Europäische Medienwissenschaft: Zur Programmatik eines Fachs 9783839445570

A basic introduction to forms of institutionalisation, subject areas and methods of a discipline in the making.

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Europäische Medienwissenschaft: Zur Programmatik eines Fachs
 9783839445570

Table of contents :
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Inhalt
Europäische Medienwissenschaft
Grundlagen der Forschungs- und Theoriegeschichte einer »Europäischen Medienkomparatistik«
Überschreitungen und Entgrenzungen durch ›Datafizierung‹
Perspektiven einer Europäischen Medienwissenschaft
Medienkulturanalyse
Europäische Kriegseintritte – kulturelle Antworten auf den Kriegszustand
Die internationale Medien- und Kommunikationswissenschaft zwischen Disziplinen und Praktiken
Was ist Europäische Medienkultur?
Europe Materializing?
Autorinnen und Autoren

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Hedwig Wagner (Hg.) Europäische Medienwissenschaft

Edition Medienwissenschaft | Band 57

In memoriam Sonja Neef

Hedwig Wagner (Prof. Dr.), geb. 1969, ist Professorin für Europäische Medienwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg und Direktoriumsmitglied des Interdisciplinary Centre for European Studies (ICES). Sie war Gastprofessorin an den Universitäten von Wien und Lyon. Seit 2001 lehrt sie Europäische Medienkultur und Europäische Medienwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Europa in den Medien und die europäische Medienkulturgeschichte und -wissenschaft.

Hedwig Wagner (Hg.)

Europäische Medienwissenschaft Zur Programmatik eines Fachs

Dank an Andreas Fickers und Alexander Badenoch für Übersetzungs- und Wiederabdrucksgenehmigung, an Viola Güse ein herzlicher Dank für Lektorat und Layout.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Viola Güse Übersetzung aus dem Englischen: Viola Güse Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4557-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4557-0 https://doi.org/10.14361/9783839445570 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Europäische Medienwissenschaft Zur Programmatik eines Fachs: eine Einführung

Hedwig Wagner | 7 Grundlagen der Forschungs- und Theoriegeschichte einer »Europäischen Medienkomparatistik«

Jonas Nesselhauf | 39 Überschreitungen und Entgrenzungen durch ›Datafizierung‹ ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch

Christian Filk | 61 Perspektiven einer Europäischen Medienwissenschaft

Thomas Weber | 113 Medienkulturanalyse

Matthias Bauer | 127 Europäische Kriegseintritte – kulturelle Antworten auf den Kriegszustand Berlin, Lissabon und Paris in zwei Weltkriegen

Eva Krivanec | 173 Die internationale Medien- und Kommunikationswissenschaft zwischen Disziplinen und Praktiken

Sarah Cordonnier | 195 Was ist Europäische Medienkultur? Oder wie Europa und Atlas Hand in Hand über den nullten Längengrad balancieren, sie Blumen pflückend, er den Globus schulternd

Sonja Neef | 211 Europe Materializing? Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichte der europäischen Infrastrukturen

Alexander Badenoch und Andreas Fickers | 237

Autorinnen und Autoren | 267

Europäische Medienwissenschaft Zur Programmatik eines Fachs: eine Einführung Hedwig Wagner

Der Band Europäische Medienwissenschaft. Zur Programmatik eines Fachs geht grundlegend und im deutschsprachigen Raum erstmalig der Verschränkung von Europa und Medien nach. Der Europabezug stellt sich auf drei Ebenen: der institutionellen, der wissens(politischen) und der inhaltlichen. Der institutionelle Europabezug fragt nach europäischen Medienorganisationen, nach medienspezifischen EU-Institutionen, erfasst somit formalisierte Relationen von Sendeanstalten, Regulierungsbehörden und dergleichen mehr. Europa als Werden in seiner Infrastruktur und durch seine technologischen Standardisierungen zu erfassen, auch dies steht im Zentrum der Medienwissenschaft. Es stellen sich in wissenspolitischer Hinsicht Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten von analog zu digital, gerade auch in ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung in verschiedenen europäischen Ländern. Europa ist aktuell im Vollzug zu beobachten, Veränderungen durch mediale Verräumlichung und Verzeitlichung, durch Raum- und Zeitdimensionen in und durch Medien gehen vonstatten. Europäische Medienwissenschaft fragt danach, wo und wie Europäisierung und Medien Konvergenzen eingehen. Hierbei kann die disziplinäre Konfiguration von jenen, den Medien gewidmeten Wissenschaften in den einzelnen europäischen Ländern ebenso zur Sprache kommen wie die Frage nach dem Zuschnitt interdisziplinärer Forschung zwischen den European Studies/den Europastudien, der Medienwissenschaft und gesellschaftspolitischer Wissensfelder. Inhaltlich ist die Intersektion von Medien und Europa in vielerlei Hinsicht zu befragen: auf einer Ebene sicherlich nach erstens den Repräsentationen von Europa in den Medien, auf einer anderen Ebene zweitens nach Medien für Europa und drittens nach Medien(gebrauch) in Europa. Das Wissensgebiet von Europa und Medien kann über Akteure, Thematiken und Wissensgebiete erschlossen werden.

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PERSPEKTIVEN DER EUROPÄISCHEN MEDIENWISSENSCHAFT Fragen nach Institutionalisierungsform, Gegenstandsbereich, Inhalt und Zuschnitt stellen sich, wenn die Verbindung von Europa und Medienwissenschaft geknüpft wird. Um Perspektiven der Europäischen Medienwissenschaft auszuloten, stellen sich Fragen in den Bereichen des Curricularen, den Praktiken der Lehre von Medienwissenschaft in Europa, von europäischer Medienwissenschaft und dergleichen mehr, in inhaltlicher Hinsicht und forschungsbezogen, wenn sich mit den Dimensionen von Europa und Medien auseinandergesetzt wird. Das Denken der Europäischen Medienwissenschaft kann an den jeweiligen nationalen akademischen Disziplinen ansetzen und Fragen stellen nach der europäischen Dimension a) b) c) d)

e) f)

g) h) i)

der Soziogenese der Disziplin (zu erfassen über Institutsgründungen, Lehrstuhlbesetzungen, Studiengänge) der intellektuellen Biographien ihrer Träger, ihrer europäischen interkulturellen Erfahrungen der Disziplinen, aus denen heraus sie sich entwickelt haben (Wissensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte) der Wissenschaftsorganisationen (Universitäts- und Forschungsorganisation, bestimmt durch Gesetze, ministerielle Zuständigkeiten, finanzielle Forschungsförderung) der intellektuellen Strömungen (des Landes/Europas) der Sprachen, des Sprachtransfers (durch Übersetzungen, Phänomen der zeitversetzten Rezeption, der Wellen) und Sprachbarrieren (voneinander unabhängige Parallelitäten, Gegenläufigkeiten, nationale ›Sonderwege‹) der medientechnischen Entwicklung der Kooperationen von Wissenschaft der Kooperationen von Medien-Akteuren (im kulturellen, im medienwirtschaftlichen, im medientechnischen Bereich)

In den sieben erstgenannten Zugängen nimmt der Untersuchungsgegenstand seinen Ausgangspunkt in der nationalen Rahmung und fragt nach seiner Überschreitung hin zur bi- oder tri-/multinationalen Dimension. Dies ist eine Dimension des Europäischen. Europäisch heißt in diesem Falle auf dem Weg nach Europa, der anfängt bei einer Grenzüberschreitung. Ein gänzlich anderer Untersuchungsgegenstand ergäbe sich, wenn man von der Ebene des verwirklichten/ schon gegebenen Europäischen ausginge. Die Rede vom Europäischen wäre

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dann gerechtfertigt, wenn es von einer europäischen Institution ausginge, damit direkt oder indirekt auf die EU bezogen wäre, aber: Europa ist und sollte kein Synonym für ›Europäische Union‹ sein, diese Verkürzung schnitte sie von der europäischen Kultur- und Mediengeschichte ab, erfasste schlechtestenfalls nur politisch gesetzte Zielperspektiven und Förderprogramme, bestenfalls eine komparative Bestandsaufnahme nach einem einheitlichen (eben europäischen) Kriterienkatalog. Europäisch kann kein Oberbegriff dafür sein, dass es auf alle Mitgliedsstaaten oder den ganzen Kontinent oder Kulturkreis in toto zuträfe. Europa ist, wie Elmar Holenstein es so zutreffend fasste, 1 ein Rückzugs- und Überlappungsgebiet sowie eine relativ homogene Überlappung verschiedener möglicher Europa-Kriterien wie z.B. dem geografischen, dem politischen, dem lange christlich geprägten, später säkularisierten Europa, dem ethnischen Europa, um nur die wichtigsten zu nennen.2 Damit sind zwei Dinge ausgeschlossen, will man Europa nicht formal-kategorisch, sondern nach der Gegebenheit untersuchen: die Forderung nach numerischer Totalität und die nach absoluter Gegebenheit. Oder eben einfacher gesagt: nicht alle Kriterien sind auf alle Teile Europas zutreffend, aber die Wahrscheinlichkeit der gleichzeitigen Gegebenheit mehrerer Kriterien sehr hoch. Dies meint Europa als relativ homogene Überlappung. In den ersten vier Zugängen (Soziogenese, Interkulturalität von Wissenschaftler_innen, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsorganisation) sind institutionelle Prägungen in einem universitären und außeruniversitären Forschungsgefüge gefasst, deren Auswirkungen auf die inhaltlichen Positionen nicht unterschätzt werden sollten und in einem darauf zugeschnittenen Forschungsdesign untersucht werden sollten. Sie haben Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Medienwissenschaft. Als Untersuchungsdesign daraus ergibt sich das jeweilige

1

»Es [Europa, Anm. d. Verf.] ist ein Rückzugsgebiet, das sich mit dieser Reduktion abgefunden hat. Sie ist ihm eine Selbstverständlichkeit geworden. Zweierlei darf man mit dieser ereignisgeschichtlichen Skizze nicht verbinden, (1) dass man damit Europa seiner kulturellen Herkunft nach hinreichend bestimmt hat und (2) dass man damit etwas in den Griff bekommen hat, das Europa unter seiner schillernden Oberflächenstruktur doch eine einheitliche Tiefenstruktur verleiht, auf die man bauen kann.« Holenstein, Elmar (1998): »Europa – ein kulturell konstituierter Kontinent? Europäische Identität und Universalität auf dem Prüfstand«, in: Elmar Holenstein (Hg.), Kulturphilosophische Perspektiven. Schulbeispiel Schweiz, Europäische Identität auf dem Prüfstand, Globale Verständigungsmöglichkeiten, Frankfurt a.M., S.182.

2

Vgl. Kreis, Georg (2004): Europa und seine Grenzen. Mit sechs weiteren Essays zu Europa, Bern/Stuttgart/Wien.

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Selbstverständnis der Medienwissenschaft. Dies ist über programmatische Texte, Einführungsbücher, nationale Disziplindefinitionen zu erfassen, fängt bei der Definition, was denn ein Medium sei (computerlinguistische Definitionsebenen jener Texte) an, wird fortgeführt über die Methoden der Medienwissenschaft (Lehrbücher, Curricula, etc.), ihrer Fragestellungen, ihrer Forschungsausrichtung (geförderte Forschungsprojekte), ihre Kanoniker. Die Studien zu den Wissenschaftsdisziplinen ›Medienwissenschaft‹ in Deutschland und ›Sciences de l’information et de la communication‹ in Frankreich von Cordonnier und Wagner3 knüpfen an den intellektuellen Biographien ihrer Träger an und fokussieren auf ihre europäischen interkulturellen Erfahrungen. Die Experteninterviews mit deutschen und französischen Professor_innen wurden u.a. unter den Schwerpunkten a) Lebensalter beim interkulturellen Wissenschafts-Engagement, b) Rolle interkultureller akademischer Institutionen, c) strategische Umsetzung zukünftiger wissenschaftlicher Arbeit analysiert. Die Ergebnisse zeigten, dass die akademische Interkulturalität verankert ist: a) in disziplinären Kontexten, die national und institutionell sind; b) in der akademischen Internationalisierung; c) in etablierten Formen und Formaten (im Sinne von Dispositiven) und d) in nicht institutionalisierten Begegnungen.

3

Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2018): »L’interculturalité académique entre cadrages et interstices.« in: Gilles Rouet/Michaël Oustinoff (Hg.), France-Allemagne. Incommunications et convergences; Les Essentiel d’Hermès, Paris: CNRS Éditions, S.169-182. Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2017): »Déployer l’interculturalité: les étudiants, un vecteur pour la réflexion académique sur l’interculturel. Le cas des sciences consacrées à la communication en France et en Allemagne.« in: Gundula Gwenn Hiller et al. (Hg.): Interkulturelle Kompetenz in deutsch-französischen Studiengängen. Les com-pétences interculturelles dans les cursus franco-allemands, Wiesbaden: Springer VS, S.221-234. Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2013): »La discipline au prisme des activités internationales dans les trajectoires de chercheurs en France et en Allemagne (encadré)«, in: Jean-Michel Besnier/Jacques Perriault (Hg.)/Bernard Valade/Dominique Wolton (wiss. Beirat), Discipline, interdisciplinarité, indiscipline. Paris: CNRS Éditions, S.137-140 [Hermès, Bd.67]. Vortrag von Sarah Cordonnier und Hedwig Wagner: Academic Interculturality in Communication Studies im Rahmen der internationalen Tagung ECREA (European Communication Research and Education Association) 5th European Communication Conference | Lisboa, 12-15 November 2014.

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EUROPÄISCHE WISSENSCHAFTSAKTEURE Als Europäische Wissenschaftsakteure können die Fachgesellschaften angesehen werden: die NECS, European Network for cinema and media studies, für die Film- und Medienwissenschaft und die ECREA, European Communication Research and Education Association, für die Kommunikationswissenschaft. Dem Grundverständnis der NECS nach ist »Our aim […] the integration and prosperity of Europe and its cinema(s) without limiting the scope of our activities to European cinema and media. We will not exclude anybody on national or institutional grounds, but we are open to anybody with an active interest in the study of the European cinema, both theoretical and historical. We especially wish to include spaces still marginal to the cultural, economic and political exchange in Europe, like Turkey and Russia, but also states from the former Eastern block who have not yet become members of the European Union. Furthermore, we want to put special emphasis on the growing multicultural and multiethnic composition of European states as well as on the strategic proximity of the nations around the Mediterranean. For several reasons, we consider it important to adhere to the form of the ›learned society‹: we want to keep up a level of scholarship, act as referees for research projects and function as an international lobby group to give our discipline greater visibility and influence.«4

Die ECREA, European Communication Research and Education Association, setzt sich das Ziel5: • »build a community of communication scholars by providing spaces for ex-



• • • •

change of ideas, theoretical insights, research findings, research methodologies and educational practices; ensure that such a scholarly community is built on principles of equality and inclusiveness, regardless of age, gender, race, ethnicity, religion or sexual orientation of its members; provide support for underprivileged groups of scholars; promote collaborative research, pedagogic or publishing projects; support development of communication research or education in areas or regions where the field is underdeveloped; promote the interests of communication scholars.«

4

http://necs.org/about-necs/history vom 01.12.2016.

5

Vgl. https://ecrea.eu/Objectives vom 07.10.19.

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Anders als andere geistes-, d.h. kultur- wie sozialwissenschaftliche akademische Disziplinen kann die deutsche Medienwissenschaft nicht auf eine Aufarbeitung der Fachwissenschaft zurückblicken. Diese ist bisher – wenn überhaupt – eher unsystematisch, kursorisch und als ungeschriebenes Gedächtnis der scientific community vorhanden. Die hier vorgelegte Bestandsaufnahme muss zunächst die Frage aufwerfen, was könnte Europäische Medienwissenschaft sein bzw. gibt es schon eine Europäische Medienwissenschaft. Die Europäische Medienwissenschaft stellt eine disziplinäre Intersektion dar zwischen den Europastudien, der deutschsprachigen Medienkulturwissenschaft und den Kultur- und Geschichtswissenschaften. Der Blick ist damit in die Zukunft gerichtet und nicht der Vergangenheit zugewandt. Mit Sicherheit wurde diese Frage der Fachgeschichte, wie sie zum Beispiel die mit der Medienwissenschaft verwandte Wissenschaftsdisziplin der Kommunikationswissenschaft, einer empirisch arbeitenden, sozialwissenschaftlichen Disziplin gestellt hat, auch deshalb nicht gestellt, weil im Vergleich zu anderen europäischen Ländern die nationalen Unterschiede sehr groß und die transnationalen Bezüge gering sind. Die (deutschsprachige) Medienwissenschaft ist an deutschen Universitäten in unterschiedlichen institutionellen und fachgeschichtlichen Affiliationen anzutreffen: sie kann z.B. an die Informatik angegliedert sein, oder an die Germanistik, aus der heraus sie entstanden ist, oft im Verbund mit der Vorläuferdisziplin der Medienwissenschaft, der Filmwissenschaft, aus der heraus sich ein Teil der Medienwissenschaft entwickelt hat, eine andere Strömung ist aus der Germanistik direkt entwickelt worden. Sie ist in den Philologien als spezielles Wissensgebiet anzutreffen, kann sich an die Gesellschaftswissenschaften Geschichtswissenschaft, Soziologie und Pädagogik anlehnen oder ist der Kunst angeschlossen. Die Medienwissenschaft ist zumeist eine die Filmwissenschaft mit umschließende Wissenschaftsdisziplin, sie ist stark historisch ausgerichtet und an der Kulturgeschichte und Kulturwis-

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senschaft orientiert, sie bedient sich des spekulativen Denkens, arbeitet mit hermeneutischen Methoden, fertigt eine ästhetische Analyse an. Sie kann sich um Einzelmedien und ihre Ontologien wissenschaftlich gruppieren, hält aber eine, alle Einzelmedienontologien übergreifende, allgemeine Medientheorie bereit. Dem Selbstverständnis der deutschen Fachgesellschaft, der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) nach sind die Kernbereiche der Medienwissenschaft: »Medienwissenschaft beschäftigt sich mit der Theorie, Geschichte und Ästhetik von Medien und Mediensystemen insbesondere unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Funktionen, ihrer technischen Bedingtheit und ihrer kulturellen Integration, Akzeptanz und Effekte. Medien werden dabei als technisch, funktional, kulturell oder ästhetisch ausdifferenzierte Einheiten von Mediensystemen aufgefasst, die über ihre Ästhetik, ihre Form, ihre kommunikative und epistemologische Funktion und ihre technische Organisation beschrieben werden können. Die Medienwissenschaft orientiert sich an der alltagsweltlichen und kulturspezifischen Gebundenheit medialer Produktionen und klärt damit über die Wechselwirkungen von ästhetischen, normativen und sozialen Dynamiken in Gesellschaften auf. Diese Wechselbeziehung markiert den epistemologischen Ort und das Erkenntnisinteresse der allgemeinen Medienwissenschaft, in die die verschiedenen Bereiche der Medienwissenschaft integrativ einbezogen werden. […] Die Gegenstandsbereiche der Medienwissenschaft orientieren sich an der historischen Entwicklung der Medien und an der daran anschließenden Transformation der gesellschaftlichen Erfahrung. Im 19. Jh. entstanden neue technische Medien: Fotografie, Phonograph (Grammophon), Film, drahtlose Telegraphie, später dann der Hörfunk und das Fernsehen. Sie wurden im kollektiven Wissen unter dem Sammelbegriff: die Medien zusammenfasst. Dieser Begriff wurde ein weiteres Mal durch den Computer und die digitale Netzkommunikation – Internet – ausgeweitet. Somit kann und muss die Medienwissenschaft das Pluraletantum: die Medien und den Vernetzungsbegriff: Mediensystem bzw. Mediensysteme als kollektives Wissen in der Gesellschaft voraussetzen und auf diesem Wissen aufbauen.«6

Diese Konfiguration ist nicht nur in anderen Ländern nicht vorhanden, sie ist diesen Wissenschaftskonfigurationen auch nicht ähnlich. Allenfalls können Teilbereiche identifiziert werden, die sich im Sinne der Wissenschaftsgenese in einzelnen europäischen Wissenschaftsdisziplinen (verschieden) entwickelt haben, so kann beispielsweise der Diskurs der Kybernetik nachverfolgt werden. Der hier vorgelegte Ansatz richtet sich nicht auf eine zu konstruierende europäische

6

Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM): »Kernbereiche der Medienwissenschaft«, herausgegeben von der Strategiekommission der GfM. https://gfmedienwis senschaft.de/positionen vom 05.12.2019.

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Fachgeschichte aus, sondern auf Zukunftsgeschichten. Ein Blick auf das Fach zeigt, dass es nationale Unterschiede gibt und in sich heterogen ist, aber dennoch als eine Einheit wahrgenommen wird und damit auch identifizierbar ist und national mithin als legitimierende Einheit forschungs- und fachrelevant wird. Dieser Ansatz der Europäischen Medienwissenschaft will ausloten, was Potentialitäten transnationaler Bezüge oder komparatistischer Fragestellungen sind und dies mit dem Fokus auf eine sehr spezielle Mesoebene – die des Europäischen. Weder sind auf europäischer Ebene die Theoriekanons richtig identifiziert, noch viel weniger – und hier stellt sich sicherlich die größte Herausforderung – die der Methoden. Europaweite Forschungsverbünde zu medienwissenschaftlichen Fragestellungen gab es, in denen zweifelsohne im Laufe der Projektarbeiten zumindest ein implizites bzw. ein explizit gewordenes Wissen geschaffen wurde, das sich aber nicht in Veröffentlichungen sui generis, d.h. mit Fokus auf nationale Unterschiede im Fach, niedergeschlagen hat. Dass, im Gegensatz zur deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, die deutschsprachige Medienwissenschaft schon in der Lage ist, »(implizit) Unterschiede und Gemeinsamkeiten an Kriterien festzumachen, die aus der eigenen Entwicklung abgeleitet sind«7, ist zu bezweifeln.

ZUM NEXUS VON MEDIEN UND EUROPA Die Intersektion von Medien und Europa stellt sich in vier grundsätzlichen möglichen Bezugnahmen dar: 1.) Europa in den Medien; 2.) Medien für Europa; 3.) Medien(gebrauch) in Europa; 4.) der hier vorliegende Ansatz verfolgt mit der Europäischen Medienkulturwissenschaft: Herstellung von Europa durch Medien. Wollte man ganz grundsätzlich anheben, so müsste man (in Abwandlung der Schillerʼschen Antrittsvorlesung von 1789) fragen: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europäische Medienwissenschaft? Wer das Wissensgebiet der Europäischen Medien vertritt, wird immer wieder angefragt, seine Expertise auf dem Gebiet der Medien für Europa und der Medien in Europa – Europas Medien – zur Verfügung zu stellen. Auskunft wird erbeten zu den unterschiedlichsten mechanischen, elektrischen und elektronischen Vermittlungsapparaten, zu analogen und digitalen Medienformaten und ihrer Nutzung und Verbreitung in den

7

Averbeck-Lietz, Stefanie (2017): »Kommunikationswissenschaft vergleichend und transnational. Eine Einführung.«, in: Stefanie Averbeck-Lietz (Hg.), Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich. Transnationale Perspektiven, Wiesbaden: Springer, S.1-29, hier S.4f.

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einzelnen europäischen Ländern. Und vor allem erwartet man Aufschluss über die Darstellung von Europa in den Medien. Neben diesen drei unbestreitbar zentralen Bestandteilen des Wissensgebietes ›Europa↔Medien‹ ist der spezielle Ansatzpunkt der Europäischen Medien(kultur)wissenschaft die Herstellung von Europa durch Medien. Europa wurde durch Medien hervorgebracht und wird es immer wieder neu. Medien für Europa Ein Aspekt der Europäischen Medienwissenschaft befasst sich mit der Thematik: Medien für Europa. Dies umfasst Initiativen der EU für Medienverbünde, die Medienaktivitäten der EU, Fragen der europaweiten Medien, der europäischen Reichweite, der Integration der europäischen Werte in rechtliche Rahmenbedingungen und in die journalistische Ethik. Dieser Bereich der Medien für Europa ist die Frage nach europäischen Medien, im Sinne von Medienanstalten, die unter Beteiligung mehrerer europäischer Medienanstalten oder Produzenten, europaweit oder nahezu europaweit in einer oder zwei internationalen Sprachen ausstrahlen (z.B. französisch und englisch) und über mehrere europäische Länder berichten. Euronews ist das weitestgehende Modell der Integration der genannten Faktoren, Arte das gemeinhin bekannteste. Politische Forderungen nach europäischen Sendeanstalten sind schon mehrfach diskutiert (und von der EU verworfen) worden. Blickt man in die Geschichte, nimmt dies Wunder. Die internationale Rundfunk- und Fernsehausstrahlung ist in den vergangenen Jahrzehnten weit verbreitet worden, es gibt sie seit der Gründung der EBU 1950, der European Broadcast Union, die ein Medienereignis europaweit ausstrahlen konnte. Weitaus wichtiger jedoch für einen europäischen kulturellen Raum ist die Tatsache, dass über die Satellitentechnologie innerhalb Europas Radio- und Fernsehprogramme ausgetauscht werden konnten. Eine heute neu zu schaffende europäische Medienanstalt sollte sich aber nicht auf die klassischen Bereiche Fernsehen und Radio beschränken. Wie Johannes Hillje unlängst in einem Interview, veröffentlicht auf der Plattform der IPG8, votierte, brauchen wir für eine europäische

8

Vgl. Hillje, Johannes (2019): »›Wir brauchen ein House of Cards aus Brüssel‹. Die Europäer reden übereinander statt miteinander. Ein gemeinsames digitales soziales Netzwerk kann das ändern.« https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/wir-brauchen-ein-house-of-cards-aus-bruessel-3291/ vom 01.04.2019. Vgl. ebenfalls Hillje, Johannes (2019): Plattform Europa. Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können. Berlin: Dietz.

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Öffentlichkeit einen europäischen Kommunikationsraum, in dem die nationale Prägung der Nachrichtenmedien wie der sozialen Medien durch ein europäisches digitales soziales Netzwerk, mehrsprachig und mehrstimmig, in eine europäische Prägung überführt werden kann. Medien über Europa: Zur transmedialen/transnationalen Berichterstattung über die EU/Europa Ein anderer großer Bereich ist der Thematik Medien über Europa zuzurechnen und behandelt die Berichterstattung über die EU oder über Europa in einzelnen Ländern. Dazu gibt es unzählige Studien, insbesondere bei politischen europäischen Themen, etwa die europäische Ratspräsidentschaft eines europäischen Mitgliedslandes, in Krisenzeiten oder zu Krisenthemen, etwa die Frage der Flüchtlings›krise‹, Maidan in der Ukraine, der Brexit UK-Berichterstattung versus der eines europäischen Mitgliedslandes. Zahlreich sind die Studien, die die Berichterstattung über die EU in nationaler und transnational-vergleichender Perspektive anlegen, insbesondere in (Europa-)Wahlkampfzeiten oder in Zeiten von politischen Krisenereignissen. Viele Artikel sind Fallstudien, die die Berichterstattung über die EU oder die Europäisierung von Regionen in der EU in spezifischen Einzelmedien behandeln. 9 Aus soziologischer und/oder politikwissenschaftlicher wie auch aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht sind die Beiträge, die sich mit Medien und politischer Kommunikation in Europa befassen unzählbar, von der Auswertung von Facebook-Postings einzelner politischer Parteien hin zu zeitlichen Perioden wie die der EU-Ratspräsidentschaft (Polens)10. Medien in Europa (über Europa): Aktuelle europäische Grenzüberschreitung/Transnationaler Mediengebrauch Es gibt nicht die eine transnationale Berichterstattung über Europa oder die EU in Europa, sondern eine erste schwache, über Einzelereignisse sich vollziehende Verschränkung von Europa und Medien. So werden beispielsweise über nationale Grenzen hinausgehende, genauer: hinausstrahlende Sendeanstalten unter-

9

Vgl. u.a. Stepińska, Agnieszka (2014): Media and Communication in Europe. Berlin: Logos, Part I: European Public Sphere.

10 Vgl. u.a. Stepińska, Agnieszka (2014): Media and Communication in Europe. Berlin: Logos, Part II: Media and Political Communication in Europe (vier Artikel) und Part III: Media on the Polish EU Council Presidency, (sechs Artikel).

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sucht.11 Die Frage, die dabei aufgeworfen wird, ist, ob diese ein Mittel für eine europäische öffentliche Kulturpolitik sind. Als Institutionen sind sie in rechtlicher, finanzieller und organisatorischer Hinsicht national, sind Kultur-, Sprachund politische Wertevermittler (vielleicht auch eher: -emissäre) ihres Landes. Als europäisch werden sie nur insofern aufgefasst, als sie europäische Werte und die Werte für journalistisches Arbeiten europaweit teilen: »basic values of European public service broadcasters such as impartiality, catering for minorities, as well as for all tastes and interests.« 12 Inwieweit ist ein Überstrahlen der nationalen und internationalen Sendanstalten geeignet, europäisch zu sein, oder eine europäische Integration zu bewirken? Schwachstelle dieses Medien-Europa-Ansatzes ist ein unreflektierter Umgang mit den einzelnen nationalen Sendeanstalten in Europa. Auch dann, wenn sie über die Grenzen hinausstrahlen, werden sie nicht automatisch zu europäischen, wenn sie als nationale Sendeanstalten die Grundwerte teilen, die vielen europäischen gemein sind. Internationale Sendeanstalten treten nicht als Vermittler von, sondern als Institutionen der europäischen Öffentlichkeitskonstitution auf. Internationale Ausstrahlungen sind essentieller Bestandteil der Öffentlichkeitspolitik.13 Die Studien, die den transnationalen Mediengebrauch in Europa untersuchen, sind überwiegend case studies oder Berichte über Einzelvorkommnisse14 in einzelnen Ländern Europas. Sie leisten keine Reflexion auf Europa insgesamt, allenfalls halten diese Einzelstudien Anmerkungen zum sozialen Mediengebrauch transnationaler NGOs bereit. Ein weiterer Bereich der Medien in Europa für Europa stellen die Medien für die Diaspora dar, die den Zusammenhang von Minorität und Mehrheitsgesellschaft medial vermitteln und die Frage der Inklusion und Exklusion stellen. Sie bergen als Medien für die Diaspora das Potenzial einer europäischen Dimension. Medien für spezifische Gruppen, so auch Minderheiten, ermöglichen ein Verständnis der europäischen Medienkultur und darüber hinaus der europäischen Gesellschaft insgesamt. Medienkonstellationen müssen auch hier medienpolitisch reflektiert werden, um über Kultur und Medienkultur zu einem Verständnis einer toleranteren und inklusiveren gesamteuro-

11 Vgl. Ociepka, Beata (2014): »International Broadcasting: A Tool of European Public Diplomacy?«, in: Agnieszka Stepińska (Hg.): Media and Communication in Europe, Berlin: Logos, S.77-89. 12 Ebd.: S.87. 13 Vgl. P. Taylor (2011): S.27, zit. n. Ociepka (2014): S.77. 14 Z.B. Silverstone, Roger (Hg.) (2005): Media, Technology and Everyday Life in Europe. From Information to Communication, Aldershot/Burlington: Ashgate.

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päischen Gesellschaft zu kommen.15 Medien sind zentrale Brücken für das Verhältnis des Eigenen zum Fremden, werfen Fragen der Identität und Kultur in der Informationsgesellschaft und somit auch der multikulturellen europäischen Gesellschaft auf. Europa zeichnet sich dadurch aus, dass das Eigene sich mit dem Fremden überlappt: »Indeed it is the overlaying of the one on the other in Europe which provides for some of the most profound social and political challenges«.16 Umfangreich sind die Bücher und Artikel, die das Nationale (respektive die nationale Medienkultur) zur globalen Kommunikation in Beziehung setzen. Doch das In-Beziehung-Setzen von supranationaler Medienkultur, der von Europa etwa, und globaler Kommunikation ist ein Forschungsdesiderat geblieben. Es gibt zwar viele Studien zu Europas Mediengebrauch und zu transnationalen Medienproduktionen, aber zu einem kulturell bestimmten europäischen Medienverständnis gibt es nichts. »[D]ie ›netzwerk-politische Rolle‹ von Kultur [...] erfordert von den Gesellschaften, die sich als europäisch verstehen, nichts weniger, als Europa neu zu erfinden.«17 Auch Faßler, der die Herausforderung einer Neuerfindung Europas erkannt hat, bietet keine medienkulturelle Neukonzeption Europas an.

MEDIENGESCHICHTE IN EUROPA – EUROPÄISCHE MEDIENGESCHICHTE? Der Geschichte Europas in medialer Darstellung wandten sich viele Geschichtswissenschaftler_innen zu, die mit dem Fokus der Mediengeschichte durchaus dem Medialen sein Eigenrecht in der Darstellung (im Doppelsinne der Repräsentation, aber auch der konstruktiven Herstellung) Europas zubilligten und einen Beitrag leisteten zum Fach Europäische Mediengeschichte. Mit dem Fokus des Medienereignisses18, eines Konzepts, das von Dayan und Katz (siehe S.258, FN 61) entwickelt worden war, wurden transnationale Medienereignisse im europäischen Raum untersucht und theoretisiert. Unter Bezugnahme auf Ereignisse, die europäisch (massenmedial mit-)geteilt werden und die ein kollektives Gedächt-

15 Vgl. ebd.: S.10. 16 Ebd.: S.16. 17 Faßler (1996): S.167. 18 Vgl. Lenger, Friedrich/Nünning, Ansgar (Hg.) (2008): Medienereignisse der Moderne. Darmstadt. sowie das Gießener Graduiertenkolleg »Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart«. Vgl. http://www.unigiessen.de/cms/dfgk/ tme/forschungsprogramm vom 29.05.2009.

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nis ausbilden, werden Konstitutionen europäischer kultureller Öffentlichkeit durch gemeinsame Deutungen hervorgehoben. Dass sich in diesen Ereignissen Soziales, Kulturelles, und Politisches mittels eines technischen Dispositivs vermittelt, ist Grundannahme für eine europäisch anzunehmende Medienrezeption (die sich national in unterschiedlicher Prägung darstellen kann). Dennoch leisten sie eines für eine europäische Medien(geschichte): »Verdichtung gesellschaftlicher (transnationaler) Kommunikation; Rückwirkung des Medienereignisses auf die Entwicklung der Medien und eine große Bandbreite vieler verschiedener Medien der Erinnerung.« 19 Wie sehr die Aufzeichnungs- und Verbreitungsmedien nicht nur an der Mediengeschichte sondern an der Geschichte sui generis mitschreiben, bzw. diese schreiben, wird augenfällig. Dennoch bleibt in dieser starken Bezugnahme von Ereignissen und ihrer Vermittlung die Primärfunktion und -relevanz von geschichtlichen Ereignissen im Feld der Geschichte (und nicht der Medien), ohne die europakonstitutive Potenz von Medien hervortreten zu lassen. Europäische Medienereignisse fokussieren sich speziell auf die Speicherung dieser Ereignisse im europäischen Gedächtnis.20 Europäische Geschichtsschreibung mit dem Fachgebiet Medien wird neben Bösch und Lenger auch von Daniel und Schildt geleistet. 21 In der Diskussion um die Historisierung der europäischen Integration, so Daniel und Schildt, »werden als materielle Basis der Verähnlichung europäischer Gesellschaften nicht zuletzt gleichgerichtete Trends der Massenkommunikation ausgemacht.«22 Mitnichten jedoch bedeutet dies eine Vereinheitlichung, denn »Vorstellungen einer zunehmenden politisch-kulturellen Vereinheitlichung durch Massenmedien im europäischen Rahmen«23 erweisen sich als Illusion. Genau genommen kommen die beiden Geschichtswissenschaftler auf einen dialektischen Prozess, der in struktureller Hinsicht eine Versachlichung konstatiert, daraus aber Abgrenzungsbemühungen resultieren sieht. Dennoch kann festgehalten werden, dass Medialisie-

19 Vogel, Meike (2009): Rezension zu: Friedrich Lenger/Ansgar Nünning (Hg.) (2008): Medienereignisse der Moderne, Darmstadt. in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/publicat ionreview/id/reb-11288 vom 05.12.2019. 20 Vgl. Bösch, Frank (2010): Europäische Medienereignisse, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz. http://www .ieg-ego.eu/boeschf-2010-de vom 05.12.2019. 21 Daniel, Ute/Schildt, Axel (2010): »Einleitung«, in: Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.), Massenmedien im Europa des 20.Jahrhunderts, Köln et al.: Böhlau, S.9-32. 22 Daniel/Schildt (2010): S.7. 23 Ebd.: S.7.

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rung ein »markanter Grundzug der europäischen Moderne und ein Kern von deren Dynamik im 20. Jahrhundert«24 ist. Konkret bedeutet dies zu untersuchen, wie die Massenmedien des 20. und 21. Jahrhunderts europäische bzw. internationale Homogenisierung aber auch Differenzierung bewirkten, was für Europa konstitutiv war und ist. Und ähnlich wie es für Mediengeschichte der Fall ist, so müsste auch für die Europäische Medienwissenschaft die Fachgeschichte und mithin auch die Epistemologie der Medienwissenschaft so konstituiert werden, dass die der Europäischen Medienwissenschaft (ebenso wie den Massenmedien) inhärenten internationalen Verflechtungen tragend sind. Somit geht es auch in der Europäischen Medienwissenschaft darum, zu zeigen, »wie medial vermittelte Bezugnahmen, gezielte Medienpolitik, Akteure des Medienbetriebs – wie etwa die Auslandskorrespondenten – oder die technische Infrastruktur dazu beitragen, dass Fragmentarisierungen und Homogenisierungen, Vernetzungen und Grenzziehungen, Angleichungen und Abgrenzungen innerhalb der Nationalstaaten und zwischen ihnen dynamisiert werden.«25

Europäische Mediengeschichtsschreibung operiert – wie durch die vorherigen Erläuterungen ersichtlich wurde – in den drei grundsätzlichen Modi: ›europäisch übergreifend‹, ›ländervergleichend‹ oder als ›exemplarische Fallstudien‹. Ähnlich wie die europäische Mediengeschichte mit einer Addition nationaler Darstellungen angefangen hat, so auch die der Europäischen Medienwissenschaft. Und analog zur europäischen Mediengeschichtsschreibung, die als zweite Entwicklungsstufe die ländervergleichende Ebene durchlief, so ist es auch für die Europäische Medienwissenschaft zu erwarten. Eine entangled history oder eine europäische übergreifende Mediengeschichte sei, so Daniel und Schildt, erst im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts anzutreffen und beschränkte sich auf die audiovisuellen elektronischen Massenmedien.26 Dies jedoch, so ist kritisch anzumerken, untersucht mit den digitalen Medien, den internetbasierten sozialen Medien insbesondere, Phänomene, die einer sprachlichen Barriere unterliegen und sich somit leicht re-nationalisieren. Zudem re-regionalisieren sie sich mit der zunehmenden Verschränkung von virtueller und realer Realität zur augmentierten – georeferenzierten – Realität. Dennoch ist die Feststellung der Tendenz, dass erst mit letztgenannten Untersuchungsgegenständen sich die europäische Medienwissenschaft europäisch übergreifend formiert, richtig. Denn Massen-

24 Ebd.: S.11. 25 Ebd.: S.13. 26 Ebd.: S.10.

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medien sind internationale Bezüge wie transnationale Expansion inhärent, doch vielmehr sind sie von der Paradoxie gekennzeichnet auch zu re-territorialisieren und zu re-nationalisieren. Die Herausbildung einer Europäischen Medienwissenschaft ist nicht zuletzt abhängig von einer Europäisierung der Medien, am offenkundigsten, aber in diesem Zusammenhang am wenigsten interessant, europäisieren sie sich in wirtschaftlicher Hinsicht. Europäische Medienkonzerne und ihre Macht sind Gegenstand zahlreicher Studien. Wie Medieninhalte (TV-Serien, Filme etc.) europäisch zirkulieren, auch dies ist neben der wirtschaftlichen einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung wert und findet zunehmend mehr Beachtung. Insofern kann nun am Anfang des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Frage nach der Europäisierung der Medienagenda bejaht werden. 27 So wie europäische Medien einen Kommunikationsraum in Europa herausbilden, der für sehr differenzierte europäische Publika oder – politisch gesprochen – Öffentlichkeiten tatsächlich zu einem europäischen Verständnis beitragen könnte, da in diesen Medien europäische Geschichte(n) vermittelt wird/werden, so gilt umso mehr für die Europäische Medienwissenschaft: »Die allmähliche Europäisierung medienwissenschaftlicher Diskurse in einem virtuellen Bildungsraum Europa wäre dafür [=europäische Öffentlichkeit] eine Voraussetzung.«28 Reflexionen auf Europa in der deutschen Medienwissenschaft Im Folgenden wird nach der geleisteten bzw. nicht-geleisteten Reflexion des Europäischen bzw. des je anderen nationalen/sprach-/kulturgeschichtlichen Ursprungs in der Kanonisierung von medienwissenschaftlichen Strömungen, auf die die deutschsprachige Medienwissenschaft referiert, gefragt. Inwieweit wird der andere kulturgeschichtliche Hintergrund bei der Kanonisierung der medienwissenschaftlichen Theorien mitgeführt, explizit gemacht? Wie europäisch ist die Lehre der deutschen Medienwissenschaft? Wer einen Blick auf die in den letzten Jahren sich explosionsartig vermehrenden Werke ›Einführung in die Medienwissenschaft/Medientheorie/Medienkultur‹ wirft,29 den Anthologien, die Primärtexte präsentieren wie auch die Se-

27 »Eine direkte Europäisierung der Medienagenda ist auch am Ende des 20. Jahrhunderts weder hinsichtlich der Quantität der Berichterstattung noch zunehmender Aufmerksamkeit nationaler Publika für europäische Themen auszumachen.« Daniel/ Schildt (2010): S.21. 28 Daniel/Schildt (2010): S.22. 29 Vgl. u.a. Ziemann 2019; Hickethier 2010; Pias 2008; Kloock/Spahr 2007; Leschke 2007; Mersch 2006; Hartmann 2006; Roesler/Stiegler 2005.

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kundärliteratur, der/die wird auf eine erstaunliche Vielfalt an Theorien aus einigen wenigen, zumeist westeuropäischen Nachbarländern treffen.30 Eine Analyse des Ausweises von wichtigen, zu kennenden Medientheorien verläuft zwischen Markierung und Nicht-Markierung des Entstehungszusammenhangs. I. Zur Markierung der fremden Prägung Bei der Markierung der anderen nationalen/sprach-/kulturgeschichtlichen Prägung sind folgende Tendenzen festzustellen: 1) Markiert als Theorien besonderer Provenienz werden Theorien wie zum Beispiel die Russische Medientheorie31, von denen angenommen wird, dass sie randständig und wenig bekannt sind, dass der Entstehungszusammenhang, die Wirkungsgeschichte und die Rezeption im deutschsprachigen Raum erläutert werden müssen. 2) Markiert werden ferner jene Theorien, die selbst ihre besondere nationale Prägung thematisieren, wie etwa die Cultural Studies der Birmingham School, die selbst in der Interpretation ihrer politischen Dimension auf die Differenz zwischen UK und USA verweisen. Die freie internationale Zirkulation von Ideen wird hervorgehoben, wobei einzig englischsprachige Länder dieser Erde mit in diese Auswahl einbezogen werden. Unter Verweis auf die eigene interkontinentale Mobilität, wird der europäische Blick auf die anderen englischsprachigen Kontinente betont.32 3) Markiert werden drittens dann besondere nationale Ausprägungen einer wissenschaftlichen Konfiguration, wie etwa im Falle Frankreichs, das sich dop-

30 Texte der Kultursemiotik, z.B. Umberto Eco, Italien; Juri Lotman, Russland/Estland; der ›transeuropäische‹ Vilém Flusser; der französische Strukturalismus; der französische Poststrukturalismus; die französische Médiologie; die überwiegend französische Diskursanalyse; die stark französische Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT); die britischen cultural studies und popular studies; die negative Medientheorie, z.B. Virilio, Italien. 31 Vgl. Schmid, Ulrich (2005): Russische Medientheorien. Bern et al: Haupt. Neben bekannten Schriftstellern/Intellektuellen und historischen Persönlichkeiten Russlands präsentiert der Band programmatische Texte zu allen Künsten, die über das Repräsentation-Wirklichkeitsverhältnis nachdenken. 32 Vgl. Fiske, John (2005): Reading the Popular. London/New York: Routledge, hier insbesondere im Kapitel »Understanding Popular Culture«, S.10-11.

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pelt präsentiert: in der Erscheinungsweise der Médiologie und der der Sciences de l’information et de la Communication, wenn: a. genügend deutschsprachige Vertreter_innen der akademisch wissenschaftsdisziplinären Interkulturalität als Boten und Interpreten mit Übersetzungen und Einführungen auf Deutsch oder Englisch diesen den Weg bereiten; b. das Land mit eigenen kulturwissenschaftlichen, allgemein intellektuellen Strömungen als solches wahrgenommen wurde: hier Frankreich mit dem französischen Strukturalismus und französischen Poststrukturalismus und somit eine Einordnung in diesen größeren Zusammenhang vorgenommen werden kann und muss; c. der dargebotene Theoriekanon als eigenständige wissenschaftliche Strömung oder als eigene wissenschaftsdisziplinäre Konfiguration wahrgenommen wird. II. Nicht-Markierung der fremden nationalen Prägung Nicht-markiert hingegen bleiben jene Theorien, die sehr stark von einem einzelnen Autor ausgingen, ohne auf diesen einen einzelnen Autor fixiert zu bleiben, etwa die Medienphilosophie Vilém Flussers bzw. die Flusser-Studien, oder die Kultursemiotik Umberto Ecos bzw. tout court die Kutursemiotik, auch wenn diese eine große Forschung hervorgebracht haben und schon als Schulen oder Strömungen wahrgenommen werden, wie die Rubrizierung ›Medienphilosophie‹ bzw. ›Kultursemiotik‹ ausweist. III. Die Markierung der eigenen nationalen Prägung Im Falle der deutschen Medientheorie wurde auf diese als ›deutsche‹ Medientheorie erst dann reflektiert, also die nationale Prägung hervorgehoben, als über die Kenntnis des Fremdbildes die deutsche Medientheorie als ›in Abweichung von‹ markiert worden war. Die Diskussion über den ›deutschen Sonderweg‹ setzte sich auch als erstes mit Sinn und Unsinn einer solchen Distinktion auseinander.33 Deutsch – so die einzig sinnvolle Zuschreibung an das Adjektiv – kann

33 Am 22.04.2009 veranstaltete das Forschungskolleg SFB/FK615 »Medienumbrüche« in Zusammenarbeit mit der Graduiertenschule »Locating Media/Situierte Medien« der Uni Siegen eine Podiumsdiskussion mit Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Friedrich Kittler (Humboldt-Universität zu Berlin), Geert Lovink (Hogeschool van Amsterdam), Irmela Schneider (Universität Köln), Erhard Schüttpelz (Universität Siegen), Hartmut Winkler (Universität Paderborn). In der Einladung dazu hieß es:

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nur bedeuten, dass sie aus Deutschland stamme. Damit ist a) der Verweis auf die Provenienz bei b) gleichzeitiger Markierung der Distanznahme zu dieser Abstammung durch einen Blick von außen verbunden. Die Annahme und Einnahme dieser Außenperspektive waren damit gesetzt: eine Bezugnahme auf eine Diskussion aus dem bzw. mit dem Ausland. Dabei wurden auch Parallelen zu anderen Zuschreibungen gezogen, die den Deutschen selbst als Selbstverständlichkeiten präsentiert worden waren, wie etwa der französische Strukturalismus/Poststrukturalismus. In dieser Debatte war die »Mehrzahl der Debattenbeiträge […] methodologisch gerade den kritisch-analytischen Blicken auf nationale Identitäten verpflichtet, die seit den 1980ern im Zeichen des Postkolonialismus, der Globalisierung und nun eben der Transnationalität entwickelt worden sind. […] Nationen sind diesen Paradigmen zufolge (ähnlich wie, worauf gleich einleitend insistiert sei, akademische Disziplinen) medial erzeugte Imagined Communities, die konstitutiv instabil, heterogen und von Kämpfen um soziale Hegemonie durchzogen sind und deren Historizität und Prozesscharakter die Möglichkeit ihrer kritischen Reartikulation einschließen.«34

Die Reduktion der Bandbreite von medienwissenschaftlichem Denken auf eine Person war bemängelt worden: zu Beginn konnte deutsche Medientheorie nichts Anderes bezeichnen als die Medientheorie Friedrich Kittlers und der Wissenschaftler_innen seines Umkreises, die mit direktem oder indirektem Bezug auf ihn schrieben. Hier erfolgte ein nationales Labeling, anders als im oben genannten Falle von Flusser und Eco – die Gegenprobe zeigt es: es ist keine tschechische Medienphilosophie oder keine italienische Kultursemiotik bekannt. Die Frage nach dem deutschen Sonderweg, die verneint wurde, kam auf. Die deutsche Medientheorie blieb als singuläre Wissenschaftsdisziplinkonfiguration stehen. Vermittlungen und Vergleiche sind insbesondere durch Jens Schroeter und

»Ohne Übertreibung kann man Mediengeschichte und Medientheorie als eine idiosynkratische Entwicklung der Kulturwissenschaften in Deutschland beschreiben.« Vgl. http://www.uni-siegen.de/phil/medienwissenschaft/aktuelles/sonstiges/249052. html Ein Kommentar zu dieser Debatte ist erschienen von: Breger, Claudia (2009): »Zur Debatte um den ›Sonderweg deutsche Medienwissenschaft‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, Heft 1: Motive (1/2009), S.124-127. Siehe auch: »Medienwissenschaft. Eine transatlantische Kontroverse« (Debattenteil der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/2008, Tübingen (transcript), S.113-152. 34 Berger (2009): S.124.

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Norm Friesen angestellt worden.35 Anfangs nur aus dem Nachvollzug der Fremdwahrnehmung ist es deutschsprachigen Medienwissenschaftler_innen eine Selbstverständlichkeit geworden, auch der voranschreitenden Internationalisierung wegen. Eine weniger gute internationale Anschlussfähigkeit in der Disziplin und Verständnisschwierigkeiten in europäischen Kooperationen zeigen es. IV. Die Nicht-Markierung der eigenen nationalen Prägung Im Wesentlichen aber bleibt die Dimension des Nationalen – nicht unbedacht – aber unthematisiert. So erweitern deutsche Medienwissenschaftler_innen ihren medienwissenschaftlichen Textkanon und ihre Theoriekenntnis nach dem Spezialisierungsgebiet der Forscher_innen zu geringem Maße, in stärkerem Maße nach den Forschungsschwerpunkten an den einzelnen medienwissenschaftlichen Studienstandorten, die mit Graduiertenkollegs, Sonderforschungsbereichen etc. in Erscheinung treten. Diese »Geo-Politik der Medienwissenschaft« – um in Anwandlung eines neueren Buchs zur Dimension der deutschsprachigen/nordamerikanisch-kanadischen Medienwissenschaft zu sprechen36 – wird als Pluralisierung wahrgenommen, ohne den nationalen Zusammenhang explizit zu thematisieren. V. Zur Markierung des Europäischen Das Europäische – europäisch, wie oben dargelegt als bi- oder trinational gedacht, nicht EU-bezogen und nicht notwendig gesamteuropäisch – bleibt es gänzlich unmarkiert? Erste Anfänge einer Markierung erfolgen als Sammelbezeichnung für kleinere Staaten, denen ein gemeinsamer Theorieraum zugewiesen wird.37 Während ein Monitoring der Medienlandschaft, also ein möglicher – wenn auch nicht alleiniger – Untersuchungsgegenstand der Medienwissenschaft, ganz selbstverständlich nach Ländern oder Ländergruppen erfolgt, die sich zu Nach-

35 Schröter, Jens (2016): Disciplining Media Studies: An Expanding Field and Its (Self-) Definition, in: Friesen, Norm (Hg.): Media Transatlantic: Developments in Media and Communication Studies between North American and German-speaking Europe, Springer International Publishing Switzerland, S.29-48. 36 Vgl. Friesen, Norm/Cavell, Richard (2016): »Introduction: The Geopolitics of Media Studies«, in: Norm Friesen (Hg.): Media Transatlantic: Developments in Media and Communication Studies between North American and German-speaking Europe, Springer International Publishing Switzerland, S.1-12. 37 Vgl. Ste̜ pińska, Agnieszka (2014): Media and communication in Europe, Berlin: Logos.

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barschaftsbeziehungen zusammengeschlossen haben oder die als kultureller Raum ausgewiesen werden (etwa die Visegrad-Staaten oder Nordeuropa, die skandinavischen Länder), liegt dies für die Theorie bisher nicht vor. Gibt es für die Medienlandschaft und das Filmschaffen – z.T. auch für die Filmästhetiken – eine kulturelle Geographie, steht dies für die Theorie der Medien weitestgehend aus.38 Eine Europäische Medienwissenschaft steht also noch aus – anders als die histoire croisée – Ansätze der Geschichtswissenschaft oder gar die Europäische Historiographie. Zwar gibt es in der Medienkulturwissenschaft etablierte Wissensgebiete wie z.B. das der Frankfurter Schule oder das der grenzüberschreitend entwickelten Semiotik/Kultursemiotik – dies sind Momente der transnationalen medien-/kulturwissenschaftlichen Theoriebildung – jedoch erfolgt die Theoriebildung abstrakt-theoretisch, d.h. unter Absehung des Entstehungskontextes und beinhaltet eben keine Europathematisierung und keine Reflexion auf die Dimension des Europäischen. Über Sinn und Unsinn einer europäischen Dimension lässt sich trefflich streiten. Die in medienwissenschaftlichen (Lehr-)Büchern präsentierten Binnenthematiken39 weisen eine ausgesprochene Internationalität auf. Demgegenüber erscheint die Frage nach dem Europäischen als eine (unzulässige) Limitierung, die (re-)geopolitisiert und die Allgemeingültigkeit in Frage stellt und mithin die Universalisierung zurückweist. Die wissenspolitische Forderung nach einer ›Provinzialisierung Europas‹40, der Einschluss postkolonialer Medienwissenschaft in den Wissenskanon41 wirft die Frage nach dem Ausweis des Entstehungskontextes auf. Innerhalb der Besprechung einzelner Theorien ist ein unterschiedlich starkes Eingehen auf den Entstehungskontext vorzufinden, der meist

38 Norm Friesen leistet den Theorietransfer für einzelne Theoretiker, so für Kittler und Innis und McLuhan. Vgl. Friesen 2016. 39 So z.B. zu Oralität und Literalität; Infrastrukturen; Leitungen und Kanäle; Massenmedien und Kultur; Wahrnehmungsmedien; psychoanalytische Medientheorien; Subjektivierungen; Kybernetik; Wissensgeschichte; Archiv; Bilder; Gender; das Maschinale; Vergesellschaftungstheorien; Mathematische Medientheorien; Semiotik; Dekonstruktion; Marxistische Medientheorien; Phänomenologische Medientheorien; Kritische Medientheorien; Postmoderne Medientheorien; Systemtheoretische Medientheorien, um nur einige zu nennen. Vgl. Kursbuch Medienkultur, Grundlagentexte der Medienkultur, Handbuch Medienwissenschaft. 40 Vgl. Chakrabarty, Dipesh (2008): Provincializing Europe: postcolonial thought and historical difference, Princeton: Princeton University Press. 41 Bergermann, Ulrike/Heidenreich, Nanna (2015): Total. Universalismus und Partikularismus in postkolonialer Medientheorie. Bielefeld: transcript.

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kaum vorhanden, zumeist unbewusst die Amerika/Europa-Unterscheidung setzt. Bisweilen wird auf intellektuelle Biographien eingegangen oder auf die Rezeptionsgeschichte. Wird der umgekehrte Weg beschritten und von der Philologie oder von der Landeskunde aus auf die Medienwissenschaft zugegangen, dann zeigt sich Folgendes: Wird der Sprachraum bzw. Länderfokus gewählt, etwa zur Darstellung der Russischen Medientheorien,42 so wird der Vergleichsrahmen aufgespannt, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervorhebt. Die Gemeinsamkeiten werden diachron über Zeitschichten hinweg ausgewiesen, sie werden parallelisiert. Dieses Narrativ der interkulturellen akademischen Verhandlung ist, wenn auch insgesamt wenig, verbreitet und weist dann länderspezifische Parallelen und Gegenläufigkeiten auf. Ein sehr spezifisches ist für die ehemaligen Ostblockstaaten vorzufinden. So wurden mehrfach temporale Verschiebungen in Bezug auf Gesellschafts- und Theorieentwicklung thematisiert.43 Zweitens ist bemerkenswert, dass in dieser innereuropäischen Differenzperspektive all jene Bedingungsgrößen wie die Institutionen (Universitäten, Forschungsgesellschaften), der Etablierungsgrad bzw. die Nicht-Etablierung der akademischen Wissenschaftsdisziplin bedacht werden, die die Varianz in den nationalen Rahmungen von Wissenschaftsbedingungen ausmachen. Neben dem allgemeinen Kulturdifferenzkriterium der Sprache bzw. der Sprachbarriere wird in diesem Zusammenhang auch auf die (nationale) Verschiedenheit von Medienformaten und medienkulturellen Artefakten verwiesen. Der universelle Aspekt besteht demgegenüber in der Medialität als Erfassung der wesenhaften Verfasstheit von Medien (als plurale tantum und nicht als Spezifikum). Die Präsentation der Russischen Medientheorien44 zeigt exemplarisch die möglichen unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Konstruktion der Interdependenz von Kulturspezifik und Medientheorieuniversalismus. Zum einen wird dezidiert im Verhältnis von Politik und Kunst bzw. Medien auf das Juridische zurückgegriffen, werden Gesetze, Verordnung, Erlasse herangezogen, die Monopolisierung kritisiert, wie die Praxis der Distribution bemängelt. Mithin wird mit einer auch empirisch argumentierenden Medienkritik gearbeitet, andererseits wird in einer chronologisch, dem Aufkommen der Medien folgenden Darstellung, eine medientheoretisch immanente Diskussion geführt (z.B. die im Filmbe-

42 Vgl. Schmid (2005). 43 So in einigen Werken von Svetlana Boym; auch Kulpa, Robert/Mizielinska, Joanna (2011): De-Centring Western Sexualities. Central and Eastern European Perspectives, Farnham: Ashgate. 44 Vgl. Schmid (2005).

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reich bekannten frühen Montagetheoretiker diskutiert). Immer wieder jedoch wird – und hierin zeigt sich die besondere Gewandtheit dieses Ansatzes – das relativiert, was dem universalistisch informierten Medientheoretiker entgeht, indem auf weitreichendere Kulturentwicklungen, Analogien und Kontinuitäten verwiesen wird und somit die Singularität der Sowjetzeit oder des spezifisch postkommunistischen Medienregimes in ein über Jahrhunderte wirkendes Kulturdispositiv einordnet wird. Die historische Relativierung eignet sich jeder historischen Vergleichsperspektive, indem Strukturanalogien aufgewiesen werden. Und in einer zweiten Perspektive wird dies noch durch eine kulturelle Relativierung ergänzt, die ebenfalls in Strukturhomologien denkt und in anderen europäischen Ländern zugleich die Singularität wie die Ähnlichkeit herausarbeitet. Dies wiederum ist schon die Analyse der (russischen) Medientheoretiker, also schon auf der Ebene des Analysandums in der Medientheorie vorzufinden, denn diese arbeiten schon mit Strukturanalogien: »Damit wird deutlich, dass die Medienpraxis der Gegenwart nicht als isoliertes Ereignis, sondern in einem historischen Kontext erfasst wird. Strukturanalogien erhalten auf diese Weise den Wert eines Interpretationsmusters, dessen Rekurrenz nachgewiesen werden kann und schließlich die Deutung des aktuellen Zustands ermöglicht.«45

An der Charakterisierung der Spezifik der russischen Medientheorien fällt auf, dass sie sich in Verbindung bringen lassen mit der hiesigen medienphilosophischen Begriffsdiskussion um das Wesen des Mediums, mit der als universell angenommenen Aussage, dass das Medium das Vermittelnde ist, das sich in seiner Vermittlungsfunktion zum Verschwinden bringt und zugleich Medien dasjenige sind, das konstitutiv für Anderes ist, was ein Wesen aller symbolisch-kultureller Zeichenpraxis ist, mithin Wesenhaftigkeit an sich, bedeutet. Zweitens wird Kultur, die kulturelle Prägung, als das grundlegendere angenommen, in deren Fahrwasser sich die mediale ›Adaptation‹ vollzieht, jahrhundertewährende Denk- und Wahrnehmungsweisen mittelfristig auftretende Ideologien überlagern. Kontinuitäten, die sich erst dem Landeskundigen erschließen, stehen unvermittelt neben Einflüssen z.B. der französisch poststrukturalistischen Theoriebildung wie den US-amerikanischen Theorieansätzen. Diese gemischte Gemengelage der europäisch-westlichen Gemeinsamkeiten wie der russischen Spezifizierungen ist ein europäisches Narrativ.

45 Schmid (2005): S.82.

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FAZIT Die vermeintliche Internationalität und Universalisierungstendenz der Medientheorien, die durch Nicht-Thematisierung des sprachlichen und intellektuellen Entstehungszusammenhangs und seiner Bedingtheiten wie Limitationen ihre Wirkkraft entfaltet, wird bei Thematisierung und näherer kultureller Spezifizierung partikular bzw. offenbart sich als geo-medial-politischer Verhandlungsraum. In einer Position jenseits des Eurozentrismus, eine einheitliche Behauptung (europäischer) kultureller Identität ablehnend,46 in Zeiten der postkolonialen Medientheorien innerhalb der deutschsprachigen Medientheorie,47 des Widerhalls des Provinz-Werden Europas,48 nach dem Erscheinen von De-Centering Western Sexualities,49 nach Tagungen zu De-Centering Gender Studies,50 ist die Einsicht, dass Europäische Studien, auch die Europäische Medienwissenschaft, nicht universalisierend sein dürfen, sondern ihre Partikularität, eben ihre Europaals-Provinz-Gedanken ausweisen müssen, zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Berücksichtigung geographischer, institutioneller und nationaler Koordinaten in der medienwissenschaftlichen Theoriebildung lassen Norm Friesen und Richard Cavell gar von der ›Geographie der Medienwissenschaft‹ sprechen.51 Dass deren Bezüge in eine lokal/globale Dynamik einbezogen werden müssen, ist der Ausgangspunkt ihrer Untersuchung zur deutschsprachig-nordamerikanisch/kanadischen Medienwissenschaftsbildung. Die Bewegungen/Verschiebungen und Translokalitäten, die die interkulturellen Verschränkungen sehen und ihnen nachgehen, insbesondere der Toronto School und der Bildung der deutschen Medientheorie, zentriert um die Auseinandersetzung mit dem Theoretiker Friedrich Kittler, Marschall McLuhan und Harold Adams Innis, ist einerseits Rezeptionsgeschichte, andererseits Darstellung der Genese der deutschen Medienwissenschaft für eine englischsprachige amerikanisch/kanadische Leser-

46 Jullien, François (2017): Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin: Suhrkamp. 47 Bergermann/Heidenreich (2015). 48 Chakrabarty (2008). 49 Kulpa/Mizielinska (2011). 50 Decentring Gender Studies. Eine deutsch-polnisch-französische Tagung an der Bauhaus-Universität Weimar, 17.-18.12.2015, von Hedwig Wagner und Nicole Kandioler. 51 Vgl. Friesen (2016).

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schaft.52 Situiertheit des Wissens, Pluralität, Anti-Universalismus, eine zunehmende Mediatisierung sei – nach Friesen und Cavell – nicht »the new great universal«.53 Die temporale und räumliche Bedingtheit der Medien, das Vermeiden des telos der Medienevolution – die neuen Medien sind nicht die Überwinder der alten – zielt darauf ab »to re-mediate media studies in terms of geographies, nations, and institutions«.54 Kittler und McLuhan werden in diese Eingangsrhetorik mit hineingestellt, die sich natürlich auch mit Verweis auf die Foucaultsche Machtfrage als eine kritische darstellt. Deutschsprachige medienwissenschaftliche (Lehr-)Bücher zeigen jene von nationalen Rahmungen und Entstehungskontext absehende Darstellung, die Entwicklungslinien rein aus der Theorie heraus nachzeichnet. Intellektuelle Biographien und Rezeptionsgeschichte haben darin durchaus ihren Platz, nicht aber das Institutionelle, Geographische und Nationale – es sei denn es ist von der Landeskunde her gedacht wie im Falle der russischen Medientheorien, wo Medientheorie von einer jahrhundertewährenden kulturellen Prägung überlagert wird. Die Berücksichtigung geographischer, institutioneller und nationaler Koordinaten in der medienwissenschaftlichen Theoriebildung steht für das Erfassen der Europäischen Medienwissenschaft bisher aus. Dazu möchte dieser Band einen Beitrag leisten.

ZUM BAND Jonas Nesselhauf reflektiert in »Grundlagen der Forschungs- und Theoriegeschichte einer »Europäischen Medienkomparatistik« das Aufkommen von studies und geht wie Christian Filk auch den Entstehungsbedingungen von Wissenschaftsdisziplinen nach. Nesselhauf zeigt am Beispiel der »Comparative Media Studies« die Geschichte dieses Fachs, legt die Etablierung der Medienkomparatistik in der Forschungslandschaft dar und skizziert die Herausforderungen und Potentiale einer »Europäischen Medienkomparatistik«. »Mit einem medienwissenschaftlichen Grundverständnis und einem reflektierten Bewusstsein über den Vergleich als Methode als solides Fundament ergeben sich mit den Forschungsbereichen des Medienvergleichs, der Thematologie sowie der Transmedialität

52 Dabei werden von Norm Friesen insbesondere die unterschiedlichen Literalität/Oralität Vorstellungen von Innis und Kittler sowie verschiedene Vorstellungen zur griechischen Antike herausgearbeitet. 53 Friesen/Cavell (2016): S.1. 54 Ebd.: S.2.

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und Medienkonvergenz quasi drei Säulen, die das übergreifende ›Dach‹ einer vergleichenden Medienkulturgeschichte in dezidiert europäischer Perspektive tragen.« (S.56) Der Beitrag von Christian Filk »Überschreitungen und Entgrenzungen durch ›Datafizierung‹: ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch« beschreibt vor dem Hintergrund der Veränderungen, die in allen europäischen Ländern in mehr oder weniger starkem Maße, in mehr oder weniger schneller Transformation, und in mehr oder weniger kontinuierlich oder diskontinuierlich (disruptiv) verlaufender Entwicklung stattfinden, die für die ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ zu erwartende Entwicklung als Sub-Wissenschaftsdisziplin. Er reflektiert die Bedingungen von Wissenschaftsevolution, ihr Verhältnis zu ihrer epistemischen Fortentwicklung auf der einen Seite und ihren Bezug zu den zu beschreibenden/analysierenden Problemfeldern auf der anderen Seite. Im Fokus steht die Entwicklungslogik der Medienforschung, betrachtet im theoretischen Rahmen des Sozialsystems Wissenschaft und der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen. Wovon die Selbstbeschreibung und Begründung der zukünftigen ›Europäischen Medienkulturwissenschaft‹ abhängt, wie die disziplinäre Selbstreferenzialität vonstattengehen könnte und wie disziplinäre Differenzierung sich vollzieht, als dies wird durch Filk verständlich und somit werden grundlegend die Mechanismen charakterisiert, die in der zukünftigen ›Europäischen Medienkulturwissenschaft‹ als Differenzial und Evolution greifen werden. Vertritt Nesselhauf eine medienkomparatistische Perspektive, so votiert Thomas Weber in »Die Perspektiven einer Europäischen Medienwissenschaft« für eine komparatistische Perspektive der europäischen Kulturen. Weber betont die grundlegende Leistung von Medien für die Konstruktion, stärker noch, für die Konstitution von Europa. Die Rolle der Medien für die Kommunikation von Aspekten der Identität, für die Konstruktion von gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen und für eine gemeinsame europäische Identität wird betont. Ähnlich wie Nesselhauf auch, legt Weber grundlegende Ordnungsmuster der allgemeinen Medienwissenschaft dar, um in der Schnittstellenbildung mit diesen die Dimension der europäischen Medienwissenschaft erschließen zu können. Weber verzichtet auf eine historische Genealogie der Wissenschaftsdisziplinen in den einzelnen europäischen Ländern wie auch auf einen Rekurs auf die geisteswissenschaftlichen Großtheorien (Poststrukturalismus, Marxismus etc.). Statt dessen schlägt er epistemologisch konnotierte »Ordnungen des Medienwissens« vor, die jeweils andere Aspekte eines Wissens über, durch und mit Medien konstituieren: Aisthesis, Bedeutungssysteme, mediale Milieus, historische Singularität, Medien als Dokumente und epistemologische Relevanz. Der mögliche Anwendungsbereich dieser epistemologischen Dimensionen der Medienwissenschaft wird im

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abschließenden Teil anhand eines europäischen Projekts zu den Memory Studies beispielhaft vorgestellt. Matthias Bauer schlägt in seinem Beitrag »Medienkulturanalyse« vor, die Medien- und Kulturgeschichte im Lichte der kritischen Europaforschung neu zu perspektivieren. Die Dimension des Europäischen zeigt sich in der globalen Netzwerk-Gesellschaft im Glokalen, sehr überzeugend werden dabei die Marktund Identitätspolitik und ihr Impakt in die Wissens- und Gesellschaftsevolution vorgeführt. In Hinblick auf die Identität Europas wird mit der Abgrenzung vom früheren Territorien-Denken (geographische Machtansprüche und ihre Verschränkung mit Medien) zum modernen Domänen-Denken (Machtansprüche in Gesellschaftsbereichen) deutlich gemacht, wie in der Entwicklung der Machtanspruch und die Geltungsansprüche vom Territorium auf die Domäne übergehen und begründet werden auf Regelwerken wie z.B. der Kultur, der Sprache etc. Mit Foucaults Diskursanalyse wird noch einmal die Unterscheidung von Territorien und Domänen anschaulich vor Augen geführt, wobei zwischen dem auf dem Territorium gründenden Herrschaftsapparat und den, den Domänen zuneigenden, Erkenntnis- und Medienapparaten unterschieden wird. Gezeigt wird, wie bei symbolisch generalisierten Medien (Luhmann) – im Gegensatz zu mechanischen oder elektronischen Medien – im Sinne der ›claims‹, der Macht- und Geltungsansprüche, das Wirtschaftssystem tendenziell das Wissenschaftssystem dominiert und generell zur Produktion von Machtasymmetrien neigt. Digitalisierung und Globalisierung neigen dabei tendenziell dem Territorien-Denken zu und Kunst und Recht dem Domänen-Denken. Der besondere Clou des Bauerschen Ansatzes der Medienkulturanalyse liegt darin, mit der Unterscheidung zwischen Territorien-Denken und Domänen-Denken sowohl zu einem Verständnis der Dynamik der funktional differenzierten Gesellschaft beitragen zu können als auch zum Verständnis der auf der Seite des Individuums wirkenden Leistung von Medien im Sinne der Extension und der Selbstamputation zu kommen. Die Verschränkung beider Dynamiken wird verständlich gemacht und mithin wird von Bauer ein Erklärungsansatz entwickelt, der die medientechnologische Entwicklung mit der gesellschaftlichen wie mit der individuellen verschaltet und diese Dynamiken mittels der Medienkulturanalyse analysierbar, also erschließbar macht. In einer case study zeigt Eva Krivanec in »Europäische Kriegseintritte – kulturelle Antworten auf den Kriegszustand. Berlin, Lissabon und Paris in zwei Weltkriegen« Untersuchungsgegenstände der kulturwissenschaftlichen Europäischen Medienwissenschaft auf. Die europäische Dimension kommt im Beitrag von Krivanec im Städtevergleich von Berlin, Lissabon und Paris zum Tragen

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und die medienkomparatistische im Vergleich von Theater und Film bzw. Bühne und Kino. Der Beitrag von Sarah Cordonnier »Die internationale Medien- und Kommunikationswissenschaft zwischen Disziplinen und Praktiken«, Teilergebnis von umfangreichen Forschungen, die sich dem Spannungsfeld von Internationalisierung in der Institution Universität in den unterschiedlichen Statusgruppen (den Studierenden, den Lehrenden, des TAP-Bereichs) und der Internationalitätsrhetorik von Universitäten, des internationalen Wissensaustauschs in einzelnen Disziplinen, der akademischen Interkulturalität und des Zusammenhangs dieser Bereiche widmet, hat in der vorliegenden Form den Fokus gesetzt auf die Internationalitätsbedingungen und den institutionellen und intellektuellen Rahmenbedingungen in den Kommunikationswissenschaften, dabei einerseits in der Analyse auf die Praxis blickend, andererseits auf das methodische und theoretische Rüstzeug, das eben jene Disziplin der Kommunikationswissenschaft zur Verfügung stellt, um bisher getrennt verlaufende Diskurse und organisationelle Praktiken zusammen zu untersuchen. In Sonderheit kommt es ihr auf die Interdependenzen von internationaler Ideenzirkulation und universitärer Internationalisierung an. Sonja Neef zeigt anhand dreier medienkultureller Artefakte zu Europa in »Was ist Europäische Medienkultur? Oder wie Europa und Atlas Hand in Hand über den nullten Längengrad balancieren, sie Blumen pflückend, er den Globus schulternd« wie ›Europäische Medienkultur‹ nicht nur als Forschungsgegenstand gefasst werden kann, sondern auch als Fach, wenngleich es keine eigene akademische Disziplin ist. Die Begründung der Europäischen Medienkultur als Fach liegt dabei weniger in der Zugangsweise der Interdisziplinarität begründet als vielmehr in der Positionalität. Geleitet von der Vision Europa neu zu denken, entwickelt Neef entlang dreier medienkultureller Artikulationen – des Mythos von der Europa, der kartographischen Erfassung des Nullmeridians und Tiepolos Deckenhausfresken der Erdteile – in einer dekonstruktivistischen Argumentationslogik über das Begriffspaar ›Übersetzung und Europa‹ ihre Vision vom Fach Europäische Medienkultur. Europa ist überhaupt nur als medienkulturelle Übersetzung zu fassen, wobei der Übersetzungsbegriff jene mannigfaltigen Verschiebungen vorantreibt, die eine eindeutige Identität Europas verweigern. Die anvisierten Europabilder zeigen Europa in der Auseinandersetzung mit dem NichtEuropäischen, von der Peripherie oder von dem Anderen herkommend, und weisen es als in sich selbst gespalten aus. Entgegen dem postcolonial studies Ansatz der Eurozentrismuskritik, wird hier die doppelte Spaltung zwischen Europa und dem Andern und der Spaltung Europas in sich, als argumentativer Diskurs entwickelt.

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Bei dem Beitrag »Europe Materializing? Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichte der europäischen Infrastrukturen« von Alexander Badenoch und Andreas Fickers handelt es sich um eine eigens für diesen Band angefertigte Übersetzung der um die Artikelcharakterisierung des Originalbandes gekürzten programmatischen Einleitung »Introduction: Europe Materializing? Toward a Transnational History of European Infrastructures« zum 2010 bei Palgrave erschienenen Sammelband von Alexander Badenoch und Andreas Fickers Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe. Die Anfertigung der ersten deutschen Übersetzung dieser in das Feld der Infrastrukturforschung Europas so hervorragend einführenden Überlegungen zur Aufnahme in diesen deutschsprachigen Band Europäische Medienwissenschaft. Zur Programmatik eines Fachs erklärt sich durch eine Europa-Medien-Verschränkung auf drei Ebenen. Zum einen waren und sind europäische Infrastrukturen für das Werden von Europa wichtig, sind sie die materielle Grundlage des Menschen-, Waren-, Kapital-, aber auch des Ideentransports. Infrastrukturen sind materialisierte Kommunikationsstrukturen und erfahren als solche in der rezenten Entwicklung der Medienwissenschaft große Aufmerksamkeit. 55 Infrastrukturforschung ist ein internationales Wissenschaftsgebiet, zu dem namhafte Geschichtswie Medienwissenschaftler_innen beitragen. Zwei sind hier für die Vorstellung der Europäischen Medienwissenschaft ausgewählt worden. So wird doch verständlich, welche Rolle besondere Vorstellungen und Räume Europas bei der Konstruktion, Nutzung und/oder dem Scheitern verschiedener materieller Systeme gespielt haben. Nicht nur wird Europa als Untersuchungsgegenstand angesprochen, es ist in seiner medial bedingten Verfertigung zu beobachten. 56 Zum zweiten wird mit der Übersetzung ein innereuropäischer Wissenstransfer geleistet, der die deutschsprachige europäische Mediengeschichte, wie sie z.B. von Schildt/Daniel, Bösch, Lenger et al. vertreten wird, um diesen spezifischen Ansatz komplementiert. Zum dritten kann schlichtweg gesagt werden: »In vielerlei Hinsicht sind technologische Infrastrukturen in der Tat die Essenz europäischer Integration.« (S.238) Die Integration und Spaltung der Gesellschaften Europas wird durch die Analyse der Infrastrukturen verständlich, denn dass Europa gebaut wird, in literaler wie in metaphorischer Hinsicht mit symbolischer Dimension in sozialgesellschaftlicher Entwicklungsfolge, lässt Europa mit seiner ihm

55 Vgl. Schabacher, Gabriele (2019): »Infrastrukturen. Zur Einführung«, in: Andreas Ziemann (Hg.), Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden: Springer, S.283-288. 56 In der speziell auf Europa bezogenen Ausführung, siehe neben Schabacher (2019), Van Laak (2013), Gießmann (2006).

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bekannten Zuschreibung der technischen Entwicklung, der rationalen Ingenieurskunst mit Infrastrukturprojekten synonym werden. Die Herausgeberin bedankt sich bei den beiden Autoren und Herausgebern Alexander Badenoch und Andreas Fickers für die Übersetzungsgenehmigung, bei Palgrave für die Wiederabdruckerlaubnis, bei Viola Güse für die Übersetzung des Artikels und bei Scott Simpson für die Unterstützung schwierig zu übertragender Textpassagen.

LITERATUR Averbeck-Lietz, Stefanie (2017): »Kommunikationswissenschaft vergleichend und transnational. Eine Einführung.«, in: Stefanie Averbeck-Lietz (Hg.), Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich. Transnationale Perspektiven, Wiesbaden: Springer, S.1-29. Bergermann, Ulrike/Heidenreich, Nanna (2015): Total. Universalismus und Partikularismus in postkolonialer Medientheorie, Bielefeld: transcript. Bösch, Frank (2010): Europäische Medienereignisse, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz. http://www.ieg-ego.eu/boeschf-2010-de vom 05.12.2019. Breger, Claudia (2009): »Zur Debatte um den ›Sonderweg deutsche Medienwissenschaft‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, Heft 1: Motive (1/ 2009), S.124-127. Chakrabarty, Dipesh (2008): Provincializing Europe: postcolonial thought and historical difference, Princeton: Princeton University Press. Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2013): »La discipline au prisme des activités internationales dans les trajectoires de chercheurs en France et en Allemagne (encadré)«, in: Jean-Michel Besnier/Jacques Perriault (Hg.)/Bernard Valade/Dominique Wolton (wiss. Beirat), Discipline, interdisciplinarité, indiscipline, Paris: CNRS Éditions, S.137-140 [Hermès, Bd.67]. Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2014): Academic Interculturality in Communication Studies im Rahmen der internationalen Tagung ECREA (European Communication Research and Education Association), Vortrag auf der 5th European Communication Conference | Lisboa, 12-15 November 2014. Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2017): »Déployer l’interculturalité: les étudiants, un vecteur pour la réflexion académique sur l’interculturel. Le cas des sciences consacrées à la communication en France et en Allemagne.« in: Gundula Gwenn Hiller et al. (Hg.): Interkulturelle Kompetenz in

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deutsch-französischen Studiengängen. Les compétences interculturelles dans les cursus franco-allemands, Wiesbaden: Springer VS, S.221-234. Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2018): »L’interculturalité académique entre cadrages et interstices.« in: Gilles Rouet/Michaël Oustinoff (Hg.), FranceAllemagne. Incommunications et convergences; Les Essentiel d’Hermès, Paris: CNRS Éditions, S.169-182. Daniel, Ute/Schildt, Axel (2010): »Einleitung«, in: Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.), Massenmedien im Europa des 20.Jahrhunderts, Köln et al.: Böhlau, S.9-32. European Communication Research and Education Association (ECREA) (2017): »About. ECREA. Objectives«: https://ecrea.eu/Objectives vom 07. 10.2019. Faßler; Manfred (1996): Gegen die Restauration der Geopolitik: zum Verhältnis von Ethnie, Nation und Globalität, Gießen: Focus-Verlag. Fiske, John (2005): Reading the Popular. London/New York: Routledge. Friesen, Norm (2016) (Hg.): Media Transatlantic: Developments in Media and Communication Studies between North American and German-speaking Europe, Springer International Publishing Switzerland. Friesen, Norm/Cavell, Richard (2016): »Introduction: The Geopolitics of Media Studies«, in: Norm Friesen (Hg.): Media Transatlantic: Developments in Media and Communication Studies between North American and Germanspeaking Europe, Springer International Publishing Switzerland, S.1-12. Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM): »Kernbereiche der Medienwissenschaft«, hrsg. v. der Strategiekommission der GfM: https://gfmedienwissen schaft.de/positionen vom 05.12.2019. Gießmann, Sebastian (2006): Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik 1704-1840, Bielefeld: transcript. Hagener,Malte/Hediger, Vinzenz/Schneider, Alexandra/Vonderau, Patrick (20 11): »About NECS. History«, in: European Network for Cinema and Media Studies (NECS) (ed.): http://necs.org/about-necs/history vom 01.12.2016. Hartmann, Frank (2006): Globale Medienkultur: Technik, Geschichte, Theorien, Wien: WUV UTB. Hickethier, Knut (2010): Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler. Hillje, Johannes (2019): »›Wir brauchen ein House of Cards aus Brüssel‹. Die Europäer reden übereinander statt miteinander. Ein gemeinsames digitales soziales Netzwerk kann das ändern.« https://www.ipg-journal.de/rubriken/ europaeische-integration/artikel/wir-brauchen-ein-house-of-cards-aus-brues sel-3291/ vom 01.04.19.

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Holenstein, Elmar (1998): »Europa – ein kulturell konstituierter Kontinent? Europäische Identität und Universalität auf dem Prüfstand«, in: Elmar Holenstein (Hg.), Kulturphilosophische Perspektiven. Schulbeispiel Schweiz, Europäische Identität auf dem Prüfstand, Globale Verständigungsmöglichkeiten, Frankfurt a.M., S.182. Jullien, François (2017): Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin: Suhrkamp. Kloock, Daniela/Spahr, Angela (2007): Medientheorien. Eine Einführung, München: Fink. Kreis, Georg (2004): Europa und seine Grenzen. Mit sechs weiteren Essays zu Europa, Bern/Stuttgart/Wien. Kulpa, Robert/Mizielinska, Joanna (2011): De-Centring Western Sexualities. Central and Eastern European Perspectives, Franham: Ashgate. Lenger, Friedrich/Nünning, Ansgar (Hg.) (2008): Medienereignisse der Moderne. Darmstadt. sowie das Gießener Graduiertenkolleg »Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart«. Vgl. http:// www.unigiessen.de/cms/dfgk/tme/forschungsprogramm vom 29.05.2009. Leschke, Rainer (2007): Einführung in die Medientheorie, München: Fink. Mersch, Dieter (2006): Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius. Ociepka, Beata (2014): »International Broadcasting: A Tool of European Public Diplomacy?«, in: Agnieszka Stepińska (Hg.): Media and Communication in Europe, Berlin: Logos, S.77-89. Pias, Claus et al. (2008): Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, München: Deutsche Verlagsanstalt. Roesler, Alexander/Stiegler, Bernd (2005) (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Fink. Schabacher, Gabriele (2019): »Infrastrukturen. Zur Einführung«, in: Andreas Ziemann (Hg.), Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden: Springer, S.283-288. Schmid, Ulrich (2005): Russische Medientheorien. Bern et al: Haupt. Schröter, Jens (2016): »Disciplining Media Studies: An Expanding Field and Its (Self-)Definition«, in: Friesen, Norm (Hg.): Media Transatlantic: Developments in Media and Communication Studies between North American and German-speaking Europe, Springer International Publishing Switzerland, S. 29-48. Silverstone, Roger (Hg.) (2005): Media, Technology and Everyday Life in Europe. From Information to Communication, Aldershot/Burlington: Ashgate. Ste̜ pińska, Agnieszka (2014): Media and communication in Europe, Berlin: Logos.

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Van Laak, Dirk: »Pionier des Politischen? Infrastruktur als europäisches Integrationsmedium« (2013), in: Gabriele Schabacher/Christoph Neubert (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: transcript, S.165-188. Vogel, Meike (2009): Rezension zu: Friedrich Lenger/Ansgar Nünning (Hg.) (2008): Medienereignisse der Moderne, Darmstadt. in: H-Soz-Kult, www. hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11288 vom 05.12.2019. Ziemann, Andreas (Hg.) (2019): Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden: Springer VS.

Grundlagen der Forschungs- und Theoriegeschichte einer »Europäischen Medienkomparatistik« Jonas Nesselhauf

EINLEITUNG Wenn sich innerhalb von Disziplinen kleinere Fächer herausbilden, diese wiederum »Studies« entwickeln und damit verbunden neue Ansätze und Methoden in die Forschung einbringen, führt dies sicherlich in vielen Fällen zur fruchtbaren Möglichkeit einer fachlichen Spezialisierung, birgt aber immer auch die dezidierte Gefahr einer Marginalisierung. So sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus den – wiederum von den »Women’s Studies« kommenden – transdisziplinären »Gender Studies« beispielsweise die »Masculinity Studies« und »Fat Studies«, die »Transgender Studies« und »Queer Studies«, die »Porn Studies« und »Disability Studies« hervorgegangen, die jedoch unterschiedlich stark rezipiert und institutionalisiert wurden und werden. Die »Berechtigung« und »Konjunktur« solcher Ansätze ergibt sich aus der (gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen) Notwendigkeit, neue und theoretisch fundierte Auseinandersetzungen mit konkreten Problemen und Fragen anzustoßen, die nicht selten bisher keine Berücksichtigung fanden – so wären beispielsweise die »Women’s Studies« oder später die »Gender Studies« natürlich schon immer ›relevant‹ gewesen, konnten sich jedoch als wissenschaftlicher Diskurs erst unter bestimmten Voraussetzungen in ihrer heutigen Form entwickeln. Diese Studies ergänzen und bereichern die etablierten Fachwissenschaften als disziplin-, theorien- und methodenübergreifende Schnittstelle; beispielsweise lassen sich die »Disability Studies« ebenso in den Geschichts- und Medien- wie in den Kulturwissenschaften fruchtbar machen, und bedienen sich wiederum Methoden der Soziologie, Psychologie oder Medizin. Dies ermöglicht einen pro-

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duktiven Dialog, der überhaupt erst zu neuen Fragen und Perspektiven führt, die eine »hermetische« Forschung so nie leisten könnte. Ein spannendes Beispiel für einen solchen aus den (primär nordamerikanischen) Medienwissenschaften hervorgegangenen Ansatz stellen die »Comparative Media Studies« dar, die in der deutschen Forschungslandschaft erst in jüngster Zeit unter dem Begriff »Medienkomparatistik« zu finden sind. Ein solcher Arbeitsbereich ist zweifellos vielversprechend, allerdings hierzulande in dieser Form bisher noch nicht institutionalisiert. Zwar liegen, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, durchaus theoretische und methodische Grundlagen, die zu einer »Medienkomparatistik« verbunden werden könnten, ebenso vor wie auch, bereits seit den 1990er Jahren, verschiedenste Publikationen unter diesem Schlagwort und nicht zuletzt zahlreiche Wünsche und Forderungen an eine solche interdisziplinäre und -mediale Schnittstelle, doch eine konkrete Systematik dieses Forschungsfeldes muss erst noch erarbeitet werden. Dementsprechend stellt die Berufung auf eine solche Denomination – konkret: »Europäische Medienkomparatistik« – einen geeigneten Anlass dar, theoretische und methodische Grundlagen zusammenzutragen, bisherige Vorarbeiten zu evaluieren und schließlich die eigene Ausrichtung zu reflektieren.1

1

Genau dies wird im Folgenden versucht – auch wenn diese Überlegungen (die mit dem Antritt der Stelle erfolgen) in mancherlei Hinsicht noch dem ›Trockenschwimmen‹ gleichkommen. Zwar kann natürlich auf bisherige Erfahrungen und eine mehrjährige medienkomparatistische Lehr- und Publikationstätigkeit zurückgegriffen werden, doch die praktische Arbeit als an einer Universität institutionalisiertes Forschungsfeld (etwa mit der Koordination konkreter (Verbund-)Forschungsprojekte, dem Zusammenspiel mit einem DFG-Graduiertenkolleg wie auch der Einpassung in die Philosophische Fakultät) wird sich erst noch zeigen müssen (und an späterer Stelle dann auch in einem überarbeiteten Aufsatz aktualisiert werden). Und ohnehin kann und soll hier keine allgemeingültige Blaupause für eine Medienkomparatistik geliefert werden; diesem Beitrag liegt die Prämisse einer in der Fachrichtung Kunst- und Kulturwissenschaft angesiedelten »Europäischen Medienkomparatistik« zugrunde – eine etwa stärker in den Medienwissenschaften verankerte oder abweichend denominierte Medienkomparatistik müsste zwangsläufig auch eine andere Schwerpunktsetzung entwickeln.

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WISSENSCHAFTSGESCHICHTE: »COMPARATIVE MEDIA STUDIES« UND »MEDIENKOMPARATISTIK« Die wohl stärkste Etablierung medienkomparatistischer Forschung findet sich in den USA, wo die Medienwissenschaften im Vergleich zu Deutschland länger institutionalisiert und stärker verbreitet sind. Dort werden Forschungsfragen der Medienkomparatistik, wie in den folgenden Kapiteln skizziert, von den »Comparative Media Studies« (CMS) gestellt, die sich bereits seit mehreren Jahren an nordamerikanischen Universitäten finden lassen und inzwischen sogar teilweise in eigenständigen Studiengängen oder Forschungsschwerpunkten institutionalisiert sind. Den Anfang machte das Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo 1999 unter Federführung des Medienwissenschaftlers Henry Jenkins ein MA-Programm entwickelt wurde, das heute unter dem Namen »Comparative Media Studies/Writing« die »dynamics of media change«2 analysieren möchte. Gleichzeitig liegt der Schwerpunkt, blickt man auf die Seminarangebote, aber klar auf der ›anwendungsorientierten‹ Praxis, die zu einer »next wave of media breakthroughs«3 führen soll. Eine solche Verbindung zwischen Medienkomparatistik und Journalismus oder Creative Writing ist dabei natürlich eine direkte Folge der Veränderungen im journalistischen ›Erzählen‹, das mit neuen Formen des multimedialen, crossmedialen oder interaktiven Storytelling (etwa dem »Pageflow« oder 360°-Erzählungen) kaum noch etwas mit dem klassischen Printjournalismus zu tun hat. Dennoch unterscheiden sich andere Universitäten in der Schwerpunktsetzung ihrer CMS-Studiengänge oder Forschergruppen, beispielsweise wenn die Miami University einen eher medientheoretischen und -historischen Fokus hat4 oder die traditionsreiche Cornell University eine Verzahnung von Intermedialität und Transnationalität versucht5. Auch wenn die CMS damit an zwei (Public) IvyUniversitäten vertreten sind, bleiben die »Comparative Media Studies« als eigenständiges Fach oder konsekutiver Studiengang die Ausnahme, sind aber als Lehrveranstaltungen innerhalb der »Media Studies« oder der »Comparative Literature« an zahlreichen Universitäten in den USA und Kanada zu finden.

2

Vgl. https://cmsw.mit.edu/about vom 31.12.2018.

3

Vgl. https://cmsw.mit.edu/education/comparative-media-studies/masters vom 31.12.

4

Vgl. http://miamioh.edu/cas/academics/departments/mjf/academics/majors/comparati

5

Vgl. https://complit.cornell.edu/comparative-media-studies vom 31.12.2018.

2018. ve-media-studies/index.html vom 31.12.2018.

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Auch an europäischen Universitäten sind die CMS nur vereinzelt institutionalisiert und häufig entweder als Nebenfach (etwa an der Universiteit Utrecht6) oder auch als Modul innerhalb eines literaturkomparatistischen Studiengangs angesiedelt; so können beispielsweise Studierende der Goethe Universität Frankfurt im MA »Comparative Literature« den Schwerpunkt »Allgemeine und Vergleichende Medienwissenschaft/Comparative Media Studies« wählen.7 Unter den Bezeichnungen »Allgemeine und Vergleichende Medienwissenschaft« (Universität Regensburg) oder »Medienkulturanalyse« (Universität Düsseldorf) finden sich vielmehr ähnliche MA-Studiengänge mit dezidierten Schwerpunkten auf den »Medien des Wissens« respektive dem Zusammenhang von Medien und Kultur. Dementsprechend selten sind an deutschen Universitäten noch dezidierte Denominationen wie »Medienkomparatistik«,8 »Comparative Media Studies«,9 »Europäische Medienkomparatistik«,10 »Medienkulturgeschichte«11 oder »Medienökologie und Medienkomparatistik«.12 Bei der zunehmenden Vernetzung von internationalen WissenschaftlerInnen und Forschenden verschiedener Fachbereiche unter dem Begriff der »Medienkomparatistik« sind inzwischen zwei Organe hervorzuheben: So findet einerseits seit 2013 jährlich eine Konferenz unter dem Titel »Comparative Media Studies

6

Vgl. https://students.uu.nl/en/hum/comparative-media-studies vom 31.12.2018.

7

Vgl. http://www.uni-frankfurt.de/54511382 vom 31.12.2018.

8

So wird der Literatur- und Filmwissenschaftler Franz-Josef Albersmeier, von 1994 bis 2009 Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, geführt (vgl. [2004]: »Zu den Autorinnen und Autoren«, in: Lommel, Michael et al. (Hg.), Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld: transcript, S.327-331, hier S.327).

9

Eine solche Professur hat Gundolf S. Freyermuth seit 2014 an der Internationalen Filmschule (ifs) Köln inne (vgl. http://www.colognegamelab.de/institute/people/gun dolf-s-freyermuth vom 31.12.2018).

10 Diese Juniorprofessur existiert seit 2019 am Fachbereich Kunst- und Kulturwissenschaft der Universität des Saarlandes (vgl. http://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/nes selhauf vom 31.12.2018). 11 Seit seiner Berufung im Jahre 2008 hat Heiko Christians eine solche Professur an der Universität Potsdam inne (vgl. https://www.uni-potsdam.de/de/medienkulturgesch ichte vom 31.12.2018). 12 Unter dieser Denomination forscht und lehrt Evi Zemanek als Heisenberg-Professorin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (vgl. http://www.gepris.dfg.de/gepris/ projekt/406001614 vom 31.12.2018).

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in Today’s World«13 mit wechselnden Schwerpunktthemen in Sankt Petersburg statt; in Deutschland wurde bereits eine Zeitschrift im Bielefelder Aisthesis Verlag ins Leben gerufen, deren erste Ausgabe 2019 erscheinen soll. Doch von den nordamerikanischen CMS und den deutschen Ansätzen der »Medienkomparatistik« abgesehen, sind ähnliche Tendenzen in anderen Forschungskulturen – etwa eine »Comparatística de los medios« oder die »Études des médias comparés« – allerdings in dieser Form quasi noch nicht existent.

FORSCHUNGSGESCHICHTE (I): MEDIENTHEORIEN Wie die (Literatur-)Komparatistik als »Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft« beinhalten CMS und Medienkomparatistik nicht nur das etymologische Vergleichen (lat. comparare), sondern setzen immer auch ein allgemeines Verständnis des Forschungsbereichs generell voraus – schließlich lässt sich nur etwas vergleichen, wenn man diese Vergleichselemente für sich genommen kennt und versteht. Zu diesem grundlegenden »Werkzeugkasten« einer »Allgemeinen Medienwissenschaft« zählen vor allem • Fragen eines generellen Medienbegriffs, die sich genealogisch bis zu Platon

zurückverfolgen lassen; neuere (kommunikations- oder systemtheoretische, gesellschaftliche usw.) Ansätze liegen beispielsweise von Marshall McLuhan (»the medium is the message«)14 oder Niklas Luhmann vor; • die generellen Medientheorien, etwa mit Ansätzen zur Mediensemiotik (beispielsweise mit der Zeichentheorie von Ferdinand de Saussure oder Charles Peirce), prinzipiellen Untersuchungen zur Narratologie, Ästhetik und Ikonographie, Arbeiten zur Gattungs- und Genretheorie, Studien zur Produktion und Rezeption von Medien allgemein (etwa Walter Benjamin) oder zu Massenmedien als Kulturprodukten (u.a. Horkheimer/Adorno, Luhmann) usw.; • spezifische Einzelmedienontologien und Einzelmediengeschichten zu Roman und Drama, Radio und Film, Malerei und Skulptur etc., die sich theoretisch

13 Vgl. http://eng.jf.spbu.ru/comparative_media_studies vom 31.12.2018. 14 Der Originaltitel der 1967 erstmals erschienen Schrift lautet (mit dem übernommenen Druckfehler): The Medium is the Massage. An Inventory of Effects; McLuhan stellt diese These allerdings bereits zuvor in Understanding Media: The Extensions of Man (1964) vor.

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(etwa: Filmtheorie) und/oder historisch (etwa: Filmgeschichte) dem jeweiligen Mediendispositiv annähern; • überblickende Mediensystemtheorien, die darüber hinaus die techn(olog)ische Entwicklung einbeziehen und zeigen, dass die jeweiligen Einzelmedien »auf vielfältige Weise in ökonomische, politische, soziale und kulturelle Gegebenheiten eingebunden sind und auch auf diese einwirken«15; • Methoden der Einzelmedienanalyse, die je nach Medium beispielsweise Fragen der Narratologie oder der Ikonographie, der Ästhetik oder der Inszenierung, der Gattung oder des Genre umfassen können. Neben diesen Ansätzen, was ein Medium eigentlich sei, wie ein Einzelmedium funktioniere, sich historisch entwickelt habe und analysiert werden kann, stehen der Allgemeinen Medienwissenschaft zahlreiche Instrumentarien aus anderen Disziplinen (etwa der Ökonomie, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Psychologie, der Philosophie und Ethik usw.)16 sowie theoretische, in der Regel kulturwissenschaftliche Ansätze (etwa aus den »Gender Studies«, den »Postcolonial Studies« usw.) zur Verfügung. So kann beispielsweise Laura Mulveys feministische Theorie des »male gaze« 17 oder Edward Saids einflussreiches Konzept des »Orientalism« 18 zur Analyse bestimmter Inszenierungen (von Frauen im Verhältnis zur »männlichen«, respektive des »Fremden« im Verhältnis zur »westlichen« Betrachterperspektive) im filmischen, bildkünstlerischen oder literarischen Einzelmedium herangezogen werden. Dies konstituiert noch keinen Medienvergleich per se, doch erst mit diesem theoretischen Wissen zu Medientheorien – also Ansätze zum Medienbegriff und zu Einzelmedientheorien – wie auch mit darauf aufbauenden methodischen Ansätzen lässt sich ein solcher Vergleich von Medien oder Mediensystemen durchführen.

15 Thomaß, Barbara (2007): »Mediensysteme vergleichen«, in: Dies (Hg.): Mediensysteme im internationalen Vergleich, Konstanz: UVK, S.12-41, hier S.17. 16 Vgl. Faulstich, Werner (2002): Einführung in die Medienwissenschaft. Probleme, Methoden, Domänen, München: Fink, S.56f. 17 Mulvey, Laura (1999): »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Leo Braudy/ Marshall Cohen (Hg.): Film Theory and Criticism. Introductory Readings. Oxford: Oxford University Press, S.833-844. 18 Said, Edward (1994): Orientalism. London: Vintage.

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FORSCHUNGSGESCHICHTE (II): MEDIENVERGLEICH Der Vergleich unterschiedlicher Texte, Medien und Künste als eine Untersuchung der (an Michail Bachtin anknüpfend) »dialogischen« Beziehungen zwischen Texten, Medien und Künsten nimmt seinen Anfang in den späten 1960er Jahren mit dem literatur- und texttheoretischen Ansatz der Intertextualität als die »Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in ein anderes.«19 Indem die bulgarisch-französische Poststrukturalistin Julia Kristeva bereits für die Analysearbeit zwischen Zeichensystem und Zeichenmaterial unterscheidet,20 öffnet sie mit ihrem »weiten« Intertextualitätsbegriff den Übergang von einem rein intra-textuellen Verständnis zu einer vergleichenden Beschäftigung unterschiedlicher Medien. Da sowohl für Bachtin wie auch Kristeva mediale Transformationen zunächst keine Rolle spielen,21 findet in den 1980er Jahren (als nächster logischer Schritt und gerade aus den Einzelphilologien oder der literaturwissenschaftlichen Komparatistik heraus) ein verstärktes Nachdenken über den Medienwechsel statt, der teilweise zum Ansatz der »Intermedialität« erweitert,22 teilweise aber auch dezidiert weiter der Intertextualität zugerechnet wird.23 Andere Formulierungen wie beispielsweise »Text-Transfers«24 (Hess-Lüttich), »Code-Wechsel«25

19 Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt: Suhrkamp, S.69. 20 Vgl. ebd., S.69f. 21 Vgl. Müller, Jürgen E. (2009): »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte«, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. London: Turnshare, S.31-40, hier S.32. 22 Vgl. etwa Hansen-Löve, Aage A. (1983): »Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – am Beispiel der russischen Moderne«, in: Wiener Slawistischer Almanach 11, S.291-360. 23 Vgl. etwa Zander, Horst (1985): »Intertextualität und Medienwechsel«, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer, S. 178-196, hier S.178f. 24 Vgl. Hess-Lüttich, Ernest W. B. (1987): »Intertextualität und Medienvergleich«, in: Ders. (Hg.), Text Transfers. Probleme intermediale Übersetzung, Münster: Nodus, S.9-20, hier S.13. 25 Vgl. Hess-Lüttich, Ernest W. B. (1990): »Code-Wechsel und Code-Wandel«, In: Ders./Roland Posner (Hg.), Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag, S.9-23, hier S.14.

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(Hess-Lüttich/Posner) oder »Dialog der Texte«26 (Schmid/Stempel) spiegeln die Bandbreite der sich an den Diskussionen beteiligenden Disziplinen und zeigen die Pluralität der methodischen Beschäftigung, können sich letztlich in der Forschung aber nicht gegen den Begriff der »Intermedialität« durchsetzen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Intermedialität ist aber nicht nur eine Folge der regelrechten »media awareness«27 einer sich zunehmend digitalisierenden (und damit Mediengrenzen überschreitenden) Zeit, sondern eröffnet einen fruchtbaren Austausch zwischen den Künsten und Medien und trägt damit langfristig zur Etablierung der Medienwissenschaften bei. In der deutschsprachigen Forschung stehen vor allem Untersuchungen zu »Literaturverfilmungen« und Theateraufführungen als Paradebeispiel des Medienwechsels am Beginn der Auseinandersetzung zwischen »Literatur und anderen Medien« in Publikationen, Konferenzen und im universitären Curriculum, die ab den 1990er Jahren dann auch erstmals zum Begriff der »Medienkomparatistik«28 führen. Der Ruf nach einer (in der deutschsprachigen Forschung nahe an bzw. gar in der Tradition der Literaturkomparatistik verorteten) Medienkomparatistik als Forderung nach einer fundierten Beschäftigung und reflektierten Forschung geht zunächst einher mit der (teils polemischen) Kritik an einer inkonsistenten und falschen »Ideologie« im Vergleich unterschiedlicher Medien.29 Dies führte zur Diskussion von Gegenvorschlägen und der Entwicklung erster systematischer Methoden des »Medienvergleichs«,30 die – trotz einer nur auf ästhetischen Texten beschränkte Engführung – in ihrem Ansatz anerkannt gelobt werden.31 In der Folge nehmen sich zahlreiche Studien (häufig dezidiert unter dem Begriff der »Medienkomparatistik« und in Fallbeispielen, meist verknüpft mit me-

26 Vgl. Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (1983): »Vorwort«, in: Wiener Slawistischer Almanach 11, S.5-6. 27 Rajewsky, Irina O. (2002): Intermedialität. Tübingen: Francke, S.2. 28 Vgl. etwa Schaudig, Michael (1992): Literatur im Medienwechsel: Gerhart Hauptmanns Tragikomödie »Die Ratten« und ihre Adaptionen für Kino, Hörfunk, Fernsehen. Prolegomena zu einer Medienkomparatistik, München: Schaudig, Bauer, Ledig. 29 Vgl. exemplarisch etwa Faulstich, Werner (1982): Medienästhetik und Mediengeschichte. Mit einer Fallstudie zu »The War of the Worlds« von H.G. Wells, Heidelberg: Winter, S.49; vgl. auch ebd. S.46ff. 30 Vgl. für Faulstich ebd., S.53ff. 31 Vgl. Hess-Lüttich, Ernest W. B. (1989): »Intertextualität, Dialogizität und Medienkomparatistik: Tradition und Tendenz«, in: KODIKAS/CODE 12.1/2, S.191-210, hier S.207.

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thodischen Überlegungen) dem Medienwechsel oder dem Vergleich von literarischen Texten mit anderen Medien und Künsten (Film, Musik, Bildende Kunst usw.) wie auch der Analyse intermedialer Formen (Comic, Hörspiel, Oper etc.) an32 und tragen – ebenso wie ein erstes Handbuch-Lemma33 oder die selbstverständliche Aufnahme in ein Studienbuch zur Einführung in die Komparatistik (2012)34 – die Medienkomparatistik in die deutsche Forschungslandschaft. Der Vergleich als Methode Wenn in den vergangenen Jahren die Zahl der Publikationen mit dem Titel »Medienkomparatistik«/»medienkomparatistisch« nun signifikant gestiegen ist, spiegelt dies sicherlich eine gewisse »Konjunktur« medienvergleichender Forschung, doch bei einem genaueren Blick auf einige Arbeiten scheint dieses regelrecht inflationär und teils vereinfacht gebrauchte »Modewort« auch häufig eher beliebig verwendet zu werden.35 Dabei zählt der Vergleich als Analyse

32 Vgl. etwa Albersmeier, Franz-Josef (1992): Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Link-Heer, Ursula/Roloff, Volker (1994) (Hg.): Luis Buñuel. Film, Literatur, Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Paech, Joachim (1994): »Vorwort: Film und…«, in: Ders. (Hg.) Film – Fernsehen – Video und die Künste. Strategien der Intermedialität, Stuttgart: Metzler, S.1-6; Zima, Peter V. (1995): Literatur intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Krämer, Lucia (2003): Oscar Wilde in Roman, Drama und Film: Eine medienkomparatistische Analyse fiktionaler Biographien, Frankfurt: Peter Lang; Amodeo, Immacolata (2007): Das Opernhafte. Eine Studie zum »gusto melodrammatico« in Italien und Europa, Bielefeld: transcript; Hagen, Kirsten von/Hoffmann, Claudia (2007): »Intermedia. Aspekte einer medienkomparatistischen Forschungsperspektive«, in: Dies. (Hg.): Intermedia. Eine Festschrift zu Ehren von Franz-Josef Albersmeier. Bonn: Romanistischer Verlag, S.9-13; Poppe, Sandra (2007): Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 33 Schaudig, Michael (2002): »Medienkomparatistik«, in: Helmut Schanze (Hg.): Metzler Lexikon Medientheorie/Medienwissenschaft. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, Stuttgart: Metzler, S.223-225. 34 Vgl. Zemanek, Evi/Nebrig, Alexander (2012) (Hg.): Einführung in die Komparatistik. Berlin: Akademie, S.11f., S.56 und S.172. 35 Vgl. Abruf bei Google Scholar vom 31.12.2018; vgl. für eine Analyse der ebenfalls stark gestiegenen englischsprachigen Forschung Chan, Joseph M. (2017): »Research

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mindestens zweier Artefakte hinsichtlich eines Vergleichsaspekts (tertium comparationis) zur Untersuchung ihrer (formalen/strukturellen oder thematischen/inhaltlichen) Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den klassischen philologischen Arbeitsweisen der Geistes- und Kulturwissenschaften.36 Denn als beobachtende und positivistische Methode37 zählen (diachron oder synchron ausgerichtete) Vergleichsstudien von politischen, kulturellen, gesellschaftlichen, ökonomischen oder religiösen Systemen zu den Grundlagen eines historisch orientierten Erkenntniszugangs. Wissenschaftsgeschichtlich38 vollzog sich der Übergang von der empirischen Vergleichsforschung zum analytischen Textvergleich wohl nicht zuletzt auch – etwa mit Schriften von Max Müller und Max Weber – über die Religionswissenschaften, sodass die Literaturkomparatistik von jeher (in einer französischen Forschungstradition auch auf Deutschland übertragen)39 gerade die Verbindung zwischen unterschiedlichen (National-)Literaturen (unter-)suchte.

Network and Comparative Communication Studies. Practice and Reflections«, in: Ders./Francis L.F. Lee (Hg.): Advancing Comparative Media and Communication Research, New York: Routledge, S.241-256, hier S.241f. 36 Vgl. als (wissenschaftskomparatistischen) Überblick etwa den Sammelband von Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (2003) (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt: Campus. 37 Dementsprechend problematisch wäre ein wertender Vergleich, der als pseudowissenschaftliche Methode vorgeschoben, lediglich die vermeintliche ›Überlegenheit‹ eines der beiden Vergleichsobjekte konstatieren soll (vgl. dazu etwa auch Geulen, Christian (2018): »Wie unterschiedlich sind wir?«, in: Susanne Wernsing, Ders. und Klaus Vogel (Hg.): Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen, Göttingen: Wallstein, S.22-23). 38 Der Vergleich an sich ist natürlich ein kulturübergreifendes wie (für jeden von uns) alltägliches Verfahren, wird aber erst durch naturwissenschaftliche (aber auch linguistische) Vergleichsstudien des 19. Jahrhunderts zu einer wissenschaftlich fundierten und das eigene Vorgehen reflektierenden Methode (vgl. Haupt, Sabine (2013): »Komparatistiken: Allgemeine und Vergleichende Wissenschaften«, in: Rüdiger Zymner/Achim Hölter (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart: Metzler, S.329-336, hier S.329f.). 39 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Angelika (2013): Einführung in die Komparatistik, Berlin: Erich Schmidt Verlag, S.47ff.

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In einer solchen durchaus idealistisch ausgerichteten, völkerverbindenden Perspektive wird die Komparatistik zu einer »Beziehungswissenschaft«40, deren methodischem Hauptinstrumentarium des Vergleich(barmach)ens quasi keine Grenzen gesetzt sind. So finden sich inzwischen daran angelehnt beispielsweise ebenso die vergleichende Analyse von Kommunikationsprozessen,41 gar Ansätze einer »Kulturkomparatistik«42 – und schließlich der Medienvergleich. Medienvergleich Sicherlich ließe sich argumentieren, bereits die (»Allgemeinen«) Medienwissenschaften waren und sind in gewisser Weise immer schon komparatistisch orientiert, schließlich kann beispielsweise über die Filmgeschichte nicht ohne Kenntnis der Fotografie gesprochen werden, und ein Nachdenken über das Fernsehen bedarf etwa der Berücksichtigung von Film und Radio. Doch die komparatistisch ausgerichtete Medienwissenschaft interessiert sich vielmehr für ebenjene, häufig auch »Medientransfer« (Faulstich)43 oder »Transformationsanalyse« (Mundt)44 genannten Prozesse des Vergleich(en)s als Gegenüberstellung von mindestens zwei Objekten (nun eben: unterschiedlicher Medien). Die wohl »klassischste« (und für studentische Hausarbeitsthemen populärste) Form dürfte das Verhältnis zwischen Literatur und Film darstellen – aus dem Deutschunterricht als »Literaturverfilmung«45 bekannt: Der prinzipiell gleiche

40 Vgl. Schmeling, Manfred (2013): »Komparatistik als Beziehungswissenschaft«, In: Solte-Gresser, Christiane/Lüsebrink, Hans-Jürgen/Ders. (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutschfranzösischer Perspektive, Stuttgart: Steiner Verlag, S.51-61. 41 Blumler, Jay G./McLeod, Jack M./Rosengren, Karl Erik (1992) (Hg.): Comparatively Speaking. Communication and Culture across Space and Time, Newbury Park, CA: Sage. 42 Koh, Wee-Kong (2007): Intermedialität und Kulturkomparatistik. Beiträge zur vergleichenden ost-westlichen Literatur- und Kulturforschung, Bern: Peter Lang. 43 Vgl. W. Faulstich (2002): S.136. 44 Vgl. Mundt, Michaela (1994): Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung, Tübingen: Niemeyer. 45 Vgl. zum problematischen Begriff der ›Literaturverfilmung‹ einführend den Aufsatz von Hickethier, Knut (1989): »Der Film nach der Literatur ist Film. Volker Schlöndorffs ›Die Blechtrommel‹ (1979) nach dem gleichnamigen Roman von Günter Grass (1959)«, in: Franz-Josef Albersmeier/Volker Roloff (Hg.): Literaturverfilmungen. Frankfurt, S.183-198.

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Stoff liegt hier in zwei unterschiedlichen Medien vor, wobei der literarische Text keinesfalls immer das Ursprungsmedium sein muss. So ließe sich beispielsweise Jane Austens Roman Pride and Prejudice, im Jahre 1813 erstmals anonym erschienen, mit einer der zahllosen Verfilmungen (etwa dem britischen Film von Joe Wright von 2005 mit Keira Knightley und Matthew Macfadyen in den Hauptrollen) vergleichen. Auf die Einzelmedienanalyse (der Roman als Hypotext, der Film als dessen Transformation und damit Hypertext)46 folgt dann der mehrere Ebenen (Handlung und inhaltliche Schwerpunktsetzung, Raum und Figuren etc.) umfassende Vergleich, der aber, wie von der Forschung auch bereits früh gefordert,47 immer mit einer dezidierten Medienreflektion einhergehen muss. Die Erkenntnis, dass verschiedene Medien den gleichen Stoff sehr unterschiedlich darstellen (inszenieren, erzählen) können, mag banal klingen, bildet aber letztlich das Kernstück medienkomparatistischen Arbeitens. So befinden sich Hypotext und Hypertext zwar durchaus in einem »Wettbewerb«,48 doch sollte die Frage nach einer »werkgetreuen« Umsetzung eher in den Hintergrund treten. Stattdessen interessiert sich die Medienkomparatistik für »die Transformationsästhetik, d.h. das Spektrum der makro- und mikrostrukturellen Invarienz und Variantenbildung, die in der Referenz des Zieltextes auf seinen Ausgangstext Kategorien der Wiedererkennbarkeit und Innovation, der Unverzichtbarkeit und Verzichtbarkeit vorstrukturierter Phänomene erkennen lassen.«49

Gerade aber ein solcher Fokus auf die »ästhetischen Eigenwerte«50 der gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Medien schärft überhaupt erst den Blick für die jeweiligen Darstellungsmittel und ermöglicht eine solide medienkomparatistische Transformationsanalyse.

46 Vgl. Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt: Suhrkamp, S.14f. 47 Vgl. E.W.B. Hess-Lüttich (1989): S.207. 48 Dies betrifft nicht nur die ›inhaltliche Umsetzung‹, sondern ebenso die ›Stellung‹ des Mediums, wurde doch beispielsweise bei ›Literaturverfilmungen‹ das audiovisuelle Medium des Films lange als dem literarischen Text ›untergeordnet‹ betrachtet. 49 M. Schaudig (2002): S.224. 50 Vgl. Maiwald, Klaus (2015): Vom Film zur Literatur. Moderne Klassiker der Literaturverfilmung im Medienvergleich, Stuttgart: Reclam, S.9.

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Thematologie Die Thematologie – in der Literaturkomparatistik früher auch »Stoff- und Motivgeschichte« genannt – setzt den Vergleichsaspekt durch eine gezielte Systematisierung und Kategorisierung als eine Sammlung von vergleichbaren Themen, Motiven und Stoffen prinzipiell unendlich fort. Das Beispiel zuvor aufgreifend, kann der Roman Pride and Prejudice nicht nur mit einer der vielen Verfilmungen verglichen, sondern ebenso in Zusammenhang mit weiteren Filmfassungen gesetzt werden, wodurch sich eine filmische Stoffgeschichte schreiben ließe. Doch ein solch populärer Text zieht natürlich unzählige Adaptionen in anderen Medien nach sich – und so liegt die basale Handlung über eine junge Frau mit zu vielen Vorurteilen und einen jungen Mann mit zu viel Stolz längst auch als Comic und Manga, als Theaterstück und Musical, als Hörspiel und Fernsehserie, als Computerspiel und »Groschenroman«51 vor und kann, erneut unter Berücksichtigung der jeweiligen medialen Eigenschaften und Eigenheiten, in Verbindung zum Hypotext gebracht werden. Die Suche nach weiteren Transformationen des klassischen Pride and Prejudice-Stoffes lässt sich natürlich fast beliebig medien-, gattungs-, sprach- und gar kulturübergreifend erweitern und wird – wie auch bereits bei der Literaturkomparatistik – lediglich durch die »Grenzen« des Forschenden limitiert, der über die nötigen Kenntnisse der jeweiligen Medien, Gattungen, Sprachen und Kulturen verfügen muss.52 Doch gerade angesichts dieser positivistischen »Sammelwut« dürfte die Thematologie der »Albtraum« eines jeden Einzelphilologen sein, tritt die intensive Beschäftigung mit dem einzelnen Werk nun klar in den Hintergrund. Dafür jedoch eröffnen sich neue Perspektiven und Erkenntnisse, und so lässt sich durch eine solche medienkomparatistische Thematologie entweder ein historischer Längsschnitt erstellen, der in diachroner Perspektive nun beispielsweise auffällige »Konjunkturen« in der Popularität von Jane Austens Roman sichtbar werden lässt. Umgekehrt zeigt der Querschnitt an einer bestimmten Stelle der Literatur- und Mediengeschichte im Vergleich die Pluralität der künstlerisch-medialen Beschäftigung mit dem gleichen Stoff, Motiv oder Thema.53

51 In diesem Zusammenhang sei exemplarisch auf den – inzwischen auch verfilmten – Roman Pride and Prejudice and Zombies (2009) von Seth Grahame-Smith hingewiesen. 52 Vgl. A. Corbineau-Hoffmann (2013): S.50. 53 Vgl. Frenzel, Elisabeth (1974): Stoff- und Motivgeschichte. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S.142ff.

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Transmedialität und »Media Convergence« Erweitert man den Einzelmedienbegriff zum inzwischen gängigen Mediendispositiv, eröffnen sich weitere Vergleichsmöglichkeiten, die nun beispielsweise ebenso Technik und Funktion, Geschichte und Produktion, Distribution und Rezeption umfassen. Der komparatistische Blick liegt nun also nicht auf der medialen Darstellung des vergleichbaren Motivs oder Stoffs, sondern fragt vielmehr auf der übergeordneten Ebene nach den Eigenschaften und Merkmalen. Dies ermöglicht etwa die Untersuchung gemeinsamer Elemente einer Ästhetik der Bildenden, Visuellen und Darstellenden Künste oder auch die Suche nach übergreifenden und quasi »universellen« (daher: transmedialen)54 Strukturen, beispielsweise in der Narration unterschiedlicher Medien.55 Solche Fragen können dann beispielsweise einen fruchtbaren Austausch der einzelnen Medien(dispositive) sichtbar machen, die sonst verborgen oder kaum nachvollziehbar bleiben würden. Andererseits zeigt sich durch einen vergleichenden Blick auf transmediale Prozesse, dass die Mediengrenzen keinesfalls hermetisch sind, sondern vielmehr als durchlässig und gar anschlussfähig verstanden werden müssen. Das gerade in den vergangenen Jahren stark gestiegene Interesse an einem »transmedia storytelling« spiegelt dieses regelrechte »Auflösen« der Mediengrenzen: So belassen es zahlreiche Film- oder Fernsehproduktionen nicht mehr dabei, die Geschichte in »nur« einem Medium zu erzählen, sondern erzeugen und kombinieren »multiple delivery channels for the purpose of creating a unified and coordinated entertainment experience.«56 Dadurch generieren zusätzliche Bücher, Web-Clips, Internetseiten, Brettspiele, mobile Apps, letztlich aber auch eine Vielzahl von Merchandising-Produkten ein transmediales »Universum«, wodurch der Rezipient deutlich stärker (ein)gebunden wird.57

54 Die Transmedialität kennt streng genommen weder Hypo- noch Hypertext und widmet sich ›medienunspezifischen Wanderphänomenen‹ ohne konkretes und kontaktgebendes Ursprungsmedium (vgl. I.O. Rajewsky (2002): S.12f.). 55 Vgl. etwa Ryan, Marie-Laure (2004) (Hg.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln, NE: Nebraska University Press. 56 So die vielfach zitierte Definition des Medienwissenschaftlers Henry Jenkins auf seinem (Mediengrenzen überwindenden) Internetblog (vgl. www.henryjenkins.org/blog/ 2007/03/transmedia_storytelling_101.html vom 31.12.2018). 57 Vgl. zu einer solchen partizipativen (Medien-)Kultur einführend Jenkins, Henry (2013): Textual Poachers. Television Fans and Participatory Culture, New York: Routledge sowie Biermann, Ralf/Fromme, Johannes/Verständig, Dan (2014) (Hg.):

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Und gerade das Breitband-Internet befördert diese Konvergenz als systematische Verbindung unterschiedlicher Medien mit und in sozialen Netzwerken: Plattformen wie MySpace, Facebook, Wordpress, Snapchat, WhatsApp oder Instagram werden längst auch gezielt von Institutionen der ›Hochkultur‹ genutzt 58 – und ›verschmelzen‹ inzwischen selbst miteinander.59 Denn durch die Fusion multinationaler Konzerne verbinden sich auch deren Produktpaletten, etwa nach dem Zusammenschluss von AOL und Time Warner (2000), NBC und Universal (2004) oder Fox und Disney (2018). Die zahlreichen unter dem Begriff der »media convergence« gefassten Phänomene sind daher nicht mehr nur als »flow of content across multiple media platforms« zu verstehen, sondern umfassen ebenso die »cooperation between multiple media industries.«60

FORSCHUNGSGESCHICHTE (III): VERGLEICHENDE MEDIENKULTURGESCHICHTE Betrachtet man die (vielseitige, aber noch recht übersichtliche) Forschungsgeschichte der deutschen Medienkomparatistik, fällt auf, dass schon früh Wünsche an diesen interdisziplinären Arbeitsbereich herangetragen wurden, bevor er überhaupt in Studiengängen oder Lehrstühlen institutionalisiert war. Der »grenzüberschreitende Blick«61 über Sprachen und Medien, aber auch Disziplinen hinaus sollte in den frühen 1980er Jahren die »eingestaubte« Literaturkomparatistik aktualisieren, verbunden mit der Hoffnung am Ende des Jahrzehnts auf eine generelle »Wiederannäherung textwissenschaftlicher Teildisziplinen.«62 Inzwischen verspricht man sich von der Medienkomparatistik eine Systematisierung,

Partizipative Medienkulturen. Positionen und Untersuchungen zu veränderten Formen öffentlicher Teilhabe, Wiesbaden: Springer. 58 Vgl. beispielsweise YouTube-Kanäle, Instagram-Accounts oder Facebook-Seiten von Theatern und Museen (wie beispielsweise dem Museum of Modern Art, dem Thalia Theater oder der Londoner Tate) oder Mediathek-Apps von Kultursendern wie Arte und 3sat; gleiches gilt inzwischen auch für interaktive Nachrichten-Apps (etwa der ARD-Tagesschau oder Zeitungen wie dem Guardian oder der New York Times). 59 Vgl. etwa die Übernahmen von Google/Picasa (2004), Yahoo/Flickr (2005), Facebook/Instagram (2012) oder Facebook/WhatsApp (2014). 60 Vgl. Jenkins, Henry (2006): Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York: New York University Press, S.2. 61 W. Faulstich (1982): S.53. 62 E.W.B. Hess-Lüttich (1989): S.207.

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aber auch die Erweiterung zu einer »echte[n] Intermedialitätsforschung, die sich nicht auf einen singulären Medienvergleich reduzieren ließe und stattdessen die Medienphänomene und die konstitutive Leistung von Medien für die Wirklichkeitsauffassung einer Kultur insgesamt erfassen könnte.«63 Dies wird möglich durch eine Anknüpfung an die nordamerikanischen Forschungsansätze, wo mit einer stärker etablierten Medienwissenschaft neue Arbeitsfelder wie die bereits vorgestellten »Comparative Media Studies«, aber etwa auch die »Comparative Art Studies« oder die »Interart Studies« dezidiert einen medien- und »kunstübergreifenden«64 Vergleich befördern. Denn ein solcher Vergleich von Kunst- und Mediensystemen bringt immer auch die beteiligte(n) Kultur(en) mit ins Spiel65 und lässt die Medienkomparatistik in einem kulturwissenschaftlichen Zusammenspiel zu einer »Vergleichenden Medienkulturgeschichte« erwachsen. Konnte die Thematologie zuvor beispielsweise auffällige Häufungen in diachroner Perspektive feststellen, fragt die Medienkulturgeschichte nun nach dem (kultur- und medien-)geschichtlichen Zusammenhang dahinter. Denn natürlich ist es kein Zufall, dass es vor der Jahrtausendwende einen regelrechten ›Boom‹ von Katastrophen- und Endzeitgeschichten im Medium Film gab 66 oder der weibliche Ehebruch im Roman des Realismus zu einem quasi ›universellen‹ Thema wurde.67

63 Jahraus, Oliver (2013): »Medienwissenschaft«, in: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2: Methoden und Theorien, Stuttgart: Metzler, S.402-409, hier S.403. 64 Schmitt, Ansgar (2001): Der kunstübergreifende Vergleich. Theoretische Reflexionen ausgehend von Picasso und Strawinsky, Würzburg: Königshausen & Neumann. 65 Vgl. etwa die einflussreiche Studie von Hallin, Daniel C./Mancini, Paolo (2004): Comparing Media Systems. Three Models of Media and Politics, Cambridge: Cambridge University Press. 66 Diese ›Angst‹ vor dem Millennium durch das (selbst kriselnde) Hollywood spiegelt sich beispielsweise in Outbreak (1994), Waterworld (1995), Independence Day (1996), Twister (1996), Dante’s Peak (1997), Volcano (1997), Armageddon (1998), Deep Impact (1998) oder Godzilla (1998). 67 Daher sind Romane wie Gustave Flauberts Madame Bovary (1856), Lev Tolstois Anna Karenina (1877/8), José Maria Eça de Queiroz’ O primo Basílio (1878), Claríns La regenta (1885), Benito Pérez Galdos’ Fortunata y Jacinta (1886/87), Theodor Fontanes Effi Briest (1895) oder Kate Chopins The Awakening (1899), die weibliche Entfaltungsmöglichkeiten im patriarchalen ›Machtraum‹ der Ehe am radikalen Thema des

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Eine solche interdisziplinäre Verklammerung von Medien- und Kulturgeschichte in vergleichender Dimension erscheint ungemein fruchtbar; so können, aus und mit einer kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus, etwa Medien als kulturelle Artefakte verstanden werden, in denen Probleme, Diskussionen und diskursive Wandlungsprozesse einer bestimmten Epoche verhandelt werden, und die wiederum selbst in andere Diskurse hineinwirken. Eine ›Vergleichende Medienkulturgeschichte‹ verbindet damit Ansätze genuin eigenständiger (medien-) philologischer Forschungsfelder68 mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und fragt nach dem (teilweise reziproken) Verhältnis zwischen (Einzel-)Mediengeschichte und politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, religiösen Strukturen.

HERAUSFORDERUNGEN UND POTENTIALE EINER »EUROPÄISCHEN MEDIENKOMPARATISTIK« Der Philosoph Isaiah Berlin unterscheidet in einer ideengeschichtlichen Schrift von 1953 zwischen ›Fuchs‹ und ›Igel‹: »›Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.‹«69 Diese Kategorisierung, ein Fragment des antiken Dichters Archilochos aufgreifend, ist so vereinfacht wie anschaulich: Denn während der Igel »alles auf eine einzige, zentrale Einsicht […], ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip« bezieht, verfolgt der Fuchs »viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele.«70 Ohne jeden Zweifel sind (Medien-)Komparatisten als Füchse im besten Sinne des Wortes (bzw. dieses Konzepts) zu verstehen, die breitgestreut suchen und leidenschaftlich sammeln, dabei spannenden Zusammenhängen nachspüren und fruchtbare Verbindungen herstellen, und sich – ausgestattet mit einem soliden Methoden- und Theoriewerkzeugkasten, von disziplinären Grenzen nicht aufhalten lassen. Für das Profil einer »Europäischen Medienkomparatistik« bedeutet

Ehebruchs verhandeln, etwa vor dem Hintergrund feministischer Emanzipationsbewegungen zu lesen. 68 Dazu zählen etwa die Literaturwissenschaft (sowohl Einzelphilologien wie auch die Literaturkomparatistik) und die Sprachwissenschaft, die Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Theaterwissenschaft, die Medienwissenschaft, Filmwissenschaft und Game Studies. 69 Berlin, Isaiah (2009): Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis, Frankfurt: Suhrkamp, S.7. 70 Ebd., S.7.

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dies konkret, anknüpfend an die zuvor vorgestellten Arbeitsfelder: Mit einem medienwissenschaftlichen Grundverständnis (vgl. Kap. 3 zuvor) und einem reflektierten Bewusstsein über den Vergleich als Methode (Kap. 4.1) als solides Fundament ergeben sich mit den Forschungsbereichen des Medienvergleichs (Kap. 4.2), der Thematologie (Kap. 4.3) sowie der Transmedialität und Medienkonvergenz (Kap. 4.4) quasi drei Säulen, die das übergreifende ›Dach‹ einer vergleichenden Medienkulturgeschichte in dezidiert europäischer Perspektive (Kap. 5) tragen. Diese Einschränkung auf eine ›europäische‹ Dimension mag angesichts der Offenheit einer Medienkomparatistik verwundern und als willkürlicher ›Eurozentrismus‹ kritisiert werden, kann aber umgekehrt helfen, den Blick zu schärfen – was gerade bei einem bisher kaum etablierten Forschungsfeld zunächst sehr hilfreich sein dürfte. Denn einerseits steht die hier vorgestellte Medienkomparatistik wissenschaftstheoretisch deutlich in einer europäischen Tradition der Literaturkomparatistik, erweitert um plurimediale Fragen, und orientiert sich weniger an den nordamerikanischen CMS. Gleichzeitig lässt sich so ein klar umrissenes Profil entwickeln, schließlich würde eine ›globale Medienkomparatistik‹ auch Kenntnisse der afrikanischen, asiatischen, amerikanischen oder ozeanischen Kulturen und Sprachen bedürfen. Und ohnehin sind ›Ausflüge‹ über die Grenzen Europas nicht ausgeschlossen – und der Fuchs darf sich (ein fundiertes Verständnis vorausgesetzt) ebenso Hollywood oder Bollywood, Mangas oder Ghasele, Ndops oder Mimihs, der grupo Boedo oder dem K-pop widmen.

LITERATUR Albersmeier, Franz-Josef (1992): Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Amodeo, Immacolata (2007): Das Opernhafte. Eine Studie zum »gusto melodrammatico« in Italien und Europa, Bielefeld: transcript. Berlin, Isaiah (2009): Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis, Frankfurt: Suhrkamp. Biermann, Ralf/Fromme, Johannes/Verständig, Dan (2014) (Hg.): Partizipative Medienkulturen. Positionen und Untersuchungen zu veränderten Formen öffentlicher Teilhabe, Wiesbaden: Springer. Blumler, Jay G./McLeod, Jack M./Rosengren, Karl Erik (1992) (Hg.): Comparatively Speaking. Communication and Culture across Space and Time, Newbury Park, CA: Sage.

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Überschreitungen und Entgrenzungen durch ›Datafizierung‹: ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch Christian Filk Die nächste Gesellschaft ist ein Netzwerk, in dem sich verschiedene Netzwerke ausdifferenzieren und reproduzieren. Singular und Plural sind gleichermaßen berechtigt. Man kann von einem selbstähnlichen Differenzierungsmuster sprechen, das auf lokaler und situativer Ebene wiederholt beziehungsweise vorgibt, was auf der generalisierten Ebene der Gesellschaft als Material und Medium für jeden spezifischen Versuch zur Verfügung steht.1 Dirk Baecker

HINFÜHRUNG Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns inmitten tiefgreifender, ambivalenter Transformationsprozesse von der überkommenen Industrie- hin zu der

1

Baecker, Dirk (2018): 4.0 oder: Die Lücke, die der Rechner lässt, Berlin: Merve, S.4344.

62 | Christian Filk

heraufziehenden Netzwerkgesellschaft.2 In affirmativen Selbstbeschreibungen werden die Strukturen und Prozesse der Netzwerkgesellschaft in erster Linie durch Bildung und Wissen sowie soziale und mediale Teilhabe ermöglicht. 3 Eine positiv wahrgenommene Gegenwart respektive eine optimistisch erwartete Zukunft hängen demnach entscheidend davon ab, ob und inwieweit es gelingt, die Menschen auf den Pfad in die komplexe, widersprüchliche Netzwerkgesellschaft zu begleiten und demokratische Mitgestaltungsangebote zu schaffen. Es gilt, die technische und ökonomische Konvergenz mit der sozialen und kulturellen Transformation zu vermitteln. Nach diesem Verständnis meinen Partizipation, Diversität und Inklusion mitnichten Vorschrift und Indienstnahme, sondern vielmehr Aneignung und Mitgestaltung. Eine stillschweigende technizistische und/oder ökonomistische Vereinnahmung der Prosumer*innen (Wortneuschöpfung aus Produzent*innen und Konsument*innen) konfligiert mit dem Leitbild einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, die de facto ein Multioptionsversprechen für alle Menschen suggeriert.4 Technizistisch-ökonomistisches Entwicklungskalkül Eingedenk dessen ist allerdings zu vergegenwärtigen, dass die postindustrielle Gesellschaft, so Jean-François Lyotard, durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet ist: den »Aufschwung der Techniken und Technologien« sowie die »Wiederentfaltung des liberalen [...] Kapitalismus«5. Mit einem ähnlich gelagerten Tenor konstatiert Ulrich Beck: »Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardisierung. [...] Die entstehenden Individuallagen sind durch und durch (arbeits[-])marktabhängig.«6 Die vorläufige Sum-

2

Vgl. Castells, Manuel (2001): Das Informationszeitalter. Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur. Teil 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen: Leske + Budrich, S.527-536.

3

Vgl. Filk, Christian (2019): »›Onlife‹-Partizipation für alle! – Plädoyer für eine inklusiv-digitale Bildung«, in: Olaf-Axel Burow (Hg.), Schule digital – wie geht das? Wie die digitale Revolution uns und die Schule verändert, Weinheim: Beltz, S.62-82, hier S.63-64.

4

Vgl. Gross, Peter (1994): Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.303-362.

5

Lyotard, Jean-François (1993): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passa-

6

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,

gen, S.112. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.210.

Überschreitungen und Entgrenzungen durch ›Datafizierung‹ | 63

me des technizistisch-ökonomistischen Entwicklungskalküls zieht Byung-Chul Han Jahre später: »Der neoliberale Imperativ zur Selbstoptimierung dient allein einem perfekten Funktionieren im System. […] Keine Sorge um das gute Leben treibt die Selbstoptimierung voran. Ihre Notwendigkeit ergibt sich allein aus systemischen Zwängen, aus der Logik des quantifizierbaren Markterfolgs.«7

Die nachindustrielle Gesellschaft, Wirtschaftsform, Wissensordnung und Kulturdefinition sondieren neue Gesellschaftskonzepte, Leitmedien und Kommunikationskulturen.8 In Anbetracht von datengetriebenen soziokulturellen, -politischen, -ökonomischen, -technischen und -ethischen Überschreitungen und Entgrenzungen von Individuen und Kollektiven drängt sich die Frage nach der Funktion und Relevanz einer Europäischen Medienkulturwissenschaft im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch auf,9 vor allem wenn man dieser ein spezifisch emanzipatorisches Aufklärungsmandat zubilligt (oder zumindest attestieren möchte).10 Wissensproduktion als Selektion und Struktur In einer wissenschaftshistorischen Abhandlung schreibt Wolfgang Krohn: »[...] Wissenschaft [ist; C. F.] immanent und explizit eine Geschichte konstruierende

7

Han, Byung-Chul (2015): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttech-

8

Vgl. Giesecke, Michael (2002): Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der

niken, Frankfurt am Main: Fischer, S.43. Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.331-454, hier S.366-367. 9

Das emblematisch verdichtete Label ›Europäische Medienwissenschaft‹ ist beispielsweise zu finden in den Titeln der gleichlautenden Bachelor- und Master-Studiengänge von Universität und Fachhochschule Potsdam. Vgl. dazu die Website der Studiengänge https://www.emw.eu/studium_allg_studiengang.php vom 26.08.2019.

10 Der grenzüberschreitende Auftrag einer modernen kulturwissenschaftlichen Forschung besteht laut Frühwald, Wolfgang et al. (1991): »Einleitung«, in: Wolfgang Frühwald et al.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.7-14, hier S.11, darin: »ihren genuinen Beitrag zum Problem einer Reintegration der technologischen Zivilisation in die gesellschaftliche Kultur der Zukunft zu leisten, etwas, das im gegenwärtigen Dialog aller Disziplinen wohl das Vordringlichste ist.«

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Tätigkeit [...], die ihre eigene Fortsetzung nur finden kann, weil sie ihre Herkunft ausweist.«11 Trifft diese These zu, woran, glaube ich, kein Zweifel besteht, so führt diese Perspektivierung unmittelbar ins Zentrum der Diskussion um eine ›Europäische Medienwissenschaft‹ oder vielleicht präziser: eine ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹,12 um die es nachstehend gehen soll. An gleicher Stelle führt Krohn weiter aus: »Wissensproduktion ist […] gegenüber ihrer eigenen Geschichte immer in zweifacher Weise erzählend: selektiv und strukturbildend.«13 Somit richtet sich das Augenmerk potenzialiter auf, systemtheoretisch gesprochen,14 historische und semantische (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-) Beschreibungen einer ganzen Reihe von Bezügen: ›Europa‹ – ›Medien‹ – ›Kultur‹ – ›Wissenschaft‹. Mithin lässt sich fragen: Woher, wie, wofür und warum lässt sich genealogisch respektive evolutionär eine ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ herleiten und begründen (oder auch nicht)? Was sind, formuliert man es konventionell wissenschaftstheoretisch, ihre Erkenntnisinteressen und Forschungsgegenstände beziehungsweise Formal- und Materialobjekte?15 Ohne der Debatte an dieser Stelle vorgreifen zu wollen, entsteht unweigerlich der Eindruck: Der Diskurs um die in Rede stehenden Komplexe gleicht

11 Krohn, Wolfgang (1993): »Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft. Zu einer Historiographie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main: Fischer, S.271-290, hier S.275 (Hervorhebung im Original). 12 Zum aktuellen Spektrum medienkulturwissenschaftlicher Entwürfe vgl. Schmidt, Siegfried J. (2014): Kulturbeschreibung – Beschreibungskultur. Umrisse einer Prozess-orientierten Kulturtheorie, Weilerswist: Velbrück, S.148-166; Ziemann, Andreas (Hg.) (2018): Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Berlin/Heidelberg: Springer sowie Ruf, Oliver (2020): Medienkulturwissenschaft. Eine Einführung, Berlin/Heidelberg: Springer [im Erscheinen]. 13 W. Krohn (1993): S.275. 14 Vgl. Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 113. 15 Vgl. zudem Schmidgen, Henning (2013): »Cyborg Visions. Über eine Konfiguration zwischen Historischer Epistemologie, Wissenschaftsforschung und Medienwissenschaft«, in: Astrid Deuber-Mankowsky/Christoph F. E. Holzhey (Hg.): Situiertes Wissen und regionale Epistemologie. Zur Aktualität Georges Canguilhems und Donna Haraways, Wien: Turia + Kant, S.51-85 und Steininger, Christian/Hummel, Roman (2015): Wissenschaftstheorie der Kommunikationswissenschaft, Berlin: de Gruyter, S.99-144.

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weithin einer Gemengelage. Versucht man, sich einen ersten kursorischen Überblick zu verschaffen, so stoßen aufmerksame Beobachter*innen auf eine ganze Reihe ideologisch, ideell, normativ oder sonst wie semantisch aufgeladener Konstrukte. In dem untersuchungsleitenden Begriff ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ formieren sich spezifische Forschungsfragen, welche – wie auch immer zu verstehende – identifikatorische Verweisüberschüsse mit sich führen. Dabei könnte sich eine solche Formation eine große Bandbreite von Untersuchungsgegenständen zu Eigen machen: angefangen bei der europäischen Medienlandschaft und Medien in Europa über Medienpolitik und (De-)Regulierung in der Europäischen Union (EU) bis hin zur Europäisierung der Medien und ihrer Institutionen.16 ›Medial Turn‹ der Kulturwissenschaften Der Umstand, dass ›Mediales‹ und/oder ›Medialität‹, gefolgt von ›Digitales‹/›Digitalität‹ in der Zwischenzeit zu paradigmatischen Topoi in mannigfaltigen Disziplinen und Diskursen avanciert sind, suspendiert allen voran die qualitativ-deskriptive, hermeneutisch-interpretative und historisch-ästhetische Medienforschung, zumeist in der Selbstbeschreibung als Medienwissenschaft (mehr als die quantitativ-empirische, analytisch-funktionale und tatsachen- und sozialwissenschaftliche Medienforschung, in der Regel in der Selbstbeschreibung als Kommunikationswissenschaft), von ihrem ›Frontposten‹ als ›avantgardistischer Disziplin‹. Zuvor vielerorts um die Legitimität ihres Gegenstandsbereiches ringend und diesen den hergebrachten Zuständigkeitsansprüchen etablierter Disziplinen mühsam abtrotzend, sieht sich die Medienwissenschaft nunmehr – als zumindest teilautonomisiert – wiederum in Frage gestellt: Im Zuge des oft zitierten Medial Turns der Kulturwissenschaften17 sind aufs Neue Zuständigkeitsbereiche auszuhandeln und Alleinvertretungsansprüche zu begründen. Und im Zusammenhang jener kurrenten intra- und/oder interdisziplinären Evolutions- und Ausdifferenzierungsprozesse18 wird (auch) eine Europäische Medienkulturwissenschaft auf die Agenda der sich reformierenden kulturwissenschaftlichen Diskurse gesetzt.

16 Vgl. Williams, Kevin (2005): European Media Studies, London: Hodder Arnold. 17 Vgl. Weber, Stefan (Hg.) (1999): Medial Turn. Die Medialisierung der Welt, Innsbruck/Wien: Studien Verlag. 18 Vgl. Leonhard, Joachim Felix et al. (Hg.) (1999/2001/2002): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin/New York: de Gruyter.

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Der vorliegende Aufsatz intendiert, sich den konzeptuell-programmatischen Anforderungen und Herausforderungen der (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-) Beschreibungen einer Europäischen Medienkulturwissenschaft offensiv zu stellen.19 Dabei wird kaum jemand den Umstand ernsthaft bestreiten wollen, dass sich Formationen von ›Medien-‹/›Medienkulturwissenschaft(-en)‹ in der Wissens- und Wissenschaftshistorie als formal definierte, institutionalisierte und curricularisierte Gegenstände akademischer Forschung und Lehre jüngeren Datums ausnehmen.20 Die klassischen Fakultätenlogiken, ihre heteronomen fachlichen Selbst- und Fremdbeobachtungen sowie Selbst- und Fremdbeschreibungen inbegriffen, vermögen entsprechende Rekapitulationsbemühungen einer weiter zurückreichenden Genealogie nur wenig zu befördern. Denn gerade eine Europäische Medienkulturwissenschaft mit ihren vielfältigen Hin- und Ansichten aus einem binnendisziplinären Wahrnehmungshorizont heraus beschreiben zu wollen, würde auf der einen Seite zwar bedeuten, einen bestimmten fachlichen Standpunkt – mehr oder weniger – korrekt und konsistent zu (re-)produzieren. Auf der anderen Seite würde dies allerdings auch heißen, den neuen komplexen inter-, multi- und/oder transdisziplinären Entwicklungen nur in unzulänglicher Weise Tribut zu zollen.21 Narrativ ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ Allein das Narrativ ›Europäische Medienkulturwissenschaft‹ nimmt sich als solches als ein äußerst spannendes Projekt aus. Die Komplexität der Betrachtung steigt insoweit, als dass die Reflexion Konstituenten einer Europäischen Medienkulturwissenschaft im digitalen Gesellschaftsumbruch in den Fokus nimmt. Antizipiert man ›gesellschaftliche Evolution‹ als eigenes Vehikel, so fungieren

19 Zu bisherigen Entwicklungslinien und konzeptuellen Fundamenten einer möglichen künftigen Medienkulturwissenschaft vgl. Schmidt, Siegfried J. (2003): »Medienkulturwissenschaft«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Berlin/Heidelberg: Springer, S.351-369, hier S.351-354. 20 Vgl. etwa Viehoff, Reinhold (2002): »Von der Literaturwissenschaft zur Medienwissenschaft. Oder: vom Text über das Literatursystem zum Mediensystem«, in: Gebhard Rusch (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S.10-35 sowie Filk, Christian (2009): Episteme der Medienwissenschaft – Systemtheoretische Studien zur Wissenschaftsforschung eines transdisziplinären Feldes, Bielefeld: transcript, S.171-189. 21 Vgl. C. Filk (2009): S.171.

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mitunter digitale Kodierungen, Kalküle, Kommunikate und Performanzen ihrerseits erzählend, sprich: selegierend und strukturbildend durch, in und für Wissen, wissenschaftlichem/wissenschaftliches Wissen und schließlich Wissenschaft in der Netzwerkgesellschaft im Allgemeinen und in Netzwerken im Besonderen.22 Nach jüngsten gesellschaftstheoretischen Modellen gehen damit, bedingt durch wirkmächtige Modernisierungsdynamiken und Innovationsverdichtungen, hoch komplexe Veränderungsprozesse in allen Lebensbereichen und Handlungsfeldern einher.23 Diese thematischen Konstellationen sind nicht allein intellektuell und theoretisch von Interesse, sondern vielmehr ebenso von lebensweltlicher und praktischer Relevanz, nicht zuletzt wenn man auf die Phänomenologie von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz, Big Data, algorithmischer Relevanzberechnung, Deep Learning, semantischen Technologien usf. in Europa abstellt.24

22 Vgl. zu informationsverarbeitenden Systemen wissenschaftlichen Wissens auch Filk, Christian (2010): Logistik des Wissens – Integrale Wissenschaftsforschung und Wissenschaftskommunikation, Siegen: universi, S.148-158. 23 Vgl. komplementär Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp, S.44: »Moderne Gesellschaften […] sind zum einen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen; sie sind strukturell auf fortgesetzte Steigerung vermittels Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angelegt, und dies erzeugt nicht nur eine zeitliche und räumliche Eskalationstendenz, welche die Möglichkeitshorizonte immer aufs Neue hinausschiebt, sondern es führt auch dazu, dass die kinetische Energie oder die Transformationsenergie der Gesellschaft hoch bleibt: die ›Weltpositionen‹ der Subjekte, aber auch der Institutionen und Organisationen verändern und verschieben sich fortwährend.« 24 Vgl. mit unterschiedlichen Hintergründen Mainzer, Klaus (2014): Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München: Beck; Kurzweil, Ray (2016): Die Intelligenz der Revolution. Wenn Mensch und Computer verschmelzen, Köln: Kiepenheuer & Witsch; Tegmark, Max (2017): Leben 3.0. Mensch im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, 3. Aufl., Berlin: Ullstein; Lovink, Geert (2017): Im Bann der Plattformen. Die nächste Runde der Medienkritik, Bielefeld: transcript; Mau, Steffen (2017): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp sowie Daum, Timo (2019): Die künstliche Intelligenz des Kapitals, Hamburg: Edition Nautilus.

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SOZIALSYSTEM WISSENSCHAFT UND AUSDIFFERENZIERUNG WISSENSCHAFTLICHER DISZIPLINEN 25 Aus dem Vorstehenden lässt sich plausibilisieren: Eine (Europäische) Medienkulturwissenschaft adaptiert aufgrund einer Komplexitätszunahme in den Problemorientierungen ihrer Forschungsgegenstände26 inter-, multi- und/oder transdisziplinäre beziehungsweise inter-, multi- und/oder transparadigmatische Evolutions- und Ausdifferenzierungstrends. Aus diesem Sachverhalt erwächst forschungslogisch – nicht unbedingt fächerlogisch! – das Postulat nach transgressiven Reflexionen in dieser Domäne.27 Wenngleich sich ›Medienwissenschaft‹ seit etwa rund vier Dekaden als identitätsverleihende Disziplinbezeichnung installiert hat und sich ›Medienkulturwissenschaft‹ im geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächerspektrum zu etablieren scheint, sollte nicht ignoriert werden, dass die Phase der medienwissenschaftlichen Disziplinkonstitution durch heftige Auseinandersetzungen, mitunter Anfeindungen, aus unterschiedlichsten Lagern, geprägt war. 28 Für nicht wenige Kritiker*innen ist dieser Vorgang längst noch nicht ad acta gelegt. Für so manche Beobachter*innen stellt sich nach wie vor die Frage, ob und inwieweit sich ›Medien(-kultur-)wissenschaft‹ überhaupt als selbständige, unabhängige Disziplin inner- oder außerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften etatisieren soll, muss, darf oder kann?29

25 In der hier zugrunde gelegten Modellierung mache ich Anleihen bei C. Filk (2009): S.123-205. 26 Vgl. Krohn, Wolfgang/Küppers, Günter (1989): Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.7. 27 Hinsichtlich der Forschungspraxis ist grundsätzlich zu beachten, dass weder in disziplinären Diskursen ›reine‹ Formen noch in transdisziplinären Diskursen ›reine‹ Formen auffindbar sind. Vgl. Mittelstraß, Jürgen (2003): Transdiziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, S.10. 28 Vgl. Bohn, Rainer/Müller, Eggo/Ruppert, Rainer (Hg.) (1988): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma. 29 Vgl. Schmidt, Siegfried J. (2002): »Medienwissenschaft im Verhältnis zu Nachbardisziplinen«, in: Gebhard Rusch (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S.5368, hier S.59; zudem vertiefend Schmidt, Siegfried J. (2000): Kalte Faszination. Me-

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Entwicklungslogiken der Medienforschung Geradezu leitmotivisch scheint mir die akademische Auseinandersetzung um eine (Europäische) Medienkulturwissenschaft mehr oder minder zwischen zwei Polen zu oszillieren: Entweder wird diese eher als ›Disziplin‹ oder eher als ›Forschungsprogramm‹ inauguriert.30 Unbeschadet dessen etabliert sich mit Beginn der frühen 1980er Jahre nach und nach eine Medienforschung elementar modifizierter Couleur, die in zentralen Kontexten traditionelle disziplinäre Forschungskalküle überschreitet: Zum einen sind subdisziplinäre Formationen medienreflexiver Wissenschaften zu identifizieren, die in ihren Entwicklungslogiken im Wesentlichen mit evolutionär agierenden Mechanismen disziplinär differenzierter Wissenschaften, sogenannte Sekundärevolutionen, koinzidieren,31 wie sie sich in erster Linie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebildet haben. Zum anderen sind transdisziplinäre Differenzierungstendenzen medienreflexiver Wissenschaften zu konzedieren,32 die sich nicht selten den hergebrachten fachlichen Identifikations-, Explikations- und Legitimationsschemata verweigern, da sie zusehends fragmentarische Referenzen in den Basisdisziplinen des klassischen Fakultätengefüges der Universität aufweisen.33 Teilt man die Grundannahme, dass die letzten circa 40 Jahre signifikante Evolutionen und Differenzierungen im Bereich der ›Medienforschung‹ hervorgebracht haben, die sich am besten unter das Label einer inter-, multi- und/oder

dien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück, S.70279. 30 Vgl. S. J. Schmidt (2014): S.164-166. 31 Vgl. Stichweh, Rudolf (1984): Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.99. 32 Vgl. C. Filk (2009): S.189-196. 33 Selbstverständlich ließen sich vielfältige Varianten einer Medienwissenschaft nachzeichnen. Gerade in deutschsprachigen Diskursen stellt ›Medienphilologie‹ ein spezifisches Übergangskonstrukt dar. Aus nationalen Einzelphilologien entwickelten sich ›Medienphilologien‹, die schließlich partiell in Medienwissenschaft(-en) aufgehen sollten. Vgl. als wichtige Vorarbeiten Schanze, Helmut (1974): Medienkunde für Literaturwissenschaftler. Einführung und Bibliographie, München: Fink; Kreuzer, Helmut (1975): Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht sowie Kreuzer, Helmut (Hg.) (1977): Literaturwissenschaft – Medienwissenschaft, Heidelberg: Quelle & Meyer.

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transdisziplinären respektive inter-, multi- und/oder transparadigmatischen Medienwissenschaft34 klassifizieren lassen, so bevorzuge ich einen exterritorialen Standpunkt. Das heißt: Der Argumentationstenor erfolgt von der Metaposition einer konstruktivistisch-systemischen Wissenschaftsforschung aus. Obgleich sich im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung rekursive und rekurrente Schemata des Beobachtens und Beschreibens formieren, resultiert aus diesem Umstand keine prädestinierte Durchsicht oder kein elitärer Zugriff auf zuverlässiges und gesichertes Wissen. Die (Selbst-)Beobachtungen und die (Selbst-)Beschreibungen von ›Wissen‹ und ›Wissenschaft‹ scheinen zwar aus Sicht der klassischen Logik – in der Metaphorik einer ›aufsteigenden‹ Erkenntnisbewegung – auf einem ›höheren‹ Level stattzufinden, so Luhmann, jedoch erfolgt dies nicht von einer epistemologisch optimierten oder gar privilegierten Warte aus.35 Um die hohe Bedeutung der Diskontinuität in der Ausdifferenzierung des Systems wissenschaftlicher Disziplinen gewärtigen zu können, ist man gut beraten, die durch die Differenzierung der Disziplinen ausgelöste Transformation der »Umweltorientierung der Wissenschaft«36 in den Fokus zu nehmen. Das Charakteristische einer Wissenschaft, die (noch) nicht disziplinär (re-)organisiert ist, besteht darin, dass die primäre Umwelt wissenschaftlichen Handelns eben nichtwissenschaftliche Handlungszusammenhänge der Gesellschaft ausmachen. Konträr dazu trifft eine wissenschaftliche Disziplin in ihrer eigenen Umwelt auf weitere wissenschaftliche (Sub-)Disziplinen. Eine wissenschaftliche Disziplin ruft nicht mehr ›Gesellschaft‹ als die stets kopräsente und mitinkludierte Kondition ihrer Beobachtungs- und Unterscheidungsoperationen auf. Die Ausbildung eines Systems wissenschaftlicher Disziplinen korreliert mit der Entstehung einer »inneren Umwelt«37 der Wissenschaft. Die vormalig gesellschaftlichen Selektions-

34 Die Scientific Communities der Medienwissenschaft(-en) und Medienkulturwissenschaft(-en) haben unterschiedliche (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen ausgeprägt. Zu den populärsten Konzeptualisierungen zählen Medien(-kultur-) wissenschaft als ›avantgardistische‹, ›wilde‹, ›plurale‹, ›postkolonialistische‹, ›inter-‹, ›multi-‹ und/oder ›transdisziplinäre‹ Wissenschaft. Vgl. Porombka, Stephan (2003): »Nach den Medien ist in den Medien. Einige Bemerkungen zur aktuellen Medienwissenschaft«, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Jg. XIII, Nr.2, S.350-356 sowie Leschke, Rainer (2003): Einführung in die Medientheorie, München: Fink, S.1011. 35 Vgl. N. Luhmann (1992): S.110-111,371-372. 36 R. Stichweh (1984): S.48. 37 Ebd., S.49.

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kriterien werden nunmehr durch innerwissenschaftliche Selektionskriterien ersetzt.38 Beobachtungsoperationen im Wissenschaftssystem Aufgrund der Diffizilität Fakultätsgrenzen überschreitender (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen habe ich mich in erster Linie auf das Sozialund Kommunikationssystem Wissenschaft zu konzentrieren.39 In aller Regel dominieren in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft nach innen (sub-)disziplinäre Identifikations-, Explikations-, Legitimations- und Expansionsstrategien in der Charakterisierung von Forschungsaktivitäten, -initiativen, -programmen und -resultaten. Hingegen herrschen in einer Scientific Community in Abgrenzung nach außen für gewöhnlich (sub-)disziplinäre Differenzierungs-, Distanzierungs-, Desintegrations- und Dekonstruktionsstrategien in der Fokussierung von Forschungsaktivitäten, -initiativen, -programmen und -resultaten vor. Diese Prämissen dürften grosso modo ebenfalls für eine (Europäische) Medien-(kultur)wissenschaft Gültigkeit besitzen. In der Konkretisierung gründet mein Aufsatz auf einer konstruktivistischen Epistemologie40 und einer soziologischen Theorie selbstorganisierender Systeme41. Hier stellen Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme 42, Rudolf Stichwehs Analyse der Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Diszi-

38 Ebd., S.48-49. 39 Jenes ›Beobachten‹ wird definiert als Anwendung einer Unterscheidung zum Zweck der Bezeichnung. Der Begriff des Beobachtens beinhaltet Erkennen und Handeln beziehungsweise Handeln und Erleben. Später avancierte die durch die Medium/DingUnterscheidung Heiders inspirierte Medium/Form-Differenz zu einer weiteren Leitoperation in der Systemtheorie Luhmanns. Vgl. N. Luhmann (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft, S.111-112,140-141 sowie Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.129-130. 40 Vgl. Hug, Theo/Mitterer, Josef/Schorner, Michael (Hg.) (2019): Radikaler Konstruktivismus. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Ernst von Glasersfeld (1917-2010), Innsbruck: innsbruck university press und Jensen, Stefan (2019): Erkenntnis – Konstruktivismus – Systemtheorie. Einführung in die Philosophie der konstruktivistischen Wissenschaft, 2. Aufl., Wiesbaden: Springer. 41 Vgl. Luhmann, Niklas (1988): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp sowie Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 42 Vgl. N. Luhmann (1992).

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plinen43 sowie Wolfgang Krohns und Günter Küppers Konzept der Selbstorganisation der Wissenschaft44 wichtige Ansätze dar. Ich optiere dezidiert für eine konstruktivistisch-systemische Modellierung, da man aufgrund der damit verbundenen analytischen Instrumentarien zum einen die Unfestgelegtheit epistemischer Operationen explizieren und zum anderen das Dilemma der rekurrenten Stabilisierung epistemischer Prozesse in der Forschung managen kann.45 Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf mögliche (Selbst-)Beobachtungs- und (Selbst-) Beschreibungslogiken einer Europäischen Medienkulturwissenschaft: Auf welche Art und Weise werden Probleme der Strukturierung, Stabilisierung und (Re-)Kombinierung des Erkenntnisfortschritts in dieser Domäne gehandhabt? Selbstreferenzialität von Wissenschaft (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen fungieren als disziplinäre Stabilisierungen innerhalb einer Scientific Community, mithin einer Community of Practice,46 und als Abgrenzungen zu ihren inneren und äußeren Umwelten. Mit der Entscheidung, die vorherrschenden kanonischen (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen zu überschreiten, sind einige Vorannahmen und -bedingungen verbunden. Nach der hier vertretenen Grundüberzeugung verfügt das Wissenschaftssystem einer modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft über das Potenzial, seine Autonomie (Selbststeuerung) durch seine Heteronomie (Fremdsteuerung) zu erhöhen oder zu verringern. 47 Die hier verwandte Theorie selbstorganisierender Systeme ermöglich es, die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erklären. Die systemische Perspektive nimmt die Selbstreferenzialität des Wissenschaftssystems, die soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens, in den Blick. Demnach werden nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, wissenschaftliches Wissen, wissenschaftsintern geschaffen, sondern auch die Erzeugung von wissenschaftlichen Erkenntnissen beziehungsweise des wissenschaftlichen Wissens werden wissenschaftsinhärent verhandelt. Im Sozialsystem Wissenschaft werden durch innergesellschaftliche Ausdifferenzierung ›wahrheitsförmiger‹ Kommunikation durch

43 Vgl. R. Stichweh (1984) und Stichweh, Rudolf (1994): Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 44 Vgl. W. Krohn/G. Küppers (1989). 45 Ebd., S.55-56. 46 Vgl. Willke, Helmut (2002): Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.14. 47 Vgl. W. Krohn/G. Küppers (1989): S.18-19.

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die Inklusion/Exklusion-Unterscheidung Leitmargen für unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen hervorgebracht.48 Gemäß Luhmann sind ›Wissen‹ und ›Wahrheit‹ allein mittels einer Beobachtungsoperation zweiter Ordnung zu identifizieren, mithin durch: »einen Beobachter, der Beobachter beobachtet.«49 Diese Tatsache gilt selbstverständlich ebenso für Reflexionstheorien und reflexive Mechanismen in der Wissenschaft. 50 Diese erwähnten Vorgänge nehmen sich wiederum als ein differenzierendes Markieren aus. Die Unterscheidung und Bezeichnung von Erkenntnis, Wissen und Wahrheit erfolgen stets in einer aktuellen oder durch eine aktuelle Operation. Das bedeutet: dadurch, dass sie geschieht, ist sie schon nicht mehr vorhanden – mithin sind Erkenntnis, Wissen und Wahrheit beständig zeitbedürfend und -bezogen.51 Differenzierungs- und evolutionstheoretische Explikationskonzepte von Wissenschaft Die Konstituierung eines Systems wissenschaftlicher Disziplinen bildet die Voraussetzung dafür, dass sich auf dem Fundament der klassischen wissenschaftlichen Disziplinen und der sich – in Parallelität dazu – formierenden institutionellen Infrastruktur (Organisationen, Standesvertretungen, Publikationswesen usw.) eine subdisziplinäre Evolution etablieren kann. Diese Entwicklung gewährt Variationen durch eine »individuell verschiedene Rekombination«52 sowie durch eine »differentielle Reproduktion«53 disziplinärer Problemexpositionen; dabei kann sie auf Mechanismen der Selektion respektive Stabilisierung im Kommunikationssystem und der institutionellen Infrastruktur der Wissenschaft zurückgreifen.54 Ein hinreichendes Separieren voneinander unabhängig »operierender evolutionärer Mechanismen«55 kann allerdings erst inmitten einer disziplinär diffe-

48 Vgl. etwa R. Stichweh (1984): S.20; W. Krohn/G. Küppers (1989): S.46-65 sowie N. Luhmann (1992): S.194-208. 49 N. Luhmann (1992): S.167. 50 Vgl. N. Luhmann (1992): S.471-472,533-536,699-701 und Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück, S.17. 51 Vgl. N. Luhmann (1992): S.110-111. 52 R. Stichweh (1984): S.99. 53 Ebd., S.99. 54 Ebd., S.99. 55 Ebd., S.99.

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renzierten Wissenschaft funktionieren. Damit ist während der zweiten Phase beschleunigter subdisziplinärer Evolution zu rechnen, die sich hauptsächlich während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzieht. Ist ein solcher subdisziplinär differenzierter Entwicklungsstand erreicht, lässt sich ein evolutionstheoretisches Explikationskonzept mit gleicher Berechtigung wie ein differenzierungstheoretisches ins Feld führen.56 Wenn für die Beobachtung und Beschreibung des Sozial- und Kommunikationssystems Wissenschaft respektive des Systems wissenschaftlicher Disziplinen einer funktional differenzierten Gesellschaft bis ins letzte Jahrhundert differenzierungs- und evolutionstheoretische Ansätze in Anschlag gebracht werden, ist zu eruieren, wie sich dies im digitalen Transformationsprozess einer wissensbasierten Netzwerkgesellschaft bewerkstelligen ließe?

ANFANGSPROBLEM DER BESCHREIBUNG EINER ›EUROPÄISCHEN MEDIENKULTURWISSENSCHAFT‹ Vorstehend habe ich die makroskopische Hypothese vertreten, dass mit der Ablösung der Industrie- durch die Netzwerkgesellschaft in vielfacher Hinsicht überschreitende und entgrenzende Trends und Tendenzen einhergehen. Falls sich diese Sicht der Dinge bewahrheiten sollte, so richtet sich mein Augenmerk auf folgendes Problem: Was sieht eine Europäische Medienkulturwissenschaft im digitalen Gesellschaftsumbruch, wenn sie die Komplexe ›Europa‹/›europäisch‹ – ›Kultur(-alität)‹/›kulturell‹ – ›Medialität‹/›medial‹ – ›Wissenschaft‹/›wissenschaftlich‹ beobachtet? Dezentralisierung moderner Wissenschaft Einzelne wissenschaftliche Disziplinen setzen, wenn sie noch relativ enge Beziehungen zu außerwissenschaftlichen Funktionskontexten haben, entweder pragmatisch-programmatisch auf die Ausrichtung nach anderen Disziplinen oder sind bestrebt, eine Platzierung im Prestigegefüge wissenschaftlicher Disziplinen zugewiesen zu bekommen. Solchermaßen bemühen sie sich, sich von jenen außerwissenschaftlichen Verquickungen loszusagen oder sie in eine Form zu verwandeln, die mit ihrer disziplinären Autonomie in Einklang zu bringen ist.57 Die inhärente Struktur der Wissenschaft und die Relation des sozialen Funktionssys-

56 Vgl. ebd., S.98-99. 57 Vgl. R. Stichweh (1984): S.51.

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tems Wissenschaft zu seiner gesellschaftlichen Umwelt sind dadurch gekennzeichnet, dass eine jedwede Disziplin die innerwissenschaftliche Umwelt in einem hochgradigen Maße selektiv wahrnimmt und diese daher für eine jede Disziplin zwangsläufig eine andere ist. In Anbetracht dessen darf man sich das »innerwissenschaftliche[.] Milieu«58 – mitnichten als eine homogene (An-)Ordnung vorstellen, sondern sie rekrutiert sich aus einer Mannigfaltigkeit von Umweltperspektiven. Keine der Umweltperspektivierungen kann für sich reklamieren, sie sei gegenüber anderen die umfassendere und/oder ausgezeichnetere Sichtweise. An die Stelle der einst historisch nach Rängen (Spitzen und Zentren) gegliederten Wissenssysteme – Theologie, Recht und Medizin seien angeführt – tritt eine prononciert dezentralisierte Struktur des Wissenschaftssystems, »die nur lokal eindeutig definiert ist – durch die System-Umwelt-Perspektive der an dieser Stelle zu verortenden Disziplin –, aber zwischen zwei Orten weitgehend variieren kann.«59 Aus dem bezeichnenden Umstand seiner dezentralen Struktur resultieren für das Wissenschaftssystem zwei wichtige Effekte: Zum einen geht der Wissenschaft die Handhabe einer supradisziplinären Kontrolle verlustig; zum anderen verliert die Wissenschaft die Instanz, sich in der Kommunikation zur außerwissenschaftlichen Umwelt durch ein, das gesamte System repräsentierendes Mandat vertreten zu lassen.60 Die Dezentralisierung der modernen Wissenschaft zeitigt Folgen und Konsequenzen für die Repräsentation der – wie auch immer zu beschreibenden – ›Einheit‹ des Wissenschaftssystems.61

58 Vgl. ebd., S.51. 59 Vgl. ebd., S.51-52. 60 Vgl. ebd., S.51-52. 61 Daraus entsteht ein Paradox: Die Gesellschaft muss sich auf der einen Seite als Einheit, auf der anderen Seite als Mannigfaltigkeit darstellen. Beide Umstände, sich an und sich in der Gesellschaft zu orientieren, postuliert für jedes Teilsystem verschiedene Perspektivierungen. Das Paradox der ›Welt‹ mutiert zum systemeigenen Paradox von Einheit und Differenz. Vgl. N. Luhmann (1992): S.635. In gewisser Hinsicht wurzeln darin die Unerreichbarkeit oder Unübersichtlichkeit der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, ihrer Sozialstrukturen und Semantiken. Vgl. Fuchs, Peter (1992): Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.89-109 und Habermas, Jürgen (1991): Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.141-163.

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Emergenz und Kontingenz von Strukturbildungen Das für Genealogien von Disziplinen offenkundig unveräußerbare Insistieren auf der Frage nach ihrem gleichsam epistemischen wie historischen Anbeginn verdeutlicht einmal mehr die Emergenz und Kontingenz von Strukturbildungen durch die variable Kombinatorik von Elementen.62 Im Falle der Anfangsproblematik63 einer Europäischen Medienkulturwissenschaft, wenn ich es einmal so nennen kann, tritt der Umstand der zumeist latenten Kontingenz und Emergenz struktureller Kopplungen von Elementen ebenso zutage und streicht heraus, wie komplex sich der Prozess von einer schwachen bis zu einer starken strukturellen Bindung ausnehmen kann. Die Reflexion auf einzelne Elemente und mehr noch: die Reflexion auf ihre strukturelle Kopplung im Formal- und Objektbereich einer Europäischen Medienkulturwissenschaft fordert den wissenschaftlichen Beobachter*innen nicht allein wegen der schon konzedierten Komplexitätssteigerung einiges ab. Eine (Europäische) Medienkulturwissenschaft verzichtet ob ihrer eigenen Traditionsstiftung darauf, eine hochgradige Ausdifferenzierung für sich zu reklamieren, was sowohl den Kommunikationskontext als auch den Leistungsgedanken anbelangt.64 Damit steht sie in einem diametralen Gegensatz zur empirischfunktionalen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, die sich als klar kalkulierbare Adressatin für außerwissenschaftliche Anfragen und Aufträge versteht und entsprechend auftritt.65 Dieses Faktum ist nicht zu vernachlässigen, da eben mit diesem dezidierten (Selbst-)Anspruch auch Erwartungshaltungen ande-

62 Vgl. N. Luhmann (1988): S.60-62. 63 Ganz basal gedacht, hängt dies mit dem differenztheoretischen Formenkalkül George Spencer-Browns (»Draw a Distinction!«) bzw. mit der Medium/Form-Unterscheidung nach Fritz Heider (Ding/Medium-Gegensatz) im operativen Konstruktivismus und in der soziologischen Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz zusammen. Vgl. Spencer-Brown, George (1997): Laws of Form/Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier, S.VII-XXXVI, 1-24 und Heider, Fritz (2005): Ding und Medium, Berlin: Kadmos, S.45-68. 64 Vgl. Stichweh, Rudolf (2000): »Einführende Bemerkungen zu Wissenschaftsforschung und Literaturwissenschaft«, in: Jörg Schönert (Hg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, Stuttgart/Weimar: Metzler, S.3-5. 65 Vgl. Stichweh, Rudolf (2014): »Die Unhintergehbarkeit von Interdisziplinarität. Strukturen des Wissenschaftssystems der Moderne«, in: Balz Engler (Hg.), Disziplin – Discipline. 28. Kolloquium der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften, Fribourg: Academic Press Fribourg, S.5-14, hier S.9.

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rer Systeme mit bedient werden, denn Disziplinen nehmen sozusagen »gesellschaftliche Funktionen«66 wahr. Der viel beschworene Dualismus zwischen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Dispositionen eskalierte immer wieder in den 1970er, 1980er und 1990 Jahren.67 Kurrente Evolutionslinien der Medienforschung weisen indes weit über diese spezifisch bidisziplinäre Fokussierung hinaus. Die sich zweifelsohne alles andere als homogen ausnehmenden Formationen einer Europäischen Medienkulturwissenschaft machen darin keine Ausnahme. Eigenwerte und strukturelle Kopplungen Von der Wissenschaft wird nicht allein gefordert, im alltäglichen Erkenntnisprozess über die Anschlussfähigkeit von Unterscheidungen zu entscheiden, sondern zudem im Kontext mit Unterscheidungsoperationen im Forschungsprozess selbst umzugehen.68 Hier bietet ein konstruktivistisch-systemtheoretisches Modell einen großen Vorteil: Durch die Theorie der Eigenwerte operational geschlossener Systeme lässt sich das Dilemma, den Erkenntnisfortschritt zu strukturieren beziehungsweise zu stabilisieren, lösen.69 Das explikative Potenzial der Theorie der Eigenwerte operational geschlossener Systeme 70 lässt sich ins Feld führen, um im Forschungsinteresse Prozesse struktureller Kopplungen zu beobachten und zu beschreiben. An dieser Stelle gebe ich die entscheidende Passage von Wolfgang Krohn und Günter Küppers zur Definition von Eigenwerten und strukturellen Kopplungen ausführlich wieder:

66 Ebd., S.9. 67 Vgl. Kutsch, Arnulf/Pöttker, Horst (1997): »Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Einleitung«, in: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hg.), Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag, S.7-20, hier S.12-13 sowie Schäfer, Gudrun (2000): »›Sie stehen Rücken an Rücken und schauen in unterschiedliche Richtungen‹. Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft«, in: Heinz-B. Heller et al. (Hg.), Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg: Schüren, S.23-33, hier S.28-31. 68 Vgl. W. Krohn/G. Küppers (1989): S.55-56. 69 Vgl. ebd., S.55-56. 70 Vgl. von Foerster, Heinz (1985): Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, S.207.

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»Entscheidend für die Existenz von Eigenwerten ist die Kopplung der beiden, nach unterschiedlichen Bewertungen operierenden Teile der Erkenntnisoperation. Die für Rekursivität erforderlichen beiden Kopplungen leisten zwei Transformationen, die Operationalisierung von Hypothesen (Behauptungen, die Erwartungen hervorrufen) in Verfahren (Konstruktionen, die Effekte hervorrufen) und die Erklärung von Daten (selegierte Effekte) als theoretisch interpretierbare Informationen. Die beiden Transformationen sind zunächst »lose Kopplungen« zwischen den intellektuellen und den effektiven Komponenten der Forschung […]. Lose Kopplungen deshalb, weil Operationalisierung und Erklärung keine eindeutigen Operationen sind, sondern ein Spektrum von Möglichkeiten eröffnen, unter denen gewählt werden muß, ohne daß ein Zwang besteht, bei einer einmal getroffenen Wahl zu bleiben. […] Wenn an der Entscheidung für spezifische Kopplungen festgehalten wird, dann sind ›feste Kopplungen‹ eingerichtet und geben der Operation die Qualität eines Ergebnisses, einer neuen wissenschaftlichen Überzeugung. Beide Teile der Erkenntnisoperation sind nunmehr fest miteinander verknüpft und die Operation läuft zirkulär. Geht man von dem Standardfall aus, daß wissenschaftliche Überzeugungen in generalisierten Aussagen über Objekte eines umrissenen Geltungsbereichs bestehen, bedeutet die Einrichtung fester Kopplungen, daß bei Wahl beliebiger Objekte dieses Geltungsbereichs dieselben Ergebnisse (bestätigende Beispiele der allgemeinen Behauptung) erzielt werden: die Operation hat ihre Eigenlösung gefunden. Mit anderen Worten: Die Erkenntnisoperation, angewandt auf ihre Beschreibung (Erkenntnis), läßt diese Beschreibung invariant.«71

SICH SELBST LIMITIERENDE KONTEXTE VON ›EUROPA‹, ›MEDIEN‹, ›KULTUR‹ UND ›WISSENSCHAFT‹ Gestützt auf die Theorie der Eigenwerte und den Prozess der strukturellen Kopplung sondiere ich die Implikationen der Elemente ›Europa‹/›europäisch‹ – ›Medialität‹/›medial‹ – ›Kultur(-alität)‹/›kulturell‹ – ›Wissenschaft‹/›wissenschaftlich‹. In der Formation struktureller Kopplungen, ob nun schwächer oder stärker, konstituieren sich sukzessive selbstlimitierende Kontexte, die einer Disziplin Identität und Differenz verleihen. In der Gliederung folge ich der Einfachheit halber der Reihung der Termini im Begriff ›Europäische Medien-kultur-wissenschaft‹. Diese Vorgehensweise ist durchaus kontingent und zirkulär, sie ist einfach der linearen Darstellung im Text geschuldet.

71 W. Krohn/G. Küppers (1989): S.60-61 (Hervorhebung im Original).

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Europa Wo beginnt Europa? Wann ist Europa? Was ist Europa? Wer ist Europa? Und: Warum ist Europa? – ›Europa‹/›europäisch‹ avanciert sowohl als Konzeptualisierung und Programmatik als auch als Strategie und Operation in mannigfaltigen diskursiven Konstellationen und Assoziationen. So figuriert es als geografische Bezugsgröße, mintunter in der Formulierung ›der alte Kontinent‹; als Institutionengefüge, insbesondere auf Ebene der Europäischen Union (EU); als supranationales föderales Gebilde, etwa als Imagination der ›Europäischen Staaten von Europa‹. ›Europa‹/›europäisch‹ wird als identitätsstiftendes politisches, rechtliches, kulturelles, soziales, ökonomisches und ethisches Narrativ und/oder Differenzial, beispielsweise als Wertegemeinschaft, intoniert. Weiterhin wird ›Europa‹/›europäisch‹ als Ort eines gemeinsamen historischen und kulturellen Erbes identifiziert und als vergangene oder zukünftige Idee adressiert. Solche oder ähnliche identifikatorischen Praxen einer ›Europäisierung‹ können sowohl ex positivo als auch ex negativo (Abgrenzung etwa gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika72) erfolgen, so auch im Medien- und Kulturbereich. Mit Blick auf die Sozialdimension im Sinnhorizont der Informations-, Medien- oder Netzwerkgesellschaft wird deutlich,73 dass ein Gesellschaftstypus, dessen Einheit im Prozessieren von Information besteht, eines »kompatiblen Integrationsmodus der Vergesellschaftung von Individuen, Gruppen und Organisationen« bedarf – Udo Thiedeke spricht von »informationelle[r] Inklusion«74 als Add-on zur funktionalen Inklusion. Gemäß diesem Modus fungieren auch Projektionen von ›Europa‹/›europäisch‹. In einer solchen Gesellschaft erschließen sich soziale Partizipations- und Inklusionspotenziale zunehmend über alltagsästhetische Performanzen sowie expressive Stilisierungen. Exempla dafür wären Cyber-Identitäten, virtuelle Lebensentwürfe, digitale Alter Egos usf.

72 Vgl. K. Williams (2005): S.133-149. 73 Vgl. die Hypothese von Thiedeke, Udo (1997): Medien, Kommunikation und Komplexität. Vorstudien zur Informationsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S.12 (Hervorhebung; C. F.): »Es gibt Anzeichen dafür, daß sich ein Transformationsprozeß in Gang setzt, der die funktional differenzierte Gesellschaft zu einer informationell differenzierten Gesellschaft erweitert. Bei einer informationell differenzierten Gesellschaft basieren die Vergesellschaftung und die innere Strukturierung weniger auf faktischen Funktionsunterschieden, als vielmehr auf Funktionsbehauptungen, Selbstvermittlungsprozessen und der Konstruktion virtueller Wirklichkeitsentwürfe.« 74 Ebd., S.89 (Hervorhebung im Original).

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Neben der Sozial- ist auch die Sachdimension Veränderungen unterworfen. Die Sachdimension manifestiert sich in der Differenz von sachlich anschlussfähigen Themen, die im Kommunikationsgeschehen von sachlich nicht anschlussfähigen Themen unterschieden werden. In Abstraktion bedeutet das: »Eine Fülle an Welttatsachen sind [sic! – C. F.] überhaupt nur deshalb kommunikativ zu behandeln, weil sie durch mediale Beobachtungs- und Beschreibungstechniken in Informationen umgewandelt werden [sic! – C. F.], die dann Themen und Themenkomplexe aktualisieren.« 75

Hier tritt ein »Indifferenzproblem der Informationsgesellschaft«76 in Erscheinung, das nicht als Verweigerung strategischer Informationen zu begreifen ist, sondern in der inflationären Verfügbarkeit von Informationen, die ihrem Anschein nach als strategisch gelten. Dabei tritt ein Selektionskalkül sachlichen Sinns – auch hinsichtlich ›Europa‹/›europäisch‹ – auf den Plan, das bewusst mit themenbezogener Indifferenz arbeitet, was sich insbesondere in instrumenteller und strategischer Kommunikation (Marketing, Werbung, Public Relations, Propaganda etc.) manifestiert. Schließlich unterliegt die Zeitdimension einer Veränderung. Die Zeitbegrifflichkeit ist durch die Expansion der Medienstrukturen und deren temporäre Operationsmodi einer veritablen Deontologisierung unterworfen, was sich auf ein Zeit prozessierendes soziales System auswirkt: »Im System muß eine Auswahl von Elementen getroffen werden, die durch Relationen zu verknüpfen sind. Es steht aber [...] nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, in der eine Auswahl aus den Sinnmöglichkeiten getroffen und realisiert werden kann.«77

Zur Flüchtigkeit des Zeitempfindens gehört auch die omnipräsente Geschwindigkeits- respektive Beschleunigungsdrift, was zusehends als Zeitdruck perzipiert wird.78 In der »medial dynamisierte[n] Gesellschaftszeit«79 rücken Vergangenheit und Zukunft näher an die Gegenwart heran. Im Feld der individuell und kol-

75 Ebd., S.175. 76 Ebd., S.191. 77 Ebd., S.249. 78 Vgl. Virilio, Paul (1989): Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, München/Wien: Hanser und Virilio, Paul (1992): Rasender Stillstand. Essay, München/Wien: Hanser. 79 U. Thiedeke (1997): S.313.

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lektiv verfügbaren Zeit erwachsen daraus fragmentarische Zeiterfahrungen. Im Zusammenhang gesellschaftlicher Zuweisung von Entwicklungsmöglichkeiten besteht das Erfordernis zur Selbstreflexion auf eigene Voraussetzungen sowie auf das Wahrscheinlichwerden von Risiken, was wir tagtäglich anhand des Ereignisdiskurses rund um ›Europa‹/›europäisch‹ besichtigen können. In der Zeitdimension nehmen Homogenitäten und Heterogenitäten zu.80 Ähnliches lässt sich für die Raumdimension feststellen. Sinnbildlich steht dafür die sogenannte ›Glokalisierung‹, ein Neologismus aus ›Globalisierung‹ und ›Lokalisierung‹,81 nicht zuletzt im europäischen Kontext. Elektronische, digitale und soziale Medien konstituierten ein integrales Substrat für die Glokalisierung. 82 In räumlicher Dimension wird ›Europa‹/›europäisch‹ geradezu antithetisch als ein wachsendes oder schrumpfendes Konstrukt das Wort geredet. Daran lässt sich die zunehmende Bedeutung des ›Spatial Turns‹ in der Medienkulturwissenschaft festmachen.83 Nach Maßgabe unterschiedlicher thematischer oder diskursiver Konstellationen können Norden, Süden, Osten und Westen Europas in Gegensatz zueinander geraten. Nach Mikro-, Meso- und Makroebene differenzierend, etwa in der Nomenklatura von lokal/regional, national und surpanational, werden Konfliktlinien zwischen Subsidiarität und Zentralität in Europa beziehungsweise in der EU begrüßt oder beklagt. Medien Prominent nimmt sich die Leitthese von Helmut Schanze aus: »Medientheorie stellt gegenwärtig eine Art Leittheorie in kulturhistorischen und kulturtheoreti-

80 Vgl. Robertson, Roland (1998): »Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Zeit und Raum«, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.192-220. Allerdings ist ›Raum‹ in dem hier verwandten Verständnis keine Sinndimension, wie sie in der Systemtheorie Luhmanns zur Anwendung kommt. Dort verarbeiten psychische und soziale Systeme Sinn. Vgl. N. Luhmann (1988): S.93. 81 Zum Kompositum aus ›Globalisierung‹ und ›Lokalisierung‹ vgl. R. Robertson (1998). 82 Mittels der Raummetapher lassen sich unter anderem treffend die wachsenden Verwerfungen einer ›glokalisierten‹ oder sich ›glokalisierenden‹ Weltwirtschaft analysieren. Vgl. Fukuyama, Francis (2019): Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg: Hoffmann und Campe, S.19-21. 83 Vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.) (2008): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript.

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schen Debatten dar.«84 Diese Sicht der Dinge dürfte wohl vielfältige Zustimmung erfahren. Fast alles, was Zeitgenoss*innen mit ›Europa‹/›europäisch‹ in Zusammenhang bringen, ist von, über und mit Medien vermittelt und/oder eignet man sich an von, über und mit Medien. Doch was heißt da eigentlich ›Medien‹? Die »Tücke des Begriffs« im Visier, »jenen gedoppelten Plural, mit dem sich die Medien und ihre Wissenschaften herumschlagen«85, gibt Rainer Leschke zu bedenken: »Das, was heute unter ›den Medien‹ verstanden wird, also jener gesuchte Gegenstand der Medienwissenschaften, ist zunächst einmal sprachlich ein Pluraletantum. Der Singular, […] der Begriff ›das Medium‹, meinte zumindest traditionell etwas anderes als der Plural ›die Medien‹ nämlich – wenigstens sofern er keiner Wissenschaftsdisziplin zugeordnet war – schlicht etwas Vermittelndes. Nur ›die Medien‹, […] der Plural, sind Gegenstand der neuen Disziplin. Der Medienbegriff, der die Grundlage der Medienwissenschaft bildet, ist insofern selbst eine relativ neue Erscheinung und an das Entstehen jenes Pluraletantums ›die Medien‹ gebunden. […] Der zweite Plural, der die Angelegenheit keineswegs einfacher macht, betrifft die Disziplinen, in denen medienwissenschaftliche Fragestellungen immer schon bearbeitet worden sind: Medien sind keineswegs nur in der Publizistik oder den Kommunikationswissenschaften thematisiert worden, sondern sie tauchen ebenso in der Philosophie, den Sprach- und Literaturwissenschaften, der Kunst- und Musikwissenschaft, der Psychologie, der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften auf. Die Medienwissenschaften greifen insofern sowohl bei der Konstituierung ihres Gegenstandes als auch bei ihren Methoden auf unterschiedlichste Disziplinen zurück, so dass der Singular: Medienwissenschaft als Bezeichnung der Disziplin […] zumindest problematisch ist.«86

Als weitere Pluralisierung – im obigen Sinne – lässt sich der Umstand interpretieren, dass im vorgängigen strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch ehemals vermeintliche und/oder tatsächliche Grenzziehungen offenkundig hinfällig werden. Das ›Reale‹ wird ›virtuell‹ – das ›Virtuelle‹ wird ›real‹. Und die Unterschiede zwischen Mensch, Maschine und Natur drohen zu verschwinden.87 Die

84 Schanze, Helmut (2002): »Vorwort«, in: Helmut Schanze (Hg.): Metzler-Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler, S.V-VIII, hier S.V. 85 R. Leschke (2003): S.10. 86 Ebd., S.10. 87 Vgl. Floridi, Luciano (Hg.) (2015): The Onlife Manifesto. Being Human in a Hyperconnected Era, Heidelberg/Berlin: Springer, S.7,12.

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Medien der Industriegesellschaft unterscheiden sich elementar von den Medien der Netzwerkgesellschaft. Die Medien der öffentlichen Massenkommunikation und das Verständnis der Tiefenstrukturen von Medien und ihren Institutionen wandeln sich fundamental. Dafür steht leitmotivisch die situiert-adpative Mediennutzung: Elektronische, digitale und soziale Medien werden potenziell und faktisch zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jedem Modus verwandt. Das Smartphone degeneriert hierbei zur »Devotionalie des Digitalen überhaupt« 88. In sozialen Netzwerken haben sich Interaktionsformen herausgebildet, die sich durch multidirektionale Kanäle, dezentrale Strukturen und geografisch offene User*innenkreise auszeichnen.89 Mithin agieren die Menschen in der Netzwerkgesellschaft nicht mehr allein als Konsument*innen, sondern vielmehr auch als Produzent*innen von Medieninhalten und Gesprächsbeiträgen, die vielfach (mit-)geteilt werden (Sharing). Mithin avancieren sie zu Prosument*innen mit eigenen Medien-, sprich: Prosument*innenkulturen.90 Kultur Unter der Signatur ›Kulturalität‹/›kulturell‹ transformieren sich obsolet gewordene Geistes- zu modernen Kulturwissenschaften.91 Im Zusammenhang hergebrachter geisteswissenschaftlicher Grundannahmen wurden ›Medien‹ hinsichtlich Epistemologie, Perzeption, Performanz, Imagination und Effekt sowohl unter synchronen als auch unter diachronen Vorzeichen nach und nach als problematisch erachtet. Diese Tatsache löste eine regelrechte Gegenbewegung aus: Auf der einen Seite wurde Medien/Medialitäten eine große Aufmerksamkeit zuteil, mehr noch: sie stiegen sogar empor zu Momenten geradezu jeder soziokulturellen Selbstreflexion;92 auf der anderen Seite zog der vermeintliche und/oder tatsächliche Siegeszug medienbezogener Forschung93 – nicht zuletzt eine (Europä-

88 B.-C. Han (2015): S.23 (im Original hervorgehoben). 89 Vgl. Filk, Christian/Gundelsweiler, Fredrik (2014): »Von der öffentlichen Massenmedienkommunikation zur situiert-adaptiven Mediennutzung – Sieben Thesen zum strukturellen Umbruch der Broadcast-Branche, Teil I«, in: Fernseh- und Kinotechnik (FKT) – Fachzeitschrift für Fernsehen, Film und elektronische Medien 67, Nr.4, S.163-166, hier S.163,164. 90 Vgl. ebd., S.163. 91 Vgl. Bal, Mieke (2005): Kulturanalyse, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.7-28. 92 Vgl. Ostermeyer, Serjoscha P. (2016): Der Kampf um die Kulturwissenschaft. Konstitution eines Lehr- und Forschungsfeldes 1990-2010, Berlin: Kadmos, S.125-196. 93 Vgl. C. Filk (2009): S.11,24-25.

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ische) Medien(-kultur-)wissenschaft – immer wieder tiefe Definitions-, Legitimations- und Identitätsmiseren nach sich.94 Bei dem Terminus ›Kultur(-en)‹ denkt man unweigerlich an ›materielle Kulturen‹, ›immaterielle Kulturen‹, ›imaginierte Kulturen‹, ›mediale Kulturen‹, ›symbolisierte Kulturen‹ usw. Großen Anteil daran haben in erster Linie die sich infolge des ›Cultural Turns‹ vor allem in den Humanities im anglo-amerikanischen Kontext herausbildenden ›Kulturwissenschaften‹ seit den 1960er Jahren, deren Prosperität bis heute im Prinzip ungebrochen ist.95 Mit Hinwendung zu den ›Cultural Studies‹ ging ein Aufbrechen, eine Öffnung des hermetisch enggefassten Kulturbegriffs einher. Von Hoch-, Höhenkamm- und Elitenkulturen gelangte man zu Massen-, Pop(-ular)- und Lifestyle-Kulturen, in denen der Impaktfaktor Medialität/Digitalität zusehends an Bedeutung gewinnen sollte.96 In gewisser Weise fanden der ›Linguistic Turn‹ und ›Cultural Turn‹ mehr und mehr seit den 1980er Jahren im ›Interpretive Turn‹, ›Performative Turn‹, ›Postcolonial Turn‹, ›Translational Turn‹, ›Spatial Turn‹, ›Iconic Turn‹ oder ›Pictorial Turn‹ ihre unterschiedlichsten Fortsetzungen und Ausprägungen.97 Das Zusammenwirken aller Medien,98 angefangen von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (wie Liebe, Macht, Geld und Kunst) über sinnliche Wahrnehmungsmedien (wie Raum, Zeit und die fünf Sinne) und semiotische Kommunikationsmedien (wie Bild, Sprache, Schrift und Musik) bis zu technischen Verbreitungsmedien (wie Stimme, Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet), komprimiert, was man mit dem »Gesamtausdruck Kultur«,99 einschließlich eines gewissen Vorrats gleicher Themen, bezeichnen könnte. Diese Verdichtung – Luhmann spricht von »Kondensierung« – meint, dass

94

Vgl. zu diesem Absatz Filk, Christian (2012): »›Performing Media in Convergence‹ – Konzept, Programmatik und (Hochschul-)Didaktik integraler Kompetenzprofilierung multimedialer Produktion«, in: medienimpulse: Beiträge zur Medienpädagogik 50, Nr.3, S.1-28, hier S.7. Elektronisch verfügbar unter: https://journals.univie.ac.at/ index.php/mp/article/view/mi463/672 vom 04.09.2019.

95

Vgl. S. P. Ostermeyer (2016): S.125-196.

96

Vgl. Levenberg, Lewis/Neilson, Tai/Rheams, David (Hg.) (2018): Research Methods for the Digital Humanities, Cham: Springer.

97

Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2016): Cultural Turns. New Orientations in the

98

Vgl. N. Luhmann (1997): S.190-412.

99

Ebd., S.409 (Hervorhebung im Original).

Study of Culture, Berlin/Bosten: de Gruyter.

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ein jedweder bemühter Sinn100 zwar auf der einen Seite qua Wiederbenutzung in unterschiedlich situierten Kontexten derselbe bleibt, sich jedoch auf der anderen Seite konfirmiert und sich somit semantisch mit neuen Bedeutungen auflädt, die nicht (mehr) auf einen Nenner zu bringen sind. Aus diesem Sachverhalt resultiert die Annahme, dass der Verweisungsüberschuss von Sinn wiederum seinerseits das Ergebnis der Verdichtung und Verfestigung von Sinn ist und Kommunikation als der Operator fungiert, der so sein eigenes Medium generiert.101 Wissenschaft Auf vorstehende (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen einer informationell differenzierten Gesellschaft reagiert das Wissenschaftssystem unter anderem in Gestalt einer Europäischen Medienkulturwissenschaft. Dabei obliegt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ›Medien‹ längst nicht (mehr) ausschließlich allein den etatisierten Medien- und Kommunikationswissenschaften – mehr noch: zu nicht unbeträchtlichen Anteilen verdanken sich Ausdifferenzierungen und Neukonstituierungen in dieser Domäne eben jenen, bis heute ungebrochenen Konjunkturen der Medialität respektive Digitalität und deren Erforschung. In der Wissenschaftsforschung lässt sich seit geraumer Zeit ein struktureller Trend in der Forschungsevolution ausmachen, demnach die Ausbildung transdisziplinärer struktureller Forschungs- und Entwicklungskalküle beziehungsweise transdisziplinärer Forschungs- und Entwicklungsmechanismen ein allgemeines Merkmal im Wissenschafts- und Technologiesektor ist.102 Mit dieser Entwicklung geht zwangsläufig mit einher, dass der epistemologische Kern der

100 ›Sinn‹ wird bei Luhmann als »›differenzlose[r]‹ Begriff« verstanden. Vgl. N. Luhmann (1988): S.93: »Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handels.« 101 Vgl. N. Luhmann (1997): S.409. 102 Meines Erachtens nach präzisiert J. Mittelstraß (2003): S.9-10, den entscheidenden Unterschied zwischen ›Inter-‹ und ›Transdisziplinarität‹: »Dabei stellt sich Transdisziplinarität sowohl als eine Forschungs- und Arbeitsform der Wissenschaft dar, wo es darum geht, außerwissenschaftliche Probleme […] zu lösen, als auch als ein innerwissenschaftliches, die Ordnung des wissenschaftlichen Wissens und der wissenschaftlichen Forschung selbst betreffendes Prinzip. In beiden Fällen ist Transdisziplinarität ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird.«

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(Medien-)Forschung, definiert als ein irreduzibles Set kognitiver Werte und sozialer Praxen,103 weder unter generelle Methodologien noch unter Wissenschaftskulturen privilegierter Couleur zu fassen ist.104 Als eine Folge des Differenzierungs- und Identifikationsprozesses in der medienbezogenen Forschung finden sich neben den angerissenen disziplinären, intra- und subdisziplinären (Selbst-) Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen auch solche zur inter-, multiund/oder transdisziplinären Medienforschung – verstärkt in den letzten Jahren. Aus der Anlage der vorstehenden Argumentation resultieren Konsequenzen für die Reflexion auf die strukturelle Kopplung von Medien- und Wissenschaftsforschung. So fasst Reiner Leschke pointiert zusammen: »Es kann also nur bedingt mit Vorgaben wie denen einer Definition des Begriffs operiert werden, sondern es muss vielmehr von einem medienwissenschaftlichen Diskurs ausgegangen werden, der sich sukzessive in den Medienwissenschaften herausgebildet hat. Mit diesem medienwissenschaftlichen Diskurs verfügt man über ein vergleichsweise variables Feld, das sowohl unterschiedliche Konzepte des Medienbegriffs erträgt als auch die korrespondierenden historischen Rückergänzungen, also die geltend gemachten unterschiedlichen Ursprünge, denkbar werden lässt. Man begibt sich damit jedoch notwendig auf eine Metaebene, man beobachtet Medienwissenschaften und ihre Konzepte, betreibt jedoch nicht selbst Medienwissenschaft und macht damit keine eigenständigen Aussagen über den Gegenstand der Medienwissenschaften, sondern nur darüber, inwieweit der Gegenstand durch ein medienwissenschaftliches Konzept konstituiert wird.«105

Wenn ich die oben dargelegten Gedanken noch einmal Revue passieren lasse, so möchte ich hervorheben: Wir erfahren eine – wenn man so will –: technische, ökonomische, kulturelle und narrative Konvergenz, 106 was mitunter als ›überschreitend‹ beziehungsweise ›entgrenzend‹ beobachtet und beschrieben wird. Durch die damit verbundenen neuen Potenziale der Kommunikation wird ein (weiterer) soziokultureller Wandel kommandiert, der seinerseits wiederum veränderte Kommunikationsmodalitäten (mit) heraufbeschwört. Dieser ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass in sozialen Netzwerken Medienproduzierende und -konsumierende nicht mehr trennscharf zu unterscheiden sind, son-

103 Vgl. Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons, Michael (2004): Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück, S.225,249. 104 Vgl. ebd. S.225,249. 105 R. Leschke (2003): S.11. 106 Vgl. C. Filk/F. Gundelsweiler (2014): S.164.

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dern in der Tendenz nur noch situativ analysiert werden können.107 Gerade in solchen und ähnlichen Zusammenhängen wird der Datafizierung in der (Medien-) Wissenschaft eine wachsende Bedeutung zugeschrieben.

(DIS-)KONTINUITÄT DER PROBLEMORIENTIERUNG ÜBER ›DATAFIZIERUNG‹ Die künftige (Re-)Konstruktion einer Europäische Medienkulturwissenschaft im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch dürfte wesentlich von der Kontinuität respektive Diskontinuität der eigenen Problemorientierung von ›Daten‹ abhängen. Selbstbezüglichkeit von Problemgeschichten In ihrer (Re-)Konstruktion ist eine (Sub-)Disziplin maßgeblich von ihrer eigenen Selbstreferenzialität, mithin der Selbstbezüglichkeit ihrer Problemgeschichte(-n), abhängig. Es ist gerade die Konstruktion der (Dis-)Kontinuität der eigenen Problemorientierung, die eine bestimmte (Sub-)Disziplin in ihrer Anschlussfähigkeit selegiert und limitiert. Wird in der Abgrenzung zur eigenen internen Umwelt des Wissenschaftssystems, wo andere wissenschaftliche (Teil-)Disziplinen verortet sind, auf eine (intra-)disziplinäre (Selbst-)Beschreibung der eigenen Kommunikationsgemeinschaft oder Scientific Community insistiert, so vermag man kaum den jüngeren inter- und/oder transdisziplinären Entwicklungen – gerade an den Grenzen und Rändern des eigenen Forschungskalküls – gewahr zu werden.108 Dieser Befund gilt selbstredend ceteri paribus für eine Europäische Medienkulturwissenschaft. Eine jedwede Bestrebung, eine Problemexposition zu fixieren, macht sich die Referenz auf andere, nicht affizierte Problemstellungen zu eigen – mit dem identitätsstiftenden Effekt, dass eine jede wissenschaftliche Disziplin ihr eigenes Selbstverständnis immer auch in Beziehung zu ihrer Vorstellung von anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausbildet und schärft. Eine solchermaßen konzipierte wissenschaftliche Disziplin durchkreuzt die Inflexibilität disziplinärer Distanzierungsmechanismen:

107 Vgl. C. Filk (2012): S.3,6. 108 Vgl. R. Stichweh (1984): S.54-55.

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»Das ganze durch die Pole ›Konkurrenz‹ und ›Kooperation‹ definierte Spektrum möglicher interdisziplinärer Beziehungen wird verfügbar, bei gleichzeitig gesteigerter Autonomie jeder Disziplin in der Selektion ihrer Umweltbezüge.«109

Von Themen subsystemischer Kommunikation zu Daten verarbeitenden Netzwerken Es dürfte erhellend sein zu klären, ob und inwieweit (Selbst-)Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen einer Europäischen Medienkulturwissenschaft im Übergang von der Industrie- zu der Netzwerkgesellschaft einem »epistemologischen Bruch«110 im Bachelard’schen Begriffsverständnis gleich- oder wenigstens nahekommen. In diesem Kontext ist es angezeigt, sich die Funktion der Massenmedien öffentlicher Kommunikation vor Augen zu führen. Aus systemtheoretischer Sicht konstatiert Frank Marcinkowski: »[...] die Selektion von Ereignissen aus einer Welt unendlicher Kontingenz in Form von Themen öffentlicher Kommunikation war entwicklungsgeschichtlich genau in dem Augenblick unvermeidlich, als diese Ereignisse nicht mehr irrelevant für das Operieren anderer Sozialsysteme waren.«111

Die spezifische Leistung der Publizistik, mithin des Mediensystems, sieht er in der Bereitstellung von Themen und Beiträgen für die öffentliche Kommunikation: »Während alle anderen Systeme ausschließlich über Themen ihrer subsystemischen Kommunikation verfügen [...], kommuniziert das publizistische System potentiell alle Themen des umfassendsten Sozialsystems Gesellschaft, allerdings immer in einer spezifisch publizistischen Kreation.«112

Doch was folgt aus dem Vorgang des Gestaltwandels, des Gestalt Switchs im Sinne einer »Umzentrierung«113 von Themen subsystemischer Kommunikation

109 Ebd., S.49. 110 Vgl. Bachelard, Gaston (1993): Epistemologie, Frankfurt am Main: Fischer, S.216. 111 Marcinkowski, Frank (1993): Publizistik als autopoietisches System. Politik und Massenmedien. Eine systemtheoretische Analyse, Opladen: Westdeutscher Verlag, S.40. 112 Ebd., S.50. 113 Vgl. Wertheimer, Max (1964): Produktives Denken, Frankfurt am Main: Kramer.

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hin zu Daten verarbeitenden Netzwerken auf makro-, meso- und mikroskopischer Ebene? Mögliche Antizipationen einer Europäischen Medienkulturwissenschaft im digitalen Transformationsprozess könnten sich insbesondere mit strukturellen Umbrüchen mit, in und/oder durch Daten oder große(-n) Datenmengen (Big Data) in Kontexten von Künstlicher Intelligenz, algorithmischer Relevanzberechnung oder Deep Learning etc. befassen.114 Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aus der Konstruktion der (Dis-)Kontinuität der eigenen Problemorientierungen erfolgt eine strukturelle Kopplung der Elemente von Daten als wichtiges Kristallisationsphänomen. Mit den Vorzeichen einer Europäischen Medienkulturwissenschaft fungiert der Dualismus ›Europazentrismus versus -relativismus‹115 als ein semantisches Differenzial, ohne dass dieses nachstehend durchgehend verfolgt werden kann. Nachfolgend diskutiere ich skizzenhaft vier potenzielle Varianten oder Derivationen: Epistemologie von Daten »Ich poste (in sozialen Medien), also bin ich!« – So oder so ähnlich könnte eine digitalinduzierte, vulgärphilosophische Variante des Descart’schen Existenzbeweises »Cogito ergo sum« – »Ich denke, also bin ich«116 lauten. Das mentale Modell, demnach die Verwendung digitaler und algorithmischer Werkzeuge und Praxen lediglich die Auswertung großer Datenmengen, Big Data, vereinfacht, ohne dass dies wiederum epistemologische Festlegungen mit sich bringen würde, erweist sich schlichtweg als falsch.117 Hinzu kommt: Eine ›Su-

114 Zur Ambivalenz der Prognostik technologischer Prozesse vgl. Bostrom, Nick (2016): Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution, Berlin: Suhrkamp, S.16-17. 115 Es liegt nahe, hier auf die Kategorien europäische ›Identitäten(-en)‹, ›Öffentlichkeit(-en)‹ und ›Gemeinschaft(-en)‹ zu verweisen. Vgl. Risse, Thomas (Hg.) (2014): European Public Spheres. Politics is Back, Cambridge: Cambridge University Press und Risse, Thomas (2010): A Community of European. Transnational Identities and Public Spheres, Ithaca, New York: Cornell University Press. 116 Vgl. Descartes, René (1996): Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg: Meiner. 117 Vgl. D. Baecker (2018): S.180: »Doch erst mit der künstlichen Technik merkt man, worauf man sich eingelassen hat. Die Technik wird nichttrivial. Sie verknüpft nicht mehr eineindeutig Ursache mit Wirkung, sondern interveniert in ihre eigenen Abläufe, kontrolliert sich selbst und wird kausal undurchschaubar.«

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perintelligenz‹, ein Begriff den Nick Bostrom geprägt hat, wäre mittels smarter Programmiertechniken und viel mehr Rechenkapazitäten in der Lage, komplexe virtuelle Welten zu kreieren, ohne dass Prosumer*innen entscheiden könnten, ob es sich um Simulationen handelt oder nicht.118 Im vorgängigen strukturellen Gesellschaftsumbruch werden offenbar ehemals vermeintliche und/oder tatsächliche Grenzziehungen hinfällig. Schließlich könnte ein dataverses Simulacrum, um ein Vexierbild Jean Baudrillards aufzugreifen, in einer allgemeinen »Referenzlosigkeit« von Zeichen und Bildern, Bits und Bytes enden.119 In Zeiten von algorithmischen Matchings bis hin zu selbstlernenden künstlichen Intelligenzen lässt sich mit Bostrom erkenntnistheoretisch fragen: »[A]ufgrund welcher Prinzipien und Kriterien empirische Hypothesen evaluiert werden sollen[?]«120 Epistemologisch werden damit die Kategorien ›Richtigkeit‹ und ›Falschheit‹ sowie ›Wahrheit‹ und ›Unwahrheit‹ mit aufgerufen. Die Foucault’sche Diskurstheorie definiert ein Regime der Wahrheit als Bildung eines Wissenskörpers, einer Technik und eines wissenschaftlichen Diskurses, womit eine spezifische Praxis verbunden ist. Aus der Verschränkung von Diskurskonstitution und -praxis entsteht ein neues Regime der Wahrheit.121 Qua analogia konturiert sich ein Digitalisierungsregime aus digitalen Technologien, algorithmischer Governance und einem auf digitalen Daten basierenden wissenschaftlichen Diskurs, ›Datafizierung‹ genannt, der mittels besonderer epistemischer Praxen von Daten realisiert wird.122 Das Prozessieren von Daten verlangt immerhin so etwas wie epistemisches Vertrauen der Prosumer*innen beim Erheben, Teilen, Sammeln und Auslegen von Daten. Wenn ich voraussetze, dass sich in dem Komplex Episteme von Daten die beiden Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie strukturell koppeln, so

118 Vgl. N. Bostrom (2016): S.191. Nick Bostrom wird der philosophischen Denkrichtung des Transhumanismus zugerechnet. 119 Vgl. Baudrillard, Jean (1976): Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz. 120 N. Bostrom (2016): S.314. 121 Vgl. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.23,30. 122 Vgl. Foucault, Michel (2005): Analytik der Macht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.148-174 und Rouvroy, Antoinette/Stiegler, Bernhard (2016): »The Digital Regime of Truth. From the Algorithmic Governmentality to a New Rule of Law«, in: La Deleuziana – Online Journal of Philosophy – Life and Number, Nr.3, S.6-27. Elektronisch verfügbar unter: www.ladeleuziana.org/wp-content/uploads/2016/12/Rouv roy-Stiegler_eng.pdf vom 05.09.2019.

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erfolgt daraus ein inhärentes Korrekturpotenzial für den wissenschaftlichen Diskurs. Dieses lässt sich nach zwei Seiten hin profilieren: als ›Wiedereinschreibung des Geistes in die Medienwissenschaft‹123 und als ›Einführung des Materiell-Technischen in die Philosophie‹.124 Der kurrenten Medien- und Datentheorie wird in diesem Zuge abverlangt, Medien und Daten nicht länger nur in ihrer technischen Materialität konfundiert zu begreifen, sondern als Rüstzeug der individuellen wie kollektiven Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Handlungskonstitution beziehungsweise -koordination anzuerkennen. Dies bedingt Neuformulierungen von Kausalitäts- und Finalitätsdeterminanten zwischen Gesellschaftsund Mediengeschichte, die über allzu reduktionistische Setzungen einer verabsolutierten Prägungskraft der Medien und Daten merklich hinauszuweisen hätten. Der Philosophie wiederum werden die Limitierungen einer rein ›theoretizistischen‹ Fokussierung auf gleichsam ›körperlose‹ Rationalitätsprozesse überdeutlich aufgezeigt und zwingt sie dadurch, ihre Reflexionsarbeit um die Analyse eines mediatisierten und datafizierten ›Unterbaus‹ erkenntnisgeleiteter Weltzugänge zu erweitern.125 In Abstraktion der spezifischen Diskurse eines sowohl epistemischen als auch historischen Anbeginns medien- oder datenphilosophischen Nachdenkens könnte gerade auch die kurrente Medien- und Technikphilosophie profitieren. Das Korrektivum für die sich in diesem Komplex lose strukturell koppelnden Disziplinen Medienwissenschaft und Philosophie lässt sich einmal mehr in zwei Richtungen hin extrapolieren: zum einen als ›Einführung des Logos‹ in die Medienwissenschaft, zum anderen als Wiedereintritt des Lautschriftlichen, des Medialen und der Daten in die Philosophie. Wenn eine Epistemologie von Daten deutlich machen könnte, dass sich Geistigkeit, Mentalität, Medialität und Datafizität nicht nur einander nicht ausschließen, sondern sich im Gegenteil wechsel-

123 Dieser Sachverhalt wäre als Reflex zu verstehen auf die folgenreiche Wirkungsgeschichte von Kittler, Friedrich A. (Hg.) (1980): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn/München/ Wien/Zürich: Schöningh. 124 Dieser Umstand ließe sich als Reaktion auf die etablierte Philosophie nach 1945 – prominent die Frankfurter Schule – lesen, die sich bis dahin unter hauptsächlich ideologie- und kulturkritischen Vorzeichen mit Inhalten technischer Verbreitungsmedien auseinandersetzte. Vgl. den rezeptionshistorischen Diskurs zu Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1992): »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer, S.128-176. 125 Vgl. zu diesem Absatz C. Filk (2009): S.198-199,254-257.

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seitig erst hervorbringen, wird evident, dass Philosophie und Medienwissenschaft – auch und gerade in Form einer Europäischen Medienkulturwissenschaft im digitalen Transformationsprozess – perspektivisch am gleichen Formal- und Materialobjekt zu arbeiten hätten. Hierfür dürfte mittelfristig ein gemeinsames definitionsmächtigeres Nachdenken über die Begriffe Daten, Datafizierung und Datafizität notwendig werden.126 Anthropologie von Daten Angesichts der fortschreitenden soziotechnischen Revolutionen hält Paul Mason fest: »Künstliche Intelligenz, lernende Maschinen und Robotik konfrontieren die Menschheit mit Fragen, die wir an Religion, Philosophie oder das Selbsthilfehandbuch auszulagern hofften oder Expertengremien zur Lösung überlassen wollten. Da die denkende Maschine derart große Macht erringen kann, können wir den nächsten Schritt nicht tun, ohne vorher zu klären, wer wir sind und welchen Werten wir unsere intelligenten Maschinen unterwerfen wollen.«127

Mit Blick auf das (wieder) geweckte Interesse an dem medien- oder künftig vielleicht: datenanthropologischen Paradigma erweist sich das Diktum von Günther Anders (ehemals Günther Stern) »Künstlichkeit ist die Natur des Menschen und sein Wesen ist Unbeständigkeit«128 als konstruktives Movens einer geschichtlichen Vergegenwärtigung des ›Dataversums‹ aus der Genealogie der Philosophischen respektive einer Negativen Anthropologie.129 Das Anders’sche ›Haben‹, die »differentia spezifica des Menschen,«130 (re-)konfiguriert sich in einer markanten Inversionsbewegung – vor allem als mannigfache epistemische, sozi-

126 Ebd. 127 Mason, Paul (2019): Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus, Berlin: Suhrkamp, S.198-199. 128 Stern, Günther (1936/1937): »Pathologie de la Liberté. Essais sur la Nonidentification«, in: Recherches Philosophiques, Vol. VI, S.22-54, hier S.22; an dieser Stelle in der Übersetzung wiedergegeben von Reimann, Werner (1990): Verweigerte Versöhnung. Zur Philosophie von Günther Anders, Wien: Passagen, S.22. 129 Vgl. Sonnemann, Ulrich (2011): Negative Anthropologie. Spontaneität und Verfügung. Sabotage des Schicksals, Springe: zu Klampen, S.327,530,536,537. 130 Anders, Günther (1991): Ketzereien, durch ein Reg. ergänzte Aufl., München: Beck, S.192.

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ale und technische Verkehrung. Diese Inversionen dürften ein produktives Irritationspotenzial für den kurrenten (medien-)anthropologischen Diskurs mit sich führen.131 Mithin impliziert das Differenzial ›Haben‹/›Nichthaben‹132 eine doppelte Problematik: Was machen die Menschen mit den Dingen – Technik, Produkte, Medien und Daten – beziehungsweise was machen die Dinge –Technik, Produkte, Medien und Daten – mit den Menschen? Günther Anders resümiert seine »Diagnosen« in Form von drei »Hauptthesen«, Chiffren der Inversion, einer ›Negativen Anthropologie‹ gleich. Im Einzelnen lauten diese: »daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen.«133 Das in seinen begründeten Behauptungen aufscheinende Gefälle zwischen Mensch und Produkt definiert Anders als »prometheisch«: »Die Tatsache der täglich wachsenden A-synchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktewelt, die Tatsache des von Tag zu Tag breiter werdenden Abstandes, nennen wir ›das prometheische Gefälle‹.«134 Die von Anders festgestellte A-synchronisiertheit des Menschen bestimmt das Gefälle zwischen »Machen und Vorstellen«, zwischen »Tun und Fühlen«, zwischen »Wissen und Gewissen« sowie das Gefälle zwischen »produzierte[m] Gerät« und »Leib des Menschen«.135 All diese Diskrepanzen sind durch die gleiche Reziprozität charakterisiert: zum einen »die des ›Vorsprungs‹ des eigenen Vermögens vor dem anderen«, zum anderen »die des ›Nachhumpelns‹ des einen hinter dem anderen«. 136 Obgleich die Günther Anders’sche Untersuchung des »prometheischen Gefälles«

131 Vgl. Filk, Christian (2012): »›Der Mensch ist größer und kleiner als er selbst.‹ Günther Anders’ Negative Anthropologie im Zeitalter der ›(Medien-)Technokratie‹«, in: medienimpulse: Beiträge zur Medienpädagogik 50, Nr.2, S.1-19. Elektronisch verfügbar unter: https://journals.univie.ac.at/index.php/mp/article/view/mi430/644 vom 04. 09.2019. 132 Vgl. G. Anders (1991): S.192: »›Haben‹ ist die differentia spezifica des Menschen; diesen dürfen wir als das animal habens definieren, als das einzige Tier, das ›haben kann‹, nein mehr: das ›can’t help having‹, das gegen sein Habenmüssen nichts unternehmen kann, das ohne Haben nicht sein kann.« 133 Anders, Günther (1987): Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Nachdr. der 7., unveränd. Aufl., München: Beck, S.VII. 134 Ebd., S.16 (Hervorhebung im Original). 135 Ebd., S.16 (Hervorhebung im Original). 136 Ebd., S.16 (Hervorhebung im Original).

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offensichtlich marxistisch stimuliert ist, weist er doch mit seinen Thesen deutlich über die Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie Marx’137 hinaus. Denn die Befunde des Einsatzes von Techniken, der Nutzung von Datenregimen erweisen sich als unabhängig vom jeweils vorherrschenden politischen Gesellschaftssystem, in dem diese zur Anwendung kommen, schließlich kommandiert die Vorgabe der Dispositive ihre Form des Einsatzes. 138 – »Der Triumph der Apparatewelt« – und ebenso der des ›Datenuniversums‹ – »besteht darin«, so ein späteres Fazit Anders’, »daß er den Unterschied zwischen technischen und gesellschaftlichen Gebilden hinfällig und die Unterscheidung zwischen den beiden gegenstandslos gemacht hat.«139 Welche Potenziale und Optionen wird man Daten zuschreiben? Im Gegenüber seiner Produkte empfindet der Mensch ein ›Schamgefühl‹, das Anders »prometheische Scham«140 nennt. Dieser Begriff resultiert aus einer schicksalhaften »Vertauschung von Macher und Gemachtem«.141 »Kurz: die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit sind ausgetauscht. Frei sind die Dinge: unfrei ist der Mensch.«142 Als Quintessenz hält Anders fest: »Scham[.] [ist] ein in einem Zustand der Verstörtheit ausartender reflexiver Akt, der dadurch scheitert, daß der Mensch sich in ihm, vor einer Instanz, von der er sich abwendet, als etwas erfährt, was er ›nicht ist‹, aber auf unentrinnbare Weise ›doch ist‹.«143

Soziologie von Daten Vorstehend habe ich bereits herausgestrichen, dass Grenzziehungen zwischen Mensch, Maschine und Natur Gefahr laufen, desavouiert zu werden. In der

137 Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1983): Werke, Band 42. Ökonomische Manuskripte 1857/1858, Berlin: Dietz. 138 Vgl. Liessmann, Konrad Paul (1988): Günther Anders zur Einführung, Hamburg: Junius, S.35-36. 139 Anders, Günther (1987): Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, 4., unveränd. Aufl., München: Beck, S.110. 140 G. Anders (1987): S.23. 141 Ebd., S.25. 142 Ebd., S.33. 143 Ebd., S.67-68 (Hervorhebung im Original).

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Actor-Network-Theory144 wurde der Bourdieu’sche Ansatz des »wissenschaftlichen Feldes«145 – vor allem im Kontext einer korrelativen Transformativität symbo-lischen und materiellen Kapitals –146 wissenschaftssoziologisch von Michel Callon147 und Bruno Latour148 weiterentwickelt. In der Forschungsliteratur wird annotiert, dass es sich bei dieser Theorie mitnichten um eine neue Konzeptualisierung handelt, viel eher um eine Paradigmatisierung, eine Re-Konstellierung bereits vorherrschender Akteur/Objekt-Relationen, die unter dem Aspekt einer ›symmetrischen Anthropologie‹ neu arrangiert werden.149 Als Akteur*innen fungieren hier: »alle Entitäten [nota bene! – dies schließt ›Subjekte‹ und ›Objekte‹ ein; C. F.], denen es mehr oder weniger erfolgreich gelingt, eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen«150. Die konstitutiven Definitionen und Differenzierungen von ›sozialen Akteuren‹ und ›natürlichen Objekten‹ beziehungsweise ›Geist‹, ›Natur‹, ›Materie‹ und ›Gesellschaft‹, welche die

144 Vgl. zu konzeptuellen Grundlagen Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.) (2006): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript. 145 Vgl. Bourdieu, Pierre (1998): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, S.28. 146 Vgl. Bourdieu, Pierre (1991): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.143-150,193-195 und Bourdieu, Pierre (2002): Homo academicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.27,45,57,9398,132-134,151-153,210. 147 Vgl. Callon, Michel (1986): »Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.): Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, London et al.: Routledge, S.196-233, hier S.197,201,203,205-206,211-213,219. 148 Vgl. Latour, Bruno (2002): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.7-35,211-264. 149 Vgl. Weingart, Peter (2003): Wissenschaftssoziologie, Bielefeld: transcript, S.71. 150 Callon, Michel (1991): »Techno-Economic Networks and Irreversibility«, in: John Law (Hg.), A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, London et al.: Routledge, S.132-161, hier S.140; zitiert nach Schulz-Schaeffer, Ingo (2000): »Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik«, in: Johannes Weyer (Hg.): Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien: Oldenbourg, S.187-209, hier S.189.

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disziplinären Grundlagen der akademischen Fächerstrukturen ausmachen, werden durch die Actor-Network-Theory radikal in Zweifel gezogen: »Für die Wissenschaftsforschung hat es keinen Sinn, unabhängig voneinander über Epistemologie, Ontologie, Psychologie und Politik zu sprechen – ganz zu schweigen von Theologie, kurz gesagt ›dort draußen‹ oder die Natur; ›dort drinnen‹ oder der Geist; ›dort unten‹ oder die Gesellschaft; ›dort oben‹ oder Gott. Wir sehen diese Bereiche nicht als voneinander getrennt an,vielmehr gehören sie alle zur selben Übereinkunft, einer Übereinkunft, die durch mehrere Alternativen ersetzt werden kann.«151

Um hinter die bereits kaum mehr hinterfragten vorherrschenden Differenzierungen und Attribuierungen im Diskurskontext der Produktion wissenschaftlichtechnischen Wissens zurückzugehen, werden soziale und nicht-soziale Akteure, materiale und natürliche Objekte in symmetrischen Konstellationen152 miteinander in Relation gesetzt. Alle Entitäten, einschließlich materielle Objekte, geografisch-topografische Bedingungen, technische Artefakte, Datenströme, Organismen usf., werden als ›Akteure‹ begriffen, die sich entweder als kooperativ oder als kontraproduktiv bei der Formulierung und Realisierung bestimmter Erkenntnisziele herausstellen und die das darauf fokussierte Handeln von Forscher*innen beeinflussen (können).153 Die Errungenschaft von Wissenschaftler*innen, Wissen hervorzubringen und eben für dieses soziale Akzeptanz zu verlangen, ist nicht durch Maßstäbe von ›Wahrheit‹ und deren Einlösung zu erklären und zu rechtfertigen, vielmehr durch clevere Manipulationen korrespondierender Netzwerke mit heteronomen Komponenten (im oben beschriebenen Verständnis), um sich deren Support bei der Erreichung eigener Ziele zu vergewissern. Allein unter der Prämisse, dass sich das Netzwerk stabilisiert, verschafft sich das postulierte Wissen (Hypothese, Theorie etc.) soziale Geltung. Zentrales Moment der Actor-Network-Theory sind ›Übersetzungen‹, der Transfer von zuerst voneinander isoliert bestehenden Bestandteilen in den interessenbasierten Kontext eines relevanten Netzwerks, eines »Kollektivs«, mithin eines gemeinsamen strategischen Kalküls zum jeweils eigenen Vorteil.154

151 B. Latour (2002): S.23. 152 Als ein bekanntes Exempel für dieses Denken vgl. Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main/New York: Campus, S.33-72. 153 Vgl. P. Weingart (2003): S.72. 154 Vgl. als Nachweis zu diesem Absatz ebd., S.72.

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Normativität von Daten Über eine sehr lange Zeit hinweg dienten humanistische Positionen als wesentliche normsetzende Instanzen.155 Kann ein digitaler Idealismus oder Humanismus konzeptuell-programmatisch die normative Grundlage für eine praktische Philosophie der ›Datafizierung‹ individueller und kollektiver Lebenswelten abgeben? Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, inwieweit digitale und soziale Netzwerke als Sozialisatoren durch ihre subtilen Konsumismen auf Prosumer*innen jeden Lebensalters als Sozialisanten einwirken.156 Der Befund manifestiert sich in Form eines selbstperformativen medialen Habitus: »Die Entinnerlichung der Person erfolgt […] nicht gewaltsam. Sie findet als freiwillige Selbst-Entblößung statt. Die Negativität der Andersheit oder Fremdheit wird entinnerlicht zur Positivität der kommunizierbaren, konsumierbaren Differenz oder Diversität. Das Dispositiv der Transparenz erzwingt eine totale Äußerlichkeit, um den Kreislauf von Information und Kommunikation zu beschleunigen.«157

Die Normativität von Daten ist immer kontextualisiert. Wenn wir Digitalisierung und Datafizierung einer eingehenden Betrachtung unterziehen, so ist unklar, wie eine adäquate Perspektive für normative Kritik zu finden ist. Wie kann ich mich als soziale*r Agent*in von einem Datenregime oder einer algorithmischen Kontrolle distanzieren? In einem digitalen Frameset können Werte gewonnen und verloren werden.158 Darüber hinaus zeigt die Praxis, dass Prognosen und Präven-

155 Vgl. Faber, Richard/Rudolph, Enno (Hg.) (2002): Humanismus in Geschichte und Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck. 156 ›Medien‹ stellen außer der akzeptierten ersten, zweiten und dritten Sozialisationsinstanz – Familie, Schule, Peers – eine weitere vierte dar, auch wenn diese in der gängigen Sozialisationsforschung noch längst nicht Legion ist. Vgl. Hurrelmann, Klaus et al. (Hg.) (2015): Handbuch Sozialisationsforschung, 8., vollst. überarb. Aufl., Weinheim: Beltz. Die berechtigten Einwände zur Kenntnis nehmend, ist es wohl präziser, im Fall von Medien von ›Sozialisationsagenten‹ zu sprechen. Vgl. Hajok, Daniel (2004): Jugend und Fernsehinformation. Eine explorativ-deskriptive Studie, Berlin: Freie Universität (Dissertation), S.51-60. Elektronisch verfügbar unter: https: //refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/10767/1_Kapitel1.pdf vom 06.09. 2019. 157 B.-C. Han (2015): S.19-20. 158 Vgl. A. Rouvroy/B. Stiegler (2016).

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tionen eine zukunftsorientierte Verantwortung hervorbringen (werden), deren Normativität noch zu bestimmen ist.159 Wie könnte eine solche aussehen? In einigen aktuellen Diskursen um die Normativität von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, Biotechnologie und Human Engineering wurden indes Positionen des klassischen Humanismus depotenziert und/oder dekonstruiert. Die Menschen geraten in fundamentale existenzielle Zielkonflikte: »Sollen wir die Technologie einsetzen, um die Menschen schrittweise zu verbessern, oder sollen wir bewusst ein Wesen schaffen, das besser ist als der Homo sapiens, um diesen ›die Regelung aller unserer Angelegenheiten‹ zu überlassen?«160

Die Konkurrenz zwischen den beiden oben genannten Alternativen reformuliert sich zwischen post- und transhumanistischen Dispositionen.161 Ungeachtet zu konzedierender Differenzen und Nuancen vertritt der Posthumanismus die Grundauffassung, dass die Gattung Mensch den Höhepunkt ihrer evolutionären Genese schon erreicht habe. Die nächste Entwicklungsstufe liege in der Verfügungsgewalt einer künstlichen, neurocomputationalen Intelligenz, welche dem Homo sapiens in zahlreichen Hinsichten überlegen wäre. 162 Der Transhumanismus, der die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, seien sie biologisch und kognitiv, physisch und psychisch, durch den Einsatz (super-)intelligenter, technologischer Verfahren erweitern will,163 entwirft als Zukunftsszenarien unter anderen: »We advocate the well-being of all sentience, including humans, non-human animals, and any future artificial intellects, modified life forms, or other intelligences to which technological and scientific advance may give rise. We favour allowing individuals wide personal choice over how they enable their lives. This includes use of techniques that may be developed to assist memory, concentration, and mental energy; life extension therapies; re-

159 Vgl. Rehmann-Sutter, Christoph (2019): »Gibt es eine Pflicht, seine Gene zu kennen? Moralische Kontextualisierung des Rechts auf Nichtwissen«, in: Gunnar Duttge/Christian Lenk (Hg.): Das sogenannte Recht auf Nichtwissen. Normatives Fundament und anwendungspraktische Geltungskraft, Paderborn: Mentis, S.131-147. 160 P. Mason (2019): S.217. 161 Vgl. ebd., S.218. 162 Vgl. Herbrechter, Stefan (2013): Posthumanism. A Critical Analysis, London/New Delhi/New York: Bloomsbury, S.31-74. 163 Vgl. N. Bostrom (2016): S.77-79.

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productive choice technologies; cryonics procedures; and many other possible human modification and enhancement technologies.«164

Von einem historisch-systematischen Standpunkt aus betrachtet wird deutlich: Sobald sich die soziotechnischen Rahmenbedingungen von Gesellschaft, Kommunikation, Kultur und Gemeinschaft verändern, zeitigt dieser Umstand Verschiebungen in den normativen Prämissen, Maximen und Imperativen für das letztendlich soziale Miteinander. Denn bedeutsam für eine Ethik der über Medien, Daten und Neuronen sich vernetzenden oder vernetzten Gesellschaft ist die Integration der nicht mehr medien- oder technikextern zu fixierenden, sondern der medien- und technikintern zu definierenden realen, virtuellen und/oder artifiziellen Gemeinschaftsformen und Partizipationsnormen. In letzter Konsequenz könnte sich uns oder anderen (sic!) – wir wissen heute nicht, welche ›Entitäten‹ das sein könnten – unweigerlich die Frage stellen: Wird das »Recht dieser neuen Gesellschaftsformen« – mithin Partizipationsnormen – elementar als ethisch legitimierend respektiert werden?165 Es lässt sich trefflich spekulieren, welche Analyse greifen könnte: Je nach Theorie- und Problemimplikation reicht das Spektrum der Antworten von einer reformulierten aristotelischen Tugendethik166 über eine neopragmatische Disposition167 bis hin zu einer Ethik des Unentscheidbaren.168 Dieses Kapitel habe ich unter der Annahme verhandelt, dass Ansichten einer Europäischen Medienkulturwissenschaft in spe essenziell von der Kontinuität respektive Diskontinuität der Problemorientierung über Daten, Datafizierung und Datafizität abhängen werden. Wie auch immer sich die (r-)evolutionären Prozesse von großen Datenmengen verarbeitenden Netzwerken gestalten mögen, ob nun eher disruptiv und agil oder eher inkrementell und statisch verlaufend, ist von heutiger Warte aus schlechterdings nicht absehbar.

164 Baily, Doug et al. (o. J.): »Transhumanist Declaration«, elektronisch verfügbar unter: https://humanityplus.org/philosophy/transhumanist-declaration/ vom 05.09.2019 165 Vgl. Sandbothe, Mike (1996): »Medienethik im Zeitalter des Internet«, in: Telepolis vom 07.05.2019, elektronisch verfügbar unter: www.heise.de/tp/artikel/1/1035/1. html vom 05.09.2019. 166 Vgl. P. Mason (2019): S.204,207. 167 Vgl. M. Sandbothe (1996): o.S. 168 Vgl. D. Baecker (2018): S.207-213,271.

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RESÜMEE In dem vorliegenden Aufsatz intendierte ich, mich offensiv mit den konzeptuellprogrammatischen Anforderungen und Herausforderungen der (Re-)Konstruktion einer Europäischen Medienkulturwissenschaft zu befassen. Den Ausgangspunkt dazu bildeten die mannigfaltigen historischen und semantischen Problemimplikationen des gleichnamigen forschungsleitenden Narrativs dieser Wissenschaft. Rasch stellte sich heraus, dass meine Reflexion auf die damit in den Beobachtungs- und Beschreibungsoperationen aktualisierten und potenzialisierten Konstituenten einer Europäischen Medienkulturwissenschaft einer Zunahme von Komplexität ausgesetzt war. Von der Beobachter*innenposition aus untersuchte ich: Wessen wird eine Europäische Medienkulturwissenschaft im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch ansichtig, wenn sie die Komplexe ›Europa‹/›europäisch‹ – ›Kultur(-alität)‹/›kulturell‹ – ›Medialität‹/›medial‹ – ›Wissenschaft‹/›wissenschaftlich‹ betrachtet? Mein Hauptaugenmerk richtete sich auf mögliche (Selbst-)Beobachtungsund (Selbst-)Beschreibungslogiken einer Europäischen Medienkulturwissenschaft, sprich: Wie werden Problemata respektive Dilemmata der Strukturierung, Stabilisierung und (Re-)Kombinierung des Erkenntnisfortschritts in diesem Anwendungsbereich gehandhabt? Der Ausdifferenzierungsprozess der in Rede stehenden Wissenschaft förderte zutage, auf welche Art und Weise sich (Selbst-) Beobachtungs- und (Selbst-)Beschreibungslogiken umstellen von öffentlichen Themen für die (sub-)systemische Kommunikation auf Daten verarbeitende Netzwerke auf unterschiedlichen Ebenen wie global, supranational, regional oder situiert. Selbstreflexivität Obwohl ich mich in diesem Beitrag intensiv mit Erkenntnisinteressen und Forschungsgegenständen einer künftigen Europäischen Medienkulturwissenschaft auseinandergesetzt habe, ist mit Jürgen Mittelstraß zu Recht an einen wichtigen Sachverhalt zu erinnern: »Wissenschaft, in ihrer europäischen Tradition, ist von Hause aus nicht nur objektorientiert, sondern auch selbstreflexiv […].«169 Den Phänomenen von Wissenschaft und Gesellschaft auf unterschiedlichsten Ebenen

169 Mittelstraß, Jürgen (1997): Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.167 (Hervorhebung »in ihrer europäischen Tradition« durch C. F., Hervorhebung »selbstreflexiv« im Original).

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versucht man, durch die Installierung von Reflexionstheorien170 oder von reflexiven Mechanismen171 für jeweils funktional spezifische Teilsektoren der Wissenschaft und/oder Gesellschaft zu begegnen: »Wenn sie [gemeint sind »reflexive Mechanismen«; C. F.] eingerichtet sind, erlauben sie es dem System, das über sie verfügt, eine höhere Stufe der Komplexität zu erreichen, weil sie es ermöglichen, komplexere Sachverhalte rascher zu verarbeiten.«172

Wenn man voraussetzt, eine Europäische Medienkulturwissenschaft wird im digitalen Transformationsprozess sukzessive solche oder ähnliche funktionsspezifischen Reflexionskonzepte173 ausbilden, so könnte sie zwar keinen adäquateren oder korrekteren Zugriff auf – wie auch immer geartete – Erkenntnisse und/oder Einsichten für sich reklamieren. Trotzdem könnte sie dadurch höhere Komplexitäten in Form mehr oder weniger fester struktureller Kopplungen zwischen den Elementen einer ›Europäischen Medien-kultur-wissenschaft‹ verhandeln, wobei ›Daten‹, ›Datafizierung‹ und ›Datafizität‹ sukzessive selektiv und strukturierend – im Sinne sich selbst limitierender Kontexte – fungieren könnten. Expansionsimpulse Unbeschadet der konkreten Konfiguration jener Relationen zeigt sich indes im Endeffekt, dass das intensivierte Umweltverhältnis ausdifferenzierter Funktionssysteme für das Wissenschaftssystem Expansionsimpulse mit sich bringt. Die Umstellung auf Netzwerklogi(-sti-)ken qua Datafizierung dürfte diese Entwicklung sogar noch beschleunigen, vor allem durch potente datengetriebene Modernisierungsdynamiken und Innovationsverdichtungen.174 Der Befund zeitigt Folgen und Konsequenzen für die inneren und äußeren Umwelten einer Europäischen Medienkulturwissenschaft, etwa durch sich ›verändernde Medien‹ oder durch ein sich ›wandelndes Europa‹. Nach übereinstimmenden systemtheoretischen Analysen kann das Funktions- und Kommunikationssystem Wissenschaft

170 Vgl. N. Luhmann (1992): S.471-472,533-536,699-701. 171 Vgl. P. Weingart (2001): S.17. 172 Luhmann, Niklas (1991): »Reflexive Mechanismen«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag, S.92-112, hier S.106. 173 Vgl. P. Weingart (2001): S.17. 174 Vgl. H. Rosa (2016): S.44.

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im Prinzip mittels zweier Mechanismen auf das zunehmende Wachstum nach innen reagieren: Erstens erhöht das System Wissenschaft seine Selektivität, mithin seine Ausdifferenzierung.175 Man könnte auch von einer Strukturierung beziehungsweise einer Hierarchisierung von Aufmerksamkeit sprechen. Just die selektive Aufmerksamkeit avanciert zum »strukturierende[n] Prinzip in der wissenschaftlichen Kommunikation;176 Aufmerksamkeit wird zum »Maß für den Nutzwert von Information« 177 schlechthin. Der Zustand selektiver Aufmerksamkeit betrifft in Sonderheit die im Laufe der Zeit stetig wachsende Menge wissenschaftlicher Publikationen, die zu nicht geringen Anteilen überhaupt nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn verarbeitet werden können.178 Zweitens setzt das Wissenschaftssystem im Zuge seines explosionsartigen informationellen Wachstums seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Innendifferenzierung179 und Spezialisierung180. Dabei zielt der Spezialisierungsprozess vornehmlich auf Rollen und Personen ab.181 Mithin erweisen sich die Momente der Innendifferenzierung beziehungsweise der Spezialisierung als Reflex auf die ungeheure Zunahme wissenschaftlicher Produktion und Literatur. Und womöglich könnte hierin eine Europäische Medienkulturwissenschaft – gerade in Abgrenzung zu ihren internen wissenschaftlichen Umwelten – eine weitere identitätsstiftende Aufgabe für sich finden. Dieser Zusammenhang ließe sich als Ergebnis strategischen Handels interpretieren: Erhöht sich die Anzahl der Wettbewerber*innen und nimmt die Dichte der Konkurrenz zu, so wird sich der Impetus, die Motivation zur Differenzierung, was sich in der Regel in der Spezialisierung eines wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrgebiets manifestiert, verstärken: Spezialisierung erweist sich mitnichten als zufällig; vielmehr wird sie durch gegebene disziplinäre Strukturen, Objektbereiche, Problemorientierungen etc. der Wissenschaft als ein kalku-

175 Vgl. R. Stichweh (1984): S.44. 176 P. Weingart (2001): S.104. 177 Vgl. Franck, Georg (2003): Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf, 7. Aufl., München/Wien: Hanser, o.S. 178 Vgl. zu diesem Absatz P. Weingart (2001): S.104. 179 Vgl. R. Stichweh (1984): S.44. 180 Vgl. R. Weingart (2001): S.104. 181 Vgl. Stichweh, Rudolf (1991): »Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung«, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München: Fink, S.99-112, hier S.99-102.

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lierbarer Erwartungshorizont konturiert. Im Fall einer Europäischen Medienkulturwissenschaft könnten sich mitunter engere Anschlüsse zu Europawissenschaften und/oder European Studies ergeben.182 Künftige Potenziale und Optionen Das Umwelthandeln, das Wolfang Krohn und Günter Küppers als »Wissenschaftshandeln« bestimmen, unterscheidet sich insoweit von rekurrenten Interventionen des Forschungshandelns, als dass die damit verbundenen Handlungsgebiete nicht die Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Wissens betreffen, sondern sie beziehen sich auf Felder wie Publikationssystem, Wissenschaftspolitik, Forschungsförderung, Wissenschaftsfinanzierung sowie besondere Praxisroutinen. Der Sachverhalt, dass Wissenschaftler*innen und Nichtwissenschaftler*innen mit zumeist unterschiedlichen Intentionen, Konzeptionen und Motivationen in inner- und/oder außerwissenschaftlichen Umwelten handeln, schafft »Ränder«, über welche jedoch keine Anspruchsgruppe allein entscheiden kann. Eben dadurch besteht eine gewisse Unabhängigkeit für weitere Anschlüsse des Handelns.183 Vielleicht könnte davon eine Europäische Medienkulturwissenschaft wegen ihres in mehrfacher Hinsicht durchaus attraktiven sinnlichen Verweisüberschusses profitieren? Ob es sich bei Europäischer Medienkulturwissenschaft um eine Disziplin oder um ein Forschungsprogramm handelt, konnte in diesem Beitrag nicht einmal ansatzweise geklärt werden. Im Sinne pluraler Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen ist wohl davon auszugehen, dass beide Lesarten bis auf Weiteres parallel nebeneinander verwendet werden (könnten). Wie dem auch sei! Bleibt mir am Schluss – in freier Paraphrase einer These Niklas Luhmanns –, ein Fazit zu ziehen: Die ›Welt‹ braucht sicherlich nicht auf die Academia zu warten, denn sie, die ›Welt‹, hat ihre Probleme immer schon gelöst. Trotzdem oder gerade deshalb könnte nicht zuletzt eine Europäische Medienkulturwissenschaft im strukturellen digitalen Gesellschaftsumbruch spannende Antworten geben auf die herausfordernde Frage nach dem »Wie«. 184

182 Vgl. zu diesem Abschnitt C. Filk (2009): S.162. 183 Vgl. zu diesem Absatz W. Krohn/G. Küppers (1989): S.66-121,122-131. 184 Vgl. Luhmann, Niklas (1991): »Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen: Westdeutscher Verlag, S.309-320, hier S.316: »Funktionale Analyse ist eine Technik der Entdeckung schon

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Perspektiven einer Europäischen Medienwissenschaft Thomas Weber

Mein Beitrag zu Perspektiven einer europäischen Medienwissenschaft denkt diese als zukünftiges Projekt und will durch eine essayistische, thesenorientierte Darstellung eher eine Diskussion eröffnen als abschließende Konklusionen zu präsentieren. Denn es fehlt sowohl an einer unstrittigen Definition dessen, was ›europäisch‹ sein soll, als auch ein allgemein geteiltes Verständnis dessen, was Medienwissenschaft ist und insbesondere auch, was denn nun ihre potentielle europäische Dimension sein soll. Dieser Beitrag ist geprägt von meinen Erfahrungen an der Universität Hamburg, einen Studiengang Medienwissenschaft auszugestalten und Forschungsprojekte zu initiieren. Meine Überlegungen befassen sich zunächst mit dem Definitionsproblem der europäischen Idee, werden sich dann mit einer Skizze verschiedener epistemologischer Dimensionen der Medienwissenschaft und ihren möglichen europäischen Dimensionen beschäftigen, um abschließend einen möglichen Anwendungsbereich einer europäischen Medienwissenschaft beispielhaft vorzustellen.

WAS IST EUROPA HEUTE? Es ist nicht einfach, klar zu definieren, was Europa heute sein soll. Seit den 1950er Jahren schien in den Debatten über eine Europäische Gemeinschaft, beginnend vielleicht mit dem deutsch-französischen Dialog der 1950er Jahre und nicht zuletzt mit der Initiative des Weimarer Dreiecks (Polen, Frankreich und Deutschland) in den 1990er Jahren, Europa als Idee und Hoffnung aufzublühen und als Projekt zu inspirieren. Seither ist viel Zeit vergangen und dieses Projekt wird in zunehmendem Maße in Frage gestellt.

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Erst beanspruchte Polen eine nationale Sonderrolle – und das gleich zweimal, jedes Mal verbunden mit dem Namen Kaczyński und mit populistischen, nationalistischen Forderungen. Nicht zuletzt muss auch Großbritannien erwähnt werden, das sich nie damit zufriedengab, ein gewöhnliches Mitglied der Europäischen Union zu sein und seit 2017 an seinem eigenen Austrittswillen aus der EU verzweifelt. Ich möchte hier nicht näher auf eine Analyse der politischen Hintergründe einer Vertrauenskrise in die europäischen Institutionen eingehen, auch wenn die EU sich allzu oft nur als Projekt der politischen Eliten und ökonomischer Interessengruppen gerierte mit einem eklatanten Mangel an zivilgesellschaftlichem Engagement – so zumindest die häufig geäußerte Kritik. 1 Das sind vielleicht Gründe, warum die Öffentlichkeitsarbeit und das Marketing der europäischen Institutionen zur Förderung der europäischen Integration oder gar eines ›vereinten Europas‹ vom Publikum in den Mitgliedstaaten wenig Feedback bekommen. Die meisten Menschen und Institutionen denken lieber noch in nationalen Grenzen,2 auch wenn die Mehrheit der Idee von Europa und den darin zum Ausdruck kommenden abstrakten Grundwerten mehr oder weniger zustimmt und diese teilt. Aber warum fühlen sich die Menschen der Idee von Europa verbunden? Gibt es vielleicht Gründe, die eine Grundlage für eine kollektive europäische Identität bilden könnten?3 Ein solches europäisches ›Wir-Gefühl‹ könnte sich auf Katego-

1

Haller, Max (2008): European integration as an Elite Process. The Failure of a Dre-

2

Clemens, Gabriele (2016): »Europäische Identität – Europäische Öffentlichkeitsarbeit

am? New York/London: Routledge. – Europafilme – Forschungsstand«, in: Dies. (Hg.), Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S.9-42, hier S.9. Zu den Anfängen der Öffentlichkeitsarbeit der europäischen Institutionen vgl. Reinfeldt, Alexander (2014): Unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Akteure und Strategien supranationaler Informationspolitik in der Gründungsphase der europäischen Integration, 1952-1972, (Studien zur Geschichte der europäischen Integration 19), Stuttgart: Franz Steiner Verlag. 3

Aufgrund der sehr häufigen Verwendung des Begriffs ›kollektive Identität‹ in den Sozial- und Geschichtswissenschaften ist es kaum möglich, alle Beiträge und Definitionen zu berücksichtigen. Vgl. u. a. Stråth, Bo (2010): »Multiple Europes: Integration, Identity and Demarcation to the Other«, in: Ders. (Hg.), Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel: Peter Lang 2010, S.385-420. Ders. (2002): »A European Identity. To the Historical Limits of a Concept«, in: European Journal of Social Theory 5, 4. S.387-401; Schmitt-Egner, Peter (2012): Europäische Identität. Ein konzep-

Perspektiven einer Europäischen Medienwissenschaft | 115

rien wie Sprache, Werte und Normen, Religion, Geschlecht, soziale Bedingungen, kulturelle Erfahrungen, Geschichte und insbesondere Erinnerungen an eine problematische Vergangenheit beziehen,4 die von den Medien oder der medialen Kommunikation übertragen und konstruiert werden.5 Folglich sind Medien ein wesentlicher Bestandteil des Aufbaus und der Kommunikation von Aspekten der Identität und wichtig für die Konstruktion gemeinsamer Erfahrungen und Erinnerungen. Eine ›Gedächtnislücke‹, die für Europa als Nation oft behauptet wird, könnte durch kulturelle Verflechtungen und die Schaffung eines ›Wir-Gefühls‹ der europäischen Bürger überwunden werden, das der Ausgangspunkt der Identifikation mit Europa und einer gemeinsamen europäischen Identität ist. Mit dem Begriff ›europäisch‹ setzen wir einen bestimmten Rahmen, der an den nationalen Status Europas assoziiert wird. Wenn wir also etwas ›Europäisches‹ nennen, müssen wir uns immer mit den Beziehungen zwischen einem einzelnen Nationalstaat und der Europäischen Gemeinschaft sowie zwischen der Europäischen Gemeinschaft und anderen Regionen der Welt befassen. Auch wenn wir uns also eher auf kulturelle als auf politische Aspekte konzentrieren, werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten spezifischer nationaler Kulturen durch diese Perspektive skizziert – und das gilt auch für einen wissenschaftlichen Diskurs namens europäische Medienwissenschaft. Daher lautet meine erste These, dass die geeignetste Methode, um eine europäische Perspektive auf die Medien zu initiieren, immer der Vergleich von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der europäischen Kulturen ist.

tioneller Leitfaden zu ihrer Erforschung und Nutzung, Baden-Baden: Nomos; Loth, Wilfried (2007): »Europäische Identität und europäisches Bewusstsein«, in: Reiner Marcowitz (Hg.), Nationale Identität und transnationale Einflüsse. Amerikanisierung, Europäisierung und Globalisierung in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, München: Oldenbourg, S.35-52. In Bezug auf die Konstruktion einer Nation schrieb Benedict Anderson als Erster über eine »kollektive Identität« und »vorgestellte Gemeinschaften«: Anderson, Benedict (2006): Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revised ed., London/New York: Verso. 4

Die 1973 von den Außenministern der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft veröffentlichte Erklärung mit dem Titel »Declaration on European Identity« fokussierte jedoch nicht die Gemeinsamkeiten, sondern betonte die »Vielfalt der Kulturen« als ein Merkmal der europäischen Identität. https://www.cvce.eu/content/ publication/1999/1/1/02798dc9-9c69-4b7d-b2c9-f03a8db7da32/publishable_en.pdf vom 18.12.2013 [07.09.2016].

5

Vgl. Logge, Thorsten/Rüter, Telse (2012): »Europa bauen?«, http://netzwerk.hypothe ses.org/1508 vom 01.11.2012 [07.09.2016].

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Insbesondere der Anteil der Medien am Aufbau der Zivilgesellschaft scheint der entscheidende Punkt für die europäische Medienwissenschaft zu sein.

MEDIENWISSENSCHAFT ALS PROJEKT: DIE SIEBEN ORDNUNGEN DES MEDIENWISSENS Um aus dem Dilemma der verschiedenen Ansprüche und Zuordnungen herauszukommen, scheint es nötig, einen metatheoretischen Zugriff auf die Medienwissenschaft zu entwickeln, der eben nicht die historische Entwicklung in ihren lokalen Ausprägungen nachzeichnet. Ich habe hierfür eine epistemologische Perspektive gewählt, die grundlegende Erkenntnisinteressen einer in Deutschland vertretenen Disziplin Medienwissenschaft benennt (die folgende Skizze basiert auf einer Vorlesung zur Einführung in Theorien und Methoden der Medienwissenschaft an der Universität Hamburg, die vor dem Problem stand, die komplexe und differenzierte Geschichte der Disziplin mit ihren zahlreichen Schnittstellen zu anderen Disziplinen in einer für Studierende noch nachvollziehbaren und d. h. vereinfachten Form zu präsentieren).6 Um die verwirrende Komplexität der medienwissenschaftlichen Theorien und methodischen Zugänge handhabbar zu machen, wurden sieben zentrale »Ordnungen des Medienwissens« benannt, mit denen sich manchmal auch widersprüchliche Theorien und Methoden, Ansätze oder Schulen im Hinblick auf ihre epistemologischen Interessen unterscheiden lassen. Aisthesis Als erste Ordnung möchte ich die der Aisthesis nennen, die alle Fragen der spezifischen medialen Darstellung, der medienspezifischen Ästhetik von Medienprodukten und der Medienwahrnehmung im weitesten Sinne umfasst, d. h. körperliche und phänomenologische Aspekte der Wahrnehmung. Die Ordnung der aisthetischen Wahrnehmung setzt bei sinnlich-ästhetischen Erfahrungen an, die mit allen darstellenden, performativen Medien (also Medien wie Theater, Malerei, Photographie, Film usw.) verbunden sind. Die Analyse der aisthetischen Wahrnehmung von Medien zielt daher immer auf einer körperliche, sinnliche Medienerfahrung. Es geht um die Frage, wie Medien die menschlichen Sinne an-

6

Siehe dazu z.B. Schröter, Jens/Ruschmeyer, Simon/Walke, Elisabeth (Hg.) (2014): Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: Verlag J.B. Metzler.

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sprechen, welche körperlich-leibhaften Erfahrungen man mit ihnen machen kann und wie sie gegebenenfalls auch die sinnliche Wahrnehmung verändern. Im Rahmen einer europäischen Medienwissenschaft könnte nach kulturellen Unterschieden der Wahrnehmung gefragt werden: Haben wir alle Europäer die gleiche gemeinsame Wahrnehmung von Medien? Oder gibt es einige – vielleicht versteckte – kulturelle Unterschiede in der Gestaltung der Ästhetik oder des Verständnisses von Wahrnehmung? Ich denke hier zum Beispiel an die Studien von Edward und Mildred Hall, die das Verhalten und die Denkgewohnheiten von Franzosen, Deutschen und Amerikanern verglichen haben und dabei nachweisen konnten, dass sich Zeit- und Raumvorstellungen kulturell unterscheiden.7 Kognitive Distinktionen Die zweite Ordnung des Medienwissens befasst sich mit kognitiven Distinktionen, d. h. mit bewussten Unterscheidungen, die zur Konstruktion von Unterscheidungssystemen führen. Es geht hier nicht mehr um Eindrücke, um Atmosphäre und Stimmungen, sondern um klar definierbare, voneinander unterscheidbare, distinkte Informationen. Dies können z.B. Zeichen sein oder bestimmte Codes, Pattern oder Muster oder bewusst wiederholt eingesetzte Ausdrucksmittel, bestimmte Schemata oder Konventionen der Narration, der Dramaturgie, von Gattungen, Genres oder des Programms. Kognitive Distinktionen setzen bei bewussten Medienerfahrungen an, bei kognitiven Lernprozessen der Informationsverarbeitung und d. h. auch der Informationsunterscheidung. Sie sind weniger an sinnlicher Erfahrbarkeit interessiert als vielmehr an der Konstruktion von Klassifikationssystemen. Diese Ordnung deckt ein sehr breites Spektrum von Theorien und Ansätzen ab, die auf der Frage basieren, wie Medien differenzierte Bedeutungen erzeugen. Auf der einen Seite haben wir alle Arten von Theorien oder Methoden, die nach den kleinsten sinnvollen Einheiten in einem Medienprodukt suchen (wie die Semiotik, die Montagetheorie oder der Kognitivismus) und auf der anderen Seite stehen Theorien und Methoden, die nach ästhetischen Zusammenhängen suchen, nach Mitteln, in denen formale Strukturen Elemente sind, die miteinander verbunden in einem neuen Rahmen eine andere Bedeutung erhalten (wie dies beispielsweise in der Dramaturgie, Narratologie, im Neo-Formalismus oder in der Programmforschung behandelt wird).

7

Hall, Edward Twitchell/Hall, Mildred Reed (2012): Understanding cultural differences: Germans, French and Americans, Nachdruck, Boston, Mass.: Intercultural Press.

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Eine europäische Dimension zeigt sich in der Frage, ob diese Strukturen national oder kulturell typisch sind oder ob sie sich über spezifisch nationale und kulturelle Zuordnungen hinaus verallgemeinern lassen. Hinterfragt werden könnte auch, ob die Strukturen ahistorisch allgemein menschliche Ausdrucksformen adressieren, eine spezifisch europäische oder eine globalisierte, transkulturelle und transnationale Form von Kultur. Bedeutungssysteme Die dritte Ordnung zeigt sich in der Analyse von Bedeutungssystemen, die die verborgene Bedeutung einer Bedeutung zu enthüllen versucht. Eine Auseinandersetzung mit Medien, die auf Bedeutungssysteme zielt, lässt sich nur bedingt auf Medien an sich ein, sondern zielt vielmehr auf den Kontext, in dem Medien gebraucht werden. Medien werden hier nicht als Kunstwerke aufgefasst, sondern als Kommunikate innerhalb eines gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses. Für die Analyse dieser Kommunikationsprozesse stehen bereits entsprechende theoretische Instrumentarien zur Verfügung, die in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Erfahrungen entwickelt wurden wie z.B. die Psychoanalyse oder die Ideologiekritik. Die Analyse von Medienerfahrungen zielt aus der Sicht von Bedeutungssystemen nicht auf die medialen Eigenheiten, sondern auf die Enthüllung verborgener gesellschaftlicher und kultureller Wirkungsmechanismen. Eine der zentralen Theorien der Medienwissenschaft, die seit den 1970er Jahren eine wichtige Rolle spielt, ist die sogenannte Dispositiv-Theorie, in der psychoanalytische und ideologiekritische Ansätze zusammengeführt werden. Die Dispositiv-Theorie geht in ihren Anfängen auf Michel Foucault zurück, der in den 1970er Jahren in einem Interview den Dispositiv-Begriff in einem weiten Sinn eingeführt hat als historisches Apriori, das auf strategische Funktionen von Machtverhältnissen hin ausgerichtet ist; Foucault bezeichnete damit ein heterogenes, ebenso diskursives wie nicht-diskursives Ensemble, das ebenso »Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze«8 usw. umfassen kann. Mithin geht es der Dispositiv-Theorie nicht nur um die einzelnen Inhalte, sondern auch um die Art und Weise, wie Medien diese vermitteln bzw. wie sie die Mediennutzer von der Glaubwürdigkeit dieser Darstellung zu überzeugen versuchen. Der Einsatz der Dispositiv-Theorie ist überall dort sinnvoll, wo es darum geht, die Auswirkun-

8

Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, S.119-120.

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gen von Medien als Institutionen, und d.h. auch als Agenturen von gesellschaftlicher und politischer Macht, auf die Mechanismen des Glaubenmachens zu analysieren. Die Dispositiv-Theorie ist insofern auch nicht einfach nur eine doktrinäre Anwendung von vorgefertigten Theorien auf die Medienanalyse, sondern eher eine Kritik an den Bedingungen der Funktionsweise von Medien, in der sich immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegeln. Indem die DispositivTheorie diese Bedingungen offenlegt – und d.h. deren verborgene Bedeutung – will sie den Nutzern die versteckten gesellschaftlichen Machtverhältnisse bewusst machen. Im Rahmen einer europäischen Medienwissenschaft lassen sich DispositivTheorien vor allem auf nationalspezifische bzw. globalisierte Mediensysteme anwenden, die durch ihre spezifische nationale (oder gar regionale) oder globale Ausrichtung bestimmte Strukturen der selektiven Wahrnehmung bzw. Programmgestaltung schaffen. Mithin zeigen sich hier auch Unterschiede zwischen verschiedenen europäischen Nationen, beispielsweise zwischen ost- und westeuropäischen Ländern oder im Umgang mit Migration und eigener Identität. Mediale Milieus Die vierte Ordnung des Medienwissens nenne ich ›mediale Milieus‹. 9 Vereinfacht gesagt bezeichnen mediale Milieus mediale Praktiken, sofern diese nicht in einem engen handwerklichen Sinn verstanden werden, sondern als stabile, wiederholbare Prozeduren und Operationen, die für ein bestimmtes mediales Feld typisch sind. Der Begriff des medialen Milieus sollte nicht mit dem des sozialen Milieus verwechselt werden, da er keine stabile menschliche Gruppe bezeichnet, sondern prozessuale Vorgänge und Interaktionen von Akteuren (im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie) in einem jeweils spezifischen Feld der Medien. Dies betrifft sowohl ästhetische Transformationen als auch die dafür verwendeten Techniken, die Organisation der Institutionen, die Medien produzieren und verbreiten, die Konventionen ebenso wie die Nutzungsformen der Rezeption. Das Konzept des medialen Milieus erlaubt es, über Begriffe wie Genre oder Dispositiv hinaus die spezifischen Feinheiten eines medialen Milieus und die daraus erwachsenden Besonderheiten der Bedeutungsproduktion zu verstehen. Obwohl z.B. das Reality-TV und Nachrichtenmagazine zum gleichen Dispositiv Fernse-

9

Siehe dazu Weber, Thomas (2017): »Der dokumentarische Film und seine medialen Milieus«, in: Carsten Heinze/Thomas Weber (Hg.), Medienkulturen des Dokumentarischen, Wiesbaden: Springer VS, S.3-26.

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hen gehören, bilden sie jeweils verschiedene mediale Milieus, da sie nach völlig unterschiedlichen, z.T. widersprüchlichen Kriterien organisiert sind. Eine europäische Dimension dieser vierten Ordnung zeigt sich etwa im Vergleich von nationalen Unterschieden medialer Milieus oder in der Herausbildung nationalspezifischer medialer Milieus – in Frankreich z.B. der Pay-TV Sender Canal Plus oder das Engagement von ARTE bei der Produktion von interaktiven Webdokumentationen. Historische Singularität Mit dem Begriff ›Historische Singularität‹ bezeichne ich eine Ordnung des Medienwissens, die auf die historische Einzigartigkeit eines Medienprodukts zielt und auf das Wissen bzw. die Kenntnis aller Faktoren, die diese Einzigartigkeit auszeichnen: also z.B. die Singularität des Inhalts und der Ästhetik, der Produktions- und der Rezeptionsumstände. Die Rekonstruktion dieser Einmaligkeit ist ein historischer Ansatz und man könnte nun fordern, europäische Medienprodukte in den Vordergrund zu stellen. Insofern ginge es hier um eine europäische Mediengeschichte. Diese steht nun aber – um eine weitere wichtige Dimension dieser Ordnung zu benennen – in direktem Zusammenhang mit der Befragung von (Medien-)archiven, die Voraussetzung und zentrales Mittel für diese Ordnung des Medienwissens sind. Auf europäischer Ebene zeigt sich leider eine große Disparität der jeweiligen nationalen Archivpolitiken. Deutschland ist im Bereich der Archivierung audiovisueller Medien im Vergleich zu europäischen Nachbarn wie Frankreich oder den Niederlanden sehr schlecht aufgestellt und hat hier die Konservierung wie auch die Zugänglichkeit des eigenen audiovisuellen Erbes stark vernachlässigt. Dies wirft auch Fragen nach einer Archivpolitik auf, die im europäischen Kontext besser sein könnte als im nationalen Kontext – aber in Deutschland sind wir derzeit weit davon entfernt. Medien als Dokumente Die nächste Ordnung befasst sich mit der Grundfrage wie Medien als Dokumente – als Indizien – für soziale, kulturelle und mediale Prozesse gelesen werden können. Diese Frage beschränkt sich nicht nur auf die Medienwissenschaft, sondern ist auch offen für andere sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, die Medien als Material bzw. Quelle für ihre eigenen Zwecke nutzen. Ein Beispiel für eine solche Methode ist die Analyse von Fernsehsendungen unter dem Aspekt der Repräsentation von Geschlecht, ethnischen Minderheiten oder der Einstellungen des täglichen Lebens.

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Die Analyse der Medien als Dokumente sozialer und kultureller Prozesse in Europa sagt uns mehr über europäische Identitäten als jede offizielle Proklamation, weil die Medien dem Alltag der Menschen nahestehen. Ihre Analyse kann durch die evozierten Ordnungen des Medienwissens vertieft werden, die auch für andere Disziplinen bereichernd sein können. Epistemologische Relevanz Die letzte Ordnung des Medienwissens nenne ich ›epistemologische Relevanz‹. Dieser Begriff bezieht sich auf die Frage nach der Relevanz eines Wissens durch, mit und über Medien. Es geht also nicht um Epistemologie in einem fundamentalen Sinn, sondern um die Frage einer disziplinären Erkenntnis, d.h. insbesondere auch um die Relevanz dieser Erkenntnis aus einer disziplinären Sichtweise. Der Begriff ›epistemologische Relevanz‹ bezieht sich also auf die Frage nach der Relevanz der Wissensmöglichkeiten mit, durch und über Medien. Damit verbunden sind oft auch Fragen nach den Kriterien von medialer Glaubwürdigkeit oder Fragen nach der Relevanz von bestimmten Theorien und Methoden. Eine europäische Dimension zeigt sich z.B. im unterschiedlichen Zuschnitt der Medienwissenschaft selbst und der differenten Akzentuierung verschiedener Theorien und Methoden: Während in Frankreich z.B. ein Niklas Luhmann, und vor allem die medienwissenschaftliche Lektüre seiner systemtheoretischen und konstruktivistischen Ansätze, über lange Zeit hinweg (u.a. wegen fehlender Übersetzungen) unbekannt blieb, gab es in Deutschland z.B. eine nur sehr zögerliche Rezeption der in Frankreich entwickelten Mediologie. Wechselseitige Ignoranz zeigt sich auch in der unterschiedlichen Bewertung und Nutzung von Ansätzen wie z.B. denen der Kritischen Theorie, die in Frankreich auch nach den 1980er Jahren noch eine größere Rolle spielten, während in Deutschland vor allem Ansätze der Cultural Studies aufgegriffen wurden.

PROJEKTE MIT EUROPÄISCHER PERSPEKTIVE: DAS BEISPIEL MEMORY STUDIES Eine europäische Medienwissenschaft wird oft mit der Idee verbunden, das Wissen über Europa und die Europäischen Gemeinschaften zu vertiefen. Als politisches Konstrukt ist die Europäische Gemeinschaft nur eine aggregierte, statistische Einheit, die erst durch eine gemeinsame europäische Kultur lebendig wird. Medienwissenschaftliche Projekte sollten sich daher vor allem auf die konkreten

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Auswirkungen von Medien auf die Entwicklung einer gemeinsamen Kultur konzentrieren und dabei die europäische Dimension der jeweiligen Untersuchungsgegenstände hervorheben. Einer der offensichtlichsten Fälle eines solchen Untersuchungsgebietes ist der Bereich der Erinnerungskultur bzw. der Memory Studies, die sich der Analyse der prozessualen Aushandlung sozialer, kultureller, nationaler und sogar medialer Identitäten widmen, wie sie in Medienprodukten und deren Verwendung zum Ausdruck kommen. In den Memory Studies kommen die verschiedenen epistemologischen Dimensionen der Medienwissenschaft mit einer europäischen Perspektive zusammen. Gerade in medienwissenschaftlichen Arbeiten zur Erinnerungskultur wird nicht nur das Zusammenspiel der skizzierten sieben Ordnungen des Medienwissens thematisiert, sondern insbesondere auch Aushandlungsprozesse kultureller, sozialer und nationaler Identität – und das heißt letztendlich auch Fragen einer europäischen Identität. Im Folgenden möchte ich nur zwei Beispiele aus meiner Arbeit an der Universität Hamburg erwähnen, an denen dies vielleicht besonders deutlich wird. Das erste Projekt befasste sich mit der Frage, wie die Erinnerung an den Holocaust seit den 1990er Jahren in Literatur, Kunst, Musik, Film oder Fernsehen in verschiedenen europäischen Ländern (mit Schwerpunkten auf Deutschland, Polen, Tschechien, Frankreich) gestaltet wurde, wie durch die Gestaltung historische Ereignisse bzw. die Erinnerungen an diese in Kunstobjekte verwandelt und damit Teil eines kulturellen Gedächtnisses wurden.10 Gerade der Holocaust ist nicht nur Teil der Gründungsgeschichte der europäischen Gemeinschaft (als gemeinsames ›nie wieder‹), sondern mit der Erinnerung daran bis heute ein wichtiger Indikator für den Umgang mit zentralen Wertvorstellungen eines geeinten Europas. Mit kultur- und medienvergleichenden Analysen haben wir im Rahmen der Graduiertenschule »Vergegenwärtigungen« (2015–2017) komparatistische Analysen durchgeführt, die immer auch Prozesse der Aushandlung nationaler, sozialer, kultureller und medialer Identitäten behandelten: Kultur- und nationalspezifische Aneignungsprozesse der Shoah spielten dabei ebenso eine Rolle wie Generationsunterschiede oder der Einsatz unterschiedlicher Medien im Hinblick auf spezifische Zielgruppen. So ist die Analyse von Erinnerungskulturen immer auch eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand der Medientechnik und den von ihr ermöglichten neuen innovativen ästhetischen Kon-

10 Siehe dazu auch: Weber, Thomas (2013): »Erinnerungskulturen in medialer Transformation. Zum fortgesetzten Wandel der Medialität des Holocaust-Diskurses«, in: Ursula von Keitz/Thomas Weber (Hg.), Mediale Transformationen des Holocausts, Berlin: Avinus, S.23-54.

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zepten und deren Glaubwürdigkeit. Zugleich ändern sich auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen; mithin ist eine Form der Re-Nationalisierung des Holocausts zu beobachten: Nachdem man im Zuge des europäischen Projekts über lange Zeit vor allem die Gemeinsamkeiten im Umgang mit dieser Erinnerung betonte, werden nun wieder nationale Besonderheiten hervorgehoben – wie dies etwa in Polen seit 2014, d.h. seit der Regierung von Beata Szydło und dem Erstarken der nationalkonservativen Kräfte, zu beobachten ist. Im zweiten Projekt (zu dem es verschiedene Forschungsprojekte im Feld des dokumentarischen Films an der Universität Hamburg gab, siehe dazu www. dokartlabor.avinus.de) näherten wir uns der Frage, in welcher Weise europäische Identität vor allem durch Krisen- und Protesterfahrungen seit den späten 1960er Jahren geprägt wurde. Gerade der Zeitraum von 1969 bis Ende 1989 wurde von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen gestaltet, die oft als Protestbewegungen begonnen haben, dann aber den Mainstream prägten. In Westeuropa entwickelten sich in mehreren Ländern alternative Bewegungen, die sich kritisch mit restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen auseinandersetzten, wie z.B. mit der mangelnden Gleichberechtigung von Frauen, ungleichen Arbeitsbedingungen, Homophobie, Umweltproblemen, Atomkraft oder dem Umgang der reichen Industrienationen mit armen Entwicklungsländern.11 In Deutschland machte die Aufteilung in zwei Staaten und zwei verschiedene politische Systeme die Situation noch komplexer als in anderen europäischen Ländern und führte – letzthin auch von zivilgesellschaftlichen Bewegungen getragen – zur Wiedervereinigung. Dies ging in ganz Osteuropa mit dem Aufstieg neuer gesellschaftlicher Bewegungen einher, die zum Zusammenbruch des Ostblocks und der Herausbildung neuer Staaten führten. In Westeuropa wurde vor allem die Idee der Medienkollektive und Videogruppen mit dem primären Ziel gestartet, eine ›Gegenöffentlichkeit‹ zu schaffen, da die Mainstream-Medien entweder alternative Bewegungen ignorierten oder ein verzerrtes Bild von ihnen präsentierten. Als Teil eines basisdemokratischen Aufbruchs beteiligten sich Medien- und insbesondere Videoaktivisten entweder selbst als Akteure an den politischen Bewegungen oder dokumentierten diese. Diese alternativen Gruppen nutzten die technisch neuen Videokameras, die sie von vielen Einschränkungen einer klassischen Filmkamera befreiten. Allerdings ist dieses Medium nun in zunehmenden Maße durch den physischen Verfall des

11 § 175 StGB, der homosexuelle Partnerschaften verbot, wurde 1968 in der DDR und 1969 in der BRD reformiert, aber erst 1994 vollständig abgeschafft. Die Frauenrechtsbewegung kämpfte mit dem Slogan »Mein Bauch gehört mir« gegen § 218 StGB, der Abtreibungen verbot.

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Mediums (der nach rund 20–30 Jahre einsetzt) in Vergessenheit geraten oder material nur schwer verfügbar.12 Während das Filmerbe der NS-Zeit und auch der DDR-Diktatur in vergleichsweise exzellentem Zustand in Archiven aufbewahrt wird, lässt sich dies nicht im gleichen Maß für die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland behaupten. Aber ich möchte hier nicht über die katastrophale Archivierungspolitik räsonieren (das ein Thema für sich ist), sondern auf die Qualität dieser Videos als Quellen für eine Idee Europas als zivilgesellschaftliches Projekt hinweisen, das jenseits der Schaffung staatlicher Institutionen der EU in ihrer Vielfalt die gesellschaftlichen Kräfte in verschiedenen europäischen Ländern eint und als Wertegemeinschaft hervortreten lässt. Diese Dimension moderner Gesellschaften ist gerade im Kontext von medienwissenschaftlich orientierten Memory Studies ein Desiderat, da die Erinnerung an die zivilgesellschaftlichen Aufbrüche mit ihren Medien zu verschwinden droht. Die Auseinandersetzung mit den medienkulturellen Erinnerungen an diese gesellschaftlichen Umbrüche in Europa ist vielleicht eine der größten Herausforderungen für die europäischen Medienwissenschaften, da hier die Aushandlung von Identitäten durch den Diskurs über gemeinsame, medienvermittelte Erfahrungen im Mittelpunkt steht. Besonders durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit ergeben sich Perspektiven für die Zukunft – gerade auch für eine europäische Medienwissenschaft.

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12 Siehe dazu auch: Weber, Thomas (2015): »Gegenöffentlichkeit-unanschaulich«, in: Hans-Michael Bock/Jan Distelmeyer/Jörg Schöning (Hg.), Protest-Film-Bewegung: neue Wege im Dokumentarischen, München: Et+k, Edition Text+Kritik, S.13-24.

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Medienkulturanalyse Matthias Bauer

Im Unterschied zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, die sich als eine empirisch verfahrende Sozialwissenschaft versteht, in Deutschland aus der Zeitungslehre (Emil Dovifat) hervorgegangen ist und lange Zeit auf die Analyse politisch relevanter, journalistisch vermittelter Information (z.B. Wahlkampfberichterstattung) fokussiert war,1 interessiert sich die Medienwissenschaft in ihrer Breite für alle Lebensbereiche, in denen Medien zum Einsatz gelangen und spezifische Wirkungen entfalten. Sie kann daher einerseits als Oberbegriff für eine Vielzahl von Disziplinen (Filmwissenschaft, Radioforschung, Game-Studies usw.) gelten, andererseits aber nicht die methodologische Geschlossenheit der empirisch verfahrenden Kommunikationswissenschaft für sich beanspruchen, was antragsstrategisch mitunter ein Nachteil, in der Sache aber ein Vorteil ist, weil sich die Medienwirkung eben nicht nur am Wandel der öffentlichen Meinung ablesen lässt, die von der Demoskopie erfasst wird, die in Deutschland eng mit der Publizistikwissenschaft (Elisabeth Noelle-Neumann) verzahnt war. Gleichsam quer zur Auffächerung der Medienwissenschaft in einzelne Disziplinen steht die Medienkulturanalyse, die sowohl Anstöße der Toronto School 2

1

Inzwischen ist diese Disziplin breiter aufgestellt. So heißt es auf der Startseite der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (www.dg puk.de): »Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich mit den sozialen Bedingungen, Folgen und Bedeutungen von medialer, öffentlicher und interpersonaler Kommunikation. Der herausragende Stellenwert, den Kommunikation und Medien in der Gesellschaft haben, begründet die Relevanz des Fachs.« (letzter Abruf: 08.10. 2019)

2

Charakteristisch für die Toronto School war die Verbindung von Kommunikationstheorie, Literatur- und Kulturgeschichte, wie sie sich in den Werken von Harold Adams Innis zur Bedeutung der Medien für die Entwicklung von Zivilisationen, von

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als auch des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies 3 aufnimmt und so eine Brücke zwischen den Media und den Cultural Studies schlägt. Der Anstoß der Toronto School bestand in erster Linie darin, Medien nicht nur als Mittel der Kommunikation, sondern als mächtige Gestaltungskräfte der Gesellschafts- und Bewusstseinsformation zu betrachten, die das Empfinden, Denken und Verhalten der Menschen ebenso stark beeinflussen wie die Entwicklung der Wirtschaft, der Infrastruktur oder des Bildungswesens. Der Anstoß des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies lag darin, kulturelle und soziale Praktiken – zunehmend unter Einbindung der Diskursanalyse von Michel Foucault – unter dem Aspekt der Machtentfaltung, also genealogisch, zu betrachten. Sie hat dabei zwar die spezifische Leistung von Kunstwerken weitgehend ausgeklammert, aber die Aufmerksamkeit nachhaltig auf den oft defizitären Umgang von Gesellschaften mit Alterität und Diversität gelenkt – ein Aspekt, auf den die Toronto School nicht eingegangen ist. Diese hat dafür ein besonderes Sensorium für Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen Technologie und Anthropologie entwickelt. Die Medien verändern das Weltbild und den Selbstentwurf der Menschen, indem sie das Verhältnis der Sinne untereinander im Zuge des technologischen Fortschritts immer wieder neu und anders regeln, was Folgen für die Verstandestätigkeit wie für die Verhaltenskoordination hat und bestimmte Machteffekte zeitigt. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen als exemplarischer Aufriss einer Medienkulturanalyse gedacht. Demonstriert werden soll relativ ausführlich, wie eine solche Analyse den Blick auf die Medien- und Kulturgeschichte prägt und mit einer kritischen Europaforschung verklammert werden kann. Am Schluss stehen kursorische Ausführungen zu Forschung und Lehre.

Eric A. Havelock zur Literarisierung der griechischen Kultur oder von Marshall McLuhan zur Gutenberg-Galaxis niederschlug. 3

Das Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) bestand von 1964 bis 2002 und untersuchte insbesondere den Zusammenhang zwischen den Massenmedien und der Populärkultur sowie den multikulturellen Zuschnitt der Britischen Gesellschaft, wobei neben der Semiotik sowohl marxistische als auch (post-)strukturalistische Anregungen aufgenommen und mit der critical race theory verknüpft wurden. Einen gewissen Schwerpunkt bildeten Untersuchungen über Hegemoniekämpfe in einer Kultur und, vor allem bei ihrem wohl wichtigsten Vertreter Stuart Hall, über antikolonialistische und antiimperialistische Bewegungen.

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EINE MODELL-GESCHICHTE DER NEUZEITLICHEN MEDIENKULTUR In einer durch Digitalisierung und Globalisierung geprägten Zeit mag es befremdlich wirken, von einer ›europäischen‹ Medienwissenschaft zu sprechen oder die Notwendigkeit einer Verklammerung von Medienkulturanalyse und Europaforschung zu postulieren. Denn die Netzwerk-Gesellschaft, die seit der Jahrtausendwende durch die binäre Codierung nahezu aller Information und Kommunikation entstanden ist, führt angeblich auf jedem Kontinent zu den gleichen Medienverhältnissen und Medienereignissen. Freilich könnte man gerade aus dieser Angleichung die Notwendigkeit einer ›europäischen‹ Medienwissenschaft ableiten – zum einen, weil die Komplexität und Dynamik der NetzwerkGesellschaft schon aus forschungspragmatischen Gründen von globalen auf regionale und lokale Themen oder Probleme heruntergebrochen werden muss; zum anderen, weil Europa seine relative Eigenständigkeit auch in einer technologisch vernetzten Welt-Gesellschaft nur behaupten kann, wenn es sich auf irgendeine Art und Weise von anderen Kontinenten abhebt und im internationalen Wettbewerb mit eigenen attraktiven Medienangeboten aufwartet. Damit stünde die Wissenschaft freilich im Dienste einer Markt- oder Identitätspolitik, die nicht nur deswegen fragwürdig ist, weil sie mit der Freiheit von Lehre und Forschung kollidiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund scheint es vielversprechender zu sein, auf eine fallweise Verklammerung von Medienkulturanalyse und Europaforschung zu setzen und erst einmal kritisch zu fragen, worin die Identität Europas denn eigentlich besteht oder bisher bestanden hat. Von großen Teilen Afrikas, Asiens und Amerikas aus betrachtet wohl aus dem Verblendungszusammenhang all jener Europäer, die da meinten, sie seien nicht nur berechtigt, sondern ausersehen, die Menschen in anderen Kontinenten im Zuge der Globalisierung, die als Kolonialismus und Imperialismus betrieben wurde, zu unterwerfen und auszubeuten. Nicht besser sieht es aus der Sicht der Juden, Sinti und Roma aus, die seit dem Mittelalter immer wieder leidvoll erfahren mussten, was es heißt, in Europa als Fremde wahrgenommen, ausgegrenzt und verfolgt zu werden. Auch der aktuelle Diskurs über den ›Schutz‹ der Außengrenzen der EU und die ›Eindämmung‹ der Migration neigt zur Konstruktion von Feindbildern. Erst recht macht die Metapher von der ›Festung Europa‹ deutlich, dass die Insassen dieser Festung in Hoheitsgebieten und Besitzansprüchen denken, die gegen ›Andere‹ verteidigt werden müssen.

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Territorien und Domänen Selbst wenn man nur die Neuzeit in den Blick nimmt, kann man daher feststellen, dass die Identität Europas eng mit einem Denken verknüpft ist, das sich als ein forciertes Denken in Territorien begreifen lässt, weil es darauf abzielt, Macht- und Zuständigkeitsbereiche abzustecken, weil es insgesamt ein Denken in ›claims‹ ist, in Ansprüchen des Zugriffs auf materielle, ortsgebundene Ressourcen (Untertanen, Bodenschätze, Verkehrswege, Manufakturen oder Industrieanlagen, Währungen und Kolonien). Problematisch darin ist vor allem, dass es das Territorium – wie immer man es abgrenzt – jeweils nur einmal gibt, so dass es nicht von mehreren Gewalten gleichzeitig beherrscht werden kann. Zweifellos hat es den Entdeckungs- und Eroberungswillen, zu dem ein Denken in Territorien führt, wohl zu jeder Zeit auch auf anderen Kontinenten gegeben – Europa hat dieses Denken im Zuge der Neuzeit jedoch dank seiner technischen Aufrüstung mit einer Durchschlagskraft versehen, die bis heute das Gesicht der Erde bestimmt, auch wenn die Welt nicht mehr von den Kolonialmächten des 19. Jahrhunderts dominiert wird, weder militärisch noch ökonomisch oder politisch. Obwohl das Denken in Territorien sicherlich wesentlich älter als die Neuzeit ist, lohnt es sich das Augenmerk auf die allererste Phase der Globalisierung Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts zu lenken, in der ja nicht nur die Entdeckung der ›Neuen Welt‹ – de facto die Voraussetzung aller Kolonialpolitik –, sondern auch die Erfindung des Buchdrucks (soweit es Europa betrifft) und die Aufspaltung der Westkirche und ihrer Glaubensgemeinschaft in verschiedene Konfessionen stattgefunden hat. Wie sehr der Buchdruck und die Reformation aufeinander angewiesen waren und voneinander profitiert haben,4 ist ausgiebig erforscht worden – ebenso wie die Bedeutung von Gutenbergs Erfindung für die Kulturrevolutionen im frühneuzeitlichen Europa und die Genesis der kopernikanischen Welt.5 Durchaus gewürdigt wurde auch, wie eng die Publizistik von Reformation und Gegenreformation mit der Territorialpolitik der deutschen Fürsten verschränkt war, die alsbald weitere europäische Mächte auf den Plan rief und

4

Vgl. Burckhardt, Johannes (2002): Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart: Kohlhammer.

5

Vgl. Eisenstein, Elisabeth I. (1997): Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa. Übersetzt von Horst Friessner. Wien New York: Springer sowie für weitere Folgen: Giesecke, Michael (2002): Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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im Dreißigjährigen Krieg kulminierte, an dessen Ende jener Westfälische Friede von 1648 stand, in dem das Territorialprinzip der Staatenbildung für Jahrhunderte festgeschrieben wurde. Der Zeitraum, der von der Glaubensspaltung bis zur Frühaufklärung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts reicht, zeichnet sich somit dadurch aus, dass die Konfessionen mit publizistischen Mitteln als Diskursgemeinschaften etabliert werden, wobei der Diskurs nicht nur durch die Schriften der Protestanten oder ihrer katholischen Widersacher, sondern auch durch die Zensur der Landesherren bestimmt wurde, die diese Schriften (Bücher, Flugblätter etc.) in ihrer Einflusssphäre zuließen oder nicht zuließen. Von daher gibt es einen nicht zufälligen Zusammenhang zwischen der Reichweite der einzelnen Druckerzeugnisse und der territorialen Arrondierung von Herrschaftsgebieten und Zuständigkeitsbereichen. Ohne dass diese deckungsgleich waren, wirkte sich der Formelkompromiss des Augsburger Religionsfriedens – ›cuius regio, eius religio‹ – nachhaltig auf die geografische und demografische Abgrenzung der konfessionell integrierten Diskursgemeinschaften aus, die man sich nicht als vollkommen segregierte Gemeinschaften vorstellen darf, wohl aber als solche, bei deren Distinktion es auf die Wechselwirkung zwischen dem Denken in Territorien und jener Identitätspolitik ankam, die nach den Diskursregeln einer nunmehr literarischen Kultur betrieben wurde. Vor der Reformation und vor dem Buchdruck war die Christenheit der West- wie der Ost-Kirche noch eine von wenigen Schriftgelehrten dominierte orale Kultur gewesen war. Die neue literarische Kultur bestand also keineswegs nur aus Lyrik und Belletristik. Sie strukturierte vielmehr das gesamte Diskursuniversum der Gesellschaft von Verwaltungsvorschriften und Gesetzestexten über das Erziehungswesen und die Wissenschaft bis zur Publizistik und macht so überhaupt erst möglich, was sich im Nachhinein als Aufklärung darstellt. Entscheidend für ihren Erfolg war, dass mentale Prozesse an die Textlektüre gekoppelt und damit gleichzeitig von der stratifikatorischen Ordnung der Ständegesellschaft abgekoppelt wurden, denn die Textlektüre wirkt sich individualisierend auf das Denken aus. Daher die massive Kritik der Tugendwächter am Roman, mit dem sich der Einzelne ins stille Kämmerlein zurückzieht, um zu entdecken, dass es in der Welt anders zugeht, als es die Moralapostel wahr haben wollen, und dass dies etwas mit der Sinnlichkeit des Menschen zu tun hat. Hinzu kommt, dass die literarischen Medien das Denken und Handeln der Menschen entlang der Schrift, also linear bzw. sequenziell und horizontal ordnen – eine Ordnung, die in einem gewissen Gegensatz zu der vertikalen Ordnung von Oben und Unten steht, durch die sich die Ständegesellschaft des 16., 17. und 18. Jahrhunderts auszeichnete. Zudem ist es in einer literarischen Kultur auf Dauer schwer, Absolutheitsan-

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sprüche gegen die Pluralisierung der Schreibweisen und Lesarten durchzusetzen, die mit jedem Text vorangetrieben wird. Der Wahlspruch der Aufklärung ›sapere aude‹ richtet sich jedenfalls in erster Linie an eine Leserschaft, weil diese ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass die Lektüre eine intellektuelle Tätigkeit der individuellen Sinnproduktion darstellt, die mit bestimmten Lustmomenten und Affektbeträgen verbunden ist und unterschiedliche Effekte hat. Um es mit einer rhetorischen Frage von Georg Christoph Lichtenberg zu sagen: »Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buch?«6 Mit der Pluralisierung der Welt durch Schreibweisen und Lesarten bildet sich das, was der russische Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin später als »innerlich überzeugendes Sprechen« bezeichnet und vom »autoritären Wort«7 abgegrenzt hat. In der Interaktion von Text und Leser entsteht spätestens während des 18. Jahrhunderts jener Binnenraum der Verhandlung, den man Subjektivität nennt – ein Raum, den man zunächst wiederum nur literarisch vermessen kann, was paradigmatisch im Tristram Shandy8 sowie, daran anschließend, in den Werken der so genannten ›psycho narration‹9 geschieht, die mit den Formen der erlebten Rede, des inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms arbeiten. Nicht umsonst hat sich die Psychoanalyse Ende des 19. Jahrhunderts aus empirisch fundierten Fallgeschichten,

6

Lichtenberg, Georg Christoph (1968): Schriften und Bücher. Erster Band, in: Promies, Wolfgang (Hg.), Sudelbücher I, München: C. Hanser, S. 291, Eintrag D 399.

7

Bachtin, Michail M. (1979): Das Wort im Roman [1934/35], in: Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.154-300, hier S.229-232.

8

Vgl. Iser, Wolfgang (1987): Tristram Shandy. Inszenierte Subjektivität. München:

9

Vgl. Cohn, Dorrit (1978): Transparent Minds. Narrating Modes for Presenting Con-

Fink. sciousness in Fiction. Princeton: University Press.

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die wie Novellen zu lesen waren,10 aus der Deutung von nacherzählten Träumen und aus Literaturstudien11 entwickelt. Entscheidend ist, dass die Subjektivität in einer doppelten Spannung steht – zur Objektivität einerseits und zur Intersubjektivität andererseits. In einer literarischen Kultur taucht unweigerlich die Frage auf, wie sich die verschiedenen Lesarten der Welt, die man Meinungen nennt, tatsächlich zur Wirklichkeit verhalten. Bei dieser Frage geht es um den objektiven Gehalt der Meinungen. Ebenso unvermeidlich ist jedoch die Frage, wie man zu einer intersubjektiven Verständigung über die Welt, das Gesamt-Objekt aller Erkenntnis, gelangen soll, wenn es darüber so viele unterschiedliche Meinungen gibt. Die Antwort der Aufklärung auf diese beiden Fragen bestand unter anderem darin, das Denken von einem Denken in Territorien in ein Denken in Domänen zu überführen. So steckte Immanuel Kant für die unterschiedlichen Vermögen des menschlichen Geistes (Verstand, Vernunft und praktische Urteilskraft) bestimmte Zuständigkeitsbereiche ab. Genau genommen beherrschen die verschiedenen Vermögen weder ein eigenes, jeweils klar von allen anderen abgetrenntes Gebiet, noch regieren sie in ihrem Zuständigkeitsbereich uneingeschränkt. In Kants Architektonik des menschlichen Geistes werden den drei Vermögen nämlich nicht nur gewisse intermediäre Instanzen wie die Einbildungskraft oder das Erinnerungsvermögen zur Seite gestellt, denen eine Vermittlungsfunktion zukommt; ihr liegt vor allem eine Idee der Gewaltenteilung zugrunde, die quer zum realexistierenden Absolutismus des 18. Jahrhunderts, zum historischen Resultat der Territorialpolitik in Europa, stand. Gemäß dieser Idee der Gewaltenteilung, deren Garant die Vernunft ist, kann der Verstand legitimer Weise nicht den Anspruch erheben, Glaubensfragen zu entscheiden. Diese Fragen übersteigen seine Kompetenz. Überhaupt darf er nicht alles und jedes dem Begriff subsumieren, obwohl

10 »[…] es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren«, räumt Sigmund Freud in den gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie (1895) ein. Breuer, Josef/Freud, Sigmund (2000): Studien über Hysterie. Einleitung von Stavros Mentzos. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.180. 11 Um nur einige Beispiele aus Freuds Feder zu erwähnen: »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva« (1907), »Eine Kindheitserinnerung aus Dichtung und Wahrheit« (1917), »Das Unheimliche« (1919) mit Bezug auf E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, »Dostojewski und die Vatertötung« (1928); hinzu kommen literarisch grundierte Aufsatztitel wie »Der Familienroman der Neurotiker« oder die Ödipus- und Hamlet-Interpretationen in Die Traumdeutung (1900).

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er tendenziell nach einer umfassenden kategorialen Ordnung der intelligiblen Welt und danach strebt, mit der Intelligibilität der Welt auch den eigenen Zuständigkeitsbereich auszudehnen. Das bedeutet zum einen, dass dem Vermögen ein Begehren innewohnt, dass der Kontrolle bedarf, und zum anderen, dass die Domäne des Verstandes – i.e. die kategoriale Ordnung der intelligiblen Welt – anders als ein Territorium gerade nicht aus exklusiven, materiellen Entitäten besteht. Die Kategorien werden auf ›Gegenstände‹ angewandt, die dem Verstand weder unmittelbar gegeben sind noch gehören. Vielmehr ist er auf jene Gestalt angewiesen, die den Erkenntnisgegenständen gemäß den Anschauungsformen von Raum und Zeit zukommt. Diese Formen errichten zwischen der intelligiblen Welt im Kopf und dem ›Ding an sich‹ eine für den Verstand unüberwindliche Schranke. Im Verhältnis zwischen der Domäne des Verstandes und dem Territorium, auf dem sich das ›wahre Leben‹ abspielt, reflektiert sich somit das Verhältnis von Text und Welt. Es wird durch eine ontologische Differenz bestimmt. Der Text ist so wenig die Welt, wie die Karte das Territorium ist.12 Folglich kann auch die ›kognitive Welt‹, die der Mensch im Kopf hat, nur eine ›mental map‹ sein, die ausgelesen und in Folge neuer Erkenntnisse umgeschrieben werden muss. Zu den Folgen gehört, dass aus dem Universum ein Multiversum wird. Um es am Beispiel der Karte darzulegen: Von ein und demselben Territorium kann man eine Karte der Oberflächenstruktur, der Verkehrswege, der Bodenschätze, der Bevölkerungsdichte oder des Wetters erstellen. Virtualiter sind alle diese Ansichten im Territorium aufgehoben, sichtbar werden sie jedoch erst im Anschauungsraum der einzelnen Karten, die sich mittels der Kupferstich- und Drucktechnik vervielfältigen und, anders als das Territorium selbst, an jeden beliebigen Ort mitnehmen lassen. Fortan gibt es das Territorium einmal als Bezugsgröße oder Referenzobjekt der Projektion und x-mal im Medienformat der Karte. Zurück zu Kant: Offenbar spielt die Sinnlichkeit in seiner Vermögenslehre die Rolle eines Mediums. Weit davon entfernt, die Dinge selbst in den Verstand zu transportieren, werden diese dergestalt transformiert, dass man von den Informationen, die das Medium liefert und mit denen der Verstand auch nur in dieser Form umgehen kann, nicht umstandslos auf die Dinge zurückschließen kann. Das Resultat ihrer geistigen Aneignung und Umwandlung ist eine Auffassung – Kant spricht von Apperzeption –, eine anfangs bloß hypothetische Auffassung,

12 Vgl. Korzybski, Alfred (1994): Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics. With Preface by Robert P. Pula and revised and updated index. 5th edition. Englewood: Institute of General Semantics, S.58.

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die an der Erfahrung überprüft werden muss. Die Erfahrung tritt nun aber in mindestens zwei Varianten auf: Zum einen macht der Einzelne Erfahrungen im Umgang mit der Umwelt, die man ›Natur‹ nennt; zum anderen macht er Erfahrungen im Umgang mit der Mitwelt, das heißt mit der ›Kultur‹ der zeitgenössischen Gesellschaft, zu der auch das Gedächtnis dieser Gesellschaft gehört. Man könnte somit von einer doppelten Rahmung der Verstandestätigkeit oder davon sprechen, dass sie nicht nur von der Vernunft kontrolliert, sondern ebenso von der Einsicht in die Naturnotwendigkeiten wie von der Einsicht in jene Kulturnotwendigkeiten bestimmt wird, die man ›soziale Tatsachen‹ nennt. In diesem Sinne stellt die Gesellschaft in ihrer Domäne Geltungsansprüche, die zwar einen anderen Status als Naturgesetze haben, die Kultur aber doch als ein Regelwerk erscheinen lassen, das sich nicht ohne weiteres, schon gar nicht folgenlos außer Kraft setzen lässt. Kulturell geregelt wird insbesondere der Zeichenverkehr der Menschen – und zwar einmal durch die Regeln der Wortbildung oder des Satzbaus, die der Sprache eingeschrieben sind, und einmal durch die Regeln, die für den Gebrauch der Sprache in einer Gesellschaft gelten, etwa für die jeweils angemessene Form der Anrede. Entscheidend ist, dass die einen wie die anderen Regeln in Wechselwirkung mit dem Denken stehen. Betroffen von dieser Wechselwirkung ist das Verhältnis, das zwischen den Umgangsformen und den Anschauungsformen besteht, aber auch das Verhältnis, das zwischen der Ausdrucks- und der Begriffsfähigkeit besteht. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«,13 hat Ludwig Wittgenstein im 20. Jahrhundert gesagt. Mit Michel Foucault muss man hinzufügen, dass es in einer jeden Gesellschaft Grenzen des Sagbaren gibt, zumindest des öffentlich Sagbaren – zugleich aber auch Vorschriften dafür, was in dieser oder jener Situation unbedingt gesagt werden muss.14 Es gibt, anders formuliert, sowohl grammatikalische Regeln und semantische Grenzen als auch diskursive Regeln und Grenzen für den Zeichenverkehr, der in einen Gesellschaft möglich ist. Diese Regeln und Grenzen legen jeweils auf Zeit den kulturellen Spielraum der Gesellschaft fest. Noch einmal zurück zu Kant: Seine Vermögenslehre schuf mit der Aufteilung des menschlichen Geistes in verschiedene Domänen ein spezifisches Vermittlungsproblem, das der Philosoph dadurch zu lösen versuchte, dass er der

13 Wittgenstein, Ludwig (1998): Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logicophilosophicus. Kritische Edition. Frankfurt am Main: Suhrkamp, Satz Nr.5.6. 14 Vgl. Foucault, Michel (1998): Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt am Main: S. Fischer.

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Einbildungskraft die Aufgabe stellte, zwei Sorten von Schemata zu produzieren: solche, durch die sich die Anschauungen – gleichsam bottom up – auf die Begriffe, und solche, durch die sich die Begriffe – gleichsam top down – auf die Anschauungen beziehen lassen. Das Problem war entstanden, weil Kant die Bildung und Verfügung über die Kategorientafel, die dem einen Stamm der Erkenntnis, dem Verstand, obliegt, operativ von der Art und Weise getrennt hatte, in der die Sinnlichkeit, der andere Stamm der Erkenntnis, mit den Daten – den Gegebenheiten der Welt – verfuhr. Interessant an diesem Problem ist, dass es sich nicht nur im Fall des menschlichen Geistes, sondern auch im Fall jeder Gesellschaft stellt, die funktional in operativ geschlossene Systeme differenziert wird, worauf noch zurückzukommen sein wird. Im Augenblick genügt es festzuhalten, dass die Lösung des Problems – die Betreuung des Vorstellungsvermögens mit der Bildung von Schemata – den Begründer der modernen, pragmatisch orientierten Semiotik, Charles Sanders Peirce, dazu veranlasst hat, in Kants Schematismus-Kapitel, eben weil es ein notwendiges Supplement seiner Vermögenslehre darstellt, ein Zeichenmodell zu entdecken, in dem die Beziehungen zwischen dem sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, den Empfindungen und Vorstellungsreihen, die es auslöst, und den Schlussfolgerungen, zu denen diese Form der Bedeutungsermittlung führt, nicht einfach gegeben sind, sondern jeweils hergestellt werden müssen – entweder gemäß dem Schema der Kausalität oder gemäß dem Schema der Similarität oder gemäß dem Schema einer Konventionalität, so dass man die indexikalischen sowohl von den ikonischen als auch von den symbolischen Zeichen abheben kann, im Prinzip aber überall und jederzeit damit rechnen muss, dass Zeichen oder Zeichengefüge auftreten, in denen zum Beispiel eine ikonische Struktur mit einer indexikalischen Funktion verbunden ist. Karten etwa ähneln der Struktur des Territoriums nicht in jeder Hinsicht; sie sind keine konkreten, fotografischen Abbilder (images), sondern abstrakte Schaubilder (diagrams), die selektiv bestimmte Verhältnisse, Zusammenhänge und Beziehungen oder Beziehungsmuster zu erkennen geben, sie haben aber selbst dann eine Verweisfunktion, wenn sie sich auf ein fiktives Territorium wie die Schatzinsel in Robert Louis Stevensons Piratenroman Treasure Island (1881/1882) beziehen. Die Karte ist somit ein Medienformat der literarischen Kultur, das sich semiologisch, anhand seiner Struktur und Funktion spezifizieren lässt. Generell gilt, dass Zeichen Medien der Bedeutungsübermittlung und Selbstvermittlung sind. Sie koppeln die soziale Kommunikation an die Inferenzprozesse, die sich im Bewusstsein der Menschen abspielen, und erlauben es zugleich, diese Prozes-

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se in unterschiedlicher Form zu kommunizieren. In diesem Sinne ist die Vermögenslehre auch eine Medien- und Zeichenkunde.15 Nun mag man an dieser Stelle mit einigem Recht einwenden, dass diese Rekonstruktion von Kants Vermögenslehre eine Idealisierung darstellt, die sich dem Wunsch verdankt, an einem Wendepunkt der Aufklärung auch den Einsatzpunkt der modernen Medien- und Zeichenkunde festzumachen. Die Real-Genese war selbstredend komplizierter und diffiziler. Doch geht es hier nicht darum, diese Real-Genese im Einzelnen nachzuzeichnen, sondern darum, eine ModellGeschichte zu entwerfen, die heuristischen Zwecken dient. Auch Kants Architektonik des Geistes ist letzten Endes ein heuristisches Modell. Dieses Modell erklärt nicht, was auf der materiellen Ebene des Gehirns, auf der Ebene der Neuronen und Synapsen und ihrer physiologischen Erregung, stattfindet, aber es macht epistemologisch und pragmatisch Sinn. Und insofern es Sinn macht, ist es ein kulturelles Modell. Damit ist auch schon gesagt, dass Kultur eine kollektive Veranstaltung der Sinnproduktion darstellt, die mit der individuellen Vermittlung von Bedeutung rückgekoppelt ist. Das innerlich überzeugende Sprechen bleibt stets auf den gesellschaftlichen Zeichenverkehr bezogen und verhält sich zu ihm mehr oder weniger eigensinnig. In der Modell-Geschichte, die hier erzählt wird, kommt es vor allem auf den relativen Unterschied zwischen einem Denken in Territorien und absoluten ›claims‹ (Besitz-, Macht- und Geltungsansprüche) und einem Denken in Domänen und regulativen Ideen sowie darauf an, dass die Diskursgemeinschaft der Aufklärung zumindest implizit mit einem Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Gewaltenteilung ausgestattet wird. Diese regulative Idee der Gewaltenteilung erhält Bedeutung durch Vorstellungen, die man sich über verschiedene Szenarien macht – solche, in denen die Gewaltenteilung greift, und solche, in denen das nicht geschieht. Erst durch den Vergleich solcher Vorstellungen oder Szenarien kann die praktische Urteilskraft zu einer Entscheidung darüber gelangen, was sinnvoll, nützlich und notwendig ist. Einerseits produziert die Einbildungskraft also Schemata, die zwischen Begriff und Anschauung vermitteln, andererseits hilft sie dem Verstand dort, wo er sich als praktische Urteilskraft bewähren muss, die denkbaren Folgen der Alternativen, vor denen er steht, szenografisch auszumalen. Es liegt auf der Hand, dass fiktionale Texte just an dieser Stelle in den intellektuellen Prozess der Urteilsfindung eingreifen können, da sie ebenfalls szenografisch verfahren. ›Szenografisch‹ heißt, dass jede anschauliche Vorstel-

15 Vgl. hierzu Bauer, Matthias/Ernst, Christoph (2010): Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld: transcript, S.4958.

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lung auf die Formen von Raum und Zeit rekurriert und über das empirischhistorisch Gegebene hinausgeht. Die pragmatische Relevanz der menschlichen Verstandestätigkeit und die Möglichkeit einer vernünftigen Ordnung des Zusammenlebens in einer Gesellschaft hängen somit nicht nur von Begriffen, sondern von vermittelnden Vorstellungen und Anschauungsformen, von intermediären Instanzen wie der Einbildungskraft oder dem Erinnerungsvermögen und von der medialen Funktion der Sinnlichkeit ab. Denn zum einen bedarf es spezifischer Rückkopplungen zwischen Verstand und Vernunft, Erfahrung und praktischer Urteilskraft und zum anderen müssen die ›Dinge‹, was immer sie an sich sein mögen, in jene Form gebracht werden, mit denen der menschliche Geist bei seinem Versuch, die Welt begrifflich zu ordnen, umgehen kann. ›Form‹ ist genau das, was aus irgendeinem beliebigen Sinnesdatum, das an der Peripherie des zentralen Nervensystems unspezifisch codiert wird,16 eine signifikante Information, ein auslegungsbedürftiges Zeichenereignis macht. Und Formgebung ist das, was das Medium, das dadurch selbst unsichtbar wird, leistet. In diesem Sinne sind die Anschauungsformen Umgangsformen, und in diesem Sinne wird im Wahrnehmungsprozess nicht die Sinnlichkeit wahrgenommen, sondern dieses oder jenes Sinnesdatum. Zu der Fülle der Implikationen, die Kants Explikation von der Struktur des menschlichen Geistes und der Funktion der einzelnen Vermögen besitzt, gehört noch ein Gedanke: Anders als das Territorium, das ein materielles Substrat besitzt, das dem Territorium seine Persistenz verleiht, hängt die Domäne des Verstandes von der Performanz des Zusammenspiels der verschiedenen Vermögen ab, über die der menschliche Geist verfügt. Es existiert sozusagen nur im Vollzug der Kognition, die sich in einzelne Akte untergliedern lässt und von der Affektion ebenso wenig zu trennen ist wie von der energetischen Rückkopplung zwischen dem Gehirn und dem Körper des Menschen. Allerdings darf man die Rede von Vermögen und Domänen nicht so verstehen, dass die Menschen nach Kant nicht mehr in Territorien gedacht hätten. Wie die Kolonialpolitik – in vielerlei Hinsicht die Fortsetzung der europäischen Territorialpolitik im außereuropäischen Raum – beweist, ist das Gegenteil der Fall gewesen. Auch in Europa war die Territorialpolitik mit dem Westfälischen Frieden keineswegs beendet – man denke nur an die Kriege, die Friedrich II. von Preußen im 18. Jahrhundert zwecks Erweiterung seines Herrschaftsgebietes führte. Überhaupt bleibt auch das Denken in Domänen ein Anspruchsdenken, ein Denken in ›claims‹; es ist ein Derivat des Denkens in Territorien, das insbeson-

16 Vgl. Roth, Gerhard (1995): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.87.

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dere im Handlungsfeld der Politik, wie denn auch die Bildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert belegt, beibehalten wurde und keineswegs mit ihrer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene endet. Was jedoch in der literarischen Kultur systematisch unterlaufen wird, ist der Absolutheitsanspruch dieses Denkens und der Politik, die ihm entspricht. Gerade in dieser Hinsicht war Kants Vermögenslehre modellbildend. Denn empirisch betrachtet fächert sich das transzendentale Ego in die Vielzahl der Menschen aus, die prinzipiell alle in der Lage sind, Gebrauch von ihrem Verstand (und den anderen Vermögen) zu machen. Ihre gemeinsame Lebenswelt können die Menschen nur unter der Voraussetzung sinnvoll und friedlich gestalten, dass eine intersubjektive Verständigung über Besitz-, Macht- und Geltungsansprüche, persönliche Bedürfnisse und gesellschaftliche Notwendigkeiten stattfindet. Aus dieser Unumgänglichkeit der intersubjektiven Verständigung folgt zwingend, dass kein Subjekt das Territorium der Lebenswelt für sich allein beanspruchen und die anderen Subjekte als bloß materiale Bestandteile dieser Welt behandeln darf. Der kategorische Imperativ ratifiziert genau diese Einsicht in den intersubjektiven Zusammenhang der Lebenswelt, denn er verlangt, dass man von Absolutheitsansprüchen ein für alle Mal absieht. Stattdessen gilt: Da die Domäne meiner eigenen Handlungsmacht durch die gleichermaßen limitierten Domänen aller anderen Handlungsträger begrenzt wird, ist es intelligibel, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, von der ein jeder Mensch wünschen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz sei. Diese regulative Maxime lässt sich für alle möglichen Handlungsfelder ausbuchstabieren und ist daher prinzipiell auch geeignet, der Okkupation eines Staates durch einen anderen Einhalt zu gebieten. Funktionale Differenzierung und Bifurkation des Medienbegriffs Ratifiziert wird das in der Aufklärung einsetzende Denken in Domänen, wie bereits angedeutet wurde, auch durch die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft, die nicht mehr auf Entitäten, sondern auf Operationen abstellt. Tatsächlich läuft Kants Vermögenslehre im Grunde auf nichts anderes als auf eine funktionale Differenzierung des menschlichen Geistes hinaus. Der Unterschied liegt darin, dass die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft nicht als ein Verhältnis der Unterordnung einzelner Systeme unter ein anderes wie im Falle der Vernunft, sondern, zumindest theoretisch, als ein Verhältnis der Gleichberechtigung gedacht wird, was absehbar zu Problemen führen muss, solange das Denken in Territorien beibehalten wird.

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Was zumindest die konstruktivistischen und systemtheoretischen Versionen der funktional differenzierten Gesellschaft eint und ein gemeinsames Erbe der Vermögenslehre Kants darstellt, ist das Prinzip der operationalen Geschlossenheit. Kant hatte dieses Prinzip mit transzendentalen Argumenten begründet, insbesondere mit dem Hinweis auf die logisch notwendigen Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass dem Verstand Gegenstände überhaupt gegeben sind und sich die Erkenntnis seinen Regeln unterwirft. Humberto R. Maturana und Franzisco J. Varela haben diese transzendentale Argumentation Ende des 20. Jahrhunderts in eine biologische Argumentation überführt und eine Sicht vorgetragen, »die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der ›Welt da draußen‹ versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst«.17 Die Umwelt (und die Mitwelt) macht sich ihrer Theorie zufolge nur in Form von »Perturbationen«18 bemerkbar, die nicht in ihrer Eigenart, sondern ausschließlich in der Weise registriert und interpretiert werden, die sich aus der Eigenlogik des menschlichen Erkenntnisvermögens ergibt, was auch für die Perturbationen gilt, die gegebenenfalls dadurch entstehen, dass gemäß dieser Interpretation gehandelt wird. Dabei fließen in jede Interpretation die Resultate vorangegangener Interpretationsakte ein. Das Lebewesen erzeugt seine kognitive Welt also dadurch, dass es immer wieder auf die Konstrukte rekurriert, die es bereits hervorgebracht hat, es verfährt autopoietisch.19 Von einer strukturellen Kopplung zwischen zwei autopoietisch verfahrenden Einheiten sprechen Maturana und Varela dann, wenn ihre Interaktion einen rekursiven, iterativen Charakter angenommen hat.20 Damit werden Kapazitätssteigerungen wahrscheinlich. Insofern das zentrale Nervensystem mit seinen afferenten und efferenten Bahnen eine strukturelle Kopplung zwischen den sensorischen und den motorischen Einheiten eines Organismus darstellt, stellen sich Erwartungen ein, die Unterscheidungen zwischen ihrer Erfüllung und ihrer Enttäuschung, mithin Beobachtungen, erlauben, die ihrerseits wiederum miteinander verglichen respektive verrechnet werden können, so dass sich mit der Zeit ein Beobachtungs- und Bewertungssystem bildet, das der Steuerung der Sinnes- und

17 Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Übersetzung aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systematische Studien e.V. in Hamburg. 2. Auflage. München: Goldmann, S.7. 18 Vgl. Maturana/Varela (1987), S.27. 19 Vgl. ebd., S.50-51. 20 Vgl. ebd., S.84.

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Bewegungsorgane und damit der Verhaltenskontrolle dient. Sobald ein solches System in der Lage ist, Beobachtungen erster Ordnung von Beobachtungen zweiter Ordnung zu unterscheiden, indem es die Basisoperation rekursiv verwendet, kann man im weitesten Sinn von Bewusstsein sprechen und die Naturgeschichte der Kognition in eine Kulturgeschichte überführen, in der die strukturelle Kopplung von Bewusstseinssystemen die Entstehung von Kommunikation, von Sprache wahrscheinlich macht. Als Niklas Luhmann für seine Systemtheorie der funktional differenzierten Gesellschaft die Konzepte der Autopoiesis, der strukturellen Kopplung und der Beobachtung übernahm, hatte er bereits entschieden, soziale Systeme auf den Operationsmodus der Kommunikation abzustellen und ihre Unterscheidung an verschiedene Leitdifferenzen zu binden, so dass beispielsweise das Wissenschaftssystem, in dem es um die Unterscheidung des Wahren vom Falschen geht, anders als das Wirtschaftssystem verfährt, das entlang einer anderen Leitdifferenz operiert. Er war sich auch darüber im Klaren, dass unterschiedliche Systeme gemäß ihrer Eigenlogik nicht auf verschiedenen Territorien operieren, so dass die funktionale Differenzierung mit der Bildung von Domänen einhergeht. Die Forschung ist die Domäne der Wissenschaft; der Markt die Domäne der Wirtschaft. Dass es an den Schnittstellen der funktionalen Differenzierung zu konkurrierenden Geltungsansprüchen kommen kann, liegt auf der Hand. Geht es zum Beispiel um die Geltung von Urheberrechten (Rechtssystem) oder um die Freiheit der Kreativen (Kunstsystem), wenn ein Musik-Produzent mit Samples arbeitet? Wie das Beispiel erkennen lässt, verändert der technologisch bedingte Medienwandel die künstlerische Praxis und damit das funktionale Verhältnis der Systeme dergestalt, dass womöglich eine Gesetzesnovelle erforderlich wird. Da der alte juristische Begriff des Plagiats, wie unlängst höchstrichterlich festgestellt wurde,21 nur eingeschränkt auf die neue künstlerische Praxis des Sampling angewendet werden kann, die eine Folge der Medienevolution darstellt, ändert sich erst die Rechtsprechung und infolgedessen, früher oder später, auch die Gesetzgebung. Die Medienkulturanalyse kann an dieser Stelle, an der es um die Triangulation zwischen der technologischen Medienevolution, der kulturellen oder künstle-

21 So hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Grundsatzurteil am 27. Juni 2019 zwar grundsätzlich das Urheberrecht bestätigt, zugleich jedoch keinen Verstoß gegen dieses Recht darin gesehen, dass Moses Pelham in seinem Song ›Nur mir‹ in Ausübung seiner Kunstfreiheit einem Musikstück der Band Kraftwerk ein Fragment entnommen hatte, um es in geänderter und beim Hören nicht wiedererkennbarer Form zu verwenden.

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rischen Praxis und der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in ihrer Dynamik geht, auf den Begriff des Dispositivs zurückgreifen, der aus der Diskursanalyse stammt. Dispositive, so hat sie Foucault beschrieben, sind heterogene Ensembles, zu denen sowohl materielle Entitäten (etwa ein Mischpult), Informationen (etwa digitale Audio-Dateien), Praktiken (wie das Sampling), Diskurse (wie den der Pop-Kultur oder der HipHop-Szene) und ideelle Güter (wie die Freiheit der Kunst) gehören können.22 Sie verschaffen demjenigen, der über ein solches Ensemble verfügen (disponieren) kann, Handlungsmacht (agency). Für die Medienkulturanalyse ist es allerdings wichtig, verschiedene Typen von Dispositiven auseinander zu halten, was exemplarisch durch die Unterscheidung von Herrschafts-, Erkenntnis- und Medienapparat geschehen kann. Diese Unterscheidung korreliert mit der Differenz zwischen Territorien und Domänen. Für den Landesherrn oder den Staat ist der Herrschaftsapparat ein Dispositiv, das ihm die Kontrolle über ein Territorium sichert. Zu diesem Apparat gehören die Exekutive, einschließlich der Administration, Privilegien wie das Gewaltmonopol, aber auch geschriebene oder ungeschriebene Gesetze sowie bestimmte Rituale, Insignien und Ideen wie die Vorstellung, dass man von Gottes Gnaden König sei, oder das Ethos der Demokratie. Ein Herrschaftsapparat ist, wie sich gerade am Gewaltmonopol zeigt, exklusiv; er dient unmittelbar der Machtausübung, aber auch dem Machterhalt und der Machterweiterung. Seine Eigendynamik ist expansiv. Anders verhält es sich mit jenen Dispositiven, die an Domänen gekoppelt sind. Jedenfalls kann man auch die Vermögen, über die der Mensch dank des Umstands, dass zu seinem Körper ein Gehirn gehört, verfügt, als ein heterogenes Ensemble aus Sinnesorgangen und Anschauungsformen, Erinnerungen und Vorurteilen, Kategorien und Schemata, regulativen Ideen und Prinzipien oder Maximen verstehen, die der intelligiblen Welt Gestalt verleihen, Handlungsmacht generieren und von erheblicher Relevanz für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit respektive für die gemeinschaftliche Gestaltung der Lebenswelt sind. Jedes vernunftbegabte Wesen kann jederzeit und überall über dieses Ensemble verfügen. Daher ist der mit dem Bewegungsapparat kurz geschlossene Erkenntnisapparat im Unterschied zum Herrschaftsapparat zwar nicht exklusiv, sondern inklusiv, aber ebenfalls expansiv. Er dient der persönlichen Machtaus-

22 Vgl. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, S.119-120 sowie Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner (2008): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript.

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übung jedoch nicht unmittelbar, sondern mittelbar gemäß der Erfahrung: Wissen ist Macht. Unter dieser Voraussetzung ist es kein Wunder, dass Herrschaftsapparate in der Regel spezielle Erkenntnisapparate wie den der polizeilichen Erfassung, der amtlichen Statistik oder der Wissenschaft, die aus Steuergeldern finanziert wird, inkorporieren, die Herrschaftswissen generieren. Dabei zahlt es sich aus, dass Erkenntnisapparate an Domänen gebunden sind, so dass es auf ein und demselben Territorium mehrere von ihnen nebeneinander geben und dieses Nebeneinander nach der Devise ›divide et impera‹ genutzt werden kann. Die Polizei sammelt im Prinzip andere Daten als die Bevölkerungsstatistik oder die Wissenschaft, doch wenn es dabei zu Überschneidungen kommt, schadet das nichts. Dass zum Erkenntnisapparat auch Medien gehören, wurde bereits gesagt, wenn auch zunächst nur im Modus der Metapher, als es um die Funktion der Sinnlichkeit ging. Dass kaum ein Herrschaftsapparat ohne einen Medienapparat auskommt, liegt ebenfalls auf der Hand. Freilich hat es mit dem Medienapparat eine spezifische Bewandtnis. Denn mit ihm kommt eine besondere Dialektik ins Spiel, die damit zusammenhängt, dass sich zumindest die mechanischen Medien nur schwer, kaum restlos und zuweilen gar nicht inkorporieren lassen. Sigmund Freud hat den modernen Menschen, der seine Macht durch solche Medien erweitert, deshalb einen ›Prothesengott‹ genannt. Er wirkt »[…] recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen«.23 Mutatis mutandis gilt dies auch für den herrschaftlichen Medieneinsatz. Ein Überwachungsstaat kann Abhörgeräte verwenden, diese sind mit ihm aber nicht im gleichen Maße wie die Kontrollorgane der Polizei oder des Geheimdienstes verwachsen. Vor allem gilt die Schlussfolgerung, die Marshall McLuhan aus Freuds ironischer Beschreibung des ›Prothesengottes‹ gezogen hat, als er in Understanding Media (dt. Die magischen Kanäle) erklärte: »Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers, und eine solche Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper untereinander.« 24

23 Freud, Sigmund (2001): Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.57. 24 McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. ›Understanding Media‹. Aus dem Englischen von Dr. Meinrad Amann. Düsseldorf/Wien, S.54.

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Mit anderen Worten: die Hilfsorgane, die Medien, erweitern den Radius der menschlichen wie der gesellschaftlichen oder staatlichen Wahrnehmungen, Bewegungen und Handlungen um den Preis, dass zugleich jeweils andere Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten ins Virtuelle verschoben werden. Sie verschaffen denjenigen, die sich ihrer bedienen, immer nur auf Zeit eine Macht, die schon deshalb vom Gefühl der Ohnmacht grundiert wird, weil sich in der reflexiven Einstellung auf diese Macht zeigt, dass sie nur vom Apparat geliehen wurde. Darin unterscheidet sich der Medienapparat sowohl vom Erkenntnisapparat, der mit dem Menschen verwachsen ist, als auch von dem Herrschaftsapparat, der in seiner Exklusivität entweder, wie in einer autoritär geführten Gesellschaft, auf die Person des Machtinhabers eingeschworen ist, oder, wie in einer Demokratie, mit der Staatsgewalt gleichgesetzt wird. Die Dialektik von Extension und Selbstamputation führt dazu, dass Medien nicht nur Sichtbarkeiten, sondern auch blinde Flecken erzeugen. Die ScherzPostkarte, auf der ein Handy mit dem Spruch ›Das Unscharfe am Rand nennt man übrigens Welt‹ abgebildet ist, bringt diese Dialektik anschaulich auf den Punkt. Ihr entgeht weder das einzelne Individuum noch das Kollektiv oder der Staat. Ein Regime, das seine Untertanen abhört, erfährt zwar, wie jeder Lauscher an der Wand, die eigene Schand’, verwendet aber womöglich zu viel Kapazität auf Überwachung (so dass die manpower an anderer Stelle fehlt) und bringt sich darüber hinaus um das Vertrauen der eigenen Bevölkerung. Vertrauen ist, wie Niklas Luhmann erkannt hat,25 ein wichtiges (symbolisch generalisiertes) Medium, dem Misstrauen unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz- und Komplexitätsreduktion zwar funktional äquivalent, im Gegensatz zu diesem jedoch sozial produktiv. Mit dem terminus technius des symbolisch generalisierten Mediums kommt es allerdings zu einer gewissen Bifurkation des Medienbegriffs. Denn die symbolisch generalisierten Medien (Vertrauen, Gerechtigkeit, Liebe, Geld, Wahrheit etc.) sind offensichtlich in einem anderen Sinne Medien als Bücher oder Zeitungen, Rundfunkanstalten oder Computer, ganz zu schweigen von Verkehrsmitteln oder jenen mechanischen Extensionen der menschlichen Organe, die McLuhan im Sinn hatte. Symbolisch generalisierte Medien lenken die Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Nenner, einen ›Grundwert‹, der praktisch alles regelt, was in einer Domäne geschieht, sie stellen gewissermaßen die operative Seite der Leit-

25 Vgl. Luhmann, Niklas (2014): Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5.Auflage. UTB.

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differenz dar.26 In der Domäne der Wissenschaft besteht dieser Grundwert, wie gesagt, in der ›Wahrheit‹, in der Domäne der Wirtschaft im ›Geld‹ usw. In der Systemtheorie wird auch ›Macht‹ als ein solcher Grundwert angesehen; aus Sicht der Medienkulturanalyse, die in dieser Hinsicht der Diskursanalyse folgt, verhält es sich aber so, dass es nicht nur in der Politik um Macht geht, so dass es besser ist, ihre Domäne auf den Grundwert des ›Vertrauens‹ abzustellen. Zwar kann es ohne Vertrauen auch keine Liebe geben, man muss die Kandidatin oder den Kandidaten einer politischen Partei aber nicht lieben, um ihn zu wählen; Vertrauen genügt. Umgekehrt reicht Vertrauen nicht aus, um jemanden zu lieben. Symmetrische und asymmetrische Machtverhältnisse gibt es jedoch auch in Liebesbeziehungen, im Wissenschaftsbetrieb oder in der Wirtschaft. ›Macht‹ ist, so gesehen, kein domänenspezifischer Grund-, sondern ein Mehrwert, auf den es, genau genommen, jedes System abgesehen hat. Dafür sind die technischen, die mechanischen und elektronischen Medien, die nicht unter den terminus technicus der symbolisch generalisierten Medien fallen, das beste Beispiel, bemühen sich doch Akteure aus allen Bereichen der Gesellschaft darum, diese Medien zu dominieren und zu instrumentalisieren oder wenigstens zu regulieren. So nehmen Parteien und andere gesellschaftliche Gruppen über den Rundfunkrat der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in der Bundesrepublik Einfluss auf das Radio- und Fernsehprogramm. ›Macht‹, soviel dürfte klargeworden sein, manifestiert sich auf mehr als eine Art: Als Verfügungsgewalt, als Deutungshoheit, als Marktanteil etc., also politisch, kulturell oder ökonomisch – ein weiteres Indiz dafür, dass ›Macht‹ kein domänen- oder systemspezifischer ›Grundwert‹, sondern eben ein ›Mehrwert‹ ist, der sich insbesondere an der Hypercodierung offenbart, die eintritt, wenn ein System ein anderes mit seinem Grundwert dominiert. Dient zum Beispiel die Wissenschaft nur noch der Wirtschaft, wird sie vom symbolisch generalisierten Medium ›Wahrheit‹ auf ›Geld‹ umgestellt und gleichsam gekapert. Da die Wahrscheinlichkeit, dass umgekehrt das Wissenschaftssystem oder die Kunst das Wirtschaftssystem dominieren, sehr viel geringer ist, verweist dieses Beispiel auf die enge Kopplung zwischen ›Geld‹ und ›Macht‹, die in der kapitalistischen Gesellschaft besteht. Obwohl ›Geld‹ nicht den Grundwert der Wissenschaft oder der Kunst darstellt, werden diese Systeme vielfach an diesem Wert gemessen und beurteilt, während niemand vom Wirtschaftssystem erwartet, dass es Wahrheit erzeugt oder, wie die Kunst, von ästhetischem Interesse ist. Freilich erzeugt in der Regel auch die Werbung, eine wichtige Funktion des

26 Vgl. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.222.

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Wirtschaftssystems, ästhetisches Interesse. Dennoch kann man deswegen nicht von einer Hypercodierung der Wirtschaft durch die Kunst sprechen. Im Gegenteil: Das ästhetische Interesse, das die Werbung für Waren oder Dienstleistungen weckt, ist im Unterschied zu dem der Kunst zweckgebunden; es nimmt – freundlich ausgedrückt – Anleihen bei der Kunst, instrumentalisiert diese aber im Sinne des Wirtschaftssystems. Insgesamt folgt aus diesen Überlegungen, dass die nicht ausschließlich, aber nachhaltig durch symbolisch generalisierte Medien funktional differenzierte Gesellschaft zur Ausbildung von Machtasymmetrien neigt, und dass die Dominanz des einen Grundwertes über die anderen tendenziell bis zur Absorption gehen kann. Dem wiederum soll das Rechtssystem entgegenwirken, indem es ungerechtfertigte Geltungsansprüche zurückweist und Machtübergriffe sanktioniert. Vielfach steht hinter diesen Übergriffen die Eigenlogik der Systeme, die mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft freigesetzt wurde und durch die Medienevolution vorangetrieben wird. Die Wirtschaft hat von der Einführung des Privatfernsehens sicher stärker als die Wissenschaft profitiert; schon die militärische Genese des Arpanet, aus dem das Internet hervorgegangen ist, weist darauf hin, dass die Verschränkung von Digitalisierung und Globalisierung eine Triebkraft in jenem Denken in Territorien hat, das sich nicht an den Grundwerten des Kunst- oder des Rechtssystems orientiert. Eine Pointe der Modell-Geschichte, die den Herrschafts-, Erkenntnis- und Medienapparat mit der Unterscheidung zwischen Territorien und Domänen korreliert, liegt somit darin, dass der Medienapparat, da er mit keinem System ›verwachsen‹ ist, sowohl eine dynamische Verhältnisbestimmung der Systeme als auch, im Takt der technologischen Innovation, eine Neujustierung der einzelnen Systeme gemäß der ubiquitären Dialektik von Extension und Selbstamputation erlaubt respektive erfordert. Das ist sozusagen die praktische Pointe. Die andere, die theoretische Pointe liegt darin, dass der Medienapparat gerade kein System sui generis darstellt. Es ist zwar richtig, dass Luhmann die Massenmedien anhand der beständigen Reproduktion von Anlässen zur Anschlusskommunikation als einen Vorgang der Autopoiesis beschrieben hat, 27 er hat damit aber, genau besehen, nicht das Spezifikum der Medien erfasst, da alle sozialen Medien über Kommunikationen prozessieren und seiner Darstellung zufolge autopoietsch verfahren. Man darf sich hier nicht durch die terminologische Unschärferelation zwischen den symbolisch generalisierten Medien und den Medien, die nicht unter diesen Begriff fallen, verwirren lassen. Dass sich die einzel-

27 Vgl. Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.

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nen Systeme durch verschiedene Grundwerte voneinander abheben und entlang der Unterscheidung operieren, die dieser Wert inauguriert, ist das eine; die transversale Funktion der mechanischen und elektronischen Medien das andere. Der Umstand, dass sowohl das Wirtschafts- als auch das Wissenschafts- oder Kunstsystem die Schrift, den Film oder das Internet verwenden, belegt, dass der Medienapparat im Dienste der Kommunikation steht, auf die alle sozialen Systeme verpflichtet sind, was zugleich besagt, dass dieser Apparat quer zu der Eigenlogik steht, die sich aus der Verpflichtung verschiedener Systeme auf unterschiedliche Grundwerte ergibt. Im Rückblick auf die Entwicklung, die von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft geführt hat, lassen sich somit verschiedene Phasen voneinander abheben. Das relativ simple, unzweideutig an der Vertikalen ausgerichtete Oben-Unten-Schema, das die Ständegesellschaft bestimmt, wird im Zuge der Alphabetisierung und Literarisierung zwar keineswegs umgehend suspendiert, gerät aber – erst latent, dann manifest – in einen Widerspruch zu all den sozialen Systemen, die sich gleichsam an der Horizontalen orientieren und longitudinal, entlang der Leitdifferenz eines symbolisch generalisierten Mediums, operieren. Auch die technischen Medien stehen im Dienste der Autopoiesis und der Erweiterung der eigenen Domäne. In diesem Sinne ist der Medienapparat ein Dispositiv zur Potenzierung von ›agency‹. Es liegt nun nahe anzunehmen, dass der funktionale Unterschied zwischen den technischen und den symbolisch generalisierten Medien darin besteht, dass die ersten der strukturellen Kopplung, die zweiten jedoch der strukturellen Trennung von Systemen dienen, obwohl beide jene Dialektik von Extension und Selbstamputation involvieren, die den Systemen hier und dort zu schaffen macht. Gleichwohl kann es ein Erfordernis der genealogischen Betrachtungsweise sein, Prozesse der strukturellen Kopplung zu beschreiben, die sich nicht der Dynamik der ›feindlichen Übernahme‹, sondern einer anderen Intention verdanken. Zu denken wäre hier an den Versuch der Kunst, dem Mäzenatentum der Feudalherren und damit der strukturellen Kopplung an den Grundwert des Vertrauens durch die Teilnahme am Markgeschehen zu entkommen, wobei ihr gewisse Reproduktionstechniken ebenso zu Hilfe kamen wie die Tatsache, dass es für die Teilnahme am Markt bereits bestimmte Regeln gab, die nicht eigens erst für den Kunstmarkt erfunden werden mussten. Dass sich die Kunst mit der Teilnahme am Markt dem Risiko der Hypercodierung durch das Wirtschaftssystem ausgesetzt hat, ist keine Frage, nur ging die Initiative in diesem Fall eben nicht von den Agenten oder der Dynamik des Wirtschaftssystems aus. Der Fall ist auch deshalb interessant, weil er die politische Funktion der Kunst betrifft, die von der Aufgabe der Distinktion und Repräsentation von

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Herrschaft auf die Stimulanz von Interesse, von Kaufinteresse, umgestellt wird, was zu ganz neuen Ästhetiken, Semantiken und Praktiken führt. Neben dem materiellen Zugewinn, zu dem die Teilnahme am Markt führen kann, schlägt dabei ein strategischer Vorteil zu Buche: Als Marktteilnehmer können die Künstler ihre Werke, anders als unter den Bedingungen des Mäzenatentums, auch interessant machen, indem sie sich oppositionell zur vorherrschenden Politik verhalten. Insofern ist dieser Fall auch ein Beispiel für den Liberalisierungseffekt der Ökonomie. Das Beispiel zeigt außerdem, wie der Funktionswandel einzelner Gesellschaftssysteme mit dem Strukturwandel der Kultur zusammenhängt, denn die relative Autonomie der modernen Kunst führt in Verbindung mit dem Distinktionsdruck auf dem Markt nicht nur zu einer weiteren Steigerung des individuellen, experimentellen Umgangs mit den überlieferten Ausdrucks- und Anschauungsformen, sondern auch dazu, dass Tabuthemen aufgegriffen werden, wodurch sich der gesellschaftliche Diskurs, das Spektrum des Sag- und Zeigbaren und seine Modalitäten ändern. Das vordem nicht Sag- und Zeigbare, also das, was im etymologischen Sinne ›obszön‹ ist, wird, zuweilen mit provokativer Geste, präsentiert, löst erst einen Kultur-Schock, dann eine Debatte aus und führt im Zuge der Debatte, die durch weitere Kunst-Aktionen am Leben erhalten oder gar intensiviert werden kann, zu einem allgemeinen Einstellungs- und Verhaltenswandel, aber freilich auch zu einem Konsum des Provokationspotentials und zu einer Normalisierung des Abjekten. Kultur als polyphoner Diskurs der Sinnproduktion qua Themenvariation In dieser Beschreibung wird Kultur an Einstellungen (= werthaltige Lesarten der Wirklichkeit) und an Verhaltensweisen festgemacht. Ist das alles, was eine Kultur ausmacht? Luhmann wollte in ›Kultur‹ einen Themenvorrat für Kommunikationen, mithin bestimmte Semantiken der Gesellschaft sehen.28 Wenn man jedoch, diesen Vorschlag aufgreifend, fragt, was beispielsweise zu der Semantik des Liebes-Themas gehört, stößt man rasch auf so etwas wie ›Verführung‹ oder ›Heirat‹, also auf bestimmte Praktiken, was Linguisten und Semiologen kaum verwundern wird, da sie um die Unschärferelation wissen, die Semantik und Pragmatik verbindet. Die Systemtheorie kann diese Verbindung insofern ignorieren, als sie sich nur unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation für Themen

28 Vgl. Luhmann (1987): S.224.

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interessiert und auf die Praktiken der Liebe ausschließlich in ihrer sozialen – und das heißt letztlich: kommunikativen – Funktion eingeht. Die Kultur- und Medienwissenschaft kann sich mit dieser Komplexitätsreduktion jedoch aus wenigstens zwei Gründen nicht zufriedengeben. Der erste Grund ergibt sich daraus, dass viele Medien die Liebe nicht in abstracto thematisieren, sondern in actu anhand ihrer Performanz vor Augen führen. Ihre DisplayFunktion29 lässt sich nur konkret realisieren, das heißt: Sie müssen die Bedeutung der Liebe anhand von Handlungen und Handlungsfolgen aufzeigen und durchspielen. Ihre Semantik ist nicht eine Semantik der Begriffe und Definitionen, sondern der Exemplifikationen. »Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme«,30 so die knappe Formel von Nelson Goodman, die man auch in ›Verkörperung von Eigenschaften mit Verweischarakter‹ übersetzen kann. Durch das Zusammenspiel von Exemplifikation und Display ändert sich die Art der Semantik: Nicht, was der Begriff der Liebe, abgelöst von jedem Verwendungszusammenhang besagt, sondern welche Wirkung sie in diesem ohne jenem Kontext entfaltet, wird vorgeführt und macht die Bedeutung aus. Der zweite Grund hat damit zu tun, dass Themen für die Medien, allen voran für die Medien der Kunst, keinen Vorrat darstellen, aus dem man sich wie aus einem Regal mit ready mades bedient, um sie nach Gebrauch wieder so ins Regal zurückzustellen, wie man sie vorgefunden hat. Vielmehr geht es in den Medien und Künsten um die Variation, Modifikation und manchmal sogar um die Dekonstruktion von Themen. Wenn Luhmann die öffentliche Meinung dynamisch als Themenkarriere bestimmt und auf die Agenda Setting-Funktion der Medien bezieht,31 hält er das Thema invariant. Ein Thema kommt auf, wird lebhaft diskutiert, erreicht den Höhepunkt der Aufmerksamkeit und verschwindet, wenn es sich erschöpft hat oder durch ein anderes Thema ersetzt wird, ohne dass es sich im Verlauf der Karriere geändert hat. Doch das ist nicht, was mit Themen tatsächlich passiert, weder im Zuge der öffentlichen Meinungsbildung noch in

29 Mit diesem Lehnwort wird die besondere Eignung von Medien und Künsten bezeichnet, Sachverhalte aufzuzeigen oder auszustellen und anhand von Ereignisfolgen durchzuspielen, was aus diesen Sachverhalten folgt oder folgen könnte. Die DisplayFunktion hängt eng mit dem szenografischen Charakter der Künste und Medien zusammen und kann bis zum Zerspielen bestimmter Vorstellungen, Begriffe etc. gehen. 30 Goodman, Nelson (1995): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd Philippi. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.60. 31 Vgl. Luhmann, Niklas (1990): Gesellschaftliche Komplexität und Öffentliche Meinung. In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S.170-182.

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anderen Fällen. Für Themen, die Zeichenkomplexe darstellen, gilt wie für alle Zeichen, dass sie durch ihre Behandlung wachsen, Vorstellungen anreichern, Querbezüge zu anderen Themen eingehen, in verschiedene Kontexte und Verständnisrahmen gerückt, Akzentverlagerungen ausgesetzt und dergestalt variiert, modifiziert oder gar in ihrer Bedeutung dekonstruiert werden. Man kann eine Medienkultur geradezu dadurch charakterisieren, wie sie mit Themen umgeht. Das aber heißt: Die Kultur ist nicht einfach ein Themenvorrat, sondern ein Geflecht von Diskursen, ein beständiges Hin- und Herlaufen zwischen verschiedenen Themen und Themenaspekten gemäß unterschiedlicher Deutungsperspektiven, die zwischen Dissens und Konsens oszillieren und explizit oder implizit genau die Grundwerte involvieren, die in der Gesellschaft symbolisch generalisiert werden. Man thematisiert die Liebe nicht nur um ihrer selbst willen, sondern weil es ein Gerechtigkeitsproblem oder ein Wahrheitsdefizit in einer Beziehung oder in der Gesellschaft gibt, und man konzentriert sich deshalb auf den Aspekt der Fürsorge oder der Wahrheitsliebe, was zum Aushandeln unterschiedlicher Geltungsansprüche sowie dazu führen kann, dass sich womöglich nicht nur das Verständnis der Liebe, sondern auch die Semantik anderer Begriffe und Werte ändert. So verstanden ist die Kultur keine statische Angelegenheit, sondern eine dynamische Veranstaltung der diskursiven Sinnproduktion, was nicht ausschließt, dass sie in vielen Fällen nicht über die Reproduktion von bereits festgestelltem Sinn hinausgeht. Allerdings hat auch die Reproduktion meist eine produktive Dimension, z.B. die Bewahrung einer Tradition oder die Sicherung der Verfassungswerte über mehrere Generationen hinweg. Wie Hans Blumenberg für den Mythos dargelegt hat, kann selbst die Themenvariation der Bestandserhaltung dienen, wenn sie nicht den narrativen Kern betrifft, der sich durch alle Variationen hindurch erhält.32 Vielmehr sorgt die Variation dafür, dass die Überlieferung jene Aktualisierungen erfährt, ohne die sie ihre Relevanz einbüßen und nicht weiter betrieben würde. Als diskursive Veranstaltung der Sinn(re)produktion qua Themenvariation erweist sich die Kultur auch dort als eine polyphone Sequenzierung von Rede, Gegenrede und Widerrede, wo ihre Performanz nicht an Worte gekoppelt ist, was insbesondere in den nicht literarischen Künsten geschieht. Man kann Themen auch anhand einer Ballettchoreografie durchspielen oder musikalisch variieren, Bedeutungsaspekte durch Gebärden aufzeigen und Querbezüge zwischen Themen über stumme Bilder oder Bilderfolgen herstellen. Die Domäne der nicht

32 Vgl. Blumenberg, Hans (1996): Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.40.

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literarischen, präsentativen Künste, die sich aus ihrer Fähigkeit ergibt, Kommunikation ohne Rekurs auf die verbale Sprache zu ermöglichen,33 ist schon deshalb nicht als gering zu veranschlagen, weil die Sprache auch von anderen Systemen verwendet wird und daher jeweils Semantiken mitschleppt, die in der Kunst bewusst ein- oder ausgeklammert werden sollen. Anders formuliert: Nonverbale Künste haben es in gewisser Weise leichter als verbale Künste, konventionelle Bedeutungen zu suspendieren und so einen Spielraum für freie Assoziationen und Rekombinationen von Konnotat und Denotat zu schaffen. Die Suspension von Konventionen und konventionellen Geltungsansprüchen trägt maßgeblich zur Differenzqualität der Kunst gegenüber der Kultur als einer diskursiven, literarisch imprägnierten Veranstaltung bei und bewahrt sie vor der Hypercodierung durch die anderen Systeme, die praktisch alle auf Denotate und auf die begriffliche Fixierung ihrer Grundwerte und Schlüsseltexte setzen. Die Differenz von Kunst und Kultur hat umso mehr Bedeutung, desto stärker die Sprache die allgemeine Sinnproduktion einer Gesellschaft, die soziale Konstruktion der Wirklichkeit und die anderen »Weisen der Welterzeugung« (Nelson Goodman) bestimmt. Denn sie ändert die in der Gutenberg-Galaxis vorherrschende »Lesbarkeit der Welt« (Hans Blumenberg). Umgekehrt gilt für den Roman, der den sozialen Redeverkehr in seiner Vielstimmigkeit reflektiert 34 (also nicht nur aufzeigt, sondern auch bricht und zerspielt), dass er in einem besonders engen Austauschverhältnis mit der üblichen Prozedur der Sinnproduktion und der Wirklichkeitskonstruktion steht – thematisch wie methodisch, medial wie material. Der Roman arbeitet mit den gleichen Anschauungs- und Umgangsformen wie die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und geht als Wortkunstwerk doch über die bestehende Wirklichkeit mehr oder weniger entschieden hinaus. Damit besetzt er innerhalb der Literatur, an der Schnittstelle von Kunst und Kultur, eine eigene Domäne, die ihm weder lyrische noch dramatische Texte, weder fotografische und kinematografische, noch choreografische oder musikalische Artefakte streitig machen können. Es gibt aber auch eine

33 Vgl. Langer, Susanne K. (1965): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ada Löwith. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.86-108. 34 Vgl. Bachtin (1979), S.157: »Der Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutungen mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt.«

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»Domäne der Bilder«,35 so wie es eine Domäne des Films, des Theaters, des Balletts oder der Musik gibt. Was es offensichtlich nicht gibt, ist ein Territorium der Kunst. Und wenn man sich fragt, warum das so ist, lautet die Antwort der Medienkulturanalyse: Weil die Künste und die Herrschaftsapparate im Verlauf der Neuzeit entkoppelt wurden, während die Künste und die Erkenntnisapparate im gleichen Zeitraum sowohl anhand der symbolisch generalisierten als auch anhand der technischen Medien enge Verbindungen eingegangen sind. Die Erkenntnisfunktionen der Künste sind daher, ihrem Selbst- wie ihrem Fremdverständnis nach, herrschaftskritisch. Spätestens in der Moderne gilt als ausgemacht, dass die Affirmation der Herrschaft keine Erkenntnisfunktion besitzt, und dass affirmative Kunst eine contradictio in adjecto darstellt. Das war nicht immer so und muss auch nicht so bleiben; vielleicht ist es nicht einmal empirisch richtig und könnte daher gemäß der Popperschen Falsifikationslogik durch den Verweis auf nur ein Gegenbeispiel widerlegt werden – es ist jedoch ein Topos der zeitgenössischen Ästhetik, dass sich die Kunst durch ihre Differenzqualität gegenüber der vorherrschenden Kultur konstituiert, das heißt durch ihre Differenzqualität zu all dem, was das Empfinden, Denken und Verhalten der Menschen dominiert, weil es Konsens ist. Zumindest die moderne Kunst setzt somit entschieden auf kognitive Dissonanz und hat kein Interesse an der Harmonisierung gesellschaftlicher Widersprüche. Freilich bleibt Dissonanz eine Form der Resonanz, des Widerhalls. Anders wäre Kunst kaum in der Lage, individuelle oder kollektive Reflexionsprozesse anzustoßen und auf die kulturelle Sinnproduktion zurückzuwirken, von der sie sich operativ absetzt. Das (vorläufige) Fazit der Modell-Geschichte lautet somit, dass man die Medienevolution anhand der drei Typen interpunktieren kann, in die sich Dispositive unterscheiden lassen, und dass diese Typen mit der Unterscheidung zwischen Territorium und Domäne korrelieren. Zu bedenken ist außerdem, dass die Differenzierung in Herrschafts-, Erkenntnis- und Medienapparat eine Idealisierung darstellt und dass das menschliche Denken, unabhängig davon, ob es sich auf Territorien oder Domänen bezieht, ein Denken in ›claims‹, in Ansprüchen auf Zugriffs- und Verfügungsmöglichkeiten bleibt. Dieser Umstand wird nicht zuletzt in der Doppeldeutigkeit des Kompetenzbegriffs reflektiert, der ja sowohl den Rekurs auf ›Fähigkeiten‹ und ›Vermögen‹ als auch den Rekurs auf ›Befugnisse‹ und ›Ansprüche‹ erlaubt. Was sich insgesamt abzeichnet, ist eine genealogisch verfahrende, auf die Entwicklung von Machtverhältnissen bezogene Medi-

35 Vgl. Elkins, James (1999): The Domain of Images. Ithaca/London: Cornell University Press.

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enkulturanalyse, die sich in dia- wie in synchroner Perspektive an der Dialektik von Extension und Selbstamputation orientieren und weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht davon absehen kann, dass Medienereignisse ihrer Form und Funktion nach immer auch Zeichenereignisse sind.

DIE FERNSEH-GESELLSCHAFT Richtet sich das Augenmerk der Medienkulturanalyse vor allem auf den Wandel der Formen und Funktionen, die der Welt eine intelligible und kommunikable Gestalt verleihen, kann sie nicht übersehen, dass dieser Wandel seit Beginn der Neuzeit immer stärker technologisch getrieben wird. Manuel Castells hat diesen Sachverhalt einigermaßen paradox ausgedrückt: »We know that technology does not determine society; it is society. Society shapes technology according to the needs, values, and interests of people who use the technology. Furthermore, information and communication technologies are particularly sensitive to the effects of social uses on technology itself.« 36

Der vermeintliche Widerspruch, den man darin sehen könnte, dass die Technologie die Gesellschaft nicht determiniert, sondern ausmacht, wird also dadurch aufgelöst, dass die Gesellschaft von der Technologie den Gebrauch macht, der ihren Bedürfnissen, Werten und Interessen entspricht, zumal sich zumindest die Informations- und Kommunikations-Technologie immer einfühlsamer zu den Resultaten ihres Gebrauchs verhält. Das Bild, das Castells von dieser Technologie entwirft, dürften Medienskeptiker als zu euphorisch ablehnen. Es lässt nicht nur offen, wozu und wem die Sensitivität der intelligenten Maschinen dient, es blendet auch aus, dass nicht alles an einer Gesellschaft Technologie ist. Das gilt selbst für die sogenannten ›Kulturtechniken‹, die medieninduziert sind, denn ob es um das Lesen und Schreiben, das Radiohören oder Filmsehen, das Gaming oder Sampling geht – stets handelt es sich bei diesen Kulturtechniken um Techniken der Sinnproduktion, die mit Lustmomenten und Affektbeträgen verbunden sind. Diese Lustmomente und Affektbeträge sind für Maschinen irrelevant und lassen sich auch nicht restlos sozialisieren. So weitreichend der Einfluss der Technologie auch ist, da sie selbst die Einbildungskraft des Men-

36 Castells, Manuel (2005): The Network Society. From Knowledge to Policy. In: The Network Society. From Knowledge to Policy. Edited by Manuel Castells and Gustavo Cardoso. Washington DC: John Hopkins Press, S.3-21, hier S.3.

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schen in eine ›Technoimagination‹ verwandelt, so falsch wäre es anzunehmen, dass all die Empfindungen und Vorstellungen, die jeder einzelne Mensch mit irgendwelchen Medien entwickelt, deshalb reine Technologie wären oder der Gesellschaft gehören würden. Umgekehrt kann man kaum ernsthaft behaupten, dass diese Vorstellungen naturwüchsig sind. Sie werden immer mit Hilfe von Kulturtechniken und Apparaten hergestellt und sind insofern ›künstlich‹. Ohne das Hergestellte, das Künstliche im weitesten Sinn des Wortes, stünde der Mensch, wie Nelson Goodman treffend festgestellt hat, mit leerem Kopf und leeren Händen da. 37 Was sich mit der Medienevolution nachhaltig ändert, ist der Zuschnitt der Anschauungsformen von Raum und Zeit sowie die Bildung der Schemata, mittels derer sich die Begriffe auf die Dinge, die Objekte der Zeichen, beziehen lassen. Daher liegt die vorrangige Aufgabe der Medienkulturanalyse in der Triangulation des Wandels der Anschauungsformen und Schemata mit der technologischen Medienevolution auf der einen und der gesellschaftlichen Praxis auf der anderen Seite. Als mustergültig kann in dieser Hinsicht die Arbeit von Joshua Meyrowitz gelten, der in seinem Buch No Sense of Place (dt. Die Fernsehgesellschaft) ausführlich dargelegt hat, wie das Massenmedium der Television das Wissen und Verhalten der Menschen in Bezug auf das Verhältnis von Eltern und Kindern, Frauen und Männern, Gewählten und Wählern verändert hat. In einem Aufsatz, der einige Jahre später erschienen ist und von der Fernseh- auf die Netzwerk-Gesellschaft ausgreift, hat Meyrowitz die zentralen Aussagen seines Buches noch einmal einprägsam zusammengefasst. Die Prämisse lautet: »All experience is local.«38 Ein wesentlicher Effekt der elektronischen Medien besteht nun darin, dass sie die Einheit zwischen dem Ort des physischen und des sozialen Erlebens aufheben: »electronic media lead to dissociation between physical place and social place«.39 Entscheidend ist: Eine solche Dissoziation war zuvor nicht möglich. »The pre-electronic locality was characterized by its physical and experiental boundedness. Situations were defined by where and when they took place and who was physically

37 Vgl. Goodman, Nelson (1984): Weisen der Welterzeugung. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt am Main. Suhrkamp, S.125. 38 Meyrowitz, Joshua (2005): The Rise of Glocality. New Senses of Place and Identity in the Global Village, in: Kristóf Nyíri (Hg.), A Sense of Place. The Global and the Local in Mobile Communication, Wien: Passagen, S.21-20, hier S.21. 39 Meyrowitz (2005): S.25.

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present – as well as by where and when they were not taking place and by who was not physically present at particular events.« 40

Mit den elektronischen Medien, die neue Wahrnehmungssituationen schaffen, ändert sich das Setting der Erfahrung und damit der Beurteilungsmaßstab dafür, was in einer Situation als angemessenes oder unangemessenes Verhalten gelten kann, grundlegend: »It is extremely difficult to maintain some of the traditional distinctions in life experience that characterized the print era. In a print society, the different levels of coding of text served to isolate children from the informational world of adults and even from the experiences of children who were a year or two older or younger. Now, such distinctions are much more difficult to preserve. Children are routinely exposed to what was once considered ›adult information‹. In a place-defined-culture, it was also possible to separate men’s places from women’s places. At the height of influence of Western print culture, for example, the Victorians emphasized, how the public, male realm of rational accomplishments and brutal competitions was very different from the private, female sphere of home, intuition, and emotion. Now, electronic media pull the public realm into the home, and push intimate topics, images, and sounds into the public sphere.« 41

Eingezogen wird durch Nahaufnahmen, ›home stories‹, ›talk shows‹ und ähnliche Formate auch die Distanz zwischen Wählern und Gewählten, zwischen Wohnzimmer und Parlament, so dass sich die Politiker vor allem im Wahlkampf weniger durch ihre programmatischen Überzeugungen, Fähigkeiten und Leistungen als durch ihr Aussehen, ihr Familienleben und andere Privatheiten für die Wahrnehmung öffentlicher Ämter empfehlen müssen. Ändert sich durch diese Art der Überlappung zuvor getrennter Bereiche das Verhalten von Wählern und Kandidaten, ändert sich auch die Interaktion von Kindern und Eltern oder Frauen und Männern, wenn sie die gleichen, medial vermittelten Situationen der Wahrnehmung teilen und das zuvor generationen- und geschlechtsspezifisch getrennte Wissen zusammenfließt. Daher muss die Prämisse – ›All experience is local‹ – modifiziert werden: »For although we always sense the world in a local place, the people and things that we sense are not exclusively local: media of all kinds extend our perceptual field.«42

40 Ebd.: S.28. 41 Ebd.: S.29. 42 Ebd.: S.22.

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Mit anderen Worten: die Medien stellen Schemata zur Verknüpfung von Wissen bereit, die es ohne sie nicht geben würde. Sie eröffnen Vergleichsmöglichkeiten und etablieren Vergleichsmaßstäbe, wo es zuvor gar keinen Zusammenhang gab. Meyrowitz beschreibt nicht nur die Auswirkungen dieser Veränderung auf das Welt- und Gesellschaftsbild, sondern auch auf den Selbstentwurf der Menschen. In Anlehnung an den ›generalisierten Anderen‹, an dem der Einzelne sein eigenes Verhalten, George Herbert Mead zufolge, nicht erst im Fernsehzeitalter ausrichtet, spricht Meyrowitz von ›the generalized elsewhere‹ und erklärt: »The generalized elsewhere serves as a mirror in which to view and judge our localities. We are now more likely to understand our place, and just as the community, but as one of many communities in which we could live. We are less likely to see our locality as the center of the universe. We are less likely to see our physical surroundings as the source of all experience.« 43

In die Vorstellungen von Welt, Gesellschaft und Selbst gehen somit die Möglichkeiten ein, die es nur andernorts gibt. Dieser Möglichkeiten wird der Mensch dank der Medien gewahr. »Today, with hundreds of TV channels, cable networks, satellite systems, and millions of computer web sites, average citizens of all advanced industrial societies (and many not so much advanced societies) have images in their heads of other people, other cities and countries, other professions, and other lifestyles. These images help to shape the imagined elsewhere from which each person’s somewhere is conceived. In that sense, all our media – regardless of their manifest purpose and design – function as mental ›global positioning systems‹.« 44

Eine Folge ist, dass man sich nicht mehr dem am Lebensort vorherrschenden Muster der Identitätsbildung fügen muss, da man (fast) zur gleichen Zeit an verschiedenen ›Szenen‹ – der Wohnfamilie im Elternhaus, der Fangemeinde einer Popgruppe, deren Konzert soeben im Fernsehen ausgestrahlt wird, oder der Game-Battle im Internet – teilnehmen und so ein hybrides Selbst entwickeln kann; anderes gesagt: »We now live in glocalities.«45 Eine weitere Folge besteht darin, dass sich die Dialektik von Extension und Selbstamputation immer häufi-

43 Ebd.: S.23. 44 Ebd.: S.24. 45 Ebd.: S.23.

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ger bemerkbar macht, da man mit nur einem Tastendruck auf der Fernbedienung oder nur einem Mausklick von einer Szene, Wahrnehmungssituation und Weltregion zur nächsten gelangen kann, während sich die Demarkation zwischen realer und virtueller Erfahrung verflüchtigt. Die Immersionseffekte der Live- und Dialog-Medien, der Connect-Games und der telegenen Zeitreisen sind tendenziell stärker als die Bindungskräfte des Ortssinns. Für den Fall, dass dieser Sinn gänzlich verloren gehen oder in Zukunft erst gar nicht mehr ausgebildet werden sollte, kann man nunmehr aufs ›Navi‹ zurückgreifen. Folgerichtig bekräftigt Meyrowitz McLuhans Einsicht: »We both loose and gain«;46 wir gewinnen beim Medieneinsatz durch Extension und verlieren durch Selbstamputation.

DIE NETZWERK-GESELLSCHAFT Als Meyrowitz sein Buch über die Fernseh-Gesellschaft schrieb, war die Netzwerk-Gesellschaft bereits im Entstehen. Im letzten Kapitel thematisierte er diesen Übergang und meinte im Anschluss an Susanne Langers bereits erwähnte Unterscheidung von diskursiven und präsentativen Vermittlungsmodi: »Unabhängig davon, welchen Weg die Evolution des Computers einschlagen wird – den diskursiven oder den präsentativen –, der Computer und andere neue Technologien fördern sicherlich den wichtigsten Unterschied zwischen elektronischen und allen vorherigen Arten von Kommunikation: Sie schwächen die Beziehung zwischen sozialem Ort und physischem Ort. Jeder Personalcomputer kann heute in jede Leitung zu einem Zentralcomputer ›eingespeist‹ oder an jeden anderen Personalcomputer angeschlossen werden – und das allein mit Hilfe des überall verbreiteten Telefonsystems. Der Computer stimuliert die Integration verschiedener Technologien – Fernsehen, Telefon, Audio- und VideoRekorder, Satelliten und Drucker – in ein großes Informations-Netzwerk. Je mehr Anteil Arbeit und Spiel in unserer Gesellschaft ›informativ‹ statt ›materiell‹ wird, desto schneller und nachhaltiger werden Unterschiede zwischen ›Hier‹ und ›Dort‹ abgebaut, und desto stärker übernehmen wir die Rolle von Jägern und Sammlern im Informationszeitalter.« 47

Rund zwanzig Jahre später plädierte Castells auch deshalb für den Begriff der ›network society‹, weil im Grunde genommen jede Gesellschaft in jeder Epoche

46 Ebd.: S.30. 47 Meyrowitz, Joshua (1987): Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Aus dem Amerikanischen von Michaela Huber. Weinheim/Basel: Beltz, S.221.

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der Menschheitsgeschichte wahlweise als ›information‹ oder ›knowledge society‹ beschrieben werden könne; zwar habe es auch soziale Netzwerke immer schon gegeben, doch die digitale Technologie setze Netzwerke nun, im 21. Jahrhundert, in den Stand, ihre historischen Beschränkungen zu überwinden. 48 Ausschlaggebend sei die Dynamik und Plastizität, die bei Netzwerken nicht von ihrer Performanz zu trennen ist: »Networks are open structures that evolve by adding or removing nodes according to the changing requirements of the program that assign performance goals to the networks. Naturally, these programs are decided socially from outside the network. But once they are inscribed in the logic of the network, the network will follow efficiently these instructions, adding, deleting, and reconfigurating, until a new program replaces or modifies the codes that command its operational system.« 49

Digitale Netzwerke stellen somit einen vierten Typ des Dispositivs dar; auch sie sind ein Ensemble aus diversen, aber technologisch homogenisierten Elementen. Das materiell Heterogene wird durch den binären Code uniformiert, also in ein und dieselbe Form bzw. Formensprache übersetzt. Die so ermöglichte Dematerialisierung führt dazu, dass man mit diesem Typ des Dispositivs kein Territorium bilden oder beherrschen kann; sie erlaubt es jedoch, Domänen abzustecken und über die Form all das zu kontrollieren, was in dieser Domäne vor sich geht. Meyrowitz hatte die Medienkonvergenz, die sich aus der Verbindung von Personalcomputer, Modem und Telefonnetz, ergibt, beschrieben, ohne an ›global player‹ wie Google denken zu können. Castells konnte knapp dreißig Jahre später absehen, was aus den Jägern und Sammlern im Internet geworden war. Die Dynamik und Plastizität des Netzes forme auch die ›agency‹ seiner Nutzer: »Ability to work autonomously and be an active component of a network becomes paramount in the new economy.«50 Castells spricht in diesem Zusammenhang vom »self-programmable worker«, der über »bargaining power in the labor market«51 verfüge. Diesen Arbeiter hat es im 19. Jahrhundert, im Industriezeitalter, und wohl auch noch in der Angestelltenkultur des 20. Jahrhunderts kaum gegeben; ob er tatsächlich den neuen Phänotyp ausmacht, wird sich noch erweisen müssen. Es gibt diesen Typ sicherlich schon in Einzelexemplaren, vor allem in der kreativen Medien-Szene, es gibt aber auch die vielen anderen Menschen, die

48 Vgl. Castells (2005): S.4. 49 Ebd.: S.7. 50 Ebd.: S.10. 51 Ebd.: S.10.

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im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung in prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit geringen Handlungsspielräumen geraten sind und ihre ›agency‹ weitgehend eingebüßt haben. Die Transformationen, die mit der Entwicklung der Netzwerk-Gesellschaft einhergehen, betreffen neben der Ökonomie und der Medienlandschaft vor allem die Politik, wobei es zahlreiche Interferenzen gibt. Castells beschreibt den intensiven Internet-Nutzer als einen kontaktfreudigen, folgerichtig gut vernetzten und politisch aktiven Zeitgenossen, der sich nicht nur in die Dialog-Medien, sondern auch in die Face-to-Face-Kommunikation überdurchschnittlich einbringe52 und den vielen neuen Formaten (blogs, vlogs, podding, streaming, messenger services etc.) gegenüber ebenso aufgeschlossen sei wie dem Trend zur Virtual Reality. Castells geht neben den Integrierten aber auch auf die Apokalyptiker ein, die befürchten, dass die Menschen durch das Internet immer mehr voneinander isoliert und von anonymen Mächten überwacht, von sinnvollen kulturellen Tätigkeiten wie der Buchlektüre abgehalten und der natürlichen Lebenswelt entfremdet würden.53 Er selbst meint jedoch: »[…] we are not in an Orwellian universe, but in a world of diversified messages recombining themselves in the electronic hypertext, and processed by minds with increasingly autonomous sources of information.«54

Von ›hate speeches‹ ist bei Castells 2005 noch nicht die Rede, wohl aber von der Ambivalenz, die der globalen digitalen Vernetzung aus Sicht der Nationalstaaten innewohnt. »They praise their benefits, yet they fear to lose control of information and communication in which power has always been rooted. Accepting democracy of communication is accepting direct democracy, something no state has accepted in history.«55

Entsprechend dilatorisch und defensiv werde die Transformation zur NetzwerkGesellschaft ›gemanagt‹: Einerseits entzieht sich das, was im Internet geschieht, der Zuständigkeit der Nationalstaaten, andererseits erweitern sie ihre Macht durch den Beitritt zu supranationalen Institutionen um den Preis eines partiellen

52 Vgl. ebd.: S.11. 53 Vgl. ebd.: S.6-7. 54 Ebd.: S.14. 55 Ebd.:S.29.

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Verlustes ihrer Souveränität, ohne dass damit eine Welt-Regierung wahrscheinlicher werde. »Simply put, neither current political actors nor people at large want a world government, so it will not happen. But since global governance of some sort is a functional need, nation-states are finding ways to co-manage the global processes that affect most of the issues related to their governing practices. To do so, they increasingly share sovereignty while still proudly branding the flags. They form networks of nation-states, the most integrated and significant of which is the European Union.«56

Wie sehr diese Vereinigung durch das Denken in Territorien bestimmt wird, geht aus Castells Beschreibung der Anstrengungen hervor, welche die Europäische Union im Jahre 2000 mit der Lissabon-Agenda unternommen hat, um im Wettbewerb mit den USA zu bestehen, ohne das Modell des Sozialstaats aufzugeben: »[…] much of the emphasis was placed on technological upgrading and enhancement of research capabilities. The European technological infrastructure improved considerably, but effects on productivity, on learning, on creativity, and on entrepreneurialism, were very limited. This is because acting on the development potential specific to the network society requires a combination of initiatives in technology, business, education, culture, spatial restructuring, infrastructure development, organizational change, and institutional reform. It is the synergy between these processes that acts as a lever of change on the mechanisms of the network society.«57

Wie groß die Herausforderungen tatsächlich sind, lässt sich an der Lückenhaftigkeit, die das Mobilfunknetz noch fünfzehn Jahre nach der Publikation von Castells Aufsatz in der Bundesrepublik aufweist, ebenso unzweideutig ablesen wie an der Rückständigkeit deutscher Schulen und Behörden bei der Digitalisierung, die sich vor allem im Vergleich mit deren Entwicklungsstand in den baltischen und skandinavischen Staaten offenbart. Für eine historisch informierte Medienkulturanalyse ist der Widerstreit zwischen Medieneuphorie und Medienskepsis respektive zwischen agilen und trägen Akteuren kein Novum. Weil der technologische Wandel der Medienlandschaft immer auch ein Wandel der Gesellschaft ist, hängt es wesentlich vom Ausmaß ihres Beharrungsvermögens ab, ob er sich schnell oder langsam vollzieht. In der Regel machen wirtschaftliche Interessen dem Ganzen Beine. Mit

56 Ebd.: S.15. 57 Ebd.: S.16-17.

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Blick auf den kulturellen Wandel, den Wandel der Anschauungsformen und Denkstile, der Verhaltensmuster und der Art und Weise, in der die kollektive Konstruktion der Wirklichkeit und die individuelle Sinnproduktion ablaufen, ist das Tempo des Wandels bestenfalls von zweitrangiger Bedeutung. Erstrangig sind dagegen seine Durchschlagskraft und seine Nachhaltigkeit, da es von diesen beiden Faktoren abhängt, ob der Wandel alle oder nur einige, wenige Teilsysteme der Gesellschaft erfasst und dauerhaft in ihrer Prozessstruktur verankert wird. Im Übrigen kann man die Unterscheidung zwischen Extension und Amputation unschwer in politische Termini wie Partizipation und Exklusion übersetzen. Das kritische Potential der Medienkulturanalyse liegt nicht zuletzt in der Verschränkung dieser Begriffe, insbesondere dort, wo es auf ihre Verklammerung mit der Europaforschung ankommt. Denn die Digitalisierung der EU erfordert nicht nur große finanzielle Anstrengungen, sie ist in erster Linie, auf allen Ebenen der Gesellschaft, eine Aufgabe der Inklusion. Hält man sich an die Theorie der digitalen Gesellschaft, die Armin Nassehi soeben unter dem Titel Muster vorgelegt hat,58 war das Digitale von Anfang an eng mit dem Herrschaftsapparat und dem Herrschaftswissen der modernen Territorial- und Nationalstaaten verbandelt. Denn es geht bei der Digitalisierung der Gesellschaft, die lange vor der Erfindung des Computers und der Entwicklung des Internets mit statistischen Beobachtungen und Berechnungen im staatlichen Auftrag begonnen hat, stets darum, Verhaltensmuster sichtbar zu machen, die für die Untertanen oder Bürger im Alltag nicht sichtbar sind – Muster, die von den Behörden aus Machtgründen geheim gehalten wurden. Das mit dem Einsatz von vernetzten Computern exponentiell wachsende Herrschaftswissen ist im 21. Jahrhundert aber keine Domäne des Nationalstaates mehr, der legitimerweise für sich die Kontrolle über jene Daten beanspruchen kann, die zur Kontrolle seines Territoriums (mit allem, was dazu gehört, einschließlich der Grenzkontrolle) erforderlich sind. Vielmehr verfügen inzwischen auch die Netzunternehmen über Algorithmen zur Erzeugung von Big Data sowie zur automatischen Mustererkennung und damit über eine Macht, die vom Wirtschaftssystem auf praktisch alle anderen Systeme der Gesellschaft übergreift. Möglich wird die expansive Datensammlung freilich nicht nur durch intelligente Maschinen, sondern durch den kulturellen Mehrwert, den die Netzkommunikation aus Sicht der einzelnen Nutzer hat. Sie sind massenweise, täglich und überall auf der Welt bereit, diesen Mehrwert, der im Downloaden von Videospielen und Filmclips zu Unterhaltungszwecken, in der Verwendung von

58 Vgl. zum Folgenden Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C. H. Beck.

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Apps und Clouds zu Informationszwecken oder in irgendeiner anderen Anwendung bestehen kann, mit Spuren im Netz zu bezahlen, die sich insgeheim verfolgen und zusammenführen, miteinander vergleichen oder in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit zu Beziehungs- und Verhaltensmustern hoch- und umrechnen lassen, die weit über die legitimen Interessen der Spurensammler und Musterjäger hinausgeht. Immer dringlicher stellt sich daher die Frage, ob der Staat unter den technologischen Bedingungen der Netz-Gesellschaft überhaupt noch in der Lage ist, den Schutz der Privatsphäre, des Eigentums, der Bürgerrechte insgesamt und der Demokratie zu garantieren. Ob es sich dabei um einen Nationalstaat oder um einen Staatenbund wie die EU handelt, spielt keine entscheidende Rolle. Wie immer Europa auf diese Herausforderung der digitalen Gesellschaft reagiert – also auf das, was sie gemäß ihrer eigenen Logik hervor gebracht hat und ausmacht – es käme zunächst einmal darauf an, die Risiken und Chancen szenografisch zu erfassen, indem man die in der digitalen Gesellschaft strukturell angelegten Entwicklungspfade identifiziert, der Kultur, zu der sie führen, Konturen verleiht und so zu einem Abwägungsund Entscheidungsprozess gelangt, an dem die Betroffenen nicht nur formal, sondern substantiell beteiligt werden. Im Kern muss die Frage beantwortet werden, welche Extensionen, Hypercodierungen und Amputationen man riskieren respektive kompensieren will. Und dazu muss man nicht nur wissen, wie analoge und digitale, mechanische, elektronische und symbolisch generalisierte Medien funktionieren, sondern was sie mit den Menschen, ihren Empfindungen, Anschauungsformen und Begriffen, Weltbildern, Selbstentwürfen auf der Ebene der Mensch-Maschine-Interaktion wie auf der Ebene von Big Data machen. Für die Medienkulturanalyse liegen hier große Herausforderungen, die durch ihre Verklammerung mit der Europaforschung nicht geringer werden. Im Lichte der Modell-Geschichte, der zufolge die Globalisierung und Digitalisierung bereits in der Gutenberg-Galaxis angelegt war und der Dialektik von Extension und Selbstamputation auch mit der technologischen Erweiterung oder Ersetzung des mechanischen Medienapparats durch elektrische Apparaturen nicht entkommen ist, stellt sich das Internet in erster Linie als eine technische Vorrichtung zur Kompensation jener Defizite dar, die sich aus der operativen Geschlossenheit funktional differenzierter Systeme ergeben haben. Es geht in der NetzwerkGesellschaft nicht nur darum, die Medienkonvergenz bis zum Äußersten zu treiben, ein ›Internet der Dinge‹ zu schaffen und Agenturen aus Mensch-MaschineVerbindungen im Sinne der Aktor-Netzwerk-Theorie zu schaffen, es geht vor allem darum, durch Querbezüge und Übergriffe Interdependenzen zu generieren – Interdependenzen, die positive oder negative Auswirkungen haben.

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In dieser Hinsicht setzt die Netzwerk-Gesellschaft fort, was in der FernsehGesellschaft mit der Herstellung von Querbezügen zwischen Wahrnehmungssituationen begonnen hat, die im Meatspace getrennt sind, und Verhaltensweisen, die zuvor nichts miteinander zu tun hatten, über neue Lesarten aufeinander zu beziehen. Der Cyberspace ist, so gesehen, ein Raum virtueller, transversaler Rückkopplungen, die jederzeit real wirksam werden können – etwa dann, wenn die Urteile von Schülerinnen und Schüler über Lehrkräfte in öffentlich zugänglichen Foren diskutiert und mit Zensuren versehen werden. Das allein kann schon die Notenvergabe im Klassenraum verändern. Werden diese Foren jedoch von der Schulleitung zur Disziplinierung der Lehrerschaft genutzt oder richten gar politische Parteien wie die AfD Plattformen zur Denunziation von meinungsfreudigen Lehrkräften ein, kommt es zu äußerst problematischen Rückkopplungen – für die unmittelbar Betroffenen wie für den viel beschworenen Schulfrieden und die politische Kultur insgesamt. Tendenziell droht das Bildungssystem durch das Parteiensystem gekapert zu werden. Nicht weniger problematisch sind Lehr-/Lernmaterialien, die online gratis zum Download zur Verfügung gestellt werden und unterschwellig bestimmten Partikularinteressen dienen. Wie diese Beispiele belegen, steht die Medienkultur heute in einem Zielkonflikt zwischen Auto- und Allopoiesis. Immer mehr Systeme, die sich anhand einer Leitdifferenz, eines symbolisch generalisierten Mediums aus ihrer Umwelt ausgegrenzt, strukturell stabilisiert und dergestalt eine Domäne verschafft hatten, werden im Internet durch eine Hypercodierung reterritorialisiert, die – das ist ebenfalls neu – den Mehrwert der Macht mittels jedes Grundwertes erzielen kann. Einige Websites oder Online-Dienste offerieren (mehr) ›Vertrauen‹, andere (mehr) ›Gerechtigkeit‹ oder (mehr) ›Geld‹, wieder andere sogar (mehr) ›Liebe‹ usw. Doch nur vordergründig spiegelt sich in diesen Angeboten die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die Individualisierung, Liberalisierung und Pluralisierung der Sinnproduktion wieder; unterhalb der Benutzeroberfläche kommt es ausschließlich darauf an, massenweise Daten abzuschöpfen, zu Denkund Verhaltensmustern zu kumulieren, diese Muster algorithmisch zu simulieren oder zu stimulieren und auf diese Weise die gesamte Kultur in eine nicht mehr soziale Marktwirtschaft zu verwandeln, wobei den gläsernen Kunden total intransparente Konzerne und Geschäftspraktiken gegenüberstehen. Am deutlichsten wird der Zielkonflikt auf dem Feld der Politik, da er die Autonomie des Souveräns und damit die Zukunft der Demokratie betrifft. Sie ist in ihrer modernen Form auf die Triangulation von drei Momenten angewiesen: Diskursivität, Transparenz und Medialität. Medialität bedeutet nicht nur, dass die Information und Partizipation des Souveräns auf technische Medien angewiesen ist, sondern indirekt über Wahl-

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und Kommunikationsakte erfolgt, die nicht unmittelbar durch Entscheidungen ratifiziert werden, da die Vorbereitung zustimmungspflichtiger Entscheidungen im Parlament (wie in der Bevölkerung) weitere Vermittlungen/Verhandlungen und damit Zeit erfordert. Dafür haben die Ressentiment geladenen ›Wutbürger‹, die sich zurückgesetzt und missachtet fühlen, auch mangels politischer Bildung, kein Verständnis. Sie wollen oder können die Langsamkeit des Aushandelns von Kompromissen, die Komplexität und Interdependenz der Probleme und den bürokratischen Zuschnitt der Lösungen nicht mehr verstehen und verleihen ihrer Empörung im Netz auf eine Weise Ausdruck, die mit jeder weiteren Enttäuschung eskaliert. Politiker und Journalisten gelten ihnen oft nur noch als ›Volksfeinde‹, die mit der ›Lügenpresse‹ im Bunde sind. Transparenz meint komplementär, dass es zur politischen Verantwortung der Mandatsträger gehört, die Zeit und Nerven kostenden Vermittlungen und Verhandlungen genauso einsichtig zu machen wie ihre Entscheidungen und deren Gründe, womit zugleich die Verantwortung der Journalisten angesprochen wird, die dieses Anliegen im Modus der konstruktiven Kritik unterstützen, aber auch dadurch erschweren können, dass sie den Politikbetrieb entweder als Showgeschäft und Fake-Veranstaltung oder als Verschwörung der Eliten gegen den Rest des Souveräns erscheinen lassen. Kritik ist freilich nur ein Modus des Diskursiven. Insgesamt bedeutet Diskursivität, dass die verschiedenen Positionen, aus denen der gesellschaftliche Dissens besteht, nicht nur markiert, sondern durch eine Argumentation, die alle relevanten Positionen in ein rationales, mithin maßvolles und sachgerechtes Verhältnis setzt, in den Konsens überführt, der demokratisches Handeln legitimiert und damit auch perpetuiert. Um im Detail die Frage beantworten zu können, wie sich das Netz demokratisieren und zu einem Dispositiv der Demokratie machen lässt, bedarf es eingehender Analysen. Sie könnten bei dem Befund ansetzen, dass das Netz, rein technologisch betrachtet, aus einem heterogenen Ensemble eine Agentur der Homogenisierung – zugespitzt formuliert: der Gleichschaltung – von allem mit allem und jedem mit jedem macht. Digitalisierung bedeutet, dass alles in derselben Form vorliegt und daher von denen beherrscht werden kann, die über die Kraft der Uniformierung verfügen. Solange sich diese Uniformierung ohne Transparenz und Partizipation abspielt, sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet; sollte es nicht alsbald gelingen, die ›Eigendynamik‹ des Netzes, die, bei Lichte betrachtet, nur die Hemmungslosigkeit der Programmierer, ihrer Auftraggeber und ihrer Profiteure ist, zu regulieren, könnte aus der Demokratie tatsäch-

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lich eine Algokratie, eine Herrschaft der Algorithmen und ihrer Nutznießer, werden.59

MEDIENKULTURANALYTISCHE FORSCHUNG UND LEHRE Ein zentrales Problem der Medienkulturanalyse besteht darin, dass Bücher wie die von McLuhan, Meyrowitz oder auch Nassehi in vielerlei Hinsicht plausibel, aus Sicht der empirisch verfahrenden Kommunikationswissenschaften aber nicht Evidenz basiert sind. Sie beruhen nicht auf quantitativen Inhaltsanalysen, Experimenten oder demoskopischen Erhebungen. Vielmehr handelt es sich wie bei der Modell-Geschichte, die im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes erzählt wurde, um Theorie geleitete Konjekturen, die in ihrer Argumentation aporematisch bleiben. Freilich kommt man um solche Konjekturen nicht herum, da man die Kultur der Gutenberg-Galaxis, der Fernseh- oder der Netzwerk-Gesellschaft kaum anhand der Auszählung von Aussagen, die sich in den Medien finden, oder aufgrund von Erhebungen zum Meinungsklima angemessen beschreiben kann. Als eine Lösung dieses Dilemmas bietet sich der qualitative Forschungsansatz der Grounded Theory an, die – streng genommen – keine Theorie, sondern eine Explorationsmethode zur Entdeckung von Kategorien und Konzepten, Termini und Theorien durch den rekursiven (und intersubjektiven) Abgleich von Kodierungsakten darstellt.60 Wissenschaftsgeschichtlich knüpft diese Methode an den Amerikanischen Pragmatismus, insbesondere an die Logik der Abduktion61 und die diagrammatische Konfiguration von Daten an. Sie hat seit ihrer

59 Dieses Kunstwort bezeichnet ein Szenario, das dank der Interpassivität der Netzgemeinde einerseits täglich wahrscheinlicher zu werden droht, andererseits inzwischen jedoch auch in Deutschland und Europa immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vgl. dazu Klein, Thorsten (2019): Algokratie. Eine Gefahr für die Demokratie? Flensburg. 60 Vgl. Equit, Claudia/Hohage, Christoph (2016): Ausgewählte Entwicklungen und Konfliktlinien der Grounded Theory Methodology, in: Handbuch Grounded Theory. Von der Methodologie zur Forschungspraxis. Herausgegeben von Claudia Equit und Christoph Hohage, Weinheim: Beltz, S.9-46. 61 Vgl. Strübing, Jörg (2014): Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatistischen Forschungsstils. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden. Springer VS, insb. S.46-50.

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Begründung durch Anselm Strauss und Barney Glaser 63 – bedingt durch das spätere Zerwürfnis dieser beiden Forscher und rezente Innovationen, die als reflexive64, konstruktivistische65 oder situationsanalytische 66 Grounded Theory gehandelt werden – verschiedene Revisionen erfahren und bietet sich heute als ein für viele Untersuchungsgebiete und Fragestellungen brauchbares ›Hebewerkzeug‹ an, das auf narrative und Leitfaden gestützte Interviews, Dokumente und Diskurse angewendet und am Material weiterentwickelt werden kann. Aus Sicht der Medienkulturanalyse liegt das Potential der Grounded Theory vor allem darin, dass man mit Hilfe dieser Methode Prozesse der Mediensozialisation (respektive der Medienenkulturation) und der Medieninteraktion nachzeichnen, hinsichtlich der Dialektik von Extension und Selbstamputation vergleichen und zu Befunden gelangen kann, die auch für die Medienbildung von erheblicher Relevanz sein dürften, sobald sie auf die Dimension der Performanz fokussieren. Wenn Menschen davon erzählen, warum sie von einem bestimmten Medienangebot angezogen oder abgestoßen sind, wie sie Medien zur Sinnproduktion einsetzen, wie die Mediennutzung in ihren Alltag und ihr soziales Leben eingebettet ist (oder auch nicht), geben sie auch über ihren Selbstentwurf, über ihr Welt- und Menschenbild und damit über jene Wechselwirkungen Auskunft, auf die es der Medienkulturanalyse ankommt. Ist es möglich, solche Untersuchungen in Zeitreihen zu staffeln und in die genealogische Perspektive der Me-

62 Vgl. Reichertz, Jo (2013): Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Über die Entdeckung des Neuen. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS, insbesondere S.23-27. 63 Glaser, Barney G./Strauss, Anselm (2010): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Aus dem Amerikanischen von Axel T. Paul und Stefan Kaufmann. Mit einem Geleitwort von Bruno Hillenbrand. 3.Auflage. Bern: Huber 2010 sowie Strauss, Anselm/Corbin, Juliett (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Aus dem Amerikanischen von Solveigh Niewiarra und Heiner Legewie. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Heiner Legewie. Weinheim: Beltz. 64 Vgl. Breuer, Franz (2010) unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau: Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung in die Forschungspraxis, 2.Aufl. Wiesbaden: Springer VS. 65 Vgl. Charmaz, Kathy (2014): Constructing Grounded Theory. Second Edition, Los Angeles: Sage. 66 Vgl. Clarke, Adele E. (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Reiner Keller, Wiesbaden: Springer VS.

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dienkulturanalyse zu rücken, ließen sich gleich zwei Desiderate beheben: Die mangelnde empirische Fundierung dieser Disziplin und die Erklärungslücke, die zwischen den post festum Konjekturen des Medienwandels und der laufenden Mediennutzung erfahrungsgemäß besteht. Damit ist denn auch schon eine Anforderung an die Lehre benannt: Sie muss Methoden der empirischen Datenerhebung und qualitativen Datenauswertung umfassen, wobei sich das Angebot nicht auf die Grounded Theory beschränken darf. Auf diese, zuweilen auch als »Technik«, »Kunstlehre« oder »Forschungsstil«67 bezeichnete Methode wurde hier einfach deshalb näher eingegangen, weil ihr Potential noch nicht hinreichend erkannt wurde und daher auch nicht ausgeschöpft wird. Auch quantitative Inhalts- oder Aussagenanalysen, Feldstudien und Experimente sollten hier ihren Platz haben, zusammen mit Übungen zu den erprobten Verfahren der Text-, Bild-, Film- und Web-Analyse. Hinzukommen müssen selbstredend terminologische und theoretische Klärungen, etwa den Begriff der symbolisch generalisierten Medien und ihren Unterschied zu den technischen Medien betreffend, sowie die intensive Lektüre von Büchern wie Understanding Media, No Sense of Place oder Muster. Keineswegs bedarf die Medienkulturanalyse in jedem Fall eines eigenen Studiengangs. Ihre zentralen Themen und Methoden lassen sich – eine im Lichte des unaufhaltsamen Zuwachses an Lehraufgaben wie des Zuwachses an interdisziplinären Studiengängen durchaus realistische und attraktive Option – auch im Kontext von Bachelor- oder Masterprogrammen vermitteln, die polyvalent angelegt sind. An der Europa-Universität Flensburg sind dies zum Beispiel der englischsprachige Bachelor ›European Cultures and Society‹ EUCS oder der Master ›Kultur – Sprache – Medien‹ KSM. Auch in den bildungswissenschaftlichen Studiengängen, die auf ein Lehramt an Schulen vorbereiten, hat die Medienkulturanalyse ihren Platz – zumal dann, wenn sie konsequent mit der Medienpädagogik verzahnt wird. Hierfür ein letztes Beispiel. Es betrifft noch einmal das Wechselspiel von Technologie und Anthropologie: In einer Lehrveranstaltung zum Thema ›Künstliche Menschen im Film‹ setzten sich Studierende der Europa-Universität Flensburg im Frühjahrssemester 2019 u.a. mit der schwedischen TV-Serie Real Humans (Äkta Människor 20122014) auseinander, in der die sozialen und psychologischen Folgen, die juristischen Probleme und die politischen und ethischen Implikationen des Einsatzes von nicht nur menschlich wirkenden, sondern menschenartig handelnden Robotern im Alltag aufgezeigt und durchgespielt werden. Am Ende der zweiten Staffel kommt es zu einer Gerichtsverhandlung – mit dem Ergebnis, dass den sensi-

67 Vgl. Strübing (2014): S.13-14.

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tiven, lernfähigen Maschinen, die Software-Klone verstorbener Menschen sind, die gleichen Bürgerrechte wie den ›echten‹ Menschen zugestanden werden. In der Wirklichkeit ist die KI-Forschung zwar noch nicht in der Lage, solche Maschinen für den massenhaften Einsatz in jedem Haushalt herzustellen; die Serie macht insgesamt aber sehr einprägsam deutlich, dass ein solcher Einsatz erhebliche Rückwirkungen auf das Arbeits-, Liebes- und Familienleben der Menschen, die Rechtsordnung und den Selbstentwurf der Gesellschaft hätte, und dass die Trennung, die gemeinhin zwischen Menschen und Maschinen gezogen wird, unter den Bedingungen einer Technologie, die Roboter oder Automaten mit einem sich interaktiv weiter entwickelnden Bewusstsein für die eigene ›agency‹, die eigenen Ansprüche und – ein sehr interessanter Punkt – die eigenen Verletzbarkeiten ausstattet, nicht aufrecht erhalten werden kann.68 Die Studierenden wurden durch die ausgewählten Szenen der ersten Staffel und die letzte Episode schon im Seminar zu anthropologischen Reflexionen veranlasst. Die Frage etwa, ob und gegebenenfalls woran man die Mimik eines Menschen von der einer intelligenten Maschine unterscheiden könne, ließ sich zwar nicht eindeutig beantworten, führte aber zu Diskussionen über das Schauspiel der Darsteller und die Fähigkeit von Menschen, Roboter zu verkörpern, die – eine Paradoxie der filmischen Veranschaulichung – eben solange unumgänglich ist, solange die Technologie noch nicht zu realisieren vermag, was in der TV-Serie vor Augen geführt werden sollte. Das Spezifikum einer DisplayFunktion, die trotz glaubhafter Verkörperung auf der diegetischen Ebene Differenzen zwischen Menschen und Maschinen akzentuieren muss, kam dabei ebenso zur Sprache wie der szenografische Rückgriff auf bestimmte Mythen. Diese Rückgriffe wurden auch im Vergleich mit anderen TV-Serien oder Kinofilmen erörtert, darunter Blade Runner (1982) und Blade Runner 2049 (2017), I Robot (2004) und das Remake von The Stepford Wives (2004). Wie sich an den abgegebenen Hausarbeiten belegen lässt, haben es die Studierenden sehr gut verstanden, die Verlaufsgestalt und den Bedeutungsgehalt, die Vermittlungsformen der audiovisuellen Narration und die Probleme einer Medienkultur, die intelligente Maschinen integriert, aufeinander zu beziehen. Einige Studierende stellten, ohne dass dies eigens von ihnen verlangt worden wäre, Überlegungen an, wie und zu welchem Zweck man Real Humans im

68 Vgl. Koch, Lars (2014): Real Humans – Überbietung des Menschen, in: POP. Kultur und Kritik 5, S.24-34 sowie Patrut, Iulia-Karin (2019): Träumen Androiden davon, Menschen zu sein? Lars Lundströms Serie Echte Menschen, in: Brittnacher, HansRichard/Paeffgen, Elisabeth (Hg.): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien, München: text + kritik, S.327-344.

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Schulunterricht einsetzen könnte. Daran ließe sich produktiv in einem weiteren Seminar zur Konzeption von Lehr-/Lern-Situationen anknüpfen: Schülerinnen und Schüler könnten animiert werden, sich an der Darstellung von Automaten oder am Entwurf eines Verhaltenskodex für die KI zu versuchen. Sie könnten sich, zumindest in höheren Jahrgangsstufen, mit der Theorie der Spiegelneuronen und der Rolle von Empathie und Gedächtnis in einer humanen Gesellschaft befassen oder historische Darstellungen künstlicher Menschen aus den Bereichen Literatur, Theater, bildende Kunst, Fotografie und Film vergleichen. Denkbar wäre auch, das Thema unter dem Gesichtspunkt der Ideen- und der Technikgeschichte fortzuführen und sich mit den einschlägigen Ausführungen von Descartes und LaMettrie bis hin zum Cyborg-Manifest von Donna Haraway69 zu beschäftigen. Die Anschlussmöglichkeiten reichen vom Darstellenden Spiel über den Produktionsorientieren Literaturunterricht bis zum erziehungswissenschaftlichen oder philosophischen Seminar an der Universität. Didaktisches Ziel wäre jeweils die Vermittlung und Aneignung eines analytischen Blicks auf die Entwicklung der Medienkultur und das Wechselspiel von Medienformaten, Anschauungsformen und Verhaltensdispositionen zu entwickeln, den technologischen Zuschnitt von Lebenswelt und Gesellschaft zu durchdenken und gegebenenfalls auch Handlungsszenarien für eine Medienkultur der Zukunft zu entwerfen, die nicht algo-, sondern demokratisch ist.

LITERATUR Bachtin, Michail M. (1979): Das Wort im Roman [1934/35]. In: Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.154-300. Bauer, Matthias/Ernst, Christoph (2010): Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld: transcript. Blade Runner (1982, USA, Ridley Scott). Blade Runner 2049 (2017, USA, Dennis Villeneuve). Blumenberg, Hans (1996): Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Breuer, Josef/Freud, Sigmund (2000): Studien über Hysterie. Einleitung von Stavros Mentzos. Frankfurt am Main: S. Fischer.

69 Vgl. Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main/New York: Campus.

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Breuer, Franz (2010) unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau: Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung in die Forschungspraxis. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner (2008): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript. Burckhardt, Johannes (2002): Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart: Kohlhammer. Castells, Manuel (2005): The Network Society. From Knowledge to Policy. In: The Network Society. From Knowledge to Policy. Edited by Manuel Castells and Gustavo Cardoso. Washington DC: John Hopkins Press, S.3-21. Charmaz, Kathy (2014): Constructing Grounded Theory. Second Edition. Los Angeles: Sage. Clarke, Adele E (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Reiner Keller. Wiesbaden. Springer VS. Cohn, Dorrit (1978): Transparent Minds. Narrating Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton: University Press. Eisenstein, Elisabeth I. (1997): Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa. Übersetzt von Horst Friessner. Wien New York: Springer. Elkins, James (1999): The Domain of Images. Ithaca/London: Cornell University Press. Equit, Claudia/Hohage, Christoph (2016): Ausgewählte Entwicklungen und Konfliktlinien der Grounded Theory Methodology. In: Handbuch Grounded Theory. Von der Methodologie zur Forschungspraxis. Herausgegeben von Claudia Equit und Christoph Hohage. Weinheim: Beltz. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Foucault, Michel (1998): Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt am Main: S. Fischer. Freud, Sigmund (2001): Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Frankfurt am Main: S. Fischer. Giesecke, Michael (2002): Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm (2010): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Aus dem Amerikanischen von Axel T. Paul und Stefan

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Kaufmann. Mit einem Geleitwort von Bruno Hillenbrand. 3.Auflage. Bern: Huber. Goodman, Nelson (1984): Weisen der Welterzeugung. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt am Main. Suhrkamp. Goodman, Nelson (1995): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd Philippi. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main/New York: Campus. I Robot (2004, USA, Alex Proyas). Iser, Wolfgang (1987): Tristram Shandy. Inszenierte Subjektivität. München: Fink. Klein, Thorsten (2019): Algokratie. Eine Gefahr für die Demokratie? Flensburg. Koch, Lars: Real Humans – Überbietung des Menschen. In: POP. Kultur und Kritik 5 (2014), S.24-34. Korzybski, Alfred (1994): Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics. With Preface by Robert P. Pula and revised and updated index. 5th edition. Englewood: Institute of General Semantics. Langer, Susanne K. (1965): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ada Löwith. Frankfurt am Main: S. Fischer. Lichtenberg, Georg Christoph (1968): Schriften und Bücher. Erster Band. Sudelbücher I. Herausgegeben von Wolfgang Promies. München: C. Hanser. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1990): Gesellschaftliche Komplexität und Öffentliche Meinung. In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S.170-182. Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag. Luhmann, Niklas (2014): Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5.Auflage. UTB. Maturana, Humberto R. / Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Übersetzung aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systematische Studien e.V. in Hamburg. 2.Auflage. München: Goldmann. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. ›Understanding Media‹. Aus dem Englischen von Dr. Meinrad Amann. Düsseldorf/Wien.

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Meyrowitz, Joshua (1987): Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Aus dem Amerikanischen von Michaela Huber. Weinheim/Basel: Beltz. Meyrowitz, Joshua (2005): The Rise of Glocality. New Senses of Place and Identity in the Global Village. In: A Sense of Place. The Global and the Local in Mobile Communication. Edited by Kristóf Nyíri. Vienna: Passagen, S.21-20 Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C. H. Beck. Patrut, Iulia-Karin (2019): Träumen Androiden davon, Menschen zu sein? Lars Lundströms Serie Echte Menschen. In: Brittnacher, Hans-Richard/Paeffgen, Elisabeth (Hg.): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München: text + kritik, S.327-344. Real Humans aka Äkta människor (2012-2014, S, Lars Lundström). Reichertz, Jo (2013): Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Über die Entdeckung des Neuen. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS. Roth, Gerhard (1995): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Strauss, Anselm/Corbin, Juliett (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Aus dem Amerikanischen von Solveigh Niewiarra und Heiner Legewie. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Heiner Legewie. Weinheim: Beltz. Strübing. Jörg (2014): Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatistischen Forschungsstils. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden. Springer VS. The Stepford Wives (2004, USA, Frank Oz). Wittgenstein. Ludwig (1998): Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Europäische Kriegseintritte – kulturelle Antworten auf den Kriegszustand Berlin, Lissabon und Paris in zwei Weltkriegen Eva Krivanec

»Une ville sans spectacle est une ville vaincue«, ließ General Gallieni, Militärgouverneur von Paris, im November 1914 verlautbaren – eine Stadt ohne kulturelle Veranstaltungen ist eine besiegte Stadt – in einer Situation als die Front und mit ihr die deutsche Armee bedrohlich nahe an die Grenzen der französischen Hauptstadt herangerückt war. Eine Ausgangssperre ab 21h fegte die letzten Reste des öffentlichen Lebens von der Straße. Paris, ›la ville lumière‹, war in tiefes Schwarz getaucht. Mit der Verordnung von 23. November 1914 wurde es Theatern und anderen Vergnügungsstätten allgemein erlaubt, ihren Betrieb wieder aufzunehmen, allerdings unter verschärften Bedingungen. Die Theaterzensur, die 1906 abgeschafft worden war, wurde wieder eingeführt, von den Einnahmen wurde eine 5 % betragende ›Wohltätigkeitssteuer‹ eingehoben und die Öffnungszeiten waren strikt reglementiert, sowohl durch Verordnungen als auch aufgrund des eingeschränkten Betriebs der öffentlichen Verkehrsmittel.1 Und es dauerte doch noch einige Monate bis viele Theater, Kinos und andere Vergnügungsstätten tatsächlich ihren Betrieb wieder aufnahmen. In den späteren Kriegsjahren hingegen florierte das kulturelle Leben in Paris fast wieder in dem gleichen Ausmaß wie vor dem Krieg, doch in deutlich gewandelter Form. Ziehen wir die drei europäischen Hauptstädte Berlin, Lissabon und Paris heran2 und untersuchen ihr kulturelles Leben während des Ersten und des Zweiten

1

Vgl. N.N. (1914): »La réouverture des théâtres«, in: Le Temps vom 25.11.1914, S.4.

2

Vgl. zu einer umfangreicheren Untersuchung der Theateraktivitäten in diesen drei Städten während des Ersten Weltkriegs: Krivanec, Eva (2012): Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien, Bielefeld: transcript.

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Weltkriegs, so erhalten wir ein interessantes Sample an sehr unterschiedlichen politischen und kriegsbedingten Situationen. Bereits erwähnt wurde die schwierige Situation, in der sich Paris in den Jahren 1914-1918 als Hauptstadt der dritten Französischen Republik befand, aufgrund des zeitweise bedrohlich nahen Frontverlaufs und der ersten Bombardements aus der Luft bzw. mit Langstreckenkanonen zu Beginn wie auch gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Berlin war zu dieser Zeit die am dynamischsten wachsende Großstadt – ›das Chicago‹ – Europas, zugleich Hauptstadt des expansionsdurstigen Deutschen Reichs unter der autoritären Herrschaft der Hohenzollern, litt jedoch in den späteren Kriegsjahren unter einer schweren Lebensmittel- und Kohlennot. In Lissabon hingegen, der Hauptstadt der jungen und wirtschaftlich schwachen portugiesischen Republik, fand eine öffentliche Debatte zwischen Interventionisten (auf Seiten der Entente) und ihren Gegnern statt, dazwischen führten auch die damals dominanten, sehr aktionistisch orientierten anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften ihre Arbeitskämpfe weiter und die politische Situation war mit häufigen Regierungswechseln, monarchistischen und antirepublikanischen Aufständen in manchen Landesteilen wie auch mit einigen spektakulären politischen Attentaten äußerst instabil. Von 1939 bis 1945 funktionierte Berlin als zentrale Schaltstelle des ›Dritten Reichs‹, in der auch die alle Lebensbereiche erfassenden propagandistischen Aktivitäten koordiniert wurden – hier standen – nach erfolgter ›Arisierung‹ – sämtliche kulturelle Aktivitäten unter engmaschiger Kontrolle der nationalsozialistischen Behörden, Theater waren verstaatlicht, Filmzensur wurde von oberster Stelle – Hitler und Goebbels selbst ließen sich viele Filme zu Zensurzwecken vorführen – geübt. Lissabon blieb als Hauptstadt eines neutralen Landes von Kriegshandlungen verschont und wurde zu einem bedeutenden Zufluchtshafen für Flüchtlinge und Emigrant_innen aus ganz Europa auf ihrem Weg nach Amerika.3 Die Stadt war aber andererseits selbst der Regierungssitz des ständestaatlich-faschistischen ›Estado Novo‹ unter Salazar mit dessen gefürchteter Geheimpolizei PIDE und der Verfolgung der politischen Opposition.4 Paris befand sich von Juni 1940 bis August 1944 in der äußerst schwierigen Situation einer von der Deutschen Wehrmacht besetzten Stadt.

3

Vgl. Lochery, Neill (2011): Lisbon. War in the Shadows of the City of Light 19391945, New York: Public Affairs.

4

Costa Pinto, António (2008): »O Estado Novo português e a vaga autoritária dos anos 1930 do século XX«, in: António Costa Pinto/Francisco Carlos Palomanes Martinho (Hg.), O Corporativismo em português. Estado, Política e Sociedade no Salazarismo e no Varguismo, Lisboa: Imprensa de Ciências Sociais, S.24-49.

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Dennoch blieb das kulturelle Leben in allen drei Städten während beider Weltkriege aufrechterhalten – sofern es doch eine komplette Untersagung öffentlicher Vorführungen gab wie ab Herbst 1944 im Zuge der ›Allgemeinen Theatersperre‹ in Deutschland und Österreich 5 unter dem offiziellen Titel ›Totaler Kriegseinsatz der Kulturschaffenden‹ oder in Paris während der ersten vier Monate des Ersten Weltkriegs, so hielten diese nicht lange Zeit an. In diesem Beitrag wird das Hauptaugenmerk auf das jeweils in der Stadt präsente (Unterhaltungs-)Theater- und Filmangebot als populärer und typisch urbaner Teil des kulturellen Lebens gelegt, das auch – wie wir sehen werden – als durchaus empfindlicher Seismograph seiner unmittelbaren Gegenwart gelesen werden kann. Anhand konkreter historischer Beispiele werde ich versuchen, auch Antworten auf allgemeinere Fragen zu finden: Führt der Kriegsbeginn zu einer autoritären Kontrolle kultureller Ausdrucksformen unabhängig vom bestehenden politischen Regime? Gibt es Spielraum – wenn auch nur geringen – für abweichende politische und gesellschaftliche Haltungen? Wie sehr wird die ›kulturelle Mobilmachung‹ staatlich gelenkt, von der Bevölkerung initiiert oder von gesellschaftlichen Eliten befördert? Liefern kulturelle Aktivitäten und Freizeitangebote im Krieg schon dadurch einen Beitrag zur Kriegsmobilmachung, dass sie Entlastung und Ablenkung für die Bevölkerung an der ›Heimatfront‹ bieten? Können vergleichende Studien zu verschiedenen europäischen Hauptstädten zeigen, dass kulturelle Antworten auf den Kriegseintritt nicht notwendig in bestimmter Weise gegeben werden, sondern je spezifisch und unterschiedlich?

BERLIN 1914: KRIEGSEUPHORIE In Berlin, in den ersten Kriegstagen im August 1914 – und ganz ähnlich etwa in London, Paris oder Wien – spielte sich das eigentliche ›Theater‹ außerhalb der Bühnenhäuser ab. Man versammelte sich auf den Straßen, es fanden spontane Demonstrationen statt, Lieder wurden gesungen, Musiker spielten auf. Die Menschen liefen dem neuesten ›Extrablatt‹ hinterher, sprachen in höchster Erregung über die jüngsten Nachrichten und Gerüchte.6 Automobile mit Offizieren braus-

5

Vgl. Steiner, Maria (1998): »›…they want to do Liliom of course‹. Vom ungebrochenen Spieltrieb am Wiener Theater nach 1945, in: Hilde Haider-Pregler/Peter Roessler (Hg.), Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945, Wien: Picus, S.65-83.

6

Vgl. Altenhöner, Florian (2008): Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München: Oldenbourg, S.149-153.

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ten durch die Straßen, die Bahnhöfe quollen über vor Einberufenen, die sich von ihren Familien, Freundinnen und Freunden verabschiedeten. Doch in die scheinbar omnipräsente patriotische Euphorie und Fröhlichkeit mischten sich – zumindest in den Erinnerungen einzelner Zeitzeug_innen – ganz anders nuancierte und düstere Beschreibungen dieser städtischen Alltagsszenen im August 1914. Die in Berlin lebende dänische Filmschauspielerin Asta Nielsen beschreibt die Stadt so: »Berlins Straßen glichen einem aufgewühlten Menschenmeer. Truppen marschierten in endlosen Kolonnen mit klingendem Spiel und mit Blumen an den Bajonetten an die Front. Frauen klammerten sich schluchzend den Soldaten an die Arme und schleppten sich auf dem Todesmarsch mit, soweit sie konnten.« 7

Jeffrey Verhey hält in The Spirit of 1914, seiner bekannten Studie zur öffentlichen Meinung in Deutschland unmittelbar vor und nach der Kriegserklärung, fest, dass die Menschenmenge, die sich am 1. August 1914 vor dem Berliner Schloss einfand – Hunderttausende laut den Schätzungen des Berliner LokalAnzeigers – »the largest unorganized crowds in German history«8 waren. Verhey zeigt aber auch auf, dass die Kriegseuphorie und das Einheitsgefühl, die jenes mythisierte ›Augusterlebnis‹ ausmachten, keineswegs von allen geteilt wurden, sondern ein im Wesentlichen urbanes und bürgerliches Phänomen darstellten. Doch soviel lässt sich sagen: Berlin befand sich jedenfalls in einem außergewöhnlichen Gemütszustand in diesen Tagen. Die darauffolgenden Wochen waren durch eine großteils spontane kulturelle Mobilmachung für den Krieg geprägt. Während die meisten großen privaten und staatlichen kulturellen Institutionen – Theater, Museen, Kinos, Konzertsäle etc. – zunächst geschlossen hielten, gaben Musiker_innen, Schauspieler_innen oder Artist_innen spontane Darbietungen im Freien oder bei Benefiz-Veranstaltungen, einige organisierten ›patriotische Rezitationen‹ oder ›Abende fürs Vaterland‹ in den mondänen Cafés Unter den Linden oder in der Friedrichstraße.9 Kinos und Filmtheater, die sich gerade erst als eigenständige Unterhaltungsstätten von den Varietés emanzipiert hatten, kehrten zu einem gemischten Programm zurück aufgrund des plötzlichen Filmmangels, der mit dem Boykott sämtlicher

7

Nielsen, Asta (1961): Die schweigende Muse. Aus dem Dänischen von H. Georg Kemlein, Rostock: VEB Hinstorff Verlag, S.198.

8

Verhey, Jeffrey (2000): The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in

9

Vgl. Baumeister, Martin (2005): Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur.

Germany, Cambridge: Cambridge University Press, S.64. 1914-1918, Essen: Klartext, S.33f.

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Filme aus dem ›feindlichen Ausland‹10 einherging und boten so einigen der vielen arbeitslosen Künstler_innen eine – schlecht bezahlte – Alternative.11 Nach einer relativ kurzen Schockstarre zu Saisonbeginn 1914 eröffneten die meisten Berliner Bühnen zwischen August und Oktober 1914 mit nur wenigen Wochen Verspätung und mit rasch improvisierten ›Kriegsspielplänen‹ die neue Saison.12 Das Publikum nahm das Angebot öffentlicher kultureller Veranstaltungen jedenfalls mit Begeisterung an, Theater und Kinos verzeichneten während der gesamten Kriegszeit gestiegene Besucherzahlen und höhere Gewinne. Ihr Programm und ihre Aufführungen haben sich aber gegenüber der Vorkriegszeit radikal verändert. Die repräsentativen Berliner Theater trafen eine ›der Zeit entsprechende‹ Auswahl aus ihrem Klassiker-Repertoire – Schillers Wallenstein, Kleists Prinz Friedrich von Homburg, Lessings Minna von Barnhelm – und betteten diese Aufführungen ein in ein patriotisches Rahmenprogramm, das eventuelle Zwischentöne und Uneindeutigkeiten der Dramen zurechtbügeln sollte und dies auch beim Publikum erfolgreich zur Geltung brachte, das leicht in einem nationalistischen Wir-Gefühl zusammenfand. In vielen Kritiken zu den Berliner Klassikeraufführungen findet man Sätze wie den folgenden – hier aus einer Kritik zu Prinz Friedrich von Homburg, der Eröffnungsvorstellung des Schillertheater Charlottenburg im Berliner Börsen-Courier: »Und der Schluß: ›In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!‹ Da sprang man von den Sitzen auf, emporgerissen wie von unsichtbaren Gewalten, man jubelte, man rief, man klatschte in die Hände […].« 13

10 Der ›Deutsche Filmbund‹ wurde gegründet als eine Vereinigung von Filmproduzenten und Filmvorführern, die sich zusammenschlossen, um sämtliche französischen und britischen Filme aus den Kinoprogrammen zu entfernen. Dieser Boykott – den es umgekehrt auch in Frankreich und Großbritannien gab – führte zu einem akuten Filmmangel in Deutschland und zum Kollaps der internationalen Verleihstrukturen mit Auswirkungen bis zum Ende der Zwanziger Jahre. 11 Vgl. Mühl-Benninghaus, Wolfgang (2004): Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im Ersten Weltkrieg, Berlin: Avinus, S.30. 12 Vgl. Kuhla, Holger (1997): »Theater und Krieg. Betrachtungen zu einem Verhältnis. 1914-1918«, in: Joachim Fiebach/Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hg.), Theater und Medien an der Jahrhundertwende, Berlin: Vistas, S.63-115, hier S.89. 13 W., R. (1914): »Prinz Friedrich von Homburg. Schillertheater Charlottenburg«, in: Berliner Börsen-Courier vom 14.08.1914, S.5. Zu den Klassikeraufführungen dieser ersten Kriegssaison vgl. E. Krivanec (2012): S.94-102.

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Zieht man die Aufführungszahlen heran, so waren die erfolgreichsten Produktionen der ersten Kriegsmonate jene Zeit- und Gelegenheitsstücke, die zur nationalen Sinn- und Einheitsstiftung beitrugen und die den Krieg (oder vielmehr die Phantasie eines ruhm- und siegreichen und darüber hinaus noch außerordentlich heiteren Kriegs) in die bewährten Genres des populären Theaters der Zeit – Operette, Revue, Posse, Schwank, Volksstück – hineintrugen. Diese schnell verfertigten Stücke spielten mit einer Form von Komik, die durch Aggressivität und ›hurrapatriotische‹ Selbstverherrlichung charakterisiert war. Eine typische Spielart dieses aggressiven Humors war eng verbunden mit sexualisierten (und gewalttätigen) Anspielungen, so etwa in dem ›vaterländischen Zeitbild‹ Krümel vor Paris von Franz Cornelius.14 Hier singt die französische Gouvernante Iza Guignard über die offensiven deutschen Männer, die ganz offensichtlich daran interessiert sind, nicht nur ihr Land, sondern auch sie zu erobern. »O dieser Deutsche hat ein Temp’rament, Daß man den Deutschen gar nicht wiederkennt; Seine Kraft ist phänomenal, Kolossal, kolossal, kolossal! O dieser Deutsche hat ein Temp’rament, Daß man den Deutschen gar nicht wiederkennt! – Ja, sie singen vom Rhein, von Paris und vom Main, Wo sie geh’n, wo sie steh’n, woll’n sie rein!« 15

Die szenische Überblendung vom Körper einer Frau mit dem Territorium einer Nation – Kritiken zu dieser Aufführung entnehmen wir, dass die Schauspielerin in der Rolle der Iza Guignard bedeutungsvolle Gesten an ihrem Körper machte, als sie über Rhein, Paris und den Main sang – war eine wiederholt eingesetzte Technik in diesen Kriegsstücken. Der selbst organisierte Boykott sämtlicher Theaterstücke, -produktionen und -künstler_innen aus dem ›feindlichen Ausland‹ wurde in der Presse als ›Reinigung‹ begrüßt und führte zu weitreichenden Veränderungen in den Spielplänen der Berliner Bühnen – gerade in den Genres des populären Unterhaltungstheaters, die sich zuvor an internationalen (insbesondere französischen) Erfolgsstü-

14 Cornelius, Franz (1914): Krümel vor Paris! Ein vaterländisches Zeitbild. Genehmigt mit den handschriftlichen Streichungen und Änderungen für das Residenz-Theater. Landesarchiv Berlin, A. Pr. Br. 030-05-02, Nr. 6026. (UA: Berlin, Residenz-Theater, 13.10.1914) 15 Ebd.: S.12f.

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cken orientierte. Einige der an französischen Vorbildern orientierten Zirkusse, Kabaretts und Varietés stellten nicht nur ihr Programm um, sie änderten auch ihren Namen: Rudolf Nelsons Kabarett ›Chat Noir‹ wurde zum ›Schwarzen Kater‹16 und das Varietétheater ›Folies Caprice‹ änderte »seinen Namen in das gut deutsche ›Possen-Theater‹ […]«17 Auch die Theater im proletarischen Berliner Osten, die neu gebaute Berliner Volksbühne am Bülowplatz, das ebenfalls der Volksbühnenbewegung nahestehende Schillertheater Ost, das Rose-Theater, das von Bernhard Rose übernommene Walhalla-Theater und -Varieté, das Gebrüder-Herrnfeld-Theater etc.18 stimmten in die Kriegsbegeisterung ein und feierten den ›Burgfrieden‹19. Geeignete Klassiker und Kriegsstücke dominierten das Programm. Doch fanden sich gerade in den hier gespielten aktuellen Kriegspossen auch wehmütigere Töne und auffallend häufig die Forderung von Frauen, sich gleichberechtigt am Krieg zu beteiligen.20 In der ersten Phase des Ersten Weltkriegs dominierten in Berlin, wie in vielen anderen Metropolen Europas, Kriegseuphorie und eine geistige Mobilmachung gegen ›Feinde‹, seien es nun externe, interne, oder einfach ein Modetanz aus ›Feindesland‹. Doch nach mehreren Monaten, dann Jahren der Kriegsführung, wurden die patriotischen Zeitstücke zunehmend durch eskapistische Vergnügungen ersetzt.

16 Vgl. Koreen, Maegie (1997): Immer feste druff. Das freche Leben der Kabarettkönigin Claire Waldoff, Düsseldorf: Droste, S.71. 17 N.N. (1914): »Possen-Theater«, in: Berliner Morgenpost vom 28.09.1914, S.4. 18 Vgl. Hochmuth, Hanno/Niedbalski, Johanna (2011): »Kiezvergnügen in der Metropole. Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten«, in: Becker, Tobias/Littmann, Anna/Niedbalski, Johanna (Hg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900. Bielefeld: transcript, S.105-136, hier S.127-134. 19 Als ›Burgfrieden‹ bezeichnete man die Zurückstellung innenpolitischer Konflikte während des Ersten Weltkriegs von Seiten der Regierung einerseits, der Sozialdemokratie andererseits, die im Reichstag für die Kriegskredite stimmte. 20 Vgl. Krivanec, Eva (2014): »Die Theaterstadt im Krieg. Berliner Bühnen 1914-1918«, in: Zeitschrift für Germanistik (ZfGerm) 24, S.566-581, hier S.568-571.

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LISSABON 1916: KRIEGSSKEPSIS In Portugal stieß die politische Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten unter den Fahnen der jungen Republik auf ernstzunehmende Schwierigkeiten – die ländliche Bevölkerung stand weit mehr unter dem Einfluss lokaler Kleriker oder Gutsbesitzer als unter jenem einer weit entfernten Lissabonner Regierung. Auch hohe Analphabetenraten führten dazu, dass die stark diskursiv und publizistisch geprägte republikanische Kultur dort wenig Widerhall fand.21 Dennoch versuchte die Regierung, den Krieg und eine mögliche portugiesische Beteiligung für eine nationale Mobilisierung nach französischem Vorbild zu nutzen, in der sich das Volk geeint hinter die Regierung der ›União Sagrada‹ stellen sollte. Doch bald wurden anti-interventionistische Strömungen aus verschiedensten politischen Richtungen – von den verschiedenen Fraktionen der Monarchisten, über den ›partido unionista‹ von Brito Camacho bis hin zu den anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften – laut und lancierten Kampagnen gegen einen portugiesischen Kriegseintritt. Während also die portugiesische Regierung auf eine Aufforderung Großbritanniens wartete, in den Krieg einzutreten, litt die Bevölkerung bereits unter den ökonomischen Folgen des Kriegs und die öffentliche Meinung polarisierte sich.22 Vom Herbst 1914 an fand der Erste Weltkrieg als internationale Krise Eingang in das aktualitätsbezogene, satirische Revuetheater, das zu dieser Zeit bei weitem beliebteste Theatergenre in Lissabon, obwohl dieses sich üblicherweise mehr mit den turbulenten innenpolitischen Ereignissen beschäftigte als mit internationalen Beziehungen.23 Eduardo Schwalbach, ein vielseitiger Theaterautor, der als Moralist der Republik mit ihren verworrenen politischen Zuständen skeptisch gegenüberstand, brachte am 22. November 1914 seine Revue Verdades e Mentiras (Wahrheiten und Lügen) auf die Bühne des Teatro da Trindade. In einem Couplet des ersten Akts heißt es lakonisch in Bezug auf den Kriegsausbruch in Europa: »Rebentou agora a crise?!… Esta é nova e original! Efeitos do dize, dize…

21 Vgl. Ribeiro de Meneses, Filipe (2000): União Sagrada e Sidonismo. Portugal em Guerra 1914-18, Lisboa: Ed. Cosmos, S.33. 22 Vgl. ebd.: S.39-64. 23 Vgl. Rebello, Luiz Francisco (1984): História do Teatro de Revista em Portugal. Vol. 1: Da regeneração à República, Lisboa: Publicações Dom Quixote, S.23-30.

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Como se hoje em Portugal Nao andasse tudo em Crise Desde o ano bom ao Natal!« 24

Die im Dezember 1914 am Teatro Avenida uraufgeführte Revue Céu Azul (Blauer Himmel) von Luís Galhardo, Pereira Coelha und Matos Sequeira stellte zwei sehr unterschiedliche Soldatenfiguren auf die Bühne. Zunächst steht patriotischer Heldenmut im Vordergrund, ganz ähnlich wie in anderen europäischen Städten: »Marcha logo p’ró combate/Contra um ou dois ou três/Se o tambor toca a rebate/O soldado português«25. Gegen Ende der Revue werden jedoch wehmütigere und realistischere Töne hörbar, auch wenn es schließlich um Ausdauer der Soldaten unter schwierigen Bedingungen geht: »Passa frio e passa fome/O soldado até nem come/Nada quer, nada lhe dõe…«26. In der gleichen Revue wurde in einem interessanten Sketch mit einem für das Genre typischen Gespür für die neuesten und bedeutendsten technischen Erfindungen, die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie und der Einsatz des MorseAlphabets mit der Vervielfältigung der Gerüchte während des Kriegs verknüpft: »Traço … ponto … corre o boato Ponto … traço … entre outras coisas Ponto … ponto … que o sr. Dato Disse uma data de coisas …« 27

24 »Jetzt also ist die Krise ausgebrochen?!.../Der ist neu und originell!/Das kommt wohl vom Hörensagen…/So als würde heutzutage in Portugal/Nicht alles in der Krise stecken/Von Neujahr bis Weihnachten!« [Übersetzung: E.K.] Schwalbach Lucci, Eduardo (1915): »A Crise«, in: Almanach dos Palcos e Salas. Para 1916, Lisboa: Arnaldo Bordalo, S.93. 25 »Marschiert sogleich in den Kampf/Gegen einen, zwei und drei/Wenn die Trommel Alarm schlägt/Der portugiesische Soldat« [Übersetzung: E.K.] Galhardo, Luís/Coelho, Pereira/Sequeira, Matos (1914): Céu Azul. Revista em 2 actos e 10 quadros. Versos da peça, Lisboa: Imp. Manuel Lucas Torres, S.8. 26 »Er leidet Kälte und leidet Hunger/Der Soldat, der isst nicht mal,/Er will nichts, nichts tut ihm weh…« [Übersetzung: E.K.] Ebd., S.14. 27 »Strich … Punkt … es kursiert das Gerücht/Punkt … Strich … unter anderen Dingen/Punkt … Punkt … dass Herr Dato/So einiges gesagt hätte.« [Übersetzung: E.K.] Ebd., S.7.

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Je stärker sich Portugal einem Kriegseintritt auf Seiten der Entente näherte, desto deutlicher fand man auch in der revista patriotische Couplets und Solidarisierungen mit England, Frankreich und Belgien. Und doch bleibt die Lissabonner Revue einem ihrer zentralen Prinzipien treu, dem relativ konsistenten Blickwinkel von unten, dem die Alltagserfahrungen der Stadtbewohner_innen wichtiger sind als nationalistisches Pathos. Ein Bild der Revue Dominó!, einer Revue von Pereira Coelho, Alberto Barbosa und Matos Sequeira, die den Herbst und Winter 1915/16 über im Eden-Teatro lief, hatte den Titel »A falta de géneros« (Der Lebensmittelmangel) und endete mit einem Couplet, in dem alle »coisas que já não há«28 betrauert werden: die Mengen an Brot, die Sardinen auf dem Grill, das weiße Pulver im Kaffee, und diese Dinge, die man früher Eier nannte…29 Auch die produktivste Phase der Lissaboner Parceria, des berühmten Revueautorenkollektivs von Ernesto Rodrigues, Félix Bermudes und João Bastos, fiel in die Jahre des Ersten Weltkriegs. Ihre Revue O Novo Mundo wurde mitten im Krieg, am 8. September 1916 im Eden-Teatro uraufgeführt. Zu dieser Zeit befand sich auch Portugal bereits im Konflikt, allerdings waren die portugiesischen Truppen noch nicht zur Westfront nach Frankreich aufgebrochen.30 Die Rahmenhandlung der Revue war deutlicher als frühere auf die aktuellen weltpolitischen Ereignisse bezogen. Im Eröffnungsbild, das »die Werkstatt des Obersten Architekten des Universums« repräsentiert, ruht sich der Göttliche Meister, nachdem er die Welt erschaffen und sie für perfekt gehalten hat, am siebenten Tag aus und gibt so dem Teufel die Möglichkeit, Hass und Leidenschaften auf der Erde zu säen. Der Schöpfer lässt daraufhin die vier Elemente zu sich kommen, die an der Katastrophe beteiligt sind: Die Erde, die sich Eisen und Stahl herausreißen lässt, aus denen die Menschen Schwerter und Kanonen machen; das Meer, das auf seinem Rücken Flotten und Panzerkreuzer trägt; die Luft, die ihre Arme den Flugzeuggeschwadern geöffnet hat, die die schlafende Bevölkerung bombardieren; und das Feuer, das den Stahl der Kanonen geschmolzen hat und die Munition der Maschinengewehre geschmiedet, die die Menschheit dezimieren. Diese vier, und daraufhin auch noch die Zeit, das Gute

28 »Dinge, die es schon nicht mehr gibt« [Übersetzung: E.K.] Barbosa, Alberto/Coelho, Pereira/Sequeira, Matos (1985): »Dominó (1915)«, zit. in: Luiz Francísco Rebello, História do Teatro de Revista em Portugal. Vol.2: Da República até hoje, Lisboa: Publicações Dom Quixote, S.196. 29 Vgl. ebd. 30 Der Aufbruch der portugiesischen Truppen an die Westfront fand erst Ende Januar 1917 statt, vgl. Ribeiro de Meneses, Filipe (2018): De Lisboa a La Lys. O Corpo Expedicionário Português na Primeira Guerra Mundial, Lisboa: Dom Quixote, S.37-40.

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und das Böse treten also auf die Bühne. Zé Canhoto wird schließlich mit seiner friedensstiftenden Mission auf die Erde geschickt.31 Im zweiten Akt wird dann tatsächlich die Utopie einer neuen friedlichen und solidarischen Welt herbeigewünscht und der personifizierte Frieden hat alle Hände voll zu tun. Doch eine gewisse Ambivalenz (oder Ironie) bezüglich dieser pazifistischen Botschaft lässt sich in O Novo Mundo an der erstmals hier eingeführten Figur des ungebildeten aber schlagfertigen Kutschers Ganga – gespielt von Estevão Amarante, der mit seinem »Fado do Ganga« enormen Erfolg beim Publikum hatte – und die sogleich aus dem Figurenrepertoire der revista nicht mehr wegzudenken war. Der Erfolg gerade dieses Lieds aus der Revue lässt jedoch darauf schließen, dass der naiv-polternde Hurra-Patriotismus, der sich selbst nicht ganz ernst nahm, doch auch auf politische Zustimmung stieß. »Então adeus ó Turquia,/›Alimanha‹ e mais Áustria,/Vai tudo ventas a terra./Vai-se a Verdun e pum,/Arma-se logo um trinta e um!/Vai-se a Berlim e pim,/É bazanada até ao fim! [...]«32 Die satirische Revue à portuguesa blieb jedenfalls auch nach dem Kriegseintritt Portugals eines der beliebtesten Unterhaltungsgenres der städtischen Bevölkerung und sie bot während dieser vier Jahre – im Kontrast zu anderen europäischen Großstädten – die Möglichkeit, politische und soziale Problemzonen, sogar den Krieg selbst und dessen Auswirkungen, in satirischer Weise öffentlich auszusprechen und zur Debatte zu stellen. Zur gleichen Zeit fand in Lissabon auch ein Gastspiel von Cardo statt, einem argentinischen Imitator von Charlie Chaplin 33, mit Auftritten im Teatro República und im Teatro Politeama. Dies ist deshalb bemerkenswert, da der portugiesi-

31 Vgl. L.F. Rebello (1985): S.30. 32 »Also adieu O Türkei,/›Deutscheland‹ und auch Österreich/die liegen alle mit der Schnauze am Boden/Wir gehen nach Verdun und pum,/Stiften dort großes Durcheinander/Wir gehen nach Berlin und pim,/da gibt’s Ohrfeigen bis zum Schluss! [...]« [Übersetzung: E.K.] Rodrigues, Ernesto/Bermudes, Félix/Bastos, João (1985): »O Novo Mundo (1916)«, zit. in: ebd., S.199. 33 Die Zahl der Imitatoren von Charlie Chaplin bzw. des Tramps ist schier endlos. Dies reicht von ›lookalike-Bewerben‹ für Amateure ab Mitte der 1910er Jahre über crossdressed Tramps zu einer großen Zahl professioneller Imitatoren, die vor allem auf der Bühne aber auch im Film an der großen Popularität des, vor kurzem selbst noch von Londoner Music-Hall zu Music-Hall ziehenden, Varietékünstlers und Filmstars zu partizipieren. Vgl. Decherney, Peter (2011): »Gag Orders. Comedy, Chaplin, and Copyright«, in: Paul K. Saint-Amour (Hg.), Modernism and Copyright, Oxford/New York: Oxford University Press, S.135-170.

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sche Regisseur, Kameramann und Filmpionier Ernesto de Albuquerque, der in den Jahren zuvor vor allem Aktualitäten und Sportereignisse gefilmt hatte, drei kurze Komödien mit Cardo drehte, die noch während des Gastspiels in Lissabonner Kinos gezeigt wurden. Zwei dieser Filme sind in der Cinemateca Portuguesa erhalten und konserviert: Cardo as Charlot no Politeama (P 1916) und Uma Conquista de Cardo as Charlot no Jardim Zoológico de Lisboa (P 1916).34 Dies gab Albuquerque offenbar auch die Idee für einen Film mit einer portugiesischen Tramp-Figur und 1917 kam der Film Pratas Conquistador (P 1917), mit dem Schauspieler Emídio Ribeiro Pratas als Hauptdarsteller in die Kinos und wurde mit großem Erfolg gezeigt. Bemerkenswert an diesem Film war die sarkastische Kritik an dem materiellen Elend, das auch Lissabon in den Kriegsjahren erfasst hat.35 Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, insb. Deutschland, waren gerade die Jahre des Ersten Weltkriegs entscheidend für die Herausbildung stabilerer Strukturen einer eigenständigen Filmwirtschaft in Portugal. So wurde in den Jahren 1917/18 mit der Restrukturierung der in Porto ansässigen Produktionsgesellschaft Invicta Film unter der Leitung des von Pathé frères abgeworbenen Produzenten und Regisseurs Charles Pallu die erste kontinuierliche Spielfilmproduktion aufgebaut.

PARIS 1914 UND 1940: KRIEG IN DER/RUND UM DIE STADT Im Spätsommer und Herbst 1914 war die kriegsbedingte Lage in Paris dramatischer als in anderen Metropolen: Männer verließen die Stadt in Richtung Front, viele Familien, Frauen und Kinder flüchteten in die Provinz. Am 30. August wurde Paris erstmals aus der Luft angegriffen, von einem der leichten deutschen Eindecker, ›Taube‹ genannt – die abgeworfenen Bomben verletzten zwei Menschen und verursachten kleinere Schäden.36 Nur vier Tage später, am 3. September 1914 schlug die Nachricht, dass Premierminister Poincaré und die französische Regierung Paris in Richtung Bor-

34 Vgl. Leitão Ramos, Jorge (2012): »Albuquerque, Ernesto de«, in: Ders., Dicionário do Cinema Português 1895-1961, Lisboa: Caminho. 35 Vgl. Murtinheira, Alcides/Metzeltin, Igor (2010): Geschichte des portugiesischen Kinos, Wien: Praesens, S.19. 36 Vgl. Darmon, Pierre (2002): Vivre à Paris pendant la Grande Guerre, Paris: Fayard, S.22.

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deaux verlassen hatten, in der Hauptstadt ebenso ein wie die deutschen Bomben. An diesem Tag waren deutsche Armeeeinheiten Paris bis auf 30 km nahegerückt. Bereits erwähnter Militärgouverneur Gallieni übernahm die Aufgabe, die Stadt zu verteidigen. Doch die deutschen Befehlshaber, allen voran General Moltke, waren allzu siegessicher und ließen ihre Truppen einen kleinen Umweg machen vor der Eroberung von Paris – dieses kurze Zögern ermöglichte die entscheidende Verteidigungsaktion der französischen Armee: Am 9. September mussten die deutschen Soldaten den Rückzug antreten und Paris entging nur äußerst knapp einer deutschen Okkupation.37 Doch die Atmosphäre in der Stadt war weiterhin betrübt – die Zählung der Pariser Bevölkerung im September 1914 ergab eine Reduktion um eine Million Einwohner_innen gegenüber der Volkszählung von 1911. Und während die Tour Eiffel für die französische Luftabwehr genutzt wurde, waren die nahegelegene École militaire und der Park Les Invalides, wo die Einberufenen zusammentrafen und Richtung Norden an die Front gesandt wurden, die einzigen lebendigen Orte in einer ansonsten verlassenen Stadt.38 Große Teile des öffentlichen kulturellen Lebens waren von den ersten Augusttagen an ausgesetzt – der Beginn des Ersten Weltkriegs bereitete der Belle Epoque, in der Paris Inbegriff eines reichhaltigen kulturellen Angebots und spektakulären Nachtlebens war, ein jähes Ende. Zwar wurde mit der Abwendung der unmittelbaren militärischen Bedrohung im Lauf des Herbsts 1914 die strenge Regulierung des gesamten öffentlichen Lebens etwas gelockert und die bereits erwähnte Verordnung vom 23. November ermöglichte die Wiedereröffnung der Pariser Theater unter gewissen Bedingungen. Doch die Direktoren blieben skeptisch, was die wirtschaftliche Rentabilität ihres Theaterbetriebs in Kriegszeiten betraf und es dauerte noch fast ein halbes Jahr bis die meisten Pariser Theater ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen hatten. Die Ehre der ersten Wiedereröffnung ging – natürlich – an die Comédie Française, die in einer Matinée am 6. Dezember 1914 Pierre Corneilles klassische Tragödie Horace sowie patriotische Gedichte, Anekdoten und die Marseillaise auf die Bühne brachte.39 Nach zwei dem leichteren Musiktheater gewidmeten Häusern – der staatlich subventionierten Opéra Comique, sowie dem von der Stadt geförderten Théâtre de la GaîtéLyrique – eröffnete am Weihnachtsabend 1914 das auf monumentale Spektakel-

37 Vgl. Tuchman, Barbara (2001): August 1914, Frankfurt a. M.: Fischer TB, S.359f., S.392-433. 38 Vgl. P. Darmon (2002): S.27. 39 Vgl. N.N. (1914): »La réouverture de la Comédie-Française«, in: L’Éclair vom 27.11.1914, S.4.

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stücke spezialisierte Théâtre du Châtelet mit einer Wiederaufnahme von Jules Vernes Michel Strogoff, einem abenteuerlichen Spionagestück vor sibirischer Kulisse.40 Darauf folgten im Januar bzw. Februar 1915, um nur die ersten wiedereröffnenden Theater zu nennen, das Théâtre Réjane und das Théâtre de la Porte Saint Martin mit patriotischen Dramen der Vorkriegszeit. Bald darauf feierten auch die ersten aktuellen (Kriegs-)Revuen ihre Premieren in Paris, von denen einige schon in ihrem Titel aggressiv gegen den Kriegsgegner Deutschland gerichtet waren: Les Huns…et les Autres (Théâtre Antoine, 20.02.1915), 1915. Revue de Guerre (Théâtre du Palais Royal, 24.04.1915), La Nouvelle Revue antiboche (Théâtre du Vaudeville, 16.06.1915), Plus ça change. Féerie d’actualité (Théâtre Michel, 07.09.1915), etc. Die Pariser Kinos öffneten bereits ein wenig früher wieder ihre Türen, von Oktober 1914 an. Noch im November lag jedoch die Zahl der Eintritte pro Monat nur bei 130.000, etwa einem Zehntel der Vorkriegsverkäufe. Dies änderte sich jedoch rasch wieder, schon im Dezember 1914 waren es fast 800.000 verkaufte Kinokarten, im April 1915 wieder über eine Million und im Oktober 1915 erreichten die Pariser Kinos einen neuen Zuschauerrekord mit 1,6 Millionen Besucher_innen in diesem Monat.41 Das Kino hatte in Kriegszeiten große Vorteile gegenüber dem Theater durch seine Unabhängigkeit von einem Ensemble, durch flexible Beginnzeiten auch untertags und wuchs dementsprechend noch weit über das Vorkriegsangebot hinaus. Einige Pariser Theater wurden in den Kriegsjahren auch zu Kinos umgebaut, etwa das Théâtre des Nouveautés auf dem Boulevard des Italiens im 9. arrondissement, das am 21. Mai 1915 als cinéma Nouveautés-Auber Palace, als luxuriöser Filmpalast mit etwa 1000 Sitzplätzen eröffnet wurde. Das Eröffnungsprogramm bestand aus dem italienischen Film La donna nuda (I 1914) von Carmine Gallone, einer ersten Filmadaption der 1908 in Paris uraufgeführten, skandalträchtigen Komödie La Femme Nue von Henry Bataille (die französische Filmfassung hieß aber aus Zensurgründen Lolette), zum anderen aus dem aktuellen Dokumentarfilm Les Français en Alsace und einer Live-Darbietung der Marseillaise.42 Im Mai und Juni 1940 war die neuerliche Kriegssituation noch um einiges dramatischer in Frankreich. Die französische Armee schien von der deutschen Kriegstaktik verwirrt – man nannte die ersten Kriegsmonate in Frankreich ›drôle

40 Vgl. Guérin, Jeanyves (2007): Le théâtre en France de 1914 à 1950, Paris: Honoré Champion, S.119. 41 Vgl. P. Darmon (2002): S.321. 42 Vgl. ebd.: S.322f.

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de guerre‹, da man sich keinen Reim darauf machen konnte, dass Deutschland sich so lange ruhig in Richtung Westen verhielt. 43 Doch der ›Blitzkrieg‹ ließ eben nur ein wenig auf sich warten und die Deutsche Wehrmacht hatte im späten Frühling 1940 zum zweiten Mal Erfolg mit dem ›Schlieffen-Plan‹, der raschen Invasion Frankreichs über Holland und Belgien – unter erneuter Missachtung der Neutralität beider Länder. Am 3. Juni wurden mehrere strategisch wichtige Einrichtungen in unmittelbarer Nähe zu Paris – der Flughafen Le Bourget, die Citroën-Werke, Bahntrassen und Züge, sogar einige Wohnhäuser im 15. und 16. Pariser arrondissement – von der deutschen Luftwaffe bombardiert, was 250 Todesopfer und etwa 750 Verwundete forderte. Dies führte zu verbreiteten Panikreaktionen der Pariser Bevölkerung (es befanden sich noch etwa 1,9 Millionen Einwohner_innen zu diesem Zeitpunkt in Paris und Banlieues), die sich nun völlig unkoordiniert auf die Flucht begab.44 So verließ auch diesmal die französische Regierung Paris in Richtung Bordeaux am 10. und 11. Juni 1940 und erklärte Paris am 12. zur ›offenen Stadt‹ nach Artikel 25 der Haager Landkriegsordnung – dieser besagt, dass eine Stadt, die nicht verteidigt wird, auch nicht angegriffen oder bombardiert werden darf – so dass die deutschen Besatzer am 14. Juni ohne Gegenwehr in Paris einmarschierten. Ein enorm langer Flüchtlingszug – zwei Millionen Einwohner_innen von Paris –, jenen mehreren Millionen Flüchtlingen folgend, die bereits aus Belgien oder dem Norden Frankreichs in Richtung Süden unterwegs waren, füllte die Landstraßen in ganz Frankreich und – wenig später – die Großstädte im Süden Frankreichs wie Marseille und Lyon.45 Mehr als 100.000 Zivilist_innen starben in diesem Exodus, da die Deutsche Wehrmacht die Flüchtlingskaravanen aus der Luft bombardierte. Etwa 90.000 Kinder wurden von ihren Familien getrennt und mussten in Waisenhäusern untergebracht werden. 46 In den Wochen vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris hatte das kulturelle Leben der Metropole bereits gelitten und deutlich abgenommen aufgrund der angespannten und verängstigten Atmosphäre in der Stadt, in die immer mehr Flüchtlinge aus Belgien, Luxemburg und Nordfrankreich strömten, die schlechte Nachrichten von der deutschen Invasion überbrachten. Doch noch von

43 Vgl. etwa Poirier, Agnès (2019): An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940-1950. Aus dem Englischen von Monika Köpfer, Stuttgart: Klett-Cotta, S.43-47. 44 Vgl. Alary, Éric (2013): L’Exode. Paris: Éditions Perrin, S.137f. 45 Vgl. ebd.: S.167-174. 46 Vgl. »Exode de 1940 en France«, in: Wikipédia. L’encyclopédie libre, https://fr.wiki pedia.org/wiki/Exode_de_1940_en_France, Zugriff am 14. März 2019.

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1. bis 4. Juni 1940 veranstaltete die Comédie Française unter der neuen provisorischen Leitung von Jacques Copeau eine Serie von zwei Abenden und einer Matinée zum Andenken an Charles Péguy, dem in den ersten Wochen des Ersten Weltkriegs als 41-jährigen an der Front verstorbenen französischen Dichter und Schriftsteller. Die Schauspielerin Suzanne Bing, enge Mitarbeiterin von Copeau seit dem Beginn der Arbeit am Théâtre du Vieux Colombier, berichtete in einem Brief an ihren Sohn von dieser ungewöhnlichen Veranstaltung, das sie als ein echtes Ereignis beschreibt. Der große Theatersaal war voll, die Einnahmen bei der zweiten Aufführung noch höher als bei der Premiere. Das Publikum: »Toute une jeunesse exaltée, toute une arrière-garde réveillée, revigorée. La chose qu’il faut à l’heure qu’il faut.«47 Neben den – noch – staatstragenden Inszenierungen waren es aber vor allem einige private Theater und Music-Halls, die in den ersten Juni-Wochen, in denen das Publikum von Tag zu Tag schwand, noch Programm boten 48 – insgesamt fanden zwischen 4. und 14. Juni nur noch an zehn, in der zweiten Juni-Woche nur noch an vier der mehr als 50 Pariser Theater und Vergnügungsstätten Aufführungen statt. Darunter war das seit 1929 von Paulette Pax gemeinsam mit Lucien Beer geleitete Théâtre de l’Œuvre mit dem sarkastisch-düsteren Eifersuchtsdrama Pas d’amis, pas d’ennuis von der jungen, gänzlich unbekannten Schriftstellerin, später Drehbuchautorin und Filmregisseurin Solange Térac, hier mit den geschlechtsneutralen Initialen S. H. Térac firmierend, unter der Regie von Paulette Pax.49 Einen noch größeren Publikumserfolg hatte der aus der Normandie stammende Autor Paul Vandenberghe mit seinem Erstling J’ai 17 ans, einem Mutter-

47 »Die gesamte exaltierte Jugend und eine wachgerüttelte, gestärkte Nachhut. Die richtige Sache zur richtigen Zeit« [Übersetzung: E.K.] Brief von Suzanne Bing an ihren Sohn Bernard Bing vom 4. Juni 1940, zit. in: Jean Bastaire (1982): »En Juin 1940 l’hommage à Péguy de la Comédie Française«, in: L’Amitié Charles Péguy. Bulletin d’informations et de recherches, Jg.5, N°20, Okt.-Dez. 1982, S.186f. 48 Vgl. Fabre-Luce, Alfred (1941): Journal de la France. Mars 1939-Juillet 1940, Paris: Imprimerie J.E.P., S.330f. 49 Als Teil der Collection Rondel des Département des Arts du Spectacle der Bibliothèque Nationale de France (BNF) existiert ein zusammengestelltes Bändchen mit dem Theaterprogramm und Kritiken zur Uraufführung von S. H. Téracs Pas d’amis, pas d’ennuis am 24. April 1940 am Théâtre de l’Œuvre, das sich auch in Gallica, der digitalen Bibliothek der BNF findet: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10508166b. r=%22Pas %20d'amis%20pas%20d'ennuis%22T%C3%A9rac?rk=21459;2, Zugriff am 14. März 2019.

Europäische Kriegseintritte – kulturelle Antworten auf den Kriegszustand | 189

Sohn-Drama, das am 24. September 1938 im Théâtre Georges VI uraufgeführt und dort durchgehend bis zum 11. Juni 1940 erfolgreich gespielt wurde. Das Erfolgsstück wechselte während der Besatzungszeit ans Théâtre de l’Ambigu, wo am 18. September 1942 die 750. Aufführung stattfand 50, während sein Autor schon fast ein Jahr in einem der NS-Stalags (Stammlager, zentrale Kriegsgefangenenlager) festgehalten wurde. Erst zur Feier der 1000. Aufführung konnte Vandenberghe am 2. April 1943 gemeinsam mit Schauspieler_innen und Freund_innen in einem Pariser Lokal zusammentreffen. 51 Bleibt die Frage, warum gerade ein Stück, das die eifersüchtige Liebe eines Sohns für seine (alleinerziehende) Mutter thematisiert, im Paris unter Deutscher Besatzung, mitten im Krieg, so einen überragenden Erfolg erzielen konnte. Man kann vermuten, dass gerade in einer Zeit, in der nahezu jede Familie zerrissen und/oder dezimiert war, die fiktionale Betrachtung einer übermäßigen Mutterliebe für viele Daheimgebliebene und Frauen etwas Tröstliches hatte. In den 49 Kinos, die in der Zeitung Le Petit Parisien vom 1. Juni 1940 aufgezählt wurden, konnten die Pariser folgende Filme (neben vielen anderen) sehen: Die britische Komödie Over the Moon (GB 1937) von Thornton Freeman; das französische Filmmusical Mon cœur t’appelle (F 1934) mit Musik des österreichischen Operettenkomponisten Robert Stolz, der sich zu diesem Zeitpunkt gerade am Weg von Paris über Genua ins amerikanische Exil befand; Face au destin (F 1940), der Spionagefilm vor aktuellem Hintergrund von Henri Fescourt; Frank Capras ›romantic comedy‹ You can’t take it with you (USA 1938), die 1938 zwei der wichtigsten Oscars erhalten hatte (bester Film, bester Regisseur). Ebenso zu sehen waren aber auch der italienische Kriegsfilm Squadrone bianco (I 1936), in Libyen zu Ehren des faschistischen Italien und seiner wiedereroberten Kolonie gedreht – und das nur zehn Tage vor der Kriegserklärung Mussolinis an Frankreich und Großbritannien – oder, in Kontrast dazu, Josef von Sternbergs flotte, operettenhafte Komödie The King steps out (USA 1936) über anfängliche Liebeswirren zwischen dem jungen Kaiser Franz-Josef, Prinzessin Sissi und deren Schwester Néné. Unter den Dokumentar- und Nachrichtenfilmen sei der Film Vaincre (F 1940) des (schon 1915 gegründeten) »Service cinématographique de l’Armée« genannt. Der Film, der die Kriegsereignisse vom 10. bis

50 Vgl. [Annonce] in: Le Matin vom 18. September 1942, S.2. 51 Vgl. N.N. (1943): »La millième de ›J’ai 17 ans‹« in: Comoedia vom 10. April 1943, S.4.

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20. Mai 1940 abbilden soll, wurde in der Kritik »le réquisitoire le plus précis, le plus implacable contre les méthodes de guerre allemandes« 52 genannt. Obwohl Paris in beiden Weltkriegen dramatische Situationen erlebt hat, kam das kulturelle Leben nie ganz zum Erliegen. Theater, Kino, Musik und Kunst blieben auch weiterhin ein wichtiger Teil des urbanen Lebens in Paris, auch wenn die Metropole und ihre kulturelle Sphäre stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, sowohl auf der Ebene der Infrastruktur als auch auf der ideologischen Ebene.

ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Diese – durchaus nur schlaglichtartige – Untersuchung der Theater- und Filmaktivitäten von drei verschiedenen Städten zu Beginn der zwei großen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts kann uns abgesehen von dem konkreten Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Kriegs möglicherweise auch interessante Hinweise auf die Möglichkeiten und Atouts einer europäischen Medienwissenschaft liefern, gerade im Hinblick auf historische Betrachtungsweisen, die auch heute noch häufig im nationalen oder lokalen Rahmen verharren. Schon die Erweiterung von den zentralen Hauptstädten Europas hin zu einer Hauptstadt an der europäischen Peripherie zeigt uns, dass die Gewissheiten über Kriegseuphorie und spontaner kultureller Mobilmachung bei Kriegseintritt nicht überall gelten, sondern dass es auch kriegsskeptische Öffentlichkeiten und tiefe gesellschaftliche Spaltungen (im Gegensatz zur beschworenen ›Union Sacrée‹) gibt, die vor und mit dem Kriegseintritt offenbar werden – dies könnte nun wieder für die zentralen europäischen Metropolen ein noch genaueres Hinsehen anregen, um auch die leisen Zwischentöne und Widersprüche zu hören, aber umgekehrt auch genauer danach zu fragen, warum in Berlin, Paris, London oder Wien eine so rasche Nivellierung von ideologischen Gegensätzen im August 1914 von Statten geht. Die parallel geführte Untersuchung von Paris im Herbst 1914 und im Frühjahr 1940 zeigt wiederum, wie ähnlich die zwei Situationen zunächst scheinen, wie viele Parallelen die Pariser Zeitgenossen im Mai und Juni 1940 zum Ersten Weltkrieg ziehen und wie sehr dann doch die deutsche Besatzung von Paris im Zweiten Weltkrieg eine völlig andere Situation in der Stadt schuf, als jene einer zwar einige Male von einer nahen Frontlinie bedrohte, ansonsten aber freie – und

52 »die präziseste, schonungsloseste Anklage gegen die deutsche Kriegsführung« [Übersetzung: E.K.], J., R. (1940): »Vaincre«, in: Le Petit Journal vom 31. Mai 1940, S.4.

Europäische Kriegseintritte – kulturelle Antworten auf den Kriegszustand | 191

weiterhin relativ demokratisch regierte – französische Hauptstadt von 1914 bis 1918. Theater- und Filmproduktionen der ersten Kriegszeit reagieren alle auf die neue Situation, teils affirmativ, teils skeptisch; manche in dramatischer Weise, manche humoristisch; viele aggressiv, einzelne mit Besorgnis. Sie tragen – auch wenn sie noch aus der Vorkriegszeit stammen – die Bezüge zum Krieg und zur politischen Lage in sich, und sei es, weil das Publikum solche Bezüge herstellt.

LITERATUR Alary, Éric (2013): L’Exode. Paris: Éditions Perrin. Altenhöner, Florian (2008): Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München: Oldenbourg. [Annonce] in: Le Matin vom 18. September 1942, S.2. Barbosa, Alberto/Coelho, Pereira/Sequeira, Matos (1985): »Dominó (1915)«, zit. in: Luiz Francísco Rebello, História do Teatro de Revista em Portugal. Vol.2: Da República até hoje, Lisboa: Publicações Dom Quixote, S.196. Baumeister, Martin (2005): Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur. 1914-1918, Essen: Klartext. Brief von Suzanne Bing an ihren Sohn Bernard Bing vom 4. Juni 1940, zit. in: Jean Bastaire (1982): »En Juin 1940 l’hommage à Péguy de la Comédie Française«, in: L’Amitié Charles Péguy. Bulletin d’informations et de recherches, Jg.5, N°20, Okt.-Dez. 1982, S.186f. Cornelius, Franz (1914): Krümel vor Paris! Ein vaterländisches Zeitbild. Genehmigt mit den handschriftlichen Streichungen und Änderungen für das Residenz-Theater. Landesarchiv Berlin, A. Pr. Br. 030-05-02, Nr.6026. Costa Pinto, António (2008): »O Estado Novo português e a vaga autoritária dos anos 1930 do século XX«, in: António Costa Pinto/Francisco Carlos Palomanes Martinho (Hg.), O Corporativismo em português. Estado, Política e Sociedade no Salazarismo e no Varguismo, Lisboa: Imprensa de Ciências Sociais, S.24-49. Darmon, Pierre (2002): Vivre à Paris pendant la Grande Guerre, Paris: Fayard Decherney, Peter (2011): »Gag Orders. Comedy, Chaplin, and Copyright«, in: Paul K. Saint-Amour (Hg.), Modernism and Copyright, Oxford/New York: Oxford University Press, S.135-170. »Exode de 1940 en France«, in: Wikipédia. L’encyclopédie libre, https://fr.wiki pedia.org/wiki/Exode_de_1940_en_France, Zugriff am 14. März 2019.

192 | Eva Krivanec

Fabre-Luce, Alfred (1941): Journal de la France. Mars 1939-Juillet 1940, Paris: Imprimerie J.E.P. Galhardo, Luís/Coelho, Pereira/Sequeira, Matos (1914): Céu Azul. Revista em 2 actos e 10 quadros. Versos da peça, Lisboa: Imp. Manuel Lucas Torres. Guérin, Jeanyves (2007): Le théâtre en France de 1914 à 1950, Paris: Honoré Champion. Hochmuth, Hanno/Niedbalski, Johanna (2011): »Kiezvergnügen in der Metropole. Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten«, in: Becker, Tobias/Littmann, Anna/Niedbalski, Johanna (Hg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900. Bielefeld: transcript, S.105-136. J., R. (1940): »Vaincre«, in: Le Petit Journal vom 31. Mai 1940, S.4. Koreen, Maegie (1997): Immer feste druff. Das freche Leben der Kabarettkönigin Claire Waldoff, Düsseldorf: Droste. Krivanec, Eva (2012): Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien, Bielefeld: transcript. Krivanec, Eva (2014): »Die Theaterstadt im Krieg. Berliner Bühnen 19141918«, in: Zeitschrift für Germanistik (ZfGerm) 24, S.566-581. Kuhla, Holger (1997): »Theater und Krieg. Betrachtungen zu einem Verhältnis. 1914-1918«, in: Joachim Fiebach/Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hg.), Theater und Medien an der Jahrhundertwende, Berlin: Vistas, S.63-115. Leitão Ramos, Jorge (2012): »Albuquerque, Ernesto de«, in: Ders., Dicionário do Cinema Português 1895-1961, Lisboa: Caminho. Lochery, Neill (2011): Lisbon. War in the Shadows of the City of Light 19391945, New York: Public Affairs. Mühl-Benninghaus, Wolfgang (2004): Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im Ersten Weltkrieg, Berlin: Avinus. Murtinheira, Alcides/Metzeltin, Igor (2010): Geschichte des portugiesischen Kinos, Wien: Praesens. Nielsen, Asta (1961): Die schweigende Muse. Aus dem Dänischen von H. Georg Kemlein, Rostock: VEB Hinstorff Verlag. N.N. (1914): »Possen-Theater«, in: Berliner Morgenpost vom 28.09.1914, S.4. N.N. (1914): »La réouverture des théâtres«, in: Le Temps vom 25.11.1914, S.4. N.N. (1914): »La réouverture de la Comédie-Française«, in: L’Éclair vom 27.11.1914, S.4. N.N. (1943): »La millième de ›J’ai 17 ans‹« in: Comoedia vom 10. April 1943, S.4. Poirier, Agnès (2019): An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940-1950. Aus dem Englischen von Monika Köpfer, Stuttgart: Klett-Cotta.

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Die internationale Medien- und Kommunikationswissenschaft zwischen Disziplinen und Praktiken Sarah Cordonnier1

Die akademische »Internationalisierung«, weist widersprüchliche Aspekte auf.2 Einerseits ist sie für an der Universität tätige Personen und akademische Institutionen eine dringliche Verpflichtung. Da sie als wünschenswert erscheint, führt sie zu Austauschprogrammen und zu Slogans, mit denen man sich in den Exzellenzreigen einordnen möchte.3 Andererseits, und dies trotz der Steigerung der internationalen Mobilität von Personen im Bereich der Universität, gibt es bisher aber keine klar strukturierten institutionellen oder intellektuellen Rahmenbedingungen speziell für das Teilen von akademischen Erkenntnissen. Entgegen den medien- und kommunikationswissenschaftlichen Theorien, die besagen, dass die Übertragung von Wis-

1

Erstveröffentlichung auf Französisch: Cordonnier, Sarah (2017): »La circulation européenne des savoirs communicationnels entre cadrages disciplinaires et pratiques situées«, in: Les enjeux de l’information et de la communication »Information – Communication en Europe: Perspectives nationales, transnationales ou comparatives« 18/ 3A, S.87-96.

2

Im akademischen Kontext bringt die Bezeichnung »international« eine Reihe weiterer Aspekte mit ins Spiel; durch die Verwendung der Anführungszeichen soll eine gewisse Distanz gegenüber diesem Gebrauch ausgedrückt werden. Vgl. Cordonnier, Sarah (2015): »L’internationalisation académique, entre promotion et impensés«, in: Science & You: Actes des sessions du colloque. Proceedings of the Conference’s Sessions, Nancy, S.456-461, www.science-and-you.com/sites/default/files/users/sy2015_session s_proceedings.pdf

3

Gaspard, Jeoffrey (2013): »Les textes en ligne de présentation d’universités«, Communication et organisation 44, S.189-202, hier S.190.

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sen nicht einfach durch »Ansteckung« möglich ist und genauso wenig durch das Vertrauen auf einfache Modelle wie Sender-Nachricht-Empfänger, läuft in der üblichen akademischen Praxis noch immer alles so ab, als würde es genügen, Studierende oder Forschende aus unterschiedlichen Ländern miteinander in direkten Kontakt zu bringen, um dadurch das »Teilen von Ideen« in Gang zu setzen. In einer Zeit, in der »internationale Erfahrung« immer stärker von allen erwartet wird, die eine akademische Karriere anstreben, stellen die undurchdachten Aspekte und Widersprüche, die diese Erfahrung als Zwang oder Hindernis erscheinen lassen, nicht bloß ein theoretisches Problem dar, sondern ein konkretes Thema für Studierende, junge Universitätsangehörige und für alle für die Produktion oder Verwaltung von Forschung und Lehre zuständigen Personen. Die Medien- und Kommunikationswissenschaften stellen Werkzeuge zur Verfügung, die es ermöglichen, diese Problematik auf neuartige und spezifische Art zu erhellen, und zwar, indem man die Aufmerksamkeit auf die sozialen und diskursiven Register und deren Artikulation lenkt. Das ist die Absicht des von mir vorgeschlagenen Ansatzes, der mehrere »konstituierende Diskurse«4 miteinander kreuzt, von der Rhetorik und Politik der Universität bis hin zur Erfahrung einzelner Personen. Eine derartig konzipierte Untersuchung ermöglicht es, zu zeigen, wie der Faktor des »Internationalen« die Modelle, Praktiken und Vorgaben nationaler Forschungs- und Lehrinstitutionen sowohl durcheinander bringt als auch neu aktiviert – und wie der wissenschaftliche und pädagogische Austausch, der sich das Teilen von Wissen der einzelnen Disziplinen zum Ziel setzt, in Konflikt gerät mit den Absichten nationaler Politik (Konkurrenz unter den Universitäten) und den Strategien einzelner Institutionen (akademisches Marketing). Die Medien- und Kommunikationswissenschaften stellen jedoch auch einen relevanten Gegenstand dieser Untersuchung dar. Im Gefolge früherer Forschungen zu ihrer geteilten Geschichte und ihrem transnationalen Vergleich 5 werde ich

4

Maingueneau Dominique/Cossuta, Frédéric (1995): »L’analyse des discours constituants«, in: Langages 117, S.12-125.

5

Averbeck-Lietz, Stefanie (2008): »Comparative History of Communication Studies: France and Germany«, in: The Open Communication Journal 2, S.1-13; Löblich, Maria/Averbeck-Lietz, Stefanie (2016): »The Transnational Flow of Ideas and Histoire Croisée with Attention to the Cases of France and Germany«, in: Peter Simonson/David W. Park (Hg.), The International History of Communication Study, New York & London: Routledge, S.25-46; Averbeck-Lietz, Stefanie (Hg.) (2017): Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich. Transnationale Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS.

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die Prinzipien einer kommunikationsorientierten Studie präsentieren, welche die Beobachtung der institutionellen Rahmenbedingungen mit der Beobachtung der täglichen Praxisformen verbindet: Gibt es einen »konstituierenden Diskurs« der Medien- und Kommunikationswissenschaften jenseits nationaler Unterschiede? Welche praktische Einsatzfähigkeit besitzt dieser Diskurs bezogen auf die individuelle Erfahrung von Personen, die sich mit der Rhetorik akademischer Internationalisierung auseinandersetzen müssen?

PARADOXE BEGRÜNDUNG DER MEDIENUND KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTEN Ein pragmatisches Verständnis der Disziplin als Verortung von Wissen Arbeiten über »die akademische Disziplin« haben mehrfach deren Belastbarkeit betont:6 Der disziplinäre Rahmen wahrt seine strukturierende Funktion trotz der Appelle (oder unabhängig von diesen) zur Interdisziplinarität, die – wie Abbott7 gezeigt hat – genauso alt sind wie die Entstehung der aktiven akademischen Disziplinen. In der Tat hat die Disziplin nicht nur eine pädagogische Wirkung (sie ist stabil und wirkt dadurch stabilisierend), sondern sie ist auch ein Ort der Produktion neuen Wissens. Wenn man aus kommunikativer Sicht die verschiedenen Funktionsebenen benennen wollte, könnte man sagen, dass die Disziplin als Einrichtung unweigerlich eine sowohl organisatorische als auch diskursive, kognitive und kulturelle Rolle spielt. So verstanden, nimmt die Disziplin als Institution auf bestimmende Weise an der Produktion eines wissenschaftlichen Territoriums teil, welches die Identifizierung und Legitimierung (die Verortung) des Wissens und seiner Produzenten ermöglicht. Wenn man jedoch versucht, sie genauer einzugrenzen, verweigert sie sich einer expliziten Definition, was zeigt, dass ihre Funktionsweise auf der impliziten Bedeutung ihrer Praktiken und Diskurse beruht. In einer Reihe weiterer möglicher Aspekte (Studiengang, Art der Einrichtung, Bereiche des Wissens – Bourdieu 1988) stellen die europäischen Medienund Kommunikationswissenschaften ein besonders gut geeignetes Gebiet dar zur

6

Heilbron, Johan/Gingras, Yves (2015): »La résilience des disciplines«, in: Actes de la

7

Abbott, Andrew (2001): »The Context of Disciplines«, in: Chaos of disciplines, Chi-

Recherche en Sciences Sociales 210, S.4-9. cago: The University of Chicago Press.

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Erforschung von Fragen nach der Funktionsweise der Disziplin und deren Rolle in der internationalen Verbreitung von Wissen. Eigenschaften der Medien- und Kommunikationswissenschaften in Europa Die allgemeine Bezeichnung »Medien- und Kommunikationswissenschaften« ermöglicht die Klassifizierung von Disziplinen oder Forschungsfeldern, die nicht in allen Ländern den gleichen Namen tragen und deren nationale Hintergründe unterschiedlich sind,8 die thematisch im Ländervergleich unterschiedlich aufgeteilt sind, die sich aber dennoch überall gut entwickeln. 9 Die Existenz dieser »Interdisziplinen«10 mag in praktischer Hinsicht den Eindruck einer Verkomplizierung des transnationalen Austausches erwecken; jedoch würde ich im Gegenteil behaupten, dass diese Situation eine präzisere Untersuchung der Modalitäten dieses Austausches erlaubt, weil sie verhindert, die Räume der Produktion, Verbreitung und Rezeption als evident oder naturgegeben anzunehmen – ein Fehler, den man leichter macht, wenn die Disziplinen von vornherein denselben Namen, dieselben Methoden und denselben Gegenstand zu haben scheinen. Ich habe keineswegs vor, hier eine Geschichte der Medien- und Kommunikationswissenschaften zu schreiben. Ich habe stattdessen vor, einige verblüffende Ähnlichkeiten aufzuzeigen, aus denen sich eine besondere Form von konstituierendem Diskurs ergeben könnte, der sowohl über die Disziplin definiert ist als auch transnational. Derartige Diskurse »haben den Anspruch, den Gemeinplatz einer Kollektivität einzugrenzen, den Raum, der die Vielzahl von ›Gemeinplät-

8

Simonson, Peter/Park, David W. (Hg.) (2016): The International History of Commu-

9

Koivisto und Thomas sprechen diesbezüglich sogar von einem internationalen Rätsel:

nication Study, New York & London: Routledge. »The growth of communications and media research in the post-war period may constitute an ›international enigma‹. Countries and traditions quite distant from and sometimes resistant to the dominant Anglophone models, such as France, or those with strong traditional academic structures and traditions that are often resistant to change, such as Germany, display similar features of unstoppable growth of communications research and study, at all levels of academic activity« (Koivisto, Juha/Thomas, Peter (2010): Mapping Communication and Media Research: Conjunctures, Institutions, Challenges, Tampere: Tampere University Press, S.21-22, meine Hervorhebung). 10 Ollivier, Bruno (2001): »Enjeux de l’interdiscipline«, in: L’année sociologique 51, S.337-354.

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zen‹ umgibt, die in dieser zirkulieren«.11 Es gibt zwar keinen kanonischen Text, der als Gründungsmanifest der Medien- und Kommunikationswissenschaften in Europa anerkannt wäre, jedoch ist es möglich, über ein Verfahren des Vergleichs der Zitate einen Korpus zu bilden, in dem bestimmte Topoi so häufig auftreten, dass sich ein Gemeinplatz der Kollektivität herauskristallisiert.12 Unter diesen findet man innerhalb und außerhalb der Disziplin ständig neu vorgebrachte Fragen nach der »Identität der Disziplin«. Der folgende Auszug ist charakteristisch für diese Fragestellungen: »The field [of communication studies] has problems relating to its historical identity: its short tradition as an academic discipline, the external influences coming from the media industry and the state, its legitimacy deficit, its diffuse research topic »communication«, the heterogeneous academic backgrounds of its scholars, and the fact of being »scattered« all over places at universities. In Germany, as well as in America, these characteristics lead within the field to a »lack of consensus« on its subject matters and to difficulties in shaping a self-conception. «13

Diese Reihe von »Problemen« ist in Frankreich nicht unbekannt, wo beispielsweise die Verbindung zu den Berufsfeldern schon seit langem aus dieser Perspektive thematisiert wird.14 Aber die anderen Geistes- und Sozialwissenschaften (GSW) haben mit den Kommunikationswissenschaften ihre Einschreibung in das Universitätssystem gemeinsam, samt dessen Entwicklung, Professionalisierung und massenhafter Ausbreitun seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Sechzigerjahren, sowie auch die meisten von Löblich & Scheu erwähnten Prob-

11 Maingueneau Dominique/Cossuta, Frédéric (1995): »L’analyse des discours constituants«, in: Langages 117, S.112-125, hier S.113. 12 Cordonnier, Sarah (2017b): »Les sciences consacrées à la communication, laboratoire disciplinaire? Analyses exploratoires d’un discours »international««, in: Revue Française des Sciences de l’Information et de la Communication 10, http://rfsic.revues.org/ 2750 13 Löblich, Maria/Scheu, Andreas M. (2011): »Writing the History of Communication Studies«, in: Communication Theory 21, S.1-22, hier S.2. 14 Neveu, Erik/Rieffel, Rémy (1991): »Les effets de réalité des sciences de la communication«, in: Réseaux 50, S.11-40. Vgl. auch Heinderyckx, François (2014): »Academic Schizophrenia: Communication Scholars and the Double Bind«, Leif Kramp/Nico Carpentier et al., Media Practice and Everyday Agency in Europe, Bremen: edition lumière. Bezüglich der anderen Fragen vgl. insbesondere die von Robert Boure initiierten Forschungen.

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leme – die jedoch aus diesem Blickwinkel nur selten in anderen Disziplinen und bezogen auf diese erwähnt werden. Der Augenblick der Gründung15 könnte deshalb entscheidend sein, um die Besonderheiten des konstituierenden Diskurses der Medien- und Kommunikationswissenschaften zu identifizieren und diese von den anderen GSW abzugrenzen, deren Gründung als Disziplin an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erfolgte. In der Tat ist oft die Rede von der »kurzen Tradition«16 und der »Jugend«17 der Medien- und Kommunikationswissenschaften, wobei aber mehrere Generationen von Forschenden in dieser Disziplin auf einander gefolgt sind. Was bemerkenswert ist, ist aber nicht so sehr ihre Existenz in Jahreszahlen, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Gründung der Medien- und Kommunikationswissenschaften in einem anderen Augenblick der Entwicklung der Wissensbestände erfolgte – vor allem bezogen auf deren wissenschaftliche Ausprägung. Ihre kanonische Form wurde ab den Sechziger- und Siebzigerjahren in Frage gestellt, als »wir erkannt haben, dass die ›Wissenschaft‹ kein völlig autonomer, abgeschlossener und chronologisch stabiler Gegenstand, Objekt oder Einheit ist, den man isoliert erfassen könnte, sondern dass sie eine Ganzheit verschiedener materieller, sozialer und rhetorischer Praktiken ist, die verschiedenen Welten angehören, die durch keine festen Grenzen getrennt sind«.18 Die »institutionelle Unvollendetheit« der Medien- und Kommunikationswissenschaften deckt sich mit jener der GSW, jenen »ständig in die Zukunft projizierten Disziplinen«.19 Bei den Medien- und Kommunikationswissenschaften

15 Schlanger, Judith (1992): »Fondation, nouveauté, limite, mémoire«, Communications 54, S.289-298. 16 M. Löblich/A. M. Scheu (2011). 17 Alsina, Miquel Rodrigo/Jiménez García, Leonarda (2010): »Communication theory and research in Spain: A paradigmatic case of a socio-humanistic discipline«, in: European Journal of Communication 25, S.273-286; Huber, Nathalie (2010): Kommunikationswissenschaft als Beruf. Zum Selbstverständnis von Professoren des Faches im deutschsprachigen Raum, Köln: Herbert von Halem Verlag. 18 Pestre, Dominique (2012): »Épistémologie et politique des science and transnational studies«, in: Revue d’anthropologie des connaissances 6(3), S.1-24, hier S.3. 19 Fabiani, Jean-Louis (2006): »À quoi sert la notion de discipline ?«, in Jean Boutier/Jean-Claude Passeron/Jacques Revel (Hg.), Qu’est-ce qu’une discipline ?, Paris : Éditions de l’EHESS, S.11-34, hier S.18.

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wird diese Eigenschaft jedoch häufiger erwähnt, sowohl auf europäischer20 und internationaler21 Ebene als auch rein national, obgleich sich die Geschichte der Disziplin von Land zu Land stark unterscheidet.22 Es lässt sich folglich die Hypothese formulieren, dass die Behauptungen bezüglich der Jugend und/oder unvollständigen Institutionalisierung und/oder mangelnden Anerkennung der Disziplin einen paradoxalen »konstituierenden Diskurs« bilden, der sich auf die Unvollendetheit stützt, aber in Bezug steht vor allem auch zur Wissenschaftssoziologie, die zur selben Zeit entstand wie die Medien- und Kommunikationswissenschaften.

INTERNATIONALE IDEENZIRKULATION UND UNIVERSITÄRE INTERNATIONALISIERUNG Die eben erwähnte Hypothese mag vielleicht etwas spekulativ erscheinen, und es trifft zu, dass sie auf einer weit gefassten theoretischen Abstraktion beruht. Jedoch besitzt sie insofern heuristischen Wert, als sie es erlaubt, von neuem die Frage nach der internationalen Zirkulation des Wissens über die Kommunikation zu stellen, wobei Gedankenblockaden bezüglich der Kommunikation überwunden werden, die üblicherweise aktiv sind, sobald es um die internationale Produktion und Verbreitung von Wissen geht. Es ist in der Tat so, dass die Literatur zu diesem Thema mehrere eigentlich zusammenhängende Forschungen voneinander trennt: über die Migrationskarrieren von Forschenden (biographischer Ansatz); über transnationale Institutionen (historischer und politischer Ansatz); über die Politik und Rhetorik der akademischen Institutionalisierung (institutioneller Ansatz); über die akademische Interkulturalität, deren wichtigste und häufig einzige »Betroffene« die Studierenden sind (bisweilen pädagogische Ansätze, aber vor allem alltagszentrierte Ansätze). So findet man überhaupt keine Ansätze, die sich bei ihrer Untersuchung auf den wissenschaftlichen Austausch von Spezialisten konzentrieren. Denkhindernisse gehen einher mit praktischen Schwierigkeiten: Wie soll man, wenn man

20 Heinderyckx, François (2007): »The Academic Identity Crisis of the European Communication Researcher«, in: Nico Carpentier et al. (Hg.), Media Technologies and Democracy in an Enlarged Europe, Tartu: University of Tartu Press, S.357-362. 21 Jiménez García, Leonarda/Martínez Guillem, Susana (2009): »Does communication studies have an identity? Setting the bases for contemporary research«, in: Catalan Journal of Communication & Cultural Studies 1(1), S.15-27. 22 Vgl. besonders P. Simonson/D. W. Park (2016), S. Averbeck-Lietz (2017).

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die Studienobjekte künstlich trennt, den strukturierenden, ja sogar dominanten Charakter der lokalen Verwurzelung der wissenschaftlichen Praxis angemessen berücksichtigen, wobei das lokale Element in Verbindung steht mit dem wichtigen, aber ambivalenten Aspekt der disziplinären Zugehörigkeit und dem der »Internationalität« zugeschriebenen Prestige? Wenn man, wie ich dies vorschlage, dem disziplinären Rahmen einen entscheidenden Platz einräumt, dann kann man mehrere Aspekte zusammen denken: Epistemologie und kollektive Organisation, Rhetorik und Methodik, gemeinsame Kultur und individuelle Karrieren. Die Beobachtung der letztgenannten hängt zusammen mit jener der »konstituierenden Diskurse«: Die Laufbahnen europäischer Studierender und Forschender, wie sie in Interviews und autobiographischen Berichten zu finden sind, erhellen die akademischen und regionalen, diskursiven und praktischen Rahmenbedingungen, in denen sie sich abspielen, die sie aber auch von ihrer Seite aus bekräftigen oder verändern.23

INTERNATIONALE MOBILITÄT VON FORSCHENDEN. ERFAHRUNGEN UND RAHMENBEDINGUNGEN Wenn man sich weltweit umsieht, muss man konstatieren, dass diese Disziplin dabei ist, sich zu organisieren, dass sie neue Ausbildungen anbietet, ohne echte Absprache oder Abstimmung untereinander, weder kollektiv noch unterschwellig. Auch hier zählen vor allem persönliche Kontakte zwischen Individuen. Miège 2006, S. 406

Die »Internationalität« wird allgemein geschätzt und in der akademischen Rhetorik häufig ins Feld geführt, trägt aber nicht unbedingt wissenschaftliche Früchte, noch bedeutet es immer interkulturelle Öffnung, umso mehr, wenn es in Konflikt gerät mit anderen akademischen Aspekten. Zwar findet anlässlich von internationalen Treffen häufig auch ein internationaler Gedankenaustausch statt, vor allem innerhalb der verschiedenen Fachgesellschaften, in denen die Forschenden

23 Cordonnier, Sarah (2017a): »Les temporalités enchevêtrées du témoignage«, in: Julia Bonaccorsi/Laurent Collet/Daniel Raichvarg (Hg.), Les temps des arts et des cultures, L’Harmattan, Paris, S.151-164.

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der Medien- und Kommunikationswissenschaften organisiert sind,24 aber dieser Austausch bleibt punktuell und außergewöhnlich und führt nur selten zu echten wissenschaftlichen Kooperationen zwischen Forschenden unterschiedlicher Nationalitäten. Bei diesen Treffen können das gegenseitige Unverständnis oder die Vorurteile sogar verfestigt werden. Deshalb kann der von Bernard Miège erstellte Befund nicht nachvollzogen werden durch Arbeiten, die von vornherein die akademische Internationalisierung zum Gegenstand haben: Derartige Untersuchungen vermeiden es, ungewöhnliche und zufällige Konstellationen zu berücksichtigen, wie auch die Regelmäßigkeiten und den Verlauf jener Kontakte zwischen Individuen, die häufig von spezifischen Voraussetzungen bei den Beteiligten zeugen. Die Paradoxien des »Internationalen«, wie man sie in der akademischen Welt erlebt, kann man folglich am besten anhand der Analyse von Einzelfällen verstehen, wobei aber immer kollektive Dynamiken mitbedacht werden sollten. Man wird sehen, dass die Kommunikationswissenschaften ein relevantes Gebiet für diese Art von Untersuchung darstellen: Tief verankert in den zeitgenössischen Gesellschaften, in denen sie sich entwickeln, mit allen sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für diese Wissenschaften in ihrem Verhältnis zur Universität, zur Berufswelt und zu den verschiedenen Typen von Publika, ermöglichen sie das Verständnis der soziodiskursiven Konfigurