legal Regulation of the Ideological Instrument of Coercion (1968); Schneider. World Public Order of the Environment: Towards an International Ecological Law and Organization (1979); ehen. An Introduction to Contemporary International Law - A PolicyOriented Perspective (1989); Murty. The International Law of Diplomacy: The Diplomatie Instrument and World Public Order (1989). 21 LassweIl. Introduction, in: Towards World Order and Human Dignity, S. XVII; vgl. Morison. Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 4; Schreuer. New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 64; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973174), S. 536 u. 557. 22 Reisman, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 124; vgl. Van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 41. 23 Rosenthai. Etude de J'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 15. 24 LassweIl. Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XVII; Rostow. Afterword in: Towards World Order, S. 562. 25 Biographical Note, vor: McDougal. RdC 1953/1, S. 135. 26 LassweIl, Introduction, in: Toward World World Order and Human Dignity, S. XIIIf.; McWhinney. AJIL Bd. 87 (1993), S. 336.

Kapitel 1: Einführung

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geblich beeinflußt28 . Von 1931 bis 1934 lehrte er an der Universität von Illinois 29 • Ab 1934 war er als Professor an der Universität von Yale tätig und blieb dort bis auf kurze Unterbrechungen bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1975 3

°.

Während des zweiten Weltkrieges arbeitete McDougal im Jahre 1942 als Assistant General Counsel für die Lend-Lease Administration und im Jahre 1943 als General Counsel im Office of Foreign Relief and Rehabilitation Operations des amerikanischen Außenministeriums 3l . Diese Tätigkeit führte zu einer Verlagerung seines Interessenschwerpunktes vom Sachenrecht hin zum Völkerrecht 32 • Dabei ist interessant, daß McDougal, der im College nur die klassischen Sprachen studiert hatte, keinen unmittelbaren Zugang zu völkerrechtlichen Texten aus den nicht-englichsprachigen Kulturkreisen besaß und diese dementsprechend in seinen Werken kaum berücksichtigte 33 . Abgesehen von seinem Graduiertenstudium in Oxford sowie Sommerkursen in Cambridge 1952 und in Den Haag 1953 34 arbeitete McDougal ausschließlich in den Vereinigten Staaten. Als Professor an der Yale Law School, zusammen mit Harvard die führende amerikanische Rechtsfakultät, beeinflußte McDougal nicht nur Studenten und Rechtswissenschaftler, sondern auch spätere amerikanische Präsidenten, Richter des Supreme Court sowie des Internationalen Gerichtshofs 35 . Neben seiner Tätigkeit als Juraprofessor und Autor akademischer Werke war McDougal auch als Experte sowie als Vertrauter und Ratgeber von Mächtigen des öffentlichen Lebens in den Vereinigten Staaten tätig 36 . So gehörte McDougal beispielsweise 1968 zur Delegation der Vereinigten Faßbender, JuS 1996, S. 85; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 549. LassweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XV u. XVII; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 542 u. 551 f. 29 Parry/Grant, Encyclopedic Dictionary of International Law, S. 221; Rostow, Afterword in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 562; Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 547. 30 Rostow, Afterword in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 562. 31 Biographical Note, vor: McDougal, RdC 1953/1, S. 135; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 555, Fußn. 97. 32 LassweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XVI; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 336; Rostow, Afterword in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 562. 33 McWhinney, AJIL Bd.87 (1993), S. 337; ders., CanYBIL Bd. 13 (1985), 27

28

S.324.

Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 15. McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 339. 36 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 563. Vgl. z. B. die 34

35

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Staaten bei der Wiener Vertragsrechtskonferenz 37 . Im Jahre 1984 war er einer der Rechtsberater der Vereinigten Staaten beim Fall "Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua" vor dem Internationalen Gerichtshof38 . Ferner war McDougal auch als inoffizieller Berater mehrerer amerikanischer Präsidenten, von Truman bis Reagan, tätig 39 . Durch seine Ratschläge half er u. a., die erste Entscheidung des Supreme Court in "Banco Nacional de Cuba v. Sabbatino" zu revidieren 4o . McDougal war ein inspirierender und charismatischer Lehrer41 . Sein Kollege Eugene V. Rostow nannte ihn "the kindest and most generous of friends and teachers", der immer bereit gewesen sei, seinen Studenten auch bei ihrem späteren Werdegang zu helfen 42 . Er wird als "extraordinarily warm and generous personality,,43 beschrieben. Eine ganz andere Facette der Persönlichkeit McDougals erlebt man dagegen, wenn es um sein wissenschaftliches Engagement geht: Hier zeigt er sich als aggressiver Streiter, der den Kampf im akademischen Meinungsaustausch durchaus genoß44 . Seine Angriffe gegenüber anderen Auffassungen sind oft sch~5 und reichen bisweilen bis zur Verspottung des wissenschaftlichen Gegners 46 . Der junge McDougal wird als "audacious innovator" geschildert47 , der sich mit Eifer und Enthusiasmus48 , aber auch mit Äußerungen der damaligen amerikanischen Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Jeanne J. Kirkpatrick, in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 59 ff. 37 McDougal, AJIL Bd. 62 (1968), S. 1021. 38 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338. 39 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338 f. 40 Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 563. 41 LassweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XIII; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335 ff. u. 339; Rostow, Afterword in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reismanl Weston, S. 563; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267; Young, AJIL Bd. 76 (1972), S. 76. 42 Katzenbach. Foreword, Yale Law Journal Bd. 84 (1975), S. VI; Rostow, Afterword in: Towards World Order, S. 564 f.; ähnlich Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S.584. 43 Katzenbach, Foreword, Yale Law Journal Bd. 84 (1975), S. VI; ähnlich Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267. 44 LassweIl, On Collaboration with McDouga1, in: Jurisprudence for a Free Society, S. XXXVII; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161. 4S Z. B. McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 102 ff.; ders., AJIL Bd. 61 (1967), S. 992 ff.; ders., AJIL Bd. 66 (1972), S. 77 ff.; ders., AJIL Bd. 82 (1988), S. 51 ff.; vgl. Rostow, Afterword in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 565; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161. 46 Z. B. McDougal, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 654 f. u. 674, Fußn. 143; ders., AJIL Bd. 82 (1988), S. 51 u. 56; vgl. Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161.

Kapitel I: Einführung

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Zähigkeit daran machte, seine eigene Theorie zu entwickeln 49 . Wenn jemand einen kritischen Artikel über ihn schrieb, fühlte er sich zu einer Erwiderung veranlaßt, in der er dem Kritiker in der Regel mangelndes Verständnis für seine Theorie vorwarfso. Eine weitere Facette der Persönlichkeit McDougals ist sein Engagement auch in politischen FragensI. Er war nie der Typ des zurückgezogenen Gelehrten, sondern eine bekannte Figur des öffentichen Lebenss2 und wird - für einen Rechtstheoretiker bemerkenswert - als "not, by training or temperament, a theorist, but a man of action"S3 charakterisiert. McDougals Rang als Rechtswissenschaftler zeigt sich u. a. darin, daß er Präsident der American Association of Law Schools sowie der American Society of International Law war und seit langem Mitherausgeber des "American Journal of International Law" istS4 . Er wird zu Recht als einer der bedeutendsten amerikanischen Völkerrechtsgelehrten und Rechtstheoretiker dieses Jahrhunderts angesehens5 . Sein Kollege Eugene V. Rostow meinte: "McDougal's achievement as a scholar is so original and bulks so large (that) no American scholar has built a house to compare with McDougal' s ...56 Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten und seine Gelehrsamkeit sind vielbewundert57 . Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 335. Rostow, Afterword in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 569. 49 Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161. 50 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 383 ff. als Replik auf Anderson; ders., AJIL Bd. 66 (1972), S. 77 ff. als Replik auf Young; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 283 ff. als Replik auf Schachter und Falk; ders., AJIL Bd. 82 (1988), S. 51 ff. als Replik auf Dorsey. 51 Vgl. Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 563. 52 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 53 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 54 Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 563; Macdonald/Johnston, International Legal Theory, in: Structure and Process, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 1228. 55 Clark, AJIL Bd. 76 (1982), S. 186; Falk, Status of Law, S. X; Katzenbach, Foreword, Yale L. 1. 1975, S. III; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 339; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161. 56 Rostow, Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S.565. 57 Falk, Status of Law, S. 642 u. 649; Friedman, The Changing Structure of International Law, S. 65; LassweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XVIII; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 339; Meron, AJIL Bd. 80 (1986), S. 14, Fußn. 58; O'Brien, Yale L. J. Bd.72 (1963), S. 414; Rostow, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Wes47

48

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

bb) McDougals Werke 58 Die ersten Aufsätze McDougals aus den 40er Jahren sowie seine erste Monographie ("Property, Wealth, Land: Allocation, Planning, Development"), die er 1947 zusammen mit David Haber herausgab, befaßten sich mit Immobiliarsachenrecht59 . 1943 erschien die erste gemeinsame Arbeit von McDougal und Harold D. Lassweil: "Legal Education and Public Policy: Professional Training in the Public Interest,,6o. Dieser Aufsatz über die Ziele und Methoden der juristischen Ausbildung an amerikanischen Law Schools enthält einen berühmt gewordenen Plan für eine Refonn der juristischen Ausbildung in den USA in Richtung auf eine Bewertung des Rechts und seiner Institutionen anhand von "policies" und Zielwerten 61 ; er war für die weitere Entwicklung der New Haven School programmatisch62 . Die wichtigsten Werke McDougals erschienen kurz hintereinander Anfang der 60er Jahre. Der erste dieser Bände ist "Studies in World Public Order" von 1960, eine Sammlung bereits früher erschienener Aufsätze von McDougal und seinen Mitarbeitern, die eine Zusammenfassung der frühen Phase der Schule von New Haven darstellt. Als zweites erschien die Monographie "Law and Minimum World Public Order" (1961, zusammen mit Florentino P. Feliciano), ein Werk zum Kriegsvölkerrecht und zur Regelung internationaler Konflikte. Der dritte Band der Serie ("The Public Order of the Oceans" von 1962, mit William T. Burke) befaßte sich mit dem Seerecht, während der vierte ("Law and Public Order in Space" von 1963, mit Harold D. LassweIl und Ivan A. Vlasic) dem Weltraumrecht gewidmet ist. Sicherlich ennöglichte es nur die Zusammenarbeit mit anderen Autoren McDougal, innerhalb von nur vier Jahren vier Werke - von denen das kürzeste gut 800 Seiten umfaßt - herauszugeben 63 . Ein weiteres gewichtiges Werk, diesmal über das Völkervertragsrecht ("The Interpretation of Agreements", mit LassweIl und James C. MilIer), erschien etwas als Nachzügler im Jahre 1967. ton, S. 562 ff.; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S.60. 58 Eine Bibliographie der Werke McDougals findet sich z. B. in Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 205 ff. sowie bei Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 577 ff. 59 Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 15 f. 60 McDougal/Lasswell, Yale L. 1. Bd. 52 (1943), S. 203 ff. und in: Studies in World Public Order, Hrsg.: McDougal, S. 42 ff. 61 Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 210. 62 McDougal, Preface, in: McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. XXI; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 490, Fußn. 166; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 535. 63 Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 16.

Kapitel I: Einführung

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Noch wesentlicher für das Verständnis von McDougals Lehre als diese umfangreichen Monographien dürften aber einige Zeitschriftenartikel und kürzere Werke sein. Insbesondere die Vorlesung, die McDougal 1953 an der Academie de Droit International in Den Haag hielt, enthält seine ganze Theorie und Methodik in Ansätzen {"International Law, Power and Policy: A Contemporary Conception,,)64. Ebenso grundlegend sind der bereits erwähnte Artikel "Legal Education and Public Policy", der 1960 erschiene Aufsatz "Some Basic Theoretical Concepts about International Law: A Policy-oriented Framework of Inquiry,,65 sowie eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Völkerrechtstheorien, die McDougal 1968 zusammen mit Lasswell und Reisman veröffentlichte: "Theories about International Law: Prologue to a Configurative Jurisprudence,,66. Einige andere Aufsätze McDougals erregten wegen ihrer Stellungnahmen zu aktuellen politischen Problemen viel Aufsehen, so insbesondere ein Artikel von 1955 über Wasserstoffbombentests67 sowie ein Artikel von 1963 über die Kuba-Krise 68 ; diese beiden Texte werden im zweiten Teil dieser Darstellung eingehend analysiert. Neuere Werke McDougals sind die Monographie "Human Rights and World Public Order - The Basic Policies of an International Law of Human Dignity" (1980, zusammen mit Lasswell und Lung-chu Chen), das Casebook "International Law in Contemporary Perspective" von 1981 (zusammen mit Reisman) sowie die als Ergänzung dazu erschiene Aufsatzsammlung "International Law Essays" aus demselben Jahr. Das jüngste Werk McDougals ist die zweibändige Sammlung früher bereits veröffentlichter Aufsätze "Jurisprudence for a Free Society: Studies in Law, Science and Policy" von 1992 (posthum zusammen mit Lasswell). Auffällig ist bei allen größeren Werken McDougals, aber auch bei vielen seiner Aufsätze, daß sie in Zusammenarbeit mit anderen Autoren entstanden sind. Die Notwendigkeit zu wissenschaftlicher Zusammenarbeit folgte schon aus dem von McDougal entworfenen Programm für Studien nach der Methodik der New Haven School, das alle wesentlichen Gebiete des Völkerrechts umfaßt, da dieses Programm alleine nicht zu bewältigen war.

McDougal, RdC 1953/1, S. 133 ff. McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 337 ff. 66 McDougal, VJIL Bd. 8/11 (1968), S. 189 ff. und in: International Law Essays. Hrsg.: McDougal/Reisman, S. 43 ff. 67 McDougal/Schlei, Hydrogen Bomb Tests in Perspective: Lawful Measures for Security, in: Yale L. J. Bd. 64 (1955). S. 648 ff. 68 McDougal, Soviet-Cuban Quarantine and Self-defense. AJIL Bd.57 (1963). S. 597 ff. 64

65

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

b) Harold D. Lasswell

aa) Biographie und Werke Harold D. LassweIl (1902-1978) begann sein Studium 1918 an der Universität von Chicago69 , wo er 1926 graduierte7o • Obwohl er hauptsächlich Politologie studierte und zwischen den Weltkriegen einer der führenden amerikanischen Politologen wurde 7 !, beschäftigte er sich auch näher mit den Wirtschaftswissenschaften, mit Soziologie, Philosophie und Psychologien. Von 1923 bis 1929 studierte und arbeitete LassweIl längere Zeit im Ausland 73 , darunter auch in Deutschland74 . Er spezialisierte sich insbesondere auf politische Psychologie. einschließlich Propaganda75 . Während des zweiten Weltkriegs und noch einige Jahre danach war er Director of War Communications Research in der Library of Congress 76. LassweIl war eine führende amerikanische Autorität in Bezug auf die Methodik der Gesellschaftswissenschaften77 und ein Vordenker der Policy-Science-Bewegung 78 . Im Jahre 1938 wurde LassweIl Visiting Lecturer für Soziologie an der Yale Law School 79 , die sich bemühte, auch Nichtjuristen zu berufen, um dadurch eine stärker rechtssoziologische und weniger berufspraktische Orientierung der Fakultät zu erreichen 8o . Seit Ende der 30er Jahre bis zu seiner Emeritierung 1970 lehrte er - von einigen Gastprofessuren abgesehen - an der Yale Law SchooI 8 !. Lasswells Brückenschlag zwischen den Gesellschaftswissenschaften und der Rechtswissenschaft zeigt sich auch Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 542. McWhinney. AJIL Bd. 87 (1993), S. 335; Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 482. 71 Dorsey. AJIL Bd. 82 (1988), S. 43, Fußn. 10; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), 69

70

S.544.

72 lohnston. The Heritage. in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonaldllohnston, S. 194; Rosenthai. Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal. S. 18; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 544. 73 Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 544. 74 McWhinney. AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 75 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 76 Dorsey. AJIL Bd. 82 (1988), S. 43, Fußn. 10. 77 McWhinney. AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 78 LassweIl. Policy Sciences, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 12, S. 182; Lasswell/Lerner. The Policy Sciences: Recent Developments in Scope and Method; vgl. Rosenthai. Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 18; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 555. 79 Tipson. VIIL Bd. 14 (1973/74), S. 548. 80 McWhinney. AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 81 Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 482.

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daran, daß er Präsident sowohl der American Political Science Association als auch der American Society of International Law 82 sowie der World Academy of Art and Science war 83 . Lasswells Werke behandeln neben soziologischen bzw. politologischen auch juristische Fragestellungen. Besonders intensiv befaßte er sich mit dem Überschneidungsbereich zwischen Politik und Psychologie in Veröffentlichungen wie "World Politics and Personal Insecurity" (1935) oder "Power and Personality" (1948). Sein Werk "Politics: Who Gets What, When, How" von 1936 wurde ein Klassiker der Politologie 84 • Zusammen mit Abraham Kaplan, einem Spezialisten für Sprachphilosophie und wissenschaftliche Methodik erarbeitete Lasswell eine Analyse, die bei der Entwicklung effektiver Propagandastrategien helfen sollte 85 . Diese Analyse, 1950 als "Power and Society" veröffentlicht86, wurde Lasswells wohl bekanntestes Werk. bb) Lasswells Rolle in der New Haven School und sein Verhältnis zu McDougal McDougal und Lasswell arbeiteten mehr als 30 Jahre lang an der Yale Law School eng zusammen 87 und veröffentlichten viele gemeinsame Werke. Beide bildeten ein bemerkenswertes und ungewöhnliches Team88 , wobei ihre produktive Zusammenarbeit über einen so langen Zeitraum umso erstaunlicher ist, wenn man die Unterschiede im Hinblick auf Persönlichkeit, Neigungen und wissenschaftlichen Hintergrund bedenkt89 • Ihre Gemeinsamkeiten beschreibt ihr Mitarbeiter Katzenbach folgendermaßen: "Both men have in common the intellectual drive to broaden perspective, to bring new insights to bear on old problems, to seek to understand the 82 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335; Reisman/Weston, About the Authors, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. IX. 83 Reisman/Weston, About the Authors, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. IX. 84 Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 545. 85 Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 43, Fußn. 10. 86 Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 43, Fußn. 10. 87 Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 566. 88 Vgl. Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 209 f.; Katzenbach, Foreword, Yale L. J. Bd. 84 (1975), S. V; LassweIl, On Collaboration with McDougal, in: Jurisprudence for a Free Society, S. XXXVf.; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 565 f. 89 Katzenbach, Foreword, Yale L. J. Bd.84 (1975), S. V; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335.

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social processes more deeply and more totally than traditional disciplines permit or even encourage. ,,90 In Anbetracht von McDougals Verständnis des Rechts als politischen Prozeß war es naheliegend, daß er sich auch für Politologie interessierte und so auf Lasswells Theorien stieß91 • McDougal strebte nach einer "relevanten" Völkerrechtslehre, während LassweIl einen Juristen suchte, der sich für eine Zusammenarbeit zwischen Gesellschaftswissenschaften und Jurisprudenz interessierte, um seine Konzepte für den Bereich des Rechts auszuarbeiten 92 • McDougal wandte von LassweIl entwickelte politologische Konzept~, die dieser für sozialwissenschaftliche Untersuchungen geschaffen hatte, auf das Recht und die Rechtswissenschaft an 93 , wobei er von LassweIl unterstützt wurde 94 • Vereinfacht läßt sich die Rollenverteilung zwischen diesen bei den Autoren so beschreiben, daß LassweIl die methodischen und begrifflichen Grundlagen des gemeinsamen Werkes schuf, während McDougal mit seinen Mitarbeitern die Theorie mit Inhalt füllte, indem er sein juristisches Spezialwissen beitrug und die Theorie auf rechtswissenschaftliche Probleme anwandte 95 . McDougal identifizierte sich anscheinend vollständig mit den von LassweIl übernommenen Konzepten und sah sie als integralen Teil ihrer gemeinsamen Theorie an 96 . Auch wenn einige Aspekte von McDougals Jurisprudenz auch ohne Lasswells konzeptionellen Apparat Bestand hätten, ist dieser ein so integraler Teil der Schule von New Haven geworden, daß eine Trennung des Apparates vom Rest der Theorie nicht sinnvoll möglich ist97 • LassweIl spielte somit eine prägende Rolle bei der Entstehung der Katzenbach, Foreword, Yale L. 1. Bd. 84 (1975), S. V. Vgl. Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 210. 92 LassweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XVI. 93 Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 210; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 482; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 52 u. 56; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 553 f.; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 64,67 und 75. Vgl. McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 337, Fußn. 3. 94 McWhinney, CanYBIL Bd. 23 (1985), S. 322; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 64 u. 67. 95 Falk, The Status of Law, S. 649; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 554. 96 McDougal, AJIL Bd. 66 (1972), S. 79 f.; ders., Preface, in: McDougal/LassweB, Jurisprudence for a Free Society, S. XXI ff.; vgl. Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 3, Fußn. 2. 97 Young, AJIL Bd.66 (1972), S. 67, Fußn, 31. McDougal selbst wendet sich gegen eine Differenzierung zwischen der Theorie einerseits und dem konzeptionellen Apparat andererseits: McDougal, AJIL Bd. 66 (1972), S. 79 f. 90 91

Kapitel I: Einführung

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Schule von New Haven 98 und beeinflußte McDougals Denken, seine Methodik und seine Begrifflichkeit stark99 . Wie sehr Lasswells Gedankenwelt Eingang gefunden hat in McDougals eigene Vorstellungen, zeigt sich schon daran, daß die Terminologie, die Lasswell in seinen sozialwissenschaftlichen Werken verwendet, und die von McDougal verwandten Begriffe meist austauschbar sind 100 . Trotzdem ist das Werk McDougals aber nicht bloß von Lasswell übernommen, sondern stellt seine persönliche Leistung dar lO1 • Da McDougal nach außen hin erheblich stärker in Erscheinung trat als Lasswell und er den juristischen Teil der New Haven School beisteuerte, wird ihm auch in diesen Darlegungen das Hauptaugenmerk gewidmet. Insgesamt kann man McDougal und Lasswell als die gemeinsamen Begründer der Schule von New Haven ansehen 102; beider Beiträge zur Schaffung dieser Schule sind untrennbar miteinander verbunden. c) W. Michael Reisman

W. Michael Reisman, geboren 1939, studierte an der Hebrew University in Jerusalern, wo er 1964 graduierte 103. Seit 1965 lehrt er Völkerrecht an der Yale Law School 104 • Er ist Mitherausgeber des American Journal of International Law und des American Journal of Comparative Law lO5 . Reisman arbeitet nicht nur zu völkerrechtlichen und rechtstheoretischen Themen, sondern auch zu soziologischen Fragestellungen 106. Er selbst Krakau. Missionsbewußtsein, S. 476; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 553. Rosenthal. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 16 f., Fußn. 2, und S. 18. 100 Krakau. Missionsbewußtsein, S. 476, Fußn. 80; ähnlich Tipson. VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 556. 101 So auch Rosenthal. Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 18, Fußn. 18. 102 Farer. AJIL Bd. 85 (1991), S. 117; Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 59; Katzenbach, Foreword, Yale L. J. Bd. 84 (1975), S. V; Macdonald/Johnston. International Legal Theory, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston S. 1228; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335 u. 337; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 572; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161. 103 Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 667. 104 Reisman, Testing a Theory about Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90. S. 104. 105 Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 667. 106 Reisman, Testing a Theory about Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 104 ff. 98 99

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

beschreibt sein Werk wie folgt: "My own work has oscillitated between the development of a theory about law and its testing and application in particular studies" 107. 1970 veröffentlichte er eine Monographie über Kontrolle und Unwirksamkeit völkerrechtlicher Urteile: "Nullity and Revision: The Review and Enforcement of International Judgments and Awards". Ferner hat er sich des öfteren mit dem Nahostkonflikt befaßt, so z. B. in seinem Werk "The Art of the Possible: Diplomatic Alternatives in the Middle East" von 1971. Zu seinen neueren Werken zählt die von ihm und Andrew R. Willard 1988 herausgegebene Aufsatzsammlung "International Incidents The Law That Counts in World Politics" sowie eine Monographie über "covert actions" von 1992 108 • Reisman veröffentlichte zwei der grundlegenden Artikel der New Haven School zusammen mit McDougal und Lasswell 109 . 1976 gab er zusammen mit Bums H. Weston die Festschrift "Toward World Order and Human Dignity" zu Ehren der Emeritierung McDougals heraus. McDougals Casebook "International Law in Contemporary Perspective" von 1981 entstand in Zusammenarbeit mit Reisman. In einigen Fragen, beispielsweise im Hinblick auf die Sicht des Völkerrechts als Kommunikationsprozeß oder auf die "incidents"-Lehre, hat Reisman die Theorie der New Haven School um wesentliche Gedanken ergänzt. Er ist seit Lasswells Tod neben McDougal der führende Vertreter der Schule von New Haven IJo . Reisman versteht sich selbst uneingeschränkt als Mitglied der New Haven School 111 • In einer großen Debattte der American Society of International Law von 1985 über die Schule von New Haven, in der auch ehemalige Anhänger McDougals wie Oscar Schachter und Richard Falk sich kritisch über den "policy-oriented approach" äußerten, vertrat Reisman gewissermaßen linientreu die Theorie der New Haven School 112 . Schon aufgrund der Tatsache, daß er einer anderen Generation als McDougal und Lasswell angehört, kommt ihm die Rolle zu, diese Schule fortzuführen und ihre 107 Vgl. Reisman, Testing a Theory about Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. lOS. 108 ReismanlBaker, Regulating Covert Action: Practices, Contexts and Policies of Covert Coercion Abroad in International and American Law. 109 McDougallLasswelilReisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, zuerst veröffentlicht in: Revision of J. Legal Ed. Bd. 19 (1967), S. 253 ff.; McDougallLasswelilReisman, Theories About International Law: Prologue to a Configurative Jurisprudence, in: International Law Essays, zuerst veröffentlicht in: VJIL Bd. 8/11 (1968), S. 189 ff. liO Vgl. Faßbender, JuS 1996, S. 86; Label, AJIL Bd. 88 (1994), S. 187; Na/ziger, AVR Bd. 24 (1986), S. 224. 111 Reisman, Testing a Theory about Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 105. 112 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 273 ff.

Kapitel I: Einführung

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Lehre an die neuen Realitäten der internationalen Gemeinschaft anzupassen. Nach dem Ende des Kalten Krieges versucht Reisman, die neue Situation zu analysieren und Vorschläge für eine Reform des Völkerrechts in Anbetracht der veränderten geopolitischen Lage zu entwickeln 113.

3. Die wichtigsten Schüler McDougals a) Lung-chu ehen

Lung-chu Chen (geb. 1935), der an der National-Universität von Taiwan studierte, arbeitete von 1964 bis 1973 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Yale Law School 114 und wurde dabei zum Schüler von McDougal und Lasswell l15 . Seit 1977 ist er Senior Research Assistant an der New York Law School l16 . Er schrieb zusammen mit Harold D. Lasswell eine Monographie über die Taiwanfrage: "Formosa, China and the United Nations" (1967)ll7. Ferner war er zusammen mit McDougal und Lasswell Verfasser des menschenrechtlichen Werkes "Human Rights and World Public Order The Basic Policies of an International Law of Human Dignity" (1980). Auch in seinem neuesten Werk, dem Völkerrechtslehrbuch "An Introduction to Contemporary International Law: A Policy-Oriented Perspective" von 1989 bekennt sich Chen zur Schule von New Haven 11 8. Dieses Lehrbuch folgt in Aufbau, Terminologie und Gesamtausrichtung der "policy-science"-Methode und stellt aufgrund seiner verständlichen Schreibweise praktisch eine Einführung in die Theorie der Schule von New Haven dar 119 . b) Richard A. Falk

Richard A. Falk (geb. 1930) lehrt seit 1961 in Prince'ton Völkerrecht 120. Er wirkte als Co-Direktor am World Order Models Project des Institute of World Order mit 12l. Falks Werke befassen sich überwiegend mit grundle113 Vgl. Reisman, AJIL Bd.84 (1990), S. 859 ff.; ders., AJIL Bd.87 (1993), S. 83 ff. 114 Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 186. 115 Almond, AJIL Bd. 84 (1990), S. 593. 116 Directory of Law Teachers 1977, Prepared by the Association of American Law Schools, S. 186. 117 About the Authors, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. VII f. 118 ehen, Introduction, S. IX f.; ders., Perspectives from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 407 ff. 119 So auch Almond, AJIL Bd. 84 (1990), S. 593. 120 Parry and Grant, Encyclopaedic Dictionary of International Law, S. 127.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

genden Fragen des Völkerrechts und der internationalen Politik. Zu seinen bekanntesten Werken gehören "Legal Order in a Violent World" (1968), "The Vietnam War and International Law" (1968), "The Status of Law in International Society" (1970) und das vierbändige Werk "The Future of the International Legal Order" (1970-72). Richard Falk wird zu Recht als "der wohl bedeutendste (und eigenwilligste) Schüler McDougals" bezeichnet 122 • McDougaI hat ausdrücklich bestätigt, daß Falk einen wichtigen Anteil an der Formulierung der "policyoriented jurisprudence" hatte 123. Er wurde durch die Lehre der New Haven School maßgeblich geprägt und vertritt teilweise weiterhin dieselben Positionen wie sie 124 , übernahm aber die Theorie nicht insgesamt 125. Falk selbst hat immer wieder den Einfluß McDougals und der Schule von New Haven auf sein Denken und sein Werk sowie seine Bewunderung für das System der New Haven School betont 126 . Während Richard Falk am Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit ein eifriger Anhänger McDougals war, änderte sich dies in den 60ern grundlegend, ausgelöst wohl durch entgegengesetzte politische Positionen Falks und McDougals zu solchen Problemen wie der Kuba-Krise und dem Vietnamkrieg 127 . Falk ist politisch erheblich liberaler und weniger nationalistisch als McDougal; sein besonderes Engagement gilt den Problemen der Entwicklungsländer und Abrüstungsfragen. Man kann den Bruch zwischen Falk und McDougal bereits in einer Rede Falks vor der American Society of Law von 1964 sehen, in der er mehrere Autoren, die - wie McDougal die Argumente der USA in der Kuba-Krise unterstützt hatten, als "legal apologetics" kritisierte und "this display of national patriotism at the expense of scholarly detachment" rügte 128 . Falk wandelte sich zu einem der 121 About the Authors, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. VIII. 122 Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, S. 295; ähnlich McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 70, Fußn. 39. 123 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 285. 124 Stone, Visions of World Order, S. 33. 125 Vgl. Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 211; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 155, Fußn. 203; Shaw, International Law, S. 56. 126 Falk, Status of Law, S. X; ders., The Role of Law in World Society, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 147 u. Fußn. 24 auf S. 163; ders., Legal Order in a Violent World, S. 80; ders., Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd.2 (1972), Suppl. 2, S. 32; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 280 f. Im Jahre 1970 schrieb Falk in Status of Law, S. XIII: "The work of Professor Myres S. McDougal lies at the intellectual center of everything that I have written". 127 Falk, AJIL Bd.61 (1967), S. 478; vgl. McWhinney, AJIL Bd.87 (1993), S.338.

Kapitel I: Einführung

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schärfsten Kritiker McDougals l29 , auch wenn er sich nicht von allen Thesen der New Haven School lossagte. McDougal selbst meinte allerdings, daß Falk kein schwarzes Schaf der New Haven School sei; die Meinungsunterschiede zwischen ihnen führte er "not to his jurisprudential frame but to his perception of the facts of the contemporary global process of effective power" zurück 130. In Anbetracht der Tatsache, daß Falk auch den konzeptionellen Apparat McDougals in seinem eigenen Werk erheblich veränderte 131 sowie angesichts der herben Kritik Falks an theoretischen Grundaussagen der New Haven School 132 bestanden die Meinungsunterschiede aber nicht nur im politischen, sondern auch im rechtstheoretischen Bereich. Daher scheint es zutreffender, ihn heute als ehemaligen Schüler McDougals anzusehen l33 , der eine ZwischensteIlung zwischen der Theorie der New Haven School und den traditionellen Völkerrechts theorien einnimmt 134. c) Rosalyn Higgins

Die Britin Rosalyn Higgins, die 1937 in London geboren wurde, studierte in Cambridge, promovierte dann aber 1962 an der Yale University, wo sie mit der Schule von New Haven in Kontakt kam l35 . In den Jahren 1963 und 1976 lehrte sie an der Yale Law School als Gastprofessorin 136 . Sie gehört als Queen's Counsel zur Elite der britischen Anwaltschaft 137 und lehrte seit 1981 Internationales Recht an der London School of Economics 138• Seit 1984 war Rosalyn Higgins Mitglied des Committee on Human Rights under the International Covenant on Civil and Political Rights 139. Zu ihren Interessengebieten zählen insbesondere die Arbeit der Vereinten Nationen, wozu u. a. ihr Werk "The Development of International Law Falk. Proc ASIL Bd. 56 (1964), S. 4 f. So z. B. Falk. Legal Order in a Violent World, S. 80 ff.; ders., The Status of Law in International Society, S. 41 ff. und 642 ff.; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 280 ff. 130 McDougal. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 285. 131 Young. AJIL Bd. 66 (1972), S. 70 u. Fußn. 39. 132 Vgl. z. B. Falk. The Status of Law, S. XI; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 283. 133 McWhinney. AJIL Bd.87 (1993), S. 338; Schachter. AJIL Bd.72 (1978), S. 162; Tipson. VJIL Bd. 14 (1973174), S. 536, Fußn. 9. 134 Brownlie. Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 97. 135 Biographical Note zu Higgins, RdC 1982/I1I, S. 264. 136 Biographical Note zu Higgins, RdC 1991IV, S. 16. 137 Gerd Kröncke. in: Süddeutsche Zeitung vom 24.07.1995, S. 4. 138 Biographical Note zu Higgins, RdC 1991 IV, S. 16. 139 Biographical Note zu Higgins, RdC 19911V, S. 16. 128

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3 Voos

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

through the Political Organs of the United Nations" (1963) und eine vierbändige Dokumentation einschließlich Kommentar zu friedenserhaltenden Maßnahmen erschien, sowie menschenrechtliche Fragen. Wie eng ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind, zeigt u. a. die Tatsache, daß sie zu den Herausgebern des American Journal of International Law gehörte 140. 1995 ist Rosalyn Higgins als erste Frau zum ständigen Mitglied des Internationalen Gerichtshofs gewählt worden 141. Rosalyn Higgins versteht sich selbst als eher zur neueren amerikanischen Völkerrechtslehre als zur traditionellen britischen Völkerrechtswissenschaft tendierend 142. Sie wurde von der New Haven School stark beeinflußt und ihre Arbeit ist bis in die jüngere Zeit teilweise erheblich von dieser Theorie geprägt l43 . Sie zählt zum Kreis derjenigen Autoren, die einige Grundzüge des "policy-oriented approach" teilen, aber nicht das gesamte System der New Haven School übernommen haben, sondern es für ihr eigenes Werk abänderten 144.

4. Reaktion der Völkerrechlswissenschaft auf die New Haven School a) Aufnahme durch die amerikanische Völkerrechtslehre Im folgenden Kapitel soll untersucht werden, wie die von McDougal und LassweIl entwickelte völkerrechtliche Theorie und Methodik von der amerikanischen Völkerrechtslehre aufgenommen wurde. Auf die Aufnahme, die die Schule von New Haven in Europa fand, soll anschließend kurz eingegangen werden. McDougals Theorie wurde von Anfang an und wird auch heute noch ganz übereinstimmend als Gegensatz zur traditionellen Sicht des Völkerrechts aufgefaßt 145. Seine Theorie stellt eine radikale, revolutionäre HerausBiographical Note zu Higgins, RdC 19911V, S. 16. Gerd Kräncke, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.07.1995, S. 4. 142 Higgins, Introductory Statement, in: Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 1 ff.; dies., ICLQ Bd. 17 (1968), S. 58 ff.; vgl. Gerd Kräncke, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.07.1995, S. 4. 143 Vgl. Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 58 ff.; dies., Integrations of Authority and Contral, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 79 ff.; dies., RdC 1991/V, S. 26 ff. 144 Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 59, insbes. Fußn. 3; vgl. Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 162; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 70 u. Fußn. 39. 145 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 378 f.; Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 216; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 118 f.; Friedman, Changing Structure of International Law, S. 68; Johnson, Georgia Journal of Int. and Comp. Law Bd.2 (1972), Suppl. 2, S. 18; Mendelson, BYIL Bd. 54 (1983), S. 258; Nardin, Law and Morali140 141

Kapitel I: Einführung

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forderung gegenüber den etablierten Auffassungen dar 146 . Bruno Simma ordnet McDougals Lehre zutreffenderweise als "am extremen Ende der Skala der vom sog. ,klassischen' Schema abweichenden Meinungen" stehend ein und als "Antithese zur traditionellen, vergleichsweise statischen Doktrin" 147. McDougal wurde daher zunächst als "enfant terrible" angesehen 148 . Während der Phase, in der LassweIl und McDougal die Grundzüge ihrer Theorie entwickelten, schwammen sie sowohl im Völkerrecht als auch in den Sozialwissenschaften gegen den Trend, der zu dieser Zeit in Richtung auf wertfreie Wissenschaft ging 149 • McDougal stand in den Vereinigten Staaten aber insofern nicht allein da, als dort seit dem Aufkommen des "legal realism" eine lebhafte völkerrechtliche Methodendiskussion stattfand 150. Damals wurde eine im Grundsatz unterschiedliche Einstellung von amerikanischen Völkerrechtsgelehrten einerseits und den britischen bzw. europäischen Völkerrechtsgelehrten andererseits konstatiert l51 . Simma beschrieb die Situation als "methodologischen Kreuzzug" 152, der von zornigen jungen Amerikanern gegen die europäische Völkerrechtslehre - als hauptsächliche Vertreterin der traditionellen Schule des Völkerrechts 153 - geführt werde. ty, S. 201 u. 208; Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 63; Shaw, International Law, S. 54; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61. 146 Baum, Jahrbuch Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 1 (1970), S. 262; Finch, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 4l~2 (1947~8), S. 50; Falk, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 32; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 117; Katzenbach, Foreword, Yale L. 1. Bd. 84 (1975), S. 111; LassweIl, Introduction, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. XIII; Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 4; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 208; Stone, Visions of World Order, S. 20; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 584; Tugwell, Yale L. J. Bd. 58 (1949), S. 812. 147 Simma, Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, S.29. 148 Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161; ähnlich Higgins, AJIL Bd. 66 (1972), S.646. 149 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 75 f.; Katzenbach, Foreword, Yale L. 1. Bd. 84 (1975), S. 111. 150 Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 209; Rostow, Afterword, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 566 u. 572; Simma, Festschrift Kolb, S. 344. 151 Brownlie, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 97; Falk, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 29 u. 32; Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 58 u. 60; dies., Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 1 f.; Schachter, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 7 u. 10; a. A. z. B. Lauterpacht, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 23. 152 Simma, Festschrift Kolb, S. 346.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Ab Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre waren die Thesen der New Haven School unter amerikanischen Völkerrechtsgelehrten allgemein bekannt l54 . McDougals Theorie fand viele Anhänger und Bewunderer l55 , verbreitete sich immer weiter und gewann einen großen Einfluß in der amerikanischen Völkerrechtswissenschaft l56 . Sowohl aus der steigenden Zahl der Mitarbeiter und Sympathisanten McDougals als auch aus der erheblichen Anzahl an Buchrezensionen und sonstigen Artikeln, die der Schule von New Haven während dieses Zeitraums gewidmet wurden, läßt sich ableiten, daß McDougal in der damaligen rechtswissenschaftlichen Diskussion in den USA eine wichtige Rolle spielte 157. Trotzdem wurde die Theorie der New Haven School nicht zur vorherrschenden Meinung in den USA 158. Die uneingeschränkten Anhänger der New Haven School blieben eine Minderheit, auch wenn einige Thesen McDougals breitere Aufnahme fanden. Selbst auf dem Höhepunkt der Verbreitung der New Haven School kann McDougal nicht als wirklicher Anführer der amerikanischen Völkerrechtslehre angesehen werden, weil er zu sehr mit den klassischen Auffassungen kollidierte 159. So schrieb Oscar Schachter 1978 über die Schule: "Familiarity has not removed its disturb153 Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 84; Na/ziger, AVR Bd. 24 (1986), S. 215 f.; Schachter, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 7 u. 10; Warbrick, Introduction, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/Carty/Koskenniemil Warbrick, S. XI. 154 Falk, Role of Law, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 152; Freeman, AJIL Bd. 58 (1964), S. 711; Schachter, AJIL Bd. 72 (1978), S. 161; Stone, Visions of World Order, S. 11. 155 Z. B. Dillard, Conflict and Change, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 51; Greig, International Law, S. 17 f.; Kaplan/Katzenbach, The Political Foundations of International Law, S. VII; Lissitzyn, California Law Review Bd. 52 (1964), S. 447; O'Brien, Yale L. J. Bd. 72 (1963), S. 413 ff. 156 Falk, The Role of Law, in: Toward World Oder, Fußn. 24 auf S. 163; Faßbender, JuS 1996, S. 86; Lissitzyn, California Law Review Bd. 52 (1964), S. 448; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200; Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 63 f.; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 507 f.; Simma, Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, S. 29, Fußn. 61; ders., Festschrift Kolb, S. 344; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973174), S. 577. 157 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 459; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 17; Simma, Festschrift Kolb, S. 344. 158 Higgins, Integration of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 90; dies., ICLQ Bd. 17 (1968), S. 59; ähnlich Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 75; vgl. auch Katzenbach, Yale L. J. Bd. 84 (1975), S. V; a. A. Schachter, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd.2 (1972), Suppl. 2, S. 10; Schweizer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 508.

Kapitel I: Einführung

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ing character. Its conception of policy-oriented international law still evokes passionate reaction. The battlelines remain drawn on whether the ,jurisprudence of values' would politicize law and destroy its distinctive character" 160. Zu den schärfsten amerikanischen Kritikern McDougals zählten dabei Leo Gross1 61 , Louis Henkin 162 und Oran R. Young 163 . Einige der Thesen, die McDougal und seine Schule vertreten, haben sich - zumindest in den Vereinigten Staaten - durchgesetzt. So trugen McDougals Bemühungen, das Interesse für Werte und "public policy" zu wecken, erheblich zu einer Umorientierung der Rechtswissenschaft bei 164. Ferner spielte McDougal eine wichtige Rolle bei der Ausweitung des Interesses für die Beziehungen zwischen dem Inhalt des Rechts einerseits und dem politischen und sozialen System, in dem das Recht wirkt, andererseits 165 . Es klingt heute auch nicht mehr revolutionär, das Recht als Teil eines Prozesses anzusehen 166. Auch eine größere Wissenschaftlichkeit 167 hat sich in der Völkerrechtslehre durchgesetzt. Ebenso hat McDougal im Hinblick auf die Sicht der Aufgaben von Juristen 168 und auf den Nutzen interdisziplinärer Zusammenarbeit 169 erheblich zu einer Veränderung von Einstellungen beigetragen. 159 Falk, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp\. 2, S. 32; Friedman, The Changing Structures of International Law, S. 66; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 17 f. 160 Schachter, AJIL Bd.72 (1978), S. 161; vg\. Reisman, The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 124. 161 Gross, AJIL Bd. 59 (1965), S. 48 ff. 162 Henkin, Force, Intervention and Neutrality in Contemporary International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 147 ff. 163 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 60 ff. 164 Almond, AJIL Bd. 84 (1990), S. 594; Falk, Role of Law, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, Fußn. 24 auf S. 163; Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 62; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 76. 165 Abort, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 185; Almond, AJIL Bd. 84 (1990), S. 594 f.; Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 89; dies., Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp\. 2, S. 2 f.; Na/ziger, AVR Bd. 24 (1986), S. 217; Shaw, International Law, S. 51; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 76. 166 Katzenbach, Foreword, Yale L. 1. 1975, S. III f.; ferner Higgins, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp\. 2, S. 2 f.; Na/ziger, AVR Bd. 24 (1986),

S.216.

167 Macdonaldllohnston, International Legal Theory, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonaldllohnston, S. 4; McWhinney, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd.2 (1972), Supp\. 2, S. 110; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 540 ff. 168 Falk, Role of Law, in: Toward World Order, Fußn. 24 auf S. 163; Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 59; Shaw, International Law, S. 51.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Trotz der Bedeutung und des Einflusses dieser Theorie wäre jedoch die Wertung, die New Haven School habe sich inzwischen durchgesetzt, nicht zutreffend. Noch immer ist die positivistische Schule führend 170, während die Theorie und Methodik der Schule von New Haven bis heute nicht zur herrschenden Meinung geworden ist!7!. Obwohl Jahrzehnte verstrichen sind, seit McDougal das erste Mal seine provozierenden Thesen aufgestellt hat, ist die Schule von New Haven bis in die Gegenwart hinein umstritten!72. Die Diskussion wird aber inzwischen weit weniger intensiv und heftig geführt als zur Hauptphase der Schule von New Haven 173 • Oran R. Young faßte seine sehr überzeugende Einschätzung der gegenwärtigen Position der Schule von New Haven zwischen Völkerrechtswissenschaft und International Relations Theory wie folgt zusammen: "My sense is that they offered a system of thought, a program, that failed to capture the center, the mainstream of either field C... ) and that they stand as constructive nuisances on the peripheries of both fields - constructive in the sense that we would be intellectually poorer for not having had them,,174. Nach der Emeritierung McDougals 1975 und dem Tod von LassweIl 1978 scheint die Schule von New Haven aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verschwunden zu sein; sie ist auf dem Weg, nur noch als historische Phase der völkerrechtlichen Diskussion angesehen zu werden. Michael Reisman und andere Anhänger McDougals bemühen sich jedoch weiterhin, die Theorie und Methodik dieser Schule fortzuentwickeln und die Diskussion über ihre Thesen wachzuhalten.

169 Macdonald/Johnston, International Legal Theory, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 4 u. 8; Ahott, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 185. 170 Macdonald/Johnston, International Legal Theory, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 7. 171 Burley, Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 187: Na/ziger, AVR Bd.24 (1986), S. 224; Young, Diskussionsbeitrag, Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 187. 172 Vgl. Clark, AJIL Bd.76 (1982), S. 184 ff.; Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 41 ff.; Farer, AJIL Bd.85 (1991), S. 117 ff.; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200 ff.; Schachter, International Law in Theory and Practice, S. 29 f.; Stone, World Order: Between State Power and Human Justice, S. 5 f.; a. A. wohl Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allottl Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. 11, der meint, daß sich heute kaum noch jemand an diesen Debatten beteilige. 173 Vgl. Mendelson, BYIL Bd. 54 (1983), S. 258. 174 Young, Diskussionsbeitrag, Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 187; ihm folgend Burley, Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 187.

Kapitel I: Einführung

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b) Aufnahme durch die europäische Völkerrechtslehre In Europa war die Diskussion über die Thesen der Schule von Haven begrenzter und verhaltener als in den Vereinigten Staaten. Die päische Völkerrechtslehre befaßte sich überwiegend nicht oder nur flächlich mit dieser neuen Schule, aber die Diskussion über sie ist bis nicht verstummt 175 .

New eurooberheute

Soweit eine Reaktion auf McDougals Thesen erfolgte, war sie meistens skeptisch oder negativ 176 . Im stärker traditionell geprägten Europa wurde die New Haven School relativ schnell als abwegig abgetan l77 . Außer Rosalyn Higgins zeigten sich nur wenige europäische Autoren von der New Haven School angetan 178. In Deutschland war die Reaktion ebenso zurückhaltend bis ablehnend wie in anderen europäischen Staaten: "All dies läuft in unseren Breiten wohl auf eine Ablehnung McDougals hinaus, der (... ) auch bei der Lösung konkreter Fragen mit seiner wertbezogenen Methode auf keine große Gegenliebe stieß" 179. Bruno Simma kritisierte McDougal zwar scharf 180 , meinte aber trotzdem, daß "der theoretische Einblick des ,New Haven 175 Z. B. Bühring, Einfluß von Sicherheits interessen auf die Entwicklung des Völkerrechts (1991), S. 20 ff.; Kadelbach. Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 155 ff.; Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/ Carty/Koskennierni/Warbrick, S. 10 f. (1991); Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit von Normen des Völkergewohnheitsrechts (1990); Warbrick. Introduction, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. XI ff. (1991). 176 Z. B. Allalt, BYIL Bd. 45 (1971), S. 105 ff.; Baum, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 1 (1970), S. 262 f.; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 155 ff.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 459 ff.; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit von Normen des Völkergewohnheitsrechts, S. 52 ff.; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/65), S. 465 ff.; van Hooj. Rethinking the Sources of International Law, S. 39 ff.; vgl. Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: SimmalBlenk-Knocke, S. 508 f.; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 583. 177 Mendelson, BYIL Bd. 54 (1983), S. 258; Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung. Hrsg.: Schreuer, S. 63; Warbrick, Introduction, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. XI ff. Vgl. Brownlie, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 97: "One hears of the Yale school a great deal and perhaps one overreacts to the Yale school." 178 SO Z. B. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, der aber auch Kritik äußert; Schreuer. New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 63 ff. 179 Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 509. 180 Simma. Festschrift Kolb, S. 344 ff.; ders., Das Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, S. 29 ff.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

approach' in die zwischenstaatlichen Entscheidungsprozesse ohne Schwierigkeiten auch für eine Völkerrechtsauffassung fruchtbar gemacht werden kann - und soll -, die, wie die hier vertretene, grundsätzlich am traditionellen Normkonzept festhält, ohne sich jedoch in der Handhabung normativer Dogmatik zu erschöpfen,,181. Die am tiefsten gehende Auseinandersetzung mit McDougals Theorie in Europa dürfte wohl die 1970 veröffentlichte französische Dissertation von Bent Rosenthai darstellen 182. Die New Haven School ist demnach im wesentlichen ein typisch amerikanisches Phänomen geblieben 183. Die Gründe für die Zurückhaltung der europäischen Völkerrechtslehre gegenüber dieser Schule könnten außer in der gewöhnungsbedürftigen und das Verständnis erschwerenden Terminologie der New Haven School und in McDougals Nationalismus auch in dem Bemühen liegen, sich von der Dominanz der amerikanischen Kultur zu befreien 184.

Kapitel 11

Die Definition des Völkerrechts Die Schule von New Haven unterscheidet sich bereits in der Definition ihres Hauptgegenstandes erheblich von der traditionellen Völkerrechtsdoktrin. Dementsprechend grenzt sie auch den Geltungsbereich des Völkerrechts anders ab und hat eine von der herkömmlichen Auffassung abweichende Meinung zur Entstehung von Völkerrecht. Zur Verdeutlichung dieser Unterschiede soll im Folgenden jeweils McDougals Kritik an der vorherrschenden "klassischen" Völkerrechts lehre sowie sein Gegenentwurf wiedergegeben werden. Wenn dabei die durchaus unterschiedlichen traditionellen Völkerrechtstheorien vereinfachend als eine klassische Theorie dargestellt werden, damit sich ein klarerer Gegenentwurf zur Schule von New Haven ergibt, so orientiert sich dies an der zur Zeit überwiegend vertretenen Theorie des gemäßigten Positivismus. 181 Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, S. 296. 182 Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal en Matiere de Droit International Public. 183 McWhinney, CanYBIL Bd.23 (1985), S. 324; Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 64; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 583; a. A. Katzenbach, Foreword, Yale L. 1. Bd. 84 (1975), S. III. 184 So auch Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 64; Tipson, VJIL Bd. 14 (197/74), S. 583.

Kapitel II: Die Definition des Völkerrechts

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1. Die Definition des Völkerrechts als "process of decision" a) Kritik an der traditionellen Völkerrechtsdefinition

aa) Einleitung Die derzeit vorherrschende Definition des Völkerrechts wurde wohl am klassischsten von Brierly formuliert: "The Law of Nations, or International Law, may be defined as the body of rules and principles of action which are binding upon civilized states in their relations with one another" I 85. Ignaz Seidl-Hohenveldern definiert das Völkerrecht als "die Summe der Normen, die die Verhaltensweisen festlegen, die zu einem geordneten Zusammenleben der Menschen dieser Erde notwendig und nicht im innerstaatlichen Recht der einzelnen souveränen Staaten geregelt sind,,186. Die traditionellen Völkerrechtstheorien verstehen das Völkerrecht also als System von Normen l87 ; daher werden herkömmlicherweise die Klärung des Inhalts der Rechtsnormen und ihres Verhältnisses zueinander sowie ihre Anwendung auf konkrete Problemfälle als die wichtigsten juristischen Aufgaben angesehen 188 . Zusammengefaßt enthält die klassische Definition im wesentlichen zwei Elemente: Zum einen handelt es sich beim Völkerrecht um eine Gesamtheit von Normen, zum anderen regeln diese Normen das Verhalten von Staaten untereinander. McDougal und Lasswell fassen das traditionelle Rechtsverständnis mit deutlich skeptischem Unterton folgendermaßen zusammen: "What is commonly called ,the law' can thus be defined as a syntactic system of propositions composed of terms that are supposedly defined, plus some admittedly indefinable terms, whose modes of combination are governed by certain postulates and ruIes. In venerable fiction this system, like that of a science or a theology, is internally consistent and complete in its reference; from its central terms, definitions, and rules, all possible relations can be deduced,,189. Dabei gehe die klassische Völkerrechtstheorie davon aus, daß die 18S Brierly. Law of Nations, S. I; ähnlich Oppenheim/Lauterpacht. International Law, S. 4 f. 186 Seidl-Hohenveldern. Völkerrecht, Rn. I. 187 Higgins, RdC 1991/V, S. 24; Macdonaldllohnston, International Legal Theory, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonaldl1ohnston, S. 7; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 205 f.; Schachter, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 7; WestonIFalk/D'Amato, International Law and World Order, S. 8; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61. 188 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61. 189 McDougallLasswell, Legal Education, in: Studies in World Public Order, S. 8; ähnlich McDougal/Reisman. International Law in Contemporary Perspective, S. 2.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

überkommene Rechtsordnung sowohl umfassende Lösungen für die wesentlichen Probleme der internationalen Gemeinschaft biete als auch die von ihr bevorzugten Werte verkörpere l9o . Die New Haven School sieht diese traditionelle Auffassung als statisch und mechanistisch an: "The rule-oriented approaches tend to view international law dogmatically as a static body of auto-operational rules - rules that are given and self-contained and operate automatically,,191. Sie kritisiert das herkömmliche Verständnis des Völkerrechts als System von Nonnen hauptsächlich im Hinblick darauf, daß es die Wirklichkeit ungenügend wiedergebe und daß es Völkerrechtsgelehrte sowie Entscheidungsträger in den internationalen Beziehungen nicht ausreichend bei der Erfüllung ihrer vielen verschiedenen Aufgaben unterstütze l92 . bb) Wiedergabe der Wirklichkeit Die Schule von New Haven lehnt grundsätzlich die Vorstellung ab, daß Nonnen eine unveränderliche metaphysische Existenz neben der physischen Realität haben; sie verwirft also die Annahme der Autonomie des Rechts: "Rules are not autonomous absolutes and do not exist in a vacuum,,193. Nach Auffassung dieser Schule ist es eine unzutreffende Vereinfachung, das Völkerrecht als gegenüber der Politik autonom anzusehen und deshalb vor politischen Faktoren und den Auswirkungen auf Werte die Augen zu verschließen 194. Die traditionellen Theorien hätten einen übennäßig optimistischen Glauben an die Effektivität technischer Rechtsvorschriften und -konzepte, was sich besonders in ihrer Annahme zeige, daß sich vorherbestimmte Rechtsfolgen automatisch, d. h. unabhängig von faktischen Umständen, politischen Zielen etc. aus Rechtsnonnen ergeben würden l95 . 190

S.80.

McDougal/Lasswell. Legal Education. in: Studies in World Public Order,

191 ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 11; ähnlich Higgins. ICLQ Bd. 17 (1968), S. 58; McDougal/Reisman. International Law in Contemporary Perspective, S. 3; Reisman. Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6. 192 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. I f.; McDougal/Reisman. International Law in Contemporary Perspective, S. 5; Reisman. Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 234 f.; vgl. ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 11 f. 193 ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; Falk. The Status of Law in International Society, S. XI; McDougal. Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 1 f.; ders., Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd.53 (1959), S. 123; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 98; vgl. Steiner. International Law, Doctrine and Schools of Thought in the Twentieth Century, in: EPIL Bd. 7, S. 305. 194 McDougal. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 284; ähnlich McDougal. Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948~9), S. 263.

Kapitel 11: Die Definition des Völkerrechts

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Die New Haven School fordert, das Völkerrecht in den tatsächlichen Zusammenhang der zeitgenössischen Realität statt in die unwirkliche Welt autonomer Normen und logischer Übungen zu stellen l96 . Sie selbst erreicht dies, indem sie das Völkerrecht als sozialen Prozess beschreibt l97 . Statt das Völkerrecht als Gesamtheit von Normen anzusehen, die eine von ihrer Schaffung und Anwendung losgelöste, geistige Existenz haben, konzentriert sich die Schule von New Haven - in Anlehnung an die Legal Realists auf die Handlungen der Schaffung und Anwendung von Normen selbst l98 . McDougal hält die traditionelle Auffassung, nach der juristische Entscheidungen allein anhand von Normen zu treffen sind, für realitätsfern. Normen allein könnten und sollten nicht darüber bestimmen, wie juristische Entscheidungen ausfallen: "Technical legal rules, divorced from the content of the policy perspectives of decision-makers and the groups with which they identify, are not competent to coerce or predict decisions or to prescribe what decisions ought to be or even adequately to describe what decisions have been,,199. McDougal bemängelt daher "over-emphasis, by most writers and many decision-makers, upon the potentialities of technical ,legal' rules, unrelated to policies, as factors and instruments in the guiding and shaping of decisions,,2oo. Juristische Entscheidungen würden nicht von den Normen selbst getroffen, da diese sich nicht selbst anwenden könnten, sondern von Menschen 2ol . Die Schule von New Haven beruft sich dabei auf den Legal Realism 202 , insbesondere auf Dean Hardy Dillard, der meinte: "The ,law' is thus not a ,something' impelling obedience; it is a constantly evolving process of decision making (... ). So viewed, norms of law should be considered less as compulsive commands than as tools of thought or instruments of analysis,,203.

McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 5 f. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 14; McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41--42 (1947--48), S. 48 f. 197 Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 83; vg\. Steiner, International Law, Doctrine and Schools of Thought in the Twentieth Century, in: EPIL Bd. 7, S. 305. 198 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 5 f.; vg\. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 189. 199 McDougal, RdC 1953/1, S. 155 f.; ebenso McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 123. 200 McDougal, RdC 1953/1, S. 143; ähnlich ders., Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp\. 2, S. 114; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 19. 201 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 3. 202 Vg\. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 469, Fußn. 47. 195

196

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Das Völkerrecht ist nach Meinung dieser Schule schon deshalb nicht automatisch anwendbar, weil es kein in sich geschlossenes System darstelle 204 . Das folge bereits daraus, daß juristische Begriffe generell "neither internally consistent nor comprehensive in their reference" seien, sondern mehrdeutig, lückenhaft und widersprüchlich 205 . Juristische Konzepte hätten ebenso wie alle Worte nur eine Bedeutung im Hinblick auf den Zusammenhang, in dem sie gebraucht würden 206 . Die Normanwendung sei nie mechanisch 207 , denn die strittigen Fakten ließen sich nicht klar unter juristische Konzepte subsumieren208 . Die Schule von New Haven meint ferner, daß entgegen der herrschenden Auffassung außer Normen noch viele andere Faktoren in der Praxis die juristische Entscheidungsfindung beeinflussen würden: "From the perspective of a scientific ob server, it is obvious that the behavior of decision-makers in the world power process is influenced by many variables, environmental and predispositional, other than legal rules,,209. Auch diesen Kritikpunkt hat die Schule von New Haven vom "Legal Realism" übernommen 21O, der insbesondere die Bedeutung des Einflusses von Herkunft, Vorurteilen etc. auf die Entscheidung eines Richters betonte. Die Weigerung der klassischen Theorie, die Bedeutung politischer und sozialer Faktoren anzuerkennen, könne das Völkerrecht nicht "neutral" halten, denn auch diese Weigerung habe politische und soziale Konsequenzen 211 .

203 Dillard. The Policy-Oriented Approach to Law, Va. Q. Rev. 1964, S. 629, zitiert bei McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 98 f., Fußn. 193. 204 McDougal/Lasswell. Legal Education, in: Studies in World Public Order, S.82. 205 McDougal/Lasswell. Legal Education, in: Studies in World Public Order, S. 82 f. und ähnlich S. 43; McDougal. Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 54 f.; McDougal/Reisman. The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 362 f. 206 Vg\. McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 82 f.; McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 4242 (1947-48), S. 48 f. 207 Higgins. RdC 19911V. S. 32. 208 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 83. 209 McDougal. RdC 1953/1, S. 155; ferner: McDougal. AJIL Bd.46 (1952), S. 110; ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 58; ders., Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp\. 2, S. 117; McDougal/Burke. The Public Order of the Ocean, S. 8; Higgins. Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 84; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 11. 210 Vg\. Rosenthai. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 70; Krakau. Missionsbewußtsein, S. 472 f.

Kapitel 11: Die Definition des Völkerrechts

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Die Vorstellung der quasi-automatischen Normanwendung sei auch deswegen völlig unrealistisch, weil in der Regel nicht nur eine Norm, sondern zwei einander entgegengesetzte Prinzipien auf dasselbe Problem anwendbar seien: "Legal principles have, unfortunately, the habit of traveling in pairs of opposites.,,212 Aufgrund dieser sich paarweise gegenüberstehenden Grundsätze könne man mit zwei entgegengesetzen Argumentationslinien zwei einander widersprechende Entscheidungen gleich gut begründen, je nach dem, von welchem Prinzip man als Grundlage ausginge. Die Wahl zwischen den entgegengesetzten, aber gleichermaßen auf den Fall anwendbaren Prinzipien hänge von einer subjektiven Vorliebe des Entscheidungsträgers ab: "A judge who must choose between such principles can only offer as justification for his choice a proliferation of other such principles in infinite regress or else arbitrarily take a stand and state his preference.,,213 Die juristische Entscheidung ergibt sich daher für die New Haven School nicht logisch aus dem Rechtssystem sondern anhand außerrechtlicher Überlegungen und sie erfordert eine Abwägung zwischen unterschiedlichen Interessen 214 . Die traditionelle Völkerrechtstheorie überschätze dagegen Normen: "Legal concepts and doctrines, which in theory are instrumental only, are too often presented as if they embodied the prime democratic values of society.,,215 Dabei zielt die Kritik der New Haven School, daß Normen traditionellerweise nur zur nachträglichen Rechtfertigung von Entscheidungen dienten, nicht auf einen Mißbrauch durch einzelne, sondern stellt eine prinzipielle Kritik dar216 . cc) Nutzen der Definition bei der Erfüllung juristischer Aufgaben Der zweite grundlegende Kritikpunkt der Schule von New Haven an der klassischen Definition des Völkerrechts als Gesamtheit von Normen neben dem Vorwurf der unzureichenden Wiedergabe der Realität - betrifft 211 Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 85. 212 McDougal/Lasswell, Legal Education, in: Studies in World Public Order, S. 83; ebenso Falk, Legal Order in a Violent World, S. 84; McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 61 f.; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 2 f.; Moore, Law and the Indo-China War, S. 66, insbes. Fußn. 20. 213 McDougal/Lasswell, Legal Education, in: Studies in World Public Order, S. 83; vgl. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 13; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 85. 214 Vgl. McDougal, Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 3 f. 215 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 43. 216 So auch Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 81.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

die Frage, wie hilfreich diese Definition bei der Lösung völkerrechtlicher Probleme ist. Nach Auffassung der New Haven School gibt der traditionelle Völkerrechtsbegriff die komplexen Aufgaben, die Völkerrechtsgelehrte und Entscheidungsträger erfüllen müßten, nur unvollkommen wieder und biete deshalb auch kaum Hilfestellung bei deren Bewältigung217 . So würden Normen nicht einfach gefunden und angewandt, denn die Bestimmung des jeweils geltenden Rechts sei Teil der Aufgabe des Entscheidungsträgers218 . Es müsse erst geklärt werden, wie die jeweils geltenden Rechtsnormen tatsächlich festgestellt würden, insbesondere da es keinen allgemein anerkannten Gesetzgeber gebe 219 . Die traditionelle Vorstellung von Recht als quasi-automatisch anwendbaren Regeln könne das Wahlelem('nt nicht vermeiden; da sie aber jede Notwendigkeit einer Wahl ableugne, biete sie auch keine Hilfestellung für die erforderliche Wahl 22o . Das klassische Völkerrechtsverständnis lenke durch seine Konzentration auf Normen den Blick nicht ausreichend auf andere Faktoren, die beim Treffen völkerrechtlicher Entscheidungen beachtet werden müßten 221 , insbesondere enttäuschten die normorientierten Theorien der europäischen Völkerrechtsgelehrten durch "absence of sensitivity to political context, to policy and to sociopolitical consequence,,222. Es genüge für die Lösung völkerrechtlicher Probleme nicht, die passende Völkerrechts norm zu finden, sondern daneben müßten u. a. die angestrebten Werte und die Konsequenzen einer Entscheidung für diese Werte geklärt werden 223 . Die New Haven School ist der Ansicht, man könne geltendes Völkerrecht nicht einfach aus Entscheidungen in der Vergangenheit ableiten, sondern müsse zumindest prüfen, ob eine solche gewohnheitsrechtliche Norm 217 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 58 f.; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 9; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 6. 218 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; Higgins, RdC 1991/V, S. 25. 219 McDougal, Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 55; ders., Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960) S. 342; McDougal/Reisman, International Law in Contemporary Perspective, S. 3. 220 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; Higgins, RdC 1991/V, S. 28; McDougal, RdC 1953/1, S. 148; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 19. 221 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 9; ähnlich McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/II (1965), S. 831. 222 Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S. 507; ebenso ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 11; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 106. 223 Reisman, The View from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 124; ähnlich McDougal, Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 19; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 283 f.

Kapitel II: Die Definition des Völkerrechts

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auch für die Gegenwart und unter diesen Begleitumständen gelte 224 . Aus früheren Entscheidungen abgeleitete Normen bezögen sich oft zu sehr auf die Vergangenheit, um taugliche Lösungen für neue Probleme der Gegenwart liefern zu können: "Conceptions of law which are premised on high veneration of the past and attempts to replicate it in current decision are hardly likely to be relevant.,,225 Wenn das Völkerrecht nur eine Gesamtheit von Normen und damit von "accumulated past decisions" wäre, wäre es nach dieser Auffassung nicht in der Lage, in einer sich verändernden Welt einen Beitrag zu leisten, sondern würde nur den status qua schützen226 . Daher hält die New Haven School eine Prüfung der Fortgeltung einer Norm vor ihrer Anwendung für erforderlich. Als weiteren Punkt, in dem der klassische Völkerrechtsbegriff bei der Erfüllung juristischer Aufgaben nicht weiterhelfe, führt McDougal die sog. "normative ambiguity" an: Die Aussage, die Rechtslage sei so und so, sei mehrdeutig, weil sie mehrere verschiedene Aussagen enthalte. Umfaßt werde davon sowohl eine Beschreibung der früheren Entscheidungen von Entscheidungsträgem und eine Vorhersage ihrer künftigen Entscheidungen als auch das Vorschreiben bestimmter gegenwärtiger Entscheidungen. Die Zuschreibung dieser vielen verschiedenen Funktionen überfordere aber die Fähigkeiten von Normen und schaffe Verwirrung 227 . Gleichzeitig werde die Vielfalt der von Juristen zu erfüllenden Aufgaben durch die "normative ambiguity" verdeckt: "This multiplicity of functions (... ) ascribed to legal rules is commonly concealed in an innocent-appearing insistence that the prime and unique task of legal scholarship is simply to ascertain and state , what the law is·. ,,228 McDougal hält das Spektrum der sich dem Völkerrechtler stellenden Aufgaben für größer, als dies nach der klassischen Auffassung der Fall sei, weil dem Juristen nicht bloß die Anwendung geltender Normen, sondern auch die Schaffung neuer Vorschriften obliege 229 . Der Prüfung der Völkerrechtmäßigkeit einer Handlung wird von der New Haven School eine weit 224 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 13; Higgins, RdC 1991/V, S. 25; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 104; McDougal, Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 55. 225 Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 242; ähnlich McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S.338. 226 Higgins, RdC 1991/V, S. 25; McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 111. 227 McDougal, RdC 1953/1, S. 146; ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 59; McDougal/Reisman, International Law in Contemporary Perspective, S. 6; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/ 90, S. 230; ders., AJIL Bd. 85 (1991), S. 208. m McDougal, RdC 1953/1, S. 144 f.

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geringere Bedeutung zugemessen als von den klassischen Völkerrechtstheorien 230 . Die Völkerrechtswissenschaft solle mögliche Alternativen in Bezug auf Normen, institutionelle Strukturen und Verfahren ausarbeiten und diese daraufhin untersuchen und bewerten, welche zur Erreichung der gesetzten Ziele am besten geeignet seien 231 . Nach Auffassung der New Haven School ist es sogar die wesentlichste Aufgabe der Rechtswissenschaft, zu klären, inwiefern das bisherige Recht den Zielen entspricht, sowie Vorschläge zu machen, wie ein besseres Völkerrecht aussehen müßte 232 . Diese Schule will sich nicht auf die Auslegung des positiven Rechts beschränken, sondern ihre rechtspolitischen Präferenzen äußern und versuchen, die Entscheidungsträger dahingehend zu beeinflussen 233 • Dementsprechend finden sich in den Arbeiten McDougals und seiner Mitarbeiter viele Reformvorschläge 234 und die Yale Law School ist insgesamt als Stätte "reformorientierter Rechtspolitik" bekannt235 . Die Schule von New Haven sieht dabei keinen Gegensatz zwischen der Anwendung vorgegebener Normen und der Setzung neuer Normen 236 ; die 229 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; McDougal, RdC 1953/1, S. 163; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 9; ähnlich Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 231 u. 239. 230 Vgl. dazu ehen, Introduction to Contemporary International Law, S. 9 ("Does it really matter whether certain activities are lawful?"); Falk, On Identifying and Solving the Problem of Compliance with International Law, Proc ASIL Bd. 55 (1961), S. 5; Reisman, International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reisman/Willard, S. 7. 231 ehen, Introduction to Contemporary International Law, S. 21; LassweIl, A Pre-View to Policy Sciences, S. 39; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 131; McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 11 f.; Reisman, AJIL Bd. 84 (1990), S. 874. 232 LassweIl, Universality in Perspective, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 3; ders., Indroduction: Universality versus Parochialism, in: McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. XXVI; ähnlich McDougal, RdC 1953/1, S. 163; ders., Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 49. 233 Reisman, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 133; McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 345; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 20; vgl. Falk, The Status of Law in International Society, S. VII; Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 76. 234 Z. B. McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 260; McDougal/Lasswell/Chen, Human Rights and World Public Order, S. 815 u. 824 f.; McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 253 ff.; McDougal/Burke, The Public Order of the Oceans, S. 790 ff.; Reisman, AJIL Bd. 84 (1990), S. 875 ff.; ders., AJIL Bd. 87 (1993), S.. 83 ff. m Faßbender, JuS 1996, S. 85. 236 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 284; ähnlich ders., Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 47.

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Aufgaben eines Rechtsanwenders unterschieden sich nicht wesentlich von denen eines Gesetzgebers 237 . Es sei - jedenfalls in den Bereichen, in denen das Völkerrecht sich verändere - schwierig zu unterscheiden, ob bereits eine neue Völkerrechtsnorm entstanden sei oder ob das Vorgehen eines Staates gegen das noch fortgeltende Völkerrecht verstoße 238 . Daher lehnt die New Haven School eine scharfe Trennung zwischen lex lata und lex ferenda als unrealistisch ab 239 . Dementsprechend ist bei Arbeiten von Anhängern der New Haven School teilweise weniger klar erkennbar, ob sie vom derzeit geltenden Recht oder aber von dem Recht sprechen, daß ihrer Auffassung nach gelten sollte, als das bei herkömmlichen Darlegungen der Fall ist24o . Die Völkerrechtstheorie der New Haven School zeichnet sich jedoch nicht nur durch diese starke Betonung der rechtsgestaltenden Aufgabe aus, sondern sie sieht - im Gegensatz zu den klassischen Völkerrechtstheorien auch die Beschreibung der Realität der internationalen Beziehung als eine Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft an 241 . Erforderlich seien juristische Untersuchungen des tatsächlichen Entscheidungsprozesses, d. h. der Ursachen und Wirkungen von völkerrechtlichen Entscheidungen 242 . Insgesamt wird die Schule von New Haven also - ebenso wie der "Legal Realism,,243 - durch eine große Skepsis gegenüber Normen bzw. gegenüber den ihnen herkömmlicherweise zugewiesenen Funktionen geprägt. Nach Meinung dieser Schule wird die Rolle, die Normen bei der juristischen Entscheidungsfindung spielen, von den traditionellen Theorien überschätzt, während der Einfluß anderer Faktoren unterschätzt werde. Die Normorien237 McDougal/Lasswell. The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 377; McDougal. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 284. 238 Higgins. The Identity of Law, in: International Law: Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 35. 239 Higgins. RdC 1991/V. S. 34; McDougal. RdC 195311, S. 144 f.; McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 47; vgl. Farer. AJIL Bd. 85 (1991), S. 123; Krakau. Missionsbewußtsein, S. 505. 240 Vgl. Farer. AJIL Bd. 85 (1991), S. 126; Higgins. The Identity of Law, in: International Law: Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 40; Rosenthai. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 200 f.; Schlochauer. AVR Bd. 12 (1964/65), S.467. 241 Falk. Legal Order in a Violent World, S. 82; McDougal/Reisman. The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 360; vgl. Krakau. Missionsbewußtsein. S. 43. 242 McDougal. RdC 195311, S. 180 f.; McDougal. AJIL Bd.49 (1955), S. 377; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 6 u. Bd. 2, S. 865; vgl. Rosenthai. Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 34. 243 McDougal. Remarks, Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 285; Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 276; Krakau. Missionsbewußtsein, S. 473; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. XXII u. 4. 4 Voos

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tierung verdecke wesentliche Fragen und schaffe dadurch eine bloß illusorische Sicherheit für völkerrechtliche Entscheidungsträger, anstatt sie auf die Notwendigkeit einer Prüfung der Anwendbarkeit von bisher geltenden Normen und auf das Erfordernis der Berücksichtigung außerrechtlicher Faktoren hinzuweisen. McDougal faßt seine Meinung über Normen in folgendem Vergleich zusammen: "The function that ,rules' perform is too often that of the squid that confuses its pursuers by squirting black ink. At the best the function of rules can only be to guide decisionmakers to relevant features of a problem and its context and to appropriate policies. ,,244

b) Neue Völkerrechtsdefinition der New Haven School aa) Das Völkerrecht als "process of decision" An die Stelle der klassischen Definition des Völkerrechts als Gesamtheit von Normen, die das Verhältnis der Staaten untereinander regeln, setzt die Schule von New Haven eine Definition des Völkerrechts als Entscheidungsprozeß: "International law, like all law, is essentially a process of making decisions,,245. Bereits in seiner grundlegenden Vorlesung an der Academie de Droit International in Den Haag im Jahre 1953 vertrat McDougal die Ansicht, daß "international law, at highest level abstraction, is most relevantly conceived (... ) as a flow 0/ decisions in which community prescriptions are formulated, invoked, and in fact applied in the promotion of community policies,,246. Das Völkerrecht sei "the entire decision-making process, and not just the reference to the trend of past decisions which are termed ,rules ",247. Diesen unterschiedlich formulierten Definitionen des Völkerrechts sind zwei Elemente gemeinsam, auf die im Folgenden näher einzugehen sein wird, nämlich "process" und "decision".

244 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 285; ähnlich ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 2. 245 McDougallReisman, International Law in Contemporary Perspective, S. 5 f.; ähnlich McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd.53 (1959), S. 107-132; ReismanlSuzuki, Recognition and Social Change, in: International Law Essays, S. 508. 246 McDougal, RdC 1953/1, S. 181. 247 Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 59; ähnlich ehen, Perspectives from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409; Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 277; WestonlFalklD'Amato, International Law and World Order, S. 14.

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bb) Erläuterungen zu "process" Traditionell werden Begriffe wie Macht und Recht statisch definiert248 , wohingegen die Schule von New Haven diese Begriffe in eine Kette von Entscheidungen aufspaltet249 . Diese Schule hat eine ausgesprochen dynamische Sicht des Völkerrechts 250, da sie es als immer im Prozeß des Werdens begriffen ansieht 251 . Sie hält Normen nicht für endgültig oder dauerhaft252 , sondern sieht die flexible Anpassung überkommener Regelungen an veränderte Anforderungen als wesentliche Aufgabe der völkerrechtlichen Entscheidungsfindung an: "The process of decision-making is indeed ( ... ) one of the continual redefinition of doctrine in its application to ever-changing facts and claims.,,253 Obwohl die New Haven School das Völkerrecht überwiegend als Prozeß und damit dynamisch sieht, analysiert sie es daneben auch als statisches System, wenn sie Gesamtheiten von Entscheidungen mit Hilfe des Konzeptes der "public order" zusammenfaße54 . Die Schule von New Haven hebt also die traditionelle Trennung zwischen auf der einen Seite dem Entstehungsprozeß des Rechts und auf der anderen Seite dem entstandenen, grundsätzlich konstant bleibenden Recht selbst auf; für sie ist der Entstehungsprozeß selbst das Recht. Rosenthai beschreibt daher die dem Völkerrecht hier zugeschriebene Natur als extrem evolutiv und fügt zutreffend hinzu: "Pour McDougal, cela signifie tres exactement et tres litteralement qu'il faut sans cesse interpreter et reinterpreter, c'est-a-dire creer et recreer le droit,,255. Da das Völkerrecht als sehr 248 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 463; Simma, Das Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, S. 29; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61. Kritisch dazu McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 102. 249 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 463. 250 So auch Steiner, International Law, Doctrine and Schools of Thought in the 20th Century, in: EPIL Bd. 7, S. 306; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61. 251 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 4; vgl. Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669; Simma, Das Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, S. 29. 252 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 113; ders., Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 10. 253 McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 110; ähnlich Falk, Revitalizing International Law, S. 7; LassweIl, Introduction: Universality versus Parochialism, in: Law and Minimum World Order, S. XXVI; McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd.41-42 (1947-48), S. 47 f.; ders., RdC 1953/1, S. 137; ders., AJIL Bd.49 (1955), S. 378; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 54. 254 Falk, American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 298; McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. X; vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 83. 4·

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veränderliches, flüchtiges Phänomen angesehen wird, kann es sehr schwierig sein, den Inhalt des jeweils aktuell geltenden Rechts zu identifizieren256 . cc) Erläuterungen zu "decision" Die Schule von New Haven versteht den Begriff "decision" sehr weit; "decisions" seien "effective social choices about dividing up the good and bad things of law,,257. Dieser Begriff umfasse "both perspectives (the subjectivities which attend choice) and operations (the choices actually made and enforced [... ]),,258, also sowohl die psychische Handlung der Entscheidungsfindung als auch die tatsächliche Handlung aufgrund der getroffenen Entscheidungen. Die traditionellen Theorien würden sich dagegen in der Regel nur Normen widmen, Handlungen dagegen vemachlässigen 259 . Durch die Betonung von Entscheidungen gegenüber Normen kann nach Meinung der New Haven School statt des formalen Inhalts von Normen die tatsächlich von den Staaten getroffene Wahl genauer untersucht werden 260 . dd) Folgen dieser Definition Die Definition des Völkerrechs als "process of decision" führt dazu, daß Einzelfallentscheidungen in konkreten Situationen anstelle von Normen das zentrale Element der Völkerrechtswissenschaft werden 261 . Beim Völkerrecht handelt es sich nach dieser Theorie also nicht um ein geschlossenes Gebilde abstrakter Regeln, die im Einzelfall durch Entscheidungen konkretisiert werden, vielmehr stehen gerade die konkreten Entscheidungen zu einzelnen Fällen im Mittelpunkt, die in das Völkerrecht einfließen und Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 70. Vgl. Henkin, How Nations Behave, S. 40; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 200; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 62. 2S7 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6. 2S8 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 55; ferner: Feliciano, Appendix: Review of C. Wilfried Jenks "The Common Law of Mankind", in: Studies in World Public Order, S. 1023; McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 340. 2S9 McDougal, Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 2; McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 817; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 49 und IOI. 260 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 55; ähnlich McDougal/Reisman, International Law in PolicyOriented Perspective, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 113. 261 McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 18 f.; vgl. Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 64. 2SS

2~

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seinen Inhalt prägen. Hierin zeigt sich das Streben McDougals nach Realismus und flexiblem Eingehen auf konkrete Fälle sowie sein Mißtrauen gegenüber Abstraktionen 262 . Rosenthai meint zu Recht, daß McDougal das Verhältnis von Norm und Entscheidung teilweise umkehre: "Ce n'est pas (seulement) la regle qui est a l'origine de la decision, mais (aussi) la decisi on qui permet d'invoquer la regle, voire qui la cree.,,263 Damit stellt sich die Frage, welche Bedeutung Normen in der Theorie der New Haven School überhaupt zukommt. Teilweise wird angenommen, daß McDougal die Existenz abstrakter Normen leugne und nur die Einzelfallentscheidung sehe264 . Dem ist aber entgegenzuhalten, daß die Schule von New Haven durchaus die Anwendung von Rechtsvorschriften auf konkrete Einzelfälle kennt und diese für eine notwendige juristische Aufgabe hält. Letzteres folgt schon daraus, daß Rechtsanwendung einer der sieben "intellectual tasks" ist, die Völkerrechtler laut der Schule von New Haven erfüllen müssen 265 . Die New Haven School ist nicht der Auffasung, daß jede juristische Entscheidung nur Bedeutung für den konkreten Einzelfall hat, in dem sie ergeht, sondern hält es für möglich, aus Einzelfallentscheidungen Rückschlüsse auf allgemeine Regeln zu ziehen. Diese Schule sieht die Bedeutung von Normen aber nur in der Rolle, die sie für Entscheidungen spielen. Aufgrund der Ablehnung des Konzepts einer Autonomie des Rechts wird Normen keine eigenständige Bedeutung, losgelöst von konkreten Entscheidungen, zugemessen. Juristische Einzelfallentscheidungen dienen danach nicht mehr nur als Illustration einer Norm, vielmehr dient die Norm dem Studium der Einzelfallentscheidungen, die im Zentrum von McDougals Werk stehen 266 . Damit existieren Normen nach Meinung der New Haven School nicht von Entscheidungen und der sozialen Realität losgelöst, sondern nur durch Entscheidungen, denn sie fassen in der Vergangenheit ergangene Entscheidungen zusammen. Dabei hält diese Schule die Rolle, die Normen beim Treffen juristischer Einzelfallentscheidungen spielen, für sehr viel begrenzter, als dies von den traditionellen Theorien angenommen werde: "Rules are apart, but a very limited part, of the intellectual operations involved in decision. ,,267 Die Vgl. Rosenthal. Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 66 f. Rosenthal. Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 81. 264 Krakau. Missionsbewußtsein, S. 474 u. 505. 265 McDougal/Lasswell. Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order, in: Studies in World Public Order. S. 14; Reisman, Law from the Policy Perspective. in: International Law Essays. S. 4; McDougal/Reisman. The Prescribing Function. in: International Law Essays, S. 359. 266 Vgl. Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 68. 262 263

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New Haven School erkennt zwar an, daß Normen tatsächliche Bedeutung im Rahmen von Entscheidungsprozessen zukommt 268 , aber sie hält diese Bedeutung für gering 269 . Die Funktion von Normen sei "not mechanically to dictate specific decision but to guide the attention of decision-makers to significant variable factors in typical recurring contexts of decision, to serve as summary indices to relevant crystallized community expectations,,27o. McDougal und seine Anhänger verstehen Normen also als Wegweiser für Entscheidungen, nicht aber als verbindliche Vorschriften 271 . Da das Völkerrecht nach dieser Definition aus den Handlungen der Entscheidungsträger272 , d. h. aus dem Entscheidungsprozeß und aus wirklich getroffenen juristischen Entscheidungen, besteht, wird es als Gesamtheit von Tatsachen angesehen 273 . Simma stellt daher bei der Schule von New Haven zutreffenderweise eine "grundsätzliche Aufgabe der Trennung der Seins- von der Sollensebene im Sinne einer Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und Fakten" fest 274 . Auf die grundsätzliche Frage, ob es sich nach dem von der Schule von New Haven vertretenen Völkerrechtsverständnis überhaupt um ein normatives System und damit bei dieser Theorie um eine Rechtstheorie handelt, wird im dritten Teil dieser Darlegung einzugehen sein.

267 268

McDougal/Reisman, International Law in Contemporary Perspective, S. 5 f. McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 110; vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de

Myres Smith McDougal, S. 178. 269 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 120. 270 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 57. 271 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 285; ähnlich ders., Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 123. 212 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 473; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 129. 213 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 473; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 63. 274 Simma, Bemerkungen zur Methode der Völkerrechtswissenschaft, in: Festschrift Kolb, S. 344.

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2. Definition des Völkerrechts als Zusammentreffen von "authority" und "effective control" a) Voraussetzungen für das Vorliegen von Völkerrecht

aa) "Authoritative and controlling decisions" Neben der Definition des Völkerrechts als "process of decision" findet sich eine weitere Umschreibung, die diese Definition ergänzt und gleichzeitig einschränkt: Recht stellen nach Auffassung der Schule von New Haven nur solche Entscheidungen dar, die "authority and effective control" aufweisen. Anknüpfend an ihr prozessuales Verständnis des Rechts definiert diese Schule den "legal process" als "the making of authoritative and controlling decisions·.275. Damit eine Entscheidung zum Bereich des Rechts zu zählen sei, müssen laut der Schule von New Haven "authority" und "effective control" zusammentreffen, denn beide seien unverzichtbare Elemente des Rechts 276 . Mit diesem Verständnis des Völkerrechts möchte die New Haven School den nach der herkömmlichen Rechtsauffassung bestehenden Konflikt zwischen Macht und Recht auflösen: "Law, far from being authority battling against power, is the interlocking of authority with power,,277. Für diese Schule ist das Recht nicht nur ein Ausdruck von Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern muß daneben auch effektiv das Verhalten bestimmen278 . Erst das Zusammentreffen beider Elemente mache Recht aus: "The authority which characterizes law exists not in a vacuum, but exactly where it intersects with power,,279. Recht und Macht werden daher nicht als sich ausschließende Gegensätze angesehen, sondern als gleichzeitig erforderlich28o .

m McDougal/Lasswell, Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order, in: Studies in World Public Order, S. 13; ähnlich McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 263; ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 58; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 235. 276 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About Law, in: International Law Essays, S. 49; ferner: McDougal, Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 4; ders., Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp\. 2, S. 117; Reisman, Sanctions and Enforcement, in: International Law Essays, S. 388; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 17; vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal. S. 85. 277 Higgins, RdC 1991/V, S. 27. 278 Vgl. Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268. 279 Higgins, RdC 19911V, S. 27; ähnlich Reisman, Theory of Law from the Poli. cy Perspective, in: International Law Essays, S. 6. 280 Reisman, Theory of Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6.

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McDougal sieht eine Übereinstimmung seiner Theorie mit den klassischen Völkerrechtstheorien darin, daß er Entscheidungen, die mit den Erwartungen und Vorschriften der Gemeinschaft übereinstimmen und daher "authoritative" seien, solchen vorziehe, die nur "by naked force" getroffen werden 281 . Mit der Synthese von "authority" und "effective control" will die New Haven School sich sowohl von solchen Völkerrechts theorien distanzieren, die bloß auf abstrakte Normen abstellen, als auch von solchen, für die bloß Machtpolitik zählt282 . bb) Erläuterungen zu "authority" Der Begriff "authority" ist mehrdeutig; da sich keine treffende Übersetzung anbietet, soll im Folgenden der englische Ausdruck beibehalten werden. Die Schule von New Haven definiert "authority" als "the structure of expectation concerning who, with wh at qualifications and mode of selection, is cornpetent to make which decisions by wh at criteria and wh at procedures,,283. Der Begriff der "authority" umfaßt alle Erwartungen von Gemeinschaftsmitgliedern, die die formale Rechtmäßigkeit einer Entscheidung betreffen, insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit und des Verfahrens; ferner umfaßt er ansatzweise auch die Erwartungen im Hinblick auf die materielle Rechtmäßigkeit im Sinne einer Begründung der Entscheidung anhand der darauf anwendbaren Kriterien 284 . Zusammengefaßt geht es bei "authority" um die Erwartungen der Mitglieder der Gemeinschaft im Hin-

281 McDougal. RdC 1953/1, S. 181; ebenso ders., Introduction. in: Studies in World Public Order, S. X; vgl. Chen. Perspectives from the New Haven School, Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 410. 282 Vgl. Schreuer. New Haven Approach, in: Authorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 68. 283 McDougallLasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 9; ebenso McDougal. Journal of Conflict Resolution Bd.4 (1960). S. 340; Reisman. Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90. S. 235; McDougallLasswelllReisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays. S. 191; McDougallReisman. International Law in Policy-Oriented Perspective, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 106; ähnlich Higgins. Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 80. 284 Chen. Perspectives from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409; ähnlich: McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. X; McDougallLasswell. Identification and Appraisal of Diverse Systems of PubIic Order, in: Studies in World Public Order, S. 23; McDougallLasswelllReisman. Theories About International Law. in: International Law Essays, S. 55; Reismanl Suzuki. Recognition and Social Change, in: International Law Essays. S. 508.

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blick auf Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Die "authority" ist das Element, das effektive Entscheidungen legitimiert285 . Nach Auffassung der New Haven School liegt "authority" nicht "in some mysterious or transempirical source of ,obligation' or ,validity' but rather, empirically, in the perspectives, the genuine expectations, of the people who constitute a given community about the requirements for lawful decisi on in that community .. 286. Nach dieser Definition ist die "authority" einer juristischen Entscheidung also keine ihr per se innewohnende Eigenschaft, vielmehr ist sie von den Empfangern der Entscheidung abhängig 287 . "Authority" kann daher nicht mit Bindungswirkung im traditionellen Sinn gleichgesetzt werden 288 . Die Frage, wie die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder festgestellt werden sollen, beantwortet die Schule von New Haven nur durch Hinweis auf die Notwendigkeit der Untersuchung des Kontexts früherer Entscheidungen sowie auf die Techniken der Sozialwissenschaften zur Feststellung der Ansichten von Individuen 289 • Normen haben nach Auffassung der New Haven School jedenfalls insoweit Bedeutung für die "authority" von Entscheidungen, als sie die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder in Bezug auf die Zuständigkeit des Entscheidungsträgers, das angewandte Verfahren der Entscheidungsfindung sowie die zur Rechtfertigung der Entscheidung herangezogenen Kriterien prägen 290 . Die tatsächlichen Erwartungen von Gemeinschaftsmitgliedern über Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen sind aber zumindest logisch nicht gleichbedeutend mit den durch Normen festgelegten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen selbst. Da die New Haven School das Konzept einer Autonomie des Rechts ablehnt, kann das Recht bzw. können Normen nicht allein selbst bestimmen, ob eine Entscheidung autoritativ ist291 • In der Praxis können nach Meinung der New Haven School geschriebenes Recht einerseits und die "actual normative expectations of effective elites" andererseits auseinanderfallen, wenn z. B. das geschriebene Recht nicht mehr aktuell 285 McDougal, AJIL Bd. 49 (1955), S. 377; Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 122; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 465; Schachter, Rernarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268. 286 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 56. 287 Reisman, International Lawrnaking: A Process of Cornrnunication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 110. 288 So auch Schreuer. New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 69. 289 McDougal/Lasswell/Reismann. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 191. 290 McDougal, RdC 1953/1, S. 181. 291 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 66.

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oder zu allgemein sei 292 . Die "authority" einer Entscheidung wird demnach nicht unmittelbar durch Normen festgelegt, sondern Normen können bloß mittelbar als Indiz für die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder von Bedeutung sein. Die Definition der "authority" wirft die Frage auf, auf wessen Erwartungen genau abgestellt werden soll. Nach Auffassung der New Haven School würden zwar idealerweise die Erwartungen aller Individuen gleichermaßen von Bedeutung sein 293 , im gegenwärtigen Zustand der Welt seien aber u. U. nur "the expectations and demands of the effective elites of a polity" maßgebend 294 . Letztlich wird damit offengelassen, wessen Erwartungen maßgebend sein sollen, da der Kreis der relevanten Personen nicht klar abgegrenzt ist. Zur Feststellung der völkerrechtlich relevanten Erwartungen der Beteiligten anhand konkreter internationaler Konfliktfälle begründete Reisman das "incidents"-Konzept. Die von Reisman und Willard gemeinsam herausgegebene Aufsatzsammlung "International Incidents: The Law that Counts in World Politics" von 1988 stellt den Versuch dar, eine "systematic method for studying and recording incidents,,295 zu entwerfen und diese dann auf einzelne "incidents" anzuwenden. Die Untersuchung von "incidents" soll dabei im Rahmen systematischer Studien erfolgen 296 , die dem "framework of inquiry" der New Haven School entsprechen297 . Unter einem "incident" verstehen die Autoren dabei "an international dispute that shapes or reinforces elite expectations about lawfulness, in which the appraisal of lawfulness by relevant actors occurs in a nonformal setting,,298. Als Beispiele werden u. a. dieamerikanische Invasion von Grenada und der israelische Angriff auf den irakischen Reaktor angeführt299 . Reisman und Willard sind der Auffassung, daß derartige Vorfalle die Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 274. McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191. 294 McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191; ähnlich Reisman, Nullity and Revision, S. 4; ders., International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reisman/Willard, S. 6 f. 295 Reisman, International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 16. 296 Reisman, International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 20. 297 Willard, Incidents, in: International Incidents. Hrsg.: Reisman/WiIIard, S. 25 ff. 298 Reisman/Willard. International Incidents. S. VII; ähnlich Reisman. AJIL Bd. 78 (1984), S. 507. 299 Reisman/Willard. International Incidents, S. VII. 292 293

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Erwartungen der am internationalen Prozeß Beteiligten und damit das Völkerrecht prägen: "The normative expectations that political analysts infer from events are the substance of much of contemporary international law·.3oo. Die Rechtmäßigkeitserwartungen würden nicht von formal anerkannten Normen im traditionellen Sinne, sondern von den tatsächlichen Reaktionen der Staatengemeinschaft auf solche Vorkommnisse bestimmt: "These inferences about what other actors think is acceptable behavior are not derived from international judgments or from constitutional documents, statutes or treaties. They are almost entirely derived from the responses of key actors to a critical event. ,,301 Nach Reismans Meinung muß daher die tatsächliche Bedeutung der formalen Rechtsnormen an der Reaktion der Staaten auf ein konkretes "incident" gemessen werden, denn wirkliche Normen seien nur solche, die sich in den Erwartungen der Beteiligten widerspiegelten302 . Seiner Auffassung nach stimmen wesentliche Teile des "book law" nicht mit den tatsächlich gehegten normativen Erwartungen der maßgeblichen Beteiligten überein 303 . Übergroße Texttreue laufe daher Gefahr, in die Irre zu führen 304 , denn "the decay of international institutions and the incredible discrepancies between statements of doctrine and fonnula and actual expectations of authority and control have become more and more apparent,,305. Weil die Völkerrechts gelehrten den Inhalt des geltenden Völkerrechts aus Texten ableiten würden statt "incidents" ausreichend zu beachten, verliere die Völkerrechtswissenschaft an praktischer Bedeutung306 . Die "incident study" soll also die Untersuchung des jeweiligen Inhalts des sich ständig wandelnden Völkerrechts ermöglichen307 . Reisman sieht die Unterschiede des "incident"-Konzepts zu der traditionellen Untersuchung der Praxis der Staaten darin, daß bei ersterem nicht 300 Reisman. International Incidents. in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 5; ähnlich Reisman. EJIL Bd. 4 (1994), S. 123. 301 Reisman. International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 5; ähnlich Reisman. AJIL Bd. 78 (1984), S. 507. 302 Reisman. International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 5 u. 30. 303 Reisman. International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. l1 ff. 304 Reisman, International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 13. 305 Reisman/Willard. The Study of Incidents: Epilogue and Prologue, in: International Incidents, Hrsg.: Reisman/Willard, S. 268. 306 Reisman. International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reismanl Willard, S. 6. 307 Vgl. Willard. Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reisman/Willard, S.37.

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die gesamte Praxis auf ihre Einheitlichkeit und Dauer untersucht werden solle, sondern nur ein spezieller Vorfall und die Reaktion der Staaten darauf. Zum anderen sollen "incidents" nicht daraufhin überprüft werden, ob eine bestimmte Völkerrechtsnorm verletzt wurde, sondern es solle untersucht werden, ob aus dem Verhalten der relevanten Beteiligten Rechtmäßigkeitserwartungen abgeleitet werden könnten: "The student of incidents (... ) is not involved in judging the lawfulness of the behavior of ac tors in the incident concerned, but rather evaluates the reactions of other relevant actors and, through those reactions, the subjective conceptions of right and/ or tolerable behavior entertained by those other actors.,,308 Die Fragestellung ist also eine andere als bei der klassischen Rechtmäßigkeitsprüfung: "Rather than judging the behavior of actors against preconceived norms, the author should focus on how and in what ways the resolution of the event engaged and subsequently shaped the development of those norms.,,309 cc) Erläuterungen zu "effective control" Die zweite Eigenschaft, die nach McDougal eine Entscheidung aufweisen muß, um Recht darzustellen, ist "effective control". Dabei geht es um die "participation in effective decision-making, in making the choices which are in fact put into effect in a consequential number of instances,,31O, also um "the capability to influence behavior,,311. Rechtsetzung - und damit auch der Rechtsbegriff selbst - umfasse auch die Komponente von Macht als die Fähigkeit und den Willen, bevorzugte Alternativen effektiv zu machen 312 . Diese Komponente beinhaltet also das rein tatsächliche Fällen von Entscheidungen sowie die Umsetzung und notfalls zwangsweise Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen 313 . Dabei stellt die New Haven School klar, daß die bloße Möglichkeit einer Sanktion nicht dasselbe ist 308 Reisman, International Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reisrnanl Willard, S. 20 f. 309 Willard, Incidents, in: International Incidents, Hrsg.: Reisrnan/Willard, S. 29. 310 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 56; ähnlich McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 340; McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 9; ehen, Perspectives frorn the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 465. 311 Schachter, Rernarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268. 312 Reisman, International Lawrnaking: A Process of Cornrnunication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 110. 313 McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. X; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 465; Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Srnith McDougal, S. 96.

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wie eine effektive Kontrolle, weil das bloße Einfügen einer Sanktion in eine Nonn noch nicht bedeute, daß die Fähigkeit oder der Wille zur Durchsetzung der Nonn bestehe314 . Nach Auffassung der New Haven School ist immer ein Mindestmaß an Effektivität erforderlich, damit man von Recht sprechen kann: "Lawful acts, to be such, will require a minimum degree of effectiveness,,315. Das erforderliche Maß an Wirksamkeit hänge dabei von den jeweiligen Umständen ab 316 . Der Grad an Effektivität der Entscheidung müsse aber jedenfalls ausreichend groß sein "to sustain expectations of future decision largely in confonnity with demanded authority,,317.

dd) Auseinanderfallen beider Komponenten Die Schule von New Haven betont, daß "authority" und "effective control" nicht automatisch immer gleichzeitig vorlägen, sondern beide Komponenten auseinanderfallen könnten 318 . Die New Haven School unterscheidet daher drei Bereiche: "An authoritative and controlling decision can be contrasted with decisions involving only effective power (,naked power') or mere barren authority (,pretended power,),,319. Der Bereich des Rechts sei dabei nur der der "lawful power", bei dem "authority" und "control" zusammentreffen 320. 314 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd.79 (1981), S. 110 f.; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S. 373 f. 315 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 7; ähnlich McDougal/lAsswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192; Reisman, AJIL Bd. 87 (1993), S.89. 316 McDougal/lAsswell/Reisman, The World Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192; ebenso Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 112; McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 341. 317 McDougal/lAsswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192. 318 McDougal, RdC 1953/1, S. 195; ähnlich: McDougal/lAssweli/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191; irrig daher Nardins Annahme in "Law, Morality and the Relations of States", S. 206, daß McDougal nicht zwischen "authority" und "efficacy" unterscheide sowie Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 87, der meint, daß eine "authoritative decision" in aller Regel auch effektiv sei. 319 McDougal/lAsswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192. 320 McDougal/lAsswell/Reisman, World Constitutive Process, in: International Law Essays, S. 214; vgl. McDougal/lAsswell/Reisman, Theories About Internatio-

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Für die Schule von New Haven ist fonnelle "authority" ohne "effective control" nicht Recht, sondern eine Illusion321 . Als Beispiel für solche nur behauptete Macht wird ein abgesetzter Monarch im Exil angeführt, der vergeblich behauptet, das rechtmäßige Staatsoberhaupt zu sein 322 . Reisman ist der Meinung, daß dieser Bereich einen großen Teil des angeblichen Rechtssystems ausmacht: "In all legal systems, much of what is expressed in legal fonnulae and is attended by signals of authority is not intended strictly to govern, regulate or provide effective guidelines for official or private behavior. This part of the ,legal system' conveys aspirations and images, not of the way things are, but the way group members are pro ne or like to believe they are. ,,323 . Der umgekehrte Fall, "naked power", liege vor bei bloßer Machtausübung, die nicht mit den Rechtmäßigkeitserwartungen der Gemeinschaftsmitglieder übereinstimme. Dies seien zum einen die Fälle völkerrechtswidriger Ausübung von Zwang ohne anschließende wirksame Sanktionen324 . Als weitere Beispiele für Entscheidungen, die "effective control", aber keine "authority" aufweisen, werden solche Entscheidungen angeführt, die nicht von den offiziellen und dafür zuständigen Entscheidungsträgem, sondern von den inoffiziellen wirklichen Herrschern getroffen würden 325 sowie Entscheidungen neu entstehender, noch nicht anerkannter Staaten 326 . ee) Gegenseitige Beeinflussung beider Komponenten "Authority" und "effective control" lassen sich zwar theoretisch klar voneinander abgrenzen, faktisch beeinflussen sich aber nach Auffassung der Schule von New Haven beide Faktoren gegenseitig. So sieht die Schule einerseits einen "empirically undeniable impact of effective power on decision,,327. Die Wirksamkeit einer mit effektiver Macht getroffenen Entscheidung beeinflusse die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder darüber, wie Entscheidungen getroffen werden und damit die "authority" der Entnal Law, in: International Law Essays, S. 140; Chen, Perspectives from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409. 321 McDougal, RdC 1953/1, S. 182; ferner Chen, Perspectives from the New Hayen School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409; McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 110; Reisman, Sanctions and Enforcement, in: International Law Essays, S. 383. 322 McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192. 323 Reisman, Remarks, in: ProcASIL Bd. 79 (1985), S. 275. 324 McDougal/Lasswell/Reisman, World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192. m McDougal, RdC 1953/1, S. 173. 326 McDougal, RdC 1953/1, S. 195 f. 327 McDougal/Reisman, International Law in Contemporary Perspective, S. 4.

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scheidungen, weil nach einer gewissen Zeit effektive Akte oft nachträglich als rechtmäßig angesehen würden 328 . Reisman meint dazu: "It is probable that discrepancies between power and authority over an extended period of time will lead to readjustments in peoples' minds as to what is authoritative. Power can ,legitimize' or ,authorize' itself.,,329 Effektivität präge auch die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder für künftige Entscheidungen: "A flow of comparable decisions through time, whatever their initial relation to authority, may under certain conditions perform a prescriptive functi on in creating new expectations of authority in regard to projected future decision. ,,330 Umgekehrt kann aber auch die "authority component" nach Auffassung der Schule von New Haven die Machtverhältnisse "in myriad ways" beeinflussen 33 ). So stelle nicht nur rohe Gewalt eine Machtbasis dar, sondern auch die formelle Autorität der Regierungsposition 332 . Forderungen nach Legitimität und entsprechende Erwartungen würden sogar zu den "most pervasive, dependable, and economical bases of power even in international politics" zählen333 . Auch das Völkerrecht könne zu den "instruments of power" gehören334 , wie die Bemühungen der Staaten, ihr Verhalten durch Berufung auf Völkerrechts normen zu rechtfertigen, belegten335 . Die Schule von New Haven lehnt daher die Auffassung ab, daß das Völkerrecht keine Auswirkungen auf die internationale Politik und Machtfragen habe, sondern eine ineffektive Begrenzung der Handlungen von Staaten sei 336 .

328 McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191; Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 7.' 329 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 8 f.; ähnlich: Reisman, Nullity and Revision, S. 5. 330 McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191; ähnlich Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 112 u. 114; ders., AJIL Bd. 81 (1987), S. 269. 331 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 9 u. 11. 332 McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 108. 333 McDougal, AJIL Bd. 49 (1955), S. 378. 334 McDougal, AJIL Bd. 47 (1953), S. 119. 335 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 5. 336 Higgins, Integration of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 82; vgl. Falk, The Status of Law in International Society, S. XI; McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 107; Katzenbach, Foreword, Yale Law Journal Bd. 84 (1975), S. I.

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ff) Zusammenfassung Während nach der klassischen Völkerrechtstheorie eine Norm als Recht angesehen wird, wenn sie bindend ist, und juristische Entscheidungen nur im Hinblick darauf zu überprüfen sind, ob sie nach geltenden Normen formell und materiell rechtmäßig sind, stellen aus Sicht der Schule von New Haven nur effektive Entscheidungen Recht dar. Danach kann Recht nur sein, was tatsächlich umgesetzt und durchgesetzt wird. Dagegen kommt es nach der klassischen Theorie grundsätzlich nur auf normative Faktoren an: Wenn ein Urteil des IGH formell und materiell rechtmäßig ist, dann stellt die Entscheidung bindendes Recht dar, auch wenn sie toter Buchstabe bleibt. Nur ausnahmsweise, wenn der Grundsatz der Effektivität eingreift, spielt die rein tatsächliche Frage der Effektivität eines Sachverhalts auch nach herkömmlicher Auffassung eine Rolle, beispielsweise in Bezug auf die Völkerrechtssubjektivität eines neu entstehenden Staates. Ferner unterscheidet sich die Schule von New Haven auch dadurch von der klassischen Völkerrechtstheorie, daß sie die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung nicht abstrakt anhand von Normen bestimmt, sondern anhand der tatsächlich gehegten Erwartungen über die Rechtmäßigkeie 37 . Die Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions" enthält somit nur tatsächliche, nicht dagegen normative Elemente. McDougal zieht aus diesem Verständnis von Recht als Zusammentreffen von "authority" und "control" auch Konsequenzen für die Völkerrechtslehre. Diese müsse sich, wenn sie sich mit der wirklichen Welt befassen wolle, auch mit der Umsetzung und Durchsetzung von Entscheidungen und damit mit den tatsächlich gegeben Machtverhältnissen auseinandersetzen, anstatt sich auf Fragen der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit von Entscheidungen nach Maßgabe von Normen zu beschränken338 . Damit gewinnen rechts soziologische Fragen, die sich auf die Rechtswirklichkeit beziehen, an Bedeutung. b) Das Verhältnis des Völkerrechts zu Macht und Politik

aa) Kritik an den traditionellen Auffassungen zu diesem Verhältnis Zutreffend sieht die Schule von New Haven bei den Vertretern der klassischen Völkerrechtslehre, insbesondere bei Hans Kelsen, den Versuch einer scharfen Trennung zwischen Recht und Politik339 . Recht und Politik würden als einander ausschließende Gegensätze angesehen: "The conven337 Vgl. Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Ber!in 1989/90, S. 235. 338 McDougal, RdC 1953/1, S. 173 und ähnlich S. 181.

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tional wisdom, which runs very deep in the myth system of our civilization, holds that there is a sharp distinction between law and politics, a mutual exclusiveness, even an antithesis. Law is decision according to principles, we are told: reasoned decision. Politics is decision according to power.,,340 Die New Haven School wirft deswegen der traditionellen Völkerrechtslehre - insbesondere der europäischen - vor, tendenziell politische Faktoren34 I und die Bedeutung von Macht für das Recht zu ignorieren 342 . Die Rolle, die Machtfaktoren im Recht spielen, werde oft nicht diskutiert, "as though discussing it openly would violate so me taboo,,343. Reisman nennt diejenigen völkerrechtlichen Theorien, "in which law is believed to operate, oblivious to and without need of control" spöttisch "a type of voodoo jurisprudence ,,344. Die New Haven School wendet sich aber nicht nur gegen das bloße Abstellen auf Normen, sondern umgekehrt auch gegen die Reduzierung des Völkerrechts auf Machtfragen 345 . Statt dessen hält diese Schule eine "balanced emphasis on both authority and control" für notwendig 346 .

bb) Die Sicht der Schule von New Haven Die New Haven School lehnt die Trennung zwischen Recht und Politik ab: "A moment's reflection will show that this distinction between law and politics is artificial, even preposterous. Notions of authority, expectations of what is right with regard to social choices, playamajor role in politics; conversely power is a very critical and indispensable factor in law.,,347 Poli339 Vgl. Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 210; Falk, The Status of Law in International Society, S. XI. 340 Reisman, Theory of Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6; ferner: ders., International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 10 I. 34\ Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S. 505; ders., Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 230. 342 Reisman, AJIL Bd. 81 (1987), S. 267. 343 Reisman, AJIL Bd. 81 (1987), S. 268; ähnlich ders., Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 230 f.; ders., AJIL Bd. 85 (1991), S. 206. 344 Reisman, AJIL Bd. 81 (1987), S. 269. 345 McDougal, RdC 1953/1, S. 158; McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 102 f. 346 Chen, Perspectives from the New Haven School, Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409; ähnlich McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 43-44 (1949-50), S.92. 347 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6; ferner McDougal, AJIL Bd. 48 (1954), S. 682; ders., AJIL Bd. 46 (1952), S. 111; Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 22; Falk, The Status 5 Voos

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tische und juristische Entscheidungen hätten keine unterschiedliche Natur, sondern seien bloß unterschiedliche Problemlösungsmechanismen 348 . Diese Schule sieht Macht nicht als Gegensatz zum Recht, sondern meint, Recht könne ohne es unterstützende Macht nicht existieren 349 . Begründet wird diese Auffassung mit der tatsächlichen Beeinflussung des Völkerrechts durch Machtprozesse und umgekehrr3 5o . Statt als Gegensatz zur Politik sieht die New Haven School Recht als einen Unterfall des Bereichs der Politik an: "Politics are the processes by which decisions are made and law, in common parlance, refers to certain unique political processes.'.351 Recht sei daher nicht von Macht und Politik zu trennen, sondern stelle "an integral part of the world power process,,352 dar. Nach Meinung der Schule von New Haven ist Recht zwar auch, aber nicht nur eine Begrenzung von Macht: "Law is not merely a ,limitation' upon power but is also a conscious, creative instrument in promoting both order and other values.',353 Grundsätzlich wird die Funktion des Völkerrechts als Begrenzung auch von der New Haven School anerkannt 354 , zugleich wird aber vor der Überbetonung dieser Funktion gewarnr3 55 . Reisman steht der traditionellen Ansicht, Normen hätten die Kraft, Macht zu binden, insgesamt skeptisch gegenüber: "Until today, I would not have thought that American legal scholars seriously believe that a rule conception contributed to understanding or effective operation in the international law, much less that rules have magical properties that enable them to conof Law in International Society, S. XI; ders., Georgia, J. of Int. and Comparative Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 34 348 Higgins, ICLQ Bd. 17 (1968), S. 74; McDougallLasswelllReisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 57; McDougallLasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 29. 349 Higgins, RdC 1991/V, S. 26 f.; McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 270. 350 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 43-44 (1949-50), S. 92 f.; McDougallReisman, International Law in Contemporary Perspective, S. 4; Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 6; ders., AJIL Bd. 85 (1991), S. 206. 351 Reisman, Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 9; vgl. Rosenthai, Etude de l'u:uvre de Myres Smith McDougal, S. 96. 352 McDougal, AJIL Bd.46 (1952), S. 111; ebenso Higgins, RdC 1991/V, S. 26 f.; McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 43-44 (1949-50), S. 92 f. 353 McDougal, AJIL Bd. 49 (1955), S. 378. 354 Vgl. Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 212. 355 Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 86; vgl. Schachter, Remarks, Proc ASIL 1985, S. 267.

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strain naked power. ,,356 Auch McDougal mißt Normen nur insoweit eine Bedeutung zu, als sie von Entscheidungsträgern zur Erreichung bestimmter Resultate benutzt werden, aber keinen Wert an sich: "Apart from this context and except in terms of this function, the words are utterly meaningless.,,357

3. Rechtsnatur des Völkerrechts und Bindungswirkung a) Das Völkerrecht als wirkliches Recht Die New Haven School hält die Diskussion in der Völkerrechtswissenschaft darüber, ob Völkerrecht als "richtiges" Recht angesehen werden kann, obwohl im internationalen System eine Zentralgewalt feh1t 358 , nicht für praktisch hilfreich: "Whether one wants to treat it as a legal system or not, it is plain that those who operate within it must still perform legal functions.,,359 Nach Auffassung dieser Schule beruht die These, daß Völkerrecht kein wirkliches Recht sei, nur auf einem zu engen Verständnis des Rechts 36o . Zwar stellt die New Haven School im Hinblick auf die reale Situation der Staatengemeinschaft fest, daß es ihr bisher an den notwendigen zentralisierten Machtmitteln fehle, um auch nur eine "miminum world order" zu erreichen 361 . Gerade im Völkerrecht fielen die beiden Faktoren "authority" und "effective control" häufig auseinander, was zu Zweifeln daran, ob das Völkerrecht wirklich Recht sei, führe 362 . Trotzdem bejaht die New Haven School aber die Rechtsnatur des Völkerrechtssystems, da sie die Verbindung von "authority" und "effective control" im Rahmen der internationalen Gemeinschaft "in more than rudimentary form" für gegeben häle 63 . Die Tatsache, daß sich die an internationalen Konflikten beteiligten Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279. McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 48 f. 358 Vgl. DahmlDelbrückiWolfrum, Völkerrecht Bd. 1/1, S. 43; KelsenlTucker, Principles of International Law, S. 4 f.; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. II ff. 359 Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 231. 360 McDougal, AJIL Bd. 66 (1972), S. 78; ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 269. 361 McDougallLasswelllReisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 240 f. 362 McDougallLasswelllReisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 216. 363 McDougallLasswelllChen, Human Rights and World Public Order, S. XIX; ähnlich McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. X; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 6; McDougallReisman, International Law in Policy-Oriented Perspective, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 106. 356 357

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Staaten meistens auf völkerrechtliche Prinzipien berufen würden, beweise die Bedeutung des Völkerrechts 364 . Die Schule von New Haven hält die Annahme, daß eine Zentralgewalt und Gewaltenteilung zwischen festgelegten Institutionen Voraussetzung für die Existenz von Recht sei, für irrig, weil dabei die unorganisierten Entscheidungsprozesse übersehen würden 365 . Stattdessen leitet sie aus der Logik der Gegenseitigkeit "decentralized forms of order" ab 366 . Die grundsätzliche Effektivität des Völkerrechts - und damit seine Rechtsnatur zeige sich in der täglichen überwiegenden Beachtung völkerrechtlicher Normen durch die Staaten 367 . b) Die Bindungswirkung völkerrechtlicher Normen Die in der Völkerrechtstheorie viel diskutierte Frage der dogmatischen Grundlage einer Bindungswirkung völkerrechtlicher Normen hält McDougal für überflüssig bzw. für falsch gestellt: "It should require no great elaboration that a policy-oriented international law will not seek in an infinite regress of verbalisms to discover some mystical ,binding force', independent of particular decision-makers in particular contexts, for its prescriptions. ,,368 Statt einer metaphysischen Ableitung eines Rechtsgrundes für die Bindungswirkung von Normen aus Postulaten hält die New Haven School nur eine empirische Untersuchung der Rechtmäßigkeitsvorstellungen und der Effektivität für sinnvo1l 369 . Die Existenz von Entscheidungen, die sowohl "authoritative" als auch "controlling" seien, beweist für die New Haven School, daß es Völkerrecht gibt, an das sich Staaten gebunden fühlten; damit ist für sie das rechtstheoretische Problem der Bindungswirkung von Normen und ihres Rechtsgrundes gelöse7o . McDougal. Mississipppi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 260. McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law. in: International Law Essays. S. 64 f. 366 Falk. The Status of Law in International Society, S. 651; ebenso McDougal. Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 6. 367 ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 5; Higgins. Integration of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 86 f.; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 64; ferner dies., S. 48 und 61 ff. 368 McDougal. RdC 1953/1, S. 185; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 48; McDougal/Reisman. Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 819. 369 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 48, insbes. Fußn. 15; McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191; McDougal/Reisman. Columbia Law Review Bd.65/11 (1965), S. 819; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. I. S. 27. 364

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Dagegen haben Nonnen nach Auffassung der Schule von New Haven nicht bloß aufgrund ihrer Rechtsnatur eine Bindungswirkung. Es sei unzutreffend, daß Nonnen als solche - losgelöst von den äußeren Umständen die Kraft besitzen würden, Entscheidungen vorzuschreiben 37l . Bindend seien Nonnen nur dann, wenn sie beachtet würden; daher könne von einer allgemeinen Bindungswirkung von Nonnen ohne Rücksicht auf ihre Effektivität keine Rede sein: "The notion that rules have a ,distinctive nonnative quality', creating an ,obligation' different from the facts of ,authority' and ,control', derives from philosophical preconceptions that becloud the factors that in fact affect decision ... 372 Dementsprechend hält die Schule von New Haven das Phänomen der Bindungswirkung von Normen für eine graduelle Frage373 • Nonnen könnten mehr oder weniger bindend sein, je nach dem, wie ernstzunehmend z. B. die angedrohte Sanktion sei. In diesem Zusammenhang wendet Reisman sich gegen eine scharfe Trennung von "hard law" und "soft law", deren Durchführung er für unmöglich hält 374 . Das Konzept des "soft law" versteht Reisman dabei nicht - wie die traditionellen Völkerrechtstheorien 375 - ausschließlich als sogenanntes Recht ohne Bindungswirkung: "Law can be soft in all its dimensions: in tenns of its content, in tenns of its authority and in tenns of control intention ... 376 Nach dieser Auffassung wären unbestimmte Nonnen, Nonnen mit wenig "authority" oder Nonnen mit geringer Effektivität jeweils als mehr oder weniger "soft law" anzusehen 377 . Für die New Haven School binden Nonnen also weder Staaten noch sonstige Entscheidungsträger als verbindliche Verhaltensvorschriften, sondern sie beeinflussen die Entscheidungen bloß tatsächlich. Die Suche nach einer anderen "basis of obligation" als der des tatsächlich bestehenden gemeinsamen Interesses der Staaten an der Einhaltung des Völkerrechts aufgrund des Gegenseitigkeitsprinzips hält diese Schule für unnötig, weil sie das Völker370 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 48, Fußn. 15. 371 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 98 f., Fußn. 193 unter Berufung auf Dean Hardy DiJlard. 372 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 284; ähnlich McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 377; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 6 f. 373 Vgl. McDougal, RdC 1953/1, S. 183; McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd.65/11 (1965), S. 819; Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S.374. 374 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S. 374 f. 375 Vgl. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 495 f. 376 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S. 374. 371 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S. 375.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

recht als tatsächlichen Entscheidungsprozeß versteht 378 . Die Schule von New Haven sieht demnach den bindenden Charakter des Rechts - soweit sie ihn bejaht - als soziologisches Phänomen an 379 • Für sie sind Nonnen nicht kraft ihrer Nonnativität für die betroffenen Völkerrechts subjekte verbindlich. vielmehr sieht sie die tatsächliche Befolgung von Nonnen als Bedingung für ihre Verbindlichkeit an. Im Gegensatz zu den traditionellen Völkerrechtstheorien erkennt sie somit keine Bindungswirkung völkerrechtlicher Nonnen im eigentlichen Sinne an. sondern nur eine faktische Bindung durch nonngemäßes Handeln.

4. Die Entstehung von Völkerrecht a) Kritik am traditionellen Konzept der Quellen des Völkerrechts

Die Schule von New Haven setzt sich auch mit der Frage der Entstehung von Völkerrecht und der klassischen Lehre von den drei Völkerrechtsquellen Vertrag. Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze 380 auseinander. Herkömmlicherweise wird Art. 38 des IGH-Statuts als umfassende Beschreibung der Arten völkerrechtlicher Nonnen sowie ihrer Entstehung und damit als grundlegende Nonn zu den Völkerrechtsquellen angesehen. Dagegen steht die Schule von New Haven der in Art. 38 IGH-Statut enthaltenen Aufzählung und allgemein dem Konzept der Völkerrechtsquellen kritisch gegenüber381 . Reisman hält eine Befreiung von den ..constraints" des Art. 38 IGH-Statut für erforderlich 382 • weil Art. 38 zeitgenössische Probleme nicht berücksichtige 383 . Die Kritik der Schule von New Haven am traditionellen Konzept der Völkerrechtsquellen bezieht sich vor allem darauf, daß die klassische Völkerrechtslehre durch das Abstellen auf das Abstammen von einer Völkerrechtsquelle als einziges Kriterium für die 378 Higgins, RdC 1991/V. S. 40 f.; dies., Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity. Hrsg.: Reisman/Weston, S. 87; ähnlich McDougallLasswelllReisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 48 f., Fußn. 15. 379 Vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 107. 380 Brownlie, Principles of Public International Law, S. I ff.; DahmiDelbrückl Wolfrum. Völkerrecht Bd. Ill. S. 44. 381 Vgl. McDougallReisman. International Law in Contemporary Perspective. S. 7; McDougalILasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays. S. 275; McDougallReisman. Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 821. 382 Reisman. AJIL Bd. 81 (1987), S. 267. 383 Reisman. International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. IOI.

Kapitel II: Die Definition des Völkerrechts

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Rechtsnatur die Frage umgehe, "whether something emerging from a source is law,,384. Allein aus der Tatsache, daß es sich bei der Norm z. B. um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, kann nach Meinung der New Haven School noch nicht abgeleitet werden, daß diese wirklich Recht darstelle, das umgesetzt werde 385 . Vielmehr muß nach Auffassung dieser Schule in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob "authority" und "effective control" vorliegen 386 . Bevor eine Völkerrechts norm als Recht angesehen und angewandt werden könne, müsse geprüft werden, ob diese Norm tatsächlich wirksam sei, ob sie also ausreichend häufig geltend gemacht und angewandt, d. h. in Entscheidungen umgesetzt werde 387 . Statt um die formale Klassifizierung von Völkerrechtsnormen nach verschiedenen Quellen geht es dieser Schule also um die Fragen der Identifizierung von Völkerrechtsnormen und der Schaffung neuen Völkerrechts 388 . Daneben kritisiert die New Haven School Art. 38 des IGH-Statuts auch als nicht umfassend genug, weil er wichtige Formen der Entstehung von Völkerrecht außen vor lasse 389 . Als Beispiele werden u. a. das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen geschaffene Reche 90 sowie OPEC-Beschlüsse und die Monroe-Doktrin 391 angeführt. Nach Meinung der Schule von New Haven gibt es nicht bloß die in Art. 38 IGH-Statut aufge384 Reisman. AJIL Bd. 81 (1987), S. 267; ebenso McDougal/Reisman. The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 368; Reisman. International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL 1981, S. 119. 385 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 102; ähnlich McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 357. 386 Vgl. McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 104; Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 102. 387 McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 27; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 99; ähnlich: Reisman. International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 119; ders., Law from the Policy Perspective, in: International Law Essays, S. 3. 388 Vgl. McDougal/Reisman. International Law in Contemporary Perspective. S. 7; ähnlich Higgins. RdC 1991/V, S. 42. 389 Vgl. McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 101; McDougal/Reisman. The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 368; Reisman. International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 119; ders., AJIL Bd. 81 (1987), S.267. 390 McDougal/Lasswell. International Law in Contemporary Perspective, S. 7; McDougal/Reisman. The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 366. 391 Reisman. International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 102.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

führten drei Hauptquellen und zwei subsidiären Quellen des Völkerrechts, sondern "myriad patterns of world constitutive prescription" bzw. ein "vast and intricate web of international prescription,,392. Wenn man das Recht als spezielle Art von Regelungen ansehe, die ausschließlich aus organisierten institutionellen Strukturen hervorgingen, erschwere das das Verständnis der komplexen Vorgänge in unorganisierten Situationen 393 . Die traditionelle Völkerrechtsquellenlehre beschränkt nach Meinung der Schule von New Haven die Identifizierung von Völkerrecht in Anlehnung an die Dreiteilung der Gewalten im nationalen Recht, was aber dem Völkerrecht mangels eines formellen Gesetzgebers nicht angemessen sei 394 .

b) Das Konzept der "prescription" Statt des traditionellen Konzepts der Völkerrechtsquellen schlägt die Schule von New Haven ein weit umfassenderes Konzept der Entstehung von Völkerrecht vor, nämlich das der "prescription,,395. Diese wird definiert als "the articulation of general requirements of conduct,,396 bzw. als "the crystallization of general policy in continuing authoritative community expectations,,397. Dieser Begriff soll "the outcomes both of formally authoritative prescriptive processes and of unorganized interaction" umfassen 398 . Die Schule von New Haven befürwortet eine funktionale Sicht der Setzung von Völkerrecht: "From the standpoint of communications theory, some law may indeed be made by specialized lawmaking institutions, but any communications between elites and politically relevant groups which 392 McDougal/LassweLl/Reisman, World Constitutive Process, in: International Law Essays, S. 275. 393 McDougal/LassweLl/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 95; vgl. Reisman, Nullity and Revision, S. 8. 394 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 274; ebenso McDougal/ LassweLl/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 51; dies., The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 274; McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 357; Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S.373. 395 Vgl. McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 274 f.; Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 105 ff.; McDougal/Reisman, The Prescribing Function in the World Constitutive Process: How International Law is Made, in: International Law Essays, S. 355 ff. 396 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 9. 397 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 46. 398 McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 274.

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shapes wide expectations about appropriate future behavior must be considered as functionallawmaking.,,399 Das Konzept der "prescription" wurde auf der Grundlage von Lasswells Kommunikationstheorie durch Lasswell, McDougal und Reisman entwikkelt400 und soll die Feststellung erleichtern, ob anwendbares Recht vorliegt4ol . Ausgangspunkt dieses Konzeptes ist das Verständnis von Rechtsetzung als Kommunikationsprozess 402, wobei als Charakteristikum von rechtsetzenden Kommunikationen angesehen wird, daß sie nicht bloß eine Botschaft übermittelten, sondern drei: "The three flows may be briefly referred to as the policy content, the authority signal and the control intention. ,,403 Reisman legt dazu dar: "It is the coordination of these three message flows (... ) that indicates prescription or, in popular parlance, makes law.'.404 Nur wenn alle drei Kommunikationsströme vorlägen und aufrecht erhalten blieben, würde Recht gesetzt und gelte die gesetzte Vorschrift auch fort405 . Als "policy content" wird dabei "the content of aprescription, the norm - the injunction that one ought to do or refrain from doing something" bezeichnet406 . Somit sieht die New Haven School für das Entstehen von Völkerrecht einen bestimmten Inhalt der Norm, nämlich ein Gebot 399 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 107; ähnlich ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S. 373; vgl. McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 51. 400 McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/I1 (1965), S. 821; Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 105. 401 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 105. 402 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. XVI; Reisman International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 105; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S. 373. 403 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 108; ebenso McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decisions, in: International Law Essays, S. 274; McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 355 f.; Reisman, AJIL Bd. 81 (1987), S. 267; vgl. RosenthaI, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 87. 404 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 111; ähnlich ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 82 (1988), S.373. 405 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 108; McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 356. 406 Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 108.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

oder Verbot, sowie die Übermittlung der Botschaft, daß dieses Gebot oder Verbot "authoritative" und "controlling" sei, als notwendig an. c) Das Modell von "claims and counterclaims"

Ein weiteres Konzept der Schule von New Haven, das Modell von "claims and counterclaims", soll den faktischen Kontext juristischer Probleme und damit die Ausgangslage für die Schaffung und Veränderung von Völkerrecht beschreiben. Dieses Modell beinhaltet einen dreistufigen Prozeß: Auf der ersten Stufe erhebe ein Staat eine völkerrechtlich relevante Forderung ("claim"), auf der zweiten Stufe erfolge die Ablehnung dieser Forderung bzw. die Geltendmachung einer Gegenforderung durch einen anderen Staat ("counterclaim") und auf der dritten Stufe schließlich folge die Reaktion der Staatengemeinschaft auf die erhobenen Forderungen. Die ausführlichste Darstellung dazu, wie nach Auffassung der Schule von New Haven konkrete Normen des Völkerrechts durch diesen Prozeß entstehen, findet sich im Zusammenhang mit der Darstellung des Seerechts in McDougals berühmtem Artikel zu den Wasserstoffbombentests der USA in der Karibik: "From the perspective of realistic description, the public order of the high seas is not a mere body of rules, but a whole decision-making process, including both a structure of authorized decision-makers and a body of highly flexible, inherited prescriptions: it is a continuous process of interaction in which the decision-makers of individual nation-states unilaterally put forward claims of the most diverse and conflicting character to the use of the world's seas, and in which other decision-makers, external to the demanding nation-state and including both national and international officials, weigh and appraise these competing claims in terms of the interests of the world community and of the rival claimants, and ultimately accept or reject them. ,,407 In McDougals Monographie zum Seerecht wird dessen Entstehung wie folgt beschrieben: "Through several centuries of interaction, of particular claim and of general community acceptance or rejection in response to such claims, a body of principles and a process of decision were thus developed wh ich restrained the assertion of special interests. ,,408 Als entscheidend für die Entstehung neuen Völkerrechts bzw. die Änderung bisher geltenden Rechts sieht die Schule von New Haven die Reaktion der Staatengemeinschaft auf die von einzelnen Staaten erhobenen Forderungen an. Dabei versteht sie unter einem "claim" nicht nur die Geltendmachung eines Rechtsanspruchs, sondern allgemein eine Forderung in Bezug 407 McDougal/Schlei, The Hydrogen Bomb Tests in Perspective: Lawful Measures for Security, in: Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 656. 408 McDougal/Burke. The Public Order of the Oceans, S. 2.

Kapitel II: Die Definition des Völkerrechts

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auf ein bestimmtes Ereignis 409 , wobei sich immer ein Anspruch und ein zumindest denkbarer - Gegenanspruch gegenüberstünden41O . Diese Art von Konflikten, deren Lösung die Aufgabe des Völkerrechtlers sei, könne verallgemeinert werden als "sets of contraposed claims and counterclaims which the authoritative decision-makers must resolve,,411. Dementsprechend findet sich in den Werken der New Haven School oft ein Aufbau nach allen nur denkbaren "claims and counterclaims", die zu einem bestimmten Rechtsgebiet tatsächlich erhoben werden oder zumindest erhoben werden könnten 412 . Die "authoritative decision-makers", die über Streitigkeiten hinsichtlich erhobener "claims" entscheiden, sind nach Auffassung der New Haven School zum einen Funktionäre internationaler Organisationen oder Richter internationaler Gerichtshöfe, zum anderen Vertreter von Nationalstaaten 413 . Staaten wird demnach eine Doppelfunktion als Anspruchsteller und als über die geltend gemachten Ansprüche Entscheidender zugewiesen 414 . McDougal übernimmt hier das von George Scelle entwickelte Modell des "dedoublement fonctionnel,,415. Er schreibt der Doppelrolle staatlicher Funktionäre positive Wirkungen zu: "From this necessary reciprocity arise the recognition and clarification of a community interest which permits an appropiate compromise of competing claims.,,416 Dieser Prozeß funktioniere nach den Regeln der Gegenseitigkeit, denn das, was ein Staat beanspruche, müsse er auch bereit sein, anderen Staaten einzuräumen 417 . Die Schule von New Haven beschränkt das Modell von "claims and counterclaims" nicht auf die Frage der Entstehung neuer VölkerrechtsnorVgl. Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 184. McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 37; vgl. Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 184 f. 411 Feliciano, Appendix, in: Studies in World Public Order, S. 1026; ähnlich McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 36 f. 412 Vgl. z. B. McDougal/Burke, The Public Order of the Oceans, S. XII u. 187 ff.; McDougal/Lasswell/Chen, Human Rights and World Public Order, S. 146 ff.; McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 530 ff.; McDougal/Lasswell/Vlasic, Law and Public Order in Space, S. 394 ff. 413 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 39 f. 414 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 656 f.; ferner McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 40; ähnlich Henkin, How Nations Behave, S. 40, nach dessen Meinung Staaten "the actors, the legislators, the executives, the judges of international law" sind. 415 McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 115, Fußn. 290. 416 McDougal/Burke, Crisis in the Law of the Sea, in: Studies in World Public Order, S. 870. 417 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 284; vgl. Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 122. 409

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men, sondern sie sieht denselben Mechanismus auch bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Vorgehens. Auch beim Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen sowie bei Steitigkeiten über die Auslegung solcher Verträge gebe es einen "process of claim,,418. Staaten hätten die Rolle als Richter über völkerrechtliche Fragen nicht nur dann inne, wenn es um von einem Staat einseitig geltend gemachte Ansprüche gehe, sondern ebenso dann, wenn ein Bruch des Völkerrechts durch einen Staat behauptet werde: "When an unlawful act is alleged, a counterclaim usually follows. ( ... ) In the general absence of a centralized authoritative decision maker, it falls on individual nation-states, through their officials, to decide.,,419 Dabei würden auch die in den Streit verwickelten Staaten selbst als Richter tätig 42o . McDougal beschreibt das Völkerrecht insgesamt als "the process of decision, established by the world public order for the purpose of resolving the claims which states make against each other,,421. Nach Meinung der Schule von New Haven läßt sich die Völkerrechtmäßigkeit einer aufgestellten Forderung daher großteils durch die Reaktion der Staatengemeinschaft auf die geltend gemachte Forderung bestimmen: "The lawfulness of a particular claim or action is determined largely by the responses to it. ,,422 Während nach den traditionellen Välkerrechtstheorien die Reaktion der anderen Staaten auf ein Verhalten eines Staates nur als Indiz für dessen Völkerrechtmäßigkeit angesehen wird, begründet nach der These der New Haven School die Reaktion der Staatengemeinschaft die Völkerrechtmäßigkeit bzw. den Verstoß gegen Völkerrecht. Als ausschlaggebenden Maßstab für die Entscheidung im Fall einander entgegengesetzter "claims" führt die New Haven School das Konzept der "reasonableness" ein423 . Dieses Konzept soll die Abwägung zwischen den widerstreitenden "claims" ermöglichen, d. h. seine Aufgabe ist es "to deter418 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. 22; vgl. Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669. Dagegen sind Greig, International Law, S. 17; Macgibbon, BYIL Bd. 33 (1957), S. 116 u. 118 und Schachter, Remarks, Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270 wohl der Auffassung, daß dieses Konzept nur für das Völkergewohnheitsrecht gelten solle. 419 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 9. 420 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 9; ähnlich McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 40. 421 McDougal/Burke, Crisis in the Law of the Sea, in: Studies in World Public Order, S. 869; ebenso McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 9. 422 Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669; ebenso McDougal/ LassweIl, AJIL Bd. 53 (1959), S. 9. 423 McDougal/Schlei, Hydrogen Bomb Tests in Perspective, in: Studies in World Public Order, S. 795 f., 810 u. 818; McDougal/Lasswell/Vlasic, Law and Public Order in Space, S. 293 u. 356; McDougal/Burke, Public Order of the Oceans, S. 48; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Studies in World Public Order, S. 1016; vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 84;

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mine which of the opposed claims are most reasonable by criteria of community policy"424. Die "reasonableness" sei in der Praxis immer der ausschlaggebende Maßstab für die Entscheidung zwischen zwei geltend gemachten Ansprüchen: "The standard of decision with respect to all claims has of necessity been no more explicit than reasonableness.,,425 Die Vielzahl möglicher Streitigkeiten schließe einen präziseren Maßstab aus 426 . Zur Beantwortung der Frage, wie die "reasonableness" bestimmt werden soll, verweist die Schule von New Haven meist nur auf die Bedeutung einer umfassenden Würdigung der Umstände des jeweiligen konkreten Einzelfalls und der jeweils maßgeblichen "policies,,427. Notwendig für eine "reasonable decision" sei "a careful balancing of all the variable factors in context"428. Das Abstellen auf den Kontext im Rahmen der Bestimmung der "reasonableness" führe zu rationalen anstelle von willkürlichen Entscheidungen: "Indeed it is in the measure that decision-makers have been conscious of this necessity of weighing and balancing all factors in context to determine which of opposed claims are most reasonable by the criteria of community policy that decisions have been rational and reasoned rather than arbitrary and dogmatic. ,,429 Im Rahmen der für die Feststellung der "resonableness" erforderlichen Abwägung sollen die Vorteile für die einen Beteiligten an einer Streitigkeit gegen die Nachteile für die anderen Beteiligten abgewogen werden43o . Damit ist dieser Maßstab mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verwandt, denn die Nachteile für die eine Seite durch ein Verhalten der anderen Seite dürfen nicht unverhältnismäßig sein gegenüber den Vorteilen für die andere Seite. Dabei soll nach Meinung der New Haven School die Bestimmung der "reasonableness" durch einen "authoritative decision-maker" und Krakau, Missionsbewußtsein, S. 506; Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 124. 424 McDougal, Yale L. J. Bd. 67 (1957/58), S. 565. 425 McDougal/Schlei. Hydrogen Bomb Tests, in: Studies in World Public Order, S. 796; ebenso S. 778 u. S. 818. 426 McDougal/Schlei. Hydrogen Bomb Tests, in: Studies in World Public Order, S. 818. 427 McDougal/Schlei. Hydrogen Bomb Tests, in: Studies in World Public Order, S. 796; ähnlich: McDougal/Burke. Public Order of the Oceans, S. 48; McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Studies in World Public Order, S. 1016; McDougal/Lassweli/Vlasic. Law and Public Order in Space, S. 293; Rosenthai. Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal. S. 127. 428 McDougal/Lassweli/Vlasic, Law and Public Order in Space, S. 293. 429 McDougal/Burke, The Public Order of the Oceans, S. 48. 430 Vgl. McDougal/Schlei, Hydrogen Bomb Tests, in: Studies in World Public Order, S. 818; McDougal/Burke, Crisis in the Law of the Sea, in: Studies in World Public Order, S. 898; ähnlich McDougal/Lassweli/Vlasic. Law and Public Order in Space, S. 292, 296 u. 403.

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anhand von "community criteria" erfolgen, nicht dagegen einseItig durch einen Staat anhand seiner eigenen Interessen431 . Für die New Haven School ist die so verstandene "reasonableness" der entscheidende Prüfungspunkt für die Völkerrechtmäßigkeit eines staatlichen Vorgehens, wenn nicht gar gleichbedeutend mit der Völkerrechtmäßigkeit432 . Das von McDougal vorgeschlagene Modell ähnelt dem eines Gerichtsprozesses insofern, als zwei einander gegenüberstehende Beteiligte entgegengesetzte Forderungen erheben, über deren Berechtigung dann ein Dritter entscheidet. Es gibt allerdings auch gewichtige Unterschiede, insbesondere gibt es keinen unabhängigen und neutralen Richter, der die Entscheidung fällt, sondern alle Staaten - sogar die anspruchserhebenden Staaten selbst sind beteiligt. Außerdem gibt es hierbei nicht ein eindeutiges und schriftlich niedergelegtes Urteil, sondern die vielfältige Formen annehmende Reaktion vieler verschiedener Staatenfunktionäre und anderer Entscheidungsträger433 . Wer letztendlich feststellt, ob ein Anspruch akzeptiert oder zurückgewiesen wurde, wenn die Reaktion der Staaten - wie das meist der Fall sein dürfte - uneinheitlich oder aus anderen Gründen schwer zu deuten ist, bleibt offen. Das Modell der Schule von New Haven unterscheidet sich insgesamt dadurch von klassischen Vorstellungen zur Entstehung von Völkerrecht, daß nach der New Haven School Völkerrechts normen nicht bloß aus den anerkannten Quellen stammen und nicht bloß von Staaten geschaffen werden. Außerdem geht das Modell der New Haven School von einzelnen konkreten Konfliktsituationen aus, in denen widerstreitende "claims" erhoben werden, anstatt von der offiziellen Setzung abstrakter und genereller Normen, die dann auf einzelne konkrete Probleme angewandt werden. Die tatsächliche Reaktion der Staatengemeinschaft auf erhobene "claims" wird dabei selbst als neues Recht und nicht nur als Indiz für die Fortgeltung einer bisher schon anerkannten Norm oder die Entstehung neuen Völkergewohnheitsrechts angesehen. Statt als bewußte Rechtsetzung erscheint die Entstehung von Völkerrecht dadurch als organischer Prozeß einer Interessenabwägung im Einzelfall. Dabei hält die New Haven School die "reasonableness" anstelle der geltenden Völkerrechtsnormen für den entscheidenden

McDougal/Burke. The Public Order of the Oceans, S. 48, Fußn. 125. McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 411, 417, 471 u. 624; McDougal/Schlei. Hydrogen Bomb Tests, in: Studies in World Public Order, S. 779; McDougal/Lasswell/Vlasic. Law and Public Order in Space; vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 506; RosenthaI. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 124. 433 Vgl. McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd.64 (1959), S. 657; vgl. Macgibbon. BYIL Bd. 33 (1957), S. 140. 431

432

Kapitel II: Die Definition des Völkerrechts

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Maßstab zur Beurteilung der Völkerrechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens bei internationalen Konflikten. 5. Der Regelungsbereich des Völkerrechts

Der Regelungsbereich des Völkerrechts bestimmt sich zum einen nach den Völkerrechtssubjekten, zum anderen nach denjenigen Beziehungen von Völkerrechtssubjekten untereinander, die völkerrechtliche Beziehungen sind434 . Die Schule von New Haven zieht den Regelungsbereich des "international law" sowohl in Bezug auf die Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsbereichen - insbesondere gegenüber dem Internationalen Privatrecht - und gegenüber anderen Disziplinen als auch in Bezug auf die Subjekte des Völkerrechts weiter als die klassische Völkerrechtsauffassung. a) Abgrenzung zu verwandten Rechtsgebieten und Disziplinen

McDougals Umschreibung des Regelungsbereichs des "international law" ist insofern erheblich weiter als nach der herkömmlichen Auffassung, als er grundsätzlich auch das gesamte Gebiet des Internationalen Privatrechts einbezieht; da bei des internationales Recht sei, sei eine Trennung zwischen diesen bei den Rechtsbereichen nicht sinnvo1l 435 . Beide Rechtsgebiete würden sich beim Problem der ,jurisdiction" überschneiden436 . Ebenso lehnt McDougal auch eine scharfe Grenzziehung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht ab und hält die Debatte über das Verhältnis von bei den für nutzlos 437 , weil internationales Recht und nationales Recht "interpenetrating community processes" seien438 . lpsen, Völkerrecht, § I Rn. I. McDougal, Diskussionsbeitrag, Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 168; ferner ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 286 f.; ders., Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 122; McDougal/Burke, Preface, in: The Public Order of the Oceans, S. VII; McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. 5; ähnlich Friedman, The Changing Structure of International Law, S. 70. 436 McDougal, RdC 1953/1, S. 213. 437 McDougal, RdC 1953/1, S. 184; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 9; ders., Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 49; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 19. Dagegen ist ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 3 f., ausdrücklich der Auffassung, daß bei Konflikten zwischen Völkerrecht und nationalem Recht das Völkerrecht den Vorrang haben sollte. 438 McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/II (1965), S. 824; ebenso McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 32. 434 435

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Diese Auffassung ist an sich eine krasse Abweichung von der herkömmlichen Sicht, aber McDougal zieht kaum Konsequenzen aus ihr. Nähere Darlegungen zu Bereichen, die traditionellerweise dem Internationalen Privatrecht zugeordnet werden, finden sich in den Werken der Schule von New Haven sehr selten. Auch im Hinblick auf andere Disziplinen als die Jurisprudenz hält McDougal eine scharfe Abgrenzung zum "internationallaw" weder für notwendig noch für durchführbar. So sind für McDougal "international law" und "international relations theory" wesensverwandt439 , was angesichts seiner Ablehnung einer scharfen Trennung zwischen Recht und Politik konsequent ist. Auch Völkerrecht und die Gesellschaftswissenschaften sind für McDougal keine strikt getrennten Bereiche. Er empfindet den nach der traditionellen Rechtslehre bestehenden Zwang "to maintain a sharp distinction between sociology and law" als hinderlich44o . Die Schule von New Haven beklagt die Isolierung der Völkerrechtsgelehrten und -praktiker von den anderen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit demselben faktischen Kontext befassen441 und versucht, die Disziplinen von Rechtswissenschaft, Politologie und "international relations theory" zu integrieren442 . b) Die Välkerrechtssubjekte

Traditionellerweise wird unter Völkerrecht dasjenige Rechtsgebiet verstanden, das die Beziehungen zwischen Staaten regelt. Zwar erkennt auch die Schule von New Haven an, daß Staaten die wichtigsten Subjekte des Völkerrechts sind443 • Sie kritisiert aber diese Beschränkung auf Staaten als einzige Völkerrechtssubjekte, weil damit die Rolle der Staaten über- und die anderer Beteiligter unterschätzt werde 444 . Stattdessen plädiert sie für die 439 McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/II (1965), S. 811; a. A. wohl Chen, Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 410. 440 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 114; ähnlich McDougal, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 113 u. 117. 441 McDougallLasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 67. 442 Vgl. Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 81; Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence. in: Toward World Order, Hrsg.: Reismanl Weston, S. 16. 443 McDougal, RdC 1953/1, S. 206; ferner: Chen, Introduction to Contemporary International Law, S. 10; McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 224 u. 250. 444 McDougal, RdC 1953/1, S. 161; ähnlich McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 815.

Kapitel II: Die Definition des Völkerrechts

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Anerkennung anderer Beteiligter am internationalen Geschehen als Völkerrechtssubjekte und damit für eine Ausweitung des Regelungsbereichs des Völkerrechts: "Overriding principles here demand the utmost pluralism that all effective participants in the world power process be regarded as potentially permissible participants in international processes of authority (... ). Not merely states, but also international governmental organizations, parties, pressure groups, private associations, and individual human beings, are all appropriate ,subjects' of an internationallaw of human dignity."445 Die New Haven School hält diese Ausweitung des Blickwinkels für erforderlich, um den wirklichen Machtverhältnissen im System der internationalen Beziehungen gerecht zu werden 446 . Die nicht-staatlichen Beteiligten spielten eine wesentliche Rolle, da das Völkerrecht ihnen zahlreiche Verantwortlichkeiten auferlege und ihnen zugleich erheblichen Schutz gewähre 447 . Entscheidend für die Blickrichtung der Völkerrechtstheorie dürfe nicht sein, wer Entscheidungen treffe, sondern welche Auswirkungen Entscheidungen hätten 448 . McDougal unterscheidet demnach nicht zwischen Völkerrechtssubjektivität im klassischen Sinn als der Fähigkeit, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein und andererseits der bloß tatsächlichen Rolle als Teilnehmer internationaler Prozesse. Nach seiner Auffassung kommt es nur auf die Fähigkeit an, den völkerrechtlichen Prozeß zu beeinflussen, nicht dagegen auf die formale Anerkennung als Rechtssubjekt. Die Schule von New Haven stimmt mit neueren Entwicklungen der traditionellen Völkerrechtstheorien 449 dabei insofern überein, als sie zwischenstaatliche internationale Organisationen als Völkerrechtssubjekte anerkennt 45o . Sie setzt sich aber in bezug auf zwei weitere Kategorien von Teilnehmern an internationalen Prozessen deutlich von der traditionellen Völkerrechtslehre ab: zum einen hinsichtlich der nichtstaatlichen internatio445 McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL 53 (1959), S. 125; ferner McDougal/Lassweli/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 224; McDougal/Lassweli/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. 14; Reisman/Suzuki, Recognition and Social Change, in: International Law Essays, S. 498. 446 McDougal/Lassweli/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 223 u. 247; ferner: Reisman, AJIL Bd. 81 (1987), S. 268. 447 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL 53 (1959), S. 168. 448 Vgl. McDougal, RdC 1953/1, S. 181. 449 Vgl. Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 2; lpsen, Völkerrecht, § I Rn. 9. 450 McDougal, RdC 1953/1, S. 174 u. 228; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, Proc ASIL 53 (1959), S. 125; ehen, Perspectives from the New Haven School, Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 407. 6 Voos

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

nalen Organisationen (z. B. private Vereinigungen, Unternehmen und Parteien451 ), zum anderen im Hinblick auf Einzelmenschen; beide Kategorien sind nach Meinung der New Haven School ebenfalls "participants in the world power process,,452 und damit ebenso am Völkerrechtsprozeß beteiligt wie Staaten. Die Schule von New Haven betont die wichtige Rolle, die Individuen als Teilnehmer an völkerrechtlichen Prozessen spielen453 . Die bisherige Ablehnung der Völkerrechtssubjektivität von Individuen sei überholt, denn es gäbe auch unorganisierte, inoffizielle Bereiche, in denen Individiduen durchaus eine Rolle zukomme454 . Die New Haven School gesteht allerdings ein, daß die Völkerrechtssubjektivität von Individuen eher ein Ziel als die Beschreibung des geltenden Rechts darstellt: "The status of individuals remains somewhat primitive and equivocal, though with trends toward wider recognition. ,,455 Kapitel III

Die Methodik der Schule von New Haven 1. Einführung

a) Funktionale Sicht des Völkerrechts und die Reform des Völkerrechts

Die Schule von New Haven sieht das Völkerrecht - wie allgemein das Recht - funktional, also unter dem Blickwinkel der Erfüllung von Zwekken, insbesondere von gesellschaftlichen Aufgaben 456 . Dementsprechend stellt für sie "the purposive conception of law" die Haupterrungenschaft der Naturrechtslehren dar457 . Die New Haven School betrachtet das Völkerrecht als "a great creative instrument of social policy for promoting a preferred 431 McDougal. RdC 1953/1, S. 174; McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL 53 (1959), S. 125; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 27. 432 McDougal. RdC 1953/1, S. 173 f. 433 McDougal. RdC 1953/1, S. 173 f.; McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL 53 (1959), S. 168; McDougal/Lassweli/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 236. 434 McDougal/Lassweli/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 236. 435 McDougal/Lassweli/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 223. 436 McDougal. Yale L. 1. Bd. 50 (1941), S. 838; ebenso: Schachter. Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 262; Falk. Book Review zu "Studies in World Public Order", in: American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 297.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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social order,,458, also als Werkzeug für die Umsetzung politischer Zielsetzungen 459 . Aus der Funktionalität des Völkerrechts folgt nach Auffassung der New Haven School die Notwendigkeit für die Völkerrechtswissenschaft, sich mit der Frage zu befassen, auf welche Ziele das Völkerrecht hinwirken soll, sowie das Recht an diesen Zielen zu messen: "We C..• ) agree that law serves social ends and values, and that it is appropriate for lawyers to examine and criticize law in the light of such ends.,,46o Im Gegensatz zu den traditionellen Völkerrechtstheorien stellt die Schule von New Haven daher ausdrücklich Ziele auf, an denen ihrer Meinung nach das Völkerrecht sowie die Völkerrechtswissenschaft orientiert werden sollen; dabei handelt es sich um politische Ziele im weitesten Sinn. Die Schule von New Haven geht also insofern weiter als die traditionellen Theorien, als sie das Völkerrecht nicht als im wesentlichen vorgegeben und unveränderbar ansieht, sondern es in Richtung auf die von ihr angestrebten Ziele refonnieren Will461 . Die Reform des Völkerrechts unter Berücksichtigung der gesetzten Ziele ist nach Auffassung der New Haven School eine Aufgabe gerade auch der Völkerrechtswissenschaft: "Not the least of the institutionalized devices that call for reappraisal are the doctrines and operations having the name of international law. C••• ) The task is a prime responsibility of the scholarly world, and especially of jurisprudence and the social sciences generally.,,462 Reisman faßt diese Auffassung wie folgt zusammen: "In most general tenns, the utility of this intellectual approach is that it pennits the scholar and lawyer to see law as a secular artifact created by human beings to achieve certain social consequences; it legitimizes and facilitates the appraisal of the legal system in tenns of goals and makes explicit the social engineering function of the lawyer.,,463 Völkerrechts gelehrte sollen nach 457 McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 77. 458 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15; ähnlich McDougal, Yale L. 1. Bd.56 (1947), S. 1353; ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 72; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989190, S. 232; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. XXII. 459 McDougal, Yale L. 1. Bd. 56 (1947), S. 1353; vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 86. 460 Schachter, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267. 461 McDougal, Yale L. 1. Bd. 50 (1941), S. 838 f.; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 16. 462 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 6; ähnlich Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15; LassweIl, Introduction: Universality versus Parochialism, in: Law and Minimum World Public Order, S. XIX; McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 49. 6"

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

dieser Auffassung also nicht nur dogmatisch tätig sein, sondern zugleich auf ein übergeordnetes politisches Ziel hinwirken464 . Zusammengefaßt verfolgt die Schule von New Haven hauptsächlich zwei Ziele: Zum einen will sie dazu beitragen, eine bestimmte neue Völkerrechtsordnung, nämlich das "international law of human dignity", herbeizuführen, zum anderen will sie eine Völkerrechtstheorie und wissenschaftliche Methode begründen, die dabei helfen sollen, das erste Ziel zu erreichen. Diese bei den Ziele werden durch folgende programmatische Aussage illustriert: "The challenge to scholars of international law is twofold: (1) to develop a jurisprudence, a comprehensive theory and appropriate methods of inquiry, which will assist the peoples of the world to distinguish public orders based on human dignity and public orders based either on a law which denies human dignity or a denial of law itself for the simple supremacy of naked force; and (2) to invent and recommend the authority structures and functions (... ) necessary to a world public order that harmonizes with the growing aspirations of the overwhelming number of the peoples of the globe and is in accord with the proc1aimed values of human dignity enunciated by the moral leaders of mankind. ,,465 Die Errichtung einer Rechtsordnung der Menschenwürde ist dabei das oberste Ziel der Schule von New Haven 466 . McDougal sieht es als seine Aufgabe an aufzuzeigen, wie Juristen am besten auf eine Realisierung des von ihm angestrebten Ziels der "human dignity" hin wirken können: "The task which I have set myself is to consider as systematically as possible wh at those of us who are genuinely com463 Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279; ähnlich McDougal. Yale L. J. Bd. 50 (1941), S. 836. Vgl. das Zitat von Pound. Philosophical Theory and International Law, das McDougal seinem Artikel in RdC 1953/1, S. 137 voranstellt. 464 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 141; McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 43-44 (1949-50), S. 92; ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 72; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 16. 46S McDougal/Lasswell. The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order, in: AJIL Bd. 53 (1959), S. 28; ähnlich McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 131; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 141. 466 McDougal. RdC 195311, S. 257; McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959); S. 11; McDougal/Lasswell. Legal Edueation and Publie Poliey, in: Studies in World Public Order. S. 49; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law. in: International Law Essays, S. 141; McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 107 ff. u. 131; Reisman. Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S.242.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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mitted to the values of human dignity may do, in our specialized röles as scholars, advocates, counselors, negotiators, and decision-makers, to establish and maintain the perspectives best designed to help move mankind from its present precarious balance of terror toward a more complete world public order ( ... ) in which the values of human dignity may be fulfilled and made more secure. ,,467 McDougal und LassweIl riefen - insbesondere in dem 1959 erschienen Aufsatz "Idenfication and Appraisal of Diverse Systems of Public Order" alle gleichgesinnten Völkerrechtsgelehrten auf, sich an ihrem Vorhaben zu beteiligen468 und durch Einflußnahme auf Entscheidungsträger auf die Realisierung der angestrebten politischen Ziele durch eine Reform des Völkerrechts hinzuwirken469 . McDougal will demnach kein bloßes Gedankengebäude aufbauen, sondern praktischen Einfluß auf juristische Entscheidungen und die Gesellschaft ausüben47o . Die Fragen, die diese Schule für wesentliche Fragen der Völkerrechtswissenschaft hält, sind daher typischerweise nicht dogmatisch oder theoretisch, sondern betreffen die soziale Realität471 . Um viele der Thesen der New Haven School, insbesondere zur Rolle der Völkerrechtswissenschaft und zur Bedeutung von Werten für das Völkerrecht, verstehen zu können, muß man sich die Epoche, in der diese Schule begründet wurde - die 40er bis 60er Jahre, d. h. die Hochphase des Kalten Krieges - und das durch diese Epoche geprägte Weltbild ihrer Begründer McDougal und LassweIl vergegenwärtigen. Ihre Sicht der Welt war schwarz-weiß: auf der einen Seite die "Guten" die westlichen Staaten -, auf der anderen Seite die "Bösen" - die kommunistischen Staaten472 -; letztere werden als "totalitarian oppression,,473 oder 467 McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 109; ähnlich McDougal, RdC 1953/1, S. 166; Reisman, The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 125. 468 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 6. 469 McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 131; McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XX; vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 82. 470 Vgl. McDougal, Yale L. 1. Bd. 56 (1947), S. 1355: "programm for action"; Reisman, The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 120; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 460. 471 Vgl. McDougal, RdC 1953/1, S. 184. 472 Vgl. McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 112; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 108 f; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 285. 473 McDougal/Bebr, AJIL Bd.58 (1964), S. 641; ähnlich McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 5; McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985),

S.285.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

als "the most ruthless and comprehensive tyranny that man has ever known,,474 beschrieben. Die New Haven School sah den Konflikt zwischen den USA und der ehemaligen Sowjetunion als Konflikt zwischen unterschiedlichen Wertesystemen: auf der einen Seite der Kommunismus, auf der anderen Seite Menschenwürde und Demokratie475 . Trotzdem bejahte McDougal aber auch die Existenz von Abhängigkeiten und gemeinsamen Interessen der Vereinigten Staaten und der damaligen Sowjetunion476 . McDougal und Lasswell hielten es angesichts der Bedrohung der westlichen Welt durch den Kommunismus für eine wichtige Aufgabe auch der Wissenschaftler, die Loyalität der Menschen gegenüber dem westlichen System zu stärken 477 . So begründet die New Haven School ihre Vorschläge einer Reform des Völkerrechts und der Völkerrechts wissenschaft mit dem Verweis auf die politische Krise 478 . Angesichts des Gegensatzes zwischen westlichen und kommunistischen Staaten verneint diese Schule die Existenz eines universellen Völkerrechts und geht stattdessen von zwei entgegengesetzten "systems of public order" aus479 . Wer es versäumt, das Recht als "instrument of policy" zu begreifen, sorgt damit nach Meinung der New Haven School für die Niederlage der vom westlichen Wertesystem bevorzugten "policies", denn die Kommunisten seien sich bewußt, daß das Recht ein Prozeß zur Förderung von "policies" sei 480. Dem Völkerrecht wird demnach die Aufgabe zugewiesen, eine bestimmte Gesellschaftsform, nämlich die der westlichen Demokratie, zu fördern 481 . Die Ähnlichkeit dieser Argumentation mit sozialistischen Rechtstheorien 482 ist kein Zufall: McDougal will die kommunistischen Staaten mit ihren eigenen Waffen schlagen.

McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959). S. 28 f. Vg!. Falk. Legal Order in a Violent World. S. 86; McDougal. Yale L. J. Bd. 56 (1947), S. 1348. 476 McDougal. Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 115. 477 Vg!. McDougal/Bebr. AJIL Bd.58 (1964), S. 641; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 16; McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 1 ff.; Lassweil. Universality in Perspective, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 3. 478 McDougal. Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 53; McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 11. 479 McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. I ff. u. 10; ebenso: Reisman. AJIL Bd. 84 (1990), S. 859 (für die Zeit des Kalten Krieges). 480 McDougal. RdC 1953/1, S. 141, Fußn. I; vg!. Falk. Legal Order in a Violent World, S. 86. 481 McDougal. Yale L. J. Bd. 60 (1951), S. 1051. 482 McWhinney. Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 103. 474 475

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b) Die Reform der Völkerrechtswissenschaft Die Schule von New Haven hält die traditionelle Völkerrechtswissenschaft für dringend reformbedürftig. Sie wirft den herkömmlichen Theorien u. a. folgende Fehler und Versäumnisse vor: "over-emphasis on technical rules, unrelated to policies, as factors in guiding and shaping decisions, C... ) over-emphasis on naked power as a factor in decision, C... ) failure to achieve comprehensive description of the participants in the world power process, and C..• ) failure to achieve comprehensive description of the techniques of policy formulation and application employed by such participants,,483. Der Blickwinkel der traditionellen Völkerrechtswissenschaft sei nicht umfassend genug484 . Insbesondere dem Positivismus wirft die Schule von New Haven vor, er habe der sozialen Realität bewußt den Rücken zugewandt485 . Daher kommt die Schule von New Haven zu dem Schluß: "The inadequacies of contemporary theory about international law add up, accordingly, to failure effectively to perform the various functions indicated above as indispensable to a policy-oriented approach to the study of international law. ,,486 Um diesem behaupteten Mißstand abzuhelfen, stellt die Schule von New Haven eine völkerrechtliche Theorie auf, die die Völkerrechts wissenschaft reformieren soll. Sie meint dazu, daß die allgemeinen rechtstheoretischen Grundsätze, denen ein Jurist anhänge, auch bei der Lösung einzelner Probleme seinen Untersuchungsgegenstand, seine Vorgehensweise und seine Ergebnisse prägen würden487 . Als Beurteilungskriterien für eine Rechtstheorie sieht die New Haven School folgende vier Punkte an: 1. "the establishment and maintenance of clarity in observational standpoint", 2. "the comprehensiveness and realism of the major focus of inquiry established", 3. "the range and quality of performance of intellectual tasks" sowie 4. "explicitness in the postulation of basic public order goals,,488. An diesen Kriterien richtet McDougal. RdC 1953/1, S. 143. McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd.43-44 (1949-50), S. 92; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 136; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1. S. 4 u. 24. 48S McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 106. 486 McDougal, RdC 1953/1, S. 163; ähnlich ders., The Comparative Study of Law, in: Studies in World Public Order, S. 952 f.; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 48. 487 McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 54; ders., Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 338 f. 488 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 52 ff.; McDougal. Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 8; ders., Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 339; McDougal/Lasswell. Ju483 484

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

die Schule von New Haven ihre eigene Theorie aus, weshalb im Folgenden auf die einzelnen Kriterien näher eingegangen werden soll. Nach Auffassung der Schule von New Haven prägt die Perspektive, die jemand innehat, seine Rechtsauffassung, weshalb ein Wissenschaftler versuchen müsse, im Hinblick auf die Bedeutung der von ihm eingenommenen Perspektive sensibel zu sein und seinen Blick nicht von Vorurteilen, Nationalität etc. trüben zu lassen 489 . Diese Schule unterscheidet im Hinblick auf den Beobachterstandpunkt zwischen der Rolle des "scholarly observers" einerseits, der hauptsächlich Erkenntnisse suche, und der Rolle des "decision-makers" andererseits, der vor allem nach Macht strebe 49o . Nur bei klarer Trennung zwischen diesen beiden Standpunkten könne der Völkerrechtsgelehrte die "common interests of the whole of mankind" erkennen und dadurch diese für die aktiv am internationalen Geschehen Beteiligten klären491 . Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit sei die strikte Einhaltung des Beobachterstandpunkts erforderlich: "If the scholarly ob server cannot distinguish his vantage point from that of the active participant in the process under scrutiny (... ) he can establish no criteria for appraising in terms of common interest the rationality of either claims or decisions.,,492 Der für Völkerrechtsgelehrte passende Beobachterstandpunkt sei dabei kein nationaler Standpunkt je nach der Zugehörigkeit des Gelehrten, sondern der von Weltbürgern, die sich mit der Zukunft der Menschheit identifizieren493 .

risprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 17; vgl. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15. 489 Reisman, The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 120; ders., Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 233. 490 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 52; McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 64 f.; ders., Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 337; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 233; ders., The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 120. 491 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 53; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 22. 492 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 53; McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/II (1965), S. 812; ähnlich: ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15. 493 McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 18; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 53; McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 374.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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In diesem Zusammenhang unterscheidet die Schule von New Haven zwischen zwei rechtswissenschaftlichen Disziplinen, der "theory about law" und der "theory 0/ law ..494 . Eine "theory about law" untersuche das Recht "from a dispassionate, secular, agnostic and external standpoint rather than from the viewpoint of an internal participant,,495 - d. h., der Blickwinkel entspricht dem "observational standpoint" - wohingegen eine "theory 0/ law" das Recht aus der Sicht des juristischen Entscheidungsträgers sehe. Während also eine Theorie über das Recht die wissenschaftliche Erforschung des Rechts von außen bezwecke, diene eine Theorie des Rechts der Rechtfertigung von Entscheidungen496 . Die New Haven School selbst widmet sich überwiegend der "theory about law,,497. Das zweite Kriterium, das völkerrechtliche Theorien nach Auffassung der New Haven School erfüllen müssen, ist "comprehensiveness and realism of the major focus of inquiry". Darunter versteht sie zum einen, daß die untersuchte Gemeinschaft ausreichend umfassend verstanden wird, zum anderen, daß der Begriff des Rechts umfassend genug ist498 . Im Hinblick auf die Gemeinschaft müsse der gesamte Globus berücksichtigt werden: "A relevant jurisprudence will recognize that the whole of mankind does today constitute a community, in the sense of interdetennination and interdependence, and will extend its focus of inquiry to include this largest community.,,499 Der Untersuchungsgegenstand der New Haven School ist insbesondere insofern weiter als der der traditionellen Völkerrechtstheorien, als sich 494 McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 337; McDougal1 LasswelilReisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 3; McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 285; Reisman. The View from the New Haven School of International Law. in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 123; McDougallLasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 18; ebenso: ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 14; Falk. The Status of Law in International Society, S. VII. 495 Reisman. Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 232. 496 McDougal. Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972). Suppl. 2, S. 114; vgl. Schreuer. New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 65. 497 Vgl. ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 14; McDougallLasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. XXIII; Reisman. Theory About Law. in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 232. 498 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 17; McDougall Reisman. Columbia Law Review Bd.65/11 (1965), S. 810; McDougallLasswelll Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 53 ff. 499 McDougallLasswelilReisman. Theories About International Law, in: International Law Essays. S. 54; ebenso ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 18; McDougallReisman. International Law in Policy-Oriented Perspective, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 117; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 31.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

diese Schule dagegen wendet, die Rechtswissenschaft auf das Studium von Normen zu beschränken50o . Ein weiteres Kriterium, an dem sich Völkerrechtstheorien nach Meinung der New Haven School messen lassen müssen, ist das der Erfüllung bestimmter intellektueller Aufgaben. Um das bisherige Völkerrecht anhand der zu erfüllenden Zwecke bewerten und besser geeignete Alternativen vorschlagen zu können, müssen Völkerrechtsgelehrte nach Auffassung dieser Schule fünf intellektuelle Aufgaben erfüllen: 1. " the clarification of goal values", 2. "the description of trends in decision", 3. "the identification (... ) of the variables (... ) that affect particular decisions", 4. "the critical projection of trends into the future" und 5. "the appraisal of decisions in terms of their compatibility with goal values and the invention and evaluation of new alternatives of policy"501. Notwendige Aufgaben einer Völkerrechtstheorie sind also nach Meinung der New Haven School die Klärung grundsätzlicher Zielvorstellungen, die systematische Beschreibung der bisherigen Entscheidungstrends, die Analyse der die Entscheidungen bedingenden Faktoren, die Vorhersage künftiger Entscheidungen und die Erarbeitung rechtspolitischer Alternativen502 . Für die systematische und disziplinierte Erfüllung dieser Aufgaben, die sowohl vom wissenschaftlichen Beobachter als auch vom Entscheidungsträger erfüllt werden sollen, müsse eine Völkerrechtstheorie Sorge tragen503 . Auf die erste Aufgabe, die Klärung der grundlegenden "goal values", wird im Zusammenhang mit der Erläuterung, was die New Haven School unter "values" versteht, noch ausführlicher einzugehen sein504 . Die zweite Aufgabe, die systematische Beschreibung des Trends juristischer Entschei500 Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs 1989/90, S. 235.; ders., The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 121. 501 McDougal, RdC 1953/1, S. 141; ähnlich z. B. McDougal/Reisman, Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 825; McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 200 f.; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 110; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 240 ff.; ebenso: Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 20 f.; Moore, Law and the Indo-China War, S. 58. 502 Vgl. Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 75 f. 503 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 20 f.; McDougal, RdC 1953/1, S. 141; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 9; ähnlich LassweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 39; McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 50. 504 Siehe Teil A, Kap. III, Abschn. 3 b.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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dungen in der Vergangenheit, soll auch die Analyse umfassen, ob und in welchem Maß die bisher getroffenen Entscheidungen den - im ersten Schritt geklärten - "goal values" entsprechen 505 . Die dritte Aufgabe beinhaltet die Identifizierung und Analyse der Faktoren, die die in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen beeinflußt haben 506 . Die Vorhersage künftiger Trends, der vierte Schritt, soll mit Hilfe der von Lasswell entwikkelten "developmental constructs" mögliche künftige Entwicklungen auf ihre Wahrscheinlichkeit hin untersuchen 507 • Die fünfte und letzte Aufgabe, die Bewertung bisheriger Entscheidungen anhand der gesetzten Ziele und die Entwicklung von Alternativen, entspricht der oben dargelegten Aufgabe der Reform des Völkerrechts und soll eine Synthese der ersten vier Aufgaben beinhaltenso8 . Als viertes Kriterium fordert die New Haven School von einer Völkerrechtstheorie Klarheit und Offenheit über die angestrebten "basic public order goals". Sie selbst äußert sich dementsprechend ausdrücklich dazu, welche Ziele sie selbst für die internationale Staatengemeinschaft anstrebtSo9 . Nach ihrer Auffassung soll das Völkerrecht insbesondere drei Zwecke erfüllen: es soll die "human dignity" schützen, die "common interests" der Völker klären und umsetzen und schließlich eine "minimum public order" sichern. Darauf, wie diese Begriffe im einzelnen zu verstehen sind und woher die New Haven School genau diese Ziele nimmt, wird später noch ausführlicher eingegegangen werden 51O • McDougal nennt die von ihm, Lasswell und Reisman entwickelte Völkerrechtstheorie "a policy-oriented jurisprudence (= philosophy-science of law) in our time"SII. An anderer Stelle beschreibt er die Schule von New Haven als "a contextual, policy-oriented jurisprudence, postulating as its overSOS McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 20; McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision. in: International Law Essays, S. 200; ähnlich: LassweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 39. 506 McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 20. 507 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 20 f. 508 ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 20 f. 509 Vgl. ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; Higgins. RdC 1991/V, S. 33; McDougal, Mississippi Law Journal Bd.20 (1948-49), S. 277; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 15 f.; McDougal/Lasswell/ Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 59; McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 111; Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279. 510 Siehe Teil A, Kap. I1I, Abschn. 3 d bb), dd), ee) und Abschn. 3 e. 511 McDougal. RdC 1953/1, S. 137; ebenso z. B. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 14; McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. IX; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 64; ders., Georgia

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

riding goal the dignity of man,,512. Ziel sei eine konstruktive, problemlösende Rechtswissenschaft 513 , weshalb die New Haven School nicht nur neue rechts theoretische Thesen aufstellen will, sondern auch eine neue Methode für völkerrechtliche Arbeiten514 . Demnach betont diese Schule die praktische Seite einer Rechtswissenschaft, wenn sie eine problemorientierte Völkerrechtstheorie anstrebt515 . Die Schule von New Haven will eine "comprehensive guiding theory" bieten516 , die einen "disciplined, configurative and contextual use of all the recommended skills of thought" ermöglichen S01l517. McDougal faßt die von ihm angestrebte Methode wie folgt zusammen: "Our objectives include both the developing of a comprehensive framework of inquiry wh ich will permit full advantage to be taken of expanding knowledge in the social and behavioral sciences and the encouragement of the use of such a framework, flexibly and creatively, in specific inquiries designed to further progress toward a public order more completely embodying and protecting the postulated values.,,518 Ziel dieser Schule ist also, zunächst eine Untersuchungsmethode zu entwickeln und sie dann selbst in speziellen Studien auf unterschiedliche Rechtsprobleme anzuwenden. Parallel zu der vorgeschlagenen Reform der Völkerrechtswissenschaft strebt die New Haven School auch eine Reform der juristischen Ausbildung in den USA an 519 . In dem berühmtem Artikel "Legal Education and Public Policy: Professional Training in the Public Interest" von 1943 kritisierten McDougal und Lasswell die bisherige Ausbildung an den Law Schools als 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 113; McDougal/Burke. The Public Order of the Oceans, S. X. 512 McDougal. Introduction. in: Studies in World Public Order, S. IX. 513 Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 14; ähnlich McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 110. 514 McDougal. Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 113. 515 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays. S. 141; Chen. An Introduction to International Law in Contemporary Perspective, S. 14; ähnlich Reisman. Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 232; ders., The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 120. 516 McDougal. RdC 1953/1, S. 140. 517 McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 113. 518 McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. IX; ähnlich ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 72. 519 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 42 ff.; McDougal. Yale L. J. Bd. 50 (1941), S. 839; ders., Yale L. 1. Bd. 56 (1947), S. 1345 ff.; ders., Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 111 f.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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nicht ausreichend auf bestimmte Werte einer freien Gesellschaft ausgerichtet 520 . In diesem Artikel stellen die bei den Autoren ein ganzes Programm zur Reformierung der Ausbildung an den "law schools" auf, dessen Leitgedanke ist, daß "if legal education in the contemporary world is adequately to serve the needs of a free and productive commonwealth, it must be conscious, efficient and systematic training Jor policy-making,,521. Dieses Programm wurde in Yale nur begrenzt verwirklicht522 . Zwar sind zahlreiche Lehrveranstaltungen interdisziplinär ausgerichtet523 und die Yale Law School ist bekannt für ihre Beteiligung an der rechtspolitischen Diskussion 524 , aber die Sozialwissenschaften wurden nicht völlig in die Rechtswissenschaft integriert525 . Kurz zusammengefaßt gibt es fünf Schlüsselbegriffe, mit denen die Schule von New Haven ihre Methode charakterisiert: 1. "policy-orientation", 2. "value-orientation", 3. "contextual", 4. "scientific" und 5. die Aufstellung eines umfassenden "framework of inquiry". Im Folgenden soll erläutert werden, wie diese Schlüsselbegriffe zu verstehen sind. Anschließend wird in einem Exkurs auf das Spezialproblem der Auslegung völkerrechtlicher Verträge eingegangen werden, da anhand dieses Problems besonders deutlich wird, wodurch sich die New Haven School von den traditionellen Völkerrechts theorien unterscheidet. 2. Die "policy-orientation"

a) Erläuterungen zum Begriff der "policy" "Policy" wird teilweise einfach mit Politik übersetzt 526 , aber auch mit "politische Richtung; Richtlinie, Grundsatz; Ziel(setzung), Programm,,527. In den Sozialwissenschaften wird der Begriff "policy" als "a set of deci520 McDougal/Lasswell, Legal Education, in: Studies in World Public Order, S. 78; vgl. Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 29. 521 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 46; ähnlich Falk, Book Review zu "Studies in World Public Order", in: American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 300; McDougal, Yale L. 1. Bd. 56 (1947), S. 1354; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 16. m Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 556. 523 Faßbender, JuS 1996, S. 85. 524 Faßbender, JuS 1996, S. 85. 525 Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 556. 526 Herbst, Dictionary of Commercial, Financial and Legal Terms, Bd. I; Breul, Cassell's German and English Dictionary. 527 Dietl/Moss/Lorenz, Wörterbuch für Recht, Wirtschaft und Politik, Teil I Englisch-Deutsch; ähnlich Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal,

S.20.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

sions taken by a political ac tor or group, concerning the selection of goals and the methods of attaining them, within a specified situation,,528 verstanden. Die New Haven School definiert "policy" als "the making of important decisions which affect the distribution of values,,529. Dieser Begriff sei dem verwandten Begriff "political" vorzuziehen, weil letzterer mit unliebsamen Assoziationen verknüpft sei 53o . Wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffs der "policy" soll er im Folgenden unübersetzt bleiben. Dieser Begriff prägt eine ganze Forschungsrichtung, die "policy sciences", zu denen man in der Rechtswissenschaft die Schule von New Haven zählen kann 531 . Harold D. Lasswell, einer der Begründer der "policy sciences,,532, erläutert dieses Konzept folgendermaßen: Die "policy sciences" sei~n "the disciplines concerned with explaining the policy-making and policy-executing process, and with locating da ta and pro vi ding interpretations which are relevant to the policy problems of a given period,,533. Der Inhalt dieser Wissenschaften sei die Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf den Entscheidungsprozeß 534 , wobei viele verschiedene Wissenschaftsdisziplinen - nicht nur die Politologie - berührt und zusammengeführt würden535 . Zumindest im Bereich der Politologie ist der "policy approach" als wesentliche Richtung anerkannt536 . Das Ziel dieser Bewegung ist es, der Verwirklichung der Werte der Menschenwürde und der Demokratie durch die Nutzbarrnachung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse für die grundsätzlichen Probleme der Menschheit zu dienen 537 . Reine objektive Wissenschaftlichkeit sei nicht genug zur Roberts, A Dictionary of Political Analysis, S. 152. McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 46; ebenso LassweIl, The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 5; McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 339. 530 LassweIl, The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 5. 531 Vgl. Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 18 f. und 37; lohnston, The Heritage, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 194; McDougal, Yale L. 1. Bd. 56 (1947), S. 1349. 532 LassweIl, Policy Sciences, in: International EncycIopedia of the Social Sciences, Bd. 12, S. 182; vgl. Lasswell/Lemer, The Policy Sciences: Recent Developments in Scope and Method, Stanford 1951. 533 LassweIl, The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 14; ähnlich Lasswell/Kaplan, Power and Society, S. XII. 534 LassweIl, Policy Sciences, in: International EncycIopedia of the Social Sciences, Bd. 12, S. 181 u. 184. 535 LassweIl, The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 4. 536 Roberts, A Dictionary of Political Analysis, S. 154; Tipson, VJIL Bd. 14 (1973/74), S. 555 f. 537 LassweIl, The Policy Orientation, in: Policy Sciences, S. 15; Lasswell/Kaplan, Power and Society, S. XIII; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 494; Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 18 und 37. 528

529

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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Erreichung des Zieles einer demokratischen Weltordnung: "We emphasize ,poliy purposes' because we regard a jurisprodence which purports to be ,scientific' only as inadequate."s38 Wie Krakau es formuliert: aus der "Wissenschaft von der Politik", der Politologie, wird so eine "Wissenschaft für die Politik"s39. b) Unvermeidlichkeit eines "policy choice"

Nach Auffassung der New Haven School beinhaltet jede Entscheidung unvermeidlich die Wahl zwischen verschiedenen "policies"s4o. Das Treffen juristischer Entscheidungen bei der Rechtsanwendung könne nicht von "policy"-Erwägungen getrennt werden: "It is, fortunately, becoming increasingly recognized that ,law' and ,policy' are not distinct and that every application of general roles (... ) to specific cases in fact requires the making of policy choices."S41 Überlegungen zu "policy"-Fragen und damit die Berücksichtigung politischer und sozialer Faktoren und Konsequenzen seien integraler Bestandteil des Völkerrechts. In jedem Fall sei das Treffen einer Wahl notwendig: "Reference to ,the correct legal view' or ,roles' can never avoid the element of choice (though it can seek to disguise it)"s42. Daher sei die traditionelle Vorstellung einer quasi-mechanischen, objektiven und wertfreien Anwendung von Völkerrechtsnormen auf konkrete Sachverhalte falsch 543 . Da Recht nach Meinung der Schule von New Haven immer Werte ausdrückt544 , seien juristische Entscheidungen auch nie wertneutral, sondern stellten immer Entscheidungen zwischen verschiedenen Werten und mit Konsequenzen für Werte d~4s. Nach Auffassung der Schule von New

538 McDougal, The Comparative Study of Law for Policy Purposes, in: Studies in World Public Order, S. 948, Fußn. 3. 539 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 500; ähnlich Warbrick, Introduction, in: Theory and International Law, Hrsg.: Aliott/Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. XIf. 540 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; vg!. McDougal, Yale L. J. Bd. 50 (1941), S. 834; ders., RdC 1953/1, S. 155; McDougal/ LassweIl, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S.46. 541 McDougal, RdC 1953/1, S. 155; ders., Yale L. 1. Bd. 50 (1941), S. 834; ähnlich ders., Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 112. 542 Higgins, RdC 1991/V, S. 28; ferner: Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12. 543 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 80. 544 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 135; ebenso McDougal/Schlei, Hydrogen Bomb Tests in Perspective, in: Studies in World Public Order, S. 778; vg!. Rosenthai, Etude de J'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 130.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Haven gibt es daher keine neutrale Rechtsanwendung: "No application of a rule can be neutral in terms of social consequence,,546. Diese Schule ist der Meinung, daß Normen je nach ihrem Inhalt immer eine Vorliebe für bestimmte "policies" ausdrücken: "The notion of a neutral law, a law without policy content, is a delusion,,547. Diese notwendige Berührung mit "policy"-Fragen habe auch Folgen für die Völkerrechtstheorie: "lust as there can be no neutral or autonomous theories of law, in the sense of rules devoid of policy content, so also there can be no indifferent theories about law, in the sense of knowledge or ignorance without policy consequences.,,548 Auch wer die "policy-orientation" ablehne, wähle damit eine "policy": "Even those who still insist that policy is no proper concern of a law school tacitly advocate a policy, unconsciously assuming that the ultimate function of law is to maintain existing social institutions in a sort of timeless status qua; what they ask is that their policy be smuggled in, without insight or responsibility. ,,549 Da sie einen "policy choice" für unvermeidlich hält, fordert die Schule von New Haven, diese Wahl möglichst offen, bewußt und systematisch vorzunehmen, um eine rationale Wahl zu treffen. Eine offene Befassung damit bedeute zum einen, daß der Entscheidungsträger selbst sich über seine Zielvorstellungen klar werden müsse, zum anderen, daß die getroffenen Entscheidungen der öffentlichen Diskussion unterworfen werden müßten 550. Die Völkerrechtsgelehrten sollten die für das Wohl der Gemeinschaft am besten geeigneten "policies" auswählen, d. h., sie sollten versuchen, "not 545 McDougal. Diskussionsbeitrag. in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 135; vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 462; Rosenthai. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal. S. 26. 546 Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 12; ähnlich McDougal. Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 19; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. XXII. 547 McDougal. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 285; ähnlich Higgins. ICLQ Bd. 17 (1968), S. 58 f.; McDougal. RdC 1953/1, S. 155; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 11; McDougal/Schlei. Hydrogen Bomb Tests, in: Studies in World Public Order, S. 778. 548 McDougal/Lasswell. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 58; ähnlich LassweIl. Introduction. in: Toward World Order and Human Dignity, S. XV; McDougal. Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 339. 549 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 46 f.; vgl. ferner Falk. The Status of Law in International Society, S. X; Higgins, Integrations of Authority and Control, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 84; LassweIl. A Pre-View of Policy Sciences, S. 40; McDougal/ LassweIl, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 98; Moore. Law and the Indo-China War, S. 63. 550 Higgins. RdC 1991/V, S. 28 f.; ähnlich Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; McDougal. Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 19.

Kapitel 1II: Die Methodik der Schule von New Haven

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merely to relate law to so me kind of policy, but rather, and further, to clarify and promote the policies best designed to serve the particular kind of public order they cherish,,551. c) Bedeutung von "po/icies"

Die New Haven School will den Prozeß des Rechts nicht nur beschreiben und analysieren, sondern ihn mittels der "policy-orientation" ihrer Theorie zugleich auch steuern 552 . Sie sieht die "policy-orientation" nicht als Widerspruch zum Gebot der Objektivität des Wissenschaftlers an: "The policy approach does not me an that the scientist abandons objectivity in gathering or interpreting data, or ceases to perfect his tools of inquiry,,553. Die wissenschaftliche Objektivität bestünde z. B. darin, daß der "policy-content" von Normen mit Hilfe von Methoden der Sozialwissenschaften festgestellt werden solle. Allerdings beinhalte der "policy-oriented approach" eine Abkehr von einer als Neutralität gegenüber Werten und Interessen verstandenen Objektivität554 . Stattdessen solle der Entscheidungsträger lieber danach streben, sich seiner persönlichen Vorurteile möglichst bewußt zu sein555 und seine eigenen "goal values" klären, damit er der Gesellschaft helfen könne, ihre Ziel werte zu klären 556 . Die Rolle, die die Schule von New Haven "policies" beim Treffen konkreter juristischer Entscheidungen zugedacht hat, ist die einer "guidance to the preferable decision,,557. Das Recht wird als "application of policy to specific controversies,,558 verstanden, d. h., für die Entscheidung eines strittigen Einzelfalls soll auf die jeweils maßgebliche "policy" als Leitfaden SSI McDougal/Lasswell. Theories About International Law. in: International Law Essays. S. 59; ähnlich McDougal. RdC 1953/1, S. 155. m Vgl. Simma. FS Kolb, S. 344. m LassweIl. The Policy Orientation. in: The Policy Sciences, S. 14. SS4 McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order. S. 401; ebenso: McDougal/Gardner. The Veto and the Charter: An Interpretation for Survival, in: Studies in World Public Order, S. 733 f.. Fußn. 46; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society. Bd. I. S. 16. m Lasswell. A Pre-View of Policy Sciences, S. 40; McDougal/Lasswell/Miller. The Interpretation of Agreements. S. 258 ff.; McDougal/Feliciano. Minimum World Public Order, S. 378; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law. in: International Law Essays, S. 53; vgl. Rosenthai. Etude de I'ceuvre de Myres Smith MeDougal. S. 167 u. 378. SS6 Lasswell. A Pre-View of Poliey Seienees, S. 40; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays. S. 53. m Higgins. RdC 1991IV, S. 28 f.; ähnlich Falk. Book Review zu Studies in World Public Order, in: American Journal of Comparitive Law Bd. 10 (1961), S. 301. SS8 McDougal. Yale L. J. Bd. 67 (1957/58), S. 560. 7 Voos

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

abgestellt werden 559 . Diese Sicht wird als Gegensatz zu der traditionellen Auffassung der automatischen Anwendung vorgegebener Normen auf konkrete Sachverhalte angesehen 56o . Die "policy-orientation" bedeute aber nicht, daß jeder Entscheidungsträger nach eigener Willkür entscheide561 . Nach Meinung der New Haven School müssen Normen "in light of the fundamental community policies they are intended to serve in contemporary contexts" ausgelegt und angewandt werden 562 . Der Entscheidungsträger dürfe nicht nur nach der Rechtmäßigkeit im Sinne von Normgemäßheit der Entscheidungsalternativen fragen, sondern müsse auch berücksichtigen, ob und wie weit die verschiedenen Entscheidungsalternativen den verfolgten "policies" entsprechen würden 563 . Auch bei der Formulierung neuer Normen müßten "policies" berücksichtigt werden. Dabei sollen "policy considerations" die Frage umfassen, zu welchen "policy purposes" bestimmte Normen geschaffen und beibehalten würden sowie das Nachdenken über Entscheidungsalternativen und ihre Konsequenzen 564 . 3. Die"value-orientation" a) Begriff der" values"

Das Konzept der "values" - was sich unproblematisch mit Werte übersetzen läßt - ist ein zentraler Teil der Theorie der New Haven School 565 . Letztlich geht es für diese Schule immer um Werte, um ihren Einsatz, um die Wirkungen von Entscheidungen auf sie und um die Folgerungen, die sich aus Werten für Entscheidungen ergeben566 . Die Schule von New Haven definiert den Begriff "value" psychologisch 567 als "preferred event"568 oder einfach als "preferences"569, d. h., sie versteht unter Werten von Menschen angestrebte Umstände. LassweIl führt Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 471. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 11; McDougal, AJIL Bd. 49 (1955), S. 378; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 11. 561 McDougal, RdC 1953/1, S. 183. 562 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 14; ähnlich McDougal, Yale L. 1. Bd. 67 (1957/58), S. 565; Higgins, RdC 1991/V, S. 30; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 506. 563 Vgl. Moore, Law and the Indo-China War, S. 4. 564 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 12. 565 Falk, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 280; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 20 u. 48. 566 Vgl. McDougal, RdC 1953/1, S. 181 ("primarily concerned for effects upon values"); ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 53; ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 267. 567 So auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 461. 559

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Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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die Begriffe "preferences", "values", "biases" und "goals" als gleichbedeutend an 570• Dabei unterscheidet die Schule von New Haven zwischen einem "scope value" bzw. "goal value", der als "an end in itself' angestrebt werde, und einem "base value", der "for the shaping and sharing of other values" eingesetzt werde 571 . "Goal values" sollen also die Werte sein, die als Ziele angestrebt werden, während "base values" die Werte seien, die den Teilnehmern eines Entscheidungsprozesses zur Beeinflussung von Entscheidungen zur Verfügung stünden 572 • Die beiden Kategorien würden sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern seien nur verschiedene Verwendungsmodalitäten derselben Werte 573 . Obwohl sich diese beiden Bedeutungen des Begriffs "values" deutlich voneinander unterscheiden, halten die Vertreter der New Haven School sie meistens nicht klar auseinander, sondern sprechen nur allgemein von "values", so daß höchstens aus dem Zusammenhang erkennbar ist, ob "base values" oder "scope values" gemeint sind. Da der Begriff "values" auch im Sinne politischer Grundvorstellungen verstanden werden kann, liegen die Begriffe "values" und "policies" nahe beieinander und werden auch von der New Haven School teilweise synonym verwandt oder zumindest nicht klar voneinander abgegrenzt 574 . Wenn sich die New Haven School ausnahmsweise zum Verhältnis bei der Konzepte äußert, dann dahingehend, daß "values" der Bewertung von "policies" dienen sollen575 • Jede "policy" verkörpere bestimmte Werte und beziehe sich auf die angestrebte Verteilung von Werten576 : "The policy science approach (... ) calls forth a very considerable clarification of the value goals 568 McDougal/lAsswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 7; ähnlich lAssweIl, The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 8; McDougal, RdC 1953/1, S. 168; Reisman, Nullity and Revision, S. 3, Fußn. 1. 569 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 168; ähnlich ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 53. . 570 lAssweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, S. XV. m lAssweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 3; McDougal, RdC 1953/1, S. 169; Reisman, Nullity and Revision, S. 3, Fußn. 1. sn McDougal, RdC 1953/1, S. 176; McDougal/lAsswell, Identification and Appraisal, AJlL Bd. 53 (1959), S. 8; McDougal/lAsswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 213. 513 McDougal, RdC 1953/1, S. 169. 574 Vgl. z. B. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 86; lAssweIl, Introduction, in: Toward World Order and Human Dignity, S. XV; McDougal/lAsswell/ ehen, Human Rights and World Public Order, S. XX; McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 53. m Vgl. McDougal, RdC 1953/1, S. 189; McDougal/Lasswell, AJlL Bd. 53 (1959), S. 29; dies., Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 16. 576 McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 339; ähnlich McDougal/lAsswell, Identification and Appraisal, AJlL Bd. 53 (1959), S. 12. 7'

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

involved in policy,,577. Man kann also "values" - jedenfalls in diesem Zusammenhang - eher mit Ziele übersetzen, während "policy" eher mit Politik oder Grundsätze übersetzt werden könnte, aber beide Begriffe überschneiden sich. b) Notwendigkeit einer "clarification

0/ values"

Die New Haven School hält die Klärung der angestrebten Werte für eine unverzichtbare, zentrale Aufgabe der Völkerrechtsgelehrten: "The perspective most indispensable to a public order of human dignity is the demand for the continuing clarification and implementation of common interests in regard to all values. ,,578 Die Aufgabe der Klärung von Werten - wobei hier "goal values" gemeint sind - folge logisch aus der funktionalen Sichtweise des Völkerrechts 579 , denn nur wenn die angestrebten Ziele klar seien, könne man erfolgreich auf ihre Realisierung hinarbeiten. Damit setzt sich die New Haven School bewußt in scharfen Gegensatz zum Positivismus, inbesondere zu Hans Kelsens Position: ,,Kelsen totally rejects the relevance of a non-scientific operation such as the clarification of goals and attempts only to create a syntactical construct of norms without regard to their value content"580. Auch Max Weber habe die Klärung der angestrebten Ziele als unwissenschaftliche Vorgehensweise gescheut581 . Die Ablehnung einer Befassung mit den Zielen führt nach Auffassung der Schule von New Haven aber nur dazu, daß Zielüberlegungen und Vorlieben indirekt und versteckt eingeführt würden 582 . Die Schule von New Haven unterscheidet zwei mögliche Wege der Klärung von Leitwerten: "Clarification can proceed in two directions, in justification of the commitment to the goal, or in detailed specification of wh at is meant in terms of social and power processes, and legal and public order m LassweIl. The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 9. McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 205; ähnlich: LassweIl. The Policy Orientation, in: The Policy Sciences, S. 9; McDougal/Reisman. International Law in Contemporary Perspective, S. 5; McDougal. Mississippi Law Journal Bd. 20 (194849), S. 282; McDougal/Reisman. Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 826; Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279. 579 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 53; ähnlich McDougal. Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 67. 580 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 103. 581 McDougal. Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 63; McDougal/Lasswell/ Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 116. 582 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 103 u. 116. 578

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systems. ,,583 Den ersten Weg, die Rechtfertigung bzw. Ableitung von Werten, hält die New Haven School für eine berüchtigte Sackgasse, die wenig dazu beitrage, rationale Entscheidungen zu fördern 584 . Stattdessen sei eine Spezifizierung der Leitwerte erforderlich: "For the detailed c1arification of the values of human dignity it recommends empirical specification, descending the ladder of abstraction, rather than transempirical derivation, infinitely ascending the ladder of abstraction. ,,585 Dabei müßten zunächst "high-level generalizations about preferred goal" aufgestellt werden, die notwendigerweise abstrakt und mehrdeutig seien 586 . Diese sehr allgemeinen Ziele müßten dann ausreichend detailliert spezifiziert werden, um ihre Berücksichtigung im jeweiligen Kontext zu ermöglichen587 . Im Hinblick auf den ersten Schritt, die Aufstellung abstrakter Ziele, ist die New Haven School der Auffassung, daß Juristen möglichst offen und ausdrücklich die von ihnen angestrebten Leitwerte postulieren sollten588 . Anhand des Verfahrens der "value c1arification" soll es dann möglich sein, in jeder konkreten Situation festzustellen, welche Entscheidungen zur Erreichung der abstrakten Ziele geeignet seien 589 . Damit sollen Werte zu "blue-prints for action" gemacht werden, so daß sie praktisch handhabbar werden 59o . c) Funktion der" values"

Die Werte spielen im Rahmen der Theorie der New Haven School zum einen eine Rolle bei der Beschreibung und Analyse von Situationen. Mit Hilfe des sogenannten Maximierungspostulates, das eine Dynamik in das System von Werten bringen soll, will die New Haven School alle denkba583 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; ebenso LassweIl, Policy Sciences, in: International Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 12, S. 182. 584 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: International Law Essays, S. 54; McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, 59 f. 585 McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order (1960), S. XIX. 586 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 53. 587 LassweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 42 f. 588 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279; McDougal, RdC 1953/1, S. 186; ders., Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 339; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 58; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; Higgins, RdC 19911V. S. 28 f.; ähnlich Falk, Legal Order in a Violent World, S. 85. 589 Vgl. Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 18l. 590 McDougal, Yale L. J. Bd. 56 (1947), S. 1349; ähnlich LassweIl, Policy Sciences, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, S. 182.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

ren Situationen beschreiben können 591 . Das Maximierungspostulat, das nach Meinung dieser Schule für alle Teilnehmer an allen Prozessen gilt, wird beschrieben als "the postulate that people strive to maximize their values,,592. Zur Begründung dieses Postulates des individuellen Egoismus 593 beruft sich die Schule von New Haven darauf, daß es sich in den Sozialwissenschaften als sehr fruchtbar erwiesen habe594 . Zum andern sollen die abstrakten "goal values", die mit Hilfe der "clarification of values" handhabbar gemacht werden sollen, nach der Theorie der New Haven School als Bewertungskriterien sowohl für konkrete juristische Einzelfallentscheidungen als auch für Normen und "policies" dienen. Die Rechtmäßigkeit jeder juristischen Handlung und Entscheidung soll anhand ihres positiven oder negativen Beitrags zur Erreichung der Leitwerte bestimmt werden, denn die New Haven School fordert "the testing of specific decisions for compatibility with the goal values of a free society,,595. Letztlich ausschlaggebender Rechtmäßigkeitsmaßstab seien nicht Völkerrechtsnormen, sondern Werte: "The test of the decision's lawfulness is not its conformity to these secondary expressions of international policy, but its consonance with the fundamental goals of the international community. ,,596 Die angestrebten "goal values" sollen auch Leitfaden für Untersuchungen597 sowie für die Auslegung völkerrechtlicher Texte sein598 ; schon der Student müsse Werte in jeder Situation als Leitfaden benutzen599 . Die Notwendigkeit, die gesteckten Ziele bei jeder Entscheidung im Blick zu behalten, begründet die Schule von New Haven mit "the common wisdom that conceptions of the whole shape conceptions of the part, and that immediate McDougal. RdC 1953/1, S. 168; vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 461. McDougal. RdC 1953/1, S. 168; ähnlich McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959). S. 116; McDougal/ LassweIl. AJIL Bd. 53 (1959), S. 7; McDougal. The Impact of National Law upon International Law: A Policy-Oriented Perspective, in: Sudies in World Public Order. S. 187; McDougal/Reisman. Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 828. 593 Vgl. Rosenthai. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal. S. 33. 594 McDougal. RdC 1953/1, S. 168. 595 McDougal. RdC 1953/1, S. 164; ähnlich Falk. Legal Order in a Violent World, S. 88; McDougal. Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 53, Anmerkung; ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49). S. 267; McDougal/Lasswell. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S.201. 596 Reisman. Nullity and Revision, S. 562. 597 Falk. The Status of Law in International Society, S. x. 598 Vgl. McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 287. 599 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 93. 591

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alternatives in decision are best appraised in terms of more comprehensive and enduring purposes,,600. Ferner sollen die Ziel werte den Maßstab für "the appraisal of the legal system in terms of goals,,601 darstellen. Das gesamte System des Völkerrechts soll anhand von Werten überprüft und erforderlichenfalls reformiert werden: "Dur first principle is that all legal structures, definitions, and doctrines must be taught, evaluated, and recreated in terms of the basic democratic values. ,,602 Am Beispiel des Konzepts der Souveränität läßt sich die Fragestellung einer solchen Überprüfung veranschaulichen: "Relevant inquiry might ( ... ) consider whether, in the contemporary, interdependent world, the broad freedom that prescription has traditionally permitted nation-state decision-makers is in fact compatible with the achievement of an internationallaw of human dignity.,,603 Die "goal values" stellen also Ideale dar, die nicht nur das Verhalten der Entscheidungsträger inspirieren604 und in konkreten Situationen leiten sollen, sondern an denen nach Auffassung der New Haven School das gesamte Rechtssystem zu messen ist. Insgesamt soll somit das Konzept der "values" sowohl - soziologisch - zur Erklärung von Prozessen dienen als auch - normativ - als Maßstab und Orientierungshilfe. d) Die von der New Haven School angestrebten Werte

aa) Die acht Werte Die Schule von New Haven stellt eine - von LassweIl und Kaplan entwickelte605 - Liste von acht Werten auf, von denen sie behauptet, daß danach die Menschen und andere Teilnehmer völkerrechtlicher Prozesse in der Regel streben 606 . Diese Liste umfaßt "power, respect, enlightenment, wealth, well-being, skill, affection and rectitude,,607. 600 McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity. in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 120. 601 Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279; ebenso McDougal/ LassweIl. Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 17. 602 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 91 f. 603 McDougal. RdC 1953/1, S. 205. 604 Rosenthai. Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 45. 605 Lasswell/Kaplan. Power and Society, S. 56-73. 606 Higgins. RdC 199I1V, S. 23; McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 136. 607 Z. B. McDougal. RdC 1953/1, S. 168 u. 189; ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 56; McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 7; McDougal/Lassweli/

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Von den acht Werten bedürfen "power", "wealth" und "skill" keiner näheren Erläuterung - außer der, daß die Schule von New Haven dem Wert der Macht besondere Aufmerksamkeit zukommen läßt608 . Unter "respect" wird teilweise Nicht-Diskriminierung609 verstanden, teilweise aber auch weiterreichend "the articulation and implementation of human rights", wobei insbesondere auf die Wahlfreiheit des Individuums abgestellt wird 61O . "Enlightenment" wird als Zugang zu Wissen und Informationen definiert611 , "well-being" als "safety, health and comfort,,612 und "affection" als "enjoyment of congenial human relations,,613. Der achte Wert, "rectitude", soll "the sharing of common standards of responsibility,,614 oder "the consensus in conceptions of right and wrong,,615 bedeuten. Es handelt sich hierbei also um höchst abstrakte Begriffe, deren genaue Bedeutung nur begrenzt klar wird. Diese Liste soll systematisch die ganze Bandbreite menschlicher Vorlieben abdecken 616 und es damit ermöglichen, über die von Menschen angestrebten, sehr unterschiedlichen Dinge zu sprechen: "Without such a terminology, the lawyer and other decision specialists are constrained either to speak generally and with minimum utility about ,things' or to be obliged to speil out in detail the millions and millions of specific things that human beings want.,,617 Zur Begründung, warum gerade diese acht Werte gewählt wurden, wird darauf verwiesen, daß es empirisch feststell bar sei, daß Menschen diese Werte in der Regel anstrebten 618 . Die New Haven School sieht diese Liste als Arbeitsinstrumentarium an 619 , nicht aber als allgemeingülReisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 54; McDougal/Lassweli/Chen, Human Rights and World Public Order, S. XVII; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. XXIV; Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 278. 608 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 463. 609 McDougal, RdC 1953/1, S. 168. 610 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 24; ähnlich McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 66 ff. 611 McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd.4 (1960), S. 349; ders., RdC 1953/1, S. 168. 612 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 7. 613 McDougal, RdC 1953/1, S. 168; ferner Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 16. 614 McDougal, RdC 1953/1, S. 168; ders., Journal of Conflict Resolution Bd.4 (1960), S. 349; ähnlich Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 16. 615 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 25. 616 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 54; ähnlich: Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S.278. 617 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 278.

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tige Erklärung aller menschlichen Verhaltensweisen620. Die Liste von acht Werten sei nicht abschließend gedacht62I , sondern sie sei bloß gut geeignet, die typischerweise angestrebten Werte zu kategorisieren 622 . Unter diesen acht Werten wird keine Rangordnung aufgestellt, sondern sie stehen gleichwertig nebeneinander623 . Das Recht soll nach Meinung der New Haven School gleichzeitig zur Mehrung aller Werte, nicht dagegen vorrangig zur Mehrung des einen oder anderen der acht Werte dienen 624 . Über das Verhältnis dieser Werte untereinander finden sich bei der New Haven School keine Hinweise außer dem, daß die Werte sich untereinander insofern beeinflussen, als das Erreichen eines der Werte das Erreichen anderer Werte fördere 625 . Die acht Werte werden demnach als empirisch feststellbare Tatsachen angesehen, nicht aber normativ als etwas, das angestrebt werden soll, d. h. die New Haven School äußert keine Präferenz für diese Werte im Sinne eines normativen Systems626 . In manchen Texten scheint die Schule von New Haven "values" allerdings mit Menschenrechten gleichzusetzen: "From the standpoint we recommend, all differentiations between values, sanctifying some as components of ,human rights' and ascribing to others a lesser status, become not merely irrelevant but invidious; because of the interdependences of peoples everywhere (... ) there is a human rights dimension to every interaction in the shaping and sharing of values..627 . Auch damit stellt diese Schule aber keine Rangordnung innerhalb der Werte auf, sondern äußert nur eine Präferenz für die Werte insgesamt.

618 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 168; vgl. McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 95; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 53. 619 Vgl. Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 16; McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 56. 620 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 95. 621 McDougal, RdC 1953/1, S. 189; ders., Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 112; McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 54; vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 47. 622 McDougal, RdC 195311, S. 168. 623 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466. 624 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 467. 625 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 60; McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 276. 626 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466 f. 627 McDougal/Lassweli/Chen, Human Rights and World Public Order, S. XVIII; ähnlich McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 276.

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bb) "Human dignity" Als obersten Wert und "overriding goal" sieht die New Haven School die Menschenwürde an: "OUf overriding aim is to clarify and aid in the implementation of a universal order of human dignity,,628. Sie definiert "human dignity" dabei teilweise dem traditionellen Begriff der Menschenwürde entsprechend als "the inherent and equal value of every human being,,629. Überwiegend versteht die Schule von New Haven den Begriff der "human dignity" aber wie folgt: "It refers to a sodal process in which values are widely and not narrowly shared, and in which private choice, rather than coercion, is emphasized as the predominant modality of power.,,630 Die Schule von New Haven versteht unter Menschenwürde also vor allem eine möglichst allgemeine und gleichmäßige Teilhabe aller Menschen an allen Werten sowie ein möglichst geringes Maß an rechtswidrigem Zwang. Dieses zweite Element der Definition überschneidet sich teilweise mit dem Begriff der "minimum world public order", der sich vereinfachend mit Weltfrieden übersetzen läßt. Obwohl der Begriff der "human dignity" einer der zentralen Begriffe dieser Theorie ist, findet sich weder eine genauere Definition noch eine Erörterung des Verhältnisses dieser Definition zu der oben angeführten traditionellen Definition der Menschenwürde als angeborener Wert jedes Menschen an sich. Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß McDougal eine eingehende Begriffsklärung angesichts der von ihm angenommenen allgemeinen Bekanntheit und Akzeptanz dieses Wertes nicht für notwendig hält631 . Während die acht Werte gleichrangig nebeneinander stehen, ist die Menschenwürde ihnen allen als oberster Wert übergeordnet632 . Das folgt schon 628 McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; ferner z. B.: McDougal. RdC 1953/1, S. 189; McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. IX; Lasswell. Universality in Perspective, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 3; Lasswell. The Policy Orientation, in: The Policy Sciences. S. 15; McDougal/Lassweli/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 201; McDougal/Lassweli/Chen. Human Rights and World Public Order, S. XVIII; Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 4 u. 19; vgl. RosenthaI. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 45. 629 McDougal/Lassweli/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 201. 630 McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; ähnlich McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 107 u. 111; ders .• Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 343; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 15; Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279. 63\ So auch Krakau. Missionsbewußtsein. S. 475 f. 632 McDougal/Lasswell/Chen. Human Rights and World Public Order. S. XX u. 3; vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 474.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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aus der Definition der Menschenwürde, weil diese als gleichbedeutend mit einer möglichst allgemeinen Teilhabe an den acht Werten verstanden wird. Die Liste der acht Werte dient daher auch der Erläuterung und Konkretisierung des Inhalts der Menschenwürde633 . Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, nach der die Menschenwürde auch beinhaltet, daß kein Mensch nur als Objekt staatlichen HandeIns behandelt werden darf, enthält jedoch die Menschenwürde-Definition der New Haven School kaum eigene, von den anderen Werten losgelöste Substanz634 . Nur der Definitionsteil, der Abwesenheit von rechtswidrigem Zwang umfaßt sowie die Gleichheit der Teilhabe an den acht Werten bringen insofern etwas Neues. cc) Demokratie Als weiteres oberstes Ziel führt die Schule von New Haven - wenn auch seltener als die Menschenwürde - Demokratie635 oder "a free society,,636 an. Dabei sieht sie die Achtung der Menschenwürde als obersten Wert der Demokratie an: "The cardinal value of democracy we have already specified as the realization of human dignity in a commonwealth of mutual deference.,,637 Umgekehrt hält diese Schule die Demokratie für die einzige zum Schutz der Menschenwürde geeignete Staatsform638 . Zwischen Menschenwürde und Demokratie wird also ein enger Zusammenhang gesehen, so daß Demokratie als gleichbedeutend mit einer Gesellschaftsordnung der Menschenwürde erscheint. Daher überschneidet sich der Begriff der Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 47. Ebenso Krakau, Missionsbewußtsein, S. 477; ähnlich Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 48. 635 McDougal, Yale L. J. Bd. 50 (1941), S. 835 f.; ders., Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd.41-42 (1947-49), S. 49; ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 277 f.; McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 53 u. 59; McDougal. AJIL Bd. 46 (1952), S. 110; vgl. Falk. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 280; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 49. 636 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 59; McDougal, Yale L. J. Bd. 60 (1951), S. 1051; McDougal/Bebr, AJIL Bd. 58 (1964), S. 641; ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 67; McDougal/Lasswell/Chen, Human Rights and World Public Order, S. XVIII; Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19. 637 McDougal/Lasswell, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 59; ähnlich McDougal, RdC 1953/1, S. 138 u. 190; ebenso Lasswell/Kaplan, Power and Society, S. 225 ff.; vgl. Falk, Book Review zu Studies in World Public Order, American Journal of Comparitive Law Bd. 10 (1961), S. 305. 638 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 483, 491 u.499. 633

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

"human dignity" im Werk der New Haven School mit dem amerikanischen Demokratiebegrif(i39. dd) "Common interest" Neben "human dignity" und Demokratie führt die New Haven School auch das "common interest" der Staatengemeinschaft als anzustrebenden "goal value" an 640 . Diese Schule sieht das Gemeinwohl der internationalen Staatengemeinschaft als Bremse gegenüber einzelstaatlicher Willkür: "What restraint there is upon arbitrary decision, and it is not insignificant, is afforded by the same sanction which supports all international law: common interest, p0liced by need for reciprocity and fear of retaliation.,,641 Das Bewußtsein der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung aller Völker der Welt prägte das Weltbild der Schule von New Haven entscheidend: "Modem technology (... ) has established an inescapable interdependence in fact of a11 peoples every-where.,,642 Diese Interdependenz zeige sich besonders deutlich in der heutzutage über allen Menschen hängenden Bedrohung durch Nuklearwaffen643 . Angesichts dieser wechselseitigen Einflußnahme und Abhängigkeit kann man nach Auffassung der New Haven School de facto von einer "world community" sprechen644 . ee) "Minimum world public order" Schließlich strebt die Schule von New Haven auch eine "minimum world public order" an. Die Schaffung und Sicherung einer solchen Ordnung Krakau, Missionsbewußtsein, S. 477. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 15; McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 350; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 8. 641 McDougal/Lassweli/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 28. 642 McDougal, RdC 1953/1, S. 138: ferner: McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 118 f.; McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192; McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 43; McDougal/Reisman. International Law in Policy-Oriented Perspective, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 104. 643 McDougal. RdC 1953/1, S. 138; McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 45. 644 McDougal/Lassweli/Reisman, World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 192; ähnlich McDougal. RdC 1953/1, S. 165 f. 639

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bedeute die Rückführung von "unauthorized coercion" auf ein Mindestmaß 645 , also letztlich Friedenssicherung. Dabei stelle die "minimum public order" nur ein vorläufiges Ziel dar, letztlich solle eine "optimum public order" im Sinne von "justice, human rights, development, environmental protection and so on" erreicht werden 646 . Ordnung und Stabilität als solche, losgelöst von der Werteverteilung in der Gesellschaft, sieht die New Haven School dagegen nicht als eigenständiges Ziel an 647 . e) Begründung für die Wahl dieser Werte

Als Begründung dafür, warum sie gerade diese Werte als "goal values" ihrer Völkerrechtstheorie gewählt haben, führen die Vertreter der Schule von New Haven meistens als erstes an, wie sie diese Wahl nicht begründen wollen: "The first point we would make is a negative one: that appropriate clarification is not to be achieved by infinitely regressive logical derivations from premises of trans-empirical reference ...648 Es sei nicht notwendig, über die ethische Begründung von Werten zu diskutieren, denn: "An international law of human dignity can take any system of ethics if it leads towards the same concrete, detailed values of human dignity.,,649 Zur Umsetzung eines Wertes könnten und sollten Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Ideologien zusammenwirken, anstatt sich über die verschiedenen Rechtfertigungsmöglichkeiten und philosophischen Ableitungen zu streiten65o . Die New Haven School lehnt daher eine religiöse oder metaphysische Begründung der gewählten Werte im Hinblick auf das 645 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 4; ähnlich ders., Perspectives from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409; McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI; McDougal/Reisman, International Law in Policy-Oriented Perspective, in: Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 107. 646 ehen, Perspectives from the New Haven School, in: Proc ASIL Bd. 87 (1993), S. 409. 647 Reisman, Sanctions and Enforcement, in: International Law Essays, S. 393. 648 McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 112; ähnlich McDougal, Yale L. 1. Bd. 50 (1941), S. 835; McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 136; McDougal/ LassweIl, Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 54; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 59; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 20. 649 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 135; ähnlich LassweIl, APre-View of Policy Sciences, S. 41; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, S. 112. 650 McDougal, RdC 1953/1, S. 190; ders., Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 112; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 60; vgl.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Streben nach ihrer Verwirklichung als Sackgasse651 bzw. als traditionellen Ballast652 ab. Dementsprechend versteht die New Haven School - wie oben bereits dargelegt - unter einer sinnvollen "clarification of values" nicht deren metaphysische Begründung, sondern die Konkretisierung der abstrakten Werte für einzelne Fragen. Hier zeigt sich besonders deutlich das allgemeine Mißtrauen der Schule von New Haven gegenüber nicht-empirischen Aussagen, die sie für "simply an expression of intense preference, projected upon an external source by an individual who is psychologically incapable or unwilling to identify it as an ego commitment for which he takes full responsibility,,653 hält. Sie lehnt metaphysische Argumentation als unwissenschaftlich ab, denn Wissenschaftler seien nicht kompetent dafür, Entscheidungen über die Gültigkeit unterschiedlicher transempirischer Behauptungen zu treffen 654 . Die New Haven School hält die Bezugnahme auf Religion oder Metaphysik auch deshalb für überflüssig, weil sie die von ihr angestrebten Ziel werte für empirisch ableitbar hält 655 . Im Hinblick auf "human dignity" und Demokratie verweist sie auf "a rising common demand of the peoples of the world, a demand which transcends the boundaries and competence of their inherited governmental forms, for all the values which we today summarize as the values of a free society or as fundamental respect for the dignity of the individual human being,,656. Dieses zunehmende Streben der Menschen nach den Ziel werten Menschenwürde und Demokratie lasse sich anhand der Charta der Vereinten Nationen, der Universal Declaration of Human Rights und einer Vielzahl völkerrechtlicher Abkommen sowie anhand der neueren nationalen Verfassungen empirisch belegen657 . Falk, Legal Order in a Violent World, S. 81; Rosenthai, Etude de I' reuvre de Myres Smith MeDougal, S. 53. 651 Vgl. McDougal/Lasswell, Legal Edueation and Publie Poliey, in: Studies in World Publie Order, S. 54. 652 LassweIl, The Poliey-Orientation, in: The Poliey Seiences, S. 12. 653 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 77. 654 LassweIl, A Pre-View of Poliey Seiences, S. 41; ähnlich McDougal, Yale L. J. Bd. 46 (1937), S. 1272. 655 Vgl. LassweIl, Poliey Seiences, in: International Eneyclopedia of the Social Seiences, S. 182. 656 McDougal, RdC 1953/1, S. 138; ferner: McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 45 u. 47 f.; McDougal, Perspeetives for an International Law of Human Dignity, in: Proe ASIL Bd. 53 (1959), S. 111 f.; McDougal/Reisman, International Law in Poliey-Oriented Perspeetive, in: Strueture and Proeess of International Law, Hrsg.: Maedonald/Johnston, S. 103; McDougal/Lasswell, Jurisprudenee for a Free Society, Bd. 2, S. 803 f.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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Daneben verweist die Schule von New Haven zur Begründung der Wahl der Menschenwürde als obersten Leitwert auf unterschiedliche geistesgeschichtliche Traditionen, religiöse ebenso wie säkulare, die auf die Menschenwürde als Leitwert zulaufen würden 658 . Ferner leitet die New Haven School die Werte Menschenwürde und Demokratie auch aus der Natur des Menschen ab: Der Mensch habe aufgrund seiner Natur ein Streben nach Achtung durch sich selbst und andere 659 . McDougal und LassweIl gehen also davon aus, daß sich die Setzung des Wertes der Menschenwürde als Ziel durch empirische, insbesondere durch psychologische Forschung wissenschaftlich begründen läßt66o . An einigen Stellen sagt die New Haven School ausdrücklich, daß sie ihre Leitwerte, insbesondere das Ziel der Menschenwürde, postuliert, ohne eine Begründung dieser Wahl für möglich oder sinnvoll zu halten: "We postulate this goal, deliberately leaving everyone free to justify it in terms of his preferred theological or philosophical tradition. ,,661 Gegen ein wirkliches Postulat spricht jedoch zum einen die Behauptung der empirischen bzw. psychologischen Belegbarkeit des Wertes der Menschenwürde als Zielwert662 . Zum anderen spricht dagegen, daß die Schule von New Haven die Wahl der Menschenwürde als höchsten Wert nicht als subjektive Wahl eines von mehreren möglichen Endzielen anzusehen scheint, sondern vielmehr davon überzeugt ist, daß die Menschenwürde das höchste Ziel sein muß. Andere Endziele werden nicht als möglicherweise gleichwertig angesehen; so kritisiert beispielsweise McDougal diejenigen, die "totalitarian and nontotalitarian values indifferently as equal ideologies" ansehen 663 • 657 McDougal, RdC 1953/1, S. 135; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, S. 112; ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 67; Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law Essays, S. 59. 658 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 111; ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 67; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 15; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 59. 659 Lasswell/Kaplan, Power and Society, S. XXIV und 229; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 485; Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S.56. 660 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 483. 661 McDougal/Lasswell, Identification and Appraisal, AJIL Bd. 53 (1959), S. 11; ähnlich: ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 11; McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd.4 (1960), S. 343; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 15; vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 81 u. 89. 662 Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 53 u. 55.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

Zwar hält Lasswell es für theoretisch denkbar, daß auch Anhänger des "policy science approach" andere Leitwerte verfolgen könnten als den der Menschenwürde664 , er zieht daraus aber keine Konsequenzen, sondern hält die Menschenwürde für den einzigen überzeugenden Leitwert. McDougals Aussage, jeder Entscheidungsträger müsse für sich entscheiden, welche Zielwerte er anstrebt, kann daher nicht wörtlich genommen werden, denn er will, daß alle anderen seinem Beispiel folgen und denselben Wert wählen wie er selbst665 . Im Hinblick auf das ausdrücklich als Postulat bezeichnete Aufstellen der Menschenwürde als "goal value" wird daher nur die Freiheit jeder beliebigen Rechtfertigung dieses Ziel wertes anerkannt, nicht aber die Freiheit, einen anderen Wert zu wählen 666 . 4. Die Wissenschaftlichkeit a) Empirische Forschung

Nach Auffassung der New Haven School wird die Jurisprudenz nicht wissenschaftlich genug betrieben: "Scientific habits of thought are still largely alien to the training of legal scholars.,,667 Die soziologische Schule habe sich zwar um Wissenschaftlichkeit bemüht, aber ohne großen Erfolg668 . Die Schule von New Haven hält wissenschaftliche Untersuchungsrnethoden auch in der Jurisprudenz für wesentlich für das Streben nach Erkenntnissen und für die Rationalität von Entscheidungen669, insbesondere für eine realistische Bewertung möglicher Entscheidungsalternativen 670 . 663 McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Studies in World Public Order, S. 1005. 664 Lasswell. A Pre-View of Policy Sciences, S. 43. 665 Rosenthai. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 27. 666 So auch Krakau. Missionsbewußtsein, S. 481. 667 McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 86; vgl. Rosenthai. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S.30. 668 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 118. 669 Lasswell. Policy Sciences, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, S. 183; McDougal. Yale L. J. Bd.56 (1947), S. 1349; ders., AJIL Bd.45 (1951), S. 400; ders., Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 168; ders., The Comparative Study of Law, in: Studies in World Public Order, S. 948, Fußn. 3; vgl. den Untertitel des neu esten Werkes von McDougal und LassweIl: "Studies in Law, Science and Policy". 670 McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 116.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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Ausschlaggebend für die Wissenschaftlichkeit einer Methode sei das Element der empirischen Beobachtung: "To insist on the empirical criterion is to specify that general assertions are subject to the discipline of careful observation. This is a fundamental distinction between science and nonscience.,,671 Anstelle von metaphysischen Ableitungen hält die New Haven School empirische Untersuchungen für erforderlich 672 . Allerdings werden wissenschaftliche Methoden allein nicht als ausreichend angesehen: "We emphasize policy purposes because we do not believe that a jurisprudence which purports to be ,scientific' only is adequate to the crisis of our time,,673. b) Interdisziplinarität

Notwendig für zielführende wissenschaftliche Arbeit ist nach Meinung der Schule von New Haven ferner eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Wissenschaftszweigen. Es sei für das Treffen möglichst rationaler Entscheidungen erforderlich, die wichtigsten Erkenntnisse und Methoden der modemen Wissenschaft, insbesondere der Sozialwissenschaften und der Psychologie674 , für die Völkerrechtswissenschaft und die praktische Entscheidungsfindung heranzuziehen675 . Die Schule von 671 LassweIl. A Pre-View of Policy Sciences, S. I; ähnlich McDougal/Lasswell. Legal Education and Public Policy, in: Studies in World Public Order, S. 85; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 139; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. 2, S. 869; vgl. RosenthaI. Etude de I'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 30 f. 672 McDougal. RdC 1953/1, S. 186; ders., Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 342 f.; McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 5 f. und 65; vgl. Rosenthal, Etude de l' a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 30 f. 673 McDougal. RdC 1953/1, S. 140 f. 674 McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. IX; ähnlich LassweIl, Policy Sciences, in: International EncycIopedia of the Social Sciences, S. 183; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories Abou! International Law, in: International Law Essays, S. 135; McDougal, Yale L. J. Bd. 56 (1947), S. 1349 u. 1354; ders., Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 132; ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 261; McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 191. 675 McDougal. Yale L. 1. Bd.56 (1947), S. 1349; ders., RdC 1953/1, S. 257; ders., Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 109 f.; McDougal/Reisman. Columbia Law Review Bd. 65/Il (1965), S. 810; vgl. Falk. Book Review zu Studies in World Public Order, in: American Journal of Comparitive Law Bd. 10 (1961), S. 299; Rosenthai, Etude de I'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 30 u. 33.

8 Voos

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

New Haven versucht daher bewußt, insbesondere soziologische und psychologische Forschungsergebnisse für ihre Theorie nutzbar zu machen 676 . Notwendig für eine solche Anwendung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden auf das Völkerrecht sei eine engere Zusammenarbeit mit Gesellschaftswissenschaftlern677 , insbesondere mit Vertretern der "international relations theory,,678.

5. Die Bedeutung des Kontexts Die New Haven School betont in ihrem Werk immer wieder die Bedeutung des Gesamtzusammenhangs des jeweiligen konkreten Einzelfalls für das Verständnis juristischer Prozesse und die Bewältigung juristischer Aufgaben: "The policy frame of reference makes it necessary to take into account the entire context of significant events (past, present and prospective) in wh ich the scientist is living.,,679 Diese Notwendigkeit folge daraus, daß kein Detail losgelöst von seinem Kontext hinreichend verstanden werden könne 68o , denn nur der Zusammenhang gebe juristischen Begriffen Bedeutung für praktische Entscheidungen und mache sie so handhabbar681 . Auch die konkrete Bedeutung und der genaue Inhalt von "goal values" sei nicht absolut und feststehend, sondern vom faktischen Zusammenhang abhängig682 . Vgl. Krakau. Missionsbewußtschein, S. 459. McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 26; ferner LassweIl. A Pre-View of Po1iey Seiences, S. XIII; McDougal/Lasswell. Jurisprudenee for a Free Soeiety, Bd. 1, S. XXII. 678 Chen. Perspeetives from the New Haven Sehool, in: Proe ASIL Bd. 87 (1993), S. 407. 679 LassweIl, The Poliey Orientation, in: The Poliey Scienees, S. 14; ferner: ders., A Pre-View of Poliey Sciences, S. 39; ders., Universality in Perspeetive, Proe ASIL Bd. 53 (1959), S. 9; Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 17; Falk. Remarks, Proe ASIL Bd.79 (1985), S. 280; Higgins. RdC 1991/V, S. 32; McDougal/Lasswell/Chen. Human Rights and World Publie Order, S. XVII; Reisman. Remarks, in: Proe ASIL Bd. 79 (1985), S. 277; McDougal/Reisman. Columbia Law Review Bd. 65/11 (1965), S. 810; vgl. Rosenthai. Etude de I' reuvre de Myres Smith McDougal, S. 172. 680 LassweIl. A Pre-View of Poliey Scienees, S. 39; McDougal. Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 48 f.; McDougal/Lasswell/Miller. The Interpretation of Agreements and Publie World Order, S. XV f. 681 McDougal/Lasswell. Legal Edueation and Publie Poliey, in: Studies in World Public Order, S. 920; McDougal/Lasswell/Miller. The Interpretation of Agreements and Publie World Order, S. XVI; McDougal/Lasswell. Jurisprudenee for a Free Society, Bd. 1, S. 10. 682 McDougal. Perspeetives for an International Law of Human Dignity, in: Proe ASIL Bd. 53 (1959), S. 120 f.; ders., Journal of Confliet Resolution Bd. 4 (1960), S. 343 f. 676

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Unter dem Kontext versteht die Schule von New Haven dabei nicht den systematischen Zusammenhang der Rechtsvorschriften, sondern ihren faktischen Hintergrund, d. h. die soziale Realität hinter einem juristischen Problem und die Konsequenzen juristischer Entscheidungen683 . Der Begriff "contextual" bedeute eine ausreichende Beachtung der tatsächlichen Umstände eines Rechtsproblems sowie eine dynamische Sicht des Rechts. Faktoren, die juristische Entscheidungen beeinflussen, dürften nicht aufgrund ihrer Einstufung als nicht-rechtliche Überlegungen außen vor bleiben: "The making of legal choices will not even contribute to justice if it purports totally to ignore political and social contexts,,684. Damit steht die New Haven School in klarem Gegensatz zum Positivismus, insbesondere zu Hans Kelsen, der forderte, der Jurist dürfe sich nicht mit psychologischen und sozialen Fragen befassen. Demgegenüber versucht die Schule von New Haven, eine systematische Methode zu entwickeln, wie außerrechtliche Überlegungen, die den faktischen Kontext betreffen, in den juristischen Prozeß einfließen und bei juristischen Entscheidungen berücksichtigt werden können 685 . Zur Begründung des dem faktischen Kontext beigemessenen Gewichts führt diese Schule aus, daß man das enge Zusammenspiel von Völkerrecht einerseits und "the entire social process of the worldcommunity" andererseits, von dem das Völkerrecht ein Teil sei 686 , erkennen müsse, damit man das Völkerrecht verstehen könne 687 . Sie sieht die Welt als aus Gemeinschaften und Prozessen unterschiedlicher Größe zusammengesetzt688 , wobei die internationale Gemeinschaft von den weniger umfassenden Gemeinschaften, d. h. den Nationalstaaten und kleineren Einheiten, beeinflußt 683 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. XV. 684 Higgins, RdC I99l/V, S. 33; ähnlich Chen, Perspectives frorn the New Hayen School, Proc ASIL 1993, S. 408; Falk, Book Review zu Studies in World Public Order, in: Arnerican Journal of Cornparative Law Bd. 10 (1961), S. 300; McDougal/Burke, The Public Order of the Oceans, S. 7; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 11; Reisman, Rernarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 277; ders., AJIL Bd. 84 (1990), S. 871. 685 Reisman, AJIL Bd. 81 (1987), S. 267; McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 261. 686 LassweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 4; ähnlich McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 335. 687 McDougal/Reisman, Colurnbia Law Review Bd. 65/II (1965), S. 824; McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 195; ähnlich Chen, An Introduction to Conternporary International Law, S. 17. 688 McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 10; McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 376; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. 25.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

werde und wiederum diese wechselseitig beeinflusse689 . Daher umfaßt der für völkerrechtliche Entscheidungen maßgebliche Kontext nach Meinung der Schule von New Haven auch nationale, regionale und lokale Ereignisse. Immer wieder betont die New Haven School, daß der gesamte Kontext berücksichtigt werden müsse 690 ; aufgrund der Interdependenz aller Prozesse erstreckt sich der möglicherweise relevante Kontext grundsätzlich grenzenIOS691.

6. Das "framework of inquiry" a) Zweck und Charakteristika des "Iramework 01 inquiry"

Die Schule von New Haven hat eine eigene Methode für völkerrechtliche Untersuchungen und für die Vorbereitung völkerrechtlicher Entscheidungen aufgestellt: "As system builders, its proponents have developed a comprehensive framework for inquiry that embraces a complex set of terms, concepts, maps, values, institutions, functions, processes and intellectual skills that are part and parcel of the whole system. ,,692 Dieses "framework of inquiry" besteht aus einem System verschiedener Kategorien, mit deren Hilfe juristische Aufgaben besser bewältigt werden sollen. Nach Meinung der New Haven School ist für die vielfältigen und komplexen Aufgaben, die sich einem Völkerrechtsgelehrten stellen, ein geeigneter Untersuchungsrahmen unverzichtbar: "It should need no argument that an investigator who would study international prescriptions and procedures in action, and who would assist in perfecting prescriptions and procedures appropriate to a free world society, must work with a framework of theory adequate to comprehend this total process and to describe in any necessary detail all component parts of it. ,,693 689 McDougal. Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 14; McDougal/Lasswell/ Reisman. Theories About International Law, in: International Law Theories, S. 53 f.; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. 1, S. 25; vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 461. 690 Vgl. McDougal. RdC 1953/1, S. 166; McDougal. Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 113; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 14. 691 Vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 503 u. 514; Rosenthai. Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 27 u. 175 f. 692 Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 21; ähnlich McDougal/Burke. The Public Order of the Oceans, S. X f.; Morison. Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 3 ff. 693 McDougal. RdC 1953/1, S. 166; ähnlich Chen. An Introduction to Contemporary International Law. S. 17; McDougal. Mississippi Law Journal Bd. 20 (194849), S. 261; McDougal/Lassweli/Reisman. Theories About International Law, in:

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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Die von der Schule von New Haven entwickelte Methode stellt eine "organization of studies ..694 dar, also eine Art Gliederung und Autbauhilfe für rechtswissenschaftliche Untersuchungen. Zugleich soll das "framework of inquiry" aber auch die Überlegungen gliedern, die völkerrechtlichen Einzelfallentscheidungen vorausgehen 695 , und so einen Wegweiser zur jeweils richtigen Entscheidung darstellen 696 . Das "framework of inquiry" stelle nur einen Rahmen dar, der durch die jeweilige Untersuchung auszufüllen sei, nehme dagegen nicht schon selbst die Untersuchungsergebnisse vorweg 697 . Die verschiedenen Kategorien - die überwiegend von Lasswell und Kaplan entwickelt wurden 698 und die soziologischer Natur sind699 - sollen sich gegenseitig so ergänzen, daß sie alle relevanten Fragestellungen einer Studie ergeben. Dabei legt die New Haven School Wert darauf, daß diese Kategorien nicht durch die traditionellen juristischen Konzepte vorgegeben sind, sondern ausgehend von dem faktischen Kontext und den sich darin stellenden Problemen gebildet werden 700. Die Schule von New Haven kombiniert bei diesem Untersuchungsrahmen bestimmte Gruppen von Kategorien miteinander, die so das Gerüst einer Prüfung bilden701. Aus einer Gruppe von Kategorien soll im Sinne eines Prüfungsschemas nacheinander jede einzelne Kategorie mit allen Kategorien einer zweiten Gruppe kombiniert werden, etwa in folgender Weise: "We suggest that each of the major categories of participants in the world power process (... ) be considered in turn and that with respect to each type of participant investigation be pursued in terms of all the specific inquiries we have indicated as necessary (for description of any power process),,702. International Law Essays, S. 49; McDougal/Lasswell/Chen, Human Rights and World Public Order, S. XXI. 694 McDougal, RdC 1953/1, S. 186; ähnlich McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 339; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. XXIIII f. 695 Falk, Book Review zu "Studies in World Public Order", in: American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 299. 696 LassweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 39. 697 LassweIl, A Pre-View of Policy Sciences, S. 39. 698 Vgl. McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI. 699 Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 5. 700 McDougal, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 114 u. 120; vgl. Morison, Myres S. McDougal and Twentieth-Century Jurisprudence, in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 3 u. 8. 701 Vgl. z. B. Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 16; McDougal, Perspectives for an International Law of Human Dignity, in: Proc ASIL Bd. 53 (1959), S. 113. 702 McDougal, RdC 1953/1, S. 186; ähnlich McDougal/Lasswell, AJIL Bd.53 (1959), S. 22; vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 176.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

So kann z. B. die Kategorie "participants" aus der Gruppe der "institutional practices" mit der Kategorie "power" aus der Gruppe der "values" kombiniert werden; diese Kombination ergibt die Fragestellung - und damit den Gliederungspunkt der Untersuchung - welche Beteiligten am Völkerrechtsprozeß den Wert Macht wie einsetzen. Die Kategorien sollen gleichzeitig eine sinnvolle Prüfungsreihenfolge sowie eine vollständige Prüfung gewährleisten: "The categories imply principles of content and procedure. As guides to content, they are reminders of questions worth raising in the consideration of any problem. As procedural principles, they imply the wisdom of performing the various tasks in an orderly manner.,,703 Anhand dieser Kategorien kann nach Meinung der New Haven School eine Untersuchung einerseits so detailliert durchgeführt werden, wie es erforderlich sei, indem die abstrakten Kategorien je nach den Erfordernissen der durchzuführenden Untersuchung durch konkretere Unterkategorien ergänzt werden 704 . Andererseits könnten die Kategorien aber - wenn gewünscht - auch bloß einen Überblick verschaffen 705. Die Schöpfer und Anhänger der Schule von New Haven geben durchaus zu, daß es sich bei diesem "framework of inquiry" um ein kompliziertes Gebilde handelt: "To a newcomer the whole apparatus, at first glance, might appear too awesome, novel, radical, complex, and intimidating."706 Sie halten ihren Untersuchungsrahmen aber für weit einfacher, als er auf den ersten Blick erscheine: "In fact, much of its intellectual power lies in its comparative simplicity and the extraordinary condensation which its authors achieved. None of the particular tools requires one to remember more than eight terms or to count on more than eight fingers. ,,707 McDougal und Lasswell sowie ihre Anhänger haben sich selbst in ihren Werken meistens an diesen Untersuchungsrahmen gehalten 708 . Diese Orien703 LassweIl. A Pre-View of Policy Sciences, S. 39; ähnlich McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories about International Law, in: International Law Essays, S. 51. 704 McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI; ders., Natural Law Forum Bd. 1 (1956), S. 66; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. XXIV; vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 88. 70S McDougal. RdC 1953/1, S. 187. 706 Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 22; ähnlich: Falk. Book Review zu "Studies in World Public Order", in: American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 298; vgl. ferner Krakau. Missionsbewußtsein, S. 461, 463 u. 503. 707 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 279 f.; ähnlich: Chen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 22. 708 So beschreibt die American Society of International Law die Schule von New Haven anläßlich der Verleihung ihres "Certificate of Merit" an McDougal und seine

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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tierung an den von der New Haven School aufgestellten Kategorien zeigt sich besonders deutlich in Chens einführendem Völkerrechtslehrbuch 709 und in McDougal und Lasswells Spätwerk "Jurisprudence for a Free Society,,710, andeutungsweise aber auch schon in der Vorlesung, die McDougal an der Academie de Droit International in Den Haag hielt 711. Reismans Monographie "Nullity and Revision" und John Norton Moores Untersuchung zum Vietnamkrieg712 belegen ebenfalls den Einfluß dieses Untersuchungsrahmens. Allerdings verweisen McDougal und seine Mitarbeiter an vielen Stellen darauf, daß sie die notwendigen Studien nur skizzieren und die wesentlichen Fragen stellen, nicht aber die Untersuchungen selbst im erforderlichen Umfang durchführen könnten713 . b) Die Kategorien des "Iramework 01 inquiry"

Im Folgenden sollen die von der Schule von New Haven am häufigsten verwandten Kategorien im Überblick dargestellt werden: die sieben "decisi on functions", acht "values" (s.o.) sowie die sechs "institutional practices" bzw. "phases of process". Daneben werden - wenn auch seltener weitere Kategorien, teilweise als Unterkategorien, verwandt 714 . Die "functional phases of decision-making and execution,,715 sollen den Entscheidungsprozess in sieben vom Entscheidungsträger zu erfüllende Funktionen unterteilen 716 , die auch als aufeinanderfolgende Phasen eines Entscheidungsprozesses angesehen werden können 717. Eine solche funktioMitarbeiter im Jahre 1962 als "marked by ( ... ) scrupulous adherence to a comprehensive conceptual framework" (zitiert bei ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 22). 709 Vgl. Gliederung von ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. VII f. 710 Vgl. Inhaltsverzeichnis, S. VII-XX. 711 McDougal, RdC 1953/1, S. 259. 712 Moore. Law and the Indo-China War. 713 Z. B. McDougal. RdC 1953/1, S. 187; ders .• Journal of Conflict Resolution Bd.4 (1960), S. 345 ff; ders., Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S. 264 f.; McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 16 f. u. 22; McDougal/Lasswell. Jurisprudence for a Free Society, Bd. I, S. XXVI. 714 Z. B.: McDougal. RdC 1953/1, S. 167 u. 225; McDougal/Lassweli/Reisman. World Constitutive Process of Authoritative Decision, S. 243. 715 McDougal/Lasswell. AJIL Bd. 53 (1959), S. 9; ferner z. B. McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 267; ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 18; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law. in: International Law Essays. S. 46; LassweIl. A Pre-View of Policy Sciences. S. 28; McDougal. RdC 1953/1, S. 177 f.; Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S.278.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

nale Einteilung juristischer Aufgaben sei sinnvoller als die traditionelle organische Einteilung im Sinne der Dreiteilung der Gewalten in Exekutive, Legislative und Judikative, weil sie auch informelle und unorganisierte Entscheidungsprozesse erfasse718 . Die New Haven School zählt dabei folgende Liste von Entscheidungsfunktionen auf: "intelligence, promotion or recommendation, prescription, invocation, application, termination, appraisal,,719. Dabei wird z. B. "prescription" als "the crystallization of general policy in continuing authoritative community expectations,,72o definiert, "invocation" bedeute die vorläufige und "application" die abschließende Charakterisierung eines Sachverhalts im Hinblick auf Vorschriften721, während "appraisal" die Bewertung der verfolgten "policies" im Hinblick auf die angestrebten Ziele umfassen soll722. Die neben den oben aufgeführten acht "values" dritte wichtige Gruppe von Kategorien umfaßt die "phases or elements of each process,,723, die auch als "institutional practices" beschrieben werden 724. Teilweise werden hierzu nur fünf725 bzw. sechs 726 Kategorien gezählt, aber die vollständige Liste umfaßt sieben Kategorien: "participants, perspectives, situations, base values, strategies, outcomes, effects,,727. Zu den Teilnehmern an Machtprozessen 728 sowie zu den "base values,,729 kann auf das bereits Dargelegte 716 McDougal. Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI; vgl. Rosenthai. Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 88. 717 LassweIl. A Pre-View of Policy Sciences, S. 28; Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 278. 718 McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 267 f.; ferner McDougal, RdC 1953/ I, S. 177; Reisman. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 278 f. 719 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 46; ähnlich McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 342; ders., Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 57. 720 McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 46. 721 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 46 f. 722 McDougal/Lasswell/Reisman. The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 285; Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 19. 723 McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI. 724 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 16. 725 McDougal, RdC 1953/1, S. 172; McDougal, Natural Law Forum Bd. I (1956), S. 65 f. 726 Z. B. McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XI; McDougal/Lasswell, AJIL Bd. 53 (1959), S. 19; Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 278; McDougal/Lasswell/Chen, Human Rights and World Public Order, S. XVII; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society. Bd. 1, S. XXIV.

Kapitel I1I: Die Methodik der Schule von New Haven

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verwiesen werden. "Perspectives" bezieht sich auf die Erwartungen und Identifikationen der Teilnehmer von Rechtsprozessen und "situations" auf die Bedingungen, unter denen die Prozesse ablaufen. Mögliche Strategien der Teilnehmer zur Verwendung der "base values" können nach Meinung der New Haven School diplomatischer, ideologischer, ökonomischer und militärischer Art sein 730. Unter "outcome" wird das "immediate result decision affecting value allocation - of the process of interaction" verstanden 731, also die getroffene Entscheidung732. Diese Hauptkategorien können nun in unbegrenzt viele Unterkategorien aufgespalten und alle Kategorien beliebig miteinander kombiniert werden. 7. Exkurs: Die Auslegung völkerrechtlicher Vereinbarungen a) Die Auslegungstheorie der New Haven School

Die Schule von New Haven unterscheidet sich im Hinblick auf die Frage, wie völkerrechtliche Verträge auszulegen sind, stark von den traditionellen Völkerrechtstheorien. McDougal und Lasswell legten ihre Vorstellungen zur Vertragsauslegung in ihrer im Jahre 1967 erschienen Monographie "The Interpretation of Agreements and Public World Order - PrincipIes of Content and Procedure" (zusammen mit James C. Miller) dar. Dabei besteht der erste Unterschied zu den klassischen Auslegungslehren schon darin, daß die New Haven School das Problem der Auslegung nicht auf Völkerrechtsverträge beschränkt, sondern auch das Völkergewohnheitsrecht und andere völkerrechtliche Normen großteils miteinbezieht733 , da sie unter "agreements" nicht bloß Verträge versteht, sondern "the outcomes of com-

727 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 52; McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 200; ebenso z. B. ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. VII f.; Reisman, Nullity and Revision, S. IX ff. 728 Siehe Teil A, Kap. H, Abschn. 5 b. 729 Siehe Teil A, Kap. I1I, Abschn. 3 d aa). 730 McDougal/Lasswell, AJIL Bd.53 (1959), S. 21; McDougal/Lasswell/Reisman, World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 257; McDougal, RdC 1953/1, S. 176 f. 731 McDougal/Lasswell/Reisman, World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 200; ähnlich McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 52. 732 Vgl. McDougal/Lasswell/Reisman, The World Constitutive Process of Authoritative Decision, in: International Law Essays, S. 267. 733 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. 4 f., Fußn. 5.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

mitment, both explicit and implicit in social process, which are achieved by strategies consisting more of persuasion than coercion,,734 . Die von der New Haven School in dieser Monographie aufgestellten Auslegungsprinzipien sind stark von der Kommunikationstheorie beeinflußt 735, denn diese Schule begreift internationale Übereinkommen als Höhepunkte eines Kommunikationsprozesses. Der Zweck der Auslegungsprinzipien soll es sein, den Auslegenden zu möglicherweise relevanten Gesichtspunkten des Vertragsschlusses und seines Kontextes hinzuführen736 . McDougal beschreibt den Unterschied zwischen dem von der New Haven School vertretenen "contextual approach" und der traditionelleren Auffassung wie folgt: "The differences between a bare textual and a genuinely contextual approach to interpretation are, hence, not merely in goals sought but also in the range of factors made relevant and the procedures recommended for inquiry.,,737 Auf die empfohlenen Auslegungsprinzipien kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden, sondern es sollen nur die grundsätzlichen Vorstellungen der Schule von New Haven zu den bei der Auslegung von Übereinkommen verfolgten Ziele sowie zum Verhältnis von Text und Kontext skizziert werden. b) Die Auslegungsziele

Die Schule von New Haven sieht das grundlegende Problem bei der Anwendung von Verträgen im Finden einer angemessenen Balance zwischen Stabilität und Veränderung, genauer "between the honoring of the reasonable expectations of the parties to agreements (and thus securing a reasonable stability in the relations between participants in the world power process) and the permitting or encouraging of a continual, progressive reformulation of policies to keep them in accord with the changing perspective and conditions of the parties,,738. Die New Haven School wendet sich gegen die Auffassung, bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge sollten die von den Vertragsparteien bzw. vom Auslegenden selbst angestrebten Ziel werte keine Rolle spielen: "Interpreters whose interpretations make any difference are dealing not with meaningless logical symbols in a dematerial734 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements and Public World Order, S. 13 f. 735 Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 278; ähnlich McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 353. 736 McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 998. 737 McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 998 f.,Fußn. 32. 738 McDougal, RdC 1953/1, S. 212; vgl. Chen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 267 f.; McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 20 (1948-49), S.266.

Kapite[ III: Die Methodik der Schule von New Haven

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ized world but with words employed by human beings in specific contexts for certain very real purposes, and no interpreter, with moderate claim to rationality, can ignore either the effects of alternative decisions upon these people and their purposes or the compatibility of such effects with the major purposes the community had in establishing hirn as an interpreter,,739. Verträge sollten vielmehr so ausgelegt werden, daß sie bestmöglich zu den grundlegenden Zielen des Auslegenden, insbesondere zur Menschenwürde, beitragen 740. Die New Haven School ist daher der Meinung, bei der Auslegung völkerrechtlicher Übereinkommen handele sich nicht um eine mechanische Aufgabe, sondern darum, einem Text eine Bedeutung zu geben 741 • Die Schule von New Haven stellt eine dreistufe Abfolge von Auslegungsaufgaben auf: Oberste Aufgabe sei die Feststellung der "genuinely shared expectations of the particular parties to an agreement", sekundäre Aufgabe sei die Ergänzung solcher gemeinsamer Erwartungen der Parteien "by making reference to the basic constitutive policies of the larger community" und dritte Aufgabe sei die Überprüfung dieser gemeinsamen Erwartungen der Parteien anhand der "requirements of fundamental community policy,,742. Nach Auffassung dieser Schule ist es das oberste Ziel der Vertragsauslegung, die Erwartungen zu erkennen, die die Parteien im jeweils anderen geweckt haben und die beide Parteien teilen743. Notwendig sei dabei eine Auslegung hauptsächlich "in terms of the major purposes of parties to agreements ..744, d. h., anhand der allgemeinen Ziele, die die Parteien mit dem Abschluß der Übereinkommen verfolgt hätten; selbst wenn zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gehegte detaillierte gemeinsame Erwartungen feststell bar seien, sollen allgemeinere Ziele der Parteien Vorrang haben 745 . Teilweise führt McDougal allerdings auch aus, daß diejeni739 McDougal/Gardner. The Veto and the Charter, in: Studies in World Public Order, S. 733 f., Fußn. 46; ähnlich Higgins. RdC 1991/V, S. 34. 740 McDougal/Lasswell/Miller. The Interpretation of Agreements. S. 40; Reisman. Internationa[ Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 120; McDougal. Journa[ of Conflict Reso[ution Bd. 4 (1960), S. 352. 741 McDougal. RdC 1953/1, S. [53. 742 McDougal/Lasswell/Milier. The Interpretation of Agreements, S. 40 f.; ebenso Chen. An Introduction to Contemporary International Law. S. 278; McDougal. Journa[ of Conflict Reso[ution Bd. 4 (1960), S. 352. 743 McDougal/Lasswell/Milier. The Interpretation of Agreements, S. XVI; McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 599; ders., Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XIV; ders., Journa[ of Conflict Reso[ution Bd. 4 (1960), S. 352. 744 McDougal. RdC 1953/1, S. 153; ähnlich Chen. An Introduction to Contemporary Internationa[ Law, S. 12; McDougal/Gardner, The Veto and the Charter, in: Studies in World Public Order, S. 728 f. 745 McDougal. RdC 1953/1, S. 152; ähnlich McDougal/Gardner. The Veto and the Charter, in: Studies in Wor[d Pub[ic Order, S. 726.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

gen Erwartungen entscheidend seien, die die Vertrags parteien bei heutigen Vertragsauslegern im Hinblick auf künftige Entscheidungen wecken würden 746 . Die zweite Aufgabe, die Ergänzung des Übereinkommens anhand der Grundprinzipien der Staatengemeinschaft, muß nach Meinung der New Haven School dann erfüllt werden, wenn - z. B. infolge von "gaps, contradictions, or ambiguities in the parties' communications" - die gemeinsamen Erwartungen der Parteien nicht festgestellt werden könnten 747 . Die ergänzende Auslegung soll bereits dann angewand werden, wenn die Erwartungen mehrdeutig oder vage seien748; nur diese Vorgehensweise sei "in accord with the aspiration to defend and expand a social system compatible with the overriding objectives of human dignity,,749. Als Erläuterung, anhand welchen Maßstabs das Übereinkommen ergänzt werden soll, findet sich nur der Verweis auf die "basic policies of a public order of human dignity,,75o. Die Auslegungstheorie der New Haven School unterscheidet sich hierin erheblich von traditionellen Völkerrechts theorien, die nur bei nicht anders zu klärenden Unklarheiten oder Widersprüchen bzw. bei nicht anders zu füllenden Lücken auf die wesentlichen Absichten der Vertragsparteien abstellen; ein Rückgriff auf allgemeine Ziele der internationalen Staatengemeinschaft oder gar auf solche der westlichen Staaten ist herkömmlicherweise kein Mittel der Auslegung. Als dritte mit der Auslegung zu erfüllende Aufgabe sieht die New Haven School das sogenannte "policing" an: "When grave contradictions are found between the explicit expectations of the parties to an agreement and the requirements of fundamental community policy, decision-makers should refuse to give effect to the expectations of the parties,,751. Die bei der Auslegung festgestellten gemeinsamen Erwartungen der Parteien sollen also ausdrücklich auf ihre Vereinbarkeit mit grundlegenden "policies" bzw. "goal values" der internationalen Gemeinschaft überprüft und bei Unvereinbarkeit zurückgewiesen werden752 . Zur Begründung verweist die New Haven School auf das Konzept des ius cogens: "The public order takes 746 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 509; ders., Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 5. 747 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 41; ebenso McDougal, Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XIV. 748 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 44. 749 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 41. 750 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 62. 751 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 41; ähnlich McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 370. 752 McDougal/Lasswell/Miller, Interpretation of Agreements, S. 30 u. 60 f.; ebenso ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 278.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

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priority over particular agreements that contravene its fundamental values and institutions,,753. Einen scharfen Trennstrich zwischen der ergänzenden Auslegung anhand von Gemeinschaftszielen einerseits und der Unwirksamkeit von Verträgen bei Verstoß gegen solche Ziele andererseits hält die New Haven School nicht für erforderlich754. c) Die Bedeutung von Text und Kontext bei der Auslegung

Die Schule von New Haven mißt dem Text eines völkerrechtlichen Vertrages eine wesentlich geringere, dem faktischen Kontext des Vertrages dagegen eine weit größere Bedeutung bei als die traditionellen Auslegungstheorie. McDougal, der Mitglied der US-amerikanischen Delegation bei der Wiener Vertragsrechtskonferenz 1969 war, kritisierte heftig den Entwurf der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, insbesondere deren Artikel 27 und 28, die das Verhältnis von Text und Kontext betreffen755 . Nach Meinung der New Haven School darf in keinem Fall ausschließlich der Vertragstext zur Auslegung herangezogen werden: "It is the grossest, least defensible exercise of arbitrary formalism to arrogate to one particular set of signs - the text of a document - the role of serving as the exlusive index of the parties' shared expectations,,756. Der Text könne bei der Suche nach den gemeinsamen Erwartungen der Vertrags parteien in die Irre führen, da die Vertragsparteien ein gemeinsames Interesse haben könnten, das sich von der im Vertragstext ausgedrückten Bedeutung erheblich unterscheide und das sie einander durch andere Zeichen mitteilten757. Die herkömmliche Lehre vom Primat des Textes wird daher als zu streng abgelehnt758 . Die sogenannte "plain and ordinary meaning" von Begriffen sei in W ahrheit weder eindeutig noch unveränderbar: "It is generally agreed ( ... ) that there are no fixed or natural meanings of words which the parties to an 753 McDougal/Lassweli/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 262; ebenso ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 276; McDougal/Reisman, The Prescribing Function, in: International Law Essays, S. 370; Reisman, International Lawmaking: A Process of Communication, in: Proc ASIL Bd. 75 (1981), S. 109. 754 McDougal/Lassweli/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 30. 755 McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 992 ff.; ders., AJIL Bd. 62 (1968), S. 1021 ff. 756 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. XVII; ähnlich McDougal, Journal of Conflict Resolution Bd. 4 (1960), S. 353; ders., AJIL Bd. 61 (1967), S. 997; ders., AJIL Bd. 62 (1968), S. 1025. 757 McDougal, AJIL Bd. 62 (1968); S. 1025; ähnlich ders., Introduction, in: Studies in World Public Order, S. XIV; ders., Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 18. 758 McDougal/Lassweli/Miller, The Interpretation of Agreements, S. XVIII; McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 995.

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

agreement cannot alter. ,,759 Die Vorstellung, wonach die Auslegung von der angeblichen gewöhnlichen Bedeutung der Worte ausgehen müsse, könne zu Ergebnissen führen, die willkürlich oder aber "completely contrary to the basic policies of a free world order" seien 76o . Außerdem sei diese Vorstellung nicht praktikabel 761 , da Worte ohne ihren jeweiligen Zusammenhang nach Auffassung der New Haven School keine feststehende Bedeutung haben: "It should need no further emphasis to-day that the words of an international agreement cannot be taken as timeless absolutes; apart from their uses in context, such words, like other words, are but ,shapes on paper,.,,762 Zur Begründung dieser These verweist diese Schule auf die Kommunikationsforschung 763. Der Vertragstext soll daher nach Meinung der New Haven School zwar berücksichtigt werden, aber nur als vorläufiges Indiz für die gemeinsamen Erwartungen der Vertrags parteien764 bzw. als Ausgangspunkt des Auslegungsprozesses dienen 765. Nach Auffassung dieser Schule kann und darf der Wortlaut aber die Untersuchung anderer Indizien für den Willen der Vertragsparteien nicht verhindern 766. Sie legt größten Wert auf die entscheidende Bedeutung des faktischen Kontexts, in dem ein völkerrechtliches Übereinkommen steht, für dessen Auslegung 767 . Notwendig sei immer eine "systematic and disciplined examination of all potentially relevant features of the context,,768. Dabei geht die Schule von New Haven in dreierlei Hinsicht über die traditionelle Auslegungstheorie hinaus: Sie sieht den Kontext nicht als gegenüber dem Wortlaut subsidiär an, sie faßt den relevanten Kontext weiter und 759 McDougal, AJIL Bd. 62 (1968), S. 1024; ähnlich ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 278; McDougal, RdC 1953/1, S. 151; McDougal/Gardner, The Veto and the Charter, in: Studies in World Public Order, S. 723. 760 McDougal. AJIL Bd. 62 (1968), S. 1025 f. 761 McDougal. AJIL Bd. 61 (1967), S. 992 u. 995. 762 McDougal, RdC 1953/1, S. 152; ebenso ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 278; McDougal, Mississippi Law Journal Bd. 10 (194849), S. 261; McDougal/Lasswell/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 93. 763 McDougal. RdC 1953/1, S. 151; ähnlich ders., AJIL Bd. 62 (1968), S. 1024; McDougal/Gardner. The Veto and the Charter, in: Studies in World Public Order, S.724. 764 McDougal/Lasswell/Miller. The Interpretation of Agreements, S. XVIII. 765 McDougal. AJIL Bd. 62 (1968), S. 1024 u. 1027. 766 McDougal. AJIL Bd. 62 (1968), S. 1027. 767 ehen. An Introduction to Contemporary International Law, S. 278; McDougal/Gardner. The Veto and the Charter, in: Studies in World Public Order, S. 724; McDougal. AJIL Bd. 62 (1968), S. 1026 f.; ders., Mississippi Law Journal Bd. 10 (1948-49), S. 266; McDougal/Lasswell/Miller. The Interpretation of Agreements, S. XV f. 768 McDougal, AJIL Bd. 62 (1968), S. 1026.

Kapitel III: Die Methodik der Schule von New Haven

127

sie fordert eine Auslegung des Übereinkommens anhand der aktuellen Situation. McDougal wendet sich gegen die Unterscheidung zwischen Hauptauslegungsmitteln und subsidiären Auslegungsmitteln, wie sie in Art. 27 und 28 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vorgenommen wird 769 . Für die Berücksichtigung der "travaux preparatoires" bei der Auslegung eines Vertrages sollten seiner Meinung nach keine Beschränkungen aufgestellt werden, da es nicht möglich sei, eine feste Hierarchie der Bedeutung einzelner Bestandteile des Kontextes aufzustellen 77o . Nach den klassischen Auslegungslehren besteht der relevante Kontext nur aus Präambel und Annexen des Vertrages sowie im Zusammenhang mit dem Vertrag stehenden anderen Vereinbarungen77l . Dagegen werden die für die Auslegung möglicherweise relevanten Umstände von der New Haven School sehr weit gefaßt: "The interpreter of an international agreement should thus consider all relevant signs and deeds taking place at any time before, during, or after the agreement is concluded.,,772 Diese Faktoren würden den gesamten "world social process" umfassen, einschließlich beispielsweise "changes in the relative strength of the various contending world public orders,,773, und seien auch nicht auf schriftliche Quellen beschränkt774. Bei der Auslegung muß nach Auffassung der Schule von New Haven schließlich auch berücksichtigt werden, daß, während der Vertragstext der gleiche bleibe, sich die ihn umgebende politische Situation unter Umständen stark verändern könne. Daher bestehe die Gefahr einer Irreführung des Auslegenden durch den Wortlaut des Übereinkommens: "Where fidelity to text acquires in itself a symbolic political value, texts whose literal congruence with the sociopolitical situation is less than when they were created may misguide those who would rely on them,,775. Die New Haven School meint deshalb, daß jede Generation zu einem erheblichen Maß die bestehenden völkerrechtlichen Verträge durch Auslegung der Normen "in the context of changed constitutive normative systems" aktualisieren müsse, McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 995; ders., AJIL Bd. 62 (1968), S. 1021 ff. McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. XVI; McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 998. 771 Vgl. Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge; Brownlie, Principles of Public International Law, S. 629; lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 11, Rn. 8 f. 772 ehen, An Introduction to Contemporary International Law, S. 279; ähnlich McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. XVI. 773 McDougal/Lasswell/Miller, The Interpretation of Agreements, S. 34. 774 McDougal, AJIL Bd. 61 (1967), S. 996. 775 Reisman, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 276. 769

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Teil A: Darstellung der Schule von New Haven

um Anachronismen zu vermeiden 776 . Statt auf dem Grundsatz "pacta sunt servanda" zu bestehen, müsse stärker erkannt werden, daß Verträge sich mit den ihnen zugrunde liegenden Bedingungen und Werten verändern müßten777 . Insgesamt gesteht die Schule von New Haven daher dem Auslegenden bei der Auslegung eines Vertrages einen weit größeren Spielraum zu als die traditionelle Völkerrechtslehre, indem sie die Bedeutung des Wortlauts gegenüber dem Kontext des Vertrages als nachrangig ansieht und indem sie eine ergänzende Auslegung oder die Außerachtlassung von Regelungen im Hinblick auf bestimmte Werte in weitem Umfang für zulässig hält.

776 Reisman, AJIL Bd.84 (1990), S. 873 f.; ebenso McDougal, RdC 1953/1, S. 153; McDougal/Gardner, The Veto and the Charter, in: Studies in World Public Order, S. 728. 771 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 41-42 (1947-48), S. 47 f.

Teil B

Studien der New Haven School zu konkreten Problemrällen Kapitel I

Die amerikanischen Wasserstoflbombentests im Pazifik 1. Einleitung

a) Allgemeines

Im Folgenden soll anhand von Beispielen die Anwendung der von der Schule von New Haven entwickelten Völkerrechtstheorie auf einzelne konkrete völkerrechtliche Probleme untersucht werden. Durch die Analyse dreier Zeitschriftenartikel zu einzelnen Vorfallen, in denen Myres S. McDougal bzw. W. Michael Reisman zur Frage der Völkerrechtmäßigkeit von Handlungen der Vereinigten Staaten Position bezogen, soll untersucht werden, ob und wie sich die theoretischen Aussagen der New Haven School auf die Lösung konkreter juristischer Probleme auswirken. Zur Erleichterung des Verständnisses wird dabei einleitend kurz der dem jeweiligen Artikel zugrundeliegende Sachverhalt und anschließend der Argumentationsgang skizziert. Dabei sollen eventuelle Unterschiede zwischen der Argumentationsweise und dem Ergebnis der Vertreter der New Haven School einerseits und der vorherrschenden Meinung in der traditionellen Völkerrechtslehre andererseits herausgearbeitet werden. Abschließend wird erörtert, ob McDougals bzw. Reismans Argumentation schlüssig und ihr jeweiliges Ergebnis überzeugend ist. Eine Stellungnahme zur Frage der Völkerrechtmäßigkeit der konkreten Vorfalle, denen die drei zu untersuchenden Artikel gewidmet sind, kann dabei allerdings nur insoweit erfolgen, als es für die Analyse der von den Vertretern der New Haven School vorgelegten Arbeiten erforderlich ist. Für die nähere Untersuchung ausgewählt wurden die beiden wohl berühmtesten Artikel McDougals zu konkreten Streitfragen: zum einen sein (zusammen mit Norbert A. Schlei verfaßter) Artikel aus dem Jahre 1955 über die Wasserstoffbombenversuche der Vereinigten Staaten im Pazifik 1, zum anderen sein Artikel von 1963 über die Kuba-Blockade 2 • Ferner wurde ein Artikel von Reisman aus dem Jahre 1994 ausgewählt, um auch ein neu9 Voos

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

eres Werk der New Haven School und zudem einen Artikel des "Nachfolgers" von McDougal und LassweIl zu analysieren. McDougal reagierte mit dem Artikel "The Hydrogen Bomb Tests in Perspective: Lawful Measures for Security" im Yale Law Journal auf einen in derselben Ausgabe des Journals erschienenen Artikel von Emanuel Margolis, der die Versuche als völkerrechtswidrig verurteilte 3 . Daneben enthält der umfangreiche und mit ausführlichen Literaturhinweisen versehene Text aber auch grundlegende Ausführungen insbesondere zum Seerecht. Die Kontroverse zwischen Margolis und McDougal/Schlei sowie McDougals Argumentation als solche sorgte für großes Aufsehen in der Völkerrechtslehre und regte weitere Beiträge zur Frage der Völkerrechtmäßigkeit der amerikanischen Wasserstoffbombenversuche an. Ferner stellte McDougal in diesem Artikel die für sein weiteres Werk wesentliche These auf, daß für die Zulässigkeit einer Nutzung der Hohen See ihre "reasonableness" entscheidend ist. Die Delegierten der USA und Großbritanniens sprachen sich auf der Genfer Seerechtskonferenz von 1958 mit Erfolg für die Aufnahme dieses Kriteriums in das Übereinkommen über die Hohe See aus 4 . b) Sachverhalr

Ein knappes Jahr nach dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki begannen die Vereinigten Staaten 1946 die ersten Atombombenversuche außerhalb ihres eigenen Territoriums im pazifischen BikiniAtoll. Im Januar 1947 erklärten die USA das Eniwetok-Atoll und den es umgebenden Teil der Hohen See in einem Durchmesser von etwa 30.000 Quadratmeilen zur Gefahrenzone. Da durch Bekanntmachung des Uni ted States Navy Hydrographie Office geraten wurde, dieses Gebiet zu meiden, I McDougal/Schlei. The Hydrogen Bomb Tests in Perspective: Lawful Measures for Security, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 648-710. Kurzfassung des Artikels: McDougal. AJIL Bd. 49 (1955), S. 356-361. 2 McDougal. The Soviet-Cuban Quarantine and Self-Defense, AJIL Bd. 57 (1963), S. 597-604. 3 Margolis. The Hydrogen Bomb Experiments and International Law, Yale L. J. Bd. 64 (1955). S. 629-647. 4 Simmonet. La Convention sur la Haute Mer. S. 30 f. 5 Vgl. z. B.: Bouchez. Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht Band 9 (1962), S. 171; Gidel. in: FS Spiropoulos, S. 173-184 u. 199-201; Jenisch. Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 26-29; Lee. ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 312316; Margolis. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 629-632 u. 637-639; McDougal/Schlei. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 648-653 und 690-695; Menzel. Atombombenversuche, in: WdV Bd. 1, S. 99; Oda. Die Friedenswarte Bd. 53 (1955/56), S. 126-133; Reif!, The United States and the Treaty Law of the Sea, S. 363-366; Rühland. FS Spiropoulos. S. 376-379.

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik

131

weil es gefährlich für Schiffe, Flugzeuge und deren Personal sei, war dieses Gebiet damit für Fischfang, Schiffahrt und Flugverkehr faktisch gesperrt. Im Juli 1947, nur wenige Tage nachdem die pazifischen Marshall-Inseln, das Eniwetok- sowie das Bikini-Atoll zu amerikanischen Treuhandgebieten wurden, erklärten die USA das Gebiet zur strategischen Zone gemäß Art. 82 der Charta der Vereinten Nationen. Die Inselgruppe im Pazifik sollte zunächst als Versuchsgebiet für Atomwaffen dienen, später auch für die Wasserstoffbombe, weswegen mehrere Hundert Inselbewohner von den USA zwangsweise umgesiedelt wurden. Der Wettlauf zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion um die Erfindung der tödlichsten Waffe war im vollen Gange und blieb es mit einer dreijährigen Unterbrechung bis zum Abschluß des Moskauer Teststopp-Abkommens am 5. August 1963. Im Mai 1953 dehnte das US Navy Hydrographie Office die Warnzone rund um das Eniwetok-Atoll aus, so daß sie zusammen mit dem BikiniAtoll insgesamt eine Fläche von etwa 50.000 Quadratmeilen umfaßte. Am 1. März 1954 erfolgte dann der erste Wasserstoffbombenversuch im Pazifik. Ende März 1954 fand ein zweiter Versuch statt, woraufhin das japanische Parlament die Einstellung der Versuche forderte 6 . Nachdem Schadensmeldungen bekannt wurden, weiteten die USA die Warnzone Ende März 1954 auf über 400.000 Quadratmeilen aus. Bei dem Wasserstoffbombenversuch vom 1. März 1954, der doppelt so stark war wie vorhergesagt, erlitt die 27köpfige Besatzung des japanischen Fischdampfers "Fukuryu Maru", der sich zum Zeitpunkt der Versuche wohl einige Meilen außerhalb der damaligen Warnzone befand7 , radioaktive Verstrahlungen und mußte nach ihrer Rückkehr nach Japan im Krankenhaus behandelt werden. Ein Besatzungsmitglied dieses Bootes starb einige Monate später an den Folgen der Verstrahlung. Teilweise wird berichtet, daß auch fünf Besatzungsmitglieder eines japanischen Frachters, der sich dem Warngebiet nur auf etwa 1200 Seemeilen genähert hatte, Gesundheitsschäden erlitten hätten8 und daß der Kapitän eines weiteren japanischen Fischdampfers, der "Kansai Maru", an den Folgen radioaktiver Verseuchung gestorben sei 9 • Ferner wurden durch die radioaktive Strahlung 28 Amerikaner sowie Einwohner der Marshall-Inseln verletzt, wobei bei letzteMenzel, Atombombenversuche, in: WVR Bd. 1, S. 99. Bouchez, Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht Bd. 9 (1962), S. 171; Gidel, FS Spiro.poulos, S. 176; Jenisch, Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 28 f.; Lee, OZöR Bd. 18 (1968), S. 312; Margolis, Yale L. 1. Bd.64 (1955), S. 637; McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 652; Menzel, Atombombenversuche, in: WVR Bd. I, S. 99; Oda, Die Friedenswarte Bd. 53 (1955/56), S. 130. g Jenisch, Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 29; Margolis, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 637; Singh. Nuclear Weapons and International Law, S. 228. 6

7

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

ren umstritten ist, ob die Zahl der Verletzten 82 10 oder 236 11 betrug. Nach neueren Berichten evakuierten die amerikanischen Militärbehörden die Inselbewohner vorsätzlich nicht, um Daten über die Auswirkungen atomarer Strahlung auf Menschen zu erhalten 12. Die Versuche verursachten auch wirtschaftliche Schäden: Wegen radioaktiver Verseuchung ließ Japan insgesamt 135 Tonnen Fisch von 77 Booten vernichten. Weiterhin mußte die Fluglinie Wake-Guam mehrere Wochen lang einen Umweg um die Warnzone von Eniwetok machen. Am 4. Januar 1955 einigten sich die USA und Japan auf eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 2 Millionen Dollar an Japan 13. Die USA wiesen in ihrer Note zu diesem Abkkommen ausdrücklich darauf hin, daß die Zahlung "ex gratia without reference to questions of legalliability" erfolge l4 . Die Konferenz der Vereinten Nationen zum Seerecht verabschiedete zu den Wasserstoffbomben versuchen am 21. Februar 1957 nach sehr kontroverser Diskussion 15 eine Resolution, in der es u. a. heißt: "The United Nations Conference on the Law of the Sea (... ) Recognizing that there is a serious and genuine apprehension on the part of many States that nuc1ear explosions constitute an infringement of the freedom of the seas, (... ) Decides to refer this matter to the General Assembly for appropriate action.,,16 Aus dieser Resolution kann nicht abgeleitet werden, daß die Seerechtskonferenz die Versuche für völkerrechtswidrig hielt, sondern sie belegt nur, daß eine politische Einigung über die Frage der Fortsetzung derartiger Versuche auf der Konferenz nicht möglich war I7 . Als Reaktion auf eine Petition von 9 Bouchez, Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht Bd. 9 (1962), S. 171; Gidel, FS Spiropou1os, S. 182; Jenisch, Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S.29. 10 Gidel, FS Spiropoulos, S. 176; McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 652, insbes. Fußn. 26. 11 Jenisch, Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 29; Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 316, Fußn.36; Margolis, Yale L. 1. Bd.64 (1955), S. 637; Menzel, Atombombenversuche, in: WVR Bd. I, S. 99; Singh, Nuclear Weapons and International Law, 228. 12 Süddeutsche Zeitung vom 5.16. August 1995, S. 20, Ankündigung zu dem Film "Half Life" des amerikanischen Dokumentarfilmers Dennis O'Rourke. \3 Oda, Die Friedenswarte Bd. 53 (1955/56), S. 127; vgl. Gidel, FS Spiropoulos, S.2OO. 14 Zit. nach Rühland, FS Spiropoulos, S. 377. 15 Insbesondere in der 16. bis 18. Sitzung der Seerechtskonferenz, A/Conf. 131 40, S. 40-49. 16 U. N. Doc. A/Conf. 13/L. 56; abgedruckt in AJIL Bd. 52 (1958), S. 864. 17 Eine Verurteilung der Versuche war nach der Diskussion über die Resolution ausdrücklich nicht beabsichtigt; vgl. insbes. die Stellungnahmen von Randall (United Kingdom) und Sen (Indien) in der 18. Sitzung am 27. März 1958 (A/Conf. 131

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik

133

Einwohnern der Marshall-Inseln, die wegen erlittener Gesundheitsschäden die Einstellung der Versuche begehrt hatten, verabschiedete der Trusteeship Council der Vereinten Nationen am 15. Juli 1954 mehrheitlich eine Resolution, die die Fortführung der Versuche unter verstärkten Vorsichtsmaßnahmen gestattete. Am 11. August 1956, nach dem Ende der Testserie, wurde schließlich die restliche Warnzone, die nach den Versuchen des Jahres 1954 bereits stark eingeschränkt worden war, aufgehoben. 2. Argumentation von McDougal und Schlei a) Einleitung

McDougal und Schlei untersuchen in ihrem Artikel von 1955 die Frage der Völkerrechtmäßigkeit der amerikanischen Wasserstoftbombenversuche im Pazifik im Jahre 1954. Dabei zeigt aber schon die Formulierung der Fragestellung, daß das wirkliche Interesse der beiden Autoren weniger der Frage der Völkerrechtmäßigkeit bzw. Völkerrechtswidrigkeit der bereits durchgeführten Tests gilt als der praktischen Frage, ob solche Versuche weiter durchgeführt werden können. Zum Zeitpunkt der Versuche gab es keine Norm des Völkervertragsrechts oder des Völkergewohnheitsrechts, die ausdrücklich Wasserstoftbombenversuche auf Hoher See regelte 18, so daß für die Beantwortung der Frage auf allgemeinere Normen zurückgegriffen werden mußte. McDougal und Schlei beginnen ihren Artikel mit kurzen Darlegungen zum politischen Hintergrund sowie zu den Fakten des Falls und mit einer Zusammenfassung der von Margolis gegen die Völkerrechtmäßigkeit der Wasserstoftbombenversuche angeführten Argumente. Bereits die Fragestellung zeigt dabei die für die Schule von New Haven typische Verquickung von traditionell juristischen Gesichtspunkten mit solchen, die nach der klassischen Völkerrechtstheorie dem Bereich der Politik zugeordnet werden. In die Prüfung von Margolis Argumenten gegen die Völkerrechtmäßigkeit der Versuche sollen ausdrücklich auch "policy"-Fragen einbezogen werden: "It is our belief that all of these arguments are unsound in law and in policy,,19. Schon nach der Einleitung erscheinen politische Gesichtspunkte der Notwendigkeit einer Abschreckungspolitik - noch unterstrichen durch 40, S. 46-49). Vgl. ferner Jenisch. Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S.70. 18 In diesem Punkt besteht Einigkeit zwischen Margolis. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 635 f.. McDougal, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 684 und Gidel. FS Spiropoulos, S. 189. 19 McDougallSchlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 655.

134

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

das dem Artikel vorangestellte Zitat von Winston Churchill - als gewichtiger als traditionell juristische Argumente. b) Zulässigkeit von Atombombentests

McDougal und Schlei untersuchen die von Margolis aufgeworfene 20 , logisch vorrangige Frage, ob Atom- oder Wasserstoffbombenversuche per se völkerrechtswidrig sind, erst mitten in ihrer Prüfung, nachdem sie bereits zu dem Ergebnis gekommen sind, daß die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik nicht gegen Völkerrecht verstießen. Daran sowie an der Bezeichnung der Argumente für die Völkerrechtswidrigkeit von Atombomben als "various broad assertions,,21 zeigt sich bereits, daß die Autoren diese Argumente für abwegig halten. McDougal und Schlei meinen, daß es im geltenden Völkerrecht kein ausdrückliches Verbot atomarer Waffen gibt. Eine Analogie zu den im IV. Haager Abkommen von 1907 aufgestellten Verboten von Giftgas und anderen Waffen, die unnötiges Leiden verursachen, lehnen die Autoren wegen mangelnder Vergleichbarkeit ab 22 . Die allen Verboten bestimmter Waffen sowie dem Kriegsvölkerrecht insgesamt zugrundeliegende "policy" sei "the balancing of ,military necessity' for ,legitimate objectives' against ,humanitarianism' and the disproportionate or irrelevant destruction of values·.23. McDougal und Schlei meinen, daß diese "policy" kein allgemeines Verbot von Atom- und Wasserstoffbomben zulasse: "It is not necessarily a mark of moral superiority, but perhaps rather of suicidal arrogance, to suggest that no possible uses of the hydrogen bomb could conceivably be within the scope of ,military necessity' for objectives legitimate by standards of respect for human dignity. It would appear the most rational course to withhold blanket judgment and to appraise each specific use of nuclear weapons (... ) in the total context of such specific use.,,24 Statt allein auf die spezielle physische Art der Zerstörung durch eine Waffengattung müsse auf die Ziele und die Wirkungen ihres Einsatzes und auf deren Beziehung zu den "values of a free world society" abgestellt werden 25 . Daher seien die amerikanischen Wasserstoffbomben versuche im Pazifik nicht schon deshalb rechtswidrig, weil es sich um Versuche mit einer derartigen Waffengattung handele.

20 21

22 23

24 2S

Margolis. Yale L. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei, McDougal/Schlei.

J. Bd. 64 (1955), S. 629 u. 639 f. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 688. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 689. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 689. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 689 f. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 690.

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik

135

c) Die Freiheit der Meere

aa) Zulässigkeit von Beeinträchtigungen der Meeresfreiheit Die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Experimente gegen den Grundsatz der Freiheit der Meere verstoßen, stellt das Kernstück der Argumentation McDougals dar; die Kurzfassung des Artikels im American Journal of International Law beschränkt sich ganz auf diese Frage26 . McDougal und Schlei beginnen ihre Prüfung mit einer grundsätzlichen Stellungnahme zu der Frage, ob die Meeresfreiheit absolut oder relativ gilt, da Margolis in seinem Artikel die These vertrat, daß die Freiheit der Meere ein absoluter Grundsatz sei, von dem es nur die Ausnahmen der ",general' and , special' police powers" gebe27 • Margolis folgt einer statischen Auffassung vom Grundsatz der Meeresfreiheit, nach der unter den völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der Meeresfreiheit nur vier klassische Freiheiten fallen: die Freiheit der Schiffahrt, des Fischfangs, des Kabellegens und des Überflugs über die Hohe See. Mit der Begründung, daß die Wasserstoffbombenversuche als neue Nutzungsarten einen Eingriff in die Freiheit des Fischfangs sowie in die Freiheit der Schiffahrt darstellten, den USA aber weder allgemeine noch spezielle "police powers" zuständen, kommt Margolis ohne weiteres zum Ergebnis der Völkerrechtswidrigkeit der amerikanischen Experimente. McDougal und Schlei widersprechen vehement Margolis' Ausgangsthese, daß die Freiheit der Meere nur die vier klassischen Freiheiten umfasse, für diese aber absolut gelte. Ihre Beschreibung des Charakters des Seerechts ist vielzitiert: "Throughout the centuries of its development, one may observe the regime of the high seas as, not a static body of absolute rules, but rather a living, growing, customary law, grounded in the claims, practices, and sanctioning expectations of nation-states, and changing as the demands and expectations of decision-makers are changed by the exigencies of new social and economic interests, by the imperatives of an ever developing technology and by other continually evolving conditions in the world arena. From the perspective of realistic description, the public order of the high seas is not a mere body of rules, but a whole decision-making process, including both a structure of authorized decision-makers and a body of highly flexible, inherited prescriptions. ,,28 Das Seerecht entstehe dabei weniger durch die einseitig von Staaten erhobenen Ansprüche als durch "the reciprocal tolerances of the external decision-makers" gegenüber

26 27

28

McDougal. AJIL Bd. 49 (1955), S. 356 ff., insbes. S. 356, Fußn. 2. Margolis. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 634. McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 655 f.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

diesen Ansprüchen und die dadurch hervorgerufenen Erwartungen gleichlautender Entscheidungen 29 • McDougals Auffassung von der Freiheit der Meere ist demnach nicht statisch, sondern dynamisch: neben den vier klassischen Freiheiten werden auch neue Formen der Nutzung der Hohen See durch die Meeresfreiheit geschützt3o. Daher gelte der Grundsatz der Freiheit der Meere nicht absolue l , sondern die verschiedenen Arten, die Hohe See zu nutzen, müßten sich arrangieren. Als übergeordnete "policy" des Seerechts sehen die Autoren die Förderung der vorteilhaftesten Nutzung der Hohen See durch alle Völker als "common resource" an 32 • Zur Förderung dieses Ziels beinhalte das "regime of the high seas" zwei einander entgegengesetzte Gruppen von Vorschriften: Die eine Gruppe, die "freedom of the seas" genannt werde, schütze einseitige Ansprüche der Staaten auf Schiffahrt, Fischfang, Kabellegen und ähnliche Nutzungen der Hohen See; die andere Gruppe, in die u. a. die Begriffe "territorial sea", "contiguous zone", ,jurisdiction" und "continental shelf' fallen würden, schütze all die Ansprüche, die Schiffahrt oder Fischfang beeinträchtigen könnten 33 . McDougal sieht also bei den Normen des Seerechts zwei gleichermaßen anwendbare, aber entgegengesetzte Prinzipien: zum einen den Schutz der klassischen Meeresfreiheiten, zum anderen die als zulässig anerkannten Beschränkungen dieser Freiheiten. Diese beiden "complimentary sets of sound community policies" begrenzten sich gegenseitig und dienten den Entscheidungsträgern zur Lösung von "conflicting claims to incompatible uses of a common resource,,34. Die Freiheit der Meere wird daher als "a legal conclusion invoked to justify a policy preference for certain unilateral assertions as against others,,35 angesehen, nicht aber als absoluter Grundsatz. Für die Anwendung dieser bei den entgegengesetzten Gruppen von Vorschriften auf den zu lösenden Fall billigen McDougal und Schlei dem Entscheidungsträger einen sehr großen Entscheidungsspielraum zu, um eine dem jeweiligen Einzelfall gerecht werdende Entscheidung zu ermöglichen36 . Die Normen über die Freiheit der Meere einerseits und über die diese beeinträchtigende Nutzungen andererseits seien keine starren 29

30 31 32

33 34 35 36

McDougal. AJIL 49 (1955), S. 358, Fußn. 7. McDougal/Schlei. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. McDougal/Schlei. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. McDougal/Schlei. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. McDougal/Schlei. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S.

663, Fußn. 83. 655 u. 663. 657. 658. 662. 663. 658 f.

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik

137

Dogmen, sondern "highly flexible policy preferences'.37. Die Autoren betonen auch, daß zur Bestimmung der Völkerrechtsmäßigkeit nicht nur auf Verträge und Völkergewohnheitsrecht abgestellt werden dürfe, sondern auch alle möglichen anderen Völkerrechtsquellen herangezogen werden könnten, nämlich "a great variety of principles, precedents, analogies, and considerations of fairness,,38; als Stütze dieser Ansicht berufen sie sich auf das Urteil des IGH im "Anglo-Norwegian Fisheries Case". Außerdem meinen sie, daß althergebrachte Normen, die auf einen in der Vergangenheit liegenden Kontext zugeschnitten gewesen seien, nicht zwingend die heutige Völkerrechtmäßigkeit festlegen könnten 39 . Zur Beantwortung der Frage, wie anhand dieser flexiblen, einander entgegengesetzten Grundsätze im konkreten Einzelfall die Völkerrechtmäßigkeit einer bestimmten Nutzung festgestellt werden soll, führen McDougal und Schlei an dieser Stelle erstmals das Prinzip der "reasonableness" ein: "And for all types of controversies the one test that is invariably applied by decision-makers is that simple and ubiquitous, but indispensable, standard of what, considering all relevant policies and all variables in context, is reasonable as between the parties,,4o. Für die Zulässigkeit einer Nutzung der Hohen See soll also entscheidend sein, ob sie unter Beachtung der einschlägigen "policies" sowie des gesamten Kontexts "reasonable" ist. Zur Begründung berufen sich die Autoren auf zahlreiche Autoritäten, von Jessup über Gidel bis zu Lauterpacht, vor allem aber darauf, daß dieser "test of ,reasonableness '" von den Entscheidungsträgern tatsächlich angewandt werde41 . bb) Kein Verstoß gegen das Hoheitsverbot Die Frage, ob die Vereinigten Staaten durch die Einrichtung von Wamzonen und die Durchführung der Wasserstoffbombenversuche gegen das Verbot der Anmaßung von Souveränität über die Hohe See oder Teile von ihr verstießen42 , halten McDougal und Schlei für so abwegig, daß sie sie nur kurz in einer Fußnote behandeln: "The assertion by Margolis (... ) that ,sovereignty' may not be exercised over high seas areas, is totally irreleMcDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 660; ähnlich S. 684. McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 658, Fußn. 62. 39 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 658, Fußn. 62. 40 McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 660. 41 McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 660, Fußn. 66 und S. 684. 42 Vgl. Margolis, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 635, der die These vertritt, daß die Einrichtung einer 400.000 Quadratmeilen großen Wamzone nicht mit der Meeresfreiheit vereinbar gewesen sei, weil kein Staat in Friedenszeiten Souveränität über die Hohe See ausüben dürfe. 37

38

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

vant to the issue to which he adresses himself. If anything is clear, it is that the Uni ted States has never claimed , sovereignty , over any ,high seas' areas and has no need to make such a claim in order to justify the control it seeks for the hydrogen bomb tests"43. McDougal und Schlei unterscheiden dabei scharf zwischen "sovereignty" einerseits und ,jurisdiction" andererseits: "Sovereignty" beinhalte "comprehensive and continuous rights", "jurisdiction" dagegen nur weniger umfassende Rechte für bestimmte Zwecke44 . Dabei erklärt sich die schroffe Ablehnung von Margolis These daraus, daß diese bei den Autoren unter der Beanspruchung von Souveränität nur die Behauptung verstehen, daß das beanspruchte Gebiet der Hohen See Teil des Staatsgebietes sei. cc) Vergleichbare Fälle Bevor McDougal und Schlei die "reasonableness" der amerikanischen Wasserstoffbombenversuche durch Abwägung der Interessen in diesem Einzelfall prüfen, untersuchen sie zunächst, ob es andere Beeinträchtigungen der Freiheit der Meere gibt, die als zulässig anerkannt und die den Wasserstoffbombenversuchen vergleichbar sind. Damit wollen sie nachweisen, daß die Wasserstoffbombenversuche des Jahres 1954 "easily within the policies which have in the past sanctioned the greatest variety of claims more seriously interfering with navigation and fishing,,45 lagen. Dabei werden alle Entscheidungen, die Eingriffe in die Freiheit von Schiffahrt und Fischfang für rechtmäßig erklärten, als relevant für die Beurteilung der "claims" der USA herangezogen, weil alle diese Entscheidungen den Maßstab der "reasonableness" als den entscheidenden Maßstab der Völkerrechtmäßigkeit bestätigen würden46 . Als erstes verweisen McDougal und Schlei auf die Anerkennung des Küstenmeers als Gebiet, in dem der Küstenstaat seine Souveränität ausüben dürfe 47 . Als weitere Beispiele führen die Autoren die Anschlußzone an, die dem Küstenstaat eine "reasonable competence beyond territorial seas" zubillige48 , sowie die schnelle aligemeine Anerkennung der Ansprüche auf den Festlandsocke149 . Sie kommen dann zu dem Schluß, daß die Hohe See kein Raum sei, in dem die Kompetenzen der Küstenstaaten schlagartig endeten: "The maritime frontiers of the world are, thus, not sharp lines 43 44

45 46

47 48

49

McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei.

Yale L. Yale L. Yale L. YaleL. Yale L. Yale L. Yale L.

J. J. J. J. J. J. J.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

64 64 64 64 64 64 64

(1955), (1955), (1955), (1955), (1955), (1955), (1955),

S. S. S. S. S. S. S.

667, Fußn. 104. 667, Fußn. 104 u. S. 663 ff. 660 f. 684 f. 663. 668 u. 673. 671 ff.

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoftbombentests im Pazifik

139

between national sovereignty and ,anarchy, euphemistically known as ', but areas extending beyond territorial waters for distances ranging up to hundreds of miles, in wh ich states exercise competences of descending comprehensiveness for the most diverse purposes.,,50 dd) Besonderes Gewicht von Sicherheitsinteressen McDougal und Schlei leiten die Einzelfallabwägung mit der These ein, Sicherheitsinteressen hätten ein besonderes Gewicht bei der für die Bestimmung der "reasonableness" erforderlichen Abwägung, das gegenüber der Freiheit von Schiffahrt und Fischfang grundsätzlich schwerer wiege. Sie sprechen allgemein von der "primacy of security interests in the law of the sea,,51 und davon, daß "the emphasis of decision-makers upon ,reasonableness' as a criterion has required them to accord a very high deference to claims to security, as against claims to unhampered navigation and fishing, in contexts of high expectations of violence"s2. Dieser Vorrang von Sicherheitsinteressen wird mit dem Fehlen einer Zentralgewalt in der internationalen Staatengemeinschaft begründet53 . Als Beleg verweisen die Autoren auf alle möglichen, sehr unterschiedliche Fälle, in denen das Seevölkerrecht Staaten das Recht zu Eingriffen in die Meeresfreiheit zubilligt. Die Gemeinsamkeit all dieser Fälle - die von Kompetenzen gegenüber Piraten über das Selbstverteidigungsrecht bis zum See völkerrecht in Kriegszeiten reichen 54 - wird in der Rechtfertigung dieser Eingriffe in die Freiheit der Meere anhand von Sicherheitsinteressen im weitesten Sinne gesehen. Der Vorrang der Sicherheit vor anderen Interessen wird nach Auffassung der Autoren noch verstärkt in Krisensituationen, in denen die Erwartung gewaltsamer Auseinandersetzungen hoch sei5s . Dabei sei kein Kriegszustand im Sinne des klassischen Völkerrechts erforderlich, denn die traditionelle Unterscheidung zwischen Krieg einerseits und Frieden andererseits ohne eine Grauzone mit gradueller Abstufung dazwischen sei unrealistisch: "The literature of international law reflects increasing dissatisfaction with the traditional war-peace dichotomy, and its unrealistic, mutually exclusive world prescriptions. ,,56 In Kriegszeiten sei die Meeresfreiheit "subject to so McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. sowie S. 674 u. 691. 52 McDougal/Schlei. 53 McDougal/Schlei. 54 McDougal/Schlei. 55 McDougal/Schlei. 5\

Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 673 f. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 675; ähnlich S. 674, Fußn. 145 Yale Yale Yale Yale

L. L. L. L.

J. J. J. 1.

Bd. Bd. Bd. Bd.

64 64 64 64

(1955), (1955), (1955), (1955),

S. S. S. S.

660. 674 f. 675 ff. 660.

140

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

exceptions so numerous and substantial as virtually to overwhelm the principle itself,57. Das Verhältnis zwischen Ost und West könne kaum noch als Frieden beschrieben werden 58 . Als weiteren Beleg für den Vorrang von "claims to security" gegenüber der Freiheit der Meere führen McDougal und Schlei die von den USA im Jahre 1950 eingerichteten "Air Defense Identification Zones" an 59 . In diesen sich bis zu 300 Seemeilen Richtung Meer erstreckenden Sicherheitszonen im Luftraum über der die USA umgebenden Anschlußzone beanspruchten die USA Identifizierungs- und Kontrollrechte gegenüber amerikanischen und fremden Flugzeugen. Nach Auffassung der bei den Autoren sind diese Zonen mangels eines dagegen gerichteten Protests der anderen Staaten völkerrechtmäßig6o . Der Fall, der dem von den Vereinigten Staaten durch die Wasserstoffbombenversuche geltend gemachten Anspruch am ähnlichsten sei, seien aber militärische Manöver auf der Hohen See in Friedenszeiten, deren Rechtmäßigkeit nicht zweifelhaft sei; in diesem Zusammenhang sei auch die Einrichtung von Warnzonen als völkerrechtmäßig anerkannt 61 . Die Ähnlichkeit der Wasserstoffbombenversuche zu derartigen Seemanövern spräche dafür, daß auch die Versuche "reasonable" seien. ee) Prüfung der "reasonableness" in diesem konkreten Fall Etwa gleichgewichtig neben der Darlegung der Maßgeblichkeit des "tests of reasonableness" steht im Aufsatz von McDougal und Schlei die Anwendung dieses Tests auf den vorliegenden Einzelfall, d. h. die Abwägung, ob die Wasserstoffbombenversuche trotz der Beeinträchtigung der Freiheit von Schiffahrt und Fischfang "reasonable" waren. Zur Bestimmung der "reasonableness" muß nach Auffassung der Autoren zwischen dem Nutzen des schädigenden Verhaltens für die Sicherheit der USA und des Westens und der Schwere des zugefügten Schadens für Schiffahrt und Fischfang abgewogen werden 62 • Nach Meinung von McDougal und Schlei können sich die USA im Hinblick auf die Wasserstoffbombenversuche im besonderen Maße auf das hohe Gewicht von "claims for security" berufen, denn die Experimente hätten der Vorbereitung von Selbstverteidigungsmaßnahmen gedient63 . 56 57 58

59 60 61

62

McDougal/Schlei. McDougal/Schlei, McDougal/Schlei, McDougal/Schlei, McDougal/Schlei, McDougal/Schlei, McDougal/Schlei,

Yale Yale Yale Yale Yale Yale Yale

L. L. L. L. L. L.

J. J. J. 1. J. J. L. 1.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

64 64 64 64 64 64 64

(1955), (1955), (1955), (1955), (1955), (1955), (1955),

S. S. S. S. S. S. S.

687. 681. 687. 677. 677 f. 678 f. 660 u. 691.

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoftbombentests im Pazifik

141

Dabei behaupten die bei den Autoren nicht, daß es sich bei den Wasserstoffbombenversuchen um Selbstverteidigungsmaßnahmen handelte, sondern nur, daß die Situation vergleichbar sei: "It is no claim to invade territory or to sink fleets in anticipation of attack or to take any of the other measures of drastic interference with others commonly subsumed under self-defense. It is, however, a claim to take certain preparatory measures under conditions comparable to those traditionally held to justify measures in selfdefense,,64. Der Rechtfertigung der Versuche anhand von Sicherheitsinteressen einerseits und dem Recht auf Selbstverteidigung andererseits läge dieselbe "essential community policy of maintaing a basic public order in which peoples are free from attack and threats of attack" zugrunde 65 . Angesichts der besonderen Bedeutung des Selbstverteidigungsrechts müßten die Wasserstoffbombenversuche als im Vergleich zu Verteidigungsmaßnahmen weniger einschneidendes Vorgehen erst recht gerechtfertigt sein66 . In der Literatur wurde die Erwähnung des Selbstverteidigungsrechts teilweise dahingehend verstanden, daß McDougal und Schlei versucht hätten, die Wasserstoffbombenversuche unmittelbar als Selbstverteidigung zu rechtfertigen 67 . Angesichts dieses Mißverständnisses sah sich McDougal zu einer KlarsteIlung in einem 1959 erschienen Artikel genötigt: "The problems raised by claims to exercise limited or occasional jurisdiction on the high seas and superjacent airspace are completely distinct from those raised by the claims to respond to unlawful initiating coercion and to employ coercion against a third state,,68. Das Selbstverteidigungsrecht sei zur Rechtfertigung der Versuche nicht erforderlich, weil es sich dabei nicht um die Anwendung militärischer Gewalt, sondern um geringere Eingriffe handele; daher sei es auch nicht notwendig, daß die Wasserstoffbombenversuche die Voraussetzungen der Selbstverteidigung erfüllten69 . Nach Auffassung von McDougal und Schlei haben die Vereinigten Staaten die Wasserstoffbombentests im Interesse ihrer Sicherheit durchgeführt, aber zugleich auch im Interesse der Sicherheit der gesamten westlichen Welt und ihrer Werte 70 . McDougal und Schlei kommen daher zu dem McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 686. McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 686. 65 McDougal/Feliciano. Yale L. J. Bd. 68 (1958-59), S. 1131, Fußn. 209. 66 Vgl. McDougal/Schlei. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 687. 67 Bouchez. Nederlands Tijdschrift Voor Internationaal Recht Bd. 9 (1962), S. 171; Müller. Die Friedenswarte Bd. 56 (1961/66), S. 413, Fußn. 130; wohl auch Gidel. FS Spiropoulos, S. 191 und Krakau. Missionsbewußtsein, S. 51!. 68 McDougal/Feliciano. Yale L. 1. Bd. 68 (1958-59), S. IBO; McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 216. 69 McDougal/Feliciano. Yale L. J. Bd. 68 (1958-59), S. 1131, Fußn. 209; dies., Law and Minimum World Public Order, S. 216 f., Fußn. 209. 63 64

142

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

Ergebnis, daß der in den Wasserstoffbomben versuchen der USA liegende "claim for security" bei der für die "reasonableness"-Prüfung erforderlichen Abwägung ein sehr hohes Gewicht habe, weil die Versuche in einer ernsten Krisensituation anerkanntermaßen für die Sicherheit der USA und des gesamten Westens unbedingt notwendig gewesen seien71. Die andere Seite der für die "reasonableness"-Prüfung erforderlichen Abwägung betrifft die Schwere des Eingriffs in die Meeresfreiheit durch die Experimente. Nach Auffassung von McDougal und Schlei war der Eingriff in die Freiheit der Schiffahrt praktisch gleich Null, denn angesichts der mangelnden Bedeutung des gesperrten Teils der Hohen See für die Handelsschiffahrt sei diese kaum beeinträchtigt worden 72. Die Beeinträchtigung des Flugverkehrs über der Hohen See wird ebenfalls als gering eingeschätzt, da nur eine selten verkehrende Fluglinie um fünfzig Meilen habe umgeleitet werden müssen73 . Auch der Fischfang habe unter den Wasserstoffbombenversuchen kaum gelitten74 • Insgesamt wird daher der Eingriff in die Meeresfreiheit und damit der durch die Wasserstoffbombenversuche hervorgerufene Schaden als nicht schwerwiegend angesehen. Bei dieser Argumentation fällt auf, daß die von japanischen Fischern erlittenen Gesundheitsschäden sowie der Tod eines Besatzungsmitglied der "Fukuryu Maru" in der Darlegung zur Schwere des Eingriffs nicht erwähnt werden. Diese im Rahmen der Ausübung der Freiheit des Fischfangs erlittenen Schäden werden zwar zu Beginn des Artikels dargestellt 75, aber sie tauchen in der Abwägung, ob die Experimente im Hinblick auf die Meeresfreiheit "reasonable" waren, nicht auf. Ebensowenig beziehen McDougal und Schlei die durch die Versuche hervorgerufenen Gesundheitsschäden der Fischer unter einem anderen Stichwort in die Abwägung ein; in der im American Journal of International Law erschienen Kurzfassung des Artikels fehlt jede Erwähnung der verursachten Schäden. Die naheliegendste Erklärung für die fehlende Einbeziehung der Gesundheitsschäden der Fischer in die Abwägung dürfte sein, daß McDougal und Schlei die amerikanische Entschädigungszahlung an Japan als vollständige Kompensation des erlittenen Schadens ansehen. Für diese Erklärung spricht insbesondere folgender Satz: "After full compensation had been paid or promised to the victims of the test accidents, and the Trusteeship Council McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. McDougal, AJIL Bd. 49 (1955), S. 356. 72 McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 73 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 74 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 75 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 70 71

(1955), S. 686 f. u. 704 f. 64 (1955), S. 648 ff., 686 und 709 f.; (1955), (1955), (1955), (1955),

S. S. S. S.

682. 683. 683 f. 649 u. 652.

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had accepted United States assurances that similar accidents could and would be prevented in the future, the spurious legalisms of the Soviet Union might appropriately have been dismissed with a minimum of consideration,,76. Im übrigen verweisen McDougal und Schlei darauf, daß die Vereinigten Staaten alle notwendigen Sicherheitsrnaßnahmen vorgenommen und den Schaden zu begrenzen versucht hätten; weiterhin hätten sie den Schaden bedauert77 . Die bei den Autoren gehen auch kurz auf die Frage ein, ob die Wasserstoffbombenversuche verhältnismäßig waren. Sie bejahen die Geeignetheit der Versuche zur Erreichung eines anerkannten Zwecks sowie die Erforderlichkeit des Eingriffs in die Meeresfreiheit: "The factors most relevant for appraising the United States claim are that it is for a purpose much honored in world prescription, that it asserts the least possible degree of authority necessary to the achievement of its purpose, that it is limited both in area and in dura ti on to the minimum consistent with its purpose, that the area which it affects is of relatively slight importance to international trade and fishing, and that it is asserted in a context of crisis which makes its purpose of paramount importance to all who value a free world society.,,78 Insgesamt ergibt sich somit für McDougal und Schlei als Ergebnis der Abwägung, daß die amerikanischen Wasserstoffbombentests keinen schweren Eingriff darstellten, aber einen großen Nutzen bewirkten und daher "reasonable" waren: "It cannot, we believe, be reasonably concluded that it is unreasonable for the Uni ted States to engage in temporary and limited interferences with navigation and fishing upon the high seas in preparation for defense of itself, its allies, and all the values which they cherish,,79. Die amerikanischen Wasserstoffbomben versuche im Pazifik waren nach dieser Auffassung daher ein völkerrechtmäßiger Eingriff in die Freiheit der Meere80 . d) Das Verschmutzungsverbot

Anschließend prüfen McDougal und Schlei, ob die durch die Versuche hervorgerufene Verschrnutzung der Hohen See und des darüber befindlichen Luftraums durch die radioaktive Strahlung zu einem anderen Ergebnis im Hinblick auf die "reasonableness" der Versuche führt und lehnen dies ab, McDougal/Schlei, McDougal/Schlei, 78 McDougal/Schlei, 79 McDougal/Schlei, 80 McDougal/Schlei, Artikels. 76 77

Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 649; ähnlich S. 652 f. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 649 u. 653. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 686. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 687. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 688 und die Überschrift des

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da alle dafür relevanten Gesichtspunkte bereits berücksichtigt worden seiensI. Als Grund dafür wird angeführt, daß es kein Verbot von "pollution" gebe, weder aus Völkergewohnheitsrecht noch aufgrund von Verträgen, weshalb ein Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und auf Billigkeitserwägungen nötig sei s2 . Damit ergebe sich als Prüfungsmaßstab der Rechtmäßigkeit auch hier "the familiar and indispensable test of reasonableness"s3. Die von Margolis gebildeten Analogien zum "Trail Smelter"-Schiedsspruch sowie zu Urteilen des U.S. Supreme Court über inneramerikanische Streitfälle werden als "fantastically inapt in both fact and policy" abgelehntS4 . In den von Margolis als Beleg für die Existenz eines Umweltverschmutzungsverbotes angeführten Fällen habe die "extern al security" keine Rolle gespielt S5 ; diese sei jedoch der wichtigste Faktor bei der Abwägung im Fall der Wasserstoffbombenversuche 86 . Der "Trail Smelter"-Fall könne nur als Bestätigung der Notwendigkeit eines Abwägungsprozesses herangezogen werden, für eine Analogie fehle dagegen die Vergleichbarkeit: "But the fact that a copper company in British Columbia was required to take measures available to it to minimize damage to a down wind agricultural community, scarcely reflects policies relevant for appraising the reasonableness of measures taken in mid-ocean by a nation-state faced with imminent threats of atomic attack. ,,87 Zum Ausmaß der durch die Wasserstoffbombenversuche verursachten Umweltverschmutzung meinen die Autoren, es seien keine Menschen durch den Umgang mit oder Genuß von radioaktivem Fisch geschädigt worden und das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung von Luft und Meer sei minimal und für den Menschen ungefährlich gewesen 88 . McDougal und Schlei kommen daher ohne weiteres zu dem Ergebnis, daß die Experimente auch unter Berücksichtigung der verursachten Umweltverschmutzung rechtmäßig waren: "In view of all the facts now known, any serious attempt to balance the stake of the free world in the tests against the damage resulting from pollution - damage which has taken the exclusive form of financial damage for which compensation has been paid - must reach, we submit, the conclusi on that the tests are reasonable and hence lawful. ,,89 81

82 83 84

85 86

87 88

89

McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei, McDougal/Schlei. McDougal/Schlei. McDougal/Schlei.

Yale Yale Yale Yale Yale Yale Yale Yale Yale

L. L. L. L. L. L. L. L. L.

J. Bd. 64 (1955), S. 690. 1. Bd. 64 (1955), S. 690 f.

J. Bd. 64 (1955), S. 691. 1. Bd. 64 (1955), S. 691.

J. Bd. 64 (1955), S. 692. 1. Bd. 64 (1955), S. 691.

J. Bd. 64 (1955), S. 692.

1. Bd. 64 (1955), S. 692 f., Fußn. 235 u. 236. 1. Bd. 64 (1955), S. 694.

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e) Kein Verstoß gegen die Charta und das Treuhandabkommen Margolis argumentiert, daß die Wasserstoffbombenversuche sowohl gegen Art. 73 der Charta, der die Pflichten der Verwaltungsmächte von Treuhandgebieten festlegt, als auch gegen Art. 6 des Trusteeship Agreement for the Former Japanese Mandated Islands vom 18. Juli 1947, das die Charta-Bestimmungen konkretisiert, verstießen 9o • Er verweist darauf, daß sich aus Art. 73 der Charta für die USA als Verwaltungsmacht der Marshall-Inseln unter anderem die Pflicht ergeben habe, den Interessen der Einwohner des Treuhandgebietes Vorrang zu geben und ihr Wohl auf das äußerste zu fördern. Art. 6 des Treuhand-Abkommens verpflichte die USA ferner ausdrücklich, die Einwohner vor dem Verlust ihres Landes und vor Gesundheitsschäden zu schützen sowie die Entwicklung der Fischerei zu fördern. Margolis kommt zu dem Ergebnis, daß die Evakuierung der Bewohner einiger Marshall-Inseln, die von ihnen erlittenen Gesundheitsschäden sowie die Schäden für die Fischindustrie gegen die Pflichten der USA als Verwaltungsmacht verstießen. McDougal und Schlei beurteilen das ganz anders: Zwar habe die USA als Verwaltungsmacht auch Verpflichtungen übernommen, vor allem aber stünden ihr erhebliche Kompetenzen ZU 91 . Nach Auffassung der bei den Autoren läßt das Treuhandabkommen den USA völlig freie Hand, die Pazifik-Inseln für Sicherheitszwecke zu nutzen, was auch dadurch belegt werde, daß kein Staat protestiert habe, als die USA den Sicherheitsrat von ihrer Absicht der Durchführung von Atombombenversuchen auf den pazifischen Inseln in Kenntnis gesetzt habe 92 . Kernstück der Argumentation von McDougal und Schlei zu dieser Frage ist die These, daß die Pflichten der Verwaltungsmacht USA nur im Zusammenhang mit den ihr gewährten Kompetenzen gesehen werden könnten: "Powers can be given rational interpretation only in the context of the limitations imposed upon them; and conversely, limitations upon powers can be given meaning only by reference to the powers which they are intended to limit. ..93 Man könne nicht - wie Margolis das getan habe - die Beschränkungen von Kompetenzen als "autonomous, disembodied absolutes" ansehen, losgelöst von den Kompetenzen selbst94 . Diese Auffassung der beiden Autoren läuft darauf hinaus, daß die Kompetenzen der Verwaltungsmacht die ihr auferlegten Pflichten einschränken. Begründet wird diese These damit, es sei das grundlegendste Prinzip der Vertragsauslegung, 90 91

92 93

94

Margolis. Yale L. McDougal/Schlei, McDougal/Schlei, McDougal/Schlei. McDougal/Schlei,

10 Voos

J. Bd. 64 (1955), S. 643 ff. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. Yale L. J. Bd. 64 (1955), S.

699. 70 I f. 702. 703.

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daß der Vertrag als ganzer ausgelegt werden müsse, ohne einzelne Normen aus ihrem Zusammenhang zu lösen. Ferner berufen sich die Autoren auf das Prinzip der "effectiveness", wonach Verträge im Zusammenhang und unter Berücksichtigung der wichtigsten Zwecke und Erwartungen der Vertragsparteien ausgelegt werden müßten 95 . Auch im Hinblick auf nationale Verfassungen sei anerkannt, daß "grants of power and limitations upon power are as indivisible as scissors' blades,,96. Nach Ansicht von McDougal und Schlei stand den USA aufgrund der Charta und des Treuhandabkommens die für die Durchführung der Wasserstoffbombenversuchen in ihrem Treuhandgebiet erforderliche Kompetenz ZU 97 . Anschließend prüfen die Autoren, ob die Versuche trotzdem gegen die den USA auferlegten Pflichten verstießen. Dabei verweisen sie wieder auf das Prinzip der "reasonableness", das in Anlehnung an nationales Verfassungsrecht auch hier gelte98 . Sie kommen zu dem Ergebnis, daß die Eingriffe in Rechte der Bewohner des Treuhandgebietes eher gering gewesen seien. Auf die· Pflichten der USA zur Förderung des Wohls der Bewohner der Inseln gehen die beiden Autoren nur kurz ein: Man könne das Wohl der Bewohner der Treuhandgebiete nicht vom Wohl der interdependenten freien Welt trennen, sondern müsse die Versuche im Hinblick auf das Wohl der gesamten Menschheit sehen99 . Die Gesundheitsschäden der Bewohner der Marshall-Inseln hätten auf einem Unfall beruht, der sich nicht wiederholen werde 1oo. Im übrigen hätten die Vereinigten Staaten prompte Entschädigung in Aussicht gestellt und ansonsten ihre Pflichten als Verwaltungsmacht immer beispielhaft erfüllt. Ferner berufen sich die Autoren darauf, daß der Treuhandrat der Vereinten Nationen bei der Entscheidung über die Petition von Bewohnern der Marshall-Inseln mit großer Mehrheit die Position der Vereinigten Staaten unterstützt habe 101. Insgesamt kommen McDougal und Schlei daher zu dem Ergebnis, daß die USA nicht gegen ihre Pflichten als Verwaltungsmacht aus Charta und Treuhand-Abkommen verstoßen haben, sondern ihre Vorgehensweise "reasonable" war. Somit ergibt sich als Gesamtergebnis, daß die amerikanischen Wasserstoffbombenversuche im Pazifik völkerrechtmäßig waren. McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 702. McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 703, Fußn. 293. 97 McDougallSchlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 704. 98 McDougallSchlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 705, Fußn. 303. 99 McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 710. 100 McDougallSchlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 706, Fußn. 310. 101 UN Doc. No. T/L. 504, S. 2 (1954), zit. nach McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 708. 9S

96

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik

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f) Das Schlußwort

Anscheinend hatten McDougal und Schlei selbst Zweifel, ob die Versuche mit geltenden Völkerrechtsnormen vereinbar waren, denn in ihrem Schlußwort weisen sie mehrfach darauf hin, daß Realismus wichtiger sei als die strikte Einhaltung von Normen I02 . Ein rationales Ergebnis sei wesentlicher als technische Auslegungsfragen: "We do not, however, regard it as rational response for the free world unilaterally to disarm itself by the unnecessary extrapolation of broad prescriptions from the customary international law of the sea, created for other purposes, or by the narrow and technical interpretation apart from context of selected phrases from great international charters."I03 Der Hinweis auf die absolute Geltung des Grundsatzes der Freiheit der Meere wird als irrelevant und selbstmörderisch angesehen 104 . Bei einer solchen Argumentationsweise erscheint das Völkerrecht als eine Beschränkung der Handlungsfreiheit, von der ein Staat, der in seiner Existenz bedroht ist, sich freimachen müsse: "The prestige of the United States that matters depends (... ) not upon subservience to such labels, but rather upon the intensity of its dedication to the goal values of human dignity and its clarifying and adhering to an international law which rationally prornotes such goal values."I05 Kritik am Vorgehen der USA wird als lästiger Zwischenruf verantwortungsloser Leute gesehen: "Only third parties, unembarassed by responsibilities for the defense and security of the free world, seem unable to perceive the need for an appropriate discrimination between remedy for damage and mutual tolerance for vital interests."I06 Die Vereinigten Staaten dagegen müßten sich um wichtigere Dinge als die Meeresfreiheit oder das Wohlergehen der Bewohner der Treuhandgebiete kümmern: "Without at least a portion of the world defended in its freedom it would be folly to talk of freedom of the seas and the welfare of dependent peoples, both impossible to isolate from the freedom and welfare of a whole interdependent free world. The only rational policy for proponents of human dignity today is to demand (... ) not merely spurious or naive legalisms and not merely freedom for navigation and fishing and the narrowly conceived and unrealistically isolated welfare of a few scattered peoples, but workable prescriptions and institutions for global disarmament and a world public order which will afford opportunity for the increasing freedom and welfare of all peoples in the full exploitation of all the world's riches."I07 102 103 104

lOS 106

McDougallSchlei. McDougallSchlei. McDougallSchlei. McDougallSchlei. McDougallSchlei.

Yale Yale Yale Yale Yale

L. L. L. L. L.

1. Bd. 64 (1955), S. 688, 691 u. 710 f.

J. Bd. 64 J. Bd. 64 1. Bd. 64 1. Bd. 64

(1955), (1955), (1955), (1955),

S. S. S. S.

709. 709, Fußn. 322. 709, Fußn. 322. 695.

148

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3. Kritik von McDougals Artikel McDougal und Schlei stehen mit ihrem Ergebnis, daß die amerikanischen Wasserstoffbomben versuche völkerrechtmäßig waren, zwar nicht allein 108, aber die ganz überwiegende Mehrheit der Autoren bejaht hier einen Verstoß gegen Völkerrecht 109. Daneben äußert eine nicht unerhebliche Zahl von Autoren Zweifel an der Völkerrechtmäßigkeit der Versuche, läßt die Frage aber letztlich offen 110. McDougal und Schlei befinden sich mit ihrer klaren Bejahung der Völkerrechtmäßigkeit also in einer krassen Außenseiterrolle in der Völkerrechtslehre. a) Allgemeine Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen

Gegen die völkerrechtliche Zulässigkeit des Besitzes und Gebrauchs von Atomwaffen sowie der Durchführung von Atombombentests bestanden im Jahre 1954 und bestehen auch heute noch erhebliche Bedenken 111. McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 710. Reif!, The United States and the Treaty Law of the Sea, S. 368; D'Amato, AJIL Bd.61 (1967), S. 68; ders., The Concept of Custom in International Law, S. 224 f. 109 Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245 f.; Bouchez, Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht Band 9 (1962), S. 174; Cervenka, in: Annuaire de I' Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de I' Academie de Droit International de la Haye Bd. 29 (1959), S. 184; Charlier, RdC 1957/1, S. 367 f. u. 371; de Hartigh, Les Conceptions Sovietiques du Droit de la Mer, S. 78; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 348 u. 1086; Falk, American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 303; Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 312; Furel, Experimentation des Armes Nucleaires et Droit International Public, S. 66; Gidei, FS Spiropoulos, S. 198; Hoog/Schröder-Schüler, Die französischen Nuklearversuche, S. 82; /psen-Fischer, Völkerrecht, § 51, Rn. 27; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 135; Krüger, Hohe See, in: WVR Bd. 1, S. 793; Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 314; Oda, Die Friedenswarte Bd.53 (1955/56), S. 130; Radojkovice, Year Book of World Affairs Bd. 16 (1962), S. 213; Raju, Indian Journal of International Law Bd. 2 (1962), S. 213 f.; Rousseau, RGDIP Bd. 67 (1963), S. 380; Rühland, FS Spiropoulos, S. 377; Singh, Nuclear Weapons and International Law, S. 232; Singh/McWhinney, Nuclear Weapons and Contemporary International Law, S. 181; Sottile, Revue de Droit International, de Sciences Diplomatiques et Politiques Bd. 35 (1957), S. 137 f.; Verzijl, International Law in Historical Perspective, Teil IV, S. 106 f.; von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 76 f.; Wolfke, Custom in Present International Law, S. 56; wohl auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 508 ff. 110 Bowett, The Law of the Sea, S. 49; Brownlie, Principles of Public International Law, S. 234; Churchill/Lowe, The Law of the Sea, S. 168 u. 310; /psen-Gloria, Völkerrecht § 49, Rn. 15; von Münch, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 471; O'Connell, International Law, Band 2, S. 710 f.; O'Connell/Shearer, International Law of the Sea, Band II, S. 810 ff.; Rauch, GYIL Bd.28 (1985), S. 259; Schwarzenberger, Legality of Nuclear Weapons, S. 53 f. 107 108

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Die Ablehnung einer abstrakten Prüfung der allgemeinen Zu lässigkeit von Atomwaffen ohne Berücksichtigung des Einzelfalls durch McDougal und Schlei entspricht der der Monographie McDougals zum Kriegsvölkerrecht ("Lawand Mininum World Public Order") zugrundeliegenden These, wonach im Kriegsvölkerrecht immer eine Abwägung zwischen der im Einzelfall bestehenden militärischen Notwendigkeit einer Maßnahme einerseits und humanitären Überlegungen bzw. dem Verbot der unverhältnismäßigen Zerstörung von Werten andererseits erforderlich sei 1\2. Letztlich führt diese These zu dem Schluß, daß keine militärisch wirksame Waffengattung oder Vorgehensweise im Krieg per se verboten sein kann; diese Konsequenz war McDougal durchaus bewußt: "Only weapons whose use has resulted in incidental value deprivations obviously superflous and grossly disproportionate to the ensuing military advantage have been characterized as nonpermissible and effectively outlawed. Since such weapons are by definition militarily inefficient (... ) the compromise in favor of military necessity is obvious.,,113 Konsequenterweise - aber deswegen nicht weniger abwegig zweifeln McDougal und Feliciano daher auch die Geltung und den Sinn des allgemein anerkannten Verbots von Giftgas und biologischen Waffen anl\4. Absolute Verbote bestimmer Kriegshandlungen, Waffen usw. allein aufgrund ihrer als unmenschlich angesehenen Folgen und ohne Rücksicht auf die jeweilige politische und militärische Situation sind jedoch der Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts. Mit der These von der Notwendigkeit einer Abwägung zwischen militärischer Notwendigkeit einerseits und humanitären Gesichtspunkten andererseits unterminieren McDougal und Feliciano die (ohnehin geringen) zivilisatorischen Errungenschaften des Kriegsvölkerrechts. Wenn McDougal und Schlei im Artikel zu den Wasserstoffbombentests die Zulässigkeit von Atombombenversuchen davon abhängig machen wollen, ob diese "for objectives legitimate by standards of respect for human dignity"1\5 erfolgen, wollen sie damit politische Ziele wie die Bekämpfung des Totalitarismus bei der Prüfung der Völkerrechtmäßigkeit 111 Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 246; Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 330; Radojovire, in: The Year Book of World Affairs Bd. 16 (1962), S. 201 u. 213; Singh, NucIear Weapons and International Law, S. 243; SinghlMcWhinney, NucIear Weapons and Contemporary International Law, S. 195; Verzijl, International Law in Historical Perspective Teil IV, S. 106 (begrenzt auf die Atmosphäre und die Hohe See). Offenlassend Margolis, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 639, Fußn. 59. 112 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 77; ebenso dies., Yale L. 1. Bd. 67 (1957/58), S. 830. 113 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 77; ebenso dies., Yale L. 1. Bd. 67 (1957/58), S. 830 f. 114 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 634 u. 637. 115 McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 689.

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militärischer Maßnahmen berücksichtigen 116. Diese Argumentation weckt den Eindruck, daß der Zweck eines Siegs des Westens über die kommunistischen Staaten für McDougal jedes militärisch notwendige Mittel rechtfertigt ll7 . Auch die Berufung auf den Schutz der "human dignity" durch den Kampf gegen die Sowjetunion könnte aber den Einsatz von Wasserstoffbomben nicht rechtfertigen, denn es wäre im höchsten Maße widersprüchlich, mit der Berufung auf die Menschenwürde den Einsatz einer für die Menschheit so zerstörerischen Waffe wie der Wasserstoffbombe zu begründen 118. Auch bei der Prüfung der "reasonableness" der Wasserstoffbombenversuche kann man mindestens ebensogut zu einem anderen Ergebnis kommen als die bei den Autoren 1 19, wenn man - wie McDougal es fordert l20 - auf das Ausmaß der durch solche Bomben verursachten Zerstörung abstellt. b) Die Freiheit der Meere

Im Hinblick auf McDougals Ausführungen zum Grundsatz der Freiheit der Meere fällt ins Auge, daß seine allgemeine Darstellung des dynamischen Charakters des Seerechts und der Relativität des Grundsatzes der Meeresfreiheit viel größere Zustimmung findet als seine Anwendung dieses Grundsatzes auf den konkreten Streitfall der amerikanischen Wasserstoffbombentests. Die von McDougal vertretene Auffassung, daß die Freiheit der Meere nicht absolut gelten kann, ist überzeugend 121. Die verschiedenen Arten, die Hohe See zu nutzen, müssen miteinander vereinbart und aufeinander abgestimmt werden 122. Da die Hohe See grundsätzlich für alle Nutzer frei sein soll, findet jede Nutzung der Hohen See ihre Grenze in der Freiheit der anderen Nutzer, die Hohe See zu nutzen l23 . Die von McDougal propagierte Falk, NIL Bd. 59 (1965), S. 790. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 509; ähnlich D'Amato, The Concept of Custom, S. 226. 118 So auch Singh, Nuclear Weapons and International Law, S. 243; ähnlich Krakau, Missionsbewußtsein, S. 509. 119 So auch Singh, Nuclear Weapons and International Law, S. 243. 120 Vgl. McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 78. 121 Ebnso Furet, Experimentations des Armes Nucleaires, S. 34; Gidel, in: FS Spiropoulos, S. 187; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 46 ff.; O'Connell, International Law Bd. 2, S. 709; O'Connell/Shearer, The International Law of the Sea Bd. H, S. 793; Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 52 f. 122 So auch Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245. 123 Bierzanek, RGDIP Bd.65 (1961), S. 245; Cervenka, Annuaire de l'Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de I' Academie de Droit International de 116

lI7

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dynamische Sicht des Seerechts wird inzwischen überwiegend vertreten 124 und ist einer statischen Sichtweise vorzuziehen, weil sie eine Anpassung des Seerechts an neue technische, wirtschaftliche und sonstige Entwicklungen ermöglicht und angesichts der wesentlichen Veränderungen des Seerechts in den letzten Jahrzehnten auch als reaiistischer erscheint J25 . Neu entwickelte Methoden zur Nutzung der Hohen See können nicht schon von vornherein deshalb als unzulässig angesehen werden, weil sie nicht unter die klassischen Freiheiten der Hohen See fallen 126. McDougal argumentiert sehr überzeugend, daß das Seerecht nie unbeweglich und starr war, sondern sich immer neuen Gegebenheiten angepaßt hat l27 . Seine Darstellung des Seerechts als eines gewohnheitsrechtlich gewachsenen Rechts, das sich durch die von den Staaten geltend gemachten Ansprüche und die Reaktion der anderen Staaten darauf in ständigem Wandel befindet, ist - zumindest für die Zeit vor den beiden großen Seerechtskodifikationen - eine überzeugende und lebendige Darstellung der Realität. Das Modell von "claims" und "counterclaims" malt hier ein plastisches Bild des tatsächlichen Verhaltens von Staaten und der Auswirkungen dieses Verhaltens auf das Völkerrecht. Dagegen wird die von McDougal vertretene These, daß der Grundsatz der Freiheit der Meere und seine Ausnahmen "highly flexible policy preferences" darstellen 128 , überwiegend abgelehnt l29 . Diese These läßt sich auf die grundsätzliche Einstellung der New Haven School zu Normen und "policies" zurückführen, wonach Normen keine festen bindenden Regeln la Haye Bd. 29 (1959), S. 186; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 49; Krüger, Hohe See, in: WVR Bd. I, S. 793; Treves, High Seas, in: EPIL Bd. 11, S. 137. 124 Bienanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245; Chen, Introduction, S. 132; Furet, Experimentations des Armes Nucleaires et Droit International Public, S. 34 u. 37; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 46 ff.; Gidel, FS Spiropoulos, S. 187; Krüger, Hohe See, in: WVR Bd. I, S. 793; O'Connell, International Law, Bd. 2, S. 709; O'Connell/Shearer, The International Law of the Sea, Bd. 11, S. 796; Schwarzenberger, Legality of Nuclear Weapons, S. 52. 125 Ebenso Furet. Experimentations des Armes Nucleaires et Droit International Public, S. 39. 126 Vgl. Gidel. FS Spiropoulos, S. 188; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Ubungen, S. 46; O·Connell. International Law Bd. H, S. 711; Schwanenberger. The Legality of Nuclear Weapons, S. 52; Treves. High Seas, in: EPIL Bd. 11, S. 139. 127 Vgl. Gidel, FS Spiropoulos, S. 187 f.; Woifke, Custom in Present International Law, S. 156. 128 McDougal/Schlei, Yale L. J. Bd. 64 (1955), S. 659 f. 129 Bienanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245; Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 667, Fußn. 9; Gidel, FS Spiropoulos, S. 187; Jenisch. Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102 f.; Rousseau. RGDIP Bd. 67 (1963), S. 380.

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sind, auf die im dritten Teil noch eingegangen werden soll. McDougal übertreibt damit jedoch die Flexibilität und Dehnbarkeit des Grundsatzes der Freiheit der Meere l3o . McDougals Sicht des Grundsatzes der Meeresfreiheit und der Ausnahmen davon bzw. Einschränkungen dazu als einander entgegengesetzte Prinzipien, zwischen denen der Entscheidungsträger mit Hilfe des Maßstabs der "reasonableness" abwägen müsse l31 , gibt zwar die einander widersprechenden Interessen, die den verschiedenen Normen zugrundeliegen, wider. Sie vermag aber trotzdem nicht zu überzeugen, weil sie die Entscheidung der Staatengemeinschaft mißachtet, wonach die Hohe See grundsätzlich frei ist. Damit hat der Grundsatz der Meeresfreiheit Vorrang vor dem Konzept des Küstenmeeres und anderen Einschränkungen dieses Grundsatzes. Die Ausnahmen von einem Grundsatz können aufgrund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses nicht gleichgewichtig neben dem Grundsatz stehen, sondern sie können nur in bestimmten, klar umgrenzten Situationen eingreifen. Die These von der gleichzeitigen Anwendbarkeit einander widersprechender Prinzipien des Seerechts, zwischen denen der Entscheidungsträger abwägen muß, würde im Ergebnis dazu führen, daß der Grundsatz der Meeresfreiheit ebenso wie seine Beschränkungen keine normative Bindungswirkung mehr entfalten würde: "McDougal's rules are deprived of normative character by virtue of their complete permissiveness, one rule always authorizing what the other forbids. Thus, closed seas and open seas are like a lizard swallowing its tail.,,132 Anhand dieser entgegengesetzten Prinzipien, von denen laut McDougal keines Vorrang genießen soll, wäre keine sichere Bestimmung der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens, das die Freiheit der Hohen See beeinträchtigt, möglich 133. McDougals Ausführungen zu dem Problem, ob die amerikanischen Versuche im Pazifik gegen das Hoheitsverbot l34 als Unterfall der Freiheit der 130 Gidel, FS Spiropoulos, S. 187; ähnlich Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102. 131 Ihm folgend O'Connell/Shearer, The International Law of the Sea, Bd. II, S.795. 132 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 378. 133 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 378. 134 Vgl. zu diesem Verbot: Brownlie, Principles of Public International Law, S. 233; Churchill/Lowe, The Law of the Sea, S. 165 f. u. 168; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 348; Gidel, FS Spiropoulos, S. 189; Jenisch. Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 48 f. u. 112-119; Margolis. Yale L. J. Bd.64 (1955), S. 635; Oda. Die Friedenswarte Bd.53 (1955156), S. 131; Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 63. Die Seerechtskonvention vom 29. April 1958 formuliert in Art. 2 S. 1 dieses völkergewohnheitsrechtliehe Verbot wie folgt: "The high seas being open to all nations, no State may validly purport to subject any part of them to its sovereignty."

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Meere l35 verstießen, nach dem kein Staat die Hohe See oder einen Teil davon seiner Souveränität unterstellen darf, beschränken sich auf die Bemerkung in einer Fußnote, daß die Vereinigten Staaten keine Souveränität beansprucht hätten und für die Durchführung derartiger Versuche auch keine Souveränität erforderlich sei. Seine Unterscheidung von "sovereignty" und ,jurisdiction" entspricht dem herkömmlichen Verständnis 136 • In der Tat haben die Vereinigten Staaten weder ausdrücklich Ansprüche auf Souveränität über das Testgebiet geltend gemacht noch kann ihnen der Wille zur Einverleibung dieses Gebietes unterstellt werden. Damit ist aber noch nicht hinreichend geklärt, ob nicht die Einrichtung einer Gefahrenzone von 400.000 Quadratmeilen und die Durchführung gefährlicher Versuche innerhalb dieses Gebietes aufgrund ihrer faktisch alle anderen Benutzer ausschließenden Wirkung gegen das Hoheitsverbot verstieß. Auf diese naheliegende Frage geht McDougal erstaunlicherweise nicht ein, obwohl er ansonsten immer die Bedeutung faktischer Konsequenzen anstelle von juristischen Etikettierungen betont. Da die Vereinigten Staaten allein die Nutzung des gesperrten Teils der Hohen See unter Ausschluß aller übrigen Nutzungsberechtigten bestimmten, ist eine faktische Souveränität der Vereinigten Staaten über das gesperrte Gebiet zu bejahen 137. Über die Effektivität der von den Vereinigten Staaten ausgeübten ausschließlichen Herrschaft kann kein Zweifel bestehen, weil aufgrund der Versuche kein Schiff oder Flugzeug sich der Warnzone nähern konnte, ohne das Leben von Besatzung und Passagieren zu gefahrden 138 . Falk nennt die Nutzung der Hohen See durch derartige Versuche zu Recht "the most peremptory, exclusive use uf the high seas since the days when mare liberum triumphed over mare clausum l39 • Obwohl die Versuche selbst Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 49, 112 u. 135. Vgl. Brownlie, Principles of Public International Law, S. 289 u. 298; Gidel, FS Spiropoulos, S. 189; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1112 f. 137 D'Amato, AJIL Bd.61 (1967), S. 68; von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 77; Bouchez, Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht Bd. IX (1962), S. 171 f.; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 348; Falk, American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 303 f.; Furet, Experimentation des Armes Nucleaires en Droit International Public, S. 66; Gidel, FS Spiropoulos, S. 197 f.; Hoog/Schröder-Schüler, Die französischen Nuklearversuche im Südpazifik, S. 80 f.; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 131 u. 134 f.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 510 f.; Oda, Die Friedenswarte, Bd.53 (1955/56), S. 131; Rousseau, RGDIP Bd. 67 (1963), S. 380; Rühland, FS Spiropoulos, S. 377; Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 63. 138 Bouchez, Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht Bd. 9 (1962), S. 171 f.; Gidel, FS Spiropoulos, S. 197 f.; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 132 ff.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 510 f.; Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 63; ähnlich Bowett, The Law of the 135

136

Sea, S. 50, Fußn. 1.

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nur kurze Zeit dauerten, kann man angesichts der Dauer der Sperrung des Testgebietes, der Nachwirkungen der Tests sowie der wahrscheinlichen Meidung dieses Gebietes durch die Nutzungsberechtigten auch noch nach ihrer Beendigung 140 durchaus von einem längeren Zeitraum des Ausschlusses anderer Staaten sprechen 141. Eine derartige faktisch alle anderen Staaten von der Nutzung ausschließende, dauerhafte Herrschaft über einen Teil der Hohen See von erheblicher Größe kann der völkerrechtswidrigen ausdrücklichen Anmaßung von Souveränität über einen Teil der Hohen See gleichgestellt werden, weil sie die Hohe See ebenfalls der ausschließlichen Herrschaftsgewalt eines Staates unterwirft l42 . Die amerikanischen Wasserstoffbombenversuche verstießen daher - entgegen McDougals Ausführungen - bereits dadurch gegen den Grundsatz der Freiheit der Meere, daß sie eine dem Hoheitsverbot zuwiderlaufende faktische Souveränität der Vereinigten Staaten über einen beträchtlichen Teil der Hohen See bewirkten. Anstatt einen Verstoß der amerikanischen Wasserstoffbombenversuche gegen das Hoheitsverbot zu prüfen, mißt McDougal die Versuche im Pazifik am Maßstab der "reasonableness". Im Folgenden soll die These von der Maßgeblichkeit dieses Kriteriums zunächst nur im Hinblick auf die Meeresfreiheit überprüft werden. Dabei stellt sich als erstes die Frage, ob es sich bei dem "test of reasonableness" überhaupt um eine neue These handelt oder ob darin bloß eine andere Formulierung des von der Völkerrechtslehre ganz überwiegend anerkannten Prinzips des gleichen Gemeingebrauchs, der eine Ausprägung des Grundsatzes der Meeresfreiheit ist, liegt. Der Grundsatz der Freiheit der Meere wird überwiegend so verstanden, daß jede Nutzung - unabhängig von ihrer Natur - zulässig ist, die weder speziell verboten ist noch andere Nutzungsberechtigte übermäßig, d. h. über den normalen Gemeingebrauch hinaus, beeinträchtigt 143. Ein Ausschluß anderer Staaten von der Nutzung Falk, American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 303 f. Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 134. 141 lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 51 Rn. 27. 142 Im Ergebnis ebenso van Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 77; Cervenka, Annuaire de I' Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de I' Academie de Droit International de la Haye Bd. 29 (1959), S. 186; Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 66; Gidel, FS Spiropoulos, S. 197 f.; Haag/ Schröder-Schüler, Die französischen Nuklearversuche im Südpazifik, S. 80 f.; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 134; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511; Rausseau, RGDIP Bd. 67 (1963), S. 380; Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 63; ähnlich auch lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 51, Rn. 27. 143 Vgl. Churchill/Lowe, The Law of the Sea, S. 168; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 349; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer 139

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ist daher nur dann rechtmäßig, wenn er im Rahmen des üblichen Gemeingebrauchs erfolgt l44 . Der Grundsatz des gleichen Gemeingebrauchs ähnelt dem Maßstab der "reasonableness" insofern, als beide eine Beschränkung der Rechte eines Staates durch die Rechte der anderen Staaten und eine Interessenabwägung beinhalten. Der Maßstab der "reasonableness" ist jedoch erheblich flexibler und weit unpräziser als der eines gleichen, nicht übermäßigen Gemeingebrauchs. Ferner stellt der Grundsatz des gleichen Gemeingebrauchs nur auf die Interessen der verschiedenen Nutzungsberechtigten an der Nutzung der Hohen See ab, wohingegen McDougal auch alle möglichen Faktoren des weit verstandenen Kontexts, z. B. den Aspekt der Sicherheitsinteressen, berücksichtigen will. Außerdem fehlt bei der Prüfung der "reasonableness" die Betonung des gleichen Rechts aller Staaten auf die Nutzung der Hohen See sowie die Beurteilung einer Nutzung der Hohen See als völkerrechtswidrig, wenn sie andere Nutzer der Hohen See gefahrdet oder schädigt. Insgesamt sind daher der Grundsatz des Gemeingebrauchs und das Kriterium der "reasonableness" zwar verwandt, unterscheiden sich aber erheblich voneinander. Wenn man die amerikanischen Wasserstoffbombenversuche am Grundsatz des gleichen, allgemeinverträglichen Gemeingebrauchs mißt, kommt man ohne weiteres zu dem Ergebnis, daß die Versuche andere Nutzungsberechtigte über den normalen Gemeingebrauch hinaus beeinträchtigten und daher nicht im Rahmen des gleichen Nutzungsrechts aller lagen 145 • Zudem wurden andere Staaten gefährdet oder geschädigt, so daß sie in ihrem gleichen Nutzungsrecht verletzt wurden 146 • Bei Anwendung des Kritieriums der "reasonableness" sind dagegen noch umfassende Abwägungen erforderlich. Die amerikanischen Versuche verstießen demnach bei Zugrundelegung des klassischen Verständnisses des Seerechts doppelt gegen die Freiheit der Meere: zum einen durch die unzulässige Ausübung faktischer Herrschaftsgewalt über einen Teil der Hohen See, zum anderen durch die dadurch erfolgte Beeinträchtigung des gleichen Gemeingebrauchs der anderen Nutzungsberechtigten. Übungen, S. 49; Krüger, Hohe See, in: WVR Bd. 1, S. 793; Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 63. 144 Dahm. Völkerrecht Bd. I, S. 666; Jenisch. Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 49 u. 119; Schmitt. Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 63. 145 Dahm. Völkerrecht Bd. I, S. 667; Hoog/Schröder-Schüler. Die französischen Nuklearversuche im Südpazifik, S. 80 f.; Jenisch. Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102 u. 135; Krüger, Hohe See, WVR Bd. 1, S. 793. 146 Dahm. Völkerrecht Bd. I, S. 667; Dupuy/Vignes. Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 348; lpsen-Fischer. Völkerrecht § 51, Rn. 27.

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Das von McDougal vorgeschlagene Kriterium der "reasonableness" für die Zulässigkeit einer Nutzung der Hohen See hat viel Zustimmung gefunden 147 . Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im "Fisheries-Case (Uni ted Kingdom v. Norway),,148 kann wohl als Unterstützung dieses Kriteriums angesehen werden 149, auch wenn es - soweit ersichtlich - den Begriff der "reasonableness" nicht enthält. Zugunsten des Maßstabs der "reasonableness" läßt sich anführen, daß es an das Verbot des "abus de droit,,150 sowie an das Prinzip der guten Nachbarschaft 151 erinnert und beide Konzepte geeignet erscheinen, die Nutzung der Hohen See zu regulieren. Ferner erfaßt dieser Maßstab aufgrund seiner Flexibilität gut, daß es für die Frage der Zulässigkeit einer Nutzung der Hohen See auf die Umstände des Einzelfalls ankommt 152. Auch mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip deckt sich der Maßstab der "reasonableness" zumindest teilweise, denn eine Nutzung der Hohen See, die andere Nutzungsberechtigte unverhältnismäßig belastet, wäre nicht "reasonable". Ein besonders gewichtiges Argument für die Geltung des Maßstabs der "reasonableness" zum Zeitpunkt der amerikanischen Wasserstoffbombentests ist seine Aufnahme in das Genfer Übereinkommen über die Hohe See von 1958, das im wesentlichen bereits geltendes Völkerrecht kodifiziert. In Art. 2 Satz 4 dieser Konvention heißt es: "These freedoms, and others which are recognised by the general principles of international law, shall be exercised by all States with reasonable regard to the interests of other States in their exercise of the freedom of the high seas". In der Genfer Seerechtskonvention von 1982 findet sich in Art. 87 Abs. 2 eine ähnliche Formulierung, aber ohne den Ausdruck der "reasonableness": "These freedoms shall be exercised by all States, with due consideration for the interests of other States in their exercise of the freedom of the high seas, and also with

147 Bowett, The Law of the Sea, S. 49; Brownlie, Principles of Public International Law, S. 234; Churchill/Lowe, The Law of the Sea, S. 168; D'Amato, AJIL Bd. 61 (1967), S. 67 f.; de Hartingh, Les Conceptions Sovietiques, S. 80; Dillard, RdC 19571I, S. 491; Falk, AJIL Bd. 59 (1965), S. 790; Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 37 f.; Gidel, FS Spiropoulos, S. 187 f.; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 51 u. 102 f.; Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 52 f; Simonnet, La Convention sur la Haute Mer, S. 207. 148 ICI Reports 1951, S. 116 (129 f. u. 133). 149 Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 51 u. 97; Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 52 f. 150 De Hartingh, Les Conceptions Sovietiques, S. 80; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 350; ähnlich Brownlie, Principles of Public International Law, S. 234; Simonnet, La Convention sur la Haute Mer, S. 207. 151 Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 53. 152 O'Connell, International Law, Bd. 2, S. 709.

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due consideration for the rights under this Convention with respect to activities in the Area." Es gibt jedoch auch Bedenken gegen den Maßstab der "reasonableness" als Kriterium für die Abgrenzung zulässiger von unzulässigen Nutzungen der Hohen See 153 . Der schwerwiegendste Einwand ist wohl der, daß McDougal die "reasonableness" als einziges Kriterium ansieht; damit bleibt jedenfalls das Hoheitsverbot als Teil des Grundsatzes der Meeresfreiheit außen vor. Der Grundsatz der Freiheit der Meere muß aber trotz all seiner Flexibilität im Kern erhalten bleiben und darf nicht durch eine Interessenabwägung im Einzelfall umgangen werden I54 • Das wird auch durch Artikel 2 der Genfer Seerechtskonvention von 1958 bestätigt, denn das Abstellen auf "reasonable regard to the interests of other States" erfolgt erst, nachdem der erste Satz das Hoheitsverbot formuliert und der zweite Satz auf weitere Bestimmungen über die Ausübung der Freiheiten der Hohen See verweist. Demnach kann also erst dann, wenn feststeht, daß die konkrete Nutzung weder gegen das Hoheitsverbot noch gegen spezielle seerechtliche Verbote verstößt, auf das Kriterium der "reasonableness" zurückgegriffen werden I55 . Problematisch bei Anwendung des von McDougal vorgeschlagenen Maßstabs der "reasonableness" ist ferner dessen große Unbestimmtheit, die zur Abgrenzung einer zulässigen von einer unzulässigen Nutzung der Hohen See kaum etwas beiträgt l56 . Der Vorwurf der Subjektivität dieses Kriteriums l57 ist nicht von der Hand zu weisen; als einziger Maßstab wäre die "reasonableness" zu unbestimmt, um Rechtssicherheit und gleiche Behandlung aller Staaten zu gewährleisten. Die Erläuterungen des Kriteriums der "reasonableness" durch McDougal selbst erhöhen die Unbestimmtheit und damit die Gefahr der Subjektivität eher, da McDougal nicht näher umschreibt, welche Kriterien im einzelnen für die "reasonableness" ent153 Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245 f.; DupuylVignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 350 f.; Fischer, AFDI Bd.2 (1956), S. 317; O'Connell1 Shearer, The International Law of the Sea, Bd. H, S. 795 f.; Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 62 f.; von Münch, AVR Bd. 12 (1964/1965), S.471. 154 Vgl. Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, S. 62 f.; von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 77. 155 So auch Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102; ähnlich Fischer, AFDI Bd.2 (1956), S. 313; a. A. Furet, Experimentations des Armes NucIeaires et Droit International Public, S. 38. 156 Vgl. ChurchilllLowe, The law of the sea, S. 167 f.; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 351; Schwarzenberger, The Legality of NucIear Weapons, S. 53; von Münch, AVR Bd. 12 (1964/65), S. 471; a. A. wohl D'Amato, AJIL Bd. 61 (1967), S. 67 f. 157 DupuylVignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 351; Falk, AJIL Bd. 59 (1965), S. 790; Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 317; 0 'ConnelllShearer, The International Law of the Sea, Bd. H, S. 795.

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scheidend sein sollen, sondern vielmehr den gesamten Kontext in die Abwägung einbeziehen will, einschließlich moralischer Überlegungen und politischer Interessen l58 . McDougals Verständnis von "i'easonableness" rückt dieses Kriterium daher in die Nähe einer allgemeinen Billigkeitsentscheidung, die nur nach den Besonderheiten des Einzelfalls fragt. Die Güterabwägung wird so vom rechtlichen in den politischen Bereich verlagert 159 und läuft Gefahr, alle Konturen zu verlieren. Als Beleg für die Gefahr von Rechtsunsicherheit und drohender Ungleichbehandlung, die bei einem Abstellen auf politische Interessen im Rahmen der "reasonableness"-Abwägung bestehen würde, kann d' Amatos Artikel zu den französischen Atombombentests im Jahre 1966 in Französisch Polynesien angeführt werden. D' Amato kommt hier unter Anwendung des Kriteriums der "reasonableness" und unter Einbeziehung sicherheitspolitischer Überlegungen in die Abwägung zu dem Ergebnis, daß die französischen Versuche deshalb völkerrechtswidrig seien, weil Frankreich sich anders als die USA als Vertreter des Westens - nicht darauf berufen könne, daß seine Versuche auch der internationalen Sicherheit zugute kommen 160. Insgesamt ergibt sich damit, daß der von McDougal vorgeschlagene Maßstab der "reasonableness" zwar ein an sich brauchbares zusätzliches Kriterium zur Abgrenzung zulässiger von unzulässigen Nutzungen der Hohen See ist, daß aber McDougals Auslegung dieses Maßstabs bedenklich ist. Ferner kann dieses Kriterium nicht das Hoheitsverbot ersetzen. McDougal und Schleis Verweis auf so unterschiedliche Fälle wie Küstenmeer, Anschlußzone und Festlandsockel, aber auch auf "hot pursuit" und Piraterei soll die Geltung des Prinzips der "reasonableness" belegen und zugleich die Relativität des Grundsatzes der Freiheit der Meere gegenüber anderen Ansprüchen von Staaten auf die Ausübung von Kompetenzen auf Hoher See nachweisen l61 . In seiner Monographie zum Seerecht stellt McDougal klar, daß seine Argumentation nicht grundlegend auf einer Analogie beruht 162. Bei völkerrechtlichen Verträgen sind Analogieschlüsse grundsätzlich unzulässig l63 . Eine echte Analogie zwischen den Regelungen über Anschlußzone, Fischereischutzzone und Festlandsockel wäre ferner auch 158 Vgl. Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245 f.; Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 317; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 317; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 513 f. 159 Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102. 160 D'Amato, AJIL Bd. 61 (1967), S. 70 f. und 75 ff. 161 Kritisch dazu Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 39 ff.; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 98 f. u. 101. 162 McDougal/Burke, The Public Order of the Oceans, S. 13, Fußn. 32; ebenso McDougal/Burke, Yale L. 1. Bd. 67 (1957/58), S. 547, Fußn. 28.

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nicht tragfähig 164, da zwischen den angeführten Fällen und den Wasserstoffbombentests kaum Ähnlichkeit ersichtlich ist. Sieht man die Wasserstoffbombentests als Ausübung faktischer Souveränität an, so folgt die mangelnde Vergleichbarkeit der Fälle bereits daraus, daß alle angeführten Fälle nur die Ausübung eng begrenzter Hoheitsrechte zur Verfolgung bestimmter Zwecke gestatten 165. Ferner wiegen diese Einschränkungen der Meeresfreiheit weit weniger schwer als die amerikanischen Wasserstoffbombenversuche l66 . Diese Einschränkungen der Freiheit der Meere sind in ihrer Zielrichtung zu verschieden, als daß sie - wie McDougal es versucht - zu einem allgemeinen Prinzip der Beschränkung der Meeresfreiheit durch einzelstaatliche Kompetenzen verallgemeinert werden könnten 167. Aufgrund ihrer jeweils ganz unterschiedlichen Voraussetzungen vermögen sie auch nicht überzeugend zu begründen, daß das Kriterium der "reasonableness" den allein auschlaggebenden Maßstab für die Zulässigkeit einer Nutzung der Hohen See darstellen SOll168. Auch bei den Verweisen auf Air Defense Identification Zones und auf das Seerecht im Krieg handelt es sich nicht um Analogien im strengen Sinn l69 , sondern sie sollen bloß die These vom besonderen Gewicht von Sicherheitsinteressen belegen. Der Verweis auf die Air Defense Identificati on Zones ist insofern wenig überzeugend 170, als die Zulässigkeit derartiger Sicherheitszonen in der Anschlußzone umstritten ist l71 . Die Genfer Seerechtskonvention von 1958 erkannte keine derartigen Zonen an. Die Völker163 Graf Vitzthum, in: Völkerrecht, Hrsg.: Graf Vitzthum, Abschnitt 1 Rn. 125; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 345. 164 Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 246; D'Amato, The Concept of Custom, S. 224; Gidel, FS Spiropoulos, S. 196 (für die Anschlußzone); von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 77. 165 Gidel, FS Spiropoulos, S. 197; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 93 u. 101 f.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511. 166 Gidel, FS Spiropoulos, S. 189; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102; ähnlich Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 40. 167 Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 44; Gidel, FS Spiropoulos, S. 197; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 101 f.; a. A. wohl Bowett, The Law of the Sea, S. 49. 168 Ebenso Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 103. 169 So auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511. 170 A. A. wohl Bowett, The Law of the Sea, S. 49. 171 Für die Zulässigkeit: Reift, The United States and the Treaty Law of the Sea, S. 365; Simonnet, La Convention sur la Haute Mer, S. 207; O'Connell/Shearer, The International Law of the Sea, Bd. 11, S. 797; O'Connell, International Law, Bd. 11, S. 709. Dagegen sprechen sich aus: Brownlie, Principles of Public International Law, S. 204 u. 207; Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 51 f.; IpsenGloria, Völkerrecht, § 48, Rn. 35; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 92.

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rechtskommission verwies in ihrem Kommentar zu dieser Konvention unter anderem auf die Mißbrauchsgefahr angesichts der "extreme vagueness of the term ,security, .. 172. Selbst wenn man jedoch von der Zulässigkeit derartiger Zonen ausginge, würde es an einer Vergleichbarkeit mit den Tests fehlen, weil Sicherheitszonen nicht auf Hoher See, sondern in der Anschluß zone eingerichtet werden und weit kleiner sowie weniger beeinträchtigend als die Warnzone im Pazifik sind. McDougals Verweis auf die zahlreichen Ausnahmen vom Grundsatz der Freiheit der Meere in Kriegszeiten ist bereits insofern wenig überzeugend, als die strittigen Versuche der USA gerade nicht im Krieg stattfanden 173. Zwar ist McDougal darin Recht zu geben, daß die Schwarz-WeiB-Unterscheidung zwischen Krieg einerseits und Frieden andererseits stark vereinfachend ist; um die Realität angemessen zu beschreiben, würde sich in der Tat ein Spektrum zwischen den Extremen Krieg und Frieden besser eignen. Für die Beibehaltung dieser klaren Unterscheidung im Völkerrecht spricht jedoch entscheidend die gefährliche Rechtsunsicherheit, die sonst in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden bestünde. Eine Verwischung der Grenze darf jedenfalls nicht dahingehend erfolgen, daß die erheblich ausgeweiteten Kompetenzen von Staaten im Krieg bereits mitten im Frieden als zulässig anerkannt werden. Nur bei dem Verweis auf Seemanöver handelt es sich um eine echte Analogie, denn hier zieht McDougal ausdrücklich eine Parallele zu den Wasserstoffbombentests. Zwar ist die grundsätzliche Völkerrechtmäßigkeit von Seemanövern allgemein anerkannt 174, aber auch hier scheitert eine Analogie an der mangelnden Vergleichbarkeit: Zum einen verstoBen Seemanöver nicht gegen das Hoheitsverbot 175 , zum anderen dauern sie nur kurze Zeit, beanspruchen ein weit kleineres Gebiet und sind für unbeteiligte Nutzer der Hohen See weit weniger gefährlich als Wasserstoffbombentests l76 . Ein weiYBILC Bd. 1965/11, S. 295. Im übrigen geht McDougals Einschätzung, wonach im Krieg vom Grundsatz der Meeresfreiheit kaum etwas übrig bleibt, wohl zu weit, vgl. Brownlie, Principles of Public International Law, S. 235, inbes. Fußn. 18. 174 Churchill/Lowe, The Law of the Sea, S. 168; Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 66; lpsen-Gloria, Völkerrecht, § 49, Rn. 15; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 68, 75 u. 82; Gidel, FS Spiropoulos, S. 195; Reif!, The United States and the Treaty Law of the Sea, S. 365; Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 52; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1247. 175 Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 66; Gidel, FS Spiropoulos, S. 195. 176 Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 314; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 97; Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 315, Fußn. 31. Für eine Vergleichbarkeit sprechen sich aus: D'Amato, The Concept of Custom, S. 224; 172 173

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terer Unterschied liegt darin, daß See manöver und Schießübungen jederzeit unterbrochen werden können, wohingegen die Gefahr durch Radioaktivität auch nach Beendigung der Versuche unbeeinflußbar andauert l77 . Das Selbstverteidigungsrecht, auf das McDougal als entscheidendes Indiz für die "reasonableness" der Tests verweist 178, ist nicht geeignet, die Eingriffe in die Meeresfreiheit durch die amerikanischen Wasserstoffbombenversuche zu rechtfertigen 179. Das folgt schon daraus, daß keine Angriffshandlung vorlag und die Versuche nur offensichtlich unbeteiligte Staaten beeinträchtigten 180. Aber auch als bloßes Argument für das hohe Gewicht, das den Sicherheitsinteressen der USA bei der Abwägung über die "reasonableness" der Versuche zukommen soll, wirkt die Darlegung, die USA hätten nur ihre Selbstverteidigung vorbereitet, nicht überzeugend, da das Selbstverteidigungsrecht im Völkerrecht nur unter bestimmten engen Voraussetzungen anerkannt ist 181 . Nach McDougals These würden alle Handlungen, die der Vorbereitung der Verteidigung eines Staates dienen - egal wie mittelbar - in einer Grauzone liegen, in der das Selbstverteidigungsrecht zwar noch nicht wirklich eingreifen, aber trotzdem bereits eine Rechtfertigungswirkung ausstrahlen würde. Damit würden die engen Beschränkungen des Selbstverteidungsrechts umgangen 182 und das Selbstverteidigungsrecht im Ergebnis ins Grenzenlose überdehnt 183 . McDougals Versuch, durch Verweis auf Air Defense Identification Zones, Seemanöver, Selbstverteidungsrecht und Kriegsvölkerrecht seine These vom besonderen Gewicht von Sicherheitsinteressen auch im Hinblick auf den Grundsatz der Freiheit der Meere zu belegen, ist daher nicht erfolgreich. Bei den von ihm angeführten Fällen ist teilweise bereits die Völkerrechtmäßigkeit zweifelhaft, jedenfalls unterscheiden sie sich aber zu stark voneinander, als daß man aus ihnen einen grundsätzlichen Vorrang von SicherheitsO'Connell, International Law, Bd. 11, S. 709; Reif!, The United States and the Treaty Law of the Sea, S. 365; zweifelnd: Gidel, FS Spiropoulos, S. 195; Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 52. 177 Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 315, Fußn. 31; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 80. 178 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511. 179 Fischer, AFDI Bd.2 (1956), S. 314; Gidel, FS Spiropoulos, S. 191 ff.; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 96 u. 134; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511; von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 97. 180 Gidel, FS Spiropoulos, S. 194; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 512. 181 Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 314; Gidel, FS Spiropoulos, S. 194; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 96; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511. 182 Vgl. Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 101. 183 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 97 f.; Gidel, FS Spiropoulos, S. 194; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 511. 11 Voos

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überlegungen gegenüber der Meeresfreiheit ableiten könnte. Zwar trifft McDougals Aussage zu, daß Sicherheitsinteressen im Völkerrecht eine erhebliche Rolle spielen, aber auch auf "national security"-Gründe gestützte Kompetenzen müssen in jedem Fall gen au umschrieben und klar eingegrenzt sein. Eine allgemeine Einschränkung der Freiheit der Meere durch nationale Verteidigungsinteressen würde den gleichen Gemeingebrauch der Hohen See durch alle Staaten übermäßig beeinträchtigen l84 . Bei der im Rahmen der "reasonableness"-Prüfung von McDougal und Schlei durchgeführten Abwägung im Einzelfall ist das Argument, daß die Wasserstoffbombenversuche für die Sicherheit der USA und des Westens unbedingt notwendig waren, nur begrenzt überzeugend, denn die politische oder militärische Notwendigkeit einer Handlung kann für sich betrachtet keinen juristisch relevanten Rechtfertigungsgrund darstellen 185. Im übrigen kann man über die politische Frage, ob die Versuche notwendig waren, durchaus geteilter Auffassung sein 186. Außerdem konnten die Vereinigten Staaten nicht allein darüber entscheiden, was für die Sicherheit aller westlichen Staaten notwendig sei 187. Im Hinblick auf die Interessen, die bei der erforderlichen Abwägung gegen die "reasonableness" der Versuche sprechen, ist McDougal vorzuwerfen, daß er die von den Tests hervorgerufenen Schäden verharmlost. Der Eingriff in die Freiheit der Schiffahrt war zwar angesichts der Abgelegenheit des Versuchs gebietes geringer als in den meisten anderen Teilen der Hohen See 188 , aber es handelte sich immerhin um ein Gebiet von erheblicher Größe, das für Monate bzw. Jahre für die Schiffahrt vollständig gesperrt war 189 • Im übrigen sind abgelegene Teile der Hohen See durch den Grundsatz der Freiheit der Meere ebenso geschützt wie vielbefahrene l9o . Auch die Beeinträchtigung der Freiheit des Fischfangs wird von McDougal 184 O'Connell/Shearer, The International Law of the Sea, Bd. H, S. 797; ähnlich Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1228. 185 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 104; Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 67. 186 Vgl. Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 246; Charlier, RdC 1957/1, S. 370; dafür: Furet, Experimentation des Armes Nucleaires, S. 67. 187 Vgl. von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 104, Fußn. 239; Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 311. 188 So auch Bowett, The Law of the Sea, S. 49, Fußn. 2; Reif!, The Uni ted States and the Treaty Law of the Sea, S. 365. 189 Cervenka, in: Annuaire de I' Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de l'Academie de Droit International de la Haye Bd. 29 (1959), S. 185; Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 667; Gidel, FS Spiropoulos, S. 183; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 29. 190 von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 76; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 134.

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zu gering bewertet l91 , denn ein schärferer Eingriff als der durch die Tötung und Verletzung von Fischern ist nicht denkbar. McDougal verhannlost die bleibenden Gesundheitsschäden, die die überlebenden Besatzungsmitglieder der Fukuryu Maru erlitten haben 192. Außerdem liegt eine wesentliche Beeinträchtigung der Freiheit des Fischfangs bereits darin, daß die Fischer über Monate hinweg ein großes Fanggebiet nicht nutzen konnten 193 • Ferner wurden die Fischer durch die Vernichtung radioaktiv verseuchten Fangs und den Fall des Fischpreises auf die Hälfte wirtschaftlich schwer geschädigt l94 . Daß McDougal diese Fakten bei der Interessenabwägung völlig außer acht läßt, beeinträchtigt die Überzeugungskraft seiner Argumentation erheblich. Da er auf der anderen Seite die Interessen, die für die "reasonableness" der Versuche sprechen - insbesondere die Sicherheitsinteressen der USA überbewertet, ist die von ihm durchgeführte Interessenabwägung im Ergebnis nicht überzeugend l95 • c) Das Verschmutzungs- und Schädigungsverbot

McDougals Auffassung, daß es zur Zeit der Versuche weder nach Völkergewohnheitsrecht noch nach Vertragsrecht ein allgemeines Verbot gab, die Hohe See und das Leben in ihr durch radioaktive Strahlung zu verseuchen, ist insofern gut vertretbar, als sich jedenfalls im Jahre 1954 noch kein klarer Inhalt eines solchen Verbotes herausgeschält hatte 196. Der "Trail Smelter-Fall" sowie die anderen Fälle, die zugunsten eines solchen Verbotes angeführt wurden, betreffen nicht die Verschmutzung eines hoheitsfreien Gebietes wie der Hohen See, sondern die Schädigung fremder Staatsangehöriger oder fremden Eigentums durch Umweltverschmutzung. Hält man jedoch mit McDougal eine "reasonableness"-Abwägung für erforderlich, so 191 So auch von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 76; Bienanek, RGDlP Bd. 65 (1961), S. 246; Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 667; Gidel, FS Spiropoulos, S. 182 u. 199. 192 Vgl. Gidel, FS Spiropoulos, S. 176 u. 200. 193 Cervenka, in: Annuaire de I' Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de l'Academie de Droit International de la Haye Bd. 29 (1959), S. 185. 194 Vgl. von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 76; Bowett. The Law of the Sea, S. 49, Fußn. 2; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S.29. 195 Ebenso Bierzanek. RGDlP Bd. 65 (1961), S. 246; Churchill/Lowe, The Law of the Sea, S. 167. 196 Ähnlich Schwarzenberger, Legality of Nuclear Weapons, S. 54; Singh, Nuclear Weapons and International Law, S. 233; vgl. O'Connell, International Law Bd. 2, S. 710. Anders aber von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 77; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 1086; wohl auch Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 315; Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 667; Charlier, RdC 1957/ I, S. 365 u. 367 f. 11'

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ist McDougals Ergebnis angesichts des Ausmaßes des verseuchten Gebietes und der lang andauernden schädlichen Folgen für das Meer und seine Bewohner l97 sowie in Anbetracht der Gefahren für künftige Generationen durch die Strahlung l98 fragwürdig. Anstelle eines Verstoßes gegen das allgemeine Verbot von "pollution" liegt im Fall der Wasserstoffbomben versuche die Verletzung eines anderen Grundsatzes näher, auf den McDougal nicht eingeht, nämlich des allgemeinen Schädigungsverbots. Nach diesem Prinzip, das ebenfalls auf den "Trail Smelter-Fall" zurückgeht, ist eine Verseuchung der Hohen See jedenfalls dann völkerrechtswidrig, wenn durch sie fremde Staatsangehörige oder deren Eigentum geschädigt werden; ein Verstoß gegen das Verbot führt zur Haftung des Schädigerstaates l99 . Im vorliegenden Fall erlitten japanische Fischer Gesundheitsschäden und es ist davon auszugehen, daß die radioaktive Strahlung auch Auswirkungen auf andere Staaten zumindest in der Nachbarschaft der Testgebiete hatte 2OO • Damit stellt sich zumindest ernsthaft die Frage einer Verletzung des Schädigungsverbotes; die von den USA getroffenen Sicherheitsmaßnahmen, auf die McDougal verweist, könnten einen Verstoß gegen das Schädigungsverbot nicht heilen und die Staatenverantwortlichkeit der USA nicht aufheben 201 . d) Treuhandabkommen und Charta

Es ginge zu weit, hier die Frage, ob die USA durch das Treuhandabkommen, das 1946 über die Pazifikinseln abgeschlossen wurde, zur Durchführung von Wasserstoffbomben versuchen ermächtigt waren oder ob sie damit gegen ihre Pflichten als Verwaltungsmacht verstießen, abschließend klären zu wollen. Selbst wenn man eine Kompetenz der USA zur Durchführung Gidel, FS Spiropoulos, S. 183. Vgl. Cervenka, in: Annuaire de I' Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de l'Academie de Droit International de la Haye Bd. 29 (1959), S. 184; Charlier, RdC 1957/1, S. 363 u. 367; SOlille, Revue de Droit International, de Sciences Diplomatiques et Politiques Bd. 35 (1957), S. 135 ff. 199 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 82 u. 84; Menzel, Atombombenversuche, in: WVR Bd. I, S. 99; Rühland, FS Spiropoulos, S. 379; Schwarzenberger, Legality of Nuclear Weapons, S. 54; Singh/McWhinney, Nuclear Weapons and Contemporary International Law, S. 179; Singh, Nuclear Weapons and International Law, S. 229 u. 232; einschränkend Bowett, The Law of the Sea, S. 49. 200 Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 667; Dupuy/Vignes, Traite du Nouveau Droit de la Mer, S. 1086; Hoog/Schröder-Schüler, Die französischen Nuklearversuche, S. 83; Rühland, FS Spiropoulos, S. 379. 201 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 76; Gidel, FS Spiropoulos, S. 201; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 125; Solilie, Revue de Droit Internationale, de Sciences Diplomatiques et Politiques Bd. 35 (1957), S. 138. 197

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Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik

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der Tests in ihrem Treuhandgebiet bejaht, ist allerdings zu beachten, daß eine solche Kompetenz nicht die Auswirkungen der Versuche auf Teile der Hohen See rechtfertigen würde 202 . McDougal stellt die ausgedehnten Kompetenzen der Vereinigten Staaten als Verwaltungsmacht zutreffend dar: Das vom Sicherheitsrat genehmigte Treuhandabkommen ließ den USA weitgehend freie Hand 203 . Die Zulässigkeit der Durchführung der Wasserstoffbombentests in den Treuhandgebieten wurde daher teilweise bejahe04 . Die Frage, ob die USA solche Tests durchführen durften, läßt sich aber nicht durch generellen Verweis auf die insgesamt weiten Kompetenzen der USA über das Treuhandgebiet beantworten, sondern nur durch nähere Auslegung der im Treuhandabkommen geregelten einzelnen Kompetenzen 205 • Mangels einer ausdrücklichen Ermächtigung kommen einige Autoren zu dem Ergebnis, daß die Vereinigten Staaten keine Kompetenz zur Durchführung der Versuche in ihrem Treuhandgebiet hatten 206 . Selbst wenn man jedoch mit McDougal bejahen würde, daß den USA aus der Ermächtigung zur Nutzung von "facilities and assistance for the protection of international peace and security ..207 grundsätzlich die Kompetenz zur Durchführung derartiger Versuche zustand, so stellt sich weiter die Frage, ob die Versuche nicht trotzdem wegen Verstoßes gegen Pflichten, die das Treuhandabkommen und die Charta den Vereinigten Staaten als Verwaltungsmacht auferlegten, völkerrechts widrig waren. McDougals Ausgangs these hierzu, daß ein völkerrechtlicher Vertrag im ganzen ausgelegt und Rechte und Pflichten der Verwaltungsmacht im Zusammenhang gesehen werden müssen, ist zwar zutreffend, seine weitere Argumentation ist jedoch widersprüchlich. Er hält es anscheinend nur für notwendig, die Begrenzungen der Kompetenzen durch die Auferlegung von Pflichten im Lichte der Kompetenzen der Verwaltungsmacht auszulegen, nicht aber, umgekehrt auch diese Begrenzungen zu berücksichtigen, wenn es um die 202 Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 314 f., Fußn. 31; Margolis, Yale L. J. Bd.64 (1955), S. 635 f. 203 Beaute, Le Droit de Petition dans les Territoires Sous Toutelle, S. 245; Chowdhuri, International Mandates and Trusteeship Systems, S. 168; D'Amato, AJIL Bd. 61 (1967), S. 74; Louis, Introduction, in: National Security and International Trusteeship in the Pacific, Hrsg.: Louis, S. XII. 204 Beaute, Le Droit de Petition dans les Territoires Sous Toutelle, S. 245; wohl auch D'Amato, AJIL Bd. 61 (1967), S. 74. 205 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 65. 206 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 65 f.; Charlier, RdC 19571I, S. 365; Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 311; dazu neigend auch Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 316 f. sowie Schwarzenberger, The Legality of Nuclear Weapons, S. 51, Fußn. 86. 207 McDougal/Schlei, Yale LJ. Bd. 64 (1955), S. 704.

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Frage des Umfangs der Kompetenzen geht. Die Kompetenzen der Verwaltungsmacht USA können aber nicht so ausgelegt werden, daß sie ihre Pflichten einschränken, da für eine derartige Auslegung im Wortlaut des Treuhandabkommens kein Anhaltspunkt ersichtlich ist 208 . Außerdem könnte das Treuhandabkommen die Verwaltungsmacht nicht von ihren Pflichten aus der Charta entbinden, da die Charta höheren Rang besitzt209 . Sieht man auf der einen Seite die weitgehenden Verpflichtungen der USA, z. B. zum Schutz der Gesundheit und des Eigentums der Einwohner, und auf der anderen Seite die erheblichen bleibenden Gesundheitsschäden durch radioaktive Verstrahlung, die zahlreiche Bewohner der MarshallInseln erlitten haben 210 sowie die Tatsache, daß sie ihre Heimat auf Dauer verlassen mußten, so liegt die Annahme nahe, daß die USA ihre Pflichten als Verwaltungsmacht verletzten 211 • Zwar war von den Versuchen nur eine relativ kleine Zahl von Menschen betroffen, aber ihre Beschreibung durch McDougal als "a few scattered people" erscheint als menschenverachtend 212 • Jedenfalls sollte im Rahmen einer "reasonableness"-Abwägung auch bedacht werden - was McDougal außen vor läßt - daß den Einwohnern der Inseln als Unbeteiligten von außen ein Opfer auferlegt wurde, ohne daß sie über die Folgen ausreichend aufgeklärt wurden 2 \3. Der die Fragen des Treuhandabkommens betreffende Teil von McDougals Artikel vermag daher in Argumentationsgang und Ergebnis ebenfalls nicht zu überzeugen. e) Ergebnis der Kritik

McDougals Artikel zu den Wasserstoffbombenversuchen ist weitgehend durch die Lehre der New Haven School geprägt. Das zeigt sich schon an dem offenen Rückgriff auf politische Argumente innerhalb der juristischen Argumentation, der der These der Schule von New Haven entspricht, daß Recht und Politik nicht klar voneinander abgegrenzt werden können und sollen. Für McDougal sind von vornherein politische Argumente mindestens so wichtig für die Rechtmäßigkeitsprüfung wie juristische Argumente. Seine Auffassung, daß in jedem Einzelfall geprüft werden müsse, ob die Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 568 f. Charlier, RdC 1957/1, S. 365; Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 568. 210 Vgl. Lee, ÖZöR Bd. 18 (1968), S. 316, Fußn. 36. 211 Von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 66; Charlier, RdC 19571 I, S. 365; Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 569; Fischer, AFDI Bd. 2 (1956), S. 312; SOlille, Revue de Droit Internationale, de Sciences Diplomatiques et Politiques Bd. 35 (1957), S. 138. 212 So auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 513. 213 Singh, Nuclear Weapons and International Law, S. 229. 208

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einer Norm zugrundeliegende "policy" auf den konkreten Fall Anwendung findet 214 , zeigt sich in diesem Artikel insbesondere bei der Prüfung der grundsätzlichen Zulässigkeit von Wasserstoffbombenversuchen sowie bei der Beschäftigung mit dem Problem der Umweltverschmutzung durch die Tests. Auf Diskussionen über die Auslegung einzelner Normen läßt McDougal sich dagegen nur sehr begrenzt ein, weil er das für überflüssige juristische Spitzfindigkeiten hält215 • Typisch für die Schule von New Haven ist auch die für das Ergebnis entscheidende Bedeutung, die dem Kontext des Einzelfalls zugemessen wird 216 , wobei der Kontext weit verstanden wird und auch allgemeinpolitische Überlegungen umfaßt. Ebenso ist das Abstellen auf das Kriterium der "reasonableness" an statt auf Völkerrechtsnormen ein charakteristisches Element der Lehre dieser Schule 217 . Dieser Maßstab ist unbestimmt und bietet daher weiten Raum für die Berücksichtigung von tatsächlichen Gesichtspunkten, die nach der klassischen Völkerechtslehre außen vor bleiben würden, weil sie in den einschlägigen Völkerrechtsnormen keinen Niederschlag gefunden haben. Auch die klare Stellungnahme zu politischen Fragen und das ausdrückliche Befürworten bestimmter Werte entspricht dem Ideal der New Haven School von einem engagierten Gelehrten. In einigen Punkten weicht dieser Artikel aber auch von anderen Werken der Schule von New Haven ab. So folgt McDougal hier beispielsweise nicht dem "framework of inquiry". Weder wird die Setzung von "human dignity" als Ziel wert erläutert, noch findet eine "clarification of goal values" statt 218 , sondern es wird vorausgesetzt, daß das, was der Sicherheit der USA und des Westens dient, auch zur Erreichung des Werts der "human dignity" beiträgt. Durch die Betonung der Ausnahmen vom Grundsatz der Freiheit der Meere und der Bedeutung nationaler Sicherheitsinteressen setzt sich McDougal in Widerspruch zu der in seiner Monographie zum Seerecht vertretenen Grundhaltung, wonach die Meeresfreiheit als "inclusive use" einer "common ressource" grundsätzlich Vorrang habe. McDougals Prämissen entsprechen überwiegend denen der vorherrschenden Meinung in der traditionellen Völkerrechtstheorie, jedoch sind die Schlußfolgerungen, die er aus diesen Prämissen zieht, andere als die der traditionellen Lehre 219 . Insgesamt unterscheidet sich dieser Artikel in der Vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 509. Vgl. Krakau. Missionsbewußtsein. S. 513, Fußn. 279. 216 Vgl. Rosenthai. Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal. S. 189, Fußn.87. 211 Ebenso Rosenthai. Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 189, Fußn.87. 218 So auch Krakau. Missionsbewußtsein, S. 509. 219 Vgl. Gidel. FS Spiropoulos. S. 189. 214 215

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Argumentationsweise und im Ergebnis erheblich von der klassischen Völkerrechtslehre 22o . Positiv ist an McDougals Argumentation insbesondere hervorzuheben, daß auch der tatsächliche Kontext ausführlich wiedergegeben wird. Ferner stellt McDougal seine Auffassung durchaus eindrucksvoll und in sich schlüssig dar221 . Er verficht mit leidenschaftlicher Überzeugung seinen Standpunkt und sein Artikel ist "impressive as advocacy·.222. Andererseits ist die Prüfung aber teilweise unvollständig; so wird weder ein Verstoß gegen das aus dem Grundsatz der Freiheit der Meere fließende Hoheitsverbot noch gegen das allgemeine Schädigungsverbot untersucht. Auch ist an McDougals Argumentation zu kritisieren, daß er den Sachverhalt teilweise nicht ausgewogen widergibt. Die Darstellung der politischen Situation, aus der heraus die Vereinigten Staaten die Experimente durchgeführt haben, bemüht sich nicht um Ausgewogenheit, sondern stellt engagiert die Sicht der USA während der Phase des Kalten Krieges dar, wie sich z. B. aus seiner Beschreibung der Staatengemeinschaft als "the contemporary bipolar world, with totalitarians and proponents of the dignity of man confronting each other in mortal struggle,,223 ergibt. Trotz aller Komplexität von McDougals Argumentation ist für ihn letztlich immer dasselbe einfache Argument ausschlaggebend: Die Versuche waren "reasonable", weil sie im Interesse der Sicherheit der USA und des Westens notwendig waren 224 . Den Standpunkt der Gegenseite und ihre Argumente nimmt McDougal dagegen nur als politisches Problem ernst, juristisch behandelt er sie recht oberflächlich; dementsprechend wird die Ansicht, wonach die Versuche gegen das Völkerrecht verstießen, als lästiger und bedauerlicher Einwand dargestellt 225 . Entscheidend für die Frage, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Freiheit der Meere vorliegt, aber auch für die Frage eines Verstoßes gegen das Verschmutzungsverbot oder gegen das Treuhandabkommen ist für McDougal unabhängig von den einzelnen Voraussetzungen dieser völkerrechtlichen Normen immer das Kriterium der "reasonableness". Angesichts der Unbestimmtheit dieses Maßstabs und der grundsätzlich unendlichen Weite von Erwägungen und Fakten des Kontexts, 220 Vgl. Falk, American Journal of Comparative Law Bd. 10 (1961), S. 303; Hoog/Schröder-Schüler, Die französischen Nuklearversuche im Südpazifik, S. 72; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 189, Fußn. 87 u. S. 193. 221 So auch Dillard, RdC 1957/1, S. 491; Gidel, FS Spiropoulos, S. 187 f.; Schwarzenberger, LegaJity of Nuclear Weapons, S. 53, Fußn. 91. 222 Falk, Am. 1. of Comp. Law Bd. 10 (1961), S. 303. 223 McDougal/Schlei, Yale L.J. Bd. 64 (1955), S. 689; vgl. auch S. 709. 224 Vgl. Hoog/Schröder-Schüler, Die französischen Nuklearversuche im Südpazifik, S. 73. 225 McDougal/Schlei, Yale L. 1. Bd. 64 (1955), S. 649; vgl. auch S. 695.

Kapitel I: Die amerikanischen Wasserstoftbombentests im Pazifik

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die McDougal in die Abwägung einbeziehen will, sind damit letztlich nicht Völkerrechtsnormen ausschlaggebend, sondern Billigkeitserwägungen und die Besonderheiten des Einzelfalls. "Reasonableness", jedenfalls so wie McDougal sie versteht, ist kein normatives Konzept226 , sondern erhebt die politischen Interessen des Einzelfalls zur normierenden Kraft 227 . McDougal argumentiert vom Ergebnis her: er hält die Fortführung der amerikanischen Wasserstoffbombenversuche für überlebensnotwendig und versucht daher, sie juristisch zu rechtfertigen228 . Letztlich argumentiert McDougal politisch statt im klassischen Sinn juristisch: er prüft die Völkerrechtmäßigkeit der Wasserstoffbombenversuche weniger anhand der einschlägigen Völkerrechtsnormen als an der tatsächlichen politischen Situation und den ihr zugrunde liegenden Werten 229 . Der Vorwurf, McDougal habe seine Gelehrsamkeit genutzt "to serve the immediate cause of national interest,,230 ist daher nicht von der Hand zu weisen. Der schärfste Angriff gegen McDougals Argumentation zu den Wasserstoffbombenversuchen kommt von Stanley V. Anderson, der McDougal "assimilation of law by policy" vorwirft 231 . Andersons Beschreibung der Argumentation von McDougal ist sicherlich polemisch, aber im Kern richtig: "Thus, McDougal's use of law is not , legalistic': he does not obtain the answer to questions of lawfulness by reference to law. ( ... ) Law is policy. Policy is human dignity. Human dignity is fostered in the long run by the success of American foreign policy. Therefore, law is the handmaiden of the national interest of the Uni ted States.,,232 In der Tat ist McDougal vorzuwerfen, daß sich in seinem Artikel über Wasserstoffbombenversuche die Völkerrechtmäßigkeit der Versuche aus dem Sicherheitsinteresse der USA zu ergeben scheint, das Völkerrecht aber nicht dazu da ist, die nationalen Interessen eines Staates zu schützen. McDougal kommt nur deshalb bei Ebenso: Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 379. Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 103; ähnlich GideI, FS Spiropoulos, S. 198. 228 Furet, Experimentation des Annes Nuc1eaires, S. 67; Gidel, FS Spiropoulos, S. 180, 190, 198 u. 203; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 510; vgl. RosenthaI, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 193. 229 Vgl. von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 64 u. 104, Fußn. 239; Gidel, FS Spiropoulos, S. 187; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102; Schwarzenberger, Legality of Nuc1ear Weapons, S. 53; Singh, Nuc1ear Weapons and International Law, S. 243; vgl. Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 378; RosenthaI, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 173. 230 Falk, American Journal of Comparative Law Bd. lO (1961), S. 303; ebenso von Arx, Atombombenversuche und Völkerrecht, S. 104, Fußn. 239; ähnlich Gidel, FS Spiropoulos, S. 198. 231 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 380. 232 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 382. 226

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jeder Abwägung zu dem Ergebnis, daß die Versuche "reasonable" waren, weil er von vornherein Sicherheitsinteressen ein weit höheres Gewicht einräumt als allen anderen Interessen; die politische Notwendigkeit der Tests sofern man sie denn bejaht - ergibt aber noch nicht ihre Völkerrechtmäßigkeit. McDougals insbesondere im Schlußwort des Artikels vorgetragene These, daß Realismus und das politisch erwünschte Ergebnis bei der Beantwortung der Frage nach der Völkerrechtmäßigkeit wichtiger seien als die strikte Beachtung geltender Völkerrechtsnormen, ist höchst bedenklich. Damit erscheint die Einhaltung des Völkerrechts als eine Art Luxus, den Staaten sich in Zeiten, in denen die nationale Sicherheit bedroht ist, nicht leisten können. Die allgemeine Verbindlichkeit des Völkerrechts wäre stark beeinträchtigt, wenn jeder Staat sich darauf berufen könnte, daß eine anerkannte Norm des Völkerrechts für ihn in einem konkreten Einzelfall nicht gilt, weil das Ergebnis seinen aktuellen politischen Interessen zuwiderläuft233 . Kapitel 11

Die Kuba-Blockade 1. Einleitung a) Einführung

Der zweite untersuchte Text, in dem McDougal seine Lehre auf ein konkretes völkerrechtliches Problem anwendet, behandelt die Kuba-Krise von 1962. McDougal nahm im Rahmen einer ganzen Reihe von Diskussionsbeiträgen zur amerikanischen "Quarantäne" gegen Kuba im American Journal of International Law von 1963 Stellung zur Frage der Völkerrechtmäßigkeit des Vorgehens der USA 234. Dieser Text ist - ebenso wie der zu den Wasserstoffbombentests im Pazifik - eine Erwiderung auf einen anderen, diesmal auf Quincy Wrights Artikel "The Cuban Quarantine,,235. McDougal will mit seiner Erwiderung Wrights Ergebnis, daß die durch die USA im Oktober 1962 auferlegte sogenannte Quarantäne nicht durch das Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt sei, widerlegen 236 . Dabei beschränkt er sich auf die Frage, ob das Selbstver233 So auch Bierzanek, RGDIP Bd. 65 (1961), S. 245 f.; Gidel, FS Spiropoulos, S. 198; Jenisch, Das Recht zur Vornahme militärischer Übungen, S. 102 f. 234 McDougal, "The Soviet-Cuban Quarantine and Self-Defense", AJIL Bd. 57 (1963), S. 597-604. 235 Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 546-565. 236 McDougal AJIL Bd. 57 (1963), S. 597

Kapitel 11: Die Kuba-Blockade

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teidigungsrecht eingreift, obwohl Wright noch mehrere andere für die Frage der Völkerrechtmäßigkeit des amerikanischen Vorgehens erhebliche Punkte untersucht; dies begründet er damit, daß die anderen Schlußfolgerungen Wrights weitgehend von seinem Ergebnis zur Frage des Selbstverteidigungsrechts abhängen würden 237 • Die von Wright diskutierten unterschiedlichen Möglichkeiten, die "Quarantäne" zu rechtfertigen - als "pacific blokkade" , als Gewaltanwendung ohne Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 der Charta, als durch die Resolution der Organization of American States (OAS) autorisiertes Vorgehen oder als Selbstverteidigung der USA - sind aber voneinander völlig unabhängig und beeinflussen sich gegenseitig nicht; jeder dieser Rechtfertigungsgründe hat eigenständige Voraussetzungen. Der Artikel zur Kuba-Blockade unterscheidet sich durch seine komprimierte Argumentation und den reduzierten Fußnotenapparat erheblich von vielen anderen von McDougals Texten. Da McDougal in mehreren Fußnoten auf seine zusammen mit Florentino P. Feliciano verfaßte Monographie "Lawand Minimum World Public Order" verweist, sollen die hier maßgeblichen Stellen dieser Monographie zum besseren Verständnis von McDougals Position zum Selbstverteidigungsrecht - die er in dem Artikel zur Kuba-Krise nur skizziert - in die Untersuchung einbezogen werden. b) Sachverhalr 38 Die Kuba-Krise war während der über vier Jahrzehnte andauernden Phase des Kalten Krieges der Augenblick, in dem die Gefahr eines Atomkrieges zwischen den bei den Supermächten am größten war. Sie dauerte nur einen Monat, aber insbesondere in den ersten Tagen war die Anspannung und das Bewußtsein der Gefahrlichkeit der Krise auf der ganzen Welt sehr hoch. Die Vorgeschichte der Kuba-Krise im Oktober und November 1962 begann mit der Machtübernahme Fidel Castros auf Kuba Anfang 1959 nach seinem Sieg über den von den USA unterstützten Diktator Batista. Nach der Verstaatlichung amerikanischen Eigentums durch Kuba im Sommer 1960 beschlossen die USA im Oktober 1960 ein Embargo gegen alle Lieferungen nach Kuba und brachen schließlich im Januar 1961 ihre diplomatischen Beziehungen zu Kuba ab. Am 17. April 1961 erfolgte die berühmte McDougal AJIL Bd. 57 (1963), S. 597. Vgl. dazu u. a. Beggs. The Cuban Missile Crisis, S. 6-16; Bassenge. Konflikte in Mittel- und Südamerika, in: Handbuch Vereinte Nationen, Stichwort 64, Rn. 6-8; Chayes. The Cuban Missile Crisis, S. 8-10; ChristoliDavis. AJIL Bd. 57 (1963). S. 525-530; de Arechaga. RdC 1964/1, S. 483-486; O·ConneIlIShearer. The International Law of the Sea, Bd. 11, S. 807 f.; Rousseau. RGDIP Bd. 67 (1963), S. 144154; Wright. AJIL Bd. 57 (1963), S. 546-548. 237

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfallen

Invasion in der Schweinebucht, bei der etwa 1200 von der CIA ausgebildete Exilkubaner versuchten, Castro zu stürzen; dieser von den USA unterstützte Invasionsversuch war jedoch ein Fiasko. Die OAS, die mehrfach Erklärungen und Maßnahmen gegen Kubas Annäherung an den sowjetischchinesischen Block und das Eindringen kommunistischer Prinzipien in das inter-amerikanische System verabschiedet hatte, schloss am 14. Februar 1962 schließlich Kuba förmlich aus der OAS aus. Die Kuba-Krise wurde durch den Aufbau einer sowjetischen Raketenbasis auf Kuba ausgelöst, der bei Mitte Oktober 1962 von den USA durchgeführten Überwachungsflügen photographiert wurde. Am 22. Oktober 1962 verkündete der amerikanische Präsident John F. Kennedy eine "Quarantäne" über Kuba, um die Stationierung weiterer Raketen auf Kuba zu verhindern und den Abzug der bereits dort stationierten Raketen herbeizuführen. In der Erklärung des Präsidenten heißt es: ,,1 have directed that the following initial steps be taken immediately: First: To halt this offensive buildup, a strict quarantine on all offensive military equipment under shipment to Cuba is being initiated. All ships of any kind bound for Cuba from whatever nation or port will, if found to contain cargoes of offensive weapons, be turned back.,,239 Als die USA diese "Quarantäne" über Kuba verhängte, war die Stationierung noch nicht abgeschlossen und die Raketen waren noch nicht einsatzbereit24o . Am 23. Oktober 1962 forderte die OAS in einer einstimmig (bei einer Enthaltung) verabschiedeten Erklärung den sofortigen Abzug der Raketen und empfahl ihren Mitgliedstaaten die Ergreifung von Maßnahmen gegen die Lieferung weiterer Raketen nach Kuba. In der Resolution heißt es u. a.: "The Council of the Organization of American States, Meeting as the Provisional Organ of Consultation, Resolves: ( ... ) 2. To recommend that the member states, in accordance with Articles 6 and 8 of the Inter-American Treaty of Reciprocal Assistance, take all measures, individually and collectively, including the use of armed force, which they may deern necessary to ensure that the Government of Cuba cannot continue to receive from the Sino-Soviet powers military material and related supplies. ,,241 Wenige Stunden später erließ der amerikanische Präsident eine Proklamation, die sich auf die Resolution der OAS stützte, in der er die US Navy anwies, ab dem 24. Oktober, 14 Uhr, die Lieferung offensiver Waffen an Kuba zu verhindern. Diese als "Quarantäne" bezeichnete Maßnahme, über die die Schiff239 Adress by President Kennedy, abgedruckt in: The Department of State Bulletin Bd. 47 ( 12. November 1962), S. 716. 240 De Arechaga, RdC 1964/1, S. 507 f.; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 34. 241 Abgedruckt in: The Department of State Bulletin Bd.47 (12. November 1962), S. 723.

Kapitel II: Die Kuba-Blockade

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fahrt durch Wamhinweise informiert wurde, beinhaltete, daß jedes Schiff, gleich welcher Nationalität, dessen Bestimmungsort Kuba war, von USamerikanischen Schiffen angewiesen werden konnte, sich und seine Ladung zu identifizieren und eine Durchsuchung zu dulden. Wenn die Schiffsbesatzung sich weigerte, sich zu identifizieren oder dem Befehl, einen anderen Bestimmungsort anzufahren, Folge zu leisten, durfte sie danach verhaftet bzw. konnte Gewalt angewendet werden. Die "Quarantäne" wurde anfangs ausschließlich von amerikanischen Streitkräften überwacht, später nahmen auch Einheiten Argentiniens, der Dominikanischen Republik und Venezuelas daran teil. Das von der "Quarantäne" betroffene Gebiet umfaßte zwei sich überschneidende Kreise mit jeweils einern Radius von 500 Seemeilen. Während der Dauer der "Quarantäne" wurden einige Schiffe durchsucht oder umgeleitet, aber keine Gewalt angewandt. Die USA erklärten am 23. Oktober 1962 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die sowjetische Lieferung und Installation von Raketen in Kuba sei "a dangerous threat to peace and security in the world"242, während Kuba und die Sowjetunion den USA einen Verstoß gegen die Charta vorwarfen. Der Sicherheitsrat stimmte jedoch über keinen der vorgelegten Resolutionsentwürfe ab. Stattdessen bemühte sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen, U. Thant, um eine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien. Während die meisten westlichen Staaten, aber auch die meisten blockfreien Staaten die Vorgehensweise der USA unterstützten oder sich mit Bewertungen zurückhielten, äußerten sich einige Staaten, darunter Schweden und Island, kritisch gegenüber der "Quarantäne". Die Kuba-Krise endete schließlich am 20. November 1962 mit der Aufhebung der "Quarantäne" durch Präsident Kennedy, nachdem sich die Sowjetunion zum Abzug der Raketen aus Kuba bereit erklärt hatte. Im Gegenzug zu diesem Einlenken erklärten die USA förmlich, daß sie keine Invasion Kubas planen würden. Obwohl Kuba sich weigerte, die von der Sowjetunion zugesagten Inspektionen des Raketenabzugs zu gestatten, fand damit die direkte Konfrontation zwischen den beiden Supermächten ein Ende.

2. McDougals Argumentation a) Das völkergewohnheitsrechtliehe Selbstverteidigungsrecht

McDougals Artikel zur Kuba-Krise ist klar aufgebaut: Abgesehen von Einleitung und Schlußwort läßt er sich in drei Teile aufteilen. Im ersten 242

Zitiert nach Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 547.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

Teil stellt McDougal "the more important characteristics of the traditional customary right of self-defense" dar243 , der zweite Teil ist der abstrakten Auslegung von Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen gewidmet und der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Kontext dieses konkreten Falls und prüft, ob die USA sich im Hinblick auf die Kuba-"Quarantäne" auf ihr vä1kergewohnheitsrechtliches oder vertragliches Selbstverteidigungsrecht berufen konnten. McDougal hält das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht für unverzichtbar zur Aufrechterhaltung "of even the most modest minimum order", weil von der internationalen Staatengemeinschaft aufgrund ihrer noch primitiven Organisation kaum der effektive Schutz einzelner Staaten erwartet werden känne 244 . Die "overriding policy", der das Selbstverteidigungsrecht diene, sei die Beschränkung von Gewalt und Zwangs anwendung zwischen Staaten auf ein Minimum. Dann formuliert McDougal, was seiner Meinung nach kraft Välkergewohnheitsrechts als Selbstverteidigungsrecht anerkannt ist: "In broadest formulation, this right of self-defense, as established by traditional practice, authorizes astate which, being the target of activities by another state, reasonably decides, as third-party ob servers may determine reasonableness, that such activities imminently require it to employ the military instrument to protect its territorial integrity and political independence, to use such force as may be necessary and proportionate for securing its defense. ,,245 Damit stellt McDougal vier Voraussetzungen für das Bestehen eines gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts auf: 1. der Staat, der sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft, muß das Ziel von "activities" eines anderen Staates sein; 2. der sich verteidigende Staat muß den Einsatz seines Militärs für den Schutz seiner territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit für notwendig halten; 3. diese Einschätzung muß "reasonable" sein und 4. die Verteidigungshandlung muß im Hinblick auf die zulässigen Ziele der Selbstverteidigung verhältnismäßig sein 246 . Entscheidende Beschränkungen des Selbstverteidigungsrechts sollen dabei vor allem die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit sein247 • Bei der ersten Voraussetzung fällt auf, daß McDougal nur generell Aktivitäten des "Angreifers" gegen den "Verteidiger" für erforderlich hält, ohne diese näher zu bestimmen. Er behauptet ausdrücklich, daß das välkergeMcDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 597. McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 598. 245 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 597 f. 246 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 597 f. 247 McDougal. AJIL Bd.57 (1963), S. 598; ebenso McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 217 und 230. 243 244

Kapitel II: Die Kuba-Blockade

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wohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht keinen bewaffneten Angriff voraussetze: "The conditions of necessity required to be shown by the target state have never, however, been restricted to ,actual anned auack,.,,248 Als Beleg verweist er darauf, daß auch die sehr restriktive Formel des amerikanischen Außenministers Webster im "Caroline"-Fall für die Notwendigkeit der Verteidigung keinen tatsächlich erfolgten bewaffneten Angriff voraussetze 249 . Anschließend schränkt McDougal aber ein, daß ein Angriff jedenfalls unmittelbar bevorstehen müsse: "Imminence of attack of such high degree as to preclude effective resort by the intended victim to non-violent modalities of response has always been regarded as sufficient justification,,25o. Nach Völkergewohnheitsrecht sei daher "a high degree of necessity" erforderlich251. Das Erfordernis des unmittelbaren Bevorstehens eines Angriffs wird allerdings gleich wieder dadurch eingeschränkt, daß McDougal die berühmte Formel im "Caroline"-Fall von 1837 252 für zu restriktiv hält, denn angesichts der veränderten Umstände der heutigen Zeit sei diese Formel nicht mehr maßgebend: "The understanding is now widespread that a test formulated in the previous century for a controversy between two friendly states is hardly relevant to contemporary controversies, involving high expectations of violence, between nuclear-armed protagonists.,,253 Nähere Erläuterungen zu der Frage, wie unmittelbar ein Angriff bevorstehen muß, damit die Verteidigung notwendig ist, finden sich in McDougals Artikel nur insofern, als laut McDougal "the total impact of an initiating state's coercive activities upon the target state's expectations about the costs of preserving its territorial integrity and political independence,,254 berücksichtigt werden müsse. In seiner Monographie erläutert er dazu, daß es dabei nicht nur auf militärischen Zwang ankomme, da Art. 51 der Charta das Selbstverteidigungsrecht nach richtiger Auslegung nicht auf einen bewaffneten Angriff beschränke255 . Für die Prüfung der Notwendigkeit der Verteidigungshandlung seien u. a. die vom "Angreifer" verfolgten

McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 598. McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 598. 250 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 598; ebenso McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 231. 251 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 232. 252 Danach besteht ein Selbstverteidigungsrecht nur gegen Gefahren, die "instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation" sind (zitiert nach Meng, The Caroline, in: EPIL Bd. 3, S. 81). 253 McDougal, AJIL Bd.57 (1963), S. 598; ebenso McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 217. 254 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 598. 255 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 240 f. 248

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Ziele, die von ihm angestrebte Weltordnung und seine innere Struktur relevant 256 . McDougal stellt in seiner allgemeinen Formulierung zu den Voraussetzungen des gewohnheits rechtlichen Selbstverteidigungsrechts eher nebenbei wieder das Kriterium der "reasonableness" als Maßstab für die Völkerrechtmäßigkeit der Handlung aUe 57 . Daß es sich dabei nicht um einen Zufall handelt, wird dadurch belegt, daß in der Monographie zu völkerrechtlichen Konflikten eben dieses Kriterium als letztendlich ausschlaggebend aufgeführt wird: "There is, however, increasing recognition that the requirements of necessity and proportionality as ancillary prescriptions ( ... ) of the basic community policy prohibiting change by violence, can ultimately be subjected only to that most comprehensive and fundamental test of alllaw, reasonableness in particular context."258 Um den angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs der "reasonableness" naheliegenden Vorwurf, dieses Kriterium ermögliche es dem einzelnen Staat, sich in jeder beliebigen. Situation auf das Selbstverteidigungsrecht zu berufen, zu entkräften, verweist McDougal darauf, daß der sich verteidigende Staat nur eine vorläufige Entscheidung über die Notwendigkeit einer Verteidigung treffen könne, die dann durch die Staatengemeinschaft auf ihre Völkerrechtmäßigkeit überprüft werde 259 . Als letztes Kriterium für die Völkerrechtmäßigkeit einer Handlung aufgrund des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts führt McDougal die "proportionality" an 260 . Er versteht darunter, daß die militärischen Maßnahmen in Intensität und Umfang auf das begrenzt sein müßten, was ZUr Erreichung des Ziels der Verteidigung notwendig sei. b) Auslegung von Art. 51 der Charta

McDougal wirft Quincy Wright vor, seine Auslegung von Art. 51 der Charta, wonach Art. 51 das gewohnheitsrechlich anerkannte Selbstverteidigungsrecht der Staaten auf den Fall der Abwehr eines tatsächlich erfolgten bewaffneten Angriffs beschränke, werde durch die anerkannten Auslegungsgrundsätze nicht gestützt 261 . Als derartige Grundsätze ZUr Auslegung völkerrechtlicher Verträge führt McDougal zwei an, die bereits im Zusammenhang mit seiner Monographie Zur Vertragsauslegung erwähnt wurden: das McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 230. McDougal. AJIL Bd. 57 (1963). S. 597 f. 258 McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Pub1ic Order, S. 218. 259 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 598 f.; ebenso McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 218 ff. 260 McDougal. AJIL Bd.57 (1963), S. 598; ebenso McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 241 f. 261 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 599. 256

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Ziel der Feststellung der "genuine expectations" und "the principle of effectiveness,,262. Den ersten Grundsatz formuliert McDougal hier folgendermaßen: "It may be recalled that the appropriate goal in interpreting great constitutional agreements, such as the United Nations Charter, is that of ascertaining the genuine expectations, created by the framers and by succesive appliers of the agreement, in contemporary community members about what future decisions should be. ,,263 Dem Text des Vertrages wird nur nachrangige Bedeutung zugemessen: "The words and behavior in the past are relevant only as they affect contemporary expectations about the requirements of future decisions.,,264 Das Prinzip der Effektivität wiederum erfordere, daß Verträge in Übereinstimmung mit den hauptsächlichen Absichten und Bedürfnissen der Vertragsparteien ausgelegt würden 265 . McDougals Vorgehen bei der Auslegung von Art. 51 der Charta, bei der er sich von diesen bei den Grundsätzen leiten läßt, entspricht insofern der klassischen Völkerrechtslehre, als er alle traditionellen Auslegungsmittel anwendet, wenn auch in einer eher unüblichen Reihenfolge: Er beginnt mit den "travaux pn!paratoires", dann kommen die grammatikalische und die systematische Auslegung, anschließend verweist er auf die nachfolgende Praxis und zum Schluß folgt die teleologische Auslegung. Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte von Art. 51 stellt sich McDougal auf den Standpunkt, es gäbe keinerlei Hinweise darauf, daß eine Beschränkung des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts beabsichtigt gewesen sei 266 ; dabei erwähnt er nicht, daß dieser Punkt durchaus strittig ist. McDougal führt als Vertreter der Auffassung, nach der Art. 51 das Selbstverteidigungsrecht der Staaten auf den Fall eines bewaffneten Angriffs begrenzt, nur Quincy Wright an und erweckt so den Eindruck, diese Ansicht werde nur vereinzelt vertreten 267 . Er behauptet - ohne dafür Belege zu bringen -, der Wortlaut von Art. 51 habe nur die Regionalorganisationen erfassen sollen und das nachfolgende Verhalten der vertragschließenden Parteien enthalte keinen Anhaltspunkt für "genuine shared expectations" der Vertragsparteien dahingehend, daß sie mit Art. 51 ihr traditionelles Recht auf Selbstverteidigung aufgegeben hätten. Es fallt auf, daß McDougal, nach dessen Auslegungslehre der Wortlaut eines völkerrechtlichen Vertrags an sich nur eine sehr untergeordnete Rolle McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 599 ff. McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 599. 264 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 599. 265 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 601. 266 McDougal. AJIL Bd.57 (1963), S. 599; ebenso McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 235. 267 Ähnlich McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 233, wo nur Kunz und Nincic erwähnt werden. 262

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spielt, hier zur Stützung seines Auslegungsergebnisses auf den genauen Wortlaue 68 und sogar auf "the ,plain and natural meaning' of the words of the Charter,,269 verweist. Vermutlich ist diese für McDougal ungewöhnliche Argumentsweise darauf zurückzuführen, daß er mit dem Artikel zur KubaKrise auch Anhänger der traditionellen Völkerrechtslehre überzeugen will. Typisch für McDougals Arbeiten ist dagegen das Gewicht, daß er den "travaux preparatoires" und der nachfolgenden Vertragspraxis zumißt. Nach McDougals Auffassung erfordert der Wortlaut von Art. 51 keine Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts auf den Fall eines bewaffneten Angriffs, weil der strittige Satzteil nicht laute, daß nur im Fall eines bewaffneten Angriffs dem Opfer das Recht auf Selbstverteidigung zusteht: "A proposition that ,if A, than B' is not equivalent to and does not necessarily imply, the proposition that ,if, and only if, A, then B,,'.270 Da die gegenteilige Auslegung keine Frage der sprachlichen Logik, sondern eine der "policy" sei, sei eine ausdrückliche Aussage zu der verfolgten "policy" erforderlich. In seiner Monographie zu internationalen Konflikten verweist McDougal· zu diesem Punkt auf seine grundsätzliche Einstellung zur Unmöglichkeit eines klaren Wortlauts: "Neither Article 51 nor any other word formula can have, apart from context, any single ,clear and unambiguous' or ,popular, natural and ordinary' meaning that predetermines decisi on in infinitely varying particular controversies. ,,271 Auslegungsregeln wie den Grundsatz inclusio unius est exclusio alterius hält er für fragwürdig 272 . Nachdrücklich wendet sich McDougal in seiner Monographie vor allem gegen die Berufung auf das Prinzip exceptiones sunt strictissimae interpretationis als Argument für eine Einschränkung des völkergewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts durch Art. 51 der Charta. Seiner Auffassung nach ist das Selbstverteidigungsrecht keine Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot, sondern er sieht eine "essential complementarity of prohibited and permissible coercion,,273. Erlaubter und verbotener Zwang würden sich gegenseitig ergänzen, denn da ein völliges Verbot von Zwang kaum vorstellbar und nicht realistisch wäre, müsse dem verbotenen Zwang ein erlaubter entgegengesetzt werden können, zu dem auch die Selbstverteidigung gehöre. Im übrigen spreche der Grundsatz, daß Ausnahmen eng auszulegen seien, eher gegen eine Auslegung von Art. 51, die das traditionelle Selbstverteidigungsrecht der Staaten einschließlich des Rechts auf prävenMcDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 599, Fußn. 6. McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 600. 270 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 237, Fußn. 261; zitiert in McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 600. 271 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 234. 272 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 236 f. 273 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 237. 268

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tive Selbstverteidigung einschränken würde, denn "limitations or derogations from sovereign competence are not lightly to be assumed,,274. Im Rahmen der systematischen Auslegung verweist McDougal zum einen darauf, daß nach dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 4 der Charta die Drohung oder Anwendung von Gewalt nur insofern verboten sei, als sie "against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations" sei; das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht könne aber nicht als mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar angesehen werden 275 . Zum anderen weist er darauf hin, daß nach Art. 2 Abs. 4 nicht nur die Anwendung von, sondern bereits die Drohung mit Gewalt unzulässig sei und daher Selbstverteidigung auch gegen die bloße Androhung von Gewalt gestattet sein müsse. Diese Schlußfolgerung stützt McDougal wiederum auf die Gegenüberstellung von verbotenem und erlaubtem Zwang: "A decent respect for balance and effectiveness would suggest that a conception of impermissible coercion, which includes threats of force, should be countered with an equally comprehensive and adequate conception of permissible or defensive coercion, honoring appropriate response to threats of imminent attack. ,,276 Zum Schluß verweist McDougal auf das Prinzip der Effektivität und die "major purposes" der Parteien, was in etwa der Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm entspricht. Die heutigen Nuklearwaffen erforderten eine weite Auslegung von Art. 51: "Finally, under the hard conditions of the contemporary technology of destruction, which makes possible the complete obliteration of states with still incredible speed from still incredible distances, the principle of effectiveness ( ... ) could scarcely be served by requiring states confronted with necessity for defense to assume the posture of ,sitting ducks'. Any such interpretation could only make a mockery, both in its acceptability to states and in its potential application, of the Charter's major purpose of minimizing unauthorized coercion and violence across state lines. ,,277 In seiner Monographie zu internationalen Konflikten meint McDougal, die Auslegung, die Art. 51 auf den Fall eines bewaffneten Angriffs beschränke, beruhe auf einer ernsthaften Unterschätzung der Möglichkeiten der neueren Waffensysteme sowie zeitgenössischer Techni-

McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 236. McDougal. AJIL Bd. 57 (1963). S. 600. In seiner Monographie zu internationalen Konflikten wendet sich McDougal jedoch ausdrücklich gegen die Auffassung, wonach das Gewaltverbot durch diesen Halbsatz eingeschränkt wird: McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 178 f., Fußn. 140. 276 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 600. 277 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 600 f. 274 275

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ken nicht-militärischen Zwangs 278 und habe daher "a strong air of romanticism,,279. Alle diese Auslegungsmittel führen demnach laut McDougal zum sei ben Ergebnis: Art. 51 der Charta beschränke das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht nicht auf die Fälle der Abwehr eines bereits erfolgten bewaffneten Angriffs. c) Kontext der Kuba-Krise

McDougals eigentliche Untersuchung der konkreten Völkerrechtmäßigkeit der von den USA verhängten "Quarantäne" weist am deutlichsten die charakteristischen Merkmale seiner Methode auf, nämlich zum einen die große Bedeutung, die dem faktischen Kontext zugemessen wird, zum anderen die Untersuchung anhand der für das "framework of inquiry" typischen Kategorien. Er beschränkt seine Untersuchung des Kontexts auf die wichtigsten Umstände des Kontexts, wobei die Auswahlkriterien unklar bleiben. Die Untersuchung der Begleitumstände der Kuba-Blockade erfolgt "under certain category headings useful for the description of any social process, persuasive or coercive: participants, objectives, situation, base values, strategies, and outcomes"280. Dabei teilt er den Kontext in zwei Teile auf: zum einen den Kontext der sowjetischen Drohung durch die beabsichtigte Stationierung von Atomwaffen auf Kuba, zum anderen den Kontext der amerikanischen Reaktion; ersterer soll maßgeblich für die Notwendigkeit der "Quarantäne" sein, letzterer für ihre Proportionalität281 . McDougal prüft im Rahmen des Kontexts der amerikanischen Reaktion allerdings auch Umstände, die die Notwendigkeit der Maßnahme bzw. die Verteidigungsabsicht der USA betreffen282 . Inhaltlich ist die wohl wichtigste Aussage McDougals im Hinblick auf die Bedrohung der USA durch die geplante Stationierung, daß diese von der Sowjetunion ausging und nicht von Kuba283 . Für McDougal stellt sich die Kuba-Krise ausschließlich als Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion dar, ohne daß das Interesse Kubas an seiner Verteidigung oder das Interesse dritter Staaten an ungehinderter Nutzung der Hohen See McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 238. McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order, S. 240. 280 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 601; dieselben Kategorien finden sich auch in der Monographie von McDougal/Feliciano. Law and Minimum World Public Order. S. 220. Vgl. oben Teil A. Kap. I1I, Abschn. 6 b. 281 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963). S. 602. 282 Vgl. McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 602 f. 283 McDougal. AJIL Bd. 57 (1963), S. 601. 278

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erwähnt werden. Es geht für ihn um einen Kampf zwischen den beiden Blöcken und alle anderen Überlegungen sind nur von sehr untergeordneter Bedeutung. Durch das Eindringen der Sowjetunion in einen geographischen Bereich, den die USA und andere Staaten der westlichen Hemisphäre seit langem ausdrücklich als für sie von besonderer strategischer Bedeutung erklärt hätten, habe die Sowjetunion "a serious disruption in the whole world balance of power between the totalitarian and non-totalitarian states" bewirkt und dabei klar expansionistische Ziele verfolge84 . Die USA hätten angesichts dieser Bedrohung sofort handeln müssen, weil bereits einige Tage Verzögerung dazu geführt hätten, daß die Stationierung irreversibel gewesen wäre 285 . Realistischerweise wären die Erwartungen, daß die internationale Staatengemeinschaft die Krise schnell und effektiv bewältigen würde, gering gewesen. Insgesamt bejaht McDougal daher die Notwendigkeit der von den USA ergriffenen Maßnahmen angesichts der Bedrohung ganz Amerikas durch die geplante Raketenstationierung auf Kuba286 . Dabei fallt allerdings auf, daß er nur von einem "nearly achieved threat imposed upon the United States and the other Members of the Organization of American States,,287 spricht, also noch nicht mal die Androhung von Gewalt - geschweige denn einen bewaffneten Angriff i. S. von Art. 51 der Charta - für gegeben hält. Diesen Umstand hält er aber trotz des von ihm vorher herausgearbeiteten Erfordernisses der "imminence of attack" anscheinend nicht für problematisch, vielmehr läßt er hier für die Bejahung der Notwendigkeit der Verteidigung eine erst noch bevorstehende Drohung mit militärischer Gewalt ausreichen. McDougals Untersuchung des Kontexts des amerikanischen Vorgehens bezieht klar Stellung für die USA. So wird angeführt, daß die "Quarantäne"-Entscheidung nicht egoistisch und im speziellen Interesse der USA gewesen sei, sondern vielmehr im Interesse aller Mitglieder der OAS gelegen habe, und daß die Ziele der USA rein defensiv gewesen seien288 . Als Beleg dafür, daß die USA nicht heimlich expansionistische Ziele verfolgten, wird auf die Geschichte der Befreiung Kubas und die demokratische innere Struktur der Vereinigten Staaten verwiesen sowie auf "the pluralistic world order of independent states traditionally demanded and supported by the United States,,289.

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McDougal. McDougal. McDougal. McDougal. McDougal. McDougal.

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(1963), (1963), (1963), (1963), (1963), (1963),

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601. 602. 602. 602. 602. 602.

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Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der von den USA angewandten Mittel ist McDougal der Meinung, daß die USA das mildeste zur Abwehr der Bedrohung geeignete Mittel angewandt hätten. Als Beleg dafür weist er darauf hin, daß die "Quarantäne" vor allem die Hohe See betroffen habe und daher "the least possible interference within the internal territorial domain of any state" bewirkt habe 29o . Außerdem sei nur die Lieferung bestimmter Waffen nach Kuba verboten worden und zur Durchsetzung dieses Verbots sei nur soviel Gewalt angewendet worden, wie notwendig gewesen sei 291 . Ferner verweist McDougal darauf, daß die USA die Sowjetunion vorher gewarnt und ihr Vorgehen sofort dem Sicherheitsrat angezeigt hätten 292 . Insgesamt kommt McDougal daher zu dem Ergebnis, daß die "Quarantäne" eine notwendige und verhältnismäßige Verteidigungsmaßnahme und damit durch das Selbtverteidigungsrecht gedeckt gewesen sei: "Even this impressionistic recall of some of the more salient features of the larger context of threat and response should suffice to suggest that a third-party ob server, genuinely concerned to clarifiy the common interests of all peopIes, could reasonably conclude that the action taken by the United States was in accord with traditional general community expectations about the requirements of self-defense,,293. Er sieht sich in diesem Ergebnis durch die "overwhelming conclusion of world public opinion" bestätigt294 . In seinem Schlußwort meint McDougal, daß das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht - und damit nach seiner Auslegung auch Art. 51 der Charta - dem Staat, der sich auf das Selbstverteidigungsrecht berufe, einen weiten vorläufigen Beurteilungsspielraum einräume. Dieser weite Spielraum sei im Interesse der westlichen Staaten bis zu einer besseren Organisation der internationalen Gemeinschaft notwendig: "Until that better organization is more nearly acchieved, the task which confronts free peopIes is, however, that of clarifiying and applying a conception of selfdefense which will serve their common interests in minimum order without imposing upon them paralysis in the face of attacks from community members who do not genuinely accept the principle of minimum order.,,295 Hier zeigt sich zum einen McDougals tiefes Mißtrauen gegenüber den Absichten der Sowjetunion, zum anderen seine am gewünschten Ergebnis orientierte Argumentationsweise.

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McDougal. McDougal. McDougal. McDougal. McDougal. McDougal.

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(1963), (1963). (1963), (1963), (1963). (1963),

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602. 603. 603. 603. 603. 603 f.

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3. Kritik von McDougals Artikel a) Verstoß gegen Art. 2 Ahs. 4 der Charta

McDougal hält einen Verstoß gegen das Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 der Charta offensichtlich für unproblematisch gegeben, denn er befaßt sich nur mit der Frage, ob dieser Verstoß nach Art. 51 gerechtfertigt ist296 • Die Bejahung eines Verstoßes gegen das Gewaltverbot ist auch überzeugend, da die Ankündigung der USA. sie würden Schiffe auf Hoher See anhalten und durchsuchen und sie notfalls mit Gewalt zu einer anderen Route zwingen, eine Drohung mit Gewalt darstellt 297 . Einige Autoren verneinen aber trotzdem einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 mit der auf den Wortlaut gestützten Begründung, daß Gewaltanwendung, die weder die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit beeinträchtige noch mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar sei. nicht gegen das Gewaltverbot verstoße 298 • Zutreffenderweise lehnt McDougal diese einschränkende Auslegung des Gewaltverbots in seiner Monographie zu internationalen Konflikten ausdrücklich ab 299 . b) McDougals Argumentation zur Freiheit der Meere

McDougal geht an keiner Stelle ausdrücklich auf die Frage ein, ob die "Quarantäne" dadurch. daß sowjetische und andere nicht-kubanische Schiffe auf Hoher See angehalten und durchsucht wurden bzw. ihnen dieses Vorgehen angedroht wurde. neben dem Gewaltverbot auch die Freiheit der McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 603. Z. B. Akehurst, A Modem Introduction to International Law. S. 227; Chayes, Foreign Affairs Bd. 41 (1962-63), S. 550; Colombos, The International Law of the Sea, S. 470; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 488; Franck, AJIL Bd. 64 (1970), S. 826; Henkin, Commentary, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 152; IpsenFischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 19; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 523; Wright, The Cuban Quarantine, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 9; ders., AJIL Bd. 57 (1963), S. 557 u. 563. 298 Bothe, Das Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 22; Bowett, Self-Defence in International Law, S. 185 f.; ChristolIDavis, AJIL Bd. 57 (1963), S. 532; Henkin, Comment, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 152; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 596; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 523; Stone, Agression and World Order, S.95. 299 McDougallFeliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 178 f., insbes. Fußn. 140. Ebenso Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 235; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 490; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 15; KelsenlTucker, Principles of International Law, S. 77 f., Fußn. 69; Kewenig, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 183; Randelzho/er, Use of Force, in: EPIL Bd. 4, S. 269 f.; Tomuschat. Europa-Archiv Bd. 36 (1981), S.329. 296

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Meere verletzte. Er hält also anscheinend einen eventuellen Verstoß gegen diesen Grundsatz für ebenso gerechtfertigt wie einen Verstoß gegen das Gewaltverbot. Das Außerachtlassen dieses Problems ist angesichts McDougals Interesse für das Seerecht erstaunlich. Allerdings wurde dieses naheliegende Problem auch in der übrigen Literatur kaum beachtet - wahrscheinlich weil einem möglichen Eingriff in die Freiheit der Meere neben dem Verstoß gegen das Gewaltverbot nur geringe Bedeutung zugemessen wurde. Die Beeinträchtigung der Freiheit der Schiffahrt durch die von den USA verhängte "Quarantäne" ist wohl unstreitig 3°O. Fraglich ist nur, ob man deshalb einen Verstoß gegen den Grundsatz der Freiheit der Meere bejaht 301 oder ob man diese Beeinträchtigung für gerechtfertigt hält. Letzteres wurde u. a. von Carl Q. Christol und Charles R. Davis vertreten, wobei ihre Begründung bis in die Wortwahl (z. B. "competing claims") stark an McDougals Argumentation zu den Wasserstoffbombentests erinnert: "The Convention on the High Seas does not serve as a proscription against a reasonable restriction on the free use of the seas by all states where this restriction is grounded on a valid peace, security, or self-defense basis and the responsive action is necessary and proportional to the threat. ,,302 McDougal steht daher mit seiner Auffassung, daß die "Quarantäne" auch gegenüber der Sowjetunion bzw. dritten Staaten gerechtfertigt ist, nicht alleine da. Diese Auffassung vermag aber schon wegen der fehlenden Auseinandersetzung mit den besonderen Rechtfertigungsvoraussetzungen eines Eingriffs in die Meeresfreiheit nicht zu überzeugen. c) Rechtfertigung der Quarantäne als Selbstverteidigung aa) Das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht McDougals Darlegung, daß das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht der Staaten einen erheblichen Umfang habe und auch die Abwehr eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs umfasse, deckt sich grundsätzlich mit der vorherrschenden Auffassung in der Völkerrechtslehre. 300 Chayes. Foreign Affairs Bd.41 (1961-62), S. 550; ChristoliDavis. AJIL Bd.57 (1963), S. 539; Colombos, The International Law of the Sea, S. 470; de Arechaga. RdC 1964/1. S. 486; Gran/elt. Nordisk Tidsskrift for International Ret Bd. 34 (1964), S. 153; NguyenlDaillierlPeliet. Droit International Public, S. 1012; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 563; ders .• The Cuban Quarantine, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 9; vgl. Hailbronner. Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 70. 301 So Colombos AJIL Bd.57 (1963); DahmiDelbrücklWolfrum. Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 499; Wright. AJIL Bd. 57 (1963). S. 563; offenlassend: NguyenlDaillierl Pellet. Droit International Public, S. 1012. 302 ChristoliDavis. AJIL Bd. 57 (1963), S. 540.

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Überwiegend wird angenommen, daß durch Völkergewohnheitsrecht auch das Recht der Staaten auf präventive Verteidigung gegen einen erst noch bevorstehenden Angriff als unter das Selbstverteidigungsrecht fallend anerkannt sei 303 . Auch innerhalb dieser Auffassung ist allerdings strittig, unter welchen genauen Voraussetzungen ein gewohnheitsrechtliches Recht auf präventive Selbstverteidigung besteht und ob dieses Völkergewohnheitsrecht durch Art. 51 der Charta eingeschränkt wurde. Eine Mindermeinung, angeführt von lan Brownlie, ist dagegen der Ansicht, daß sich das Völkergewohnheitsrecht im 20. Jahrhundert durch die zunehmenden Verbote von Gewaltanwendung gewandelt habe, so daß jedenfalls zum Zeitpunkt der Kuba-Krise kein gewohnheitsrechtliches Recht auf präventive Selbstverteidigung bestanden habe 304 . Merkwürdigerweise zitiert McDougal ausgerechnet lan Brownlie als Beleg für die Annahme, daß das Völkergewohnheitsrecht das Selbstverteidigungsrecht nie auf den Fall eines bereits erfolgten bewaffneten Angriffs reduziert habe 305 . Brownlie vertritt in dem zitierten Artikel die Ansicht, das Völkergewohnheitsrecht habe nur vor 1920 auch das Recht auf präventive Selbstverteidigung umfaßt; auf der von McDouga1 zitierten Seite verweist Brownlie auf die Änderung des Völkergewohnheitsrechts in dieser Hinsicht. Für seine eigene Auffassung führt McDougal nur sehr wenig Literatur und keine Belege aus der Staatenpraxis an, sondern verweist nur auf die von Webster im "Caroline"-Fall geprägte Formel. Folgt man mit McDougal der herrschenden Meinung, wonach völkergewohnheitsrechtlich das Recht auf Selbstverteidigung auch das Recht auf präventive Selbstverteidigung umfaßt, so stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Staat sich, noch bevor ein Angriff gegen ihn begonnen hat, auf das Selbstverteidigungsrecht berufen kann. McDougals Ausführungen hierzu sind unklar und widersprüchlich. 303 Bowett, Self-Defence in International Law, S. 188 f.; Brandenburg, VJlL Bd. 27 (1987), S. 667; ChristoliDavis, AJlL Bd. 57 (1963), S. 531 f.; Dahm, Völkerrecht Bd. 11, S. 415 m.w.N.; Higgins, BYIL Bd.37 (1961), S. 299; Jessup, A Modem Law of Nations, S. 166; Klein, Selbstverteidigung, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 289; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 33; MacChesnay, AJlL Bd. 57 (1963), S. 595; Mallison, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 170; Meng, The Caroline, in: EPIL Bd. 3, S. 81; Piotrowski, Revue de Droit International, de Sciences Diplomatiques et Politiques Bd. 35 (1957), S. 296 f.; Schlei, Memorandum, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 108 f.; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 189; Simma, Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rn. 39; Tucker, AJIL Bd. 66 (1972), S. 593; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht, § 471; Waldock, RdC 1952/11, S. 463 f. u. 497 f.; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 560. 304 Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 227 f., 241 u. 266; ähnlich Bryde, Self-Defence, in: EPIL Bd. 4, S. 214. 305 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 598, Fußn. 2.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

Die Beschreibung der Situation, die gegeben sein muß, damit präventive Selbstverteidigungsmaßnahmen zulässig sind, reicht von dem grenzenlosen Begriff "activities" über die Formulierung "imminent attack" bis zu der Forderung, ein Angriff müsse so unmittelbar bevorstehen, daß eine wirksame Gegenwehr des Opfers mit nicht-militärischen Mitteln ausgeschlossen sei. Dabei dürfte nur die engste von McDougal verwendete Formulierung das Völkergewohnheitsrecht zur präventiven Selbstverteidigung korrekt wiedergeben 306 ; diese Formulierung wird aber durch die erheblich weiteren anderen Formulierungen wieder in Frage gestellt. Die Tatsache, daß McDougal sich überwiegend gegen zu enge Eingrenzungen des Selbstverteidigungsrechts ausspricht, deutet darauf hin, daß er das für das Bestehen eines präventiven Selbstverteidigungsrechts erforderliche Maß an Unmittelbarkeit nicht sehr hoch ansetzen will. Er wendet sich gegen die Begrenzung des Selbstverteidigungsrechts auf die Fälle eines bereits erfolgten bewaffneten Angriffs und gegen die "Caroline"-Formel, die er für zu eng hält307 . Seine Ablehnung dieser Formel begründet er nicht sehr überzeugend mit der veränderten Situation; dabei bleibt unklar, wieso allein die Tatsache, daß die Formel aus dem letzten Jahrhundert stammt, sie für heutige Fälle irrelevant machen soll. McDougals Behauptung, wonach die Ansicht von der Irrelevanz der Websterschen Formel heute weitverbreitet sei, ist nicht zutreffend; vielmehr stützen sich weiterhin viele Autoren auf die im "Caroline"-Fall entwickelten Grundsätze und sehen diese als Teil des Völkergewohnheitsrechts an 308 .

306 Vgl. Bowett, Self-Defence in International Law, S. 188 f.; Dahm, Völkerrecht, Bd. 2, S. 415 f.; Klein, Selbstverteidigung, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 289; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595 f.; McHugh, Forcible Self-Help, in: U.S. Naval War College International Law Studies, Bd. H, Hrsg.: Lillich/Moore, S. 150; Meng, The Caroline, in: EPIL Bd. 3, S. 81; Piotrowski, Revue de Droit International, de Sciences Diplomatiques et Politiques Bd. 35 (1957), S. 297; Schlei, Memorandum, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 109 f.; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 758; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 189; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1813; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 288; Waldock, RdC 1952/II, S. 463 f. u. 498; Wildhaber, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 153; 307 Ebenso: O'Brien, The Conduct of Just and Limited War, S. 132 f.; Tucker, AJIL Bd. 66 (1972), S. 588 f. u. 593. 308 Brierly, The Law of Nations, S. 405; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 137; Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 152; Higgins, BYIL Bd. 37 (1961), S. 298; Jennings, AJIL Bd. 32 (1938), S. 92; Klein, Selbstverteidigung, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 289; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 33; Malanczuk, ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 764; McHugh, Forcible Self-Help, in: U.S. Naval War College International Law Studies, Bd. H, Hrsg.: Lillich/Moore. S. 143; Meng, The Caroline, in: EPIL Bd. 3.

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Es gab in der Diskussion über die Kuba-Blockade allerdings auch Stimmen, die die Voraussetzungen des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts erheblich weiter faßten und damit noch über McDougals Formulierungen hinausgingen. So wurde vertreten, daß "an anned attack in an atomic age starts when you start building bases and putting missiles a few miles from the continent,,309; teilweise wurde das Selbstverteidigungsrecht schon dann bejaht, "when there is reasonable cause to believe that the national existence is imperiled or proximately endangered by the implementation of a known and dangerous course of action,,3IO. Unter Berufung auf die Monroe-Doktrin ging beispielsweise Norbert A. Schlei von einer erheblichen Ausweitung des präventiven Selbstverteidigungsrechts für die westlichen Staaten aus: "Under the special regime applicable to the Western Hemisphere, the mere maintenance of facilities for certain kinds of anned attack, without more, may justify preventive action.,,311 Derartige Äußerungen dehnen das präventive Selbstverteidigungsrecht unvertretbar aus 312 und es ist daher zu begrüßen, daß McDougal ihnen nicht folgt. McDougals Einführung des Kriteriums der "reasonableness in particular context" als entscheidender Maßstab der Völkerrechtmäßigkeit der Verteidigungshandlung macht allerdings die gen auen Voraussetzungen des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts zusätzlich unklar. Zwar ist sein Abstellen auf die Verhältnismäßigkeit eines Militäreinsatzes zutreffend, denn sowohl nach Völkergewohnheitsrecht als auch nach Art. 51 Charta ist eine Selbstverteidigungsmaßnahme nur dann völkerrechtmäßig, wenn sie verhältnismäßig ise 13 . Das über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausS. 81; Schlei, Memorandum, in: The Cu ban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 109; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 1889; Waldock, RdC 1952111, S. 463 u. 498; Wildhaber, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 154; für die Zeit vor 1920 auch Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 228 u. 258. 309 Urrutia, in: The Inter-American Security System and the Cuban Crisis, Hrsg.: Oliver/Tondel, S. 48. 310 Christol/Davis, AJIL Bd. 57 (1963), S. 533. 311 Schlei, Memorandum for the Attorney General, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 109. 312 Vgl. Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 758; O'Brien, The Conduct of Just and Limited War, S. 132. 313 Bothe, Das Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 20; Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 229; Higgins, ebenda, S. 301 u. 303; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 38; Klein, Selbstverteidigung, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 290; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595; RandelzhoJer, Use of Force, in: EPIL Bd. 4, S. 271 f.; Schlei, Memorandum, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 109; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 758 f.; Wildhaber, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 153 f.

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gehende Kriterium der "reasonableness", das alle nur möglichen Faktoren des jeweiligen Kontexts berücksichtigen soll und letztendlich auf eine Interessenabwägung im Einzelfall hinausläuft, erscheint aber für die Abgrenzung der erlaubten Selbstverteidigung von verbotener Gewaltanwendung als denkbar ungeeignet. Das "reasonableness"-Prinzip, das McDougal anstelle möglichst präziser abstrakter Abgrenzungskriterien vorschlägt, ist so unbestimmt und auf den Einzelfall bezogen, daß seine Adaptation als ausschlaggebender Maßstab zu großer Rechtsunsicherheit führen würde. Entgegen McDougals These, daß die Feststellung der Unmittelbarkeit des bevorstehenden Angriffs eine Beurteilung der gesamten Zwang ausübenden Aktivitäten des "Angreifers" erfordere 314 , ist festzuhalten, daß eine Berücksichtigung aller möglichen Faktoren - z. B. auch von Propaganda oder wirtschaftlichem Druck - die Feststellung, wann ein bewaffneter Angriff unmittelbar bevorsteht, eher erschweren als erleichtern würde. Nicht die politische Krisensituation kann für das Selbstverteidigungsrecht entscheidend sein, sondern nur die militärischen Vorbereitungen eines Angriffs. Auch die von McDougal versuchte Gesamtschau des Verhaltens eines Staates in der Vergangenheit kann zu keinem nachprüfbaren Ergebnis im Hinblick auf seine jetzige, konkrete Angiffsabsicht führen 315 . Besonders bedenklich ist, daß McDougal für die Feststellung der "reasonableness" - wie er in seiner Monographie zu internationalen Konflikten bestätigt - auf die Erwartungen des sich bedroht fühlenden Staates abstellen Will 316 , nicht dagegen auf das wirkliche, objektiv feststellbare Maß an Bedrohung, wie es sich aus der Sicht eines hypothetischen Beobachters darstelle l7 . Das würde bedeuten, daß ein Staat, der aufgrund der irrigen Annahme, ein Angriff eines anderen Staates stünde unmittelbar bevor, einen Präventivkrieg begänne, sich auf das Selbstverteidigungsrecht berufen könnte; der vermeintliche Verteidiger würde also kein völkerrechtliches Delikt begehen und gegen seine präventive "Verteidigung" wäre keine Selbstverteidigung durch den tatsächlich angegriffenen Staat zulässig. Dieses Ergebnis ist abwegig 318 , denn das Risiko einer Fehleinschätzung der Bedrohung durch den anderen Staat muß der Staat tragen, der sich auf das präventive Selbstverteidigungsrecht beruft, nicht dagegen der nur vermeintliche "Angreifer".

McDougal, AJIL Bd. 57 (1963); S. 598. A. A. Fenwick, AJIL Bd. 57 (1963), S. 589 f. 316 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 230. 317 McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 230, Fußn.241. 318 Ebenso: Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 34; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 758. 314 315

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Zwar ist McDougals Hinweis darauf, daß die einseitige Bestimmung durch den sich bedroht fühlenden Staat über das Vorliegen einer Selbstverteidigungssituation nur vorläufig ist, grundsätzlich zutreffend, doch kann diese vorläufige Einschätzung praktisch zu nicht mehr rückgängigmachbaren Konsequenzen führen. Seine Aussage, daß die Vereinten Nationen im Jahre 1963 "quickly available and convenient fora for general community review of the lawfulness of particular claims to employ the military instrument" boten 319 , erscheint als allzu optimistisch: Gerade bei einer Großmacht wie den USA, die durch ihr Veto im Sicherheitsrat jede Verurteilung von ihr durchgeführter militärischer Aktionen verhindern können, sowie angesichts der regelmäßig fehlenden Einigkeit innerhalb der Staatengemeinschaft konnte die UNO während der Zeit des Kalten Krieges ihre Rolle als Kontrollinstanz nur begrenzt wahrnehmen. Insgesamt ist daher in Bezug auf McDougals Betonung der Unverzichtbarkeit des Selbstverteidigungsrechts kritisch anzumerken, daß das Selbstverteidigungsrecht aufgrund der Einseitigkeit der Entscheidung durch den "angegriffenen" Staat und der damit verbundenen großen Mißbrauchsgefahr ein für die Rechtsordnung der internationalen Gemeinschaft zwar notwendiges, aber problematisches Instrument ist. bb) Auslegung von Art. 51 der Charta Die von McDougal vertretene Position, wonach Art. 51 der Charta das gewohnheitsrechtlich bestehende Recht der Staaten auf Selbstverteidigung nicht beschränkt, ist umstritten. Viele Autoren sind mit McDougal der Meinung, daß Art. 51 das nach Völkergewohnheitsrecht bestehende Selbstverteidigungsrecht nur bestätigt hat und daß das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 daher insbesondere auch das Recht auf präventive Selbstverteidigung beinhaltet32o . Neben der Gegenansicht, die eine Beschränkung durch Art. 51 bejaht32I , gibt es eine dritte Meinung, nach der das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht schon vor der Schaffung der Charta denselben engen Umfang hatte wie das Selbstverteidigungsrecht nach McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 599. Bowett, Self-defence in International Law, S. 191; ders., AJIL Bd. 66 (1972), S. 4; Brandenburg, VJIL Bd.27 (1987), S. 667; Franzke, ÖZöR Bd. 16 (1966), S. 146 f.; Higgins, BYIL Bd. 37 (1961), S. 302; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595; Mallison, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 170; Meng, The Caroline, in: EPIL Bd.3, S. 81; Schwarzenberger, RdC 1955/1, S. 338 f.; Stone, Agression and World Order, S. 98, Fußn. 11; Waldock, RdC 1952/11, S. 496 ff. 321 lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 43; Jessup, A Modem Law of Nations, S. 166; Simma, Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rn. 40; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 288; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 560. 319

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Art. 51 322 • Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Nicaragua-Urteil von 1986 bestätigt, daß das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht neben Art. 51 forbesteht und daß beide Normen nicht ganz dekkungsgleich sind323 . Die von McDougal vertretene weite Auslegung von Art. 51, nach der das vertragliche Selbstverteidigungsrecht auch ein Recht auf präventive Selbstverteidigung umfaßt, überwiegt insbesondere unter den amerikanischen Völkerrechtsgelehrten 324 , während im europäischen Schrifttum die enge Auslegung von Art. 51 vorzuherrschen scheint325 . Die Anhänger einer weiten Auslegung verweisen zu Recht darauf, daß der Wortlaut dieser Norm ("Nothing in the present Charter shall impair the inherent right of individual or collective self-defense. ") auf das Fortbestehen des völkergewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts hinweist326 . Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 240 f.; Bryde, Se1f-Defence, in: EPIL s. 214; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 504 f. 323 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, in: ICI Reports 1986, S. 14 (94). 324 Bowett, Self-Defence in International Law, S. 188 ff.; Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 65; ChristoliDavis, AJIL Bd. 57 (1963), S. 532; Dahm, Völkerrecht, Bd. H, S. 415 f.; Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbotes, S. 109; MacChesney, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595; Malanczuk, ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 761; Mallison, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 170; McHugh, Forcible Self-Help, in: U.S. Naval War College International Law Studies, Bd.lI, Hrsg.: Lillich/Moore, S. 150; Meng, The Caroline, in: EPIL Bd. 3, S. 81; O'Brien, The Conduct of lust and Limited War, S. 132; O'Connell, International Law, Bd. 1, S. 317; Nanda, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 172; Schlei, Memorandum for the Attorney General, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 108 ff.; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 758; Stone, Foreign Affairs Bd. 39 (1960/61), S. 556; Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 153; wohl auch Schwebei, RdC 1972111, S. 481 f.; Tucker, AJIL Bd. 66 (1972), S. 594. 325 Akehurst, A Modem Introduction to International Law, S. 222; BentwichlMartin, A Commentary on the Charter of the United Nations, S. 107; Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 242 u. 244 m. w.N.; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 503; Goodrichl Hambro, Charter of the United Nations, S. 345; Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 150 f.; lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 57 Rn. 30; Jessup, A Modem Law of Nations, S. 166; Kelsen, The Law of the United Nations, S. 797 f.; Mahnke, Das Problem der Einheit der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 326; Partsch, Reprisals, in: EPIL Bd. 9, S. 218 f.; RandelzhoJer, Use of Force, in: EPIL Bd.4 (1982), S. 272; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 189; Seidl·Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1675; Simma, Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rn. 34; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 560. 326 So auch Franzke, ÖZöR Bd. 16 (1966), S. 146 f.; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 33; Mallison, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 170; Meng, The Caroline, in: EPIL Bd. 4, S. 81. 322

Bd. 4,

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Diese Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts als naturgegeben und nicht erst durch die Charta gewährt bedeutet allerdings nicht, daß sein Umfang durch die Charta nicht beschränkt werden kann 327 . Der Wortlaut läßt eine enge Auslegung ohne weiteres zu, weil man die Norm so verstehen kann, daß das naturgegebene Selbstverteidigungsrecht nur für den Fall des bewaffneten Angriffs nicht von der Charta eingeschränkt wird. Der nachfolgende Halbsatz ("if an armed attack occurs against a member of the United Nations") zwingt grammatikalisch nicht dazu, das Selbstverteidigungsrecht auf den Fall eines bereits begonnenen Angriffs zu begrenzen, weil diese Bedingung nicht notwendig als abschließend verstanden werden muß 328 • McDougal ist vielmehr darin recht zu geben, daß die Aussage "if an armed attack occurs" nicht aufgrund zwingender logischer Schlüsse gleichbedeutend ist mit der Aussage "if, and only if, an armed attack occurs,,329. Die Auslegung, daß dieser Bedingungssatz die Selbstverteidigung auf den Fall eines bewaffneten Angriffs beschränken soll, erscheint aber als wesentlich naheliegender, weil der Halbsatz überflüssig und irreführend wäre, wenn er nur einen von mehreren möglichen - aber nicht aufgeführten - Fällen darstellen sollte33o . Das Prinzip inclusio unius est exclusio alterius ist auf diesen Fall ohne weiteres anwendbar. Der Wortlaut von Art. 51 der Charta ist demnach eher ein Argument für eine enge Auslegung dieser Norm 331 . Entgegen McDougals Auffassung spricht im Rahmen der systematischen Auslegung der Grundsatz exceptiones sunt strictissimae interpretationis stark für eine enge Auslegung von Art. 51. McDougals These in seiner Monographie zu internationalen Konflikten, wonach Art. 51 keine Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot sei, vermag nicht zu überzeugen. Art. 2 Abs. 4 der Charta stellt schon nach seiner Formulierung, erst recht aber nach seinem Sinn und Zweck einen allgemeinen Grundsatz dar, der jede einseitige Gewaltanwendung von Staaten unterbinden will 332. Dagegen Vgl. Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 240. So auch Bowett, Self-defence in International Law, S. 188; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 32 f.; Waldock, RdC 19521II, S. 497. 329 So auch Henkin, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 166. 330 Akehurst, A Modem Introduction to International Law, S. 222; Henkin, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 166; ähnlich Dahm, Das Verbot der Gewaltanwendung, in: FS Rudolf Laun, S. 52; de Arechaga, RdC 1964/1, S.505. 331 Brownlie, BYIL Bd.37 (1961), S. 243 u. 258; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 503; GoodrichiHambrolSimons, Charter of the United Nations, Article 51, S. 345; lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 28; RandelzhoJer, Use of Force, in: EPIL Bd. 4, S. 272; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 757; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1813; Simma, Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rn. 34. 327 328

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handelt es sich bei Art. 51 ohne weiteres um eine Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot, da dieser Artikel die einseitige Anwendung von Gewalt durch einen Staat nur unter bestimmten Voraussetzungen für gerechtfertigt erklärt333 . McDougals Versuch, dem Gewaltverbot als Grundsatz der "non-permissible coercion" einen gleichgewichtigen Grundsatz der "permissible coercion" gegenüberzustellen, zeigt eine Verkennung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Die einseitige Anwendung von Gewalt durch Staaten ist nur in einzeln aufgezählten Ausnahmefällen zulässig, die sich nicht zu einem allgemeinen Grundsatz, nach dem Gewaltanwendung durch einzelne Staaten zulässig sei, zusammenfügen. Das folgt schon daraus, daß das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 subsidiär ist gegenüber Friedenssicherungsmaßnahmen des Sicherheitsrates334 . Mit Art. 2 Abs. 4 der Charta wurde eine klare Entscheidung für ein allgemeines Verbot einseitiger, nicht unter der Kontrolle der Vereiriten Nationen stehender Gewaltanwendung getroffen, wohingegen für McDougals These eines Prinzips der "permissible coercion" eine Grundlage in der Charta fehlt. McDougals Gegenüberstellung von "permissible and non-permissible coercion" als zwei gleichwertigen Prinzipien relativiert das Gewaltverbot unzulässigerweise und widerspricht dem von McDougal propagierten Ziel einer "minimum world public order". McDougals Schlußfolgerung, wonach "a decent respect for balance and effectiveness" erfordere, daß dem auch Drohungen einschließenden Gewaltverbot eine ebenso umfassende erlaubte Gewaltanwendung - also auch ein Selbstverteidigungsrecht gegen Drohungen - gegenübergestellt werden müsse 335 , geht daher fehl. Gewaltverbot und Gewalterlaubnis müssen nicht gleich umfassend sein 336 , da der bedrohte Staat sich mit nicht-militärischen Mitteln zur Wehr setzen bzw. den Sicherheitsrat einschalten kann 337 . Als 332 Vgl. Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 240; Dahm, Das Verbot der Gewaltanwendung, in: FS Rudolf Laun, S. 54; lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 28. 333 Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 222; Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 240; Bryde, Self-Defence, in: EPIL Bd. 4, S. 213; Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 153; Nguyenl DaillierlPellet, Droit International Public, S. 816; RandelzhoJer, Use of Force, in: EPIL Bd. 4, S. 272. 334 Vgl. Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 240; NguyenlDaillierlPellet, Droit International Public, S. 816; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 755. m McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 600; ebenso: Bowett, Self-defence in International Law, S. 191. 336 Ebenso Kewenig, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 212. 337 De Arechaga, RdC 1964/1, S. 506; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 759; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 560.

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Verteidigungsmittel gegen Drohungen mit Gewalt genügt unter dem Gesichtspunkt der Balance ein Recht des bedrohten Staates, seinerseits mit der Anwendung von Gewalt zu drohen. Die systematische Auslegung von Art. 51 spricht also entgegen McDougals Auffassung dafür, das Selbstverteidigungsrecht als Ausnahme vom Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 der Charta eng auszulegen. Die Entstehungsgeschichte von Art. 51 wird von McDougal unter Berufung auf Bowett als Argument für eine weite Auslegung dieser Norm angeführt 338 , kann jedoch auch als Beleg für eine enge Auslegung angesehen werden 339 • Daher ist letztlich aus den "travaux pn!paratoires" nicht schlüssig ableitbar, ob Art. 51 auch das Recht auf präventive Selbstverteidigung umfaßt34o . McDougals Äußerung zu dem der Charta nachfolgenden Verhalten der Vertragsparteien, die Staatenpraxis enthalte keinerlei Hinweise auf gemeinsame Erwartungen der Vertragsparteien, daß sie mit Art. 51 ihr gewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht aufgegeben hätten 341 , geht am Problem vorbei, da nur eine Einschränkung, nicht aber eine Aufhebung dieses Rechts in Frage steht. Aus der Staatenpraxis nach 1945 ist teil weise abgeleitet worden, daß die Staaten im Jahre 1962 nicht von einem Recht auf präventive Selbstverteidigung ausgingen 342 • Die der Charta nachfolgende Staatenpraxis bis zur Kuba-Krise wird aber auch als Argument gegen eine enge Auslegung von Art. 51 angeführt 343 , so daß jedenfalls für die Staatenpraxis bis zur Kuba-Krise nur der Schluß bleibt, daß auch dieses Auslegungsmiuel nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt 344 • 338 Ähnlich Brierly, The Law of Nations, S. 417; Franzke, ÖZöR Bd. 16 (1966), S. 144 f.; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595; Mallison, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 170; O'Connell, International Law, Bd. I, S. 317; Schwarzenberger, RdC 1955/1, S. 338. 339 Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 136 f. u. 242; Henkin, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 165; Jessup, A Modem Law of Nations, S. 166. 340 Higgins, BYIL Bd. 37 (1961), S. 299; Malanczuk, ZaöRV Bd.43 (1983), S. 761; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 755; Simma-RandelzhoJer, Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rn. 10; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 471; Wildhaber, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 149. 341 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 600. 342 Akehurst, A Modem Introduction 10 International Law, S. 222; Brownlie, BYlL Bd. 37 (1961), S. 228; Dahm, Das Verbot der Gewaltanwendung, in: FS Rudolf Laun, S. 53; Henkin, AJIL Bd. 65 (1971), S. 545; Wildhaber, GewaltverboI, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 151 f. 343 Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 4; Malanczuk, ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 762; McHugh, Forcible Self-Help in International Law, in: U.S. Naval War College International Law Studies, Bd. II, Hrsg.: Lillich/Moore, S. ISO; O'Connell, International Law, Bd. 1. S. 317. 13 voos

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Angesichts der mangelnden Schlüssigkeit von Wortlaut und Entstehungsgeschichte sowie nachfolgender Vertragspraxis kommt der teleologischen Auslegung von Art. 51 die entscheidende Rolle zu. McDougals Argument, daß die neuentwickelte Waffentechnik ein Recht auf präventive Selbstverteidigung erforderlich mache, weil die Staaten sonst verpflichtet wären, ihre eigene Vernichtung durch den Gegner abzuwarten, wird oft vorgebracht345 und entbehrt nicht der Berechtigung. Eine Auslegung von Art. 51, die einem Staat zumuten würde, sich erst dann zu wehren, wenn ein Angriff gegen ihn bereits erfolgt wäre, liefe angesichts der Schnelligkeit und vernichtenden Wirkung von Atomwaffen Gefahr, den Angreifer zu bevorzugen und die Verteidigung des Opfers unmöglich zu machen. McDougal macht es sich jedoch zu einfach, wenn er glaubt, daß der bloße Verweis auf die neuen Vernichtungswaffen die Zulässigkeit präventiver Selbstverteidigung offenkundig mache. Gerade die Existenz dieser Waffen zeigt vielmehr deutlich auch die Gefahren der präventiven Selbstverteidigung: Es kann - schon wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 346 - nicht völkerrechtmäßig sein, wenn ein Staat, der sich bloß bedroht fühlt, mit einem atomaren Erstschlag reagiert 347 • Die für die präventive Selbstverteidigung erforderliche Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Angriffs ist sehr schwierig und birgt die Gefahr, daß - gerade in Krisensituationen - die Absichten des anderen Staates falsch eingeschätzt und unnötig ein Krieg begonnen wird 348 . Die Angriffsabsicht eines anderen Staates ist gerade in Anbetracht der beim Selbstverteidigungsrecht bestehenden hohen Mißbrauchsgefahr kein ausreichend objektiv feststellbares und damit nachprüfbares Kriterium 349 . 344 Vgl. GoodrichlHambrolSimons, Charta of the United Nations, S. 347; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrum, S. 757. 345 Akehurst, A Modem Introduction to International Law, S. 223; Bowett, Selfdefence in International Law, S. 191 f.; Brandenburg, VJIL Bd. 27 (1987), S. 694; Dahm, Völkerrecht, Bd. H, S. 415; Fenwick, AJIL Bd.57 (1963), S. 589; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 33 f.; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595; Malanczuk, ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 761; McHugh, Forcible Self-

Help, in: V.S. Naval War College International Law Studies, Bd. II, Hrsg. Lillich/ Moore, S. 150; Schwebe I, RdC 1972/H, S. 481; Stone, Foreign Affairs Bd.39 (1960/61), S. 556; Waldock, RdC 19521II, S. 498; ähnlich O'Brien, The Conduct of lust and Limited War, S. 132. 346 Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 227 u. 229; Bryde, Self-defence, in: EPIL Bd. 4, S. 214. 347 Vgl. Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 150 f.; Schwebei, RdC 19721II, S. 481; Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 5. 348 Akehurst, A Modem Introduction to International Law, S. 223; Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 227; Dahm, Völkerrecht, Bd. H, S. 415; Henkin, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 166; Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 5.

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Die Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 auf den Fall eines bereits erfolgten bewaffneten Angriffs führt nicht notwendigerweise dazu, einen bedrohten Staat zum Abwarten eines vernichtenden Angriffs zu zwingen. Vielmehr hat ein Staat, der sich bedroht fühlt, die Möglichkeit, alle Gegenmaßnahmen außer Gewaltanwendung zu ergreifen, insbesondere den Sicherheitsrat einzuschalten35o . Das Problem kann dadurch entschärft werden, daß der Begriff des "armed attack" weit genug ausgelegt wird, so daß er auch die tatsächliche, unmittelbare und irreversible Einleitung eines bewaffneten Angriffs durch den Gegner umfaßt 351 • Im Hinblick auf Atomwaffen führt die Zweitschlagkapazität der Atommächte die zum Zeitpunkt der Kuba-Krise bereits bestand352 - dazu, daß angesichts des einem bedrohten Staat zur Verfügung stehenden Abschreckungspotentials zumindest bei den Atommächten kein Bedürfnis für eine präventive Selbstverteidigung anerkannt werden sollte353 • Insgesamt erscheint daher trotz aller Unklarheit von Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Art. 51 McDougals weite Auslegung dieser Norm als weniger überzeugend als eine Auslegung, wonach das Selbstverteidigungsrecht erst im Fall eines bewaffneten Angriffs besteht. cc) Einordnung der Kuba-"Quarantäne" als Selbstverteidigung Nach der hier vertretenen Auffassung, daß weder nach Art. 51 der Charta noch nach Völkergewohnheitsrecht ein Recht auf präventive Selbstverteidigung besteht, ergibt sich ohne weiteres, daß die von den USA durchgeführte "Quarantäne" Kubas nicht als Selbstverteidigung gerechtfertigt war, weil kein bewaffneter Angriff Kubas auf die USA vorlag 354 . Vertritt man jedoch mit McDougal die weite Auslegung von Art. 51 der Charta, so stellt sich die Frage, ob die sowjetische Raketenstationierung auf Kuba geeignet war, präventive Selbstverteidigungsmaßnahmen der USA zu rechtfertigen. Voraussetzung dafür wäre neben einer Verteidigungsabsicht der USA vor allem eine Drohung mit Gewalt durch die Raketenstationierung auf Kuba, 349 Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 223; ähnlich Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 227; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 30. 3.50 Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 227. 351 De Arechaga, RdC 1964/1, S. 503 f. 352 Vgl. Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 561. 353 Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 223; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 507; Henkin, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 167; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 30; RandelmoJer, Use of Force, in: EPIL Bd. 4, S. 272; Wildhaber, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltvebot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 150 f. 354 A. A. wohl nur Fenwick, AJIL Bd. 57 (1963), S. 589 auf der Grundlage einer extrem weiten Auslegung des Begrifffs "arrned attack".

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das unmittelbare Bevorstehen eines Angriffs sowie die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel. Folgt man der Formel des amerikanischen Außenministers im "Caroline"-Fall, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die Voraussetzung des unmittelbaren Bevorstehens eines Angriffs nicht vorlag, denn die Notwendigkeit einer Verteidigung durch die USA war jedenfalls nicht so überwältigend dringend, daß sie keine Zeit zum Überlegen und keine Wahl bezüglich der Mittel ließ. Die USA hatten vielmehr mehrere Wochen Zeit, sich ihre Reaktion auf die im Gang befindliche Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba zu überlegen 355 und ihre Reaktionsmöglichkeiten reichten von diplomatischem Druck über militärische Gegendrohungen bis zu einer militärischen Aktion. Zu diesem Ergebnis gelangt man auch, wenn man von McDougals engster Formulierung der Voraussetzungen eines präventiven Selbstverteidigungsrechts ausgeht: Ein Raketenangriff durch Kuba stand keineswegs so unmittelbar bevor, daß den USA keine wirksamen "non-violent modalities of response" verblieben wären. Selbst wenn man aber mit McDougals weiterer Formulierung nur "imminence of attack" für erforderlich hält, fällt es schwer, hier das Vorliegen dieser Voraussetzungen zu bejahen. Es gab keine Anzeichen dafür, daß Kuba, sobald die Raketen einsatzbereit wären, einen atomaren Angriff auf die USA beabsichtigte356, oder daß gar ein Angriff bereits eingeleitet worden Wa?57; angesichts der Zweitschlagskapazität der USA war ein solcher Angriff nicht einmal wahrscheinlich. Auch unter Berücksichtigung der sehr angespannten Lage und des großen gegenseitigen Mißtrauens der beiden Supermächte in der Phase des Kalten Krieges kann keine noch so bedrohliche Aufrüstung als Zeichen eines mit größter Wahrscheinlichkeit bevorstehenden Angriffs ausreichen. Insgesamt lagen demnach die Voraussetzungen für ein präventives Selbstverteidigungsrecht der USA nicht vor. McDougals Aussage, die "overwhelming conclusion of world public opinion" nach der Kuba-Blockade sei gewesen, daß die "Quarantäne" mit den "traditional general community expectations about the requirements of selfdefense" übereingestimmt habe, ist nicht ganz zutreffend. Zwar hat die internationale Staatengemeinschaft bis auf wenige kritische Stimmen das 355 O'Brien, The Conduct of lust and Limited War, S. 133 (der aber trotzdem die Voraussetzungen präventiver Selbstverteidigung für erfüllt hält). 356 Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 152; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 34. 357 Akehurst, A Modem Introduction to International Law, S. 223; Henkin, Comment, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 150; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 36; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 190; offenlassend: MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 595 f.

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Verhalten der USA unterstützt oder zumindest Verständnis dafür geäußert358 ; daraus läßt sich aber nicht ableiten, daß die "Quarantäne" allgemein als Ausübung des Selbstverteidigungsrechts durch die USA akzeptiert worden sei. Gegen einen solchen Schluß spricht vor allem, daß sich die USA selbst gar nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen haben 359 . Weder in den Ansprachen Präsident Kennedys, noch in der Resolution der OAS oder den Stellungnahmen der USA vor dem Sicherheitsrat machten die USA Art. 51 der Charta oder das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht geltend. Sie rechtfertigten ihre Vorgehensweise vielmehr ausdrücklich mit Art. 6 und 8 des Rio-Vertrags und der darauf gestützen Resolution. Die mangelnde Berufung der USA auf das Selbstverteidigungsrecht ist ein gewichtiges Indiz dafür, daß die USA selbst das Selbstverteidigungsrecht für eine völkerrechtlich zumindest unsichere Rechtfertigung ihres Vorgehens hielten. Ferner ist auch McDougals Aussage, von der Völkerrechtsliteratur sei ganz überwiegend ein Selbstverteidigungsrecht der USA angenommen worden, falsch, denn die herrschende Meinung lehnte eine Rechtfertigung der amerikanischen "Quarantäne" als Selbstverteidigung ab 36o • Allerdings war ein nicht unerheblicher Teil insbesondere der amerikanischen Völker358 ChristoliDavis, AJIL Bd. 57 (1963), S. 528 f.; Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbotes, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Heft 26, S. 88; Hoog, Vorbemerkung, in: Quellenindex zur Kubakrise, S. I; MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 596 f.; Rousseau, RGDIP Bd. 67 (1963), S. 157 f.; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 564. 359 Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 222 f. u. 227; Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 63 f.; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 500 f.; GoodrichlHambro, Charter of the Uni ted Nations, S. 345 u. 348; Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd.57 (1963), S. 151; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 517 u. 523; Pirrone, The Use of Force, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 228; Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigung, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 152 f.; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 554, Fußn. 35; a. A. NguyenlDaillierlPellet, Droit International Public, S. 1012; SinghlMcWhinney, Nuclear Weapons and Contemporary International Law, S. 319. 360 Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 222 f.; Bothe, Das Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 23; Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 65 f.; Colombos, The International Law of the Sea, S. 470; Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 151 f.; Hoog, Vorbemerkung, in: Quellenindex zur Cubakrise, S. I; Klein, Selbstverteidigung, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 289; Mahnke, Das Problem der Einheit der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 236; McHugh, Forcible Self-help, in: U.S. Naval War College International Law Studies, Bd. 11, Hrsg.: Lillich/Moore, S. 154; Simma-RandelzhoJer, Charta der Vereinten Nationen, Art. 52, Rn. 102; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht, S. 148; Wright, The Cuban Quarantine, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 10; ders., AJIL Bd. 57 (1963), S. 562; wohl auch /psen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 30; Seidl-Hohen-

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rechtsgelehrten mit McDougal der Meinung, den USA habe ein Selbstverteidigungsrecht gegen die Raketenstationierung zugestanden 361 . Einige Autoren bejahten das Selbstverteidigungsrecht zwar nicht klar, ließen die Frage aber zumindest offen 362 • McDougal ist darin zuzustimmen, daß die Frage einer Rechtfertigung des amerikanischen Vorgehens nicht allein aufgrund der militärischen Situation, sondern nur vor dem Hintergrund der gesamten politischen Lage beantwortet werden kann. Bei McDougals Untersuchung des Kontexts der "Quarantäne" stört jedoch ihre mangelnde Objektivität: Die ganze Darstellung des Kontexts ist aus der Perspektive der USA und durch die Brille des Kalten Krieges geschrieben. Ferner zerstückeln die Kategorien, die McDougal zur Gliederung des Kontexts verwendet - wie "participants" und "objectives" die Darstellung. Sie bringen eher Verwirrung als neue Erkenntnisse oder größere Systematik, denn Faktoren wie der politische Hintergrund oder das militärische Kräfteverhältnis würden auch ohne diese Kategorien in einer Darstellung des Kontexts vorkommen. Eine wesentliche Folge dieser faktisch-politischen Sichtweise ist, daß es sich für McDougal um einen Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA handelt und er Kuba nur als Nebenfigur ansiehe 63 • Diese Einschätzung stimmt zwar mit der politischen Realität überein - so wurde der Konflikt letztlich ohne Kubas Beteiligung gelöst - nicht aber mit der juristischen Lage, denn rechtlich gesehen war Kuba als der Staat, gegenüber dem die "Quarantäne" ausgerufen wurde, maßgeblich für die Frage, ob ein Selbstverteidigungsrecht der USA bestand, nicht dagegen die Sowjetunion als Dritter. Auch wenn Kuba politisch von der Sowjetunion abhing, so war es doch ein souveräner Staat mit Anspruch auf Achtung seiner Souveränitäe 64 . McDougals Einschätzung der Situation ist zwar insofern überzeugend, als es zutrifft, daß die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba in der Tat für den Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, eine ernste Bedroveldem, Völkerrecht, Rn. 1676; Wildhaber, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 152 f. 361 ChrislollDavis, AJIL Bd.57 (1963), S. 533; Fenwick, AJIL Bd. 57 (1963), S. 589 f. u. 592; MacChesney, AJIL Bd. 57 (1963), S. 596; O'Brien, The Conduct of lust and Limited War, S. 133; Oliver, in: Oliver/Tondel, The Inter-American Security System and the Cuban Crisis, S. 51; Schlei, Memorandum for the Attomey General, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 109 ff. u. l32. 362 Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 64, Rn. l3; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 190 u. 202. 363 So auch MacChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 594. 364 Vgl. Gran/eil, Nordisk Tijdskrift For International Ret Bd. 34 (1964), S. 137 u. 154.

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hung bedeutet hätte, da sie die USA in die Reichweite sowjetischer Raketen gebracht hätte. Ferner hätte sie das "Gleichgewicht des Schreckens" erheblich verändert, weil dadurch erstmals sowjetische Waffen außerhalb des Ostblocks stationiert worden wären 365 . Damit verletzte die Sowjetunion die ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens zwischen den Supermächten - wobei aber die der Sowjetunion zur Last gelegte Heimlichkeit der Stationierung als solche die Aufrüstung nicht völkerrechts widrig machte 366 . McDougal versäumt jedoch, in die Darstellung des Kontextes aufzunehmen, daß - wie der juristische Berater des amerikanischen Präsidenten, Abraham Chayes, offen zugab 367 - die USA trotz der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba über etwa doppelt soviele Raketen wie die Sowjetunion verfügt hätten. Es ist daher fraglich, ob wirklich die "vital interests" der USA berührt waren. Die fehlende Objektivität beeinträchtigt auch McDougals Darstellung, wonach die Ziele der Sowjetunion "c1early expansionist" , die der USA dagegen "defensive" waren. Dabei unterschlägt er, daß Verteidigungsabsichten Kubas gegenüber den USA angesichts der von den USA unterstützten Invasion in der Schweinebucht nicht fernlagen 368 . Die Ableitung grundsätzlich rein defensiver Absichten der USA aus ihrer demokratischen inneren Struktur oder ihrer bisherigen Unterstützung einer pluralistischen Weltordnung 369 vennag nicht zu überzeugen, da sie den Eindruck erweckt, als könne man die Staaten in gute und böse unterteilen und daraus ihre Absichten in Einzelfallen ableiten 37o . McDougal will mit seiner Darstellung des Kontexts der "Quarantäne" nicht nur den Hintergrund der Kuba-Krise verständlich machen, sondern für ihn beantwortet der Kontext die Frage, ob die "Quarantäne" der USA defensiv und daher als Selbstverteidigung gegen eine Bedrohung durch die Sowjetunion gerechtfertigt war. Er trennt dabei nicht zwischen juristisch 365 Vgl. Barnet, The Cuban Crisis, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 1 f.; Chayes, Foreign Affairs Bd. 41 (1962-63), S. 550; ders., The Cuban Missile Crisis, S. 2 f.; Christol/Davis, AJIL Bd. 57 (1963), S. 526; de Areehaga, RdC 1964/1, S. 512; Fenwiek, AJIL Bd. 57 (1963), s. 590; Hoog, Vorbemerkung, in: Quellenindex zur Kubakrise, S. I; MaeChesnay, AJIL Bd. 57 (1963), S. 594. 366 So auch Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 9. 367 Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 3; vgJ. auch Kuhn. Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 12, Fußn. 1. 368 Ebenso Kuhn. Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 35 f.; Wright. The Cuban Quarantine, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963). S. 10; ders., AJIL Bd. 57 (1963), S. 546 ff. u. 553. 369 Ähnlich Fenwiek. AJIL Bd.57 (1963), S. 590; MaeChesnay. AJIL Bd.57 (1963), S. 593. 370 Kritisch hierzu auch Kuhn. Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 34 f.

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relevanten und bloß politisch erheblichen Tatsachen. Für McDougal sind auch Faktoren wie die innere Struktur der beteiligten Staaten oder die Heimlichkeit der Stationierung relevant für die Frage, ob die "Quarantäne" durch das Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt ist, weil er diese Frage anhand einer Gesamtschau des Einzelfalls an statt durch die Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale einer abstrakten Regel beantwortet. An McDougals Argumentation in diesem dritten Teil des Artikels fällt vor allem auf, daß sie ohne jeden Bezug zu Normen erfolgt: Er geht weder auf die von ihm am Beginn der Prüfung herausgearbeiteten Voraussetzungen des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts noch auf die von Art. 51 ein. Stattdessen legt er allgemein den ganzen seiner Auffassung nach für die juristische und politische Bewertung der Situation relevanten Kontext dar. An keiner Stelle untersucht McDougal konkret, ob ein Angriff der Sowjetunion mit Hilfe Kubas auf die USA so unmittelbar bevorstand, daß die USA sich nicht effektiv durch nicht-militärische Maßnahmen hätte verteidigen können; seine Prüfung betrifft nur die sehr viel unbestimmteren Kriterien der Notwendigkeit, Proportionalität und "reasonableness" der Maßnahme der USA. Dieser Abschnitt wirkt daher seltsam vom Rest des Artikels losgelÖSt. McDougals unsystematisches Vorgehen birgt die Gefahr, daß die Darstellung des faktischen Gesamtkontexts den Blick für die juristisch relevanten Faktoren verstellt und daß das politisch gewünschte Ergebnis unabhängig von seiner juristischen Schlüssigkeit am Ende steht. Diese Vorgehensweise weckt den Verdacht, daß die Ausführungen zu den Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts aus Völkergewohnheitsrecht bzw. nach Art. 51 der Charta nur dazu dienten, die bisher anerkannten Tatbestandsmerkmale dieses Rechts aufzuweichen und an die Stelle präziser Voraussetzungen Kriterien wie "necessity" und "proportionality" zu setzen, die so allgemein sind, daß sie kaum einschränkend wirken. Der Internationale Gerichtshof hat im Nicaragua-Urteil klargestellt, daß allein das Erfüllen der Kriterien von "necessity and proportionality" eine Anwendung von Gewalt, die keine Selbstverteidigungsmaßnahme darstellt, nicht rechtmäßig macht371 • Hätte McDougal das Bestehen eines Selbstverteidigungsrechts der USA anhand der von ihm selbst aufgestellten Voraussetzungen systematisch geprüft, ist davon auszugehen, daß er zu dem Ergebnis gelangt wäre, daß diese Voraussetzungen nicht vorlagen. Statt sich damit näher auseinanderzusetzen, stellt McDougal aber die "Quarantäne" in den politischen Gesamtkontext und kommt dadurch ohne weiteres zu dem gewünschten Ergebnis, daß die "Quarantäne" durch das Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt war. 371 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, ICI Reports 1986, S. 4 (122).

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Diese Argumentation vermag weder dogmatisch noch vom Ergebnis her zu überzeugen. d) Sonstige Rechtfertigungsgründe

aa) Rechtfertigung durch den Rio-Vertrag und die DAS-Resolution McDougal erwähnt Art. 6 und 8 des Rio-Vertrags und die darauf gestützte Resolution der DAS, auf die sich die USA offiziell als Rechtfertigung berufen haben, nur kurz in einer Fußnote. Darin heißt es kryptisch: "It is hardly to be expected, however, that general community expectation will immunize even the ,political' or ,legislative' decisions of the Security Council in reviewing regional measures from the basic constitutional policies of necessity and proportionality.,,372 Diese Äußerung ist wohl so zu verstehen, daß McDougal die Resolution der DAS nicht für eine leichter zu bejahende Rechtfertigung als das Selbstverteidigungsrecht hält, weil auf erstere dieselben Kriterien anwendbar seien wie auf letztere, nämlich die der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit. Damit erübrigt sich für McDougal eine gesonderte Prüfung der Rechtfertigung der "Quarantäne" durch die DAS-Resolution. McDougals Äußerung kann entweder so gedeutet werden, daß es nach seiner Meinung nicht auf Art. 53 der Charta, der Maßnahmen von Regionalorganisationen regelt, ankommt oder aber so, daß er die Voraussetzungen des Art. 53 - insbesondere die Autorisierung von "enforcement action" durch den Sicherheitsrat - für gegeben hält. Die Meinungen darüber, ob die amerikanische Blockade Kubas durch die auf den Rio-Vertrag gestützte Resolution der DAS nach Art. 53 der Charta gerechtfertigt wird, sind gespalten373 . Umstritten ist dabei bereits, ob eine Rechtfertigung der "Quarantäne" als regionale Maßnahme auch gegenüber der Sowjetunion möglich wäre. Gegenüber Kuba ist die Berufung auf den Rio-Vertrag statthaft, weil Kuba zwar aus der DAS ausgeschlossen wurde, McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 603, Fußn. 14. Für eine Rechtfertigung durch die OAS-Resolution: Chayes, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 12; ders., Foreign Affairs Bd. 41 (1962-63), S. 554 ff.; ChristoliDavis, AJIL Bd. 57 (1963), S. 533 u. 537 ff.; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 518 f.; Schlei, Memorandum, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 132 f.; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 189 f. (nur gegenüber Kuba). Gegen eine Rechtfertigung dadurch: Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 227; GoodrichlHambrolSimons, The Charter of the United Nations, S. 358 f.; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 58, Rn. 35; O'Brien, The Conduct of lust and Limited War, S. 268; Pirrone, The Use of Force, in: The Current Legal Regulations of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 228; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht, S. 148; Wright, The Cuban Quarantine, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S.9. 372 373

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

aber weiterhin an den Rio-Vertrag gebunden war und daher formal der DAS-Resolution zugestimmt hat 374 ; die Sowjetunion dagegen ist weder Vertragspartei des Rio-Vertrags noch überhaupt der amerikanischen Hemisphäre zugehörig. Eine Regionalorganisation ist jedenfalls nicht kompetent für Maßnahmen, die gegen außerhalb dieser Region liegende Staaten gerichtet sind, weil das gegen den völkerrechtlichen Grundsatz verstoßen würde, daß ein Vertrag nicht in die Rechte Dritter, die nicht Vertragsparteien sind, eingreifen dare 75 . Ferner stellt sich die Frage, ob die DAS-Resolution, obwohl sie nur eine "recommendation" darstellte, als "enforcement action" i. S. von Art. 53 Abs. 1 anzusehen ise 76 und daher eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat erforderlich gewesen wäre. Bejaht man dies, so war die Resolution mangels Zustimmung des Sicherheitsrates nicht geeignet, die "Quarantäne" zu rechtfertigen. Die Gegenmeinung, wonach der Sicherheitsrat die amerikanische Vorgehensweise im Ergebnis gebilligt haben soll, weil er es ablehnte, eine Resolution gegen sie zu verabschieden 377 , ist mit dem Wortlaut von Art. 53 nicht vereinbar und unhaltbar378 , denn Art. 53 setzt die Übereinstimmung aller Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats voraus, die bei der Sowjetunion nicht unterstellt werden kann. McDougals Bemerkung zu der Frage einer Rechtfertigung der Quarantäne durch die DAS-Resolution kann daher nicht überzeugen, weil zum 374 Chayes, Foreign Affairs Bd.41 (1962-63), S. 554; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 517; Wright, The Cuban Quarantine, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 9. 375 Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 39; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 189 f.; Wright. AJIL Bd. 57 (1963), S. 558 f. 376 Dafür: Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 227; Henkin. Comment, in: The Cuban Missile Crisis, Hrsg.: Chayes, S. 151; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 58, Rn. 35; Pirrone, The Use of Force, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 228; offenlassend: de Arechaga. RdC 1964/1, S. 496 f.; Wright. AJIL Bd. 57 (1963), S. 558 f. Dagegen haben sich ausgesprochen: Chayes, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 12; Kuhn, Das Problem des völkerrechtlichen Notstandes, S. 40 f.; Mahnke. Das Problem der Einheit der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 236; McHugh, Forcible Self-Help, in: U.S. Naval War College International Law Studies, Bd. 11, Hrsg.: Lillich/Moore, S. 141, Fußn. 5; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 521 f. 377 Chayes, Foreign Affairs Bd.42 (1962-63), S. 556; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 12 f.; Meeker, AJIL Bd. 57 (1963), S. 520 u. 522. 378 Akehurst, A Modern Introduction to International Law, S. 227; Bowett, Selfdefence in International Law, S. 183; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 497; Draper, Revue Egyptienne de Droit International Bd.20 (1964), S. 7; GoodrichiHambrol Simons, The Charter of the United Nations, S. 342; KelsenlTucker, Principles of International Law, S. 77 f., Fußn. 69; Kewenig, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 200; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht, S. 241.

Kapitel 11: Die Kuba-Blockade

203

einen die von ihm angeführten Kriterien der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit in Art. 53 der Charta nicht angeführt sind und er zum anderen auf die sich wirklich bei diesem Rechtfertigungsgrund stellenden Probleme nicht eingeht. bb) Sonstige Überlegungen Ein weiterer möglicher Rechtfertigungsgrund für das amerikanische Vorgehen, auf den McDougal nicht eingeht, ist die "pacific blockade". Die friedliche Blockade war ein im Völkergewohnheitsrecht des 19 . Jahrhundert anerkanntes Instrument, durch das ein Staat in Friedenszeiten mit militärischem Einsatz verhindern durfte, daß Schiffe in die Häfen eines anderen Staates einliefen 379 • Es ist aber fraglich, ob dieses Instrument heute noch geltendes Völkergewohnheitsrecht ist oder ob - was überzeugender ist - die "pacific blockade" unter das Verbot bewaffneter Repressalien fälle 8o • Selbst wenn man die "pacific blockade" aber für mit Art. 2 Abs. 4 der Charta vereinbar hielte, würde die "Quarantäne" nicht die Voraussetzungen einer solchen Blockade erfüllen, weil sie sich insbesondere gegen sowjetische Schiffe und damit gegen die Schiffe eines dritten, nicht blockierten Staates richtete 381 . Ferner gibt es verschiedenartige Versuche - auf die McDougal ebenfalls nicht eingeht -, die "Quarantäne" durch speziell auf diese Situation zugeschnittene Begründungen zu rechtfertigen. So wird z. B. argumentiert, daß Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta angesichts des "minimal, revocable, nondestructive, less-likely-to-escalate-character of the United States action" nicht verletzt sei 382 • Daneben gibt es vereinzelt Stimmen, die die KubaBlockade als Selbsthilfe 383 zu rechtfertigen versuchen. McDougal hält sich mit seiner Beschränkung auf die Prüfung des Selbstverteidigungsrechts im Rahmen der herrschenden Meinung in der Völkerrechtslehre, die zumindest Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 64, Rn. 13. Colombos, The International Law of the Sea, S. 469; de Arechaga, RdC 1964/1, S. 488; Kewenig, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 210; Nguyen/Daillier/Pellet, Droit International Public, S. 824 f.; Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 188; Weber, Pacific Blockade, in: EPIL Bd. 3, S. 52; Wrighr, AJIL Bd. 57 (1963), S. 556; wohl auch Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 64, Rn. 13. 381 Schwarzenberger, Current Legal Problems Bd. 17 (1964), S. 188; Wright, AJIL Bd. 57 (1963), S. 554. 382 Henkin, Force, Intervention and Neutrality, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 151; vgl. ferner de Arechaga, RdC 1964/1, S. 508; McHugh, Forcible Self-Help, in: U.S. Naval War College International Law Studies Bd. 11, Hrsg.: Lillich/Moore, S. 154 ff. 383 Klein, Selbstverteidigung, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 290. 379

380

204

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problernrlillen

seit der Verankerung des Gewaltverbots in der Charta der Vereinten Nationen gewaltsame Selbstschutz- oder Selbsthilfemaßnahmen, die keine Selbstverteidigung darstellen, als grundsätzlich völkerrechtswidrig ansieht 384 . e) McDougals Schlußwort

McDougals Bemerkung in seinem Schlußwort, daß "free people do not, as some have insisted, have to choose between the historic restraints of International Law and their own survival,.385, ist vermutlich gegen die von dem früheren amerikanischen Außenminister Dean Acheson vertretenen Thesen gerichtet. Dieser meinte in einer von der American Society of International Law veranstalteten Diskussion über die Kuba-Krise, daß das Völkerrecht für die Kuba-Krise nicht relevant sei: "I must conelude that the propriety of the Cuban quarantine is not a legal issue. The power, position and prestige of the United States had been challenged by another state; and law simply does not deal with such questions of ultimate power - power that comes elose to the sources of sovereignty. I cannot believe that there are principles of law that say we must accept destruction of our way of life. C... ) The survival of states is not a matter of law.,,386 Dieser These setzt McDougal völlig zutreffend entgegen, daß der Westen nicht zwischen den durch das Völkerrecht auferlegten Beschränkungen einerseits und seinem Überleben andererseits zu wählen brauche, denn das Völkerrecht zwinge den Westen nicht, seine Zerstörung passiv hinzunehmen. Auch die von Acheson aufgestellte Behauptung, das Völkerrecht sei großteils "a body of ethical distillation", der nicht mit Recht verwechselt werden dÜrfe 387 , wird von McDougal zurückgewiesen: "To suggest that there are today no community expectations about authority transcending state boundaries was to revert to the law of the jungle. ,,388

384 Bothe, Das Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaurnann, S. 23; Brownlie, BYIL Bd. 37 (1961), S. 222 f. u. 240; Bryde, Self-Defence, in: EPIL Bd. 4, S. 212 f. u. 214 ff.; GoodrichiHambrolSimons, Charter of the UN, S. 54; Henkin, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 167; Higgins, BYIL Bd. 37 (1961), S. 313 u. 315; lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 1 u. 10; Kelsenflucker, Principles of International Law, S. 78 f.; Partsch, Self-Preservation, in: EPIL Bd. 4, S. 217 ff.; RandelzhoJer, Use of Force, in: EPIL Bd. 4, S. 270 ff.; Schulze, Selbstverteidigung, in: Handbuch Vereinte Nationen, Hrsg.: Wolfrurn, S. 758 f.; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 678; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht, S. 287; Waldock, RdC 19521II, S. 461 f. 385 McDougal, AJIL Bd. 57 (1963), S. 604. 386 Acheson, Rernarks, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 14. 387 Acheson, Rernarks, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 14. 388 McDougal, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 15.

Kapitel III: Die Bombardierung Baghdads

205

Mit dieser Klarstellung in seinem Schlußwort grenzt McDougal sich begrüßenswerterweise von der Auffassung ab, wonach Konflikte, die "Überlebensinteressen" von Staaten berühren, nicht vom Völkerrecht, sondern ausschließlich von Machtgesichtspunkten beherrscht werden, die allen juristischen Überlegungen vorgehen. Auch derartige Situationen müssen vom Völkerrecht erfaßt werden, denn wenn das Völkerrecht überhaupt das Verhalten der Staaten beeinflussen soll, dann gerade in solchen gefahrlichen Krisensituationen. Ein Vorrang der "vital interests" der Supermächte vor dem Völkerrecht kann schon deshalb nicht anerkannt werden, weil eine Abgrenzung dieser Situationen von weniger überlebenswichtigen Situation unmöglich wäre. Dagegen weckt McDougals Begründung für seine Distanzierung von Achesons These Bedenken: Er meint, das Selbstverteidigungsrecht ließe sich so auslegen und sollte so ausgelegt werden, daß es den Interessen des Westens dient und ihn nicht gegenüber der Sowjetunion lähmt. In dieser Begründung klingt eine Manipulierbarkeit des Völkerrechts je nach dem angestrebten Ergebnis an, die mit einer Bindung an das Völkerrecht und mit Rechtssicherheit unvereinbar ist. McDougals Hinweis, die Sowjetunion habe "the principle of minimum order" nicht wirklich akzeptiert, weshalb der Westen das Selbstverteidigungsrecht weit auslegen solle, erweckt den Eindruck, als würde die Haltung der Sowjetunion die Bindung des Westens an das Gewaltverbot zwar nicht aufheben, aber jedenfalls lockern. Eine solche Auslegung von Art. 51 der Charta, die im Ergebnis bedeutet, daß ein Staat jede von ihm als notwendig und angemessen angesehene Gegenmaßnahme gegen eine von ihm bejahte Bedrohung seines Überlebens treffen dürfte, läuft Gefahr, das allgemeine Gewaltverbot aufzulösen, und ist daher abzulehnen 389 . Kapitel III

Die Bombardierung Baghdads 1. Einleitung und Sachverhalt

Der dritte Text, der hier untersucht werden soll, ist wesentlich neueren Datums als die beiden zuerst untersuchten Artikel und stammt von McDougals juristischem "Adoptivsohn", W. Michael Reisman: "The Raid on Baghdad: Some Reflections on its Lawfulness and Implications.,,39o 389 Vgl. KelsenlTucker. Principles of International Law, S. 79, Fußn. 70: "It is difficult to see any substantial difference between this view of self-defense and the older - and frankly political - doctrine of self-preservation. Professor McDougal confirms this conclusion in his remarks on the Cuban quarantine."

206

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

Anhand dieses Textes soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, ob sich in Reismans neueren Arbeiten die Charakteristika der New Haven School unverändert wiederfinden. Reismans Artikel befaßt sich mit der Bombardierung des Hauptquartiers des irakischen Geheimdienstes in Baghdad durch die USA am 26. Juni 1993 und damit wiederum mit einer Frage aus dem Umfeld des Gewaltverbotes, das das wichtigste Thema der einzelfallbezogenen Arbeiten der New Haven School darstellt. Da es sich bei der Bombardierung Baghdads um einen Vorfall handelt, dessen politische Bedeutung weit hinter der der amerikanischen Wasserstoffbombenversuche oder der Kuba-Blockade von 1962 zurückbleibt, findet sich dazu erheblich weniger Literatur391 . Nach dem Ende des Golfkriegs entdeckten die kuwaitischen Sicherheitsbehörden während des Besuchs des ehemaligen amerikanischen Präsidenten George Bush in Kuwait City Mitte April 1993 Hinweise auf ein geplantes Sprengstoffattentat auf Bush und verhinderten dessen Durchführung. Die Ermittlungen der kuwaitischen Behörden sowie von FBI und CIA ergaben, daß der irakische Geheimdienst in die Planung und die gescheiterte Durchführung des Attentats verwickelt war. Daraufhin feuerten am 26. Juni 1993 amerikanische Kriegsschiffe, die im Roten Meer und im Persischen Golf lagen, 23 "Tomahawk"-Raketen auf den Sitz des irakischen Geheimdienstes in Baghdad ab. 20 dieser Raketten zerstörten die Geheimdienstzentrale, die restlichen drei Raketen gingen fehl und schlugen in ein benachbartes Wohngebiet ein. Die Zahl der getöteten Zivilisten wird mit acht angegeben392 , die Zahl der Verletzten ist unklar393 . Die USA rechtfertigten ihr Vorgehen unter Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Präsident Clinton erklärte in einer Ansprache am Abend des Bombenangriffs: "The Iraqui attack against President Bush was an attack against our country and against all Americans. C.•• ) A firm and commensurate response was essential to protect our sovereignty.,,394 Auch die amerikanische Delegierte bei den Vereinten Nationen, Madeleine Albright, argumentierte bei der außerplanmäßigen Sitzung des Sicherheitsrates am 27. Juni 1993 mit dem Selbstverteidigungsrecht395 .

Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 120-133. Baker, Georgia Journal of Int. and Comp. Law Bd. 24 (1994), S. 99-104; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 135 f.; Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 120-122. 392 Baker, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd.24 (1994), S. 99; Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 121. 393 Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 135; Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 121 spricht von mindestens zwölf Verletzten. 394 Zitiert nach Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 121. 390

39\

Kapitel III: Die Bombardierung Baghdads

207

Die Reaktion der Staatengemeinschaft auf das amerikanische Vorgehen war sehr verhalten. Die Mitglieder des Sicherheitsrates unterstützten größtenteils das Vorgehen der USA mehr oder weniger ausdrücklich, wobei die fünf blockfreien Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates allerdings alle Staaten aufforderten, Gewaltanwendung zu vermeiden. Auch die anderen Staaten unterstützten ganz überwiegend das amerikanische Vorgehen oder äußerten zumindest Verständnis dafür angesichts der irakischen Unterstützung für den Terrorismus. Nur China und einige arabische Staaten stellten die Völkerrechtmäßigkeit der Bombardierung in Frage. In der Literatur gab es zwar Stimmen, die die Bombardierung Baghdads als völkerrechtswidrig ansahen 396 , aber insgesamt hielt sich die Völkerrechtslehre bedeckt.

2. Reismans Argumentation a) Theoretische Grundlagen

Reisman beginnt seine rechtlichen Darlegungen im Anschluß an eine kurze Sachverhaltswiedergabe mit allgemeinen Aussagen über die Prüfung der Völkerrechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens und über die Bedeutung, die einzelnen Vorfällen dabei zukommt. Dabei relativiert er gleich zu Beginn die Bedeutung abstrakter Völkerrechtsnormen für die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens: "If one believes, as I do, that law is not to be found exclusively in formal rules but in the shared expectations of politically relevant actors about what is substantively and procedurally right - which may diverge sharply from the written rules - then aprerequisite for appraisal of the lawfulness and implications of an incident such as the Baghdad raid is an identification of the yardstick of lawfulness actually being used by relevant actors. ,,397 Reisman stellt seiner eigenen Vorgehensweise, die für die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer konkreten Handlung auf den von den Staaten tatsächlich aktuell benutzten "yardstick of lawfulness" abstellt, als Gegensatz die klassische Vorgehensweise gegenüber, bei der konkrete Handlungen an abstrakten Normen gemessen werden. Diese Vorgehensweise hält er für fragwürdig und die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Bom395 Baker, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 24 (1994), S. 99 f.; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 135; Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 121. 396 Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 135 ff.; Jenkins, Hollywood Morality Gone Mad, in: Times (London) vom 30. Juni 1993, S. 18 sowie Ratner/Lobel, Bombing Baghdad, Revisited; Lawful Self-Defense or Unlawful Reprisal?, in: Conn. L. Trib. vom 19. Juli 1993, S. 24 (beide zitiert nach Baker, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 24 (1994), S. 112, Fußn. 71). 397 Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 122.

208

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

bardierung Baghdads für schwierig, denn "many of the norms contain ambiguities and the validity of others is uncertain,,398. Hier zeigt sich wieder die große Skepsis der New Haven School gegenüber Normen: Es kann nach Reismans Auffassung nicht einfach vorausgesetzt werden, daß "formal rules" gelten und auf den Streitfall anwendbar sind, vielmehr müsse immer hinterfragt werden, ob derartige Normen den im internationalen Geschehen tatsächlich angewandten Maßstab der Völkerrechtmäßigkeit wiedergeben. Es kommt also nach Reismans Meinung weit weniger auf schriftlich festgelegte Völkerrechtsnormen als auf die tatsächlich aktuell von wesentlichen Staaten gehegten Auffassungen an. Diese schlußfolgert er aus den Reaktionen der Staaten auf den jeweiligen Vorfall: Wenn die Staatengemeinschaft das Vorgehen eines Staates unterstützt bzw. zumindest nicht dagegen protestiert, dann war es nach dem tatsächlich angewandten Maßstab und damit insgesamt rechtmäßig. Bereits die Überschrift des Artikels ("The Raid on Baghdad: Some Reflections on its Lawfulness and Implications") weist darauf hin, daß Reisman nicht nur die Frage der Rechtmäßigkeit dieses konkreten Vorfalls interessiert, sondern auch die aus diesem Vorfall zu ziehenden Folgerungen. Nach Reismans Meinung beinhaltet die klassische Vorgehensweise nur eine Aussage zur Rechtmäßigkeit der jeweiligen konkreten Handlung und ist daher "a pure statement of the law,,399, das bloß von akademischen Interesse sei, während seine eigene Methode sich darüberhinaus auch mit den Auswirkungen internationaler Vorfälle befasse. Die Frage nach den Konsequenzen hält er für wesentlicher als die nach der Rechtmäßigkeit: "Over and above the question of whether a particular action is lawful is the larger constitutive question of the implications for the international system of continued reliance on unilateral action,,4oo. Es geht ihm bei der Frage nach den Konsequenzen also darum, ob eine aus der amerikanischen Bombardierung Baghdads abgeleitete allgemeine Völkerrechtsregel zweckmäßig, d. h. zur Erreichung der Ziele einer "world public order" geeignet wäre. Reisman legt in dem Artikel zur Bombardierung Baghdads kurz zu sammengefaßt seine Auffassung zur Bedeutung von "incidents" dar, die er in seinem zusammen mit A. R. Willard herausgegebenen Werk "International Incidents: The Law that Counts in World Politics" von 1985 entwickelt hat401 . Er meint, daß international relevante Vorfalle eine wesentliche Rolle bei dem Prozeß der Entstehung neuen bzw. der Veränderung bisherigen Völkerrechts spielen: "It is ( ... ) not one particular instrument but the com398 399 400 401

Reisman, EJIL Bd. Reisman, EJIL Bd. Reisman, EJIL Bd. Siehe oben Teil A,

5 (1994), S. 122. 5 (1994), S. 122. 5 (1994), S. 124. Kap. II, Abschn. 2 a bb).

Kapitel II1: Die Bombardierung Baghdads

209

plex process of decision of international politics that makes and changes international law. Incidents like the Baghdad raid play no small part in this process. It is precisely for this reason that they should be scrutinized, as are formal legislative proposals, for their comparative contribution to the fulfilment of the common interests of the world community.,,402 Dabei sieht Reisman die Wirkung von Vorfällen darin, daß sie die Erwartungen der Staaten über die Rechtmäßigkeit bestimmter Verhaltensweisen bestätigen oder verändern und damit eventuell selbst neues Völkerrecht schaffen könnten: "In this approach, incidents, like the Baghdad raid, themselves may contribute to establishing the metric of lawfulness in a particular context. Regardless of whether or not a specific incident has this kind of constitutive impact, all incidents may confirm, adjust, or terminate expectations about lawfulness theretofore held, or indicate that the expectations are in various ways more complex, nuanced or contingent than the ,black letter' rule formulations they may approximate.,,403 Das Völkerrecht bestehe überwiegend aus diesen Rechtmäßigkeitserwartungen: "The normative expectations that political analysts infer from events are the substance of much of contemporary international law.,,404 Ein "incident" wird also anders als nach der traditionellen Völkerrechtsauffassung - nicht bloß als Einzelfall gesehen, der zunächst keine Rückwirkung auf die allgemeine Norm hat, sondern eher als "Keimzelle" des Völkerrechts, das durch solche Vorfälle entsteht, verändert oder bestätigt wird. Reisman betont die Veränderbarkeit des Rechts: "There is nothing iniquitous about a claim to change a part of the legal regime. Life changes and all of the institutions of society must adjust. Claims to revise legal arrangements are commonplace. ,,405 Über die Voraussetzungen für eine Veränderung von Völkergewohnheitsrecht äußert er sich wie folgt: "Customary law, by its nature, is revised by a general acquiescence in a state's purposive current behaviour that violates some prior norm. That acquiescence should, ideally, be based on an opinio juris that the proposed changes promise to better serve the common interest in a new context than would the norms they are supplanting. ,,406 Reisman schließt seine theoretische Einleitung mit folgender Bemerkung ab: "This approach also demonstrates again and again what I take to be a fundamental jurisprudential postulate: that there may be great differences 402 403 404

S.5.

405 406 14 Voos

Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 133. Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 123. Reisman, International Incidents, in: Reisman/Willard, International Incidents, Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 13l. Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 131.

210

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

between the right legal ans wer in abstracto and the right legal decision in concreto. ,,407 Damit stellt er die These auf, daß ein konkretes Verhalten eines Staates völkerrechts widrig im Sinne eines Widerspruchs zu einer abstrakten Völkerrechts norm, aber trotzdem in Anbetracht der Umstände dieses konkreten Einzelfalls rechtmäßig sein kann. In einem Artikel von 1984 zur Auslegung von Art. 2 Abs. 4 der Charta führte Reisman bereits ausdrücklich aus, daß er es für letztlich nicht so wichtig hält, ob ein zu untersuchendes Vorgehen eines Staates mit einer Völkerrechtsnorm übereinstimmt: "One should not seek point-for-point conformity to a rule without constant regard for the policy or principle that animated its prescription, and with appropriate regard for the factual constellation in the minds of the drafters.,,408 Er begründet diese These utilitaristisch: "Norms are instruments devised by human beings to precipitate desired social consequences.,,409 Insgesamt betont Reisman also statt der Bindung an geltende Völkerrechtsnormen die Bedeutung der von den Normen zu erfüllenden Zwecke und der Umstände des jeweiligen konkreten Vorfalls. b) Abgrenzung von Selbstverteidigung und Repressalie

Reisman sieht gemäß der Theorie der New Haven School in der amerikanischen Bombardierung Baghdads die Geltendmachung eines Anspruchs durch die USA: "The Baghdad raid signifies the continuing claim of the major international political actor, the Uni ted States, to initiate unilateral coercive action in circumstances in which it alone decides that such action is lawful and appropriate.,,410 Dabei fällt auf, daß Reisman nur allgemein von "coercive action" spricht, nicht dagegen speziell von Zwangsausübung durch Gewaltanwendung. Da aber die von ihm angeführten Zitate zur amerikanischen Außenpolitik alle die Anwendung militärischer Gewalt betreffen und er die allgemeinen Vorschriften über Gewaltanwendung für einschlägig erklärt, ist davon auszugehen, daß Reisman mit "unilateral coercive action" nur einseitige gewaltsame Zwangsmaßnahmen meint. Im folgenden versucht Reisman nachzuweisen, daß der von ihm behauptete "claim" der USA auf ein Recht auf einseitige Gewaltanwendung potentiell völkerrechtmäßig sei. Dazu meint er, daß die USA selbst von der Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs überzeugt seien und ihn seit einiger Zeit unverändert erheben würden 411 . Anschließend behauptet Reisman, daß einseitige Zwangsmaßnahmen nicht schon an sich völkerrechtswidrig seien, 407 408 409 410 411

Reisman, Reisman, Reisman, Reisman, Reisman,

EJIL Bd. 5 (1994), S. 123. AJIL Bd. 78 (1984), S. 644. AJIL Bd. 78 (1984), S. 644. EJIL Bd. 5 (1994), S. 123. EJIL Bd. 5 (1994), S. 123 f.

Kapitel III: Die Bombardierung Baghdads

211

sondern es auf den Einzelfall ankomme: "Because all unilateral coercive action in international law is not per se unlawful, the lawfulness vel non of a particular coercive unilateral action must be appraised in terms of the general criteria about the lawful use of force. ,,412 Die Tatsache, daß die Bombardierung Baghdads auf keinen Widerstand der internationalen Staatengemeischaft gestoßen sei, bestätige ihre "potential lawfulness" und damit die potentielle Völkerrechtmäßigkeit der einseitigen Anwendung militärischer Gewalt413 . Da Reisman, wie er weiter oben ausgeführt hat, die Völkerrechtmäßigkeit der Bombardierung an dem tatsächlich von den wesentlichen Akteuren benutzten Maßstab der Rechtmäßigkeit messen will, stellt für ihn der fehlende Protest der anderen Staaten nicht nur ein Indiz für die Völkerrechtmäßigkeit dar, sondern bereits die halbe Antwort. Die andere Hälfte der Antwort erfordert laut Reisman eine Prüfung der "implications for the international system of continued reliance on unilateral action,,414, d. h., er will untersuchen, ob die Zulässigkeit einseitiger Gewaltanwendung durch Staaten ein für die internationale Gemeinschaft sinnvolles allgemeines Rechtsprinzip wäre. Grundsätzlich hält er einseitige Vorgehensweisen für weniger wünschenswert als kollektive Maßnahmen, weil letztere "more economical and less destructive" seien415 . Außerdem werde die Auswahl von Fällen, in denen sich ein Staat einseitig engagiere, stark durch seine nationalen Interessen beeinflußt, weshalb er sich möglicherweise in Fällen, die zwar wesentliche internationale Interessen aber kaum nationale Interessen berührten, nicht einschalte. Zugunsten der Zweckmäßigkeit einseitiger Maßnahmen führt Reisman dagegen an, daß die Möglichkeit einseitiger Gewaltanwendung einen passiven Sicherheitsrat dazu bringen könne, seine Kompetenzen auszuüben; außerdem seien einseitige Maßnahmen immer noch besser als Tatenlosigkeit. Reisman kommt daher zu dem Ergebnis, daß einseitige Zwangsmaßnahmen das kleinere Übel sind: "So, like Churchill's quip about democracy, unilateral action in contemporary world politics is probably the worst practical option (and often the only one) ... except for all the others.,,416 Er hält demnach die einseitige Anwendung militärischer Gewalt gegenüber einem anderen Staat für potentiell völkerrechtmäßig. Nach Reismans Auffassung hängt die Rechtmäßigkeit einseitiger Gewaltanwendung im Einzelfall wesentlich von ihrer rechtlichen Einordnung ab 417 . Die Bombardierung Baghdads sei in Wahrheit wohl kein Akt der 412 Reisman, S. 97 f. 413 Reisman, 414 Reisman. 415 Reisman. 416 Reisman,

14"

EJlL Bd.5 (1994), S. 124; ähnlich ders., AJlL Bd.87 (1993), EJlL EJlL EJlL EJIL

Bd. Bd. Bd. Bd.

5 5 5 5

(1994), (1994), (1994), (1994),

S. S. S. S.

125. 124. 124 f. 125.

212

Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

Selbstverteidigung gewesen, sondern eine Repressalie: "Despite the fact that the Uni ted States sought to characterize the Baghdad raid as an act of self-defence, the raid fits at least as comfortably, if not more so, under the classic rubric of reprisal. ,,418 Es sei durchaus üblich, Maßnahmen, die tatsächlich Repressalien seien, als Selbstverteidigung zu charakterisieren, denn als Repressalien wären einseitige Zwangsmaßnahmen unter Einsatz militärischer Gewalt auch nach der offiziellen Position der USA völkerrechtswidrig 419 . Nachdem Reisman die vorherrschende Auffassung von der Völkerrechtswidrigkeit bewaffneter Repressalien beschrieben hat, geht er daran, sie zu erschüttern. Dafür beruft er sich zunächst auf das Urteil des amerikanischfranzösischen Schiedsgerichts im "Air Services Agreement"-Fall, in dem es über die Rechtmäßigkeit von Repressalien heißt: "If a situation arises which, in one State's view, results in a violation of an international obligation by another State, the first State is entitled, within the limits set by the general rules of international law pertaining to the use of armed force, to affirm its rights through ,counter-measures,.,,420 Weiter führt er die Arbeiten der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen zur StaatenverantwortliChkeit an, die einen "fairly permissive view" des Gebrauchs von "counter-measures" enthielten421 . Als von der Völkerrechtskommission herausgearbeitete Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit von "counter-measures" erwähnt Reisman dabei nur, daß sie "in response to an internationally wrongful act of another State" sein müßten und erst erfolgen dürften "after that State refuses to comply with interim measures of protection,,422. Das Schiedsgerichtsurteil und die Arbeiten der Völkerrechtskommission bestätigen nach Reismans Aufassung, daß der Begriff der Repressalien unter dem Deckmantel der "counter-measures" wiederauflebe423 . Als weitere Belege für diese These führt Reisman aus dem Bereich des Kriegsvölkerrechts Art. 50 des IV. Haager Abkommens von 1907 und das Protokoll I von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 an, weil sie nur den zulässigen Umfang und die Ziele von Repressalien regelten, diese aber nicht grundsätzlich untersagten424 . Ferner erwähnt Reisman das "Restatement (Third) Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 125. Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 125. 419 Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 125 f. 420 Case Conceming the Air Services Agreement of 27 March 1946 between the Uni ted States of America and France, in: Reports of International Arbitral A wards Bd. 8, S. 417 (443). 421 Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 127, Fußn. 21. 422 Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 127, Fußn. 21. 423 Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 127. 424 Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 128. 417 418

Kapitel III: Die Bombardierung Baghdads

213

of Foreign Relations Law" des American Law Institute, das ebenfalls "counter-measures" für unter bestimmten Voraussetzungen völkerrechtmäßig erkläre. Auf die Frage der Zulässigkeit bewaffneter Repressalien geht Reisman erst ganz am Ende dieses Abschnitts ausdrücklich ein. Er führt die Einschränkung an, die das American Law Institute im Hinblick auf die Zulässigkeit von Repressalien macht, wonach bewaffnete Repressalien dem Gewaltverbot der Charta unterliegen - die entsprechende Einschränkung in Art. 34 des Entwurfs der Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortlichkeit erwähnt er dagegen nicht - und meint dazu: "That, of course, neatly begs the question. A strict interpretation of the Charter would, according to many scholars, preclude any unilateral use of force other than acts in self-defence within the meaning of Article 51 of the United Nations Charter. Even to explore the contingencies, conditions and restrictions on such unilateral uses of force is to acknowledge that they may sometimes be lawful.,,425 Damit wendet sich Reisman gegen die Auffassung, daß bewaffnete Repressalien per se völkerrechtswidrig seien, weil sie unter das Gewaltverbot fallen. Seiner Meinung nach läßt sich die Frage der Zulässigkeit bewaffneter Repressalien also nicht einfach durch Verweis auf Art. 2 Abs. 4 der Charta beantworten, sondern dafür seien andere Kriterien erforderlich. Auf die Frage, nach welchen Kriterien sich die Zulässigkeit bewaffneter Repressalien bestimmen soll, sowie auf die Frage, ob die Bombardierung Baghdads durch amerikanische Kampfschiffe diesen Kriterien entsprach, geht Reisman im weiteren Artikel ebensowenig ein wie auf die Frage, ob die amerikanische Bombardierung Baghdads als Selbstverteidigung gerechtfertigt werden kann. In den folgenden drei Abschnitten untersucht Reisman statt dessen die Konsequenzen der Vorgehensweise der USA für das Kriegsvölkerrecht, für das Verbot der Ermordung fremder Staatsoberhäupter sowie im Hinblick auf die Verfolgung von Nebenzielen. Trotz fehlender eindeutiger Aussagen weckt Reismans Stellungnahme den Eindruck, daß er die Bombardierung Baghdads als eine rechtmäßige bewaffnete Repressalie ansieht, da er ausschließlich Argumente gegen ein allgemeines Verbot bewaffneter Repressalien anführt. Auch die in der Einleitung von Reisman aufgestellte These, daß die richtige juristische Antwort in einem konkreten Fall von der abstrakt aufgrund schriftlicher Völkerrechtsnormen richtigen Antwort erheblich abweichen kann, sowie seine Darlegung der verhaltenen Reaktion der Staatengemeinschaft lassen darauf schließen, daß Reisman sich zwar bewußt ist, daß das amerikanische Vorgehen an sich gegen das Verbot bewaffneter Repressalien verstieß, er es 425

Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 129.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

aber trotzdem für rechtmäßig hält. Obwohl Reisman nur von der potentiellen Völkerrechtmäßigkeit der Bombardierung Baghdads spricht, läßt das Fehlen von Argumenten gegen die Rechtmäßigkeit nur den Schluß zu, daß er die Bombardierung als völkerrechtmäßig ansieht. c) Kriegsvölkerrecht

Reisman vertritt die These, daß die Bombardierung Baghdads das Kriegsvölkerrecht geändert haben könnte. Dazu führt er aus: "Until now (... ) the international legal criteria of proportionality and necessity have implied the selection, by the attacker, of the most discriminating weapon in its arsenal for the military task at hand ...426 Die bisher geltende Rechtslage werde durch die Bombardierung Baghdads in Frage gestellt: "The Baghdad raid represents, implicitly, one more claim to revise this part of the law of arrned conflict by inserting a new corollary: the initiating state should use the most discriminating weapon that exposes its forces to the lowest probability of casualty...427 Als Argument für eine solche Rechtsänderung führt Reisman die Überlegung an, daß industrielle Demokratien möglicherweise derartige bewaffnete Zwangsmaßnahmen zur Erreichung begrenzter politischer Ziele überhaupt nur durchführen könnten, wenn ihre eigenen Verluste an Soldaten möglichst gering seien. Demokratien würden über die Auswahl bestimmter Waffen bei militärischen Einsätzen weniger aufgrund militärischer Überlegungen als aufgrund politischer Faktoren innerhalb ihres Staates entscheiden. Da die Unterstützung für einen Militäreinsatz umgekehrt proportional zu den erlittenen Verlusten sei, neigten Demokratien dazu, ihre Waffen danach auszusuchen, daß sie ihre eigenen Soldaten möglichst wenig in Gefahr brächten, auch wenn sie eventuell im angegriffenen Staat mehr unbeabsichtigte Schäden verursachten428 • Im Ergebnis läßt Reisman offen, ob eine Rechtsänderung in der von ihm dargelegten Richtung sinnvoll wäre und ob sich das Völkerrecht tatsächlich in diese Richtung verändert hat.

d) Verbot der Ermordung fremder Staatsoberhäupter Reisman sieht eine positive Folge der Bombardierung Baghdads darin, daß sie die schwere Völkerrechts widrigkeit eines Versuchs, ein fremdes Staatsoberhaupt zu ennorden, bestätigt habe429 . Eine solche Bestätigung sei 426

427 428

429

Reisman, Reisman, Reisman, Reisman,

EJIL EJIL EJIL EJIL

Bd. Bd. Bd. Bd.

5 (1994), 5 (1994), 5 (1994), 5 (1994),

S. S. S. S.

130. 130 f. 129 f. 132.

Kapitel I1I: Die Bombardierung Baghdads

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auch notwendig gewesen, da diese Völkerrechtsnorm "some discernible erosion" erlitten habe; als Beleg dafür führt er das Verhalten der USA im Hinblick auf Muammar el-Qaddafi, Manuel Noriega und Mohamed Farah Aidid an 430 . Reisman hält das Verbot, fremde Staatsoberhäupter zu ermorden, für notwendig und meint, daß die USA sich über die "public order implications" von Verstößen dagegen im klaren sein sollten431 . e) Botschaft an Nordkorea

Zum Schluß des Artikels untersucht Reisman, ob zur Rechtfertigung der Bombardierung Baghdads auch berücksichtigt werden könne, daß die USA mit der Wahl des Zeitpunktes für den Angriff auf die Zentrale des irakisehen Geheimdienstes möglicherweise als Nebenziel beabsichtigten, Nordkorea zum Einlenken in Hinblick auf die International Atomic Energy Agency zu bewegen432 . Reisman läßt offen, ob solche Nebenmotive trotz des Protokolls I zu den Genfer Konventionen, das die Einbeziehung von "extra-arena effect of factors" auszuschließen scheine, berücksichtigt werden sollten. Er stellt allerdings klar, daß ein bestimmtes Regelwerk nicht allein das geltende Völkerrecht beinhalte, sondern der ganze Entscheidungsprozeß berücksichtigt werden müsse433 . 3. Kritik von Reismans Artikel a) Theoretische Grundlagen

Auf Reismans allgemeines Verständnis des Rechts und seine Aussagen über die Bedeutung von Normen soll hier nicht eingegangen werden, weil sie den Thesen der New Haven School entsprechen, die erst im folgenden Teil einer kritischen Würdigung unterzogen werden sollen. Hier soll daher nur auf Reismans Darlegungen zur Bedeutung von "incidents", zur Notwendigkeit der Prüfung ihrer "implications" sowie zum Unterschied zwischen der abstrakt und der konkret richtigen juristischen Entscheidung eingegangen werden. Die von Reisman entwickelte "incidents"-Lehre, auf die er im vorliegenden Artikel kurz eingeht, behandelt die Entstehung und Abänderung von Völkerrecht durch konkrete Vorfälle, also im Sinne der klassischen Theorie insbesondere die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht. Sein Konzept 430 431 432 433

Reisman, Reisman, Reisman, Reisman,

EJIL EJIL EJIL EJIL

Bd. Bd. Bd. Bd.

5 5 5 5

(1994), (1994), (1994), (1994),

S. S. S. S.

131 f. 132. 132 f. 133.

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Teil B: Studien der New Haven Schoo1 zu konkreten Problemfällen

mißt konkreten Einzelfällen eine erheblich größere und abstrakten Normen eine erheblich geringere Rolle zu als die klassische Völkerrechtslehre. Zwar tragen auch nach der herkömmlichen· Auffassung konkrete Vorfälle von internationaler Relevanz über das Element der Staatenpraxis zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht bei und können das bis dahin geltende Völkerrecht - sogar das in völkerrechtlichen Verträgen schriftlich festgelegte Recht - abändern 434 . Der entscheidende Unterschied liegt aber darin, daß die klassische Völkerrechts auffassung ein Verhalten von Staaten, das einer Völkerrechtsnorm widerspricht, zunächst nur als völkerrechtswidrig ansieht und nicht als Keim neuen Völkergewohnheitsrechts, wohingegen Reisman derartiges Verhalten gleich als Beleg für eine möglicherweise erfolgte Änderung der bisher geltenden Norm ansieht. Die klassische Völkerrechtstheorie fordert für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht grundsätzlich eine allgemeine Übung, die eine gewisse Dauer, Einheitlichkeit und Verbreitung aufweisen muß, sowie die Überzeugung der Staaten, daß es sich bei dieser Staatenpraxis um geltendes Völkerrecht handelt435 . Wenn konkrete Vorfälle gegen geltendes Völkerrecht verstoßen, entsteht dadurch nach der traditionellen Auffassung nicht automatisch neues Völkergewohnheitsrecht, sondern dieses Verhalten ist zunächst ein Völkerrechtsbruch und erst, wenn eine längere, allgemein befolgte Staatenpraxis sowie die opinio iuris bezüglich einer neuen Norm vorliegen, wird eine Änderung des Völkerrechts bejaht436 . Reisman stellt dagegen erheblich geringere Anforderungen an die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht: Nach seiner Theorie kann auch das Verhalten einzelner Staaten bei einzelnen konkreten Vorfällen das Völkerrecht modifizieren, sofern es den tatsächlich von den "relevant actors" benutzten Rechtmäßigkeitsmaßstab verändert437 . Wer die "relevant actors" sind, deren Zustimmung zu einem bestimmten Verhalten das bis dahin geltende Völkerrecht abändern soll, sagt Reisman nicht. Er ist der Meinung, daß Völkergewohnheitsrecht durch die "general acquiescence" der Staatengemeinschaft bezüglich eines dem bisher geltenden Völkerrecht widersprechenden VerSeidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 485. Art. 38 I b) des IGH-Statuts. Vgl. ferner: Urteil des IGH im North Sea Continental Shelf Case, in: ICJ Reports 1969, S. 4 (43); Graf Vitzthum, in: Völkerrecht, Hrsg.: Graf Vitzthum, 1. Abschnitt Rn. 132 ff.; lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 16 Rn. 2 f.; OppenheimlLauterpacht, International Law, S. 26 f.; Rousseau, Droit International Public, S. 78 ff.; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 467; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 351 u. 358. 436 DahmlDelbrücklWolfrum, Völkerrecht, Bd. l/l, S. 59; lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 16 Rn. 10; Kunig, in: Völkerrecht, Hrsg.: Graf Vitzthum, 2. Abschnitt Rn. 137; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 477 f.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 362 u. 364. 437 Ähnlich Baker, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 24 (1994), S. 115. 434 435

Kapitel II1: Die Bombardierung Baghdads

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haltens geändert werden kann, wobei zwar idealerweise auch opinio iuris vorliegt, diese aber entbehrlich ist. Der "yardstick of lawfulness actually being used by relevant actors" kann nicht mit der opinio iuris der klassischen Völkerrechts theorie gleichgesetzt werden, da letztere die Überzeugung beinhaltet, daß es sich um geltendes, bindendes Völkerrecht handelt, während der tatsächlich benutzte Rechtmäßigkeitsmaßstab nur aus dem mangelnden Protest gegen ein bestimmtes Verhalten abgeleitet wird. Zugespitzt formuliert scheint Reisman der Auffassung zu sein, daß ein bestimmtes mehrmaliges Verhalten eines Staates bei wenigen konkreten Vorfällen geltendes Völkerrecht abändert, wenn kein "wesentlicher" Staat dagegen protestiert. Aus dieser Perspektive wirkt ein Verstoß gegen geltendes Völkerrecht vor allem als Beleg für die Entstehung einer neuen Völkerrechtsnorm. Das Verhalten eines einzelnen Staates - und sei er auch eine Weltmacht - kann jedoch keinesfalls eine allgemeine Übung ersetzen, weil sonst ein Staat einseitig durch Rechtsverstöße das für alle Staaten geltende Völkerrecht abändern könnte438 • Für den Nachweis einer Änderung des Völkerrechts bzw. der Entstehung neuen Völkergewohnheitsrechts genügt es jedenfalls nicht - wie Reisman es tut - das Verhalten eines einzigen Staates in mehreren konkreten Situationen und dessen eigene Überzeugung, rechtmäßig gehandelt zu haben, anzuführen. Erforderlich ist vielmehr eine von allen betroffenen Völkerrechtssubjekten einheitlich über eine gewisse Zeit befolgte Übung, bei denen die Staaten davon überzeugt sind, daß es sich dabei um verbindliches Recht handelt. Die opinio iuris der Staatengemeinschaft ist entgegen Reismans Auffassung zwingend erforderlich, da ein bloß faktisches Verhalten keine Rechtsbindungswirkung begründen kann. Auch der Hinweis darauf, daß die Konsequenzen einer vorgeschlagenen neuen Völkerrechtsnorm für die "world order" positiv wären, ändert nichts an der Fortgeltung des bisherigen Völkerrechts, denn dabei handelt es sich nur um ein Argument dafür, daß eine solche neue Norm de lege ferenda wünschenswert wäre. Die Überzeugung eines Staates, daß eine bestimmte Völkerrechtsnorm sinnvoll wäre, kann nicht die allgemeine Überzeugung der Staatengemeinschaft ersetzen, daß diese Norm Recht darstellt, also daß die Verpflichtung besteht, sich der Norm entsprechend zu verhalten. Reisman ist zwar darin zuzustimmen, daß konkrete tatsächliche Vorfälle von völkerrechtlicher Relevanz nicht isoliert betrachtet werden sollten, sondern es sinnvoll ist, zu fragen, welche Konsequenzen es für die internatio438 DahmlDelbrücklWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 59; Graf Vitzthum, in: Völkerrecht, Hrsg.: Graf Vitzthum, 1. Abschnitt Rn. 134; Ipsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 16 Rn. 6 u. 10 f.; Schachter, AJIL Bd. 78 (1984), S. 650.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

nale Rechtsordnung hätte, wenn eine allgemeine Völkerrechtsnorm derartiges Verhalten von Staaten sanktionieren würde. Man darf aber das Ergebnis, daß eine entsprechende Änderung des Völkerrechts sinnvoll wäre, nicht mit der rechtlichen Geltung einer neuen Völkerrechtsnorm verwechseln. Im übrigen würde wahrscheinlich oft keine Einigkeit darüber bestehen, ob eine bestimmte neue Regelung zweckmäßiger ist als die bisher geltende Völkerrechtsnorm439 , so daß auch der Grundsatz der Rechtssicherheit eine ausschließliche Orientierung an der Zweckmäßigkeit verbietet. Reismans Abstellen auf den tatsächlich angewandten Maßstab der Rechtmäßigkeit statt auf "formal rules" ist differenziert zu beurteilen: Einerseits kommt es natürlich zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Verhaltensweise auf das aktuell geltende Völkerrecht an, nicht auf inzwischen obsolet gewordene Normen. Andererseits ist aber die Rechtsüberzeugung der anderen Staaten entscheidend und ihre Reaktion auf einen Vorfall ist nur ein Indiz für diese Rechtsüberzeugung, das mit der opinio iuris nicht gleichgesetzt werden kann44o • Ein gegen das Völkerrecht verstoßendes Verhalten eines Staates ist auch dann völkerrechtswidrig, wenn die anderen Staaten dagegen nicht oder kaum protestieren, sofern das Fehlen von Protest nicht auf der Überzeugung beruht, daß das Verhalten rechtmäßig war, sondern z. B. politische Gründe hatte. Die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens bestimmt sich grundsätzlich nach den geltenden Normen, nicht nach der Reaktion der anderen Staaten darauf. Reismans Argumentation stellt daher die allgemeine Bindungswirkung des Völkerrechts in Frage. Die Rolle der Völkerrechtsgelehrten kann nicht sein, nur das Verhalten der Staaten nachzuzeichnen und jedes Verhalten als rechtmäßig zu akzeptieren, dem die Staatengemeinschaft nicht widerspricht44 ). Reismans Auffassung, daß die Rechtmäßigkeitsprüfung nur von akademischem Interesse ist, kann nicht geteilt werden. Die Beantwortung der Frage, ob ein Verhalten einen Völkerrechtsbruch darstellt, ist vielmehr eine zentrale Aufgabe der Völkerrechtslehre. Auch wenn bisher überwiegend bei einem Völkerrechtsbruch keine Sanktionen verhängt werden, so ist es den Staaten im übrigen auch keineswegs gleichgültig, ob ihr Vorgehen als völkerrechtswidrig beurteilt wird. Reismans These, daß zwischen der abstrakt richtigen juristischen Entscheidung und der im konkreten Einzelfall richtigen Entscheidung ein erheblicher Unterschied bestehen kann, kann daher nicht geteilt werden. 439 Vgl. z. B. Schachter, AJIL Bd. 78 (1984), S. 649 f. zur Zweckmäßigkeit des von Reisman vorgeschlagenen Rechts der Staaten zum Sturz fremder Regierungen, die nicht dem Willen des Volkes entsprechen. 440 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 355 u. 357. 441 Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 141 u. 143.

Kapitel III: Die Bombardierung Baghdads

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Aufgrund der Bindungswirkung geltender Völkerrechtsnormen ist das Verhalten eines Staates in einem konkreten Einzelfall, das gegen diese Normen verstößt, auch dann völkerrechtswidrig, wenn das Verhalten politisch betrachtet richtig war. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichheit der Staaten muß die abstrakte Völkerrechtsnorm in jedem konkreten Einzelfall die Frage der Rechtmäßigkeit bestimmen und dürfen nicht die Besonderheiten des Einzelfalls ausschlaggebend sein. Sofern die besonderen Umstände eines konkreten Falls nicht unter eine Völkerrechtsnorm, insbesondere einen Rechtfertigungsgrund, subsumierbar sind, sind sie grundsätzlich unbeachtlich; gerade Völkerrechtsnormen sind in der Regel ausreichend weit, um die Berücksichtigung der relevanten Umstände zu ermöglichen.

b) Die allgemeine Rechtmäßigkeit von "unilateral coercive action" aa) Die Rechtmäßigkeit des "continuing claim" der USA Reisman belegt seine These, wonach die USA beständig den "claim" erhoben hätten "to initiate unilateral coercive action in circumstances in which it alone decides that such action is lawful and appropriate", nur spärlich. Die Geltendmachung eines solchen Anspruchs leitet er aus allgemeinen politischen Absichtserklärungen ab, die das Problem betreffen, wann der Einsatz von Gewalt oder einseitiges Vorgehen der USA zweckmäßig sind. Da keines der angeführten Zitate etwas über die Einschätzung der Rechtslage aussagt, können sie nicht als Beleg für den von Reisman behaupteten "claim" der USA angesehen werden. Auch wenn die USA ihr Verhalten bei der Bombardierung Baghdads ebenso wie frühere Fälle einseitiger Gewaltanwendung - z. B. in Panama oder Grenada - für völkerrechtmäßig hielten, folgt daraus nicht notwendigerweise, daß sie den von Reisman behaupteten, sehr weitgehenden "claim" erhoben, da sie jeweils versuchten, die Gewaltanwendung auf anerkannte Rechtfertigungsgründe des Völkerrechts zu stützen.

In seiner Diskussion der Frage, ob ein solcher "claim" mit dem Völkerrecht vereinbar wäre, stellt Reisman die Einseitigkeit des Vorgehens als das Problem dar; das wirklich Problematische an dem angeblichen "claim" der USA wäre aber die Anwendung von Gewalt. Dadurch, daß Reisman fast ausschließlich von "coercive action" spricht, nur ganz selten dagegen von "use of force" - obwohl es ausschließlich darum geht - verschleiert er den Unterschied zwischen Zwang und militärischer Gewalt442 und damit zwischen friedlichen und bewaffneten Repressalien. Nach Art. 2 Abs. 4 der Charta ist grundSätzlich jede Form der einseitigen Anwendung militärischer Gewalt verboten und kann nur ausnahmsweise

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

gerechtfertigt sein, so daß Reismans These, daß gewaltsame Zwangsmaßnahmen nicht per se rechtswidrig seien, sehr fragwürdig ist. Statt aber auf das Rechtsproblem einzugehen, ob Art. 51 der Charta die einzige völkerrechtmäßige Form der einseitigen Gewaltausübung durch einen Staat darstellt oder ob es noch mehr Ausnahmen vom Gewaltverbot gibt, untersucht Reisman, welche Konsequenzen für das internationale System die "potential lawfulness of unilateral coercion" hätte. Zwar sind die Überlegungen, die Reisman dabei zur Zweckmäßigkeit einseitiger Gewaltanwendung anstellt, durchaus zutreffend, sie sind aber unvollständig. So geht er beispielsweise nicht darauf ein, daß im Fall eines völkerrechtlichen Delikts bewaffnete Repressalien nicht die einzige mögliche Reaktion sind, sondern dem in seinen Rechten verletzten Staat auch die Möglichkeit friedlicher Repressalien, diplomatischen Drucks etc. verbleibt443 . Ferner erwähnt Reisman nicht das Problem, daß bewaffnete Repressalien tendenziell zusätzliche Gewalt verursachen 444. Reisman ist darin zuzustimmen, daß die einseitige Anwendung von Gewalt durch Staaten im heutigen Zustand des Völkerrechts - auch nach dem Ende des Kalten Krieges - in manchen Situationen unverzichtbar ist. Diese Feststellung beantwortet aber nicht die entscheidende Frage, unter welchen Voraussetzungen einseitige Gewaltanwendung zulässig sein soll. Reisman beschränkt seine Ausführungen offensichtlich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht als den einzigen Fall, in dem die einseitige Anwendung von Gewalt unstreitig zulässig ist. Soweit Reisman versucht, von der Rechtmäßigkeit der Selbstverteidigung auf die Rechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien zu schließen445 , verwischt er die wesentliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Rechtfertigungsgründen und übergeht die eigentliche Frage446. Damit distanziert sich Reisman nicht eindeutig von dem von ihm behaupteten Anspruch der USA auf einseitige Gewaltanwendung, wann immer sie diese für notwendig halten. Ein so weitgehender Anspruch würde aber die Bindung der USA an das allgemeine Gewaltverbot praktisch aufheben und wäre daher für die internationale Rechtsordnung nicht tragbar. 442 Vgl. dazu z. B. Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 1784; Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 17; Zoller, Peacetime Unilateral Remedies, S. 71. 443 Vgl. Barsotti, Armed Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 101; Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 17 f. 444 Vgl. Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 32; Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 53. 445 Dieselbe Argumentation findet sich auch in Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S.643. 446 So auch Schachter, AJIL Bd. 78 (1984), S. 646.

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bb) Völkerrechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien Reisman Darlegungen zur Frage der Zu lässigkeit bewaffneter Repressalien, die auf die These hinauslaufen, daß bewaffnete Repressalien unter Umständen völkerrechtmäßig sein können, ist nach Inhalt und Argumentationsweise nicht überzeugend. Zwar stellt er zunächst zutreffend fest, daß die Vereinten Nationen und der Internationale Gerichtshof, aber auch die Vereinigten Staaten selbst, bewaffnete Repressalien beständig als völkerrechtswidrig angesehen haben. Dann aber behauptet Reisman unter Berufung auf den Schiedsspruch im amerikanisch-französichen Konflikt über das "Air Services Agreement", auf die von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen erarbeiteten "Draft Articles on State Responsibility" sowie auf das dritte Restatement des American Law Institute eine Wiederbelebung des Konzepts der bewaffneten Repressalien. Auch wenn es zutrifft, daß der Begriff der "counter-measures" sich im wesentlichen mit dem älteren Begriff der Repressalien deckt und daß das Konzept der Repressalien unter diesem neuen Begriff wieder verstärkt diskutiert wird, so ist doch der von Reisman gezogene Schluß, nämlich die fortschreitende Anerkennung der Völkerrechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien, unzutreffend. Der o. a. Schiedsspruch kann nicht als Beleg für die Zulässigkeit bewaffneter Repressalien angesehen werden, da er eine friedliche Repressalie betraf. Ferner stellte das Schiedsgericht ausdrücklich klar (wie Reisman selbst zitiert), daß das Recht auf das Ergreifen von "counter-measures" nur "within the limits set by the general rules of International Law pertaining to the use of force" besteht447 • Auch Art. 34 der "Draft Articles on State Responsibility" der Völkerrechtskommission bestätigt das Verbot von Repressalien unter Anwendung militärischer Gewalt, indem er die Anwendung von Gewalt als Gegenmaßnahme nur unter den Voraussetzungen einer Selbstverteidigungssituation als gerechtfertigt ansieht448 • Das American Law Institute hat ebenfalls nur die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Repressalien ohne Gewaltanwendung näher untersucht, bewaffnete Repressalien dagegen gleich als völkerrechtswidrig aus den weiteren Betrachtungen ausgeschlossen449 • Reismans Argumentation, wonach jede Untersuchung der Voraussetzungen und Beschränkungen von Repressalien die potentielle Rechtmäßigkeit 447 Case Concerning the Air Services Agreement of 27 March 1946 between the United States of America and France, in: Reports of International Arbitral Awards Bd. 8, S. 417 (443). 448 YBILC 1980 Bd. 1112, S. 30 ff. und Kommentar der Völkerrechtskommission zu Art. 34, YBILC 1980 Bd.lIl2, S. 53; vgl. Malanczuk. ZaöRV Bd.43 (1983), S.740. 449 Restatement (Third) of Foreign Relations Law of the USo sec. 905 (1987).

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einseitiger Gewaltanwendung bestätige, vennag nicht zu überzeugen. Die grundsätzliche Zulässigkeit friedlicher Repressalien belegt nicht, daß auch gewaltsame "counter-measures" zulässig sind. Vielmehr folgt aus der Geltung des Gewaltverbotes als allgemeines Prinzip des Völkerrechts, von dem Ausnahmen nur im Rahmen anerkannter, klar umgrenzter Ausnahmetatbestände zulässig sind, daß bewaffnete Repressalien völkerrechtswidrig sind. Der Verweis des American Law Institutes auf Art. 2 Abs. 4 der Charta umgeht daher nicht - wie Reisman behauptet - die Frage, unter welchen Voraussetzungen Repressalien zulässig sind, sondern beantwortet sie für Repressalien unter Anwendung von Gewalt zutreffend dahingehend, daß diese grundsätzlich verboten sind. Als weiteren Beleg für die Zulässigkeit bewaffneter Repressalien führt Reisman Vorschriften des Kriegsvölkerrechts an, die Repressalien gegen Zivilisten bzw. gegen bestimmte Objekte verbieten. Zutreffend stellt Reisman fest, daß diese Nonnen nur den Umfang von Repressalien regeln, nicht aber bewaffnete Repressalien als solche verbieten. Er übersieht dabei jedoch, daß das IV. Haager Abkommen von 1907 und das Protokoll I von 1977 zu den Genfer Abkommen als Nonnen des humanitären Völkerrechts nur im Fall des Krieges bzw. eines bewaffneten Konflikts anwendbar sind. Diese Nonnen regeln nicht die Frage, ob bewaffnete Repressalien in Friedenszeiten zulässig sind und sie können darauf auch nicht analog angewandt werden, weil die Sachverhalte völlig unterschiedlich sind. Die Trennung von Friedensvölkerrecht einerseits und Kriegsvölkerrecht andererseits ist trotz aller Abgrenzungsschwierigkeiten allgemein anerkannt und notwendig45o . Im Ergebnis versucht Reisman, aus der grundsätzlichen Zulässigkeit friedlicher Repressalien sowie aus der Zulässigkeit bewaffneter Repressalien im Krieg abzuleiten, daß auch bewaffnete Repressalien in Friedenszeiten rechtmäßig sein können, ohne aber diese Analogieversuche offenzulegen oder Argumente für sie anzuführen. Stattdessen setzt er sich über die Unterscheidungen zwischen bewaffneten und friedlichen Repressalien sowie zwischen Kriegs- und Friedensvölkerrecht hinweg, ohne klare neue Konzepte an ihre Stelle zu setzen. Die herrschende Meinung in der Völkerrechtsliteratur hält Repressalien unter Anwendung militärischer Gewalt für durch Art. 2 Abs. 4 der Charta verboten und daher völkerrechtswidrig451 . Es gibt allerdings seit einiger 450 Vgl. Ipsen-Ipsen. Völkerrecht, § 68, Rn. 9; Malanczuk. ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 724; Partsch, Reprisals, in: EPIL Bd. 9, S. 331 u. 333; Steinkamm, Repressalie, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 259 f.; kritisch aber Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 84. 451 Barsotti, Armed Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 79, 94 u. 102; Beyerlin. ZaöRV Bd. 37 (1977), S. 239,

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Zeit eine Mindermeinung, die insbesondere von amerikanischen Professoren vertreten wird, die das prinzipielle Verbot bewaffneter Repressalien in Frage stellt452 . Entscheidend für die Zulässigkeit bewaffneter Repressalien ist die übergeordnete Frage, ob Art. 2 Abs. 4 der Charta absolut gilt und Art. 51 sowie kollektive Maßnahmen des Sicherheitsrats die einzigen Ausnahmen davon darstellen, oder ob es daneben noch andere Rechtfertigungsgründe für die einseitige Anwendung von Gewalt gibt453 • Reisman geht in dem Artikel zur Bombardierung Baghdads auf die Debatte in der Literatur über die Zulässigkeit bewaffneter Repressalien und die dabei vorgebrachten Argumente nicht ein. Daher soll hier auf einen Artikel von 1984 zurückgegriffen werden, in dem Reisman ein Recht der Staaten auf Gewaltanwendung zum Zweck des Sturzes einer tyrannischen, politisch nicht vom Volk legitimierten Regierung eines anderen Staates bejaht und dabei zur Frage des Gewaltverbotes dieselbe Position vertritt wie im vorliegenden Artikel: "If some unilateral coercions are effectively treated as legitimate, the challenge to contemporary lawyers is not to engage in automatie indiscriminate denunciations of unilateral resorts to coercion by states as violations of Article 2 (4). They must begin to develop a set of criteria for appraising the lawfulness of unilateral resorts to Fußn. 117; Bothe, Das Gewaltverbot im allgemeinen, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 22 f.; Brownlie, Principles of Public International Law, S. 466; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 136; Dahm, Das Verbot der Gewaltanwendung, in: FS Rudolf Laum, S. 54; Higgins, The Development of International Law, S. 216 f.; lpsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 48; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 60; Kewenig, Gewaltverbot und noch zulässige Machteinwirkung, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 184 u. 211 f.; Malanczuk, ZaöRV Bd.43 (1983), S. 725; Partsch, Reprisals, in: EPIL Bd. 9, S. 332; Reed, VJIL Bd. 29 (1988), S. 177; Simma-RandelzhoJer, Charta der Vereinten Nationen - Kommentar, Art. 51, Rn. 14; Simma-Tomuschat, Charta der Vereinten Nationen - Kommentar, Art. 2 Ziff. 3, Rn. 28; Steinkamm, Repressalie, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 259; Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 15 ff.; Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigung, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 156; Zemanek, ZaöRV Bd. 47 (1987), S. 38. 452 Doehring, ZaöRV Bd. 47 (1987), S. 52 f.; Falk, AJIL Bd. 63 (1969), S. 430; Friedlander, Israel Yearbook on Human Rights Bd. 8 (1978), S. 73 u. 77; Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 58 f. und 63; Hargrove, AJIL Bd. 81 (1987), S. 139; McHugh, Forcible Self-Help in International Law, in: US Naval War College International Law Studies, Hrsg.: Lillich/Moore, Bd. 11, S. 148 f. u. 151; O'Brien, VJIL Bd. 30 (1990), S. 475; Oppermann, Das Verbot der Gewaltanwendung, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 131; Stone, Aggression and World Order, S. 94 ff.; ders., Foreign Affairs Bd. 39 (1960/61), S. 554 f.; Tucker, AJIL Bd. 66 (1972), S. 594; ähnlich Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 1 f. und 10 f.; O'Connell, International Law, Bd. 1, S. 303 f.; Zoller, Peacetime Unilateral Remedies, S. 39 f. u. 44. 453 Tomuschat, Europa-Archiv Bd. 36 (1981), S. 330.

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coercion. ,,454 Reisman spricht sich für eine Betrachtung der Konsequenzen der Gewaltanwendung im Einzelfall aus: "Coercion should not be glorified, but it is naive and indeed subversive of public order to insist that it never be used, for coercion is a ubiquitous feature of all social life and a characteristic and indispensable component of law. The critical question in a decentralized system is not whether coercion has been applied, but whether it has been applied in support of or against community order and basic policies, and whether it was applied in ways whose net consequences include increased congruence with community goals and minimum order,,455. In diesem Artikel bringt Reisman als Argument für die Zulässigkeit einseitiger Gewaltanwendung durch Staaten in bestimmten Fällen hauptsächlich vor, daß das Versagen des durch die Charta errichteten Systems der kollektiven Sicherheit das Verbot der gewaltsamen Selbsthilfe durch Art. 2 Abs. 4 der Charta im Ergebnis aufhebe 456 . Dieses auf das mangelnde Funktionieren des UNO-Systems gestützte Argument hat viele Anhänger gefunden 457 . Ferner vertritt Reisman hier die Auffassung, daß die Staatenpraxis seit Gründung der Vereinten Nationen dem Verbot einseitiger Gewaltanwendung widerspreche: "Within 5 years of the creation of the Organization, a pattern, to be reflected thereafter, was established according to which unilateral violations of Article 2 (4) might be condemned but to all intents and purposes validated"458; dabei sieht er die Bestätigung derartiger Gewaltanwendung durch die Staatengemeinschaft bereits darin, daß - abgesehen von verbalen Verurteilungen - nicht gegen sie vorgegangen worden sei. Gegen die auch von Reisman vertretene Auffassung, jedenfalls bis zum Ende des Kalten Krieges habe das Versagen des Systems kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen zu einer Abschwächung der Bindung der Staaten an das Gewaltverbot geführt, spricht dogmatisch, daß für die Anwendung der clausula rebus sie stantibus eine nicht vorhergesehene, erhebliche Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S. 643. Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S. 645. 456 Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S. 643. 457 Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 2; Falk, AJIL Bd. 63 (1969), S. 427 u. 430, inbes. Fußn. 39 auf S. 430; Friedlander, Israel Yearbook on Human Rights Bd. 8 (1978), S. 77; McHugh, Forcible Self-Help, in: V.S. Naval War College International Law Studies, Hrsg.: Lillich/Moore, Bd. 11, S. 140 u. 148; O'Brien, VJIL Bd. 30 (1990), S. 470; ähnlich Partseh, Reprisals, in: EPIL Bd. 9, S. 332 f.; Stone, Aggression and World Order, S. 96 u. 98 f.; ders., Foreign Affairs Bd.39 (1960/61), S. 556; vgl. auch Hai/bronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 49 ff.; Tomuschat, Europa-Archiv Bd. 36 (1981), S. 326 u. 332 ff.; Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 26. 458 Reisman, AJIL Bd. 78 (1984), S. 643; ähnlich Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. I f. und 10 f. 454 455

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Veränderung der Umstände erfolgt sein muß 459 . Diese Voraussetzung ist aber im Hinblick auf das Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 nicht gegeben, denn den Schöpfern der Charta war durchaus bewußt, daß die Funktionstüchtigkeit des Systems kollektiver Sicherheit fraglich war460 . Der IGH hat im "Corfu Channel"-Fall von 1949 ausdrücklich bestätigt, daß Schwächen der internationalen Organisation keine Entschuldigung für bewaffnete Selbsthilfe darstellen461 . Auch das von Reisman in seinem Artikel von 1984 angeführte Argument, daß die Häufigkeit bewaffneter Repressalien seit 1945 die Gültigkeit ihres Verbots in Frage stelle, vermag nicht zu überzeugen. Grundsätzlich stellen Verstöße gegen eine Norm ihre Geltung nicht in Frage, außer wenn sie von der Staatengemeinschaft als einer neuen Völkerrechtsnorm entsprechend anerkannt werden 462 • Im Hinblick auf das Gewaltverbot liegt keine Änderung dieser Norm durch entgegenstehendes neues Völkergewohnheitsrecht vor, denn es hat sich weder eine allgemeine Übung der Staaten gebildet, da eindeutig als bewaffnete Repressalien zu klassifizierende Fälle selten waren463 , noch besteht eine entsprechende Rechtsüberzeugung der Staaten, denn' die Staaten, die bewaffnete Repressalien vornahmen, beriefen sich zur Rechtfertigung ihres Vorgehens in der Regel auf das Selbstverteidigungsrecht464 . Reismans Behauptung, daß Verstöße gegen das Gewaltverbot, die nur verbal verurteilt wurden, damit "to all intents and purposes va1idated" wurden, ist nicht haltbar, denn aus dem Fehlen weitergehender Sanktionen kann keine Bestätigung des Verstoßes als rechtmäßig 459 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 123, Fußn. I; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 384. 460 VgJ. Barsotti, Arrned Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 98; Benrwich/Martin, A Commentary on the Charter of the UN, S. 106; Beyerlin, ZaöRV Bd. 37 (1977), S. 223; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 123; Malanczuk, ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 729; Tomuschat, Europa-Archiv Bd. 36 (1981), S. 326. 461 The Corfu Channel Case (Merits), ICJ Reports 1949, S. 4 (35). 462 Der IGH hat das im Nicaragua-Urteil im Hinblick auf Artikel 2 Abs. 4 der Charta ausdrücklich bestätigt: Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, in: ICJ Reports 1986/1, S. 4 (98). 463 Barsotti, Arrned Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 90; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57 Rn. 27; ähnlich Wengier, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, S. 27. 464 Barsotti, Arrned Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 91 f.; Hai/bronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 61; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57 Rn. 27; Kewenig, Gewaltverbot, in: Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Hrsg.: Schaumann, S. 184; Malanczuk, ZaöRV Bd.43 (1983), S. 728. VgJ. z. B. Leich, AJIL Bd. 80 (1986), S. 632 ff. zum amerikanischen Bombenangriff auf Libyen im Jahre 1986. 15 Voos

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abgeleitet werden465 • Die Staatengemeinschaft und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben das Verbot bewaffneter Repressalien stets bestätigt466 . . Reisman läßt bei seiner These von der potentiellen Rechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien außer acht, daß das allgemeine Gewaltverbot ius cogens darstellt467 . Rechtspolitisch gesehen wäre eine Aufhebung des Verbots bewaffneter Repressalien in Friedenszeiten extrem gefährlich468 , auch wenn Ausnahmesituationen denkbar sind, in denen einseitige bewaffnete Maßnahmen nicht als vorwerfbar erscheinen. Im übrigen wäre völlig unklar, unter welchen Voraussetzungen bewaffnete Repressalien zulässig sein sollten, wenn das allgemeine Verbot derartiger Repressalien nicht mehr gelten würde. Reismans Vorschlag, als Kriterium auf die "goal values" der internationalen Gemeinschaft abzustellen, trägt wenig zur Klärung bei. Insgesamt ist daher Reismans These von der potentiellen Rechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien abzulehnen. c) Rechtmäßigkeit der Bombardierung Baghdads

Die Bombardierung Baghdads war als Gewaltanwendung im Sinne von Art. 2 Abs. 4 der Charta grundsätzlich völkerrechtswidrig; sie könnte jedoch als Repressalie oder als Selbstverteidigungsmaßnahme gerechtfertigt sein. Nach ganz herrschender Meinung haben diese bei den Rechtfertigungsgründe unterschiedliche Voraussetzungen, weshalb sich auch dann, wenn man Reismans Meinung über die potentielle Rechtmäßigkeit bewaffneter Repressalien folgen würde, die Frage nach der rechtlichen Einordnung der Bombardierung Baghdads stellt469 • Überwiegend wird für die Unterscheidung zwischen bewaffneten Repressalien einerseits und Selbstverteidigung andererseits auf die Natur und vor allem auf das Ziel der Maßnahme abgestellt47o . Durch SelbstverteidigungsSchachter, AJIL Bd. 78 (1984), S. 646 f. Barsotti, Arrned Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 92; Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 21; Goodrich/Hambro/Simons, Charter of the UN, S. 346 ff.; Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, S. 58; Higgins, The Development of International Law, S. 217 f.; Partsch, Self-Preservation, in: EPIL Bd. 4, S. 218. 467 Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 22; Condorelli, EJIL Bd.5 (1994), S. 142; Schachter, AJIL Bd. 78 (1984), S. 648; Zemanek, ZaöRV Bd. 47 (1987), S. 38 f. 468 So auch Barsotti, Arrned Reprisals, in: The Current Legal Regulation of the Use of Force, Hrsg.: Cassese, S. 102; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 141. 469 Eine Minderrneinung lehnt allerdings die Unterscheidung zwischen Repressalien und Selbstverteidigungs maßnahmen als unmöglich ab: O'Brien, VJIL Bd. 30 (1990), S. 475; Tucker, AJIL Bd.66 (1972), S. 589 ff.; zweifelnd auch Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 3 u. 11. 465

466

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maßnahmen wird rein defensiv versucht, einen bevorstehenden oder gegenwärtigen Angriffsakt abzuwehren, während Repressalien gegen eine bereits vergangene oder noch gegenwärtige Rechtsverletzung - die aber kein Angriff sein muß - gerichtet sind und in der Regel den anderen Staat zu künftigem völkerrechtmäßigen Verhalten zwingen oder (bzw. und) Wiedergutmachung sowie Rückgängigmachung des Völkerrechtsdeliktes erreichen wollen 471 . Der amerikanische Bombenangriff auf Baghdad vom 26. Juni 1993 ist anhand dieser Unterscheidungskriterien - entgegen der offiziellen amerikanischen Position - rechtlich als Repressalie zu charakterisieren472 . Davon abgesehen, daß ein Bombenattentat auf eine Person keinen militärischen Angriff gegen einen Staat darstellt, spricht für diese Einordnung zum einen der Zeitpunkt der Aktion, die gut zwei Monate nach dem geplanten Attentat auf den Ex-Präsidenten Bush erfolgte. Zum anderen war das Ziel der Aktion, wie sich aus den offiziellen Stellungnahmen der USA ablesen läßt473 , den Irak zu bestrafen und seine Fähigkeit zur Durchführung weiterer Terrorakte zu beschneiden. Damit entsprach der Bombenangriff auf Baghdad dem Bild bewaffneter Repressalien, so daß Reismans Charakterisierung dieser Aktion zuzustimmen ist. Die Tendenz von Reismans Artikel läßt deutlich auf eine Bejahung der Rechtmäßigkeit des amerikanischen Bombenangriffs auf Baghdad schließen. Dabei legt Reisman nicht dar, welche Voraussetzungen eine Repressalie generell erfüllen muß, um rechtmäßig zu sein474 , und ob für bewaffnete 470 Bleckmann, FS Schlochauer, S. 200 f.; Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 3; ders., Self-Defence in International Law, S. 13; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 136; Zemanek, ZaöRV Bd. 47 (1987), S. 35. 471 Bowett, AJIL Bd. 66 (1972), S. 3; Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 136 f.; Doehring, ZaöRV Bd.47 (1987), S. 52; Ipsen-Fischer, Völkerrecht, § 57, Rn. 45; Partsch, Reprisals, in: EPIL Bd. 9, S. 335; Schwarzenberger, RdC 1955/11, S. 343; Steinkamm, Repressalie, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 259; Tomuschat, ZaöRV Bd. 33 (1973), S. 186; Zemanek, ZaöRV Bd.47 (1987), S. 35; vgl. den Schiedsspruch im "Naulilaa"-Fall von 1928, Recueil des Decisions des Tribunaux Arbitraux Mixtes instititues par les Traites de Paix Bd. 8 (1928-29), S. 422 ff. 472 So auch Condorelli, EJIL Bd. 5 (1994), S. 136 f. Dafür spricht auch, daß der vergleichbare amerikanische Bombenangriff auf Libyen von 1986 überwiegend als bewaffnete Repressalie angesehen wurde; vgl. Baker, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 24 (1994), S. 101 u. 113 f.; O'Brien, VJIL Bd. 30 (1990), S. 473 f. 473 Vgl. die Stellungnahmen von Präsident Clinton und der amerikanischen Delegierten bei den Vereinten Nationen, Madeleine Albright, zit. bei Condorelli, EJIL Bd.5 (1994), S. 137. 474 Vgl. dazu z. B. Doehring, ZaöRV Bd.47 (1987), S. 44 ff.; Malanczuk, ZaöRV Bd. 43 (1983), S. 725 ff.; Partsch, Reprisals, in: EPIL Bd. 9, S. 331 ff.; Steinkamm, Repressalie, in: Lexikon des Rechts - Völkerrecht, S. 259 f.; Tucker, AJIL Bd. 66 (1972), S. 592 f.

15-

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Repressalien spezielle Voraussetzungen gelten475 ; erst recht prüft er nicht, ob die Bombardierung Baghdads diesen Voraussetzungen entsprach. Folgt man dagegen der herrschenden Meinung, daß bewaffnete Repressalien verboten sind, ergibt sich aus der Qualifikation der Bombardierung Baghdads als Repressalie unter Gewaltanwendung ohne weiteres die Völkerrechtswidrigkeit des amerikanischen Vorgehens. Im übrigen ist Reismans Darstellung der Reaktion der Staatengemeinschaft auf die Bombardierung Baghdads insofern nicht ganz zutreffend, als sie den Eindruck erweckt, daß die Äußerungen Großbritanniens und Rußlands, wonach die Bombardierung eine gerechtfertigte Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gewesen sei, der allgemeinen Ansicht im Westen entsprach 476 . Die meisten Staaten äußerten sich aber nicht zur Frage des Rechtfertigungsgrundes, sondern erklärten nur ihr Verständnis für das amerikanische Vorgehen angesichts der irakisehen Unterstützung des Terrorismus477 • Den Staaten, die nicht gegen das amerikanische Vorgehen protestiert haben, kann nicht ohne weiteres die Rechtsüberzeugung unterstellt werden, daß die Bombardierung Baghdads als Selbstverteidigung oder als bewaffnete Repressalie gerechtfertigt war; vielmehr kommen auch Gründe politischer Zweckmäßigkeit in Frage. Im übrigen unterschätzt Reisman die Bedeutung der arabischen Staaten und Chinas, wenn er deren Kritik am amerikanischen Vorgehen für so irrelevant hält, daß er von "the absence (... ) of significant disapproval by politically relevant actors" spricht478 • Der dem Bombenangriff auf Baghdad vergleichbare amerikanische Bombenangriff auf Lybien vom April 1986 wurde von den meisten Staaten als völkerrechtswidrig verurteilt, wenn auch eine entsprechende Resolution des Sicherheitsrates am Veto der westlichen Staaten scheiterte479 • d) Kriegsvölkerrecht

Reismans These, daß der Bombenangriff auf Baghdad einen "claim" für eine Revision des Kriegsvölkerrechts dahingehend beinhaltet habe, daß der angreifende Staat "the most discriminating weapon that exposes its forces to the Lowest probability of casuaLty" benutzen solle, weist zunächst darauf hin, daß seiner Auffassung nach der amerikanische Bombenangriff auf Baghdad gegen das bisher geltende Kriegsvölkerrecht verstieß. Reisman 475 Vgl. dazu Bowett. AJlL Bd. 66 (1972), S. 26 ff.; Falk. AJlL Bd. 63 (1969). S. 440 ff. 476 Vgl. Reisman. EJIL Bd. 5 (1994), S. 122. 477 Vgl. Condorelli. EJIL Bd. 5 (1994), S. 139 f. 478 Reisman. EJlL Bd. 5 (1994), S. 125. 479 Vgl. Baker. Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 24 (1994), S. 101 u. 104 ff.; Leich. AJIL Bd. 80 (1986), S. 632.

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sagt das aber nur indirekt, indem er die bisherige Rechtslage darstellt und dann betont, daß Rechtsänderungen etwas Alltägliches seien48o • Es würde zu weit führen, hier näher zu untersuchen, ob die Wahl von "Cruise"-Raketen für den Angriff auf Baghdad wegen der damit verbundenen Gefahr für Zivilisten gegen das Kriegsvölkerrecht verstießen, weil die USA über Waffen verfügten, die die Verletzung oder Tötung von Zivilisten sicherer vermieden hätten. Hier interessiert vielmehr Reismans Argumentationsweise: Er geht nur auf die Praxis der USA ein und läßt die Frage der opinio iuris der Staatengemeinschaft ganz außen vor. Ferner beantwortet er nicht, ob sich das Kriegsvölkerrecht entsprechend dem von ihm behaupteten "claim" der USA verändert hat, sondern verweist stattdessen auf die Notwendigkeit der Prüfung der Konsequenzen einer solchen Rechtsänderung. Diese Vorgehensweise zeigt, daß Reisman an die Entstehung neuen Völkergewohnheitsrechts geringere Anforderungen stellt als die traditionelle Völkerrechtstheorie im Hinblick auf Dauer und Allgemeinheit der Übung; statt auf die opinio iuris stellt er auf die Zweckmäßigkeit einer möglichen Rechtsänderung ab. Das von Reisman vorgebrachte Argument, warum die Sicherheit der angreifenden Soldaten höher bewertet werden sollte als die der gefahrdeten Zivilbevölkerung, ist rein utilaristisch. Es ist jedoch nicht möglich, aus der - hier als richtig unterstellten - Tatsache, daß in Demokratien die Unterstützung begrenzter Einsätze militärischer Gewalt durch die öffentliche Meinung bei Verlusten an eigenen Soldaten schwindet, abzuleiten, daß eine Rechtspflicht besteht, die Sicherheit der Soldaten über die der gefahrdeten Zivilbevölkerung zu stellen. Diese Argumentation versucht von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. Im übrigen würde die vorgeschlagene Rechtsänderung eines der Hauptziele des Kriegsvölkerrechts, nämlich den Schutz der Zivilbevölkerung, gefährden und wäre daher auch rechtspolitisch abzulehnen. e) Verbot der Ermordung fremder Staatsoberhäupter und Berücksichtigung von Nebenzielen

Reismans deutliche Unterstützung des völkerrechtlichen Verbots der Ermordung fremder Staatsoberhäupter ist sehr zu begrüßen. Insbesondere fällt hier positiv auf, daß er sich offen kritisch zu amerikanischen Aktionen der letzten Jahre äußert, die dazu tendierten, sich über diese Norm hinwegzusetzen. Reismans den Artikel abschließende Ausführungen zu der Frage, ob für die Rechtfertigung einer Maßnahme auch Nebenziele und -auswirkungen 480

Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 130 f.

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berücksichtigt weden dürfen, können dagegen nicht überzeugen. Es wirkt abwegig, eventuell vorhandene untergeordnete politische Ziele der handelnden Regierung bei der Prüfung, ob eine unmittelbar auf ein anderes Ziel gerichtete Vorgehensweise rechtmäßig ist, zu berücksichtigen. Selbst wenn die USA durch den Bombenangriff auf Baghdad zugleich Nordkorea beeindrucken wollten, ist nicht ersichtlich, wie dieses Nebenziel für die Frage der Rechtmäßigkeit des amerikanischen Vorgehens von Bedeutung sein könnte. f) Zusammenfassung Bei Reismans Artikel zur amerikanischen Bombardierung von Baghdad handelt es sich in vielerlei Hinsicht um einen typischen Text eines Vertreters der New Haven Schoo!. Die theoretischen Überlegungen, die Reisman der Rechtmäßigkeitsprüfung voranstellt und die über den Artikel verstreut immer wieder aufgegriffen werden, entsprechen theoretischen Grundaussagen dieser Schule, beispielsweise die Definition des Rechts als "shared expectations of politically relevant actors about wh at is substantively and procedurally right" und als "complex process of decision of international politics", aber auch die Betonung der Veränderbarkeit des Rechts sowie der Normskeptizismus. Letzterer zeigt sich bei Reisman in mehrfacher Hinsicht: Er betont die Mehrdeutigkeit von Normen und hält es für notwendig, jeweils ihre Anwendbarkeit und Gültigkeit für den konkreten Fall zu prüfen. Ferner sieht er nicht die schriftlich niedergelegten "formal rules" sondern den tatsächlich von den internationalen Entscheidungsträgem angewandten Maßstab der Rechtmäßigkeit als entscheidend an; damit stellt Reisman die - nach der klassischen Völkerrechtstheorie bestehende - strikte Bindung der Staaten an geltende Völkerrechtsnormen in Frage. Typisch für die Schule von New Haven ist auch Reismans Betonung der Umstände des konkreten Einzelfalls durch seine Grundthese, daß die konkret richtige juristische Entscheidung von der abstrakt richtigen Entscheidung erheblich abweichen könne. Statt die genauen Voraussetzungen der allgemeinen, auf diesen Einzelfall anwendbaren Normen zu untersuchen, konzentriert er sich auf die Besonderheiten des Einzelfalls und versucht an vielen Stellen seines Artikels, den Bombenangriff auf Baghdad in seinen politischen Kontext zu stellen481 . Reismans These von den "incidents" als den Ereignissen, die das bis dahin geltende Recht bestätigen oder verändern, ist eine logische Fortentwicklung der Lehre der New Haven Schoo!. Reisman verwendet zumindest teilweise die für diese Schule typische soziologisch geprägte Terminologie wie z. B. "rules,,482, "extra-arena impli481

Vgl. Reisman, EJIL Bd. 5 (1994), S. 123 f., 129 f., l31 f.

Kapitel III: Die Bombardierung Baghdads

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cations,,483, "constitutive impact"484, "actors,,485 und "elites,,486. Auch die Einordnung des Verhaltens der USA als "claim"487 entspricht der Theorie dieser Schule. Ebenfalls charakteristisch für einen der Schule von New Haven entstammenden Text ist die Einbeziehung soziologischer Erkenntnisse durch den Verweis auf die Art der Entscheidungsfindung in industrialisierten Demokratien und auf die Entwicklung der öffentlichen Meinung bei militärischen Aktionen488 . Ferner ist es typisch für die New Haven School, daß Reisman sich ausführlich mit der Zweckmäßigkeit einer möglichen Rechtsänderung befaßt. Seine Untersuchung der langfristigen Konsequenzen des Bombenangriffs auf Baghdad zeigt, daß er das Völkerrecht ebenso wie McDougal und Lasswell utilitaristisch als Instrument zur Verwirklichung sozialer Ziele sieht. Die Ziele, die seiner Meinung nach eine Rechtsänderung zu verwirklichen helfen sollte, sind die der New Haven School: "world order,,489 oder "public order,,490 und "common interest"491, wobei allerdings auffällt, daß Reisman das übergeordnete Ziel der "human dignity" nicht erwähnt. Untypisch für einen Vertreter der Schule von New Haven ist dagegen der Aufbau von Reismans Artikel, der weder den von dieser Schule aufgestellten Kategorien noch dem Schema der traditionellen Rechtmäßigkeitsprüfung durch Subsumtion unter Normen entspricht, sondern lose an einen Fall angelehnte Überlegungen widergibt. Auch daß Reisman die meisten Fragen offenläßt oder ein Ergebnis nur andeutet, unterscheidet seinen Artikel von McDougals Arbeiten, die in der Regel sehr meinungsfreudig und entschieden sind. Reismans Text ist erheblich allgemeinverständlicher geschrieben als die beiden untersuchten Artikel von McDougal, insbesondere als der Artikel zu den Wasserstoffbombenversuchen; er will offensichtlich auch von Lesern verstanden werden, die die Theorie der New Haven School nicht näher kennen. Anders als bei McDougal ist Reismans Stil kaum polemisch und der ganze Artikel wirkt weniger ideologisch geprägt. Außerdem setzt Reismans Artikel sich dadurch von den meisten Texten der New Haven School ab, daß er sich kritisch zur Vorgehensweise der USA äußert, z. B. im Hinblick 482 483 484 48S 486 487 488 489

490 49\

Reisman. Reisman. Reisman. Reisman. Reisman, Reisman. Reisman. Reisman. Reisman. Reisman.

EJIL EJIL EJIL EJIL EJIL EJIL EJIL EJIL EJIL EJIL

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

5 5 5 5 5 5 5 5 5 5

(1994), (1994), (1994), (1994), (1994), (1994), (1994), (1994), (1994), (1994).

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

122. 133. 123. 122. 129. 123 u. 130 f. 129 f. 129. 132. 131.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

auf die Wahl der eingesetzten Waffen und hinsichtlich der Charakterisierung der Bombardierung Baghdads durch die USA als Selbstverteidigung. Damit beweist Reisman mehr Abstand gegenüber der Regierungspolitik des eigenen Landes als McDougal. Dabei ist aber seine Sichtweise ebenfalls USA-zentriert und im Ergebnis verteidigt er die Rechtmäßigkeit des Verhaltens der USA. Reismans Artikel bietet interessante Überlegungen - vor allem was seine Untersuchung der langfristigen Konsequenzen einer Rechtsänderung angeht - und wirft teilweise lohnende Fragen auf. Seine Einordnung des amerikanischen Vorgehens als bewaffnete Repressalie erscheint als zutreffend. Dennoch vermag der Artikel aus zweierlei Gründen insgesamt nicht zu überzeugen: Zum einen ist die Argumentation an einigen Stellen nicht schlüssig beispielsweise geht Reismans Schluß von der Zulässigkeit der Selbstverteidigung auf die potentielle Rechtmäßigkeit aller "unilateral coercive actions" zu weit - , zum anderen wirft er überwiegend nur Fragen auf, ohne sie ausdrücklich zu beantworten. Das irritiert besonders dann, wenn Reisman Fragen offen läßt, die eigentlich unproblematisch sind, so wenn er die Rechtmäßigkeit des von ihm behaupteten "claims" der USA nicht abschließend beurteilt, obwohl ein derart weitgehender Anspruch, der den USA das Recht einräumen würde, jederzeit wenn sie es für sinnvoll halten einseitig Gewalt anzuwenden, als unhaltbar erscheint. Insgesamt stellt Reisman mit seinem Artikel vor allem die Geltung des allgemeinen Verbots bewaffneter Repressalien in Frage, ohne sich zu bemühen, Klarheit über das seiner Meinung nach stattdessen geltende Recht zu schaffen. Kapitel IV

Ergebnisse In diesem Kapitel soll untersucht werden, welche charakteristischen Merkmale die Artikel aufweisen, in denen McDougal und Reisman als Vertreter der New Haven School konkrete Vorfalle auf ihre Völkerrechtmäßigkeit untersucht haben. Anschließend sollen die Ergebnisse der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Texten zusammengefaßt werden. 1. Charakteristika der untersuchten Artikel

Alle drei analysierten Artikel weisen bestimmte typische Merkmale auf, an denen sich ihre Herkunft aus der Schule von New Haven ablesen läßt. Schon auf den ersten Blick fallt die ungewöhnliche Terminologie Begriffe wie "claims", "world public order", "participants" usw. - auf. Im

Kapitel IV: Ergebnisse

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Vergleich zu den theoretischen Abhandlungen der New Haven School spielt aber die von dieser Schule entwickelte spezielle Terminologie in den Artikeln zu konkreten Völkerrechtsproblemen nur eine untergeordnete Rolle. Die für die New Haven School typischen Begriffe tauchen eher nebenbei auf, ohne daß sie das Verständnis der Texte wesentlich erschweren. Die drei untersuchten Artikel beschränken sich überwiegend auf eine Stellungnahme zu dem jeweiligen konkreten Vorfall, an einigen Stellen finden sich aber auch grundlegende Ausführungen zu theoretischen Fragen, so z. B. in McDougals Artikel über die Wasserstoffbombenversuche zur Natur des Seerechts und in Reismans Artikel zur Bedeutung von "incidents". In erster Linie stellen die untersuchten Artikel aber keine theoretischen Abhandlungen, sondern sehr engagierte Meinungsäußerungen zu gleichermaßen völkerrechtlich schwierigen wie hochpolitischen konkreten Problemstellungen dar. McDougal scheut dabei keine deutliche Stellungnahme zu strittigen Fragen und provoziert mit polemischen Formulierungen zum Widerspruch, während Reisman oft seine Meinung nur andeutet. Mit anderen Auffassungen setzen sich McDougal und Reisman dabei nicht immer im erforderlichen Umfang auseinander; teilweise geben sie den Streitstand zu einem Problem nicht zutreffend wieder. Der Ausgangspunkt der Argumentation in den drei untersuchten Artikeln entspricht großteils dem der Subsumtionsmethode der traditionellen Völkerrechtswissenschaft: Die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens wird geprüft, indem das konkrete Verhalten auf seine Vereinbarkeit mit abstrakten Normen untersucht wird. So prüft z. B. McDougal die Völkerrechtmäßigkeit der amerikanischen Wasserstoffbombenversuche anhand des Grundsatzes der Freiheit der Meere und anhand von Vorschriften der Charta und des Treuhand-Abkommens sowie die Zulässigkeit der Kuba-Blockade anhand des Selbstverteidigungsrechts, während Reisman die Völkerrechtmäßigkeit des Bombenangriffs auf Baghdad am allgemeinen Gewaltverbot mißt und den Rechtfertigungsgrund der Repressalien prüft. Die bei den Autoren wenden also grundsätzlich trotz ihres immer wieder verkündeten Normskeptizismus völkerrechtliche Normen an. Abgesehen von diesem Ausgangspunkt unterscheidet sich die Argumentationsweise von McDougal und Reisman in den untersuchten Artikeln aber sehr erheblich von der der klassischen Methode. Insbesondere subsumieren die beiden Autoren nicht systematisch unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen einschlägigen Norm, sondern erwähnen zwar die Norm, führen dann aber die Prüfung im wesentlichen von ihr losgelöst durch. So prüft z. B. McDougal im Artikel über die Wasserstoffbombentests die Vereinbarkeit der Versuche mit dem Treuhand-Abkommen, indem er den Vertrag als Gesamtheit darstellt, ohne auf einzelne Normen einzugehen.

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

Reisman erwähnt das Recht der Staaten auf die Durchführung von Repressalien, untersucht aber nicht systematisch, unter welchen Voraussetzungen dieses Recht gegeben ist und ob diese Voraussetzungen bei der amerikanischen Bombardierung Baghdads vorlagen. McDougals ausführliche Darstellung der Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 der Charta in seinem Artikel zur Kuba-Krise ist kein Gegenbeweis, sondern bestärkt dieses Urteil: Obwohl McDougal hier die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Norm aufführt und sie auslegt, prüft er die Rechtmäßigkeit der amerikanischen Blockade Kubas letztlich nicht anhand dieser Tatbestandsmerkmale sondern durch eine von Art. 51 losgelöste Abwägung der Umstände des Einzelfalls. Sofern sie die Loslösung der Prüfung von konkreten, abgrenzbaren Tatbestandsmerkmalen begründen, verweisen die beiden Autoren darauf, daß die Rechtmäßigkeit eines staatlichen Vorgehens nicht bloß anhand einzelner schriftlich festgelegter Normen bestimmt werden könne. Sie halten Normen für zu mehrdeutig, als daß die Prüfung der Rechtmäßigkeit ausschließlich durch Subsumtion des jeweiligen Sachverhalts unter Normen durchführbar sei. Ein weiteres typisches Argument ist die Aussage, daß eine Norm auf den jeweils vorliegenden konkreten Sachverhalt nicht anwendbar sei, weil es sich um eine aus früheren Streitfällen abgeleitete Norm handele, die für aktuelle Probleme nicht mehr relevant sei. Diese Argumentation findet sich beispielsweise bei McDouga1s Ausführungen zum Grundsatz der Meeresfreiheit und in seiner Ablehnung der "Caroline"-Formel als Maßstab für das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht, aber auch Reismans Behandlung des kriegsvölkerrechtlichen Gebots der Wahl von Waffen, die die Zivilbevölkerung möglichst wenig gefährden, erinnert daran. McDougal und Reisman verweisen mehrfach an entscheidenden Stellen auf die Wandelbarkeit des Völkerrechts, wobei sie wesentlich geringere Anforderungen an eine Änderung des bisher geltenden Völkerrechts stellen als herkömmliche Völkerrechtstheorien. Insgesamt sind Normen daher in der Argumentation McDougals und Reismans zwar der Ausgangspunkte der Prüfung und dienen der Orientierung, aber sie bestimmen nicht als bindendes Recht Ablauf und Ergebnis der Rechtmäßigkeitsprüfung. Statt an konkreten anwendbaren Normen orientiert sich McDougal bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens an ganz allgemeinen Prinzipien - "reasonableness" im Fall der Wasserstoffbombenversuche, "necessity and proportionality" bei der Kuba-Blockade -, die er als Teil des geltenden Völkerrechts ansieht. Eine ähnliche Vorgehensweise stellt der Verweis auf den von den Staaten tatsächlich angewandten Rechtmäßigkeitsmaßstab (so z. B. McDougal im Hinblick auf die Freiheit der Meere und Reisman hinsichtlich bewaffneter Repressalien) dar; auch hier treten konkrete geltende Normen in den Hintergrund.

Kapitel IV: Ergebnisse

235

Es rallt auf, daß McDougal und Reisman in allen untersuchten Artikeln den fehlenden bzw. (nach ihrer Auffassung) unwesentlichen Protest der internationalen Staatengemeinschaft als ausschlaggebenden Beleg der Völkerrechtmäßigkeit des betreffenden Verhaltens eines Staates ansehen. Dabei gehen sie nicht auf die Frage ein, ob der fehlende Protest auf der Rechtsüberzeugung beruhte, daß das Verhalten rechtmäßig war, oder auf anderen Gründen. Sie prüfen auch nicht abschließend, ob eine Änderung des Völkergewohnheitsrechts durch eine allgemeine Übung, zu der das jeweilige Verhalten zählt, erfolgt ist, sondern sehen den fehlenden Protest letztlich als entscheidenden Beweis der Völkerrechtmäßigkeit dieses Verhaltens an. Die Ergebnisse. zu denen McDougal und Reisman in den untersuchten Artikeln gelangen. stellen teilweise Mindermeinungen dar, so z. B. McDougals Auffassung, daß die amerikanischen Wasserstoffbombentests im Pazifik mit der Freiheit der Meere vereinbar waren, oder Reismans These von der potentiellen Zulässigkeit bewaffneter Repressalien. Auch McDougals Ansicht, wonach die USA die "Quarantäne" Kubas in Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechts durchgeführt hätten, wird nur von relativ wenigen Autoren geteilt. Die vertretenen Positionen sind aber keinesfalls immer Außenseiterpositionen; so hielt beispielsweise die Mehrheit der amerikanischen Völkerrechtsgelehrten die Kuba-Blockade - wenn auch aus anderen Gründen als McDougal - für völkerrechtmäßig und auch seine weite Auslegung von Art. 51 läßt sich kaum als Mindermeinung bezeichnen. Ebenso stieß Reismans Auffassung, daß die amerikanische Bombardierung Baghdads zulässig war, auf wenig Kritik. Demnach unterscheiden sich die untersuchten Artikel stärker durch die Argumentationsweise als durch die Ergebnisse von der traditionellen Völkerrechtsliteratur. Die Frage. ob diese Charakteristika der drei untersuchten Artikel der Lehre der New Haven School entsprechen, d.h. ob McDougal und Reisman bei der Prüfung konkreter Völkerrechtsprobleme konsequent ihrer eigenen Theorie und Methodik folgen, soll anhand der im ersten Teil dieser Abhandlung dargelegten Charakteristika der New Haven School - "policyoriented. value-oriented. contextual. scientific, systematic" - beantwortet werden. Daß die Schule von New Haven sich als "policy-oriented" versteht, zeigt sich nur in McDougals Artikel zu den amerikanischen Wasserstoffbombenversuchen deutlich. in dem er auf die dem Grundsatz der Freiheit der Meere zugrundeliegenden "policies" und auf das Problem eingeht. daß seiner Ansicht nach zwei gleichermaßen anwendbare, aber inhaltlich entgegengesetzte "policies" vorliegen. In den anderen bei den untersuchten Artikeln spielen "policy"-Überlegungen keine Rolle. Auch die "value-orientation" der New Haven School scheint in diesen Artikeln eher am Rande durch: In McDougals beiden Artikeln werden gelegentlich die "values of

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

the free world" erwähnt, aber ohne nähere Erläuterung, um welche Werte es sich dabei genau handelt. Auf die "human dignity" als obersten Wert wird ebenfalls einige Male verwiesen, aber nur in McDougals Artikel zu den Wasserstoftbombenversuchen spielt sie wirklich eine nennenswerte Rolle als Leitwert und anzustrebendes Ziel bei der Prüfung konkreter Fragen. Die "value-orientation" zeigt sich jedoch in McDougals Artikeln in einem ausgeprägten Anti-Kommunismus, da er die Sowjetunion als Gegner der "human dignity" ansieht. In Reismans Artikel sind Werte allgemein und die "human dignity" im besonderen nur insofern von Bedeutung, als er eine Untersuchung der längerfristigen Konsequenzen einer Änderung des Völkerrechts für die "world order" für notwendig hält. Das Konzept, wonach es zu jedem Grundsatz einen inhaltlich entgegengesetzten, aber gleichzeitig anwendbaren Grundsatz gibt, so daß sich die Frage stellt, wie im konkreten Einzelfall über den Vorrang des einen oder anderen Prinzips zu entscheiden ist, findet sich bei beiden Autoren an zentralen Stellen. So sieht McDougal im Artikel zu den Wasserstoftbombentests einen Widerstreit zwischen einerseits dem Grundsatz der Freiheit der Hohen See und andererseits den vielen anerkannten Beschränkungen dieses Grundsatzes, den er mit Hilfe des Maßstabs der "reasonableness" im Einzelfall lösen will. Im Artikel zur Kuba-Blockade verweist McDougal auf den Gegensatz zwischen "permissible coercion" und "non-permissible coercion". Ähnlich argumentiert Reisman, der dem allgemeinen Gewaltverbot die potentielle Zulässigkeit von "unilateral coercive action" gegenüberstellt. Ihren Anspruch, "contextual" zu sein, erfüllen die bei den Vertreter der New Haven School in den untersuchten Artikeln nur zum Teil. McDougals Artikel zu den Wasserstoftbombentests geht wesentlich ausführlicher als in traditionellen juristischen Texten üblich auf den faktischen Kontext einschließlich naturwissenschaftlicher Gesichtspunkte ein. Ferner bezieht er auch Faktoren in die Rechtmäßigkeitsprüfung ein, die nach der klassischen Völkerrechtstheorie keine Rolle spielen würden, z. B. das allgemeine Verhalten der USA als Verwaltungsmacht der Treuhandgebiete oder die von den USA an Japan gezahlte Entschädigung. Bei seinem Artikel zur KubaBlockade stellt McDougal den faktischen Kontext nur sehr knapp dar, berücksichtigt dafür aber auch Faktoren wie die innere Struktur der Sowjetunion bei der Rechtmäßigkeitsprüfung. Reisman bezieht ebenfalls einen weiterreichenden Kontext als traditionelle Untersuchungen ein, wenn er beispielsweise die Entscheidungsfindungsprozesse in Industriestaaten berücksichigt oder prüft, ob ein mögliches Nebenziel der USA als Rechtfertigung für das amerikanische Vorgehen von Bedeutung ist. Dennoch kann aber in keinem der drei Artikel davon die Rede sein, daß der gesamte faktische Kontext des jeweiligen Sachverhalts untersucht würde; vielmehr haben in allen drei Texten juristische Überlegungen ein erhebliches Übergewicht

Kapitel IV: Ergebnisse

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gegenüber tatsächlichen Faktoren. Teilweise stellt McDougal den faktischen Kontext der von ihm untersuchten Vorfälle recht einseitig dar. Die untersuchten drei Artikel haben weder einen interdisziplinären Ansatz noch machen sie von den Erkenntnissen insbesondere der Gesellschaftswissenschaften Gebrauch. Als einzige Ausnahme davon ist Reismans Verweis auf die Entscheidungsfindung in industrialisierten Demokratien zu werten. Der für die theoretischen Darlegungen der Schule von New Haven typische Aufbau nach Kategorien findet sich in den untersuchten Artikeln nur an einer Stelle: McDougal stellt den Kontext der Kuba-Krise in den Kategorien "participants, objectives, situation, bases of power, strategies, outcomes" dar. Dagegen ist es charakteristisch für Texte dieser Schule, daß jedes staatliche Verhalten als "claim" angesehen wird, dessen Begründetheit untersucht wird. Insgesamt weisen die untersuchten Artikel somit zwar teilweise erhebliche Unterschiede zu Texten der klassischen Völkerrechtstheorie auf, werden aber den Ansprüchen ihrer eigenen Lehre nur begrenzt gerecht. 2. Zusammenfassung der Kritik

Die für die New Haven School typische eigenständige Terminologie und die Einteilung der Prüfung in Kategorien vermindert zwar die Verständlichkeit der Texte kaum, allerdings helfen die speziellen Begriffe und Kategorien bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit auch nicht wesentlich weiter, da sie ohne Erläuterung keinen eigenen Erkenntnisgewinn bringen. Die Einteilung des Kontexts der Kuba-Krise in Kategorien führt weniger zu einer besonders tiefgehenden Erfassung des Kontexts als dazu, daß auch Umstände berücksichtigt werden, die für die Rechtmäßigkeit der "Quarantäne" irrelevant sind. Ferner verdeckt diese Einteilung, daß die eigentliche Subsumtion des amerikanischen Vorgehens unter die Tatbestandsmerkale von Art. 51 der Charta unterbleibt. Es erstaunt, daß die Gründer der New Haven School selbst ihr "framework of inquiry" im Rahmen der praktischen Fallösung nur so eingeschränkt anwenden. Sicherlich fördert die ausführliche Berücksichtigung des faktischen Kontexts ein vertieftes Verständnis der Situation des jeweiligen Problemfalls. Reismans Hinweis, daß die öffentliche Meinung in Demokratien die Wahl bestimmter Waffen, die die eigenen Verluste gering halten, beeinflussen kann, ist ein interessanter Gesichtspunkt. An einigen Stellen wäre aber die Darstellung des Kontexts überzeugender und für die von der New Haven School geforderte Interessenabwägung hilfreicher, wenn sie sachlicher und objektiver wäre. Insbesondere McDougals Darstellung der durch die Was-

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

serstoffbombenversuche hervorgerufenen Gefahren und Schäden sowie seine Sicht der politischen Lage wirken zu voreingenommen und ideologisch gefärbt, um überzeugend zu sein. Insgesamt sprechen McDougal und Reisman in den analysierten Artikeln die meisten der für die Frage der Rechtmäßigkeit jeweils wesentlichen Gesichtspunkte an, auch wenn sie sie nicht immer konsequent durchprüfen. McDougal übersieht allerdings bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der amerikanischen Wasserstoffbombentests die Einschlägigkeit des Hoheitsverbots und des allgemeinen Schädigungsverbots sowie bei dem Artikel zur Kuba-Blockade das Problem eines Eingriffs in die Freiheit der Hohen See. Ansonsten ist die Argumentation oft in den Ansätzen durchaus überzeugend - so z. B. McDougals Ausführungen zur Natur des Seerechts oder zur Auslegung von Art. 51, aber auch Reismans Darlegungen zur Problematik einseitiger Gewaltanwendung durch Staaten - aber ihr Fortgang ist nicht schlüssig, etwa wenn McDougal nicht prüft, ob die Kuba-Blockade die von ihm dargestellten Voraussetzungen einer präventiven Selbstverteidigungsmaßnahme erfüllt. Insbesondere ist zu kritisieren, daß bei den untersuchten Artikeln oft die Reichweite von Ausnahmevorschriften überschätzt wird. So überdehnt McDougal beispielsweise die einzelnen Beschränkungen des Grundsatzes der Freiheit der Meere, wenn er aus ihnen trotz ihrer Unterschiede und ihrer Beschränkung auf eng begrenzte Fälle einen allgemeinen Grundsatz dahingehend ableitet, daß Interessen der Einzelstaaten an ausschließlicher, andere Staaten beeinträchtigender Nutzung der Hohe See ebenso geschützt sind wie die allen Staaten gleichermaßen zustehende Meeresfreiheit. Ebenso überzeugt es nicht, wenn er im sei ben Artikel aus dem Selbstverteidigungsrecht sowie aus anderen Vorschriften wie dem Recht auf "hot pursuit" einen allgemeinen Vorrang von Sicherheitsinteressen vor anderen Interessen folgert. McDougal und Reisman überdehnen ferner beide das Selbstverteidigungsrecht - McDougal, indern er dieses Recht auf erst noch bevorstehende Angriffe ausdehnt, Reisman, indern er daraus einen allgemeinen Grundsatz ableitet, daß die einseitige Anwendung von Gewalt durch Staaten potentiell rechtmäßig ist. Insgesamt tendieren McDougal und Reisman damit dazu, sich über den Unterschied zwischen einern Grundsatz und einer Ausnahmevorschrift hinwegzusetzen. So räumen sie einerseits allgemeinen Prinzipien wie dem Gewaltverbot nicht das ihnen zukommende Gewicht ein und dehnen andererseits Ausnahmevorschriften wie das Konzept der Anschlußzone oder das Selbstverteidigungsrecht zu weit aus, indern sie sie als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes ansehen. Diese Art der Argumentation führt dazu, daß es keinen wirklichen Grundsatz zur Regelung eines bestimmten Problems gibt, von dem höchstens bestimmte eng begrenzte Ausnahmen zuge-

Kapitel IV: Ergebnisse

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lassen sind, sondern daß jedes allgemeine Prinzip gleich wieder durch ein ihm entgegenstehendes, ebenso Geltung beanspruchendes Prinzip relativiert wird. Da nur im Einzelfall feststell bar ist, ob die Regel oder die Ausnahme gelten soll, führt diese Vorgehensweise zu Rechtsunsicherheit. Sie vermag nicht zu überzeugen, weil die Staatengemeinschaft sich für den grundsätzlichen Vorrang des Grundsatzes vor der Ausnahmevorschrift entschieden hat. An mehreren Stellen werden Normen als unbestimmter dargestellt, als sie sind; so würde selbst bei Annahme eines präventiven Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 der Charta dieses nicht so weit gehen, wie von McDougal ausgeführt. Der Grundsatz der Freiheit der Meere verbietet trotz seiner Unbestimmtheit jedenfalls eine Ausübung von Hoheitsgewalt durch einen Staat über Teile der Hohen See, der andere Staaten vom Gemeingebrauch ausschließt. Auch das allgemeine Gewaltverbot ist nicht so offen und unklar, wie Reisman es darstellt. Reisman setzt sich in seinem Artikel über die Unterscheidung zwischen friedlichen und bewaffneten Repressalien sowie zwischen Repressalien in Friedenszeiten und im Krieg hinweg, ohne dafür Argumente vorzubringen. Zugespitzt formuliert: Wenn die beiden Autoren ein Ergebnis anstreben und eine Völkerrechtsnorm dabei gewissermaßen "im Weg steht", so legen sie die Norm so aus, daß sie zum gewünschten Ergebnis führt oder sie erklären die Norm für überholt bzw. aus anderen Gründen nicht anwendbar. Letzlich bleibt bei der Argumentationsweise der bei den Autoren die Frage, wie im konkreten Einzelfall die Rechtmäßigkeit eines staatlichen HandeIns genau bestimmt werden soll, unbeantwortet. McDougal und Reisman beschränken sich darauf, die allgemeine Geltung von Prinzipien in Frage zu stellen und Ausnahmevorschriften auszudehnen, ohne aber klar umrissene Kriterien an deren Stelle zu setzen. McDougal verweist entweder auf das Prinzip der "reasonableness" oder auf Ziel werte wie die "human dignity" oder er stellt nur auf den Einzelfall ab, ohne eine abstrakte Klärung zu versuchen. Ebenso läßt Reisman offen, unter welchen Voraussetzungen bewaffnete Repressalien rechtmäßig sein sollen. Das Abstellen auf die "reasonableness" des Vorgehens eines Staates birgt aufgrund der extremen Unbestimmtheit dieses Begriffs die Gefahr völlig subjektiver, nur auf den Einzelfall abstellender Entscheidungen. So ist es eine sehr subjektive Frage, ob die Wasserstoffbombentests "reasonable" waren; je nach politischer Einstellung des Entscheidungsträgers ergibt sich eine andere Antwort. McDougal versucht auch nicht, die Gefahr der Subjektivität durch nähere Umschreibung der "reasonableness" zu verringern. Im Hinblick auf die Orientierung an Ziel werten erläutert McDougal nicht näher, was unter "human dignity" oder den "values of the free world" zu

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Teil B: Studien der New Haven School zu konkreten Problemfällen

verstehen ist und warum sie angestrebt werden sollen. Der Wert der Menschenwürde erscheint dabei weniger als Maßstab und Orientierungshilfe im konkreten Fall denn als schwammiger Gesichtspunkt, der in Interessenabwägungen einfließt. So prüfen McDougal und Reisman beispielsweise bei der Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Atombombenversuchen oder im Hinblick auf die Verletzung von Bewohnern der Marshall-Inseln durch die Wasserstoffbombentests oder von Zivilisten durch die Bombardierung Baghdads nicht wirklich, ob die von ihnen befürwortete Entscheidung mit der Menschenwürde vereinbar ist. McDougal verweist nur dann auf die Menschenwürde, wenn es darum geht, den nationalen Sicherheitsinteressen der USA ein hohes Gewicht zuzumessen. Insgesamt vermögen die Ergebnisse, zu denen McDougal und Reisman in den untersuchten drei Artikeln gelangen, fast alle nicht zu überzeugen. Einige davon, z. B. die Vereinbarkeit der amerikanischen Wasserstoffbombentests mit der Freiheit der Meere oder die Rechtfertigung der Kuba-Blokkade als Selbstverteidigung, grenzen sogar ans Unvertretbare. Es f,mt auf, daß dabei in fast allen Fällen die Vorgehensweise der USA als rechtmäßig verteidigt wird. An einigen Stellen kann man sich daher des Verdachts nicht erwehren, daß die Autoren die juristische Begründung so "zurechtgebogen" haben, daß sie zu den von ihnen für politisch notwendig gehaltenen Ergebnissen gelangt sind. Besonders bedenklich erscheinen die allgemeinen Ausführungen McDougals und Reismans über die mangelnde Bedeutung eines Verstoßes gegen bindende Völkerrechtsnormen. So klingt McDougals Schlußwort im Artikel zu den Wasserstoffbombentests, als würde der Zweck der Verteidigung des Westens auch völkerrechtswidrige Mittel heiligen. In seinem Artikel zur Kuba-Blockade drängt McDougal auf eine Auslegung des Selbstvertddigungsrechts, die den Interessen der westlichen Staaten dient. Reisman wiederum hält es für möglich, daß ein Verhalten, das abstrakten schriftlich festgelegten Völkerrechtsnormen zuwiderläuft, im konkreten Fall trotzdem rechtmäßig sein kann. Mit derartigen Äußerungen stellen McDougal und Reisman die Verbindlichkeit und damit letztlich den Bestand von Völkerrecht als Rechtsordnung in Frage.

Teil

C

Kritik der Schule von New Haven Kapitel I

Kritik der Definition des Rechts als "process of decision" 1. Der Normskeptizismus der New Haven School

a) Zur Natur von Normen

Die Schule von New Haven definiert das Völkerrecht nicht als System autonomer Normen, die die Beziehungen der Staaten untereinander regeln, sondern als "process of decision". Sie begründet ihre Ablehnung der traditionellen Definition zum einen damit, daß diese Definition Normen überschätze und die mit ihnen verbundenen Probleme ignoriere. Zum anderen sieht die New Haven School die tatsächlich erfolgten juristischen Entscheidungen in konkreten Einzelfällen anstelle von abstrakten Regeln als den entscheidenden Faktor im Völkerrecht an. Sie hält Normen allgemein für zu mehrdeutig und zu sehr von der Realität losgelöst sowie ihre Geltung für den jeweiligen Einzelfall für zu fraglich, als daß eine automatische Anwendung vorgegebener Normen auf einen konkreten Fall denkbar wäre'. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern dieser Normskeptizismus begründet ist und ob er die Schlußfolgerung rechtfertigt, daß das traditionelle Verständnis des Völkerrechts als "body of rules" abzulehnen ist. Die These der New Haven School, wonach völkerrechtliche Normen und juristische Konzepte prinzipiell mehrdeutig, widersprüchlich, lückenhaft, zu abstrakt und nur aus dem Zusammenhang verständlich seien2 , ist in dieser Allgemeinheit zu weitgehend 3 . Ebenso wie im nationalen Recht gibt es auch im Völkerrecht sehr präzise, in ihren Tatbestandsvoraussetzungen und ihrer Rechtsfolge klar umrissene Normen ohne mehrdeutige Begriffe. Allerdings weist das Völkerrecht sicherlich mehr unbestimmte Begriffe und 1 Ebenso: Moore. Law and the Indo-China War, S. 66; ähnlich auch Baldwin. Yale L. 1. Bd. 73 (1964), S. 729. 2 Ähnlich Dillard. RdC 1957/1, S. 491; Lissitzyn. Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669 f; Moore. Law and the Indo-China War, S. 65 f. 3 So auch Schlochauer. AdV Bd. 12 (1964/1965). S. 466. 16 Voos

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

schwierig auszulegende Normen auf als viele Gebiete des nationalen Rechts und die Völkerrechtsordnung enthält viele nicht ausdrücklich geregelte Bereiche sowie teilweise innere Widersprüche4 . Es ergibt jedoch ein schiefes Bild, wenn die Schule von New Haven nur Normen wie das allgemeine Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 der Charta oder das Selbstverteidigungsrecht als Beispiele anführt, denn wenige völkerrechtliche Normen sind ähnlich unbestimmt und umstritten wie gerade diese Rechtssätze. Normen müssen notwendigerweise ein gewisses Maß an Abstraktheit aufweisen, weil sie nicht nur einen konkreten Fall, sondern eine unbegrenzte Zahl künftiger Fälle regeln sollen. Die Verwendung mehrdeutiger Begriffe in Verträgen bedeutet meistens, daß eine Einigung auf eindeutigere Begriffe zwischen den Vertragsparteien nicht möglich war oder von ihnen nicht für sinnvoll gehalten wurde, weil sie Flexibilität im Einzelfall anstrebten. Unbestimmte Rechtsbegriffe und fehlende ausdrückliche Regelungen können daher nicht grundsätzlich als negativ eingestuft werden, sondern erfüllen bestimmte Funktionen; insbesondere ermöglichen sie ein flexibles Eingehen auf den Einzelfall und die Berücksichtigung außerrechtlicher Gesichtspunktes. Im Hinblick auf die kritisierte Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit des Völkerrechts ist anzumerken, daß das Völkerrecht selbst Regelungen dafür enthält, welche Norm anwendbar ist, wenn keine Völkerrechtsnorm den fraglichen Fall ausdrücklich regelt bzw. wenn die Regelungen einander widersprechen6 . Die Bedeutung juristischer Begriffe hängt auch nicht - wie die .New Haven School behauptet - ausschließlich von ihrem jeweiligen tatsächlichen Kontext ab. Zum einen liegt der Zusammenhang, der den Begriffen ihren Sinn gibt, teilweise bereits in ihrer Verwendung im Rahmen eines bestimmten juristischen Textes. Zum anderen haben viele Wörter einen klaren, eindeutigen Inhalt und selbst die unbestimmtesten Begriffe lassen sich nur innerhalb einer gewissen Bandbreite des möglichen Verständnisses auslegen 7 . Eine Norm erhält daher nicht erst durch ihre Anwendung auf einen konkreten Einzelfall eine Bedeutung, sondern sie hat bereits vorher einen bestimmten - wenn auch nicht unbedingt präzise umrissenen - Inhalt sowie Standardfalle, auf die sie unzweifelhaft Anwendung findet 8 . Nur im

4 So auch Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 193; ähnlich Lauterpacht, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 23. 5 Koskenniemi, EJIL Bd. 5 (1994), S. 148. 6 Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 45 u. 48; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 538. 7 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 193 f. 8 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125; Koskenniemi, EJIL Bd. 5 (1994), S. 148; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 193 f.

Kapitel I: Kritik der Definition des Rechts als "process of decision"

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Randbereich einer solchen Norm gibt es Fälle, bei denen sich die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens nicht eindeutig feststellen läßt. McDougal und seine Anhänger lassen sich bei ihren Studien zu einzelnen Rechtsbereichen oder zu konkreten völkerrechtlichen Problemen selten auf die Auslegung einer bestimmten Norm und die genaue Untersuchung ihrer Tatbestandsmerkmale ein. Stattdessen gehen sie in der Regel entweder bereits von der Annahme aus, daß Normen grundsätzlich mehrdeutig seien und ein weiter Auslegungsspielraum bestehe9 - unabhängig davon, ob die jeweilige Norm unbestimmt formuliert ist oder nicht - oder aber sie stellen die Geltung der Norm unter Berufung auf veränderte Umstände oder auf die mangelnde Umsetzung der Norm in Frage 10. Statt zu versuchen, mehrdeutige Normen zu präzisieren, lassen McDougal und seine Anhänger sie teilweise als unbestimmter und weiter erscheinen, als sie eigentlich sind 11, so beispielsweise bei der Auslegung des Selbstverteidigungsrechts. Die skeptische Haltung der New Haven School gegenüber Normen und juristischen Begriffen zeigt sich besonders deutlich in ihren Thesen zur Auslegung völkerrechtlicher Normen: Sie hält eine Auslegung nach der "plain and natural meaning" für unmöglich und räumt dem Text eines Vertrages einen weit geringeren Stellenwert ein als die herkömmlichen Völkerrechtstheorien. Auch hierzu ist anzumerken, daß selbst dann, wenn keine völlige Übereinstimmung über die Auslegung einzelner Wörter zwischen den Vertragsparteien besteht, doch jede Vertragsklausel bestimmte Bedeutungen hat, die die Vertragsparteien beabsichtigten und die von ihnen ähnlich verstanden werden l2 . Bei aller Kritik, die an generalisierenden oder mehrdeutigen Begriffen denkbar ist, ist ohne juristische Begriffe erst recht weder eine Erfassung der Realität noch eine Kommunikation darüber denkbar l3 • Im übrigen wirkt es widersprüchlich, wenn McDougal einerseits die traditionelle Völkerrechtslehre kritisiert, weil sie sich auf zu mehrdeutige Normen stütze, er aber andererseits noch unpräzisere Begriffe (z. B. "reasonableness") als Maßstab vorschlägt. Die Auslegung eines Vertrages, die dem Zweck der Feststellung des Parteiwillens dient, muß vom Text ausgehen und sich grundsätzlich im Rahmen der möglichen Wortbedeutung halten 14, denn der Text eines Vertrages ist das einzige, auf das sich die Vertragsparteien ausdrücklich geeinigt haben l5 . Die Schule von New Haven unterschätzt in ihrem Bestreben, 9 Vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 89; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272. 10 Ähnlich auch Moore, Law and the Indo-China War, S. 65 f. 11 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 89. 12 Vgl. Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 118. 13 Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 72 f.; vgl. Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 118. 16'

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

auf andere für die Vertrags auslegung wesentliche Faktoren aufmerksam zu machen, die Bedeutung des Wortlauts 16. Bei der teleologischen Auslegung sollte der Sinn und Zweck des Vertrages soweit wie möglich dem Vertragstext selbst entnommen werden, statt daß durch davon losgelöste Mutmaßungen ein dem Auslegenden genehmer Sinn unterstellt wird 17. Die Auslegung von Verträgen stellt in der Tat keine mechanische Aufgabe dar, sondern auch ausgehend vom Wortlaut kann der Auslegende oft zwischen verschiedenen Auslegungsergebnissen wählen, so daß Wertungsfragen und politische Gesichtspunkte eine Rolle spielen l8 . Die These der New Haven School, wonach die Aufgabe des Auslegenden darin besteht, dem Text eine Bedeutung zu geben, schießt aber übers Ziel hinaus. Wenn McDougal fordert, daß allgemeine Ziele der Vertragsparteien vorrangig gegenüber den bei der Auslegung herausgearbeiteten detaillierten Parteierwartungen sein sollen, so wird deutlich, daß ihm der wirkliche Wille der Parteien in Wahrheit weniger wichtig ist als ein möglichst großer Auslegungsspielraum. Auch die Forderung der New Haven School nach einer dynamischen Interpretation geht mangels einer Beschränkung auf für eine solche Interpretation offene Begriffe zu weit l9 und birgt die Gefahr einer den Absichten der Vertragsparteien widersprechenden Auslegung. McDougal ist zwar darin Recht zu geben, daß die Feststellung, ob der Wortlaut einer Norm so eindeutig ist, daß er keinen Rückgriff auf die travaux preparatoires erfordert, bereits eine Auslegung der Norm voraussetzt20 . Er übersieht aber bei seinem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte die mit diesem Auslegungsmittel verbundenen Probleme: Da die Entstehungsgeschichte keine objektiv umrissenen Grenzen hat und sie sich vielfach auch nicht mehr exakt rekonstruieren läßt, läßt sich über die Aussagekraft der travaux preparatoires meist trefflich streiten21 • Die politische Gesamtsituation im Zeitpunkt des Vertrags14 Vgl. Art. 31 WVRK. Aus der Literatur: Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 121; lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 11 Rn. 5; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 334. 15 Fitunaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 369; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 124; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 335. 16 So auch Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 121; a. A. Higgins, The Identity of Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 41 f. 17 lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 11 Rn. 10. 18 Brownlie, Principles of Public International Law, S. 632. 19 Vgl. lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 11 Rn. 21; Seidl-Hohenveldem. Völkerrecht, Rn. 335 f.; Verdross/Simma. Universelles Völkerrecht, S. 497 f. 20 lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 11 Rn. 7; OppenheimlLauterpacht, International Law, S. 957 f.; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht. Rn. 333. 21 Brownlie, Principles of Public International Law, S. 630.

Kapitel I: Kritik der Definition des Rechts als "process of decision"

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schlusses sollte nur bei Zweifeln über die richtige Auslegung herangezogen werden~ um den Willen der Parteien beim Abschluß des Vertrages zu ermitteln 22 . Auch wenn die Einbeziehung psychologischer und anderer sozi al wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Entwicklung der Auslegungstheorie der New Haven School beachtlich ist23 , so sind die daraus von McDougal und seinen Mitarbeitern entwickelten Auslegungsrichtlinien doch nicht sehr hilfreich. Sie sind so kompliziert und verlangen die Berücksichtigung so vieler unterschiedlicher Faktoren - deren Bedeutung jeweils vom Einzelfall abhängt - daß damit willkürliche Ergebnisse wahrscheinlicher sind als bei einer stärker textorientierten Methode. Die vorgeschlagenen Auslegungsrichtlinien stellen zwar eine nützliche Auflistung aller möglichen Auslegungstechniken dar, aber da alle diese Techniken ohne Gewichtung oder Reihenfolge nebeneinander stehen, ist das Ergebnis ihrer Anwendung völlig offen 24 . Insgesamt läuft die Auslegungstheorie der New Haven School daher - obwohl sie theoretisch das Ziel anstrebt, die "genuine shared expectations" der Parteien zu klären - durch die Geringschätzung des Wortlauts Gefahr, bei der Vertragsauslegung die ursprünglichen Absichten der vertragschließenden Staaten zu mißachten und an ihre Stelle das zu setzen, worauf sich nach Meinung des Auslegenden die Vertragsparteien hätten einigen sollen25 • Auf die von dieser Schule vorgeschlagene ergänzende Vertragsauslegung anhand der "basic constitutive policies of the larger community" und auf die vorgeschlagene Überprüfung des Auslegungsergebnisses anhand der "fundamental community policy" wird weiter unten im Rahmen der Bewertung von "policy-orientation" und "value-orientation" einzugehen sein26 . Die These der New Haven School von der "normative ambiguity" aller Formulierungen von Normen ist insofern zutreffend, als zumindest Normen des Völkergewohnheitsrechts zugleich frühere Entscheidungen wiedergeben und vorschreiben, welche Entscheidungen in Zukunft getroffen werden sollen27 • Darin liegt jedoch keine problematische Mehrdeutigkeit, sondern diese doppelte Aussage entspricht dem Wesen eines Gewohnheitsrechts, das 22 lpsen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § II Rn. 7; OppenheimlLauterpacht, International Law, S. 953. 23 So auch Moore, Law and the Indo-China War, S. 70; Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 17. 24 Fitzmaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 359 u. 368. 25 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 121; Fitzmaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 368 u.372. 26 Zur "policy-orientation" siehe Teil C, Kap. III, Abschnitt 2 b, zur "value-orientation" siehe Teil C, Kap. III, Abschnitt 3 a. 27 Ähnlich Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 81.

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gleichzeitig die Praxis in der Vergangenheit beschreibt und nonnativ vorschreibt, daß diese Praxis auch in der Zukunft beachtet werden soll. Dagegen ist die Behauptung der New Haven School, daß Nonnen zugleich auch künftige Entscheidungen voraussagen sollen, nicht zutreffend: Nonnen enthalten keine Prognose über tatsächliche Entscheidungen - also über ein Sein -, sondern stellen ausschließlich ein Sollen auf. Die Frage, ob dieses Sollen wirklich befolgt werden wird, lassen sie offen. Daher trifft der Vorwurf der New Haven School, Nonnen würden in einer einzigen, verwirrenden Aussage versuchen, lauter verschiedene Aufgaben zu erfüllen, nicht zu. Krakau versteht McDougals These so, daß "die Frage nach dem ,geltenden Recht' zu irgendeinem Problem" für McDougal "irrelevant, weil ,normativ mehrdeutig'" sei 28 . Wenn diese Auffassung zuträfe, würde die These der "nonnative ambiguity" dazu führen, daß der Inhalt einer Völkerrechtsnonn nicht abstrakt festgestellt werden könnte, sondern nur im jeweils konkreten Fall gefragt werden könnte, welche Entscheidungen dazu in der Vergangenheit ergangen sind, welche Entscheidungen in Zukunft wahrscheinlich getroffen werden und welche getroffen werden sollten29 • Aus der These von der "nonnative ambiguity" folgt aber nicht zwingend, daß der Inhalt von Nonnen überhaupt nicht abstrakt bestimmbar sein soll; vielmehr kann aus dieser These nur abgeleitet werden, daß McDougal ausführlichere, alle verschiedenen Funktionen ausdrücklich getrennt aufführende Fonnulierungen für notwendig hält. Soweit ersichtlich, gehen die Vertreter der Schule von New Haven auch wie selbstverständlich von der Möglichkeit einer abstrakten Feststellung des Inhalts einer Nonn aus. b) Zur Rechtsanwendung

aa) Prüfung der Geltung von Nonnen Während die traditionellen Völkerrechtstheorien von der Anwendbarkeit geltender Nonnen auf konkrete Einzelfälle ausgehen, ohne eine ausgedehnte Prüfung des sozialen und politischen Kontexts für erforderlich zu halten 30, scheidet nach Ansicht der Schule von New Haven eine quasi-automatische Anwendung von Nonnen auf Einzelfälle nicht nur wegen der Unklarheit von Nonnen aus. Diese Schule hält eine Prüfung der Geltung der Nonn für den jeweiligen konkreten Einzelfall für notwendig 31 , bei der zum einen gefragt werden müsse, ob die Nonn "authoritative and control28 Krakau. Missionsbewußtsein, S. 468; ähnlich Rosenthai. Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 192. 29 Vgl. Krakau. Missionsbewußtsein. S. 468. 30 Vgl. Young. AJIL Bd. 66 (1972), S. 61. 31 Ähnlich Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 122.

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ling" sei - worauf weiter unten noch ausführlicher eingegangen werden wird 32 - und zum anderen, ob sie trotz veränderter Umstände fortgelte. Grundsätzlich muß in der Tat vor jeder Rechtsanwendung untersucht werden, ob die fragliche Norm nicht inzwischen geändert wurde oder in desuetudo gefallen ist. Weniger überzeugend ist es aber, wenn die Schule von New Haven die Anwendbarkeit von Normen auf neue Situationen allein deswegen in Frage stellt, weil es sich dabei um "past decisions" handelt. Eine Norm wird nicht durch bloßen Zeitablauf oder durch die damit verbundene Änderung der tatsächlichen Umstände hinfallig, sondern sie soll gerade auch für künftige Fälle eine Regelung treffen. Eine Änderung des faktischen Kontexts führt nur dann zur Nichtanwendbarkeit einer Norm, wenn er rechtlich erheblich ist, also die Norm dadurch in desuetudo geraten ist oder z. B. der Grundsatz rebus sie stantibus eingreift. Es handelt sich dabei jedoch um Ausnahmen, der Normalfall ist - entgegen der Auffassung der New Haven School - die Fortgeltung einer Norm trotz Zeitablaufs und veränderter Umstände. Zwar ist die Feststellung der Schule von New Haven, daß sich das Völkerrecht im 20. Jahrhundert wesentlich schneller verändert hat als in früheren Jahrhunderten, zutreffend. Ungeachtet aller Veränderungen der politischen und sonstigen Gesamtsituation sind aber ein erheblicher Teil der Probleme, die durch das Völkerrecht gelöst werden sollen, ähnliche wie im 19. Jahrhundert; dementsprechend gelten viele Bestimmungen, beispielsweise im Vertragsrecht oder im Recht der Diplomaten, fast unverändert fort. Die Tatsache, daß völkerrechtliche Normen überwiegend auf Geschehnisse und Rechtsüberzeugungen der Vergangenheit zurückzuführen sind, beruht nicht auf dem Wunsch, die Vergangenheit zu perpetuieren, sondern darauf, daß die Vergangenheit Belege für Konfliktlösungen der internationalen Gemeinschaft bietet33 . Die New Haven School übertreibt daher die Neuartigkeit der Probleme, die sich heute stellen, und die Bedeutung der sozialen Veränderungen für den Inhalt des Völkerrechts34 . bb) Einfluß von außerrechtlichen Umständen des faktischen Kontexts Die Schule von New Haven lehnt die klassische Definition des Völkerrechts als System von Normen auch deshalb ab, weil ihrer Ansicht nach bei juristischen Entscheidungen neben Normen noch eine Vielzahl anderer FakSiehe Teil C.. Kap. Ir, Abschn. 1. Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 129 f. 34 Vgl. Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 123; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 171. 32 33

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toren eine Rolle spielen und auch spielen sollen, die die klassische Definition außer acht läße5 • Die New Haven School betont die Bedeutung des faktischen Gesamtkontexts des jeweiligen juristischen Problems und versucht, außerrechtliche Faktoren systematisch im Rahmen des "legal process" zu berücksichtigen36 • Das besondere Gewicht, das dabei den speziellen Faktoren des jeweiligen konkreten Einzelfalls beigemessen wird, folgt logisch aus der Definition des Rechts als "process of decision" statt als System abstrakter Regeln 37 . Die Beobachtung der New Haven School, daß in der Realität juristische Entscheidungen nicht einfach ohne Einfluß irgend welcher außerrechtlicher Faktoren durch eine automatische Anwendung klar ersichtlicher Normen auf konkrete Fälle getroffen werden, ist zweifellos zutreffend38 • Von der politischen Gesamtsituation über tatsächliche Besonderheiten des Einzelfalls bis zu den persönlichen Einstellungen des Entscheidungsträgers gibt es viele Faktoren, die beeinflussen, welche juristische Entscheidung in einem konkreten Einzelfall tatsächlich getroffen wird. Derartige nicht normative Faktoren können faktisch ein erheblich größeres Gewicht bei der Entscheidungsfindung haben als die anwendbaren Völkerrechtsnormen. Die Berücksichtigung des faktischen Kontexts ist daher für soziologische Untersuchungen, die das Recht als Teil des sozialen Gesamtsystems ansehen und die Wechselwirkungen zwischen Recht und Gesellschaft untersuchen, essentiell39 . Die New Haven School bietet eine anspruchsvolle und umfassende Methode, um alle möglicherweise relevanten Faktoren zu berücksichtigen40 . Diese Betonung der Bedeutung der faktischen Umstände des jeweiligen Einzelfalls könnte zu einer Sensibilisierung der Entscheidungsträger für die komplexen Realitäten der internationalen Gemeinschaft und der Rolle, die das Völkerrecht darin spielt, beitragen41 • Zudem könnte 35 Vgl. AUott, BYIL Bd.45 (197\), S. 123; D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 459. Zu weitgehend Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 381 f., der meint, daß McDou.gal für die juristische Entscheidungsfindung überhaupt nicht auf Normen abstelle. Ahnlich wie McDougal beurteilen die Rolle von Normen z. B. Baldwin, Yale L. 1. Bd. 73 (1964), S. 729; Bühring, Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 133; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1971), S. 670. 36 Falk, The Status of Law in International Society, S. 647. 37 Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 173. 38 So auch Baldwin, Yale L. J. Bd. 73 (1964), S. 729; Moore, Law and the IndoChina War, S. 47 u. 65; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 193. 39 Moore, Law and the Indo-China War, S. 52. 40 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45; Moore, Law and the Indo-China War, S. 55 f., Fußn. 8; Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 66; Schreuer, Die Behandlung internationaler Organ akte, S. 23. 41 AUott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 133; Falk, The Status of Law in International Society, S. 45.

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eine stärkere Berücksichtigung des Kontexts möglicherweise eine Entwicklung der juristischen Diskussion hin zu einem rein dogmatischen Streit über Begriffe verhindern und sie stärker an der Wirklichkeit orientieren42 . Aus der zutreffenden Beschreibung der tatsächlichen Bedeutung des faktischen Kontexts durch die New Haven School läßt sich aber nicht ableiten, daß juristische Entscheidungen über einzelne konkrete Probleme von anderen Faktoren als von Normen beeinflußt werden sollen und daher die traditionelle Auffassung, daß Normen konkrete Einzelfälle abschließend regeln, falsch ist. Bei der Rechtsanwendung ist der Spielraum, innerhalb dessen faktische Umstände berücksichtigt werden können, durch die jeweils anwendbaren Normen begrenzt, denn diese legen durch ihre abstrakten Tatbestandsmerkmale selbst fest, welche Faktoren des tatsächlichen Kontexts in die juristische Entscheidungsfindung einbezogen werden sollen43 . Die Kritik der New Haven School am Bild der automatischen Normanwendung ohne Berücksichtigung extra-legaler Faktoren geht daher fehl, denn die soziologische Frage, welche Faktoren tatsächlich eine bestimmte Entscheidung beeinflussen, ist strikt von der normativen Frage zu trennen, welche Umstände rechtlich von Bedeutung sind, weil sie sich unter die anwendbare Norm subsumieren lassen. Hier zeigt sich das grundlegende Problem der Schule von New Haven: Sie vermengt die normative Ebene des Sollens mit der faktischen Ebene des Seins44 , statt zwischen bei den Ebenen klar zu trennen. Die New Haven School nimmt die sozialen und wirtschaftlichen Faktoren des Kontexts insgesamt in das Recht aut 5 . Aus der zutreffenden Beobachtung der New Haven School, daß die Welt sich aus unterschiedlich umfassenden Gemeinschaften und Prozessen zusammensetzt, die sich gegenseitig beeinflussen und die voneinander abhängen, folgt nicht schlüssig, daß bei einer juristischen Entscheidung der gesamte faktische Kontext des jeweiligen Problems berücksichtigt werden muß. Die in den Werken der New Haven School ständig zu findende Betonung der Notwendigkeit der Berücksichtigung des gesamten faktischen Kontexts verdeckt das wirkliche Problem, nämlich die Frage, nach welchen Kriterien der für den Einzelfall relevante vom nicht relevanten Kontext unterschieden werden soll. Es ist schon logisch ausgeschlossen, wirklich den gesamten Kontext einer juristisch zu prüfenden Situation einzubeziehen. Die BerückVg!. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 514. Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269; ähnlich Lauterpacht, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 27; Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 169; Wolfke, Custom in Present International Law, S. 41. 44 So auch Rosenthal, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 70. 45 Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 70. 42

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sichtigung möglichst vieler außerrechtlicher Faktoren des Kontexts verkompliziert in den meisten Fällen die Rechtsanwendung unnötigerweise46 und fordert vom Juristen vertiefte Kenntnisse in anderen Wissenschaftsdisziplinen, die dieser gar nicht alle haben kann47 . Da jede sinnvolle Begrenzung des zu berücksichtigenden Kontexts fehlt, ist diese These der New Haven School praktisch nicht handhabbar48 . Der Glaube, die möglichst umfassende Berücksichtigung eines möglichst weit gefaßten Kontexts sei eine Garantie für richtige, abgewogene Entscheidungen, scheint irrig, denn wesentlicher als die Zahl der berücksichtigten tatsächlichen Umstände dürfte sein, wie diese ausgewählt, gewichtet und unter Tatbestandsmerkmale subsumiert werden49 . Das belegen beispielsweise McDougals Artikel zu den Wasserstoffbombentests und zu der Kuba"Quarantäne", in denen er zwar auf alle möglichen tatsächlichen Gesichtspunkte eingeht, dabei aber manche davon von vornherein als unwichtig ansieht und andere fragwürdig subsumiert. Falk ist daher Recht zu geben, wenn er meint: "National decision-making with respect to the use of force is likely to be ,unreasonable' because of the partisan and impassioned interpretation of the facts rather than because of any lack of comprehensiveness. ,,50 Die schiere Menge der nach der Vorstellung der New Haven School zu berücksichtigenden Faktoren des Kontexts untergräbt die Vorhersehbarkeit des Rechts 51 , da jeder Entscheidungsträger auf andere Umstände abstellen kann. Die Betonung der Rolle des jeweiligen faktischen Kontexts des Einzelfalls birgt ferner die Gefahr, daß nur über die Besonderheiten des Einzelfall diskutiert wird, über die eine Einigung oft schwer fallen wird 52 . Dadurch würden grundsätzliche, dem Gemeinwohl verpflichtete Gesichtspunkte zu kurz kommen und das Recht würde sich von Einzelfall zu Einzelfall ändern 53 . Das von der New Haven School dem Kontext beigemessene Gewicht könnte dazu führen, daß "das spezifisch rechtliche normative Argument in diesem Sumpf der Tatsachen gewissermaßen versinkt oder sich auflöst,,54. Damit würde zugleich der Weg frei werden für eine Argu46 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45; a. A. Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 17 u. 23. 47 Baldwin, Yale L. 1. Bd.73 (1964), S. 727; ähnlich Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 31. 48 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 503 u. 514. 49 Vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 93. 50 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 93. 51 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 460. 52 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 460. 53 Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 173 f. 54 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 514.

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mentation je nach politischer Einstellung des Entscheidungsträgers 55 , da es von dieser abhängt, welche Faktoren des grundsätzlich grenzenlosen faktischen Kontexts er für maßgeblich hält. In Umsetzung der These von der Bedeutung des faktischen Kontexts beginnen die Studien der New Haven School oft mit einem Kapitel zum faktischen Hintergrund des Rechtsproblems, das in der Regel eine erheblich umfassendere und detailliertere Darstellung des politischen, wirtschaftlichen, technischen etc. Gesamtkontextes bietet, als das in völkerrechtlichen Werken üblicherweise der Fall ist56 . Diese Methode hat den Vorteil, daß sie den Leser gleich in das soziale und politische Umfeld einführt, aus dem sich das juristische Problem ergibt57 • Der Nachteil dieses Aufbaus ist allerdings, daß der Leser Schwierigkeiten hat, die in der Regel ausführlichen Darlegungen zum realen Kontext während des Rests der Studie für die juristische Argumentation in einer Weise im Kopf zu behalten, die über einen generellen Eindruck hinaus ihm die Berücksichtigung dieses Kontexts für spezielle Einzelfragen ermöglicht58 . ce) Gleichzeitige Anwendbarkeit entgegengesetzter Prinzipien Als weiteren Grund, warum von einer quasi-automatischen Anwendung vorgegebener Normen auf den jeweils zu klärenden konkreten Einzelfall keine Rede sein könne, führt die Schule von New Haven an, daß in jedem einzelnen Fall zwei inhaltlich entgegengesetzte Prinzipien gleichermaßen anwendbar seien. Der Entscheidungsträger muß daher nach Meinung dieser Schule bei jedem konkreten Problem vor der Anwendung einer Norm zunächst entscheiden, welche der beiden Prinzipien er auf den Fall anwenden will, wobei sich diese Entscheidung nicht logisch aus dem Rechtssystem ergebe, sondern nur mittels des Rückgriffs auf Werte getroffen werden könne 59 . Angesichts der zentralen Bedeutung der These von der gleichzeitigen Anwendbarkeit sich inhaltlich widersprechender Prinzipien erstaunt, daß die New Haven School diese These nicht wirklich begründet, sondern nur Beispiele dafür vorbringt. Wäre die These der New Haven School zutreffend, SS Krakau, Missionsbewußtsein, S. 514, meint, daß der "contextual approach" letztlich nur als Mittel zur Verwirklichung der Ideologie diene. S6 AUott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 116; Falk, The Status of Law in International Society, S. 649; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 177; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 468. S7 AUolt, BYIL Bd. 45 (1971), S. 109. S8 AUolt, BYIL Bd. 45 (1971), S. 108 u. 113. 59 Ebenso Falk, Legal Order in a Violent World, S. 85; Moore, AJIL Bd. 61 (1967), S. 1052.

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würden Normen ihren Charakter als Sollensvorschrift verlieren, weil eine Handlung nicht gleichzeitig verboten und erlaubt sein kann 60. McDougals Beobachtung, daß es zu einem juristischen Prinzip oft ein Gegenprinzip zum selben Problemkreis gibt, das inhaltlich das Gegenteil des ersten Prinzips besagt61 , ist zwar zutreffend. Die von der New Haven School als Beispiele angeführten Prinzipien wie etwa paeta sunt servanda rebus sie stantibus oder Freiheit der Meere - Küstenmeer, Anschlußzone etc. führen diese Tatsache erhellend vor. Mit dem Nachweis, daß es viele einander entgegengesetzte Rechtsgrundsätze und -konzepte gibt, ist aber noch nicht bewiesen, daß diese entgegengesetzten Prinzipien in jedem konkreten Fall gleichermaßen anwendbar sind, also gleichzeitig Geltung beanspruchen. Untersucht man die von der New Haven School angeführten Beispiele näher, zeigt sich, daß es sich bei den meisten dieser Gegensatzpaare um das Verhältnis einer Ausnahmevorschrift zu einem Grundsatz handelt62 . Soweit das nicht der Fall ist, ist die Geltung zumindest eines der behaupteten Prinzipien fragwürdig; so besteht beispielsweise der von McDougal behauptete Gegensatz zwischen den Prinzipien "permissible coercion" und "impermissible coercion" deshalb nicht, weil es keinen allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz gibt, nach dem Gewaltanwendung erlaubt ist. Eine Ausnahmevorschrift ist nur dann anwendbar, wenn ihre im einzelnen genau bestimmten Voraussetzungen vorliegen; in Zweifelsfällen gilt der Grundsatz, daß Ausnahmen eng auszulegen sind. Ist die Ausnahmevorschrift nicht anwendbar, so folgt logisch aus dem Verhältnis der Ausnahme zum Grundsatz, daß dann nur der Grundsatz anwendbar ist, d. h., die Rechtsordnung regelt selbst, daß immer nur eines von beiden Prinzipien für einen konkreten Fall Geltung beansprucht. Daher liegen nicht wirklich zwei gleichermaßen anwendbare gegensätzliche Prinzipien vor, sondern die Ausnahme schränkt den Grundsatz nur ein, ohne ihn aufzuheben 63 . Die New Haven School übersieht also, daß den einzelnen Prinzipien nicht unbedingt das gleiche Gewicht zukommt und sie sich daher nicht gegenseitig neutralisieren64 . Das Problem der gleichzeitigen Anwendbarkeit entgegengesetzter Prinzipien stellt sich für die New Haven School vor allem deshalb, weil sie den Unterschied zwischen Grundsätzen und Ausnahmevorschriften durch extrem 60 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 378; D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 221. 61 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 505 u. 515. 62 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 379. 63 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 379. 64 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 515.

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weite Auslegung der Ausnahmen und ihre analoge Anwendung auf andere Sachverhalte verwischt. Demnach folgt dieses Problem nicht aus der Natur des Rechtssystems, sondern diese Schule übertreibt den komplementären Charakter von Rechtsnormen 65 . McDougals Abstellen auf Werte und "policies" - d. h. auf außerrechtliche Gesichtspunkte - für die Entscheidung, welches der beiden entgegengesetzten Prinzipien auf den jeweiligen Einzelfall Anwendung findet, ist unnötig und stellt "eine Flucht vor der spezifisch rechtlichen Aufgabe und Verantwortung" in politische Überlegungen dar66 . c) Gesamtbewenung des Normskeptizismus

der New Haven School

Nachdem die einzelnen Kritikpunkte der Schule von New Haven an der Definition des Rechts als Gesamtheit von Normen untersucht wurden, bleibt festzuhalten, daß keiner davon wirklich stichhaltig ist und die Schlußfolgerung tragen würde, daß diese Definition und mit ihr das gesamte klassische Verständnis des Rechts als System abstrakter Normen abzulehnen ist. Die wirklichen Gründe, die McDougal zur Ablehnung der klassischen Definition bewogen haben, dürften auch anderswo zu suchen sein als in den ständig wiederholten Kritikpunkten gegenüber Normen, nämlich insbesondere darin, daß durch eine geringere Bedeutung konkreter Regeln die Möglichkeiten für die Berücksichtigung von Werten und "policies" vergrößert würden 67 • Normen bieten einen objektiven Maßstab für das zwischenstaatliche Verhalten, der von den im jeweiligen Einzelfall bestehenden Interessen der Staaten unabhängig ist68 . Indem Normen klare Verhaltensstandards setzen, verhindern sie Streitfalle bzw. erleichtern ihre Lösung69 . Ein Urteil, das ausschließlich auf Billigkeitsüberlegungen beruhte, könnte sich nur auf die Autorität des Gerichts selbst stützen, wohingegen einem Urteil, das sich auf allgemein anerkannte Normen beruft, zugutekommt, daß die Normen von der Staatengemeinschaft selbst geschaffen und gewollt sind7o . So auch Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 76 f. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 515. 67 Vgl. Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 66 f. 68 Falk, The Status of Law in International Society, S. 47; Lauterpacht, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 26. 69 D'Amato, Harvard Law Review Bd.75 (1961), S. 460; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156; Lauterpacht, Georgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 26. 70 Vgl. Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 133; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 272; ähnlich D'Amato, Harvard Law Review Bd.75 (1961), S. 460 f. 65

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Nonnen bewirken allein durch ihre Geltung als Nonnen zu einem gewissen Maß, daß die Nonnadressaten sich zu ihrer Befolgung verpflichtet fühlen, unabhängig davon, ob eine bestimmte Nonn in einer bestimmten Situation ihrem Eigeninteresse entspricht7 !. Die von der New Haven School vorgenommene Dekonstruierung von Nonnen läuft Gefahr, diese Wirkung von Nonnen hin zu ihrer Befolgung durch die Staaten aufzuheben 72 und damit die "guidance functions of international law" zu untenninieren 73. Die ablehnende Haltung, die die New Haven School gegenüber der Rolle von Nonnen einnimmt, und ihre Skepsis gegenüber einer Sicht von Nonnen als "restraint system" birgt die Gefahr, den Staaten einen Vorwand zu liefern, sich von als lästig empfundenen Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit durch völkerrechtliche Nonnen zu befreien74 • McDougals Betonung der Offenheit von Nonnen und damit des weiten Auslegungs- und Entscheidungsspielraums, der den Entscheidungsträgem bei ihrer Anwendung zusteht, birgt die Gefahr der Manipulation durch die Staaten75. Entscheidungsträger neigen dazu - insbesondere unter dem Druck von Konfliktsituationen - Völkerrechtsnonnen entsprechend den Interessen ihres eigenen Staates auszulegen 76. Gerade die Schlüsselbegriffe der New Haven School wie "policies", "reasonableness" etc. sind noch vager und komplizierter als die von ihr abgelehnte Nonnorientierung 77 , so daß ihre praktische Handhabbarkeit und die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe zu klaren Ergebnissen zu kommen, fraglich sind78 • 71 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 124 f.; ähnlich Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 34; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272. 72 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125; ähnlich D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 460; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 89; ders., The Status of Law in International Society, S. 45; a. A.: Moore, Law and the Indo-China War, S. 6 f. 73 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45. 74 Vgl. Falk, The Status of Law in International Society, S. 45; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267 u. 272; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 467. 75 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45 u. 47; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 517; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 467; a. A.: Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 670; Moore, Law and the Indo-China War, S. 44 u. 65 f. 76 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 92 f.; Schachter, Remarks, Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272. 77 Ebenso Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 111, 127 u. 133; D'Amato, The Concept of Custom, S. 229; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 92 ff.; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 517; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 61; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 197; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 465 ff.; D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 460 f.

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Die traditionelle Definition des Völkerrechts als System von Normen, die die zwischenstaatlichen Beziehungen regeln und die Staaten binden, kann zwar in der Tat zu einem von der Wirklichkeit der internationalen Gemeinschaft entfernten und starren Bild des Völkerrechts führen, aber dieses Problem ist der Definition nicht immanent, sondern kann durch eine Ausweitung des Blickwinkels und der Fragerichtung behoben werden79 . Auch die vorherrschenden Völkerrechtsauffassungen sehen die mit Normen verbundenen Probleme und versuchen, das notwendige Maß an Flexibilität zu erreichen und die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen8o . McDougals Behauptung, die traditionellen Völkerrechtstheorien würden die Rechtsanwendung als quasi-automatischen Prozeß ansehen, trifft nicht zu, denn auch nach diesen Theorien ist anerkannt, daß juristische Entscheidungen oft ein Element der Wahl zwischen verschiedenen moralischen Werten oder politischen Positionen beinhalten 81 . Allerdings bedeutet die Ablehnung der Definition des Völkerrechts als Gesamtheit von Normen durch die Schule von New Haven nicht, daß diese Schule die Existenz von Normen leugnet 82 und die geltenden Völkerrechtsnormen völlig ignoriert. Da nach ihrer Lehre der Entscheidungsträger die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen berücksichtigen soll und diese praktisch im wesentlichen aus Normen abgeleitet werden, spielen Normen auch im Werk der New Haven School eine bedeutende Rolle 83 • Die in der kritischen Haltung dieser Schule gegenüber abstrakten Normen liegende Umwälzung ist daher praktisch weniger dramatisch und radikal als theoretisch 84, denn das Erfordernis der Achtung der Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder wirkt als Sicherung gegen exzessive Subjektivität der Entscheidungsträger und fordert indirekt die Beachtung der geltenden Normen85 . Trotzdem vermag die von der Schule von New Haven vorgeschlagene Definition insgesamt nicht zu überzeugen: "But it would be regrettable, to say the least, if such an approach were to be put forward or to be generally accepted as a substitute for the traditional method of finding international law, with that method's relative and highly convenient certainty, its remarkable flexibility and senRosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 197. So auch Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 192. 80 Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 69. 81 Hart, The Concept of Law, S. 200; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 469. 82 So aber Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 378; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 474 u. 505; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 190; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 467. 83 Vgl. Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 69, 146 f. u. 183. 84 Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 69. 85 Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 183. 78

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

sitivity over time, and, above all , with the strength it gains from being found by men but created by international society itself. ,,86

2. Definition des Völkerrechts als Entscheidungen Die New Haven School konzentriert sich entsprechend ihrer Definition des Rechts als "process of decision" statt auf allgemeine und abstrakte Normen auf einzelne konkrete Entscheidungen, die durch einen bestimmten Kontext bedingt sind und die als Recht angesehen werden, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Als Beschreibung der empirisch feststell baren Vorgänge des Rechtslebens ist diese Definition überzeugend, denn der tatsächlich erfahrbare Teil des Rechts besteht aus Entscheidungen und dem Prozeß der Entscheidungsfindung 87 . Untersucht man das Völkerrecht nicht als statisches System von Normen, sondern unter dem Blickwinkel der Entstehung von Recht, so kann man es als Prozeß sehen, der aus dem Treffen einer Vielzahl von Entscheidungen durch verschiedene Beteiligte besteht. Die von der New Haven School vorgeschlagene Definition des Völkerrechts als "process of decision" zeigt damit einen Aspekt des Völkerrechts, der von der klassischen Theorie manchmal übersehen wird 88 . Die Möglichkeit einer Sicht des Rechts als juristischer Entscheidungsprozeß ist nicht unvereinbar mit einem normorientierten Verständnis des Rechts, sondern stellt nur einen anderen Blickwinkel dar89 • Umgekehrt gilt aber auch: Die Tatsache, daß konkrete juristische Entscheidungen einen wichtigen Aspekt des Rechts darstellen, bedeutet nicht, daß das Recht kein System von Normen ist9o . Durch die wichtige Rolle, die das Gewohnheitsrecht im Völkerrecht spielt, befaßt sich die Völkerrechtswissenschaft auch schon herkömmlicherweise mit einzelnen konkreten Entscheidungen. Die von der New Haven School vorgeschlagene Definition ist jedoch insofern problematisch, als sie nicht bloß als Definition im Rahmen einer soziologischen Untersuchung des Völkerrechts gedacht ist, sondern als allgemeingültige, auch im Bereich der Rechtstheorie und der Rechtswissenschaft im engeren Sinne anwendbare Definition. Die New Haven School beschränkt diese Definition nicht auf den rechtssoziologischen Teil ihrer Darlegungen. Ihre Kritik, die klassische Definition beschreibe die soziale Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 133. Vgl. Kelsen, General Theory of Law and State, S. 39; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 65 ff. 88 So auch Nardin. Law, Morality and the Relations of States, S. 194. 89 Vgl. Nardin. Law, Morality and the Relations of States, S. 190. 90 Hart. The Concept of Law, S. 133. 86

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Kapitel I: Kritik der Definition des Rechts als .. process of decision"

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Realität nicht zutreffend, geht fehl, weil die Rechtstheorie ihrer Fragestellung nach nicht die soziale Wirklichkeit (das Sein), sondern den nonnativen Sinngehalt (das Sollen) des Rechts unt~rsucht91. Diese Kritik belegt ebenso wie die stattdessen vorgeschlagene Definition des Völkerrechts als faktischer Entscheidungsprozeß die Vennengung von Sein und Sollen im Denken dieser Schule92 . Die strittige Frage ist also nicht, ob es überhaupt möglich ist, das Völkerrecht als Entscheidungsprozeß zu beschreiben, sondern vielmehr, ob das die einzig zutreffende Definition für jede Art von rechts wissenschaftlicher Fragestellung ist. Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, zwischen Tatsachen und Recht ist ein grundlegender philosophischer Ansatz, der insbesondere den Werken von Kant, Radbruch und Kelsen zugrundeliegt93 . Es ist unstreitig, daß Nonnen Sollenssätze sind; das Verhältnis von Sein und Sollen ist dagegen umstritten 94 . Zwar trifft es zu, daß eine ganz strikte Trennung von beidem nicht möglich ist, da das Recht in die Realität eingebettet ist95 und auch die Rechtswissenschaft im engeren Sinne deskriptive Aussagen enthält96 . Trotzdem erscheint es aber als überzeugend, daß aus Seins-Tatsachen nicht unmittelbar ein Sollen abgeleitet werden kann97 , weil Sein und Sollen logisch auf verschiedenen Ebenen liegen. Eine Nonn beschreibt nicht soziologisch ein tatsächliches Verhalten, sondern drückt nur aus, daß, wenn ihr Tatbestand erfüllt ist, ein bestimmtes Verhalten folgen soU98• Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 2. So auch RosenthaI, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 98; Simma, FS Kolb, S. 344. 93 Vgl. Kelsen, General Theory of Law and State, S. 36 f.; Röhl, Rechtssoziologie, S. 78 f. Diesem Ansatz folgen z. B. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthurn (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 63, Fußn. 131; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 9 f.; lpsen-Ipsen, Völkerrecht, § I Rn. 18; Krüger, FS lean Spiropoulos, S. 281; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 508 f.; Simma, ZaöRV Bd. 32 (1972), S. 673; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 16. 94 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 26; vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 12; Falk, AJIL Bd.61 (1967), S. 488; Raiser, Rechtssoziologie, S. 14; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simrna/Blenk-Knocke, S. 508 f. 95 Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 12; Falk, AJIL Bd.61 (1967), S. 488; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 27. 96 Raiser, Rechtssoziologie, S. 14. 97 Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 12; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthurn (Hrsg.), Völkerrecht, I. Abschnitt Rn. 63, Fußn. l31; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 27; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 10 f.; Kelsen. General Theory of Law and State, S. 36 f.; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 91; Röhl, Rechtssoziologie, S. 79; Simma, ZaöRV Bd. 32 (1972), S. 673. 98 Kelsen, General Theory of Law and State, S. 36; Kelsen/Tucker, Principles of International Law. S. 6. 91

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Das damit zugleich von der New Haven School abgelehnte Modell der Autonomie des Rechts beschreibt zwar in der Tat die Wirklichkeit nicht zutreffend, denn in der Realität bestehen vielfliltige Wechselbeziehungen zwischen Völkerrecht einerseits und Politik bzw. gesellschaftlichem Kontext andererseits. Diese Realitätsferne ist aber kein Argument gegen die Richtigkeit des Modells der Autonomie des Rechts, weil es nicht die Wirklichkeit beschreiben soll, sondern ein Denkmodell der Rechtstheorie darstellt. Rechtstheoretisch gesehen ist die Annahme der Autonomie des Rechts notwendig, denn das Recht kann keine Befolgung als Verhaltensmaßstab beanspruchen und damit kein Sollen darstellen, wenn es der sozialen und politischen Wirklichkeit nicht als etwas anderes, mit Geltungsanspruch versehenes gegenübertreten würde, sondern es selbst Teil der Realität wäre 99 • Wenn das Völkerrecht - wie von der New Haven School vertreten - nur aus den im Bereich der internationalen Beziehungen getroffenen juristischen Entscheidungen und dem Prozeß des Entscheidungstreffens bestünde, würde sich die Rechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens nach diesen Entscheidungen anstatt nach abstrakten Normen richten 1OO ; demnach würde das Recht dann nicht aus Verhaltensstandards, sondern aus dem Verhalten der Staaten selbst bestehen 1ol . Die besondere Problematik dieser Sicht hat Terry Nardin herausgearbeitet: "The point here is not that judges and officials apply various sorts of legal standards other than rules, but that all legal standards are so embedded in and inseparable from the actual conduct of lawmakers, judges, and administrators as to be incapable of satisfactory statement apart from a detailed description of their decisions and the circumstances in which they are made.,,102 Damit würde sich die Normativität des Völkerrechts auflösen 103. Gegen die Sicht der New Haven School, wonach das Verhalten selbst den Maßstab des Verhaltens darstellt, spricht, daß eine solche Definition dem besonderen Wesensmerkmal des Rechts nicht gerecht würde: Kenn99 So auch Allort, BYIL Bd. 45 (1971), S. 131; Bühring, Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 31; Falk, The Status of Law in International Society, S. 57 f.; ders., FS Leo Gross, S. 150 f.; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 121; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 194 f.; Simma, ZaöRV Bd. 32 (1972), S. 673. Dagegen lehnt Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267, das Modell der Autonomie des Rechts ab. 100 Vgl. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 189 u. 194 f.; Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 129. 101 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 19; RosenthaI, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 129. 102 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 194. 103 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 514 u. 518; ähnlich Allort, BYIL Bd. 45 (1971), S. 123.

Kapitel I: Kritik der Definition des Rechts als "process of decision"

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zeichnend für Recht ist gerade, daß es ein Sollen aufstellt, also einen Verhaltensmaßstab lO4 • Die klassische Definition des Rechts als System von Normen ist daher unverzichtbar: "To speak of a legal system as a body of rules does not exclude consideration of it as an activity, but rather points to what is surely a characteristic feature of law: that it is an activity defined and governed by rules.,,105 Eine theoretische Trennung zwischen Recht einerseits und Fakten andererseits statt einer Verschmelzung beider Kategorien ist erforderlich, schließt aber nicht die Berücksichtigung des sozialen und politischen Kontexts und die Untersuchung der Beziehung zwischen beidem aus 106. 3. Definition des Völkerrechts als Prozeß a) Das Völkerrecht als sich ständig wandelndes Recht

Die Schule von New Haven definiert das Völkerrecht als ständigen Entscheidungsprozeß, bei dem das Recht immer im Entstehen begriffen ist, statt als statisches System von Normen 107. Da die New Haven School das Recht funktional sieht, folgert sie aus dieser Natur des Völkerrechts für die Völkerrechtswissenschaft die Aufgabe, das Völkerrecht anhand bestimmter Ziele daraufhin zu untersuchen, wie es sein sol/telOS und es entsprechend zu verändern. Dabei lehnt sie die strikte Unterscheidung zwischen de lege lata und de lege ferenda ab lO9 • Die Sicht des Völkerrechts als Prozeß ist insofern überzeugend, als das Völkerrecht sich in der Tat ständig wandelt. Es ist ein Verdienst der Schule von New Haven, daß sie den Blick auf die Veränderbarkeit des Völkerrechts und die Notwendigkeit seiner Anpassung an veränderte Umstände gelenkt hat. Auch die Beobachtung, daß es gerade im Völkerrecht manchmal schwer feststellbar ist, ob eine bisher geltende Norm weiterhin gilt, ist zutreffend. Insbesondere in Situationen, in denen keine klare völkerrechtliNardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 195. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 195. Dagegen läßt Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 64 f., offen, ob es notwendig ist, das Recht als Gesamtheit von Normen zu definieren. 106 Vgl. Falk, The Status of Law in International Society, S. 41 u. 58; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61, Fußn. 5. 107 So auch D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 18; Falk, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 280; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669; Moore, Law and the Indo-China War, S. 43 u. 52. 108 Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 123. 109 So auch Higgins, RdC 1991/V, S. 34; dies., The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 40; vgl. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 505. 104

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che Norm gilt, sondern eine neue Norm entsteht oder eine bisher geltende Norm sich verändert und die Praxis der Staaten widersprüchlich ist, kann eine flexible Sichtweise angemessener sein als eine nur starr an bisher geltenden Normen orientierte I 10. Die Sicht des Völkerrechts als im ständigen Wandel befindlicher Prozeß wirft aber auch erhebliche Probleme auf. Die theoretischen Darlegungen der New Haven School enthalten bereits den Grundstein einer Vermischung von geltendem und gewünschtem Recht, weil diese Schule Wert darauf legt, daß ein Jurist für eine rationale Entscheidung immer alle intellektuellen Aufgaben zugleich erfüllen müsse; wenn ein Richter sich aber beim Fällen eines Urteils gleichzeitig mit Rechtspolitik befassen müßte, läge eine Vermengung dieser verschiedenen Aufgaben nahe. Ebenso werden in den Darlegungen der Vertreter dieser Schule zu einzelnen konkreten völkerrechtlichen Fragen teilweise das geltende Recht und das Recht, das nach Auffassung dieser Vertreter gelten sollte, vermischt lll • Nimmt man die Ablehnung einer strikten Trennung zwischen lex lata und lex ferenda durch die New Haven School ernst, so ist dem entgegenzuhalten, daß ein Jurist nicht einfach das seiner Meinung nach sinnvolle Recht an die Stelle des von der Staatengemeinschaft geschaffenen Rechts setzen kann, weil ihm dazu die Legitimation fehlt l12 . Auch wenn die von der klassischen Völkerrechtsauffassung vorgenommene scharfe Trennung zwischen geltendem und (noch) nicht geltendem Recht Gefahr läuft, Meinungsunterschiede zwischen Staaten über den Inhalt einer Rechtsnorm zu verdecken l13 , so kann doch eine bloß von manchen Staaten oder von manchen Rechtsgelehrten als sinnvoll angesehene Regelung die geltende Norm nicht abändern, weil sie keinen Geltungsanspruch hat. Zwar ist McDougal darin zuzustimmen, daß die Entscheidung, ob die einer bisher geltenden Norm entgegenstehende Praxis als einer neuen Völkerrechtsnorm entsprechend angesehen wird, letztlich eine subjektive Wertungsfrage darstellt 11 4 und es soziologisch betrachtet ein Spektrum zwischen klar geltender, weil allgemein befolgter Norm und nicht geltender Norm gibt l15 . Rechtsdogmatisch gesehen kann eine Norm aber nur entwe110 Ähnlich Higgins, The Identity of International Law, in: International Law Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 35 u. 37; RosenthaI, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 201; Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 19. 111 Vgl. Kelsen/Tucker, Principles of International Law, S. 449, Fußn. 21; Posner, Harvard Law Review Bd. 77 (1964), S. 1373. 112 Vgl. Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 119; Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/Carty/Koskenniemi/Warbrick. S. 15. 113 Farer, AJIL Bd. 85 (1991). S. 126; ähnlich Falk, AJIL Bd. 61 (1967). S. 487. 114 So auch Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht. Rn. 38 f.

Kapitel I: Kritik der Definition des Rechts als "process of decision"

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der gelten oder nicht gelten, Die möglichst klare Trennung zwischen lex lara und lex ferenda sollte daher beibehalten 116 und nicht durch ein Verständnis des Rechts als in ständiger Bewegung befindlicher Prozeß ersetzt werden, bei dem nie klar wäre, welche Norm mit welchem Inhalt im jeweiligen Zeitpunkt gilt ll7 . Solange das bisher geltende Recht noch nicht endgültig geändert wurde, sondern es nur bestimmte Anhaltspunkte für eine mögliche künftige Rechtsänderung gibt, besteht der Geltungsanspruch des bisher geltenden Rechts fort und wird nicht durch bloßen Zeitablauf oder eine veränderte Gesamtsituation in Frage gestellt l18 • Die statischen Charakterzüge, die auch das Völkerrecht - wie jede Rechtsordnung - aufweist, sind im übrigen nicht nur als Behinderung für notwendige Entwicklungen und damit kritisch zu sehen, sondern sie sind aus Gründen der Rechtssicherheit und der Ordnungsfunktion des Völkerrechts, das die Richtschnur für künftiges Verhalten darstellt, notwendig l19 . Außerdem ist das Völkerrecht auch nach der traditionellen Lehre nicht bloß statisch, sondern es hat die Fähigkeit zur Selbsterneuerung 12o. b) Das Modell von "claims and counterclaims" Die New Haven School beschreibt den Prozeß, aus dem juristische Entscheidungen entstehen, mit Hilfe des Modells von "claims and counterclaims". Die Erhebung kontradiktorischer Forderungen durch die beteiligten Staaten stellt dabei das Spiegelbild der von der New Haven School behaupteten Existenz gegensätzlicher, aber gleichermaßen anwendbarer Rechtsprinzipien dar l2l . 115 Röhl, Rechtssoziologie, S. 243; Thürer, Zeitschrift für Schweizerisches Recht Bd. 104 (1985), S. 441; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 420 ff.; ähnlich Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 68 f. 116 So auch Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 119 u. 123; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156; Moore, Law and the Indo-China War, S. 6; ders., AJIL Bd. 61 (1967), S. 1052; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 192, Fußn. 91; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 467; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 66, Fußn. 7; Thürer, Zeitschrift für Schweizerisches Recht Bd. 104 (1985), S. 452; wohl auch Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 320. 117 So auch Farer, AJIL Bd.85 (1991), S. 125; Young, AJIL Bd.66 (1972), S. 65; a. A. Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 19. 118 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125; Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3, Rn. 4; Randelzhofer, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 259; Röhl, Rechtssoziologie, S. 243. 119 lpsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 6; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S.156. 120 Delbrück, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 240; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 58; lpsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 6; ähnlich Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S. 782 f. 121 Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 188.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Dieses Modell der Geltendmachung einander widersprechender Ansprüche und ihrer Akzeptierung oder Ablehnung durch die Staatengemeinschaft beschreibt die Realität der internationalen Beziehungen durchaus zutreffend und entspricht der Sichtweise des Praktikers 122. In der Tat läßt sich die Herbeiführung einer juristischen Entscheidung bei unterschiedlichen Auffassungen einzelner Staaten als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses unter Abwägung aller beteiligter Interessen sehen 123. Die Beschreibung des Völkerrechts als Prozeß der Geltendmachung von Forderungen durch Staaten und der Reaktion der übrigen Staaten darauf, bei dem Rechtsprinzipien nur als Begründungen dienen, ist insbesondere hinsichtlich der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht eine erhellende Beschreibung der tatsächlichen Vorgänge im Bereich der internationalen Beziehungen 124. Das Problem ist jedoch auch hier, daß die New Haven School es nicht bei einer Beschreibung der sozialen Realität beläßt, sondern daraus normative Schlüsse zieht 125. Jede von einem Staat aufgestellte Rechtsbehauptung kann nach Auffassung dieser Schule als Versuch, Recht zu setzen bzw. zu bestätigen, angesehen werden, der bei positiver Reaktion der Staatengemeinschaft zu neuem Völkerrecht wird l26 . Die Rechtmäßigkeit einer von einem Staat erhobenen Rechtsbehauptung würde danach hauptsächlich von der Reaktion der anderen Staaten auf den "claim" abhängen 127, nur am Rande dagegen von völkerrechtlichen Normen 128 . Obwohl das Bild von "claims" und "counterclaims" als Beschreibung eines faktischen Prozesses überzeugt, folgt daraus jedoch nicht, daß jedes Ergebnis dieses Prozesses Recht darstellt; vielmehr muß jeder "claim" an 122 So auch Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 106; D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 459; Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 490; ders., The Status of Law in International Society, S. 48; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 505; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 63; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 194; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 186; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270; Woljke, Custom in Present International Law, S. 56 f. 123 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 459; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 194; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 186. 124 D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 18; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 55; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 185; vgl. Grewe, AVR Bd. 38 (1998), S. 2 ff. 125 Vgl. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 194 f.; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Zusammenarbeit und Intervention, Hrsg.: Simma/BlenkKnocke, S. 509; ähnlich Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 109. 126 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 62. 127 Dafür auch Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669. 128 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 459.

Kapitel I: Kritik der Definition des Rechts als "process of decision"

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völkerrechtlichen Normen gemessen werden. Dabei ist die faktische Reaktion der Staatengemeinschaft auf den erhobenen Anspruch nur als - wenn auch gewichtiges - Indiz der Völkerrechtmäßigkeit bzw. der Völkerrechtswidrigkeit anzusehen. Dafür spricht auch, daß es sehr schwierig sein kann, die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf einen "claim" zu deuten, da diese oft widersprüchlich sein dürfte und meist keine ausdrückliche Bewertung erfolgt l29 . Die Reaktion der anderen Staaten auf eine Handlung oder Behauptung eines Staates kann auf einer Skala zwischen völliger Akzeptanz durch alle Staaten und entschiedenem Protest durch alle Staaten liegen, so daß die Rechtmäßigkeit eines "claim" eine graduelle Frage wäre 130. Nach Auffassung der Schule von New Haven führt der Prozeß von "claim" und "counterclaim" aufgrund des Gegenseitigkeitsprinzips automatisch zu einer Klärung der gemeinsamen Interessen der beteiligten Staaten und des Gemeinwohls. Zu Recht weist McDougal damit dem Gegenseitigkeitsprinzip eine entscheidende Rolle in der dezentralisierten und durch den Grundsatz der Staatengleichheit geprägten Völkerrechtsordnung zu 131. Allein die Furcht vor der Geltendmachung ähnlicher Ansprüche durch andere Staaten genügt aber nicht immer, um Staaten von der Erhebung unvernünftiger Ansprüche abzuhalten. Unbeteiligte Staaten protestieren aus politischen Gründen nicht unbedingt gegen völkerrechtswidrige und (bzw. oder) dem Gemeinwohl widersprechende "claims" 132. Trotz der gegenseitigen Abhängigkeit der Staaten voneinander wäre es illusorisch anzunehmen, daß ein kleiner Staat gegen das Vorgehen einer Großmacht in jedem Fall protestieren und zu Sanktionen greifen würde 133. Oscar Schachter merkt hierzu zutreffenderweise kritisch an: "Reminiscent of Adam Smith's .unseen hand, McDougal's assumption of reasonableness and restraint serves to convert the separate pursuit of self-interest by national states into law that he finds serves the common interest of all.,,134 Vgl. Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 123. Vgl. Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 123. 131 Grewe, AVR Bd.38 (1998), S. 17; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 177; Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, S. 295; vgl. Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 11. 132 So auch D'Amato, Harvard Law Review Bd.75 (1961), S. 461; ders., The Concept of Custom, S. 216; Grewe, AVR Bd. 38 (1998), S. 3. 133 So aber z. B. McDougal/Burke, The Public Order of the Oceans, S. IX im Hinblick auf das Seerecht; kritisch dazu D'Amato, The Concept of Custom, S. 216; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 122; vgl. Grewe, AVR Bd. 38 (1998), S. 4. 134 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270; ähnlich Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 122. 129

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Die Schule von New Haven geht daher zu weit, wenn sie jede Reaktion der Staatengemeinschaft auf von einzelnen Staaten erhobene "claims" als geltendes Völkerrecht ansieht 135. c) Die Entstehung von Völkerrecht

Die Kritik der Schule von New Haven an der in Art. 38 des IGH-Statuts enthaltenen Aufzählung von Völkerrechtsquellen vermag nur begrenzt zu überzeugen. Auch die traditionelle Völkerrechtslehre behauptet nicht, daß jede einer Völkerrechtsquelle zuzuordnende Erklärung bindendes Völkerrecht darstellt, sondern sie benutzt die Lehre von den Völkerrechtsquellen nur zur Systematisierung der unterschiedlichen Erscheinungsformen, in denen Völkerrecht sich manifestiert 136. In der Tat ist es denkbar, daß beispielsweise ein völkerrechtlicher Vertrag keine bindenden Rechtsnormen enthält und daher nur seiner Form nach Völkerrecht darstellt. Das dürfte jedoch selten sein und schmälert nicht die Nützlichkeit einer Systematisierung der häufigsten Erscheinungsformen völkerrechtlicher Normen. Im übrigen genügt es für die Feststellung, ob eine Norm wirklich bindendes Völkerrecht darstellt, nicht - wie von der New Haven School gefordert - die tatsächliche Wirksamkeit der Norm zu prüfen, sondern es ist erforderlich zu untersuchen, ob die Norm mit Rechtsbindungswille gesetzt wurde. Der New Haven School ist zwar darin Recht zu geben, daß die in Art. 38 des IGH-Statuts aufgeführten Völkerrechtsquellen die Erscheinungsformen des heutigen Völkerrechts nicht abschließend wiedergeben, sondern beispielsweise auch Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bindendes Völkerrecht darstellen können 137. In der Tat ist es überzeugender, funktionelle Äquivalente für Legislative, Exekutive und Judikative, soweit sie in der dezentralen Völkerrechtsordnung vorhanden sind, anzuerkennen, als vergeblich nach Institutionen zu suchen, die vollkommen denen der nationalen Rechtsordnungen entsprechen 138. Das von dieser Schule vertretene Konzept der "prescription" und die Sicht des Völkerrechts als Kommunikationsprozeß stellen interessante Denkanstöße dar. Bei diesem Konzept droht aber der Gesichtspunkt zu kurz zu kommen, daß Vorschriften gleichgültig ob sie aus formal dazu autorisierten oder aus unorganisierten Prozessen entstehen - nur dann geltendes Recht darstellen, wenn Rechtsbindungswille der Staaten vorliegt. m So auch Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 194. Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 15; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, I. Abschnitt Rn. 70; Oppenheim/Lauterpacht, International Law, S. 24 f.; Rousseau, Droit International Public, S. 18. m So auch Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 239, Fußn. 85. 138 Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 479. 136

Kapitel II: "Authority" und "effective control"

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Kapitel 11

Definition des Völkerrechts als Verbindung von "authority" und "effective control" 1. Kritik dieser Definition

Die Schule von New Haven sieht nur solche Entscheidungen als Völkerrecht an, die "authority" und "effective control" aufweisen 139. Dieses Verständnis des Völkerrechts stellt einen Versuch dar, die Frage der tatsächlichen Effektivität und damit Machtfaktoren in die Definition des Völkerrechts selbst einzubeziehen, statt das Völkerrecht als Gegensatz zur Macht zu sehen. Für soziologische Untersuchungen des Völkerrechts überzeugt die Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions" durchaus l40 . Sowohl die tatsächliche Effektivität als auch die Vorstellungen der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft über die Legitimität spielen für die Realität völkerrechtlicher Entscheidungen eine Rolle. Entscheidungen, die nicht effektiv um- und durchgesetzt werden, sowie Nonnen, die toter Buchstabe bleiben, prägen die Wirklichkeit nicht, denn Nonnen brauchen zu ihrer Verwirklichung Effektivität l41 . Faktisch betrachtet schließen Macht und Recht sich in der Tat nicht gegenseitig aus, sondern juristische Entscheidungen benötigen für ihre Durchsetzung den Einsatz von Machtmitteln 142. Die Schule von New Haven lenkt daher zu Recht den Blick darauf, daß das Völkerrecht nicht bloß eine Reihe von Idealen als Gegenbild zur brutalen Welt der Machtpolitik darstellt, sondern die Ausübung von legitimer Macht umfaßt l43 . Auch eine strikte Trennung von Recht und Politik wäre gerade im Völkerrecht nicht realistisch, denn Völkerrechtsnonnen entstehen aus einer Wechselbeziehung zwischen Politik und Recht und bleiben auch nach ihrer Entstehung dem Politischen verhaftet l44 . Trotzdem ist für eine nonnative Betrach139 So auch Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 480; Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 43. 140 So auch Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 670; Moore, Law and the Indo-China War, S. 51 f.; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 465. 141 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 465; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268; Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 360 f. 142 Vgl. Higgins, The Identity of International Law, in: International Law Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 43; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 121; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd.76 (1963), S. 670; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268. 143 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

tung des Völkerrechts die Unterscheidung zwischen juristischen Argumenten und politischen Interessen wesentlich, denn eine der wichtigsten Aufgaben des Völkerrechts besteht in der Begrenzung rechtswidriger, politisch motivierter Machtausübung. Die Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions" ist auch insoweit zu begrüßen, als sie den Vorstellungen der Gemeinschaftsmitglieder darüber, was rechtmäßig ist, die ihnen in der Realität gebührende Bedeutung zumißt l45 • Das Einbeziehen auch der Rechtmäßigkeitsvorstellungen in den soziologischen Rechtsbegriff wirkt überzeugender und realistischer als die teilweise vertretene Auffassung, daß das Völkerrecht faktisch keine Auswirkungen auf die internationale Politik habe l46 . Die Schule von New Haven widerlegt die angebliche Bedeutungslosigkeit des Völkerrechts überzeugend mit dem Argument, daß Staaten sich immer bemühen, ihr Verhalten anhand von Völkerrechtsnormen zu rechtfertigen. Für soziologische Untersuchungen der Realität der internationalen Beziehungen ist es ergiebiger, gemäß der Definition der New Haven School auf die tatsächlichen Vorstellungen der Gemeinschaftsmitglieder über Rechtmäßigkeit abzustellen, als auf die abstrakte, nicht empirisch feststellbare Existenz von Völkerrechtsnormen. Die Beobachtung der New Haven School, daß "authority" und "effective control" sich gegenseitig beeinflussen, dürfte ebenfalls zutreffen, weshalb bei einer soziologischen Untersuchung des Völkerrechts Macht und Recht nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Auch als soziologische Beschreibung vermag die Definition des Völkerrechts als Zusammentreffen von "authority" und "effective control" allerdings nicht völlig zu überzeugen. Insbesondere bleiben die Begriffe "authority" und "effective control" recht unklar. So wird beispielsweise nicht deutlich, ob für das Vorliegen von "authority" die Erwartungen die gesamte formelle und materielle Rechtmäßigkeit umfassen müssen 147 und wie das Verhältnis von "authority" zu Normen beschaffen sein soll. Ferner wird nicht klar, auf wessen Erwartungen abgestellt wird und welches Maß 144 Bühring, Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 28; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 58; Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 4. 145 So auch Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 490; Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 37; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 670; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268. 146 So auch Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/Carty/KoskenniemilWarbrick, S. 10; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268; Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 216. 147 Vgl. Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61, Fußn. 7, und S. 66.

Kapitel II: "Authority" und "effective control"

267

an Effektivität genau erforderlich ist, damit eine Entscheidung als Recht angesehen werden kann. Die von der New Haven School vorgeschlagene empirische Feststellung der tatsächlich gehegten Rechtmäßigkeitserwartungen aller wesentlichen Mitglieder der internationalen Gemeinschaft dürfte praktisch kaum möglich sein 148 • McDougal, Lasswell und Reisman führen selbst auch keine derartigen empirischen Studien über die Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder durch 149, sondern behaupten ohne empirischen Beleg, daß bestimmte Entscheidungen "authoritative" seien. Sofern die Anhänger der Schule von New Haven letztlich die "authority" einer Entscheidung doch einfach anhand von Völkerrechts normen prüfen und unterstellen, daß die faktischen Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder durch diese Normen geprägt werden, erscheint das theoretische Abstellen auf die Erwartungen als überflüssig. Sofern sie dagegen von den anwendbaren Normen abweichende Erwartungen bejahen - wie z. B. Reisman in seinem Artikel zur Bombardierung Baghdads - stellt sich die Frage, wie sie diese Erwartungen ermittelt haben. Das wirklich Problematische an der Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions" ist jedoch, daß die New Haven School sie nicht klar auf soziologische Untersuchungen des Völkerrechts begrenzt, sondern aus ihr normative Schlußfolgerungen insbesondere für die Frage der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens zieht. Wenn nur "authoritative and controlling decisions" Recht darstellen, können auch nur diese effektiven Entscheidungen den Verhaltens maßstab bilden, an dem die Handlungen der Völkerrechtssubjekte zu messen sind. Als rechtsdogmatische Definition, die das Recht als normatives Sollen statt als Teil der sozialen Realität betrifft, vermag die von der New Haven School vorgeschlagene Definition nicht zu überzeugen, weil sie mit "authority" und "effective control" auf zwei Elemente des Seins zurückgreift, um ein Sollen zu definieren 150. Da aber Sein und Sollen logisch auf verschiedenen Ebenen liegen und aus einem Sein kein Sollen folgen kann, kann auch aus dem faktischen Vorliegen von "authority" und "effektive control" bei einer juristischen Entscheidung nicht die Geltung dieser Entscheidung als Recht folgen.

148 So auch Rosenthai. Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 170; Schachter. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268; vgl. ferner Young. AJIL Bd. 66 (1972), S. 62, Fußn. 11. 149 Vgl. Casper. Juristischer Realismus, S. 166; Johnston. CanYBIL Bd. 26 (1988), S. 17, Fußn. 53; Schachter. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270. 150 Vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 465.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Eine Entscheidung, die geltenden Völkerrechtsnormen zuwiderläuft, wird nicht dadurch rechtmäßig, daß sie den Vorstellungen der "wesentlichen" Gemeinschaftsmitglieder über legitimes Verhalten entspricht und tatsächlich umgesetzt wird. Die Rechtmäßigkeit einer Handlung bestimmt sich im Grundsatz ausschließlich nach Völkerrechtsnormen, nicht dagegen nach den sie faktisch prägenden tatsächlichen Umständen. Daher hilft die Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions" bei der Beantwortung der Frage, die sich für Juristen in der Regel stellt, nämlich ob ein bestimmtes Verhalten eines Staates rechtmäßig ist oder nicht, nicht weiter l51 . Der Schule von New Haven ist zwar darin zuzustimmen, daß der Grundsatz der Effektivität, nach dem das Völkerrecht bestimmte Rechtslagen (z. B. die Existenz eines Staates) erst dann als gegeben ansieht, wenn dafür nicht nur Erklärungen sondern Tatsachen sprechen (im Beispiel eine effektive Staatsgewalt), im Völkerrecht eine wesentliche Rolle spielt l52 . In der Völkerrechtsordnung besteht also eine engere Beziehung zwischen Fakten und Normen als in anderen Rechtsbereichen 153 . Die New Haven School übersieht jedoch die Grenzen, die das Völkerrecht dem Effektivitätsprinzip zieht: So gelten Normen auch dann weiter, wenn gegen sie verstoßen wird oder wenn sie nicht umgesetzt werden, solange ihre normative Geltung nicht von der Staatengemeinschaft verneint wird 154. Ferner bleiben völkerrechtliche Rechte grundsätzlich auch dann bestehen, wenn ihre faktische Ausübung durch rechtswidrig begründete Tatsachen unmöglich gemacht wird 155. Effektivität allein schafft keine Rechte, sondern sie ist nur insoweit juristisch von Bedeutung, wie die Völkerrechtsordnung es zuläßt 156 • Die These der New Haven School zur Notwendigkeit des Vorliegens von "effective control" für die Rechtsnatur von Entscheidungen trifft daher insoSchachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 81 u. 83; Doehring, Effectiveness, in: EPIL Bd. 7, S. 70; Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 3 Rn. 67; Krüger, FS Jean Spiropoulos, S. 281; Verdross/Simma, Universelles Völker151

152

recht, S. 51.

153 Delbrück. Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 240; Doehring, Effectiveness, in: EPIL Bd. 7, S. 70; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 58; Krüger, FS Jean Spiropoulos, S. 284; Michel. Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 180 f.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 51. 154 Delbrück. Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 247; KelsenlTucker. Principles of International Law, S. 6; Krüger, FS Jean Spiropoulos, S. 281; Kunig. in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 2 Rn. 137; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 52; a. A. Dahm. Völkerrecht Bd. 1, S. 81 f. 155 Verdross/Simma. Universelles Völkerrecht, S. 52; ähnlich Doehring, Effectiveness, in: EPIL Bd. 7, S. 74. 156 Doehring, Effectiveness, in: EPIL Bd. 7, S. 70.

Kapitel II: "Authority" und "effective control"

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fern nicht zu, als eine Norm nicht deshalb aufhört zu gelten, weil sie nicht umgesetzt bzw. weil gegen sie verstoßen wird. Die Geltung einer Norm als Recht ist aufgrund der Autonomie des Rechts im Grundsatz unabhängig von Machtverhältnissen und realer Durchsetzbarkeit. Die New Haven School verwechselt hier die normative Geltung einer Norm und ihre faktische Wirksamkeit 157 • Das Recht (bzw. die Rechtswissenschaft) hat manchmal gerade die Aufgabe, das Gesollte gegen die Wirklichkeit zu verteidigen 158 • Die Definition des Rechts als "authoritative and controlling decisions" würde ferner dazu führen, daß eine Norm mehr oder weniger Recht darstellen könnte, je nachdem, wieviel "authority" und "effective control" sie aufweist 159 . Dagegen spricht, daß eine Regelung dogmatisch gesehen nur entweder bindendes Recht darstellen kann oder aber Nichtrecht l60 • Dementsprechend legen die Staaten in der Regel großen Wert darauf klarzustellen, ob sie durch eine Regelung gebunden werden wollen oder nicht 161 . Nach der These der New Haven School müßte vor der Anwendung einer Völkerrechtsnorm in jedem konkreten Fall gefragt werden, ob die Norm den aktuellen Erwartungen der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft darüber, was effektiv umgesetztes Recht ist, entspricht; sollte das nicht der Fall sein, wäre die Norm unbeachtlich. Diese Sicht vermag weder rechtstheoretisch zu überzeugen noch beschreibt sie die Realität zutreffend, denn auch nicht-effektive Normen ohne Sanktionsmechanismus werden von den Staaten nicht als bloßer moralischer Appell ohne Rechsnatur angesehen. Eine Völkerrechtsnorm stellt nicht nur dann einen bindenden Verhaltensmaßstab dar, wenn bei ihrer Verletzung effektive Sanktionen ergriffen werden 162. Die Schule von New Haven räumt daher der Machtpolitik einen zu breiten Raum ein und ignoriert den normativen Geltungsanpruch des Völkerrechts. Ein weiteres Problem der Definition des Völkerrechts als Zusammentreffen von "shared expectations of the politically relevant actors" über Rechtmäßigkeit und "effective control" ist, daß damit den mächtigeren Staaten erheblich mehr Gewicht als kleineren Staaten zugemessen wird. Zum einen stellt die Schule von New Haven für die Rechtmäßigkeitserwartungen nur 157 Vgl. zu dieser Unterscheidung Kelsen. General S. 39 f.; Michel. Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 87 selles Völkerrecht, S. 53, Fußn. 86. 158 Delbrück. Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. S.259. 159 Falk. AJIL Bd. 61 (1967). S. 490. 160 Thürer. Zeitschrift für Schweizerisches Recht Bd. 161 Thürer. Zeitschrift für Schweizerisches Recht Bd. 162 Hart. The Concept of Law, S. 212 f.

Theory of Law and State, f.; Verdross/Simma. Univer247; RandelzhoJer. ebenda, 104 (1985), S. 441. 104 (1985), S. 442.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

auf die "politically relevant actors" ab, zum anderen werden über das Element der "effective control" die tatsächlichen Machtverhältnisse, die die stärkeren Staaten bevorzugen, als Teil des Rechts angesehen. Würde man diese Definition nicht bloß als - überwiegend zutreffende - Beschreibung der sozialen Realität der internationalen Beziehungen, sondern nonnativ verstehen, so würde statt des Grundsatzes der souveränen Gleichheit der Staaten die tatsächliche Ungleichgewichtigkeit der Machtverhältnisse den Maßstab der Rechtmäßigkeit staatlichen Verhaltens bestimmen 163. Eine andere Grundlage des Völkerrechts als die gleiche Bindung aller Staaten an völkerrechtliche Nonnen und zugleich die gleiche Berechtigung aller Staaten zur Gestaltung des Völkerrechts ist aber bei einem Gleichordnungssystem wie dem Völkerrecht nicht denkbar.

2. Das "incidents"-Konzept Das von Reisman entwickelte "incidents"-Konzept, das die Erforschung der tatsächlichen Erwartungen der Akteure des internationalen Geschehens über rechtmäßiges Verhalten mittels der systematischen Untersuchung von "incidents" und der Reaktionen der Staaten auf sie beinhaltet, stellt einen interessanten Vorschlag für völkerrechtliche Studien dar. In der Tat ennöglicht die genaue Untersuchung solcher Vorkommnisse wie der amerikanischen Invasion von Grenada oder des Golfkriegs einschließlich ihres jeweiligen faktischen Kontexts und der Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft Rückschlüsse auf den Inhalt des geltenden Völkerrechts. Auch lassen sich durch die Untersuchung derartiger Vorfälle Erkenntnisse über das Verhältnis des Völkerrechts zur politischen und sozialen Realität gewinnen. Allerdings ist diese Art von Studien, die sich auf ein bestimmtes Vorkommnis im internationalen Geschehen konzentriert und es im Hinblick auf seine völkerrechtliche Relevanz von allen Seiten beleuchtet, nichts Neues. Soweit die Besonderheit von Reismans "incidents"-Konzept in der Forderung nach der Anwendung eines systematischen Untersuchungsrahmens bei derartigen Studien liegt, soll darauf später im Rahmen der Kritik des "framework of inquiry" der New Haven School eingegangen werden l64 . Reisman stellt zutreffend fest, daß "incidents" und die Reaktionen der Staaten auf sie die Rechtmäßigkeitsvorstellungen der Staaten prägen. Dagegen ist die These, daß "incidents" besser als Völkerrechtsnonnen das geltende Völkerrecht zeigen würden, nicht überzeugend. Welchen Inhalt das Völkerrecht hat, bestimmt sich nach den geltenden Völkerrechtsnonnen; die 163 Dafür: Lissitzyn. Harvard Law Review Bd.76 (1963), S. 670; vgl. Farer. AJIL Bd. 85 (1991), S. 118. 164 Siehe Teil C. Kap. V, Abschn. 2.

Kapitel II: "Authority" und "effective control"

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Reaktionen der Staaten auf internationale Vorkommnisse sind dagegen zunächst nur ein Indiz für eine etwaige Änderung dieser Normen oder aber ihre Bestätigung. Solche Reaktionen sind im übrigen oft widersprüchlich, mehrdeutig und von anderen Überlegungen als der Frage nach der rechtlichen Beurteilung des Vorkommnisses geprägt. Reisman hält - ohne wirklich Belege dafür zu erbringen - das Völkerrecht für veränderlicher und realitätsferner, als es ist, wenn er davon ausgeht, daß das "book law" nur selten etwas mit den tatsächlich aktuell von den Staaten gehegten Rechtmäßigkeitsvorstellungen zu tun hat. Reismans Forderung nach Untersuchung der Veränderung der Völkerrechtsnormen durch "incidents" anstelle der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens anhand von Völkerrechts normen erweckt den Eindruck, als würde das Völkerrecht durch die Billigung eines Vorfalls durch die Staatengemeinschaft auch dann geändert, wenn der Vorfall gegen Völkerrechts normen verstieß. Dem kann nicht zugestimmt werden, weil es dann im Ergebnis keine abstrakten, alle Staaten bindenden Völkerrechtsnormen mehr gäbe, sondern aufgrund jedes konkreten Streitfalls die Rechtmäßigkeit und der Inhalt des Völkerrechts ohne Rücksicht auf bis dahin geltende Normen durch die Reaktionen der Staaten neu bestimmt würde. Bei einer solchen Sichtweise würde der Rechtsbruch sanktioniert: Statt den Verstoß gegen den Verhaltensmaßstab zu verurteilen, würde der Maßstab geändert, damit das abweichende Verhalten mit ihm übereinstimmt, so daß sich andere Staaten in Zukunft an den veränderten Maßstab halten müßten l65 . Würde die bloße Duldung des völkerrechtswidrigen Verhaltens eines Staates durch die übrigen Staaten genügen, damit eine neue Völkerrechtsnorm entsteht, würden mächtige Staaten entgegen des Prinzips der Staatengleichheit bevorzugt, weil bei ihnen Protest der Staatengemeinschaft schon wegen des Vetorechts der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates unwahrscheinlicher ist l66 . Auch wenn faktisch ein von der Staatengemeinschaft tolerierter, effektiver "claim" eines Staates, der völkerrechtlichen Normen zuwiderläuft, Chancen hat, nach einiger Zeit als rechtmäßig anerkannt zu werden 167, so folgt daraus doch nicht, daß normativ betrachtet der "claim" im Zeitpunkt seiner Geltendmachung rechtmäßig war l68 . Ein Verstoß eines Staates gegen eine geltende Völkerrechts norm beseitigt für ihn nicht die Verbindlichkeit dieser Norm 169. Da Tatsachen einerseits und normative Urteile andererseits 165 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 118; vgl. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 157. 166 Vgl. Falk, The Status of Law in International Society, S. 46 f. 167 Falk, The Status of Law in International Society, S. 46 f. 168 Vgl. RandelzhoJer, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 259.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

auf verschiedenen logischen Ebenen liegen, kann allein aus tatsächlichen Gegebenheiten wie dem fehlenden Protest der Staatengemeinschaft gegen völkerrechts widriges Verhalten eines Staates nicht die Aufhebung der Geltung der bisherigen Norm gefolgert werden 170. Eine Praxis, die einer bisherigen gewohnheitsrechtlichen Norm widerspricht, hebt das geltende Völkerrecht solange nicht auf, wie die bisherige allgemeine Rechtsüberzeugung bestehen bleibt l7l . 3. Rechtsnatur des Völkerrechts und Bindungswirkung von Völkerrechtsnormen Es ist zu begrüßen, daß die New Haven School die Rechtsnatur des Völkerrechts eindeutig bejaht. Sie weist zutreffend auf die tägliche überwiegende Beachtung des Völkerrechts 172 hin. Dieser Schule ist darin Recht zu geben, daß trotz des überwiegenden Fehlens einer das Völkerrecht durchsetzenden Zentralgewalt die Logik der Gegenseitigkeit in den internationalen Beziehungen für dezentrale Formen einer Rechtsordnung sorgt 173. Selbst wenn Staaten gegen Normen des Völkerrechts verstoßen, so anerkennen sie dennoch die Existenz des Völkerrechts, indem sie versuchen, ihr Verhalten als völkerrechtmäßig zu rechtfertigen 174. Die Frage nach der Bindungswirkung völkerrechtlicher Normen beantwortet die New Haven School, indem sie jede metaphysische Ableitung ablehnt und darauf verweist, daß die Staaten sich in ihrem Verhalten tatsächlich an bestimmte Normen halten, weil diese ihren Interessen entsprechen. Sie leitet also die Bindungswirkung aus der tatsächlichen Befolgung dieser Normen im Sinne von "effective control" ab 175. Damit weicht sie im 169 Grewe, AVR Bd. 38 (1998), S. 16; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 37; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 477 f. 170 So auch Simma, FS Kolb, S. 340; vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. \0 f.; Röhl, Rechtssoziologie, S. 79. 171 Ipsen-lpsen, Völkerrecht, § I Rn. 42; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 364. 172 So auch Grewe, AVR Bd.38 (1998), S. 15; Ipsen-lpsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 11; Jessup, A Modern Law of Nations, S. 7; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 51. 173 Ebenso Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 480; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 51 f.; Ipsen-lpsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 11; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 51; ähnlich Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 14; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S.29. 174 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 137; Hart, The Concept of Law, S. 215 u. 226; Ipsen-lpsen, Völkerrecht, § I Rn. 43; Oppenheim/Lauterpacht, International Law. S. 15. 175 Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres McDougal, S. 106 f.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

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Ergebnis enttäuschenderweise einer rechtstheoretischen Diskussion dieser Frage aus, weil sie das Problem der Bindungswirkung für ein soziologisches Problem hält l76 • Die Ableitung von "Bindungswirkung" der Völkerrechtsnormen aus den tatsächlichen Faktoren "authority" und "effective control" vermag jedenfalls nicht zu überzeugen, denn die Frage, warum ein Staat an eine Norm gebunden sein soll, läßt sich nicht mit dem Hinweis darauf beantworten, daß der Staat sich an diese Norm hält und sie als Recht ansieht. Wenn ein Staat nur dann an eine Norm gebunden wäre, wenn sie seinen Vorstellungen entspräche und effektiv wäre, wäre diese Norm nicht wirklich rechtlich verbindlich 177. Diese Infragestellung der von der traditionellen Sicht des Völkerrechts bejahten Bindung der Staaten an geltende Normen 178 stellt die "distinctive normative quality of law" in Frage 179. Die Staaten können als Rechtsunterworfene nicht selbst in letzter Instanz darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß eine Völkerrechtsnorm für sie gilt l80 . Im Grundsatz muß daher die Geltung einer Norm unabhängig davon sein, ob sie befolgt wird oder nicht l81 , auch wenn die Rechtsordnung als solche im großen und ganzen befolgt werden muß 182 • Kapitel III

"Policy-orientation" und "value-orientation" 1. Die funktionale Sicht des Völkerrechts

Die Schule von New Haven vertritt eine funktionale, zielorientierte Sicht des Völkerrechts, die das Recht als Instrument für die Umsetzung von Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres McDougal, S. 107. Vgl. Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres McDougal, S. 108 f. u. 145; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269. 178 Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 7; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 62; Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 1 Rn. 43; Oppenheim/ Lauterpacht, International Law, S. 4 f.; Rousseau, Droit International Public, S. 54; Young, AJIL Bd.66 (1972), S. 61. Der New Haven School folgend stellt auch Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 19 f. die Bindung an Normen und die klare Unterscheidung zwischen Legalität und Illegalität in Frage. 179 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267. 180 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272. 181 Röhl, Rechtssoziologie, S. 243; vgl. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 137; Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität, S. 10; Kelsen/Tucker, Principles of International Law, S. 6; Oppenheim/Lauterpacht, International Law, S. 947. 182 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 10; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 42. 176

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

"policies" und die Förderung von Werten sieht. In der Tat dienen das Völkerrecht und jede seiner Normen der Erfüllung bestimmter gesellschaftlicher Zwecke l83 . Das Völkerrecht ist ein von Menschen bzw. deren Zusammenschlüssen geschaffenes System, das als Reaktion auf die Existenz verschiedener Staaten und deren zwangsläufig vorhandene Berührungspunkte das Zusammenleben in der internationalen Gemeinschaft regeln sowie vor allem den Frieden sichern solll84. Eine funktionale Sicht des Völkerrechts verringert die Gefahr, daß die Völkerrechtswissenschaft sich nur mit dogmatischen Fragen befaßt 185, den Kontakt zur politischen Wirklichkeit verliert und so für die sich in der Realität stellenden Probleme irrelevant wird 186. Ferner steuert eine funktionale Sicht des Völkerrechts der Tendenz des Rechts entgegen, die bestehenden Ordnungssysteme gegen neue Lösungsvorschläge zu schützen 187. Die von der New Haven School geforderte Beschäftigung mit der Frage, welche Zwecke das Völkerrecht erfüllen soll und wie gut es diese erfüllt, ist sinnvoll und wichtig l88 . Es wird zu Recht als ein Fortschritt der Schule von New Haven gegenüber den "legal realists" angesehen, daß die New Haven School nicht nur die bestehende Rechtsordnung und die Jurisprudenz kritisiert, sondern konstruktiv Vorschläge für eine Verbesserung des Völkerrechts im Hinblick auf die angestrebten Ziele macht l89 . Die New Haven School übertreibt jedoch in mancher Hinsicht die utilitaristische Sicht des Völkerrechts 190. So folgt aus der Feststellung, daß das 183 Bühring, Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 31; Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 488; ders., Legal Order in a Violent World, S. 80; ders., The Status of Law in International Society, S. 49 u. 642; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 280; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 71; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 514; Moore, Law and the Indo-China War, S. 47 u. 73; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd.79 (1985), S. 267; Simma, FS Kolb, S. 340 ff.; Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 235; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 9; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 73 u. 75. 184 Vgl. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt 1 Rn. 71; Ipsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 14 ff.; Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 221 u.235. 18S Krakau, Missionsbewußtsein, S. 514. 186 So auch Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 123; Moore, Law and the Indo-China War, S. 47; ähnlich Falk, The Status of Law in International Society, S. 49; ders., Legal Order in a Violent World, S. 80. 187 Falk, The Status of Law in International Society, S. 642; ähnlich Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 73. 188 Ebenso Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 267. 189 Falk, AJIL Bd.61 (1967), S. 488; ders., Legal Order in a Violent World, S. 80; ders., The Status of Law in International Society, S. 645; Moore, Law and the Indo-China War, S. 47 ff. 190 Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 193.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

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Völkerrecht bestimmte gesellschaftliche Zwecke erfüllen soll, nicht zwingend, daß Staaten und Völkerrechtsgelehrte es als Instrument zur Erreichung politischer Ziele benutzen sollten. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß das Völkerrecht grundsätzlich eine Beschränkung der Verfolgung politischer Interessen durch die Staaten darstellt l91 . Wird das Völkerrecht nur noch als Mittel zur Förderung bestimmter politischer Ziele angesehen und als nachträgliche Rechtfertigung politisch erwünschter Ergebnisse eingesetzt, verschwimmt die Trennlinie zur Politik weitgehend 192 und die Autonomie des Völkerrechts wird beseitigt l93 . In diesem Punkt nähert sich die New Haven School - trotz ihres ausgeprägten Antikommunismus - der marxistischen Völkerrechtsauffassung, die das Völkerrecht zur Veränderung der bestehenden internationalen Gesellschaft benutzen wollte l94 . Die New Haven School läuft vor allem Gefahr, durch ihre Begeisterung für das Ziel der "human dignity", das für sie in jedem Fall Vorrang gegenüber völkerrechtlichen Normen hat, im konkreten Einzelfall im Ergebnis dazu zu kommen, daß der Zweck die Mittel heiligt l95 . So will die New Haven School - auch im Rahmen der Vertragsauslegung - die Geltung völkerrechtlicher Normen und damit die Bindung von Staaten an Normen davon abhängig machen, ob sie der Verwirklichung der "human dignity" dienen 196. Auch die Frage der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Verhaltens würde letztlich von den vom Staat damit verfolgten Zielen abhängen 197, so daß im Ergebnis das Verhalten eines Staates, der die "human dignity" anstrebt, quasi immer gerechtfertigt wäre l98 . Wird das Völkerrecht nur als Diener der angestrebten Ziele angesehen, hat es "no authority apart from its utility in furthering the ends it is intended to serve,,199. In Verbindung mit der in der Völkerrechtsgemeinschaft üblichen Auslegung der Normen durch die rechtsunterworfenen Staaten selbst liefen die Thesen der New Haven School über die Bedeutung der angestrebten Ziele Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 198. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 199. 193 Al/oft, BYIL Bd. 45 (1971), S. 131. 194 lohnston, Can YBIL Bd. 26 (1988), S. 11; Rosenthai, Etude de l' ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 129. 195 Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 44; ähnlich Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 380; Gordon, Article 2 (4), in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 88; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272. 196 Vgl. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 210. 197 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 380; Tunkin, Droit International Public, S.189. 198 Vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 88 f.; ders., The Status of Law, S. 44 f. 199 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 188; ähnlich ders., S. 199. 191

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Gefahr, die Bindungswirkung von Normen zu untergraben: "The result is a theory of legal obligation according to which the obligations bin ding on a state are those that its officials determine are compatible with the goals of public order and human dignity as they interpret them.,,2oo Aus einer funktionalen Sicht folgt nicht schlüssig, daß man das Völkerrecht als Instrument zur Verfolgung ganz bestimmter politischer Ziele oder Werte oder zur Förderung einer bestimmten Gesellschaftsordnung wie der westlichen Demokratie ansehen muß, da sich diese Ziele nicht aus der Natur des Völkerrechts als Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen ergeben. Die Schule von New Haven sieht im übrigen nicht nur das Völkerrecht als Instrument an, sondern auch die Völkerrechts wissenschaft selbst, denn sie will Methoden und Untersuchungsergebnisse in den Dienst der Verwirklichung der von ihr angestrebten politischen Ziele stellen. Der Versuch der politischen Einflußnahme durch die Völkerrechtswissenschaft bewirkt eine "intrusion of advocacy into scholarship,,2ol, die die Objektivität der Wissenschaft gefährden könnte. So ist zwar die Forderung, daß auch ein Völkerrechtsgelehrter sich der politischen Folgen seiner Tätigkeit bewußt sein sollte, zu unterstützen, aber die entscheidende Frage ist, wie sich das auf seine juristische Tätigkeit auswirken darf. 2. Die "policy-orientation"

a) Die Unvermeidlichkeit eines "policy choke" Die These der New Haven School, wonach jede juristische Entscheidung Konsequenzen für Werte habe, so daß juristische Entscheidungen immer auch Entscheidungen zwischen Werten seien, trifft im großen und ganzen ZU 202 . Normen und juristische Entscheidungen schlichten oft gerade Wertekonflikte, beispielsweise im innerstaatlichen Recht Konflikte zwischen dem Eigentumsrecht des Vermieters und seinen Beschränkungen durch das Wohnrecht des Mieters. Da das Recht soziale und politische Folgen hat, ist weder sein Inhalt noch seine Anwendung auf konkrete Fälle wertneutral.

200 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 210; ähnlich Tunkin, Droit International Public, S. 189 f. 201 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 382; ähnlich von Münch, AVR Bd. 9 (1961/ 62), S. 5 f. 202 Ebenso Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S. 777; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Abschnitt I Rn. 71; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1961), S. 33; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 130; Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S.20.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

277

Auch die These, daß Nonnen immer bestimmte "policies" im Sinne von allgemeinen Rechtsgedanken beinhalten, ist überzeugend 203 . Mit Ausnahme von rein technischen, fonnalen Vorschriften liegt Nonnen grundsätzlich ein bestimmter Rechtsgedanke zugrunde, beispielsweise die Sicherung der Bindung an Verträge oder die Verhinderung von Rechtsrnißbrauch. Dabei ist jedoch keineswegs immer eindeutig feststellbar, welche Rechtsgedanken einer bestimmten Nonn zugrundeliegen. Die Schule von New Haven selbst erklärt nicht näher, wie die maßgeblichen "policies" mit Hilfe der Methoden der Sozialwissenschaften festgestellt werden sollen. Gegen die Schlußfolgerung, die die New Haven School aus der zutreffenden These des "policy"-Gehalts von Nonnen zieht, wonach bei jeder juristischen Entscheidung eine Wahl zwischen verschiedenen "policies" notwendig sei, spricht, daß bei der Anwendung von Nonnen auf konkrete Sachverhalte für den Entscheidungsträger grundsätzlich nicht die Möglichkeit besteht, zwischen mehreren in Frage kommenden "policies" frei abzuwägen, sondern er an die anwendbaren Völkerrechtsnonnen gebunden ist204 . Ein Abstellen auf bloß nach Ansicht des Rechtsanwenders wünschenswerte "policies" oder die Berücksichtigung möglicher Konsequenzen der Entscheidung für Werte wäre losgelöst vom geltenden Recht 205 • Der von der New Haven School hier behauptete Entscheidungsspielraum wäre weit größer als der regelmäßig bei der traditionellen Subsumtion konkreter Sachverhalte unter Nonnen bestehende Spielraum206 • In den Fällen, in denen die Rechtsordnung zwingend und ohne das Erfordernis einer Abwägung eine Entscheidung vorschreibt, bleibt für "policy considerations" kein Raum. b) "Policies" als Orientierungshilfe und Rechtmäßigkeitsmaßstab

Mit den Konzepten der "policy-orientation" und der - anschließend zu untersuchenden - "value-orientation" führt die New Haven School Nonnativität in ihre Theorie ein: Bestimmte "policies" sollen berücksichtigt und umgesetzt, bestimmte Ziele sollen angestrebt werden 207 ; dabei handelt es 203 So auch Moore, AJIL Bd. 61 (1967), S. 1052; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 130. 204 Vgl. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 208. 205 So auch Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269. 206 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 20; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 465; vgl. Gordon, Artic1e 2 (4), in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 88; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 669; a. A. Moore, AJIL Bd. 61 (1967), S. 1051 f. 207 Vgl. Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allottl Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. 10 f.; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal. S. 70 u. 146.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

sich nicht um die Feststellung von Tatsachen, sondern um eine Empfehlung. Die New Haven School fordert eine umfassende und systematische "policy-orientation" im Sinne der Berücksichtigung bestimmter "po li eies" als Leitlinien für juristische Entscheidungen. Die Aufgaben, die diese Schule damit "policies" zuschreibt, sind die, die nach der klassischen Auffassung Völkerrechts normen erfüllen sollen, denn sie sieht "policies" als den eigentlichen Rechtmäßigkeitsmaßstab an, während Normen im wesentlichen nur ein Indiz für die in einem konkreten Fall maßgeblichen "policies" sein sollen. Die New Haven School strebt daher die weitgehende Ersetzung von Normen durch "policies" bei der Rechtsanwendung an 20S . Dabei liegen die maßgeblichen Unterschiede zwischen "policies" und Normen darin, daß "policies" nicht den Anspruch haben, Staaten zu binden, und daß sie weit weniger bestimmt sind als Normen. Das Konzept der "policiy-orientation" ist insofern überzeugend, als in manchen Fällen "policy considerations" in der Tat juristisch von Bedeutung sein können 209 • So können "policies" beispielsweise bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe berücksichtigt werden; auch die traditionellen Völkerrechtstheorien sehen im Rahmen der teleologischen Auslegung einen Rückgriff auf die in der Norm verkörperten Rechtsgedanken als zulässig an. Ebenso kann beim Fehlen ausdrücklicher Regelungen auf generelle Rechtsprinzipien zurückgegriffen werden 21o• Gerade im Völkerrecht gibt es häufig Fälle, in denen eine Entscheidung nicht durch Normen eindeutig determiniert und der Sachverhalt nicht einfach subsumierbar ist, sondern ein Bewertungsspielraum besteht211 • Der entscheidende Unterschied zwischen der traditionellen Lehre und der Sicht der New Haven School liegt jedoch darin, daß nach ersterer das Ausmaß der Relevanz von "policy considerations" vom Rechtssystem selbst bestimmt werden muß 212 , nach letzterer dagegen die Offenheit von Normen für derartige Überlegungen immer gegeben ist.

208 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 505 f.; ähnlich Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 182; a. A. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 85. 209 So auch Lauterpacht, Oeorgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 23; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269. 210 Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 322. 211 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 271. 212 Vgl. lOH, South West Africa Cases, ICJ Reports 1966, S. 34 ("It is a court of law, and can take account of moral principles only in so far as these are given a sufficient expression in legal form."); Lauterpacht, Oeorgia J. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 23 u. 25; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

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Sofern die Berücksichtigung von "policy considerations" aufgrund bestehender Entscheidungsspielräume zulässig oder sogar notwendig ist, ist der New Haven School darin zuzustimmen, daß ein solcher "policy choice" möglichst offen, bewußt und systematisch erfolgen sollte213 . Ansonsten würden derartige Überlegungen unausgesprochen und eventuell dem Rechtsanwender nicht bewußt in die Entscheidung einfließen, so daß die für die Entscheidung tatsächlich maßgeblichen Gründe nicht diskutiert werden könnten 214 • Ferner ist bei einer derartigen "policiy-orientation" zu beachten, daß die dafür maßgeblichen "policies" nur solche der internationalen Gemeinschaft sein können, nicht dagegen bloß von einzelnen Staaten aufgestellte Grundsätze 215 • Trotz aller Bedeutung von "policies" und politischen Konsequenzen für das Recht sollten aber Recht und "policy", Völkerrecht und Politik sorgfältig unterschieden und dürfen nicht - wie die New Haven School das teilweise tut 216 - gleichgesetzt werden 217 . Gesichtspunkte politischer Zweckmäßigkeit entsprechen grundsätzlich nicht einer methodisch sauberen juristischen Argumentationsweise218 • Nicht die Thesen der New Haven School zur "policy-orientation" an sich sind daher abzulehnen, sondern ihre behauptete allgemeine Geltung auch für Entscheidungen, die bloß geltende Völkerrechtsnorrnen ohne große Wertungsspielräume anwenden 219 , weil hier die geforderte "policy-orientation" praktisch zu einer Verrnengung der rechtspolitischen und der rechtsanwendenden Tätigkeit zu führen droht 22o . In erster Linie müssen die von der 213 So auch Falk, Georgia Journal of International and Comparative Law Bd. 2 (1972), S. 33; ders., The Status of Law in International Society, S. 647; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 124; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 74. 214 Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 74. 215 So auch Falk, The Status of Law in International Society, S. 44; Lauterpacht, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 26; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272; Tunkin, Droit International Public, S. 190. 216 Al/ott, BYIL Bd.45 (1971), S. 121; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 518; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 199; Tunkin, Droit International Public, S. 188. 217 Al/ott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 127; Bühring, Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 22 f. u. 31; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 518; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 205; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 467; Tunkin, Droit International Public, S. 187; von Münch, AVR Bd. 9 (1961/62), S. 5 f. 218 von Münch, AVR Bd. 9 (1961/62), S. 5 f. 219 So auch Allott, BYIL Bd.45 (1971), S. 126; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269; vgl. Tomuschat. RdC 1993/IV, S. 322.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Völkerrechtsgemeinschaft geschaffenen speziellen Regelungen angewandt werden, nur ausnahmsweise und mit großer Zurückhaltung darf auf allgemeine Prinzipien und gemeinsame Werte der Staatengemeinschaft zurückgegriffen werden 221 • Die Vertreter der New Haven School können nicht überzeugen, wenn sie eigene Vorstellungen über das, was richtig wäre, als geltendes Recht ausgeben 222 . Eine Argumentation, die sich statt auf bindende Normen nur auf "policies" berufen würde, könnte einen Streit über die Rechtmäßigkeit eines bestimmten Verhaltens nicht beenden, weil der politische Gegner genauso überzeugend das Gegenteil behaupten könnte 223 ; damit würde das Finden des anwendbaren Rechts zu einem endlosen Verhandlungsprozeß werden 224 • Eine solche "policy-orientation" würde das Völkerrecht subjektiver und damit unsicherer machen 225 , weil selbst dann, wenn Einigkeit über die anwendbaren "policies" bestünde, ihre Anwendung auf konkrete Einzelfälle aufgrund ihrer Allgemeinheit wohl nie unstreitig wäre 226 . Im Rahmen der Auslegung von Verträgen läuft die geforderte "policyorientation" Gefahr, zu einem Auslegungsergebnis zu führen, das dem Willen der Vertragsparteien widerspricht 227 • Zwar strebt diese Schule bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge das Ziel an, die "genuine shared expectations" der Parteien zu klären, aber da sie im Fall von Lücken oder Unklarheiten die Ergänzung des Vertrages anhand der "basic constitutive policies of the larger community" fordert, soll der Auslegende im Zweifelsfall statt auf den Parteiwillen auf vage, von ihm selbst zu bestimmende "policies" abstellen. Dagegen beeinhaltet die von der traditionellen Völkerrechtslehre befürwortete völkerrechtskonforme Auslegung von Verträgen 228 nur eine Auslegung anhand allgemeiner Völkerrechtsnormen, nicht aber losgelöst von allen Normen. Ebenso berücksichtigt die Auslegung des Gründungs vertrags einer Internationalen Organisation nach der "implied 220 A. A. Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 74. 221 Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 322. 222 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 159; vgl. RandelzhoJer, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 253; Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 628. 223 AUott, BYIL Bd.45 (1971), S. 127; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 516; a.A. wohl Falk, Legal Order in a Violent World, S. 86. 224 AUott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 131. 225 Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S. 783; Rosenthai, Etude de I' ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 182; a. A. Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 74. 226 Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125. 227 Fitzmaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 372 f. 228 OppenheimlLauterpacht, International Law, S. 952 f.; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 343; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 494.

Kapitel I1I: "Policy-orientation" und "value-orientation"

281

powers"-Lehre als "policies" nur die Zwecke, zu denen die Internationale Organisation gegründet wurde 229 . Der Entscheidungsträger, der nicht - wie nach der traditionellen Theorie - bindende Normen auf konkrete Sachverhalte anwenden, sondern sich nach den Erwartungen der Gemeinschaftsmitglieder, den maßgebenden "policies" und den anzustreben Zielwerten richten und dabei auch noch den Kontext sowie die "reasonableness" seines Vorgehens berücksichtigen soll, bliebe bei der Abwägung zwischen all diesen Faktoren auf gefahrliche Weise seiner persönlichen Eingebung überlassen23o . Die Kombination verschiedener Rechtmäßigkeitskriterien verstärkt die Gefahr exzessiver Subjektivität des Entscheidungsträgers, wenn die einzelnen Kriterien so unbestimmt sind wie das der "human dignity" und das Verhältnis der einzelnen Kriterien zueinander ungeklärt bleibt. Die funktionale Sicht des Völkerrechts darf nicht dazu führen, daß das Recht nur noch als nachträgliche Begründung für erwünschte Ergebnisse eingesetzt wird, denn sonst bestünde die Gefahr, daß das Völkerrecht "zu einem Instrument nationaler Politik" würde 231 . Eine umfassende "policyorientation" im Sinne der New Haven School würde es Staaten, die sich von Beschränkungen durch das Völkerrecht befreien wollen, erleichtern, das Völkerrecht mit dem Schein der Rechtstreue versehen für ihre völkerrechtswidrigen Zwecke zu mißbrauchen 232 . Die "policy-orientation" droht daher zu Instabilität, subjektiven Entscheidungen und Willkür zu führen 233 . Dies gilt allerdings dann nicht, wenn die Aufgabe gerade darin besteht, rechtspolitische Vorschläge für neue Völkerrechtsnormen zu erarbeiten. In diesem Fall sind die Thesen der New Haven School über die Notwendigkeit eines offenen "policy choice" und die Erforderlichkeit der Berücksichtigung politischer Konsequenzen der verschiedenen Entscheidungsaltemativen uneingeschränkt zutreffend234 , denn für Vorschläge de lege ferenda besteht naturgemäß keine Bindung an Normen.

Lauterpacht, Georgia ]. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), s. 26. Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 169. 231 Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 467; ähnlich Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 128; Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 481; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 183 u. 190; Tunkin, Droit International Public, S. 188 f. 232 Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 467; ähnlich Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S. 783; Gordon, Artide 2 (4), in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 88; a. A. Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 670. 233 Gordon, Artide 2 (4) and Permissive Pragmatism, in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 88; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 517. 234 So auch Al/olt, BYIL Bd.45 (1971), S. 126; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269. 229 230

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

c) Der Maßstab der "reasonableness"

Das Konzept der "reasonableness" wird von der New Haven School teilweise als der letztlich ausschlaggebende Entscheidungsmaßstab für die juristische Entscheidung im jeweiligen Einzelfall zwischen den verschiedenen "claims" der Streitparteien eingeführt235 . Das Urteil des Internationalen Gerichtshof zum "Fisheries Case (Great Britain v. Norway),,236, auf das sich die New Haven School zur Stützung ihrer These von der allgemeinen Geltung dieses Konzepts als Rechtmäßigkeitskriterium beruft, enthält keine ausdrückliche Bezugnahme auf die "reasonableness" der von Norwegen aufgestellten Rechtsbehauptungen 237 , sondern stellt auf allgemeine Überlegungen aus der Natur der Küstengewässer, wirtschaftliche Interessen und die Besonderheiten des Einzelfalls ab 238 . Auch die von McDougal angeführte Literatur beweist diese These nicht, so daß die behauptete allgemeine Geltung dieses Rechtmäßigkeitskriteriums zumindest zweifelhaft ist239 . Der Maßstab der "reasonableness" könnte jedoch möglicherweise zumindest de lege ferenda als zusätzliches Kriterium neben den in der jeweiligen Völkerrechtsnonn festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen gerade bei unbestimmten Nonnen und in Zweifelsfällen eine Hilfe sein. Dieser Maßstab hat den Vorteil einer großen Flexibilität240, die eine auf den jeweils strittigen Einzelfall und die dabei betroffenen Interessen zugeschnittene Lösung des Rechtsproblems ennöglicht241 . Er macht auch den Eindruck von "common sense" und Praktikabilität242 . Das wesentliche Problem, das der Maßstab der "reasonableness" bei seiner praktischen Anwendung jedoch unweigerlich aufwerfen würde, ist die Weite des eingeräumten Entscheidungsspielraums. Das Konzept der "reasonableness" ist so unbestimmt, den Besonderheiten des Einzelfalls wird soviel Bedeutung zugemessen und der dabei nach Auffassung der New Haven School zu berücksichtigende Kontext ist so weit, daß die Vorhersehbarkeit der Entscheidung und damit die Rechtssicherheit beeinträch235 Vgl. Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 124; ähnlich D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 215. 236 I.C.J. Reports 1951, S. 116. 237 Ebenso D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 459 f. 238 "Fisheries Case (Great Britain v. Norway)", I.C.J. Report 1951, S. 116, insbes. S. 133. 239 AUou, BYIL Bd.45 (1971), S. 112; D'Amato, The Concept of Custom, S. 220 ff.; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 60; Woljke, Custom in Present International Law, S. 25, Fußn. 110. 240 Falk, The Status of Law in International Society, Appendix C, S. 646. 241 So auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 506. 242 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 458 f.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

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tigt würde 243 • Dieser Maßstab gleicht einer Leerformel, anhand derer sich im nachhinein jedes gewünschte Ergebnis begründen läßt244 . Angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs würde den subjektiven Überlegungen der Entscheidungsträger zu viel Gewicht zukommen 245 . Ferner bleibt unklar, in welchem Verhältnis der ebenfalls von der New Haven School propagierte Maßstab der "goal values" zu dem der "reasonableness" steht. Diese beide Prüfungsmaßstäbe werden nicht immer klar unterschieden 246 , sondern teilweise wird als ausschlaggebend für die "reasonableness" angesehen, ob das fragliche Verhalten des Staates der "human dignity" und den anderen Leitwerten dient247 . Die "reasonableness" eines staatlichen Verhaltens in der jeweiligen konkreten Situation bedeutet aber nicht notwendigerweise, daß dieses Verhalten auch den Wert der "human dignity" fördert. Vielmehr erscheinen diese beiden Maßstäbe, von denen der eine auf die faktischen Besonderheiten des konkreten Einzelfalls und der andere auf langfristige Überlegungen des Gemeinwohls abstellt, als durchaus unterschiedlich 248 . Gegen die Einführung des Konzepts der "reasonableness" als letziich ausschlaggebenden Rechtmäßigkeitsmaßstab würde sprechen, daß dieses Konzept keinen eigenen materiellen Gehalt besitzt, sondern sich nur anhand des konkreten Einzelfalls bestimmen läßt, ob ein Vorgehen "reasonable" ist249 . Damit bestünde die Gefahr, daß jedes Vorgehen, das im jeweiligen konkreten Kontext notwendig und das mildeste geeignete Mittel ist, als völkerrechtmäßig angesehen würde, auch wenn es z. B. gegen kriegsvölkerrechtliche Verbote verstieße 25o . Ferner würde die Anwendung eines solchen Maßstabs vor allem den Interessen der starken Staaten entsprechen, während die schwächeren Staaten weniger Schutz durch das Völkerrecht erhielten251 • Es ist davon auszugehen, daß bei ernsten Streitfallen keine Einigkeit über die "reasonableness" des Vorgehens eines Staates bestünde 252 , denn gerade 243 D'Amato, Harvard Law Review Bd.75 (1961), S. 460; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 58 f. u. 63. 244 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 460. 245 Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 60; Rosenthai, Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 125. 246 Rosenthai, Etude de I'a:uvre de Myres McDougal, S. 97. 247 Vgl. Kralwu, Missionsbewußtsein, S. 506 ff.; Rosenthai, Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 142 f. 248 Rosenthai, Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 97 f., S. 140, Fußn. 77 u. S. 150 ff. 249 Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit von Normen des Völkergewohnheitsrechts, S. 59. 250 Vgl. D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 226; Rosenthai, Etude de l'a:uvre de Myres Smith McDougal, S. 126. 251 Vgl. D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 461.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

in Konfliktsituationen würden die Beteiligten dazu neigen, den Begriff der "reasonableness" im Sinne ihrer eigenen Interessen auszulegen 253 . Selbst bei sachlicher, nicht willkürlicher Auslegung können Staaten hinsichtlich der "reasonableness" zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, weil sie unterschiedliche Interessen haben 254 . Der Maßstab der "reasonableness" scheint daher insgesamt gesehen nicht geeignet, widerstreitende Auffassungen der beteiligten Staaten verbindlich zu klären 255 , vielmehr ist zu befürchten, daß der Maßstab der "reasonableness" zu einem Chaos in den internationalen Beziehungen führen könnte 256 . 3. Die "value-orientation"

a) Bei der Rechtsanwendung

Im Hinblick auf das Verhältnis von "policy-orientation" und "value-orientation" ist festzustellen, daß die New Haven School beide Konzepte zwar unterschiedlich definiert, sie aber nicht klar voneinander abgrenzt, sondern teilweise austauschbar verwendet. Das Problem der Orientierung an von Normen losgelösten, mehrdeutigen Konzepten stellt sich bei "policy-orientation" einerseits und "value-orientation" andererseits ähnlich dar, nur daß "goal values" noch stärker von Völkerrechtsnormen losgelöst und inhaltlich noch unbestimmter sind. Die New Haven School fordert im Rahmen der "value-orientation" eine Überprüfung aller Einzelfallentscheidungen sowie aller völkerrechtlichen Normen darauf hin, ob sie dem Erreichen der von ihr propagierten Leitwerte, insbesondere der "human dignity", dienen. Diese Schule sieht demnach "goal values" als übergeordneten Maßstab sowohl für konkrete juristische Entscheidungen als auch für abstrakte Normen an und hält daher eine offene Befassung der Völkerrechtswissenschaft mit Werten für notwendig 257 . Oberster Maßstab für die Frage der Rechtmäßigkeit einer staatlichen 252 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 208 f.; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 61; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 465 f.; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 507 f. 253 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 460; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 92 f. 254 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 461. 255 So auch D'Amato, The Concept of Custom ,in International Law, S. 226; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 92; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S.61. 256 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 461. 257 So auch Higgins, The Identity of International Law, in: International Law Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 39 f.; Moore, Law and the Indo-China War, S. 65.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

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Handlung wären also nicht Normen, sondern die Übereinstimmung mit grundlegenden Leitwerten 258 . Die Rechtmäßigkeit einer staatlichen Handlung muß jedoch grundsätzlich anhand der auf sie anwendbaren Völkerrechtsnormen festgestellt werden, ohne daß das Ergebnis anschließend durch den Rückgriff auf übergeordnete außerrechtliche Leitwerte wieder durchbrochen werden darf. Der Völkerrechtler hat hier weniger Freiheit als der Politikwissenschaftler: Zwar orientiert er sich auch an Zielvorstellungen der Politik, aber letztlich ist er an das ihm vorgegebene Recht gebunden 259 . Selbst wenn über solche "goal values" in der internationalen Gemeinschaft Einigkeit bestünde, so würde doch die Vagheit eines solchen Maßstabs keine klaren Aussagen über die Rechtmäßigkeit eines konkreten staatlichen Verhaltens ermöglichen. Auch bei nicht-willkürlicher Prüfung würden unterschiedliche Entscheidungsträger zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, je nachdem, wie sie die angestrebten Ziel werte verstehen und wie sie die Konsequenzen verschiedener Entscheidungsalternativen bewerten 260 . Der Rechtsanwender, der sich nur an "goal values" statt an konkreten Normen orientierte, hätte einen fast unbegrenzten Entscheidungsspielraum 261 . Dazu käme noch das Problem von Wertekonflikten: Selbst bei Einigkeit über die anzustrebenden Leitwerte könnten mehrere angestrebte Werte zu einander widersprechenden Ergebnissen führen, was die Frage aufwerfen würde, welcher Wert Vorrang haben so1l262. Zu dieser Frage äußert sich die New Haven School nicht klar263 . Zu Recht zeigte sich Richard Falk im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit von Atomwaffen enttäuscht über die Fähigkeit eines so abstrakten Wertes wie der "human dignity", als Leitfaden für konkrete Entscheidungen zu dienen: "If human dignity does not give a distinctive opera258 Vgl. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 208; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 45; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270; Tunkin, Droit International Public, S. 189. 259 RandelzhoJer, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 255. 260 Vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 89 f.; ders., The Status of Law in International Society, S. 44 f. u. 465; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 516; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338; Moore, Law and the Indo-China War, S. 7; Reimwn, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 287. 261 So auch Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 208; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 182; Tunkin, Droit International Public, S. 190; a. A. Moore, AJIL Bd. 61 (1967), S. 1052. 262 D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 20; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 51. 263 So auch Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 52; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

tional direction to decision-makers in the context of nuclear weapons, then it hardly serves as a moral orientation toward life. For if it fails to guide our response to this challenge to the cultural and biological survival of mankind, then it merely offers a new ideologie al rhetoric that helps with the creation of a rationalizing myth. This myth might produce a high er vindication of self-interested behavior. It does not, however, as it implies, provide rational guidance based either upon empirie al inferences or upon the application of apriori principles of minimum public order.,,264 Eine Orientierung an derartig vagen Maßstäben würde es Staten erleichtern, das Völkerrecht durch die Auslegung der Leitwerte nach den jeweiligen nationalen Interessen zu manipulieren 265 . Der Rückgriff auf allgemeine Leitwerte der internationalen Gemeinschaft kann nur in Fällen, in denen eine Ergänzung des positiven Rechts durch Rückgriff auf allgemeine Grundsätze erforderlich ist - beispielsweise bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen - hilfreich und mit dem geltenden Recht vereinbar sein 266 . Insoweit hat eine "disciplined reliance on basic ends of the law" durchaus einen Platz im Völkerrecht - nicht aber eine willkürliche Berufung auf angebliche Leitwerte der Gemeinschaft zur Aushebelung von Normen 267 . In jedem Fall kann eine "value-orientation" höchstens bei den "goal values" überzeugend sein, die quasi-universell akzeptiert sind268 . Nach den Thesen der New Haven School zur Vertragsauslegung sollen die gemeinsamen Erwartungen der Parteien anhand der "fundamental COffimunity policy" bzw. den "goal values" überprüft und bei Unvereinbarkeit mit diesen höherrangigen Werten die Vertragsklausel nicht angewendet werden. Diese These vermag nur insoweit zu überzeugen, als anerkanntermaßen völkerrechtliche Verträge, die gegen eine zwingende Völkerrechtsnorm verstoßen, nichtig sind 269 . Das Konzept des ius cogens ist jedoch 264 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 93 f.; ähnlich Casper, Juristischer Realismus, S. 155 u. 170. 265 Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 49, Fußn. 36; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 84; Gordon, Article 2 (4) and Permissive Pragmatism, in: Proc ASIL Bd.78 (1984), S. 87; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272; Stone, AVR Bd. 24 (1986), S. 6; ähnlich Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 156 f.; a. A.: Moore, Law and the Indo-China War, S. 65 f.; ders., AJIL Bd. 61 (1967), S. 1052. 266 So auch Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 271. 267 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272. 268 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 271; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 66, Fußn. 7; ähnlich Tunkin, Droit International Public, S. 189 f. 269 Vgl. Art. 53 WVRK. Aus der Literatur: Brownlie, Principles of Public International Law, S. 514 u. 621 f.; /psen-Heintschel v. Heinegg, Völkerrecht, § 15

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angesichts der einschneidenden Rechtsfolge der Nichtigkeit der entgegenstehenden Völkerrechtsnorm eng auszulegen; insbesondere muß es sich, damit eine Regelung zwingendes Recht darstellt, um eine von der Staatengemeinschaft "as a whole" (vgl. Art. 53 WVRK) als zwingend angesehene Völkerrechtsnorm handeln. Die von der New Haven School vorgeschlagenen "goal values" erfüllen diese Kriterien nicht, da es sich dabei zum einen nicht um klar definierte Regelungen sondern um unbestimmte Leitwerte handelt270 und zum anderen Werte wie "democracy" oder "free society" nicht wirklich von Staaten aller unterschiedlichen Gesellschaftssysteme als zwingend anerkannt werden. Würden entsprechend der Forderung dieser Schule vertragliche Vereinbarungen unangewandt gelassen, wenn sie nach der Einschätzung des jeweiligen Entscheidungsträgers dem, was er als "fundamental community policy" ansieht, widersprechen, könnten die Vertragsparteien nie sicher sein, daß ihre Vereinbarungen tatsächlich angewandt würden271. Das Messen von Normen an Werten darf nicht dazu führen, daß jeder Staat seine Bindung an eine Völkerrechtsnorm, die aktuell nicht seinen Interessen entspricht, mit der Begründung verneinen kann, daß diese Norm mit bestimmten Leitwerten unvereinbar sei272 . Die Überprüfung geltender Normen anhand von nicht verbindlich festgelegten außerrechtlichen Werten und ihre Außerachtlassung, wenn die Überprüfung negativ ausfällt, würde sonst die Geltung jeder noch so akzeptierten Völkerrechtsnorm und damit die Rechtssicherheit in Frage stellen273 . Anders stellt sich die Situation im Hinblick auf Rechtspolitik dar: Hierbei ist eine Orientierung der Vorschläge de lege ferenda an "goal values" ohne weiteres zulässig und sinnvo1l274 . Die von der New Haven School geforderte systematische Orientierung an Leitwerten kann insofern hilfreich sein, als sie den Blick auf die rechtspolitisch anzustrebenden Ziele lenkt 275 . Insofern ist die von der New Haven School versuchte Klärung des Inhalts Rn. 45; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 202; Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 306 f. m. w. N.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 529 m. w. N. 270 Ähnlich Fitzmaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 371. 271 Fitzmaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 370. 272 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 271 f. u. 274; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 210. 273 So auch Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 271 u. 273; ähnlich Mullerson, AJIL Bd. 83 (1989), S. 498 f. 274 So auch Falk, Georgia Journal of International and Comparative Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 33 f.; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 66, Fußn. 7. 275 Vg!. Falk, The Status of Law in International Society, S. 646; Moore, Law and the Indo-China War, S. 73; Rosenthai, Etude de I'ccuvre de Myres Smith McDougal, S. 41.

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der Zielwerte der internationalen Gemeinschaft zu begfÜßen276 . Auch das von der New Haven School geforderte Messen von Normen an "goal values" im Hinblick darauf, ob sie zur Erreichung dieser Werte beitragen oder ob andere Normen dafür besser geeignet wären, ist sinnvoll, sofern es sich um die Vorbereitung rechts politischer Vorschläge handelt 277 • Es ist ein Verdienst dieser Schule, daß sie die Rolle des Rechts als Mittel zur Verwirklichung von Wertvorstellungen betont und den Blick darauf lenkt, daß das Völkerrecht auch eine Werte-Ordnung ist 278 . Die New Haven School beantwortet jedoch nicht wirklich die Frage, wie der genaue Inhalt von Leitwerten wie der "human dignity" einheitlich festgestellt werden könnte. Zwar fordert sie, daß die "goal values" nicht von jedem Entscheidungsträger willkürlich verstanden, sondern daß ihr konkreter Inhalt mit sozialwissenschaftlichen Methoden objektiv geklärt werden solle279 , aber es erscheint als praktisch nicht möglich, wissenschaftlich unzweifelhaft zu klären, welche Entscheidung ein bestimmter Leitwert in einer bestimmten Situation erfordert28o • Das von der New Haven School propagierte Verfahren der "empirical specification", d. h. der Ableitung konkreter Unterziele aus abstrakten Oberzielen wie der "human dignity", vermag diese Bedenken nicht zu zerstreuen, da eine überzeugende BegfÜndungskette vom abstrakten Oberziel bis zu der konkreten Einzelfallentscheidung kaum herstellbar ist281 . Zwar ist die Forderung der New Haven School, daß der "scholarly observer" klar zwischen seinem eigenen, von seiner Nationalität beeinflußten "observational standpoint" einerseits und den Leitwerten der internationalen Gemeinschaft anderererseits unterscheiden müsse, sicherlich zu unterstützen 282 • Die Tatsache, daß McDougal, LassweIl und Reisman die amerikaniVgl. Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 668. Vgl. Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 569 ff.; Falk, Georgia Journal of International and Comparative Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 33 f.; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 66, Fußn. 7. 278 Casper, Juristischer Realismus, S. 153; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Rn. 71; vgl. Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 42 f.; Simma, ZaöRV Bd. 32 (1972), S. 673; Tomuschat, RdC 1993/IV, S. 215. 279 Worauf Falk, Legal Order in a Violent World, S. 80 u. 84, zu Recht hinweist. 280 So auch Casper, Juristischer Realismus, S. 156; D'Amato, The Concept of Custom, S. 219; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 89 f.; Stone, AVR Bd. 24 (1986), S. 6. 281 Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 182. 282 So auch Falk, The Status of Law in International Society, S. 44 u. 58; Moore, Law and the Indo-China War, S. 5; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 573. 276 277

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sche Außenpolitik fast immer als dem Ziel der "human dignity" förderlich und dem Völkerrecht entsprechend ansahen, bestärkt aber Zweifel daran, ob sich eine derartige Beeinflussung der Wahrnehmung des Völkerrechtsgelehrten durch nationale Interessen seines Herkunftsstaates mit Hilfe einer strikten Klärung des eigenen Standpunktes und der eigenen Werte des Wissenschaftlers vermeiden lassen 283 • Obwohl der Vorwurf, McDougal wolle, daß Entscheidungsträger nur nach ihren nationalen Interessen statt aufgrund der internationalen Übereinkünfte entscheiden 284, nicht gerechtfertigt ist, läuft seine Theorie Gefahr, zu eben diesem Ergebnis zu führen. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Ziele, Vorstellungen und Traditionen innerhalb der Staatengemeinschaft erscheint das vordringliche Abstellen auf die trotz dieser Unterschiede allgemein akzeptierten Völkerrechtsnormen als umso notwendiger 285 • Weiterhin bestehende unterschiedliche Wertvorstellungen machen Völkerrechtsnormen oder Übereinkommen keineswegs wertlos - auch wenn sie ihre Anwendung erschweren -, sondern zeigen im Gegenteil, daß es prinzipiell möglich ist, auch über die zwischen unterschiedlichen Zielen bestehenden Gräben hinweg zu einer im gemeinsamen Interesse liegenden Einigung zu gelangen. b) Die von der New Haven School angestrebten "goal values" aa) Empirische Nachweisbarkeit der "goal values" Die Schule von New Haven vertritt die Auffassung, daß das Völkerrecht den Leitwerten der "human dignity", der "democracy", dem "common interest" und der "minimum world public order" entsprechen sollte, wobei sie als Argument für die Aufstellung gerade dieser Werte als Maßstab und Leitfaden für Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft anführt, daß diese Ziel werte empirisch nachweisbar von der internationalen Gemeinschaft angestrebt würden 286 • Die von der New Haven School behauptete empirische Grundlage und wissenschaftliche FeststeIlbarkeit ihrer "goal values" hält jedoch einer Überprüfung nicht stand. Auch mit Hilfe sozial wissenschaftlicher Methoden ist es praktisch nicht möglich, alle Erdbewohner nach den von ihnen ver283 Gordon, Article 2 (4) and Permissive Pragmatism, in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 87 f.; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 74 f. 284 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 85; Tunkin, Droit International Public, S. 187 f. 285 D'Amato, Harvard Law Review Bd. 75 (1961), S. 461; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 516; Mullerson, AJlL Bd. 83 (1989), S. 499; von Münch, AVR Bd. 9 (1961/62), S. 11; Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 629. 286 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466 u. 482 f. 19 Voos

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folgten Zielen zu befragen; die New Haven School versucht erst gar nicht, ihre These durch eine entsprechende empirische Studie zu belegen, sondern behauptet die empirische FeststeIlbarkeit nur 287 . Ebenso ist die wissenschaftliche Nachweisbarkeit einer bestimmten konstanten Natur des Menschen, von der die New Haven School ausgeht, fragwürdig 288 . Würde die Schule von New Haven ihre Leitwerte wirklich nur empirisch feststellen, statt auf vorgefaßte moralische Überzeugungen zurückzugreifen, hätte sie nicht die Leitwerte kommunistischer Staaten von vornherein als unmoralisch außen vor lassen können, weil dann alle tatsächlich verfolgten Werte gleich anstrebenswert wären 289 . Gegen die empirische Begründung der Wahl von "human dignity" etc. als "goal value" spricht auch ein logisches Argument: Da die Leitwerte ein Sollen darstellen 29o, zieht die New Haven School auch hier wieder normative Folgerungen aus Tatsachenbehauptungen und leitet damit ein Sollen aus einem Sein ab 291 . Selbst wenn über diese Werte ein allgemeiner Konsens bestünde, würde daraus logisch nicht folgen, daß diese Werte als Zielwerte des Rechtssystems gelten sollen 292 , denn noch so viel sozialwissenschaftliehe Forschung kann nicht begründen, warum ein Wert eher als ein anderer angestrebt werden so1l293. In Wirklichkeit setzt die New Haven School trotz der behaupteten empirischen Ableitung die von ihr selbst für richtig gehaltenen und in der amerikanischen Gesellschaft überwiegend angestrebten Werte ein, an die man glauben kann, die aber nicht beweisbar sind 294 . Letztlich stellt also die Aussage der New Haven School, ihre Leitwerte würden von der internationalen Gemeinschaft geteilt, nur eine Behauptung dar295 . Der Charakter als Postu287 So auch Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 48 f., insbes. Fußn. 51; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 482 ff.; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 204; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270. 288 Casper, Juristischer Realismus, S. 145 ff. u. 153; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 482 f. 289 D'Amato, The Concept of Custom, S. 219; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 401; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 203 f.; vgl. Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 51. 290 So auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 485 f. u. 488. 291 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 485. 292 Casper, Juristischer Realismus, S. 152; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 8; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 487; vgl. Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 91, Fußn. 424. 293 Vgl. Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 51. 294 Casper, Juristischer Realismus, S. 149 f.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 494 u. 499; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 47 u. 53 f.; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 66; Stone, AVR Bd.24 (1986), S. 5; ähnlich D'Amato, The Concept of Custom in International Law, S. 218.

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lat führt aber dazu, daß die von der New Haven School gewählten Leitwerte durch beliebige andere Werte ersetzt werden könnten. Zwar erscheint es auf den ersten Blick als plausibel, daß alle Menschen Frieden, Freiheit, Respekt etc. wollen - auch wenn diese Werte so allgemein sind, daß aus einern derartigen allgemeinen Konsens keine klaren Konsequenzen folgen würden 296 . Angesichts allgegenwärtiger Menschenrechtsverletzungen melden sich aber Zweifel, ob hinter der Gemeinsamkeit der Begriffe in internationalen Konventionen eine wirkliche Gemeinsamkeit der Ziele steckt297 . Die behauptete Einigkeit der internationalen Gemeinschaft und der gesamten Erdbevölkerung über die von der New Haven School vorgeschlagenen Werte erscheint als fraglich 298 • Ferner ist zweifelhaft, ob der Leitwert der Demokratie oder einer freien Gesellschaft, den die New Haven School oft mit dem der .. human dignity" gleichsetzt299 , nicht nur aus einer westlichen bzw. amerikanischen Sicht notwendig mit der Menschenwürde zusammenhängt 3OO • Andere Kulturkreise halten andere Gesellschaftssysteme für mindestens genauso der Menschenwürde entsprechend 301 . Eine breite allgemeine Teilhabe an Werten und weitgehende Freiheit von rechtswidrigem Zwang ist auch in einern wohlhabenden autoritären Regime denkbar, während umgekehrt die Staatsform der Demokratie als solche keines von beidem garantiert. Auch wenn man nicht auf die von den Staaten, sondern auf die von den Menschen selbst angestrebten Ziele abstellt, erscheint es eher als eine Frage des Menschenbildes 295 Casper, Juristischer Realismus, S. 152; Farer, AJIL Bd. 85 (1991), S. 125; Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allou/Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. ll, Fußn. 26; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 484; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 57; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 54. 296 Krakau, Missionsbewußsein, S. 487. 297 Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 422; Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 47; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 89; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 50; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270. 298 Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 5; Casper, Juristischer Realismus, S. 152; D'Amato, Harvard Law Review Bd.75 (1961), S. 461; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 484; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338; Mullerson, AJIL Bd. 83 (1989), S. 499; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 203; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 51 f.; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 295; Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 628; skeptisch auch Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 122 u. 124; Lissitzyn, Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 672. 299 Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 48; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 476 f. 300 Casper, Juristischer Realismus, S. 150; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 476 f. U.514. 30\ Falk, Legal Order in a Violent World, S. 88; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270; vgl. Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 47 f. 19·

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denn als eine empirisch nachweisbare Tatsache, daß die große Mehrheit der Erdbewohner eine Demokratie im westlichen Sinne wünscht. Der Leitwert der "minimum world public order" dürfte als einziger von der New Haven School aufgestellte Wert in der internationalen Gemeinschaft unstreitig sein, denn das Ziel des Weltfriedens ergibt sich zwingend aus der Natur des Völkerrechts als Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen 302 . Die New Haven School hat früh die Bedeutung der wachsenden faktischen Interdependenz aller Völker und Staaten erkannt und daraus den zutreffenden Schluß gezogen, daß es ein gemeinsames Interesse aller Menschen und Staaten an friedlichen zwischenstaatlichen Beziehungen und einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit gibt. Die Berücksichtigung eines solchen gemeinsamen Interesses der Menschheit in juristischen Streitfragen muß zulässig sein 303 . Es imponiert, daß McDougal und seine Anhänger, statt "realistisch" im Sinne zynischer Machtpolitik nur auf die nationalen Interessen zu pochen, zumindest in ihren theoretischen Darlegungen dem Gemeinwohl der internationalen Gemeinschaft den Vorrang gegenüber nationalen Interessen einzelner Staaten einräumen304 • bb) Die Auslegung dieser "goal values" durch die New Haven School Trotz der Zentralität des Begriffs der "human dignity" für die Theorie der Schule von New Haven und trotz ihrer Forderung nach einer "clarification of goal values" bleibt dieser Begriff in ihren theoretischen Abhandlungen bemerkenswert unklar305 . Nur in der Monographie "Human Rights and World Public Order" entwickelt Myres S. McDougal zusammen mit Harold D. Lasswell und Lung-chu ehen daraus ein detaillierteres Programm306 , ansonsten bleibt offen, wie eine "world public order of human dignity" gen au aussehen S01l307. Die von der New Haven School vertretene Definition der "human dignity" als größtmögliche Teilhabe aller an Werten unterscheidet sich Vgl. Tomuschat. RdC 1993/IV, S. 355. Tomuschat. RdC 1993/IV, S. 236. 304 Vgl. Allott. BYIL Bd.45 (1971), S. 121 f.; Falk. Legal Order in a Violent World, S. 81 f.; Rosenthal. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 28. Kritisch dagegen Dorsey. AJIL Bd. 82 (1988), S. 42 f., der McDougal eigenartigerweise vorwirft, daß er eine "world society" errichten wolle, die die "general obligation of allegiance to territorially identified national societies" leugnen würde. 305 Krakau. Missionsbewußtsein, S. 475 f. 306 McDougal/Lasswell/Chen. Human Rights and World Public Order, S. 378 ff.; vgl. Schreuer. New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 74. 307 Rosenthal. Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 46. 302

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erheblich vom traditionellen Begriff der Menschenwürde, der auf den angeborenen und unteilbaren Wert des Individuums als solches abstellt 308 . Anstelle eines Rechts jedes Menschen auf seine Würde bedeutet die "human dignity" in diesem Sinn eher einen Idealzustand der Gemeinschaft, der durch Wohlstand für alle und ein Minimum an Zwang gekennzeichnet ist309 • Im Gegensatz zu der klassischen Definition ist diese "human dignity" daher nicht absolut, sondern relativ, denn sie kann mehr oder weniger verwirklicht werden. Die acht Werte der Schule von New Haven tragen kaum etwas zur Präzisierung des Ziels der "human dignity" bei, da sie zum einen selbst sehr vage sind und zum anderen ihr Verhältnis untereinander ungeklärt bleibe 10. Die acht Werte sind - ebenso wie die "human dignity" im Sinne der New Haven School - nur entfernt mit Menschenrechten im traditionellen Sinn verwandt, da sie den Menschen nicht als Rechte gegenüber Staaten zustehen, sondern sie bloß Werte darstellen, die (angeblich) jeder Mensch für sich selbst anstrebt. Das von der New Haven School ohne nähere Begründung aufgestellte Maximierungspostulat ist ebenso wie die acht Werte keine empirisch feststell bare Tatsache311 . Dasselbe Problem wie bei der "human dignity" stellt sich im Hinblick auf das von der New Haven School ebenfalls als Leitwert propagierte "common interest": Auch dieser Begriff kann letztlich beliebig ausgefüllt werden 312 . Es wird nicht klar, anhand welcher Kriterien das Gemeinwohl in einer konkreten Situation festgestellt werden S01l313. Ebenso untersucht die New Haven School keine Einzelheiten der angestrebten "minimum world public order" im Lichte der gegebenen politischen Realitäten 314 . Auch wenn festzuhalten ist, daß die New Haven School keinesfalls subjektive Auslegungen des Völkerrechts je nach nationalem Interesse des Entscheidungsträgers befürwortee 15 , stehen die Setzung des "common interest" als Leitwert des Völkerrechts und die Forderung nach einer Identifikation Vgl. Rousseau, Droit International Public, S. 406. Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 477; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 74. 310 Vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 155 f.; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 56; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 73. 311 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 462; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 33 f. 312 Casper, Juristischer Realismus, S. 167; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/ 1965), S. 467. 313 Casper, Juristischer Realismus, S. 170; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 137 f. 314 Vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 95. 315 Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 193. 308

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der Völkerrechtsgelehrten mit dem Wohl der internationalen Gemeinschaft insgesamt doch in einem gewissen Widerspruch zur Forderung der New Haven School, das Völkerrecht so einzusetzen, daß es den Zielen des Westens gegenüber den kommunistischen Staaten dient 3!6. Beurteilt man die New Haven School nach ihren Taten, d. h. nach ihren Aussagen zu konkreten völkerrechtlichen Streitfällen, so bekommt man ein anderes Bild von ihr, als wenn man sie nur nach ihren theoretischen Schriften beurteilt3!7. Auch wenn sich McDougal theoretisch als Weltbürger einer internationalen Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen versteht, so werden seine praktischen Arbeiten doch wesentlich stärker von seiner amerikanischen Staatsangehörigkeit geprägt318 . Die Vertreter der Schule von New Haven verstanden "human dignity" und die anderen "goal values" in konkreten Streitfällen überwiegend aus der Sicht des Westens und dem Blickwinkel des Kalten Krieges 3!9. McDougal neigt dazu, eine Übereinstimmung zwischen dem, was der Wert der Menschenwürde erfordert, und den Interessen der Vereinigten Staaten zu sehen - und damit der Verfolgung nationaler Interessen durch die USA eine "höhere Weihe" zu verleihen32o . Bei vielen Gelegenheiten behauptet McDougal, daß das von ihm gewünschte juristische Ergebnis den "shared expectations" der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft entspräche und zugleich auch mit den angestrebten Leitwerten vereinbar sei 32 !. Oscar Schachter beschreibt diese Vorgehensweise etwas spöttisch als an ein Wunder grenzend: "Somehow, Mac nearly always finds that his own preferences are the key to what is in the common interest and in accord with the shared expectations of ,all peoples,.,,322 Da McDougal die Behauptung der Übereinstimmung in der Regel ohne nähere Belege und insbesondere ohne 316 Vgl. McDougal, AJIL Bd. 46 (1952), S. 112; McDougal/Lasswell, Identificati on and Appraisal, in: Studies in World Public Order, S. 38 f.; kritisch: Falk, The Status of Law in International Society, S. 49; Nardin. Law, Morality and the Relations of States, S. 203 f. 317 Falk, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 281. 318 Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 28 f. u. 144. 319 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 88; ders., The Status of Law in International Society, S. 44 u. 659; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 281 f.; ähnlich Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S. 782; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338 f.; Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 627; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 73. 320 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 492 f.; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 29 u. 144. 321 Vgl. Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269; vgl. Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres McDougal, S. 118. 322 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 270; ähnlich Falk, Remarks, ebenda, S. 281; Krakau. Missionsbewußtsein, S. 492 f.; Woetzel. AJIL Bd. 61 (1967), S. 629.

Kapitel III: "Policy-orientation" und "value-orientation"

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empirische Untersuchungen aufstellt, entsteht der Eindruck, als würde er "shared expectations" und "human dignity" letztlich nur zur besseren, pseudo-juristischen Rechtfertigung eines tatsächlich aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen gefundenen Ergebnisses benutzen 323 . Die Tendenz McDougals, jedes Verhalten, das den Interessen des Westens dient, als auch dem Zielwert der "human dignity" förderlich anzusehen, führte vor dem Auseinanderbrechen des Ostblocks dazu, daß er das Verhalten westlicher Staaten fast automatisch als rechtmäßig und das kommunistischer Staaten als rechtswidrig beurteile 24 . McDougal sah die Welt aufgrund seines orthodoxen Anti-Kommunismus325 in einem SchwarzWeiß-Schema, nach dem es nur "die Guten" und "die Bösen" gibe 26 . Sein an Chauvinismus grenzender Patriotismus 327 beinhaltet einen "somewhat naIve faith in the superiority of the American system of democracy and in the role of the Uni ted States as an exemplar of democracy in the world,,328 und damit den Glauben an eine Weltrnission der USA 329 . McDougal hat mehrfach Handlungsweisen der Vereinigten Staaten verteidigt, die sich kaum mit einer "world public order of human dignity" vereinbaren ließen, und wurde so zum Apologet der amerikanischen Außenpolitik33o . Die Tendenz zur Rechtfertigung der eigenen nationalen Politik läßt sich wohl nicht allein auf die leidenschaftlichen politischen Überzeugungen McDougals zurückführen, sondern dürfte der "value-orientation" immanent 323 Vgl. Falk, Legal Order in a Violent World, S. 94; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 269 f. 324 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 382; Casper, Juristischer Realismus, S. 168; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 88; ders., The Status of Law in International Society, S. 44 f.; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272 f.; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 74; ähnlich Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S. 785; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 29 u. 144; Stone, AVR Bd. 24 (1986), S. 6. 325 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 74. 326 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 491 u. 516; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 19. 327 Falk, Remarks, in: Proc ASn 1985, S. 282; ähnlich Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 44. 328 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 74; ähnlich Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 29 u. 144. 329 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338. 330 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45 ("McDougal has surely rescued international law from the pretension of providing a restraint system, but perhaps overmuch by engaging so unabashadely in exercises of national self-justification while retaining the scholar's mantle."); Gordon, Article 2 (4) and Permissive Pragmatism, in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 88; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 338; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 467; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 74; vgl. ferner Moore, Law and the Indo-China War, S. 44.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

sein 331 . Zwar ist die Förderung der amerikanischen außenpolitischen Interessen kein notwendiger Bestandteil der Theorie der Schule von New Haven332 , aber die Orientierung an postulierten und sehr abstrakten Werten kann leicht dazu führen, daß der Entscheidungsträger die jeweils eigenen nationalen Interessen an hand dieser Zielwerte als völkerrechtmäßig ansieht. Wenn jeder Staat als Leitwerte der internationalen Gemeinschaft seine eigenen nationalen Interessen einsetzen und so die "policy-oriented jurisprudence" nationalistisch auslegen würde, wäre das eine erhebliche Gefahr für das Völkerrecht: "If national interests are always perceived as the fundamental goals of the world community and those goals are treated as grounds for overriding rules developed by agreement and customary law, we can no longer have an effective international legal system ...333 Eine solche Sichtweise würde das Völkerrecht zur reinen Machtpolitik und zur bloßen Rechtfertigung der Außenpolitik verkommen lassen: "For the law turns out to be wh at helps a certain set of policies to prevail in the struggle for power.,,334 Das Völkerrecht läuft Gefahr, mit derartigen Begründungen zum Handlanger der nationalen Interessen der Staaten und letztlich zum Propagandainstrument zu werden 335 . Die ideologische und nationalistische Komponente der New Haven School wurde daher zu Recht scharf kritisiert336 . Kapitel IV

Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 1. Einordnung in das Spektrum rechtstheoretischer Schulen

Versucht man, die Schule von New Haven in das Spektrum der großen rechts theoretischen Schulen einzuordnen, stößt man auf Schwierigkeiten. 331 So wohl auch Stone, AVR Bd. 24 (1986), S. 6; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 74 f.; a. A. Falk, The Status of Law in International Society, S. 45. 332 Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 144. 333 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 272; vgl. Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 467; Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 628. 334 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 88; ähnlich Krakau, Missionsbewußtsein, S. 517. 335 Anderson, AJIL Bd. 57 (1963), S. 382; Casper, Juristischer Realismus, S. 168; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 517; ähnlich Friedmann, AJIL Bd. 61 (1967), S.778. 336 Falk, Legal Order in a Violent World, S. 88 f. u. 94; Gordon, Article 2 (4) and Permissive Pragmatism, in: Proc ASIL Bd. 78 (1984), S. 87 f.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 499; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 273; Simma, FS Kolb, S. 344, Fußn. 26.

Kapitel IV: Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 297

Zwar ist offensichtlich, daß es sich bei dieser Schule nicht um eine positivistische Theorie handelt, da sie den Positivismus zu Recht als ihr Gegenmodell ansieht337 . Daraus folgt aber nicht, daß die New Haven School eine naturrechtliche Theorie darstellt, auch wenn sie einige Verwandtschaften mit den Naturrechtslehren aufweist. Die Naturrechtsschule und die Schule von New Haven haben gemeinsam, daß sie das positive, geltende Recht als für juristische Entscheidungen allein nicht ausreichend ansehen und auf übergeordnete Ziele abstellen, anhand derer sie das positive Recht bewerten wollen 338 . Ferner bejahen beide Schulen eine Weltgemeinschaft mit gemeinsamen Interessen aller Staaten339 und stellen statt nur auf Machtfaktoren auch auf "authority" ab34o . Ein wesentlicher Unterschied zwischen den verschiedenen Naturrechtslehren und der Schule von New Haven besteht aber darin, daß erstere als Quelle des Rechts Gott, die Natur als abstraktes Konzept oder andere metaphysische Quellen ansehen, während letztere die von ihr angestrebten Werte auf empirische wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen versuche 41 . Auch das Interesse der New Haven School für Untersuchungen des Rechts als sozialem Prozeß ist der Naturrechtsschule fremd 342 . Die Schule von New Haven hat sich aus der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Schule des "legal realism" entwickelt343 , dessen Fortentwicklung sie in mancher Hinsicht ist344 . Diese Schule zeichnete sich eben337 McDougal/Lassweli/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 92 ff.; McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 11; ders., Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 283; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 8 ff.; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989190, S. 119; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 470; RosenthaI, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 20; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 41. 338 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 10; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 7; vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 16; lpsen-Ipsen, Völkerrecht, § 1 Rn. 30; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 503 f.; Rosenthal, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 49; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 572. Auch McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 68 u. 76 sehen hierin eine Gemeinsamkeit. 339 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 77 f. 340 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 10; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 7. 341 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 10; McDougal/Lasswell/ Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 76; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 19891 90, S. 242; vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 150. 342 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 77; McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 10.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

falls durch ein starkes Interesse für die Auswirkungen des Rechts auf die Gesellschaft und eine skeptische Haltung gegenüber Normen und dogmatischer Argumentation aus 345 . McDougal empfand den "legal realism" als Befreiung von vielen traditionellen Annahmen des analytischen Positivismus 346 und übernahm von ihm insbesondere den Normskeptizismus 347 , das Streben nach Realitätsnähe und die Untersuchung der auf juristische Entscheidungen einwirkenden Faktoren348 . Er vermißte am "legal realism" aber eine über die Kritik an bisher vorherrschenden rechts theoretischen Anschauungen hinausgehende "positive systematic theory of its own,,349 und sah seine Behandlung der Probleme von "policies" und Werten als ungenügend an 350. Mit den soziologischen Rechtstheorien, deren Vorläufer der "legal realism" war351 , verbindet die New Haven School der Versuch, das Recht als soziales Phänomen zu erklären und soziologisch zu analysieren 352 . Auch ihre funktionale Sicht des Rechts als gesellschaftspolitischem Instrument entspricht der Sicht der soziologischen Theorien353 . Die New Haven School 343 Burley, AJIL Bd. 87 (1993), S. 209; Casper, Juristischer Realismus, S. 80 f.; Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 489; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 472; Reisman, Theory About Law, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 1989/90, S. 228; Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 18 u. 31; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 40. 344 Casper, Juristischer Realismus, S. 81; Rostow, Afterword, in: Toward World Order, S. 572; Rosenthal, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 32; Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 16 f. 345 McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 13; vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 81; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law. S.35. 346 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 108; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 13 f. 347 McDougal, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 284 f.; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 473; Rosenthai, Etude de l'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 18. 348 McDougal, Georgia Law Review Bd. I (1966), S. 12; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 15; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 472 f. 349 McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 15; McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 108; vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 81. 350 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 12; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 15; Casper, Juristischer Realismus, S. 81. 351 Van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 40. 352 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 11; McDougal/Lasswell/ Reisman, Theories About International Law, in:. International Law Essays, S. 107; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 11; vgl. Johnston, CanYBIL Bd. 26 (1988), S. 7; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466, 470 u. 503; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 39.

Kapitel IV: Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 299 beurteilt die soziologischen Rechtstheorien denn auch grundsätzlich positiv, obwohl sie sich skeptisch zeigt, ob diese unterschiedlichen Theorien bereits eine Schule im eigentlichen Sinne darstellen 354 . Sie kritisiert jedoch an den bisherigen soziologischen Rechtstheorien, daß sie nicht ausreichend umfassend und wirklich wissenschaftlich seien355 , vor allem aber ihre mangelnde Orientierung an Leitwerten356 . Angesichts der Nähe des Konzepts der "value-orientation" zum Naturrecht läßt sich daher die New Haven School trotz der Gemeinsamkeiten zu soziologischen Rechtstheorien nicht ohne weiteres selbst als soziologische Schule einordnen357 . Andererseits spricht gegen ihre Kategorisierung als naturrechtliche Schule 358 , daß sie selbst sich nicht so begreife 59 • Am überzeugendsten erscheint es angesichts dieser Einordnungsschwierigkeiten insgesamt, die New Haven School als eigenständige Schule anzusehen, die Elemente der Naturrechtslehre mit solchen soziologischer Rechtstheorien verbindet 360 .

2. Prüfung der Einordnung als rechtssoziologische Theorie Teilweise wird vertreten, daß die Schule von New Haven statt einer rechtsdogmatischen eine rechtssoziologische Theorie darstelle 361 . 353 Shaw. International Law, S. 51 u. 54 f.; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 40. 354 McDougal/Lassweli/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 107 f. 355 McDougal/Lassweli/Reisman. Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 110 ff. u. 118; McDougal/Lasswell, Jurisprudence for a Free Society, S. 11 f. 356 McDougal, Georgia Law Review Bd. 1 (1966), S. 11; McDougal/Lasswell/ Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 115. 357 A. A. van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 39 ff. 358 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 503. 359 McDougal/Lasswell/Reisman, Theories About International Law, in: International Law Essays, S. 67 ff.; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 504, Fußn. 238. 360 Vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 15; Macdonaldllohnston, International Legal Theory, in: The Structure and Process of International Law, Hrsg.: Macdonald/Johnston, S. 4 f.; ähnlich lpsen-lpsen, Völkerrecht, § 1 Rn. 30 u. 34. Morison vergleicht in "My res S. McDougal and Twentieth Century Jurisprudence: A Comparative Essay" (in: Toward World Order, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 3 ff.) McDougals Werk mit dem von wichtigen Rechtstheoretikern wie H. L. A. Hart, Hans Kelsen, Roscoe Pound und Max Weber. 361 Als soziologische Theorie ordnen lohnston, CanYBIL Bd. 26 (1988), S. 7 u. 16 und Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 507 f., die New Haven School ein. Casper, Juristischer Realismus, S. 15, hält die New Haven School für eine politische Wissenschaft.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Die Rechtswissenschaft als Lehre vom Recht wird traditionell in drei Disziplinen unterteilt: die Rechtsdogmatik, die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie 362 . Diese drei Disziplinen haben alle das gleiche Erkenntnisobjekt - das Recht -, verfolgen aber verschiedene Erkenntnisziele 363 . Die Rechtsdogmatik, die auch als Rechtswissenschaft im engeren Sinne bezeichnet wird 364 , befaßt sich mit dem "Sollen", d. h. sie will das als Recht Geltende ermitteln365 . Dafür untersucht sie den Inhalt von Verhaltensvorschriften, die sie als abstraktes System von Normen ansieht, sowie die Methoden zur Ermittlung dieses Inhalts 366 . Die Rechtssoziologie dagegen fragt nach der sozialen Wirklichkeit des Rechts; sie befaßt sich daher mit dem "Sein", d. h. mit dem Recht als Erfahrungstatsache367 . Als Tochterdisziplin der Soziologie368 beschreibt und erklärt die Rechtssoziologie - oft mit empirischen Methoden 369 - insbesondere das Verhältnis von Recht und Gesellschaft 37o . Dabei untersucht sie nicht die Summe der geltenden Rechtsnormen, also das "law in the books", sondern das lebende Recht, d. h. das "law in action", so wie es sich in der Rechtswirklichkeit darstellt 371 . Die Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie als dritte Disziplin der Rechtswissenschaft schließlich fragt nach dem gerechten Recht, danach also, ob eine Norm inhaltlich "richtig" ist und warum sie gilt 372 . Sie untersucht Wertehierarchien als Begründungen des Rechts sowie rechtspolitische 362 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 15 f. und 21; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 1 ff.; Raiser, Rechtssoziologie, S. 9 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 1 f.; vgl. Stone, Law and the Social Sciences, S. 4 ff. 363 Carbonnier, Rechtssoziologie, S. 19; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 8; Röhl, Rechtssoziologie, S. 1 u. 65. 364 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 15; Simma, FS Kolb, S.342. 365 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 20; Graf Vitzthum, in: Völkerrecht, Hrsg.: Graf Vitzthum, 1. Abschnitt Rn. 111; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 45 u. 162; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 17. 366 Raiser, Rechtssoziologie, S. 7; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 2; Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, S. 20; Weber, Rechtssoziologie, S.69. 367 Kelsen, General Theory of Law and State, S. 163; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 17. 368 Carbonnier, Rechtssoziologie, S. 17 f.; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 26; Raiser, Rechtssoziologie, S. 3. 369 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 13; Röhl, Rechtssoziologie, S. 1. 370 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 12; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 7 u. 15; Raiser, Rechtssoziologie, S. 7; Stone, Law and the Social Sciences, S. 3. 371 Raiser, Rechtssoziologie, S. 254; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 2 f.; Weber, Rechtssoziologie, S. 69; Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, S.20.

Kapitel IV: Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 301

Zielsetzungen373 , befaßt sich also mit den jenseits der empirisch erfahrbaren Realität liegenden Elementen des Rechts 374 • Diese Unterscheidung in verschiedene Disziplinen ist wesentlich, weil die Unterschiedlichkeit der Fragestellung Grenzen der Übertragbarkeit der Aussagen auf andere Fragestellungen zur Folge hat. Da beispielsweise die Rechtsdogmatik nur nach dem normativ Geltenden fragt, kann aus ihren Aussagen nicht abgeleitet werden, wie sich das Recht faktisch in der sozialen Wirklichkeit darstellt. Ebensowenig, wie die rechtsphilosophische Untersuchung, wie ein gerechteres Recht aussehen würde, bei der Beantwortung der Frage hilft, welches Recht aktuell gilt, kann die Rechtssoziologie beantworten, welche Regel normativ gile 75 oder etwas über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von rechtspolitischen Wertentscheidungen aussagen 376 • Die New Haven School unterscheidet nicht zwischen diesen drei Disziplinen, sondern sie trennt stattdessen zwischen "theories of law" einerseits und "theories about law" andererseits. Diese Unterscheidung zwischen juristischen Theorien, die der Rechtfertigung von Entscheidungen dienen, und Theorien über das Recht, die der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen, wirkt zwar auf den ersten Blick einleuchtend, ist aber bei näherer Betrachtung keine ausreichend klare Differenzierung. Nach dem traditionellen Verständnis würde ein großer Teil der Rechtsdogmatik zum Bereich der "theory of law" gehören, jedoch nicht die gesamte Rechtsdogmatik, da diese auch der Schaffung eines theoretischen Systems dient. Dieser Teil der Rechtsdogmatik sowie die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie würden trotz ihrer sehr unterschiedlichen Erkenntnisziele alle zum Bereich der "theories about law" gehören. In den Studien der Vertreter der New Haven School findet sich zu einem großen Teil die traditionell juristische Fragestellung der Rechtsdogmatik, d. h. die Darlegung des Inhalts völkerrechtlicher Normen zu einem bestimmten Problemkreis, ihre Auslegung und Verknüpfung in einem System. Ein Werk über das Seerecht beispielsweise scheint kaum denkbar ohne eine Darlegung der geltenden Normen und der Auslegung von Grundsätzen wie dem Prinzip der Meeresfreiheit; davon macht auch McDougals Monographie "The Public Order of the Oceans" keine Ausnahme. 372 Graf Vitzthum, in: Völkerrecht, Hrsg.: Graf Vitzthum, 1. Abschnitt Rn. 111; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 8; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 5; Raiser, Rechtssoziologie, S. 10 f. 373 Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 1 f. 374 Raiser, Rechtssoziologie, S. 10. 375 Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 36 f.; Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, S. 21. 376 Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 37.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Die Schule von New Haven will jedoch im Gegensatz zur traditionellen, rechtsdogmatischen Völkerrechtslehre das Völkerrecht auch in seinem Wirken als Teil der sozialen Realität beschreiben und analysieren 377 . In ihren Studien untersucht sie daher die Charakteristika der internationalen Gemeinschaft und die Rolle des Völkerrechts darin, beispielsweise die tatsächliche Beachtung des Völkerrechts 378 . Soweit die New Haven School das Völkerrecht als tatsächliches Geschehen und Teil des ..world social process" untersucht - sei es empirisch oder anhand von Modellen - ist ihr Blickwinkel der der Rechtssoziologie 379 . Schließlich will die Schule von New Haven auch zu einer Reform des Völkerrechs beitragen 380 , wobei ihr Ziel ..die Einflußnahme auf sämtliche Entscheidungsfunktionen (... ) im Sinne der offen diskutierten und begründeten rechtspolitischen Präferenzen,,381 ist, d. h. ihr Engagement ist ein entschieden politisches 382 . Die New Haven School befaßt sich also nicht nur damit, wie das geltende Recht ist, sondern auch damit, wie es sein sollte 383 und warum es gilt und damit mit Rechtstheorie. So verbindet die Theorie der New Haven School alle drei rechtswissenschaftlichen Fragestellungen384 , wobei aber rechts soziologische und rechtspolitische bzw. rechtstheoretische Untersuchungen in den Arbeiten dieser Schule die Oberhand gegenüber rechtsdogmatischen Aussagen haben 385 . 377 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 463; Moore, Law and the Indo-China War, S. 50 u. 52; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200; Reisman, The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL 1992, S. 121 f.; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDogual, S. 82; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 565. 378 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 463; Moore, Law and the Indo-China War, S. 52; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 565; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 466; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 63 u. 76. 379 Casper, Juristischer Realismus, S. 173; Krakau, Missionsbewußtsein, S. 463 u. 470; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200; vgl. lpsen-Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 5. 380 Vgl. D'Amato, Harvard Law Review Bd.75 (1961), S. 461; Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 121 u. 128; Falk, Legal Order in a Violent World, S. 82; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 337; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200 f.; Reisman, The View from the New Haven School of International Law, in: Proc ASIL Bd. 86 (1992), S. 123; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, Hrsg.: Reisman/Weston, S. 569 f. 381 Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 76. 382 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 460; vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 173; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 36. 383 Rostow, Afterword, in: Towards World Order and Human Dignity, S. 570. 384 Vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 111; Moore, Law and the Indo-China War, S. 49 f.; Simma, FS Kolb, S. 344; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 63.

Kapitel IV: Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 303

Die Schule von New Haven befaßt sich viel ausdrücklicher und systematischer mit ursprünglich soziologischen oder politologischen Themen als die meisten klassichen Abhandlungen 386 • Da sie das Völkerrecht primär als soziales, nicht als normatives Phänomen siehe 87 , handelt es sich um eine vorwiegend soziologische Betrachtungsweise388 . Die rechtsdogmatische Fragestellung tritt bei dieser Schule als bloße Hilfsdisziplin für die sie eigentlich interessierenden rechtssoziologischen und rechtspolitischen Fragen in den Hintergrund389 . McDougals Verbindung der Beschäftigung mit der Rechtswirklichkeit mit der Untersuchung normativer und rechtspolitischer Fragen ist an sich kein Gegensatz zur klassischen Völkerrechtslehre39o , denn auch diese interessiert sich für rechtssoziologische Themen wie Einfluß der Politik auf das Völkerrecht, Befolgung von Normen etc. 391 , und schließt rechtspolitische Fragestellungen ein. Die New Haven School unterscheidet sich jedoch dadurch erheblich von klassischen Völkerrechtstheorien, daß sie die Unterscheidung zwischen Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft im engeren Sinn ausdrücklich ablehnt und stattdessen die Disziplinen Rechtswissenschaft, Politologie und "international relations theory" zu integrieren versuche 92 • Dementsprechend trennt diese Schule oft nicht klar zwischen den verschiedenen Blickwinkeln, sondern vermischt sie. Beispiele dafür sind ihre Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions", ihre Auflistung juristischer Aufgaben oder ihre Kritik an der traditionellen Völkerrechtslehre. Zwar wird teilweise die Auffassung vertreten, daß es gleichgültig sei, welche akademische Disziplin in einem bestimmten Zusammenhang die Untersuchung durchführe 393 • Dagegen spricht jedoch zum einen die oben dargelegte Unterschiedlichkeit der Fragestellung der drei rechtswissen385 Vgl. AUott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 121; Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S. 16. 386 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466; Young, AJIL Bd.66 (1972), S. 63, Fußn. 12. 387 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 460. 388 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 459, 463 u. 470; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 70. 389 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 501; Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 200; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 19. 390 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 201. 391 RandelzhoJer, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 252 f.; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 61, Fußn. 5, u. S. 63. 392 McDougal/LassweU, Jurisprudence for a Free Society Bd. 1, S. 57; vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 470. 393 Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

schaftlichen Disziplinen und damit die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse 394 . Zum anderen sind die in der Rechtssoziologie verwandten Begriffe nicht ohne weiteres auf rechtsdogmatische Untersuchungen übertragbar und umgekehrt395 . Auch wenn diese Unterscheidung nicht in Schubladendenken ausarten sollte, ist daher im Grundsatz Kelsen zuzustimmen, der über den Juristen meinte: "Er kann die Welt des Seins und die Welt des Sollens in seinen Begriffen nicht verbinden und muß sich darum entscheiden, ob er als Soziologe und Psychologe das tatsächliche Geschehen, das Handeln der Menschen erklären, oder die Rechtsnormen erfassen, ob er seine Begriffe aus der einen oder der anderen Welt abstrahieren will,,396. Daher sollten die rechtswissenschaftlichen Disziplinen trotz aller notwendigen und sinnvollen Verbindungslinien im Grundsatz klar unterschieden werden397 . Abzulehnen ist McDougals Verbindung von rechtssoziologischen mit rechtsdogmatischen Fragestellungen vor allem dort, wo er mit rechtssoziologischen Mitteln rechtsdogmatische Fragestellungen zu beantworten versucht. So sind Versuche, allein aus der Wirklichkeit der internationalen Beziehungen die Rechtmäßigkeit einer staatlichen Verhaltensweise abzuleiten, zum Scheitern verurteilt. Es stiftet nur Verwirrung, wenn die Schule von New Haven alteingeführte, bisher normativ gebrauchte Begriffe der Völkerrechtswissenschaft rein deskriptiv reinterpretiert398. Bruno Simma hat zutreffend eine "als Rechtswissenschaft deklarierte pure Verhaltensforschung" mit der Begründung abgelehnt: "Auch die exakteste und eindringlichste Darlegung soziologischer Gegebenheiten und daraus induzierter ,Gesetzmäßigkeiten' kann als solche niemals zur Geltung - oder Beseitigung - von Rechtsregeln führen, weil Tatsachenschlüsse und Normativurteile auf logisch heterogenen Ebenen liegen ... 399

394 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosphie, S. 15; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 33; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simmal Blenk-Knocke, S. 505. 395 Raiser, Rechtssoziologie, S. 24; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 505. 396 Kelsen, Vorrede zur 1. Auflage der Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. VIII, zitiert nach Krakau, Missionsbewußtsein, S. 470. 397 Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 43; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 33; Lauterpacht, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Supp!. 2, S. 28; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 5; Weber, Rechtssoziologie, S. 69; Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, S. 21 f.; wohl auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 17. 398 Vg!. Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 195. 399 Simma, FS Kolb, S. 340.

Kapitel IV: Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 305

Die sich bei der New Haven School zeigende Geringschätzung der rechtsdogmatischen Fragestellung und der Beschäftigung mit der Auslegung von Normen ist nicht gerechtfertigt, denn die Arbeit mit juristischen Texten und ihre Auslegung ist "das unerläßliche Handwerkszeug" auch der Völkerrechtswissenschaft, ohne die sie ihre Aufgaben nicht erfüllen könnte 4OO . Die rein "logisch-normative Tätigkeit", insbesondere das Messen konkreter Fälle an geltenden Normen zur Feststellung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens, ist die charakteristische Tätigkeit der Juristen, für die sich speziell Juristen eignen und die oft bei der juristischen Entscheidungsfindung allein gefragt ist401 . Gerade die Frage nach der Rechtmäßigkeit, die für "decisionmakers" meistens die zentrale Frage darstellt, geht in den Untersuchungen der New Haven School unter und wird aufgelöst in "a highly uncertain and endless quest for shared expectations, value preferences and power relations on aglobaI scale,,402. Trotz der Notwendigkeit, sich der soziologischen und politischen Voraussetzungen und Bedingungen des Völkerrechts bewußt zu sein, darf sich die Völkerrechtswissenschaft nicht auf die Darstellung dieser Voraussetzungen und Bedingungen beschränken, wenn sie eine Rechtswissenschaft sein S01l403. Die Rechtsdogmatik als die Disziplin, die sich mit dem normativen Sollen befaßt, stellt gerade das Kernstück der Rechtswissenschaft dar, das die Jurisprudenz von anderen verwandten Wissenschaften grundlegend unterscheidet. Die New Haven Schoool läuft Gefahr, die Rechtswissenschaft insgesamt zu einer Soziologie des Rechts umzuwandeln und dadurch den spezifisch normativen Charakter des Rechts zu mißachten404 . Ein großer Teil der von der New Haven School an den traditionellen Völkerrechtsstheorien geäußerten Kritik ist unberechtigt, wenn man diese Theorien als rechtsdogmatische Theorien mit entsprechendem Blickwinkel Simma, FS Kolb, S. 347. Simma, FS Kolb, S. 346 f.; ähnlich Kelsen, General Theory of Law and State, S. 162 f.; Lauterpacht. Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S.27. 402 Schachter. Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268; vgl. Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 628; a. A. Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte, S.23. 403 Ebenso Delbrück, Die Friedenswarte Bd. 58 (1963), S. 247; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd.57 (1963), S. 32; Koskenniemi, Theory, in: Theory and International Law, Hrsg.: Allott/Carty/Koskenniemi/Warbrick, S. 10; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 172; Tunkin. Droit International Public, S. 190; ähnlich Simma. FS Kolb, S. 346. 404 Nardin. Law, Morality and the Relations of States, S. 195; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 31; vgl. Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd.57 (1963), S. 27 u. 32 f.; Simma, ZaöRV Bd. 32 (1972), S. 678; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 63 f. 400

401

20 Voos

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

akzeptiert. Dann wird beispielsweise die Kritik der New Haven School, die Definition des Völkerrechts als System von Normen sei wirklichkeitsfern, hinfällig. Auch die klassische Unterscheidung zwischen Recht und Politik wird verständlich: Nur juristische Entscheidungen richten sich nach Normen und haben einen normativen Geltungsanspruch, politische Entscheidungen dagegen werden von anderen Interessen bestimmt und sind bloß faktisch wirksam. Ähnliches gilt für die Bedeutung des extra-legalen Kontexts: Während die Einbeziehung des politischen und sozialen Kontexts für rechtssoziologische Studien selbstverständlich ist, hängt seine Relevanz für rechtsdogmatische Studien vom Inhalt der betreffenden Normen ab. Die von der New Haven School teilweise vorgenommene Gleichsetzung empirischer Forschung mit Wissenschaftlichkeit ist abzulehnen, denn je nach Forschungsgegenstand können empirische Untersuchungen von vornherein ausgeschlossen sein, ohne daß dadurch diese Disziplin unwissenschaftlich würde. Für die Rechtswissenschaft im engeren Sinne kommen empirische Untersuchungen aufgrund ihrer Fragestellung nicht in Betracht, so daß die Forderung der New Haven School nach mehr Wissenschaftlichkeit im Sinne von mehr empirischer Forschung nur für die Rechtssoziologie Sinn ergibt. Die Untersuchungen der Schule von New Haven stellen einen wesentlichen Beitrag zur rechtssoziologischen Erforschung des Völkerrechts dar und bieten ein reiches Quellenmaterial für weitere Untersuchungen 405 . Die Zusammenarbeit zwischen Harold D. LassweIl und Myres S. McDougal wollte das Verständigungsproblem, das Juristen und Rechtssoziologen aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen Terminologie haben, überwinden helfen. Auch wenn auffällt, daß die New Haven School häufiger von der Notwendigkeit der Interdisziplinarität und insbesondere des Rückgriffs auf sozial wissenschaftliche Erkenntnisse spricht, als daß diese sich tatsächlich in ihren Werken wiederfinden 406 , so ist doch der in der Kooperation McDougals mit dem Gesellschaftswissenschaftler LassweIl verwirklichte Ansatz eines verstärkten Dialogs zwischen Rechtswissenschaft und anderen Disziplinen grundsätzlich sinnvoll. Der New Haven School ist darin zuzustimmen, daß die Erkenntnisse der Rechtssoziologie auch für die Rechtsdogmatik und die Rechtspolitik genutzt werden sollten, denn angesichts der engen Beziehung zwischen Recht und gesellschaftlicher Realität kann das Recht ohne Kenntnis der sozialen Wirklichkeit und der Wechsel wirkungen zwischen Recht und Gesellschaft seine sozialen Funktionen nicht erfüllen407 • Versteht man das Vgl. AUott. BYIL Bd. 45 (1971), S. 133. Vgl. Young. AJIL Bd. 66 (1972). S. 63. 407 Bühring. Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 27; Higgins. The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, 405

406

Kapitel IV: Systematische Einordnung der Theorie der New Haven School 307 Recht so, daß es aus einer normativen und einer realen Dimension besteht, so ergibt sich, daß das Recht nur in bei den Dimensionen zusammen in seinem Wesen erfaßbar ist408 • Die Befassung mit rechtssoziologischen Fragen kann gerade auch für die Völkerrechtswissenschaft im engeren Sinne inspirierend sein409 , denn gerade im Völkerrecht, das zum großen Teil noch ein Gewohnheitsrecht darstellt und dessen Entstehung und Anwendung aufs engste mit der politischen Realität verknüpft ist, ist die Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit besonders dringend erforderlich4 IO. Wenn die Völkerrechtswissenschaft praktisch relevant sein soll, muß sie sich auch mit politischen, ideologischen, wirtschaftlichen etc. Fragen auseinandersetzen und darf diese nicht den Gesellschaftswissenschaften überlassen 411 • Es ist daher zu begrüßen, daß die Schule von New Haven Interesse für rechtssoziologische Fragestellungen weckt und für den Zusammenhang zwischen Völkerrecht und der das Recht prägenden und vom Recht geprägten politischen Realität sensibilisiert412 . Die Anerkennung der Notwendigkeit rechtssoziologischer Forschung und der Bedeutung derartiger Forschung für rechtsdogmatische und rechtspolitische Fragestellungen führt nicht notwendig zu einer Vermischung der verschiedenen Fragestellungen, sondern die Disziplinen können sich gegenseitig ergänzen4J3 • Unterstützenswert erscheint daher Simmas Forderung nach einem völkerrechtswissenschaftlichen Methodenpluralismus im Sinne einer S. 42; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 26; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 9; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 16 f.; Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, S. 21; Weber, Rechtssoziolgie, S. 69. 408 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 15 u. 27 f.; vgl. Raiser, Rechtssoziologie, S. 14; Schweitzer, Synopsis des Völkerrechtlers, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, Hrsg.: Simma/Blenk-Knocke, S. 508. 409 Baldwin, Yale L. 1. Bd. 73 (1964), S. 727; Lauterpacht, Georgia 1. of Int. and Comp. Law Bd. 2 (1972), Suppl. 2, S. 27 f.; Raiser, Rechtssoziologie, S. 14 f.; Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 21; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 53; Simma, FS Kolb, S. 341 ff.; Stone, Law and the Social Sciences, S. 3. 410 Vgl. Bühring, Der Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 22 f.; Falk, FS Leo Gross, S. 135; Michel, Zur Geltung und Wirksamkeit, S. 87; RandelzhoJer, Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), S. 253; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 53; Simma, FS Kolb, S. 341; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 17. 411 Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 21; Simma, FS Kolb, S. 341 f. 412 So auch Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 133; Baldwin, Yale L. 1. Bd. 73 (1964), S. 727; Falk, The Status of Law in International Society, S. 45; Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 36. 413 Bühring, Einfluß von Sicherheitsinteressen, S. 27; Hoffmann, The Study of International Law, in: Proc ASIL Bd. 57 (1963), S. 35; Simma, FS Kolb, S. 343.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

"Forderung an den Völkerrechtler, seine Aufgabe nicht in der möglichst perfekten Anwendung des von der juristischen Dogmatik bereitgestellten Instrumentariums zur Auffindung und Lösung von Problemen in der Normensphäre erschöpft zu sehen, sondern sich überall dort, wo ein derartiges Weiterforschen notwendig ist und fruchtbringend sein kann, auch der Frage nach dem empirisch feststellbaren und kausal erklärbaren Verhalten der Rechtsunterworfenen gegenüber diesen Normen und Norrnkonkretisierungen zu widmen,,414. Im Hinblick auf die Rechtspolitik hat die New Haven School Verdienste erworben, indem sie die rechtspolitische Fragestellung aus ihrem Schattendasein befreit und sie als wesentliche Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft erkannt hat. Simma hat gegen die Beschränkung der Völkerrechtswissenschaft auf ausschließlich rechtsdogmatische Fragen zu Recht angemerkt, daß damit die entscheidende Stufe der Problemlösung, nämlich die Befassung mit der Frage, wie das Völkerrecht den Staaten als den Rechtsanwendern näher gebracht werden kann, anderen überlassen wird415 . Die Arbeiten der New Haven School enthalten interessante Vorschläge, wie das Völkerrecht reformiert werden sollte, damit es seine Aufgabe besser erfüllen kann. Auch wenn viele dieser Vorschläge nicht realisierbar oder nicht wünschenswert sein mögen, so ist doch jedenfalls eine ausdrückliche Beschäftigung mit derartigen Fragen einer passiv das geltende Recht als vorgegeben und nicht veränderbar akzeptierenden Haltung vorzuziehen. Im Hinblick auf rechtsgestaltende Tätigkeiten kann eine Beschäftigung mit der Theorie der Schule von New Haven daher wegen "its comprohensiveness in certain respects and its explicit treatment of policy" sicherlich anregend sein 416 . Kapitel V

Kritik der Methode der Schule von New Haven 1. Die Terminologie der New Haven School

Eines der am häufigsten kritisierten Kennzeichen der Schule von New Haven dürfte die von ihr verwandte Sprache sein. Insbesondere wird beklagt, die Terminologie der New Haven School sei "verwirrend und abschreckend,,417, eigentümlich418 und für Uneingeweihte unverständlich419 . Simma. FS Kolb, S. 340. Simma. FS Kolb, S. 342; ähnlich Delbrück. Die Friedenswarte Bd. 58 (1975), s. 247 f. 416 AUOIt. BYIL Bd. 45 (1971), S. 133; ähnlich Schreuer. Die Behandlung internationaler Organakte, S. 24. 414 415

Kapitel V: Kritik der Methode der Schule von New Haven

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Diese Kritik ist durchaus berechtigt: Die meisten Abhandlungen der New Haven School sind schon aufgrund ihres oft enormen Umfangs und der vielen ungewohnten Begriffe abschreckend420 und die häufigen Wiederholungen ermüden den Leser421 . Für Juristen, die bisher noch nicht mit der New Haven School in Kontakt gekommen sind, erschwert die spezielle Terminologie der New Haven School das Verständnis ihrer Theorie und ihrer Ergebnisse erheblich422 • Um die inhaltlichen Aussagen McDougals zu verstehen, muß der Leser zunächst Zeit und Mühe in das Studium der Ausdrucksweise und des Systems dieser Schule investieren423 , denn zum Verständnis der speziellen Begriffe ist es erforderlich, die Theorie der Schule von New Haven zumindest überblicks artig zu kennen. Die Probleme mit der Terminologie der New Haven School hängen großteils mit den vielen für Juristen ungewohnten Begriffen wie ..policy" oder ..phase analysis" zusammen, aber auch mit der Komplexität vieler Sätze sowie des Aufbaus der Werke insgesamt. Zusätzlich sorgen die Vertreter dieser Schule dadurch für Verwirrung, daß sie traditionelle juristische Begriffe teilweise mit anderer Bedeutung als üblich verwenden, so z. B. ..law", ..authority" und ..human dignity". Die Definitionen von McDougal und LassweIl helfen oft nicht viel weiter, weil sie selbst wieder lauter definitionsbedürftige und schwerverständliche Begriffe enthalten und derselbe Begriff oft unterschiedlich definiert wird424• Zusammen mit der Vorliebe der Vertreter der New Haven School für sehr vage, mehrdeutige Begriffe wie ..reasonableness" oder ..security" führt das dazu, daß zwar ein oberflächliches Verständnis der Texte durchaus erreichbar ist425 , aber an vielen Stellen letztlich Unsicherheit darüber bleibt, was die Autoren genau meinen426 . 417 Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, S. 66; ebenso Falk, The Status of Law in International Society, S. 643 f.; Higgins, The Identity of Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 41. 418 Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 119. 419 Fitzmaurice, AJIL Bd.65 (1971), S. 360; Moore, Law and the Indo-China War, S. 68; ähnlich McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 335. 420 Falk, The Status of Law in International Society, S. 643. 421 Allort, BYIL Bd.45 (1971), S. 113 ff.; Baldwin, Yale L. J. Bd.73 (1964), S. 727; Lissitzyn, in: Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 672; Moore, Law and the Indo-China War, S. 68. 422 Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 63 u. 66. 423 Falk, The Status of Law in International Society, S. 643; Moore, Law and the Indo-China War, S. 68 u. 76. 424 Vgl. Casper, Juristischer Realismus, S. 170. 425 Baldwin, Yale L. J. Bd. 73 (1964), S. 727. 426 So auch Fitzmaurice, AJIL Bd. 65 (1971), S. 360.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Die Vertreter der New Haven School dürften bereits aufgrund ihrer schwerverständlichen Ausdrucksweise viele Juristen von einer weitergehenden Beschäftigung mit ihrer Schule abgehalten haben 427 • In der Tatsache, daß diese Terminologie gerade Juristen aus anderen Sprach- und Kulturkreisen den Zugang zu der Theorie der New Haven School erschwert hat, dürfte zu einem großen Teil die Ursache dafür liegen, daß diese Schule außerhalb der Vereinigten Staaten auf ein relativ geringes Echo gestoßen ist. Zu diesem Ergebnis dürfte daneben auch beigetragen haben, daß die Werke der New Haven School überwiegend von einem ausgeprägt amerikanischen Standpunkt aus geschrieben sind und nicht-englischsprachige Literatur selten erörtert wird. Die Werke der New Haven School wirken daher teilweise wie ein inneramerikanische Monolog, der für den Rest der Welt bzw. der Völkerrechtswissenschaft von geringer Bedeutung ist. Angesichts der Schwierigkeiten mit McDougals Terminologie ist die Frage naheliegend, ob es sich um ein der Theorie der New Haven School immanentes Problem handelt oder ob es möglich wäre, dieselben inhaltlichen Aussagen wesentlich verständlicher auszudrücken. McDougals Kritiker halten seine Ausdrucksweise für eine überflüssige Komplizierung428 und meinen, daß die New Haven School durch das Vermeiden traditioneller juristischer Begriffe die eigentlichen Probleme nicht löse429 . Seine Anhänger betonen dagegen, daß es sich bei der von der New Haven School benutzten Terminologie um einen notwendigen Teil ihrer Theorie handele, der selbst für viele der durch diese Theorie vermittelten Einsichten verantwortlich sei und der nicht wesentlich vereinfacht werden könne 43o • Diese spezielle Terminologie sei nicht von McDougal und Lasswell erfunden worden, sondern sie stelle eine Synthese der Terminologie verschiedener Sozialwissenschaften dar431 . 427 Falk, The Status of Law in International Society, S. 644. Warbrick beschreibt das sehr anschaulich: "The McDougal books turned out to have an internal device which reduced the temptation to delve too deeply into them: they were practically unreadable. (... ) The opening pages of any McDougal book told you: if this were theory, the Americans could keep it." (lntroduction, in: Theory and International Law, S. XI.) 428 Fitzmaurice, AJIL Bd.65 (1971), S. 362; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/ 1965), S. 468. 429 Nardin, Law, Morality and the Relations of States, S. 195 ff. 430 Falk, The Status of Law in International Society, S. 658; Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 41; Moore, Law and the Indo-China War, S. 56 u. 61; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, S. 65 f.; wohl auch Johnston, CanYBIL Bd. 26 (1988), S. 14. 431 Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 41; Johnston, CanYBIL Bd.26 (1988), S. 14; Moore, Law and the Indo-China War, S. 61 f.

Kapitel V: Kritik der Methode der Schule von New Haven

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Die Anhänger der New Haven School meinen, daß eine "theory about law" eine Metasprache erfordere 432 , weil nur mittels einer Metasprache die Rolle des Rechts präzise analysiert werden könne, während die Benutzung der im analysierten Rechtssystem selbst verwandten Rechtssprache zu Verwirrung führe 433 . Die Komplexität der verwandten Begriffe entspreche der Komplexität der sozialen Realität und sei daher notwendig für eine Theorie über die soziale Realität und die Beziehung zwischen Recht und Gesellschaft434 . Das Argument der notwendigen Komplexität vermag insofern nicht zu überzeugen, als wissenschaftliche Untersuchungen gerade auch dazu dienen. die Komplexität der Realität soweit zu vereinfachen und zu systematisieren, daß die Aufstellung allgemeiner Aussagen möglich wird. Eine Metasprache ist nur dann erforderlich, wenn es um die Beschreibung eines Systems von außen geht, weshalb rechtsdogmatische Untersuchungen kein spezielles Vokabular benötigen; die New Haven School verwendet ihre Terminologie jedoch gleichermaßen bei rechtsdogmatischen, rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Aussagen. Der Gebrauch soziologischer Begriffe allein beinhaltet noch keine Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Rechtswissenschaft, erschwert aber für Juristen den Zugang zu dieser Theorie, insbesondere wenn nicht klar ist, ob bestimmte Begriffe juristisch oder soziologisch gebraucht werden. 2. Das "framework of inquiry" a) Die Werteanalyse

Die acht Werte ("power, enlightenment, wealth, well-being, skill, affection, respect and rectitude") werden von der New Haven School nicht nur in ihrer Eigenschaft als Leitwerte normativ als Maßstab zur Bewertung von Völkerrechtsnormen eingesetzt, sondern auch und vor allem soziologisch als Kategorien zur Einteilung von Studien über den "world social process,,435. Für die "value analysis" wird ein bestimmter Prozeß in acht Unterprozesse ("power process" etc.) aufgesplittet und die Auswirkungen

432 Moore, Law and the Indo-China War, S. 50 f. u. 61; Schreuer, New Haven Approach, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 65; vgl. Stephenson, Diskussionsbeitrag, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985). S. 287. 433 McDougallLasswelllReisman, Theories About International Law. in: International Law Essays, S. 53; Moore, Law and the Indo-China War. S. 51. 434 Falk, The Status of Law in International Society. S. 658; Moore, Law and the Indo-China War. S. 62; Weston, Remarks. in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 266. 435 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein. S. 466 f.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

auf die verschiedenen Werte, die hier nicht als Ziele sondern als Mittel verstanden werden436 , werden analysiert. Trotz der Unbestimmtheit der acht Werte scheint es nicht ausgeschlossen, daß diese Einteilung für rechtssoziologische Studien gewinnbringend sein kann 437 . Allerdings konzentriert sich die New Haven School dabei ganz überwiegend auf den "power process", den sie zu Recht als den für Juristen wichtigsten Prozeß ansieht, während zu den anderen Werten die Analyse oft aus wenig mehr als der Überschrift besteht. Für rechtsdogmatische Studien dagegen ist der Nutzen der "value analysis" nicht recht ersichtlich, da unklar ist, wie anhand von willkürlich gewählten und extrem unbestimmten Werten der Inhalt und das System des geltenden Völkerrechts analysiert werden könnten. Die acht Werte sind außerhalb des Normsystems liegende Kategorien, die zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale einzelner Normen wenig beitragen. Auch bei rechtspolitischen Überlegungen lassen sich die Auswirkungen verschiedener möglicher Normalternativen mit anderen Mitteln klarer und einfacher feststellen als anhand der Auswirkungen auf die acht Werte. b) Die Phasenanalyse

Die "phase analysis" umfaßt sieben Kategorien, die den zu untersuchenden Prozeß in Teilelemente oder Phasen unterteilen ("participants, perspectives, situations, base values, strategies, outcomes, effects"). Zugunsten dieser Kategorien wird angeführt, daß sie flexibel und nützlich für die systematische Erforschung des Kontexts seien438 . Die Kategorien hätten zwar keinen inhärenten Erkenntniswert, seien aber eine wichtige Hilfe, um anhand einer Liste von potentiell relevanten Fragen möglichst viele Aspekte systematisch zu erfassen und dadurch eine vollständige Untersuchung zu erreichen 439 • Dieser Einschätzung kann nur bedingt zugestimmt werden. Zwar mag die Phasenanayse für rechtssoziologische Studien ein nützliches Hilfsmittel sein und auch rechtspolitische Untersuchungen können möglicherweise von dieser systematischen Erforschung des Kontexts profitieren. Die Erläuterungen der Kategorien wirken aber verwirrend und es wird nicht recht klar, Rosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 160. Positiv dazu: Moore, Law and the Indo-China War, S. 63; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 68. 438 Moore, Law and the Indo-China War, S. 54 ff. 439 Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 77. 436 437

Kapitel V: Kritik der Methode der Schule von New Haven

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welche Punkte darunter jeweils fallen sollen. Außerdem erscheint die Untersuchung aller juristischen Prozesse anhand aller sieben Kategorien als sehr aufwendig. Die einleuchtendste unter den sieben Kategorien dürfte wohl "participants" sein, wobei der New Haven School darin zuzustimmen ist, daß es wünschenswert ist, daß die Völkerrechtswissenschaft nicht nur Staaten und internationale Organisationen berücksichtigt, sondern ihr Augenmerk auch auf andere Akteure im internationalen Geschehen richtet44o . Allerdings wird auch in der traditionellen Völkerrechtslehre die Auffassung, daß Staaten die einzigen Völkerrechtssubjekte seien, kaum noch vertreten44l . Sofern die Kategorie "participants" dazu dienen soll, die bisherige Unterscheidung in Völkerrechtssubjekte und sonstige Beteiligte abzulösen442 , ist dem entgegenzuhalten, daß für jedes Rechtssystem geklärt werden muß, welche Subjekte in ihm Träger von Rechten und Pflichten sein können443 • Bei rechtsdogmatischen Studien ist auch im Hinblick auf die Phasenanalyse nicht ersichtlich, wie das Studium des Inhalts des geltenden Rechts dadurch erleichtert werden soll, daß man versucht, juristische Entscheidungen in diese sperrigen und schwer abgrenzbaren Kategorien zu pressen. Die Untersuchung einer Situation, die juristische Probleme aufwirft, anhand der Perspektiven der Teilnehmer, ihrer Machtgrundlagen und Strategien hilft zumindest nicht unmittelbar bei der Beantwortung der Frage, welches Recht in dieser Situation gilt. c) Die fünf intellektuellen Aufgaben der Völkerrechtsgelehrten

Die New Haven School meint, jeder Iurist habe fünf intellektuelle Aufgaben zu erfüllen, nämlich "clarification of goals, description of past trends, analysis of conditions affecting past trends, projection of future trends, and invention and evaluation of policy alternatives,,444.

440 So auch Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 77. 441 Vgl. Dahm, Völkerrecht Bd. I, S. 71 f.; Ipsen-lpsen, Völkerrecht, § 1 Rn. 7 ff.; Jessup, A Modem Law of Nations, S. 8 ff.; Oppenheim/Lauterpacht, International Law, S. 5 f.; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, Rn. 603 ff.; Verdross/ Simma, Universelles Völkerrecht, S. 222. 442 Vgl. Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 77. 443 A. A. wohl Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 100, Fußn.57. 444 Moore, Law and the Indo-China War, S. 58.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Die Analyse der die bisherigen Entscheidungen bestimmenden Faktoren und die Vorhersage künftiger Entscheidungen gehören in den Interessenbereich soziologischer Untersuchungen, nicht der Rechtsdogmatik; bei der Lösung konkreter juristischer Einzelfallprobleme müssen Entscheidungsträger sich diesen bei den Aufgaben nicht widmen. Dagegen entspricht die Aufgabe der "description of past trends in decision" im wesentlichen der Untersuchung von Präzedenzfallen, wie sie auch die traditionelle Völkerrechtstheorie zur Bestimmung der anwendbaren Normen für erforderlich hält. Die "clarification of goals" sowie die Erarbeitung und Bewertung von Alternativen stellen rechtspolitische Aufgaben dar. Auf die negativen Folgen einer Verquickung der unterschiedlichen Fragestellung von Rechtssoziologie, Rechtspolitik und Rechtsdogmatik durch die Forderung, daß jeder Entscheidungsträger bei jeder Entscheidung alle fünf Aufgaben erfüllen müsse, wurde oben bereits eingegangen. Hier soll nur ergänzend darauf hingewiesen werden, daß zwar für die Ausarbeitung von Reformvorschlägen in der Tat alle fünf von der New Haven School vorgeschlagenen "intellectual tasks" als sinnvoll und notwendig erscheinen, für rechtsdogmatische oder rechtssoziologische Untersuchungen aber nur jeweils einzelne davon. Aufgaben wie die Analyse der bestimmenden Faktoren bisheriger Entscheidungen oder die Klärung grundSätzlicher Ziele sind bei weitem zu umfangreich und zu abstrakt, als daß ihre Erfüllung durch in der Praxis tätige Entscheidungsträger vor jeder juristischen Einzelfallentscheidung notwendig und zweckmäßig wäre. Es bleibt unklar, wie so komplizierte und umfassende Studien, bei denen sich notwendigerweise viele Prüfungspunkte mehr oder weniger stark abgewandelt wiederholen, einen Überblick über ein Problem ermöglichen und damit bei der Problemlösung helfen sollen445 • Eine rechtsdogmatische Untersuchung, die von den zu lösenden tatsächlichen Problemen ausgehend die geltende Rechtslage erläutert sowie eventuell Reformvorschläge macht, scheint der Aufgabenstellung wesentlich angemessener und praktisch fruchtbarer zu sein als eine Untersuchung, bei der die Völkerrechtsnormen eine untergeordnete Rolle spielen gegenüber Wert-Überlegungen und der Untersuchung von Entscheidungstrends446 . d) Die sieben Entscheidungs/unktionen

Nicht mit den fünf "intellectual tasks" verwechselt werden dürfen die sieben Entscheidungsfunktionen ("intelligence, promotion or recommendation, prescription, invocation, application, termination, appraisal"). Während 445 446

A. A. Moore, Law and the Indo-China War, S. 60. Vgl. Krakau. Missionsbewußtsein, S. 502.

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erstere Einteilung die vor dem Treffen juristischer Entscheidungen zu erfüllenden Aufgaben betrifft, soll letztere Einteilung der soziologischen Analyse der Funktionen der juristischen Entscheidungen dienen447 . Die "decision functions" sollen also eine Einteilung der verschiedenen juristischen Tätigkeitsfelder und Aufgaben ennöglichen, während die fünf intellektuellen Aufgaben bei jeder juristischen Entscheidung - unabhängig von ihrer Funktion - erfüllt werden sollen448 . Die von der New Haven School aufgelisteten Entscheidungsfunktionen werden von der klassischen Völkerrechtslehre nicht unbedingt alle zu den juristischen Aufgaben gezählt, wie z. B. "promotion", d.h. die Empfehlung einer bestimmten "policy", und "appraisal", d.h. die Messung des geltenden Rechts an bestimmten Werten und seine Beurteilung. Ferner sind in dem Katalog der sieben Entscheidungsfunktionen auch solche enthalten, die üblicherweise höchstens als Nebenaufgaben angesehen werden, nämlich "intelligence", d. h. das Sammeln und Verarbeiten von Infonnationen, sowie "tennination", also die Aufhebung obsoleter Nonnen. Die traditionellen Rechtstheorien konzentrieren sich dagegen ganz überwiegend auf die Rechtsanwendung durch die Exekutive und die Gerichte, also auf "invocation" und "application", sowie auf die Rechtsetzung ("prescription,,)449. Die von der New Haven School befürwortete Einteilung der juristischen Entscheidungsfunktionen ist umfassender als die herkömmliche Sichtweise und spiegelt daher überzeugend wieder, daß die juristischen Aufgaben wesentlich vielfältiger sind als nur die Anwendung vorgegebener Nonnen450 . Begrüßenswert ist dabei auch hier, daß die New Haven School den Blick auf die ansonsten eher vernachlässigten, aber sehr wesentlichen rechtspolitischen Aufgaben der Juristen lenkt451 . Für eine soziologische Analyse der verschiedenen juristischen Tätigkeitsbereiche erscheint diese Einteilung als durchaus sinnvoll, da sie vollständig und im wesentlichen überschneidungsfrei ist. Die Einteilung der New Haven School ist jedoch insofern irreführend, als sie alle Funktionen gleich gewichtet, obwohl die Aufgaben von unterschiedlicher Bedeutung sind452 . So auch Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466. Moore, Law and the Indo-China War, S. 58. 449 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 468; Moore, Law and the Indo-China War, S. 57; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 69. 450 So auch Moore, Law and the Indo-China War, S. 57; Schachter, Remarks, in: Proc ASIL Bd. 79 (1985), S. 268; ähnlich Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 77. 451 Falk, Legal Order in a Violent World. S. 82; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer. S. 76. 452 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 468; Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal. S. 89 447

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven e) Gesamtbewertung des "Jramework oJ inquiry"

Alle Reihen von Kategorien des "framework of inquiry" sollen sowohl die vollständige Erfassung eines Problems erleichtern als auch bei Aufbau und Darstellung juristischer Untersuchungen helfen 453 . Viele Autoren auch solche, die nicht unbedingt zu den Schülern McDougals gezählt werden können - halten die von der New Haven School entwickelte Methode für eine der wesentlichsten Errungenschaften dieser Schule454 . John Norton Moore meint, diese Methode würde auf vielfältige Weise bei Problemlösung und rechtswissenschaftlicher Forschung helfen, Kreativität anregen sowie interdisziplinäre Techniken anwenden455 . Er behauptet, die Bücher, die die Methode der New Haven School verwendeten, enthielten "substantially greater insight into the range of problems within their compass than the usual treatises,,456. Der "framework of inquiry" mit seinen vielen verschiedenen Kategorien hat insofern etwas intellektuell Befriedigendes, als er systematisch und durchdacht ist. Diese Methode ist anspruchsvoll, in sich schlüssig und umfassend457 . Sie führt maßgeblich zu den "clear-cut architectonic features", die die Werke der New Haven School auszeichnen und sie unverwechselbar machen458 . Der Untersuchungsrahmen macht die Argumentation von McDougal und seinen Mitarbeitern transparent, gibt ihr eine innere Ordnung und Logik und erleichtert durch den "methodologically explicit style,,459 das Verständnis der Texte der New Haven School. Wer sich in dem komplizierten System ineinandergreifender Kategorien zurechtfindet, für den bietet das "framework of inquiry" eine Aufbauhilfe für jede Art von juristischen Untersuchungen46o . Der Untersuchungsrahmen führt ferner dazu, daß alle möglichen Faktoren des tatsächlichen Gesamtkontexts systematisch bei den juristischen Studien berücksichtigt werden461 . Aus der "Variabilität der UntersuchungsrichRosenthai, Etude de I'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 162. Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 491; McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 337; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 565; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 81 f.; Moore, Law and the Indo-China War, S. 52 ff.; vgl. Lissitzyn, in: Harvard Law Review Bd. 76 (1963), S. 671 f. 455 Moore, Law and the Indo-China War, S. 60. 456 Moore, Law and the Indo-China War, S. 68; positiv auch Falk, AJIL Bd. 61 (1967), S. 491. 457 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45; Rostow, Afterword, in: Toward World Order and Human Dignity, S. 565. 458 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 68; ferner Simma, in: FS Kolb, S. 344. 459 Allott, BYIL Bd. 45 (1971), S. 119. 460 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 68. 453 454

Kapitel V: Kritik der Methode der Schule von New Haven

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tungen und der Vielfliltigkeit der so gewonnenen Querschnitte" folgt die Möglichkeit, denselben Gegenstand immer wieder aus einer neuen Perspektive zu betrachten und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen462 . Daneben hilft der Untersuchungsrahmen bei der Herausarbeitung der im Einzelfall betroffenen Interessen463. Die Methode der New Haven School ist selbst "without any hidden ideological message"464. Das "framework of inquiry" beinhaltet die Nutzbannachung ursprünglich soziologischer Kategorien, die ganz überwiegend von Harold D. Lasswell entwickelt wurden, für die Rechtswissenschaft und stellt damit ein Beispiel für die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaftswissenschaften und Rechtswissenschaft dar465 . Auch innnerhalb der Sozialwissenschaften ist allerdings der Gebrauch derartig komplizierter Kategorien umstritten466 . Ein Nachteil des "framework of inquiry" ist dagegen, daß es insbesondere für Leser, die sich noch nicht tiefergehend mit der Methode der New Haven School befaßt haben, verwirrend ist467 und dadurch zu einem "sacrifice in wide communication" führt 468 . Auch abgesehen von den mit der Terminologie verbundenen Schwierigkeiten ist es nicht leicht erkennbar, wie die verschiedenen Kategorien zusammenhängen und welchen Sinn die Einteilung in gerade diese Kategorien haben soll. Angesichts der großen Zahl sehr verschiedener Kategorien, die zudem auf komplizierte Art und Weise ineinander greifen, stellt sich das "framework of inquiry" für den Uneingeweihten eher als Labyrinth denn als Hilfe dar und entmutigt durch seine Komplexität469 . Das System von in sich bereits komplizierten Kategorien, aus dem das "framework of inquiry" besteht, wird noch komplizierter und unübersichtlicher durch Querverbindungen, wenn beispielsweise mit 461 Falk, The Status of Law in International Society, S. 45; Higgins, The Identity of International Law, in: International Law - Teaching and Practice, Hrsg.: Cheng, S. 39; Moore, Law and the Indo-China War, S. 55 f., Fußn. 8; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, S. 77. 462 Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 82. 463 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 506. 464 McWhinney, AJIL Bd. 87 (1993), S. 337; ähnlich Moore, Law and the IndoChina War, S. 63. 465 Vgl. Falk, The Status of Law in International Society, S. 645; lohnston, CanYBIL Bd.26 (1988), S. 16 f.; Rosenthai, Etude de I'ceuvre de Myres Smith McDougal, S. 17 f.; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 67 f. 466 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 67 f. 467 Baldwin, Yale L. J. Bd. 73 (1964), S. 727; Falk, The Status of Law in International Society, S. 643. 468 Moore, Law and the Indo-China War, S. 68. 469 Simma, in: FS Kolb, S. 344.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Hilfe der Kategorie "base values" die Werteanalyse in die Phasenanalyse einbezogen wird47o . Die Einteilung in Kategorien erschwert ferner einem Leser, der in den Studien der New Haven School konkrete Aussagen zu einem bestimmten Rechtsproblem sucht, das Finden derartiger Aussagen erheblich. Es dürfte wohl auch mit dem "framework of inquiry" und seinen höchst abstrakten Kategorien zusammenhängen, daß die von der New Haven School durchgeführten Studien, obwohl sie viele Informationen und vernünftige Beobachtungen zu den internationalen Beziehungen enthalten471 , oftmals recht allgemein bleiben und manchmal gerade zu kritischen Punkten konkrete Aussagen fehlen 472 • Die gleiche Bedeutung, die allen Kategorien einer Reihe im Rahmen des "framework of inquiry" zukommt, führt dazu, daß unwichtige Gesichtspunkte ein übermäßiges Gewicht gewinnen, wichtige dagegen in der Masse an kaum relevanten Kategorien unterzugehen drohen473 . Für den Leser ist es unbefriedigend, immer wieder darauf verwiesen zu werden, daß zu allen möglichen Fragen noch ausgedehnte Untersuchungen erforderlich sind. Der Apparat ist so übermäßig ehrgeizig, daß praktisch zu jeder einzelnen Kombination von Kategorien äußerst umfangreiche Spezialstudien aller möglichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen erforderlich wären474 , die aber von McDougal und seinen Anhängern nie durchgeführt werden475 • Der Gesamtplan ist zu groß, als daß er je umgesetzt werden könnte, und die von der New Haven School tatsächlich durchgeführten Studien werden ihm dementsprechend nie wirklich gerecht476 • Trotz ihres Umfangs weisen die Studien der New Haven School oftmals die Charakteristika von Skizzen für zusätzliche Forschung aut 77 , d. h., sie werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten478 • Ein weiteres wesentliches Problems des einheitlichen Begriffsapparates und des überwiegend gleichen Aufbaus der Studien der New Haven School 470 Vgl. Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 79. 471 Posner, Harvard Law Review Bd. 77 (1964), S. 1370; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/1965), S. 468 f.; Woetzel, AJIL Bd. 61 (1967), S. 629. 472 Vgl. Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 162 f.; Posner, Harvard Law Review Bd. 77 (1964), S. 1371; Schlochauer, AVR Bd. 12 (1964/ 1965), S. 469. 473 Posner, Harvard Law Review Bd. 77 (1964), S. 1370 f.; Rosenthal, Etude de l'reuvre de Myres Smith McDougal, S. 163. 474 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 466 u. 503; ähnlich Johnston, CanYBIL Bd. 26 (1988), S. 17. 475 Stone, Visions of World Order, S. 29; Dorsey, AJIL Bd. 82 (1988), S. 49. 476 Krakau, Missionsbewußtsein, S. 503. 477 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 69. 478 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein, S. 503.

Kapitel V: Kritik der Methode der Schule von New Haven

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ist, daß sich der Begriffsapparat für unterschiedliche Themen unterschiedlich gut eignet. Die Kategorien des Untersuchungsrahmens leiden an mangelnder Flexibilität: "Much of it is characterized by a rigid formalism that frequently makes it difficult to fit observations of the real world into the framework's categorizations with any comfort.,,479 Die schematische Anordnung eines zu untersuchenden Problems nach dieser Methode läuft Gefahr, durch übermäßigen Formalismus die rechtliche Durchdringung des Problems zu beeinträchtigen480 . Kurioserweise birgt daher die von der New Haven School propagierte Methode teilweise dieselben Gefahren wie die von ihr als zu strikt kritisierte traditionelle Normanwendung: Anstelle der realitätsnahen und flexiblen Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls werden abstrakte und starre Begriffe aufgefüllt481 . Das "framework of inquiry" läuft gerade aufgrund seines Ziels, eine umfassende und auf alle Probleme anwendbare Methode zu bieten, Gefahr, den Inhalt zu überwuchern und ein Eigenleben zu entwickeln; dann entstehen Studien, die zu einem großen Teil nur aus dem Gerüst des Untersuchungsrahmens und aus sich wiederholenden Allgemeinplätzen zur Auffüllung dieses Gerüsts bestehen 482 . Die Kategorienreihe führt angesichts der Notwendigkeit, jede Kategorie in jeder denkbaren Kombination mit allen anderen Kategorien durchzuprüfen, dazu, daß dieselben Aussagen nur leicht verändert immer wiederholt483 und viele Faktoren nicht wirklich im einzelnen geprüft werden484. Das "framework of inquiry" ist aufgrund der Vielzahl zu untersuchender Kategorien wesentlich aufwendiger als der traditionelle Prüfungsaufbau und angesichts der Unbestimmtheit der Kategorien auch schwieriger485 . Die Durchführung des gesamten Untersuchungsprogramms wäre für viele einfachere Fragestellungen unrationell 486 . Schließlich ist für die Bewertung des 479 Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 69; ähnlich Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Srnith McDougal, S. 163. 480 Posner, Harvard Law Review Bd. 77 (1964), S. 1370 f.; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 469. 481 Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Srnith McDougal, S. 163 f. 482 Rosenthai, Etude de l'reuvre de Myres Srnith McDougal, S. 163; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 69; Schlochauer, AVR Bd. 12 (196411965), S. 468. 483 RosenthaI, Etude de l'reuvre de Myres Srnith McDougal, S. 162. 484 Vgl. AUott, BYIL Bd.45 (1971), S. 112; Posner, Harvard Law Review Bd.77 (1964), S. 1373. 485 RosenthaI, Etude de l'reuvre de Myres Srnith McDougal. S. 203; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 81. 486 Moore, Law and the Indo-China War, S. 67 f.; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 81.

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

Untersuchungs rahmens auch zu bedenken, daß die Anwendung des "framework of inquiry" nur einen systematischen äußeren Rahmen für eine Untersuchung bewirkt, aber keine in sich logische, systematische Gedankenführung innerhalb der einzelnen Gedankenpunkte gewährleistet. Die Anwendung des von der New Haven School entwicklten Untersuchungsrahmens und Begriffsapparats stellt keinesfalls eine Garantie für gelungene Studien dar487 , sondern birgt vielmehr die Gefahr eines übergroßen Formalismus, bei dem die vollständige Anwendung rigider Kategorien auf den zu untersuchenden Sachverhalt über inhaltliche Anforderungen siegt. Insgesamt stellt das "framework of inquiry" der New Haven School daher zwar einen interessanten Vorschlag insbesondere für den Aufbau rechtssoziologischer Studien dar, eignet sich aber nur begrenzt als Untersuchungsrahmen für juristische Monographien. Kapitel VI

Thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die New Haven School ist eine eigenständige Schule, die Elemente der Naturrechtslehre mit solchen soziologischer Rechtstheorien verbindet. Sie befaßt sich intensiv mit rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Fragen, zieht dabei aber teilweise keine ausreichend klare Grenze zur Rechtswissenschaft im engeren Sinn. 2. Die Kritik der New Haven School an Normen und dem herkömmlichen Verständnis des Völkerrechts als normativem System übertreibt die durch unbestimmte und mehrdeutige Regelungen aufgeworfenen Probleme und verkennt die Bedeutung von Normen in einem Rechtssystem. 3. Die Schule von New Haven trennt nicht klar zwischen der normativen Ebene des Sollens und der faktischen Ebene des Seins und stiftet dadurch Verwirrung. Ihre Ablehnung der Autonomie des Rechts vermag dogmatisch nicht zu überzeugen. 4. Die vorgeschlagene Definition des Völkerrechts als "process of decision" stellt eine mögliche Sicht des Völkerrechts dar, wirft aber auch Probleme insbesondere im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen lex lara und lex ferenda auf. 5. Das Modell von "claims and counterclaims" beschreibt zwar überzeugend die Realität der internationalen Gemeinschaft. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit internationaler Vorfälle ("incidents") kann es aber nicht 487 So auch Moore, Law and the Indo-China War, S. 60; Schreuer, New Haven Approach und Völkerrecht, in: Autorität und internationale Ordnung, Hrsg.: Schreuer, S. 82; Young, AJIL Bd. 66 (1972), S. 69 f.

Kapitel VI: Thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse

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bloß auf die Reaktion der Staatengemeinschaft im Einzelfall ankommen, sondern die anwendbaren Völkerrechtsnormen müssen der entscheidende Maßstab sein. 6. Bei der Definition des Völkerrechts als "authoritative and controlling decisions" ist insbesondere das kaum durch normative Erwägungen eingeschränkte Abstellen auf die Effektivität problematisch. 7. Die von der New Haven School statt des traditionellen Konzeptes der Bindung an Normen vorgeschlagene generelle "policy-orientation" ist abzulehnen. weil sie zu rein subjektiven Entscheidungen zu führen droht. Ebenso würde eine umfassende "value-orientation" die Rechtssicherheit erheblich gefährden und eine Manipulation des Völkerrechts je nach nationalem Interesse erleichtern. 8. Die von der New Haven School angestrebten Werte, insbesondere der zentrale Wert der "human dignity". leiden ebenso wie der als Rechtmäßigkeitsmaßstab vorgeschlagene Begriff der "reasonableness" an übergroßer Unbestimmtheit. 9. Die Terminologie sowie der vorgeschlagene Untersuchungsrahmen der New Haven School sind zwar eindrucksvoll und möglicherweise für rechtssoziologische Studien hilfreich. aber für juristische Studien scheinen sie zu schematisch und zu kompliziert, ohne daß sie erhebliche Erkenntnisgewinne bringen. Die Studien von Vertretern dieser Schule werden den aufgestellten Ansprüchen an umfassende Berücksichtigung des faktischen Gesamtkontexts und Interdisziplinarität nur begrenzt gerecht. 10. Die Darlegungen der Vertreter der New Haven School zu konkreten völkerrechtlichen Problemfällen unterscheiden sich sowohl im Ergebnis als auch in der Argumentationsweise teilweise erheblich von der klasssischen Methode. Insbesondere erfolgt in der Regel keine systematische Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale der anwendbaren Völkerrechtsnormen, sondern die Normen werden nur als Ausgangspunkt der Prüfung genommen. 11. Die New Haven School tendiert dazu, sich über den Unterschied zwischen einem völkerrechtlichen Grundsatz und einer Ausnahmevorschrift hinwegzusetzen, vor allem indem sie allgemeine Prinzipien wie das Gewaltverbot eng und Ausnahmevorschriften weit auslegt. 12. Positiv ist hervorzuheben. daß die New Haven School die Menschenrechte und die "common interests" der Staatengemeinschaft in das Zentrum ihrer Theorie stellt. Allerdings neigt McDougal dazu. in seinen Stellungnahmen zu konkreten Streitfällen trotzdem eher der Verfolgung nationaler Interessen durch die USA eine ..höhere Weihe" zu verleihen. 21 Voos

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Teil C: Kritik der Schule von New Haven

13. Durch die Betonung der Bedeutung des Einzelfalls. der Weite des Entscheidungsspielraums und der normativen Kraft des Faktischen kommt die Lehre der New Haven School den Interessen einer Supermacht wie den Vereinigten Staaten entgegen. vernachlässigt dabei aber die Interessen der schwächeren Staaten und das Ziel der Rechtssicherheit.

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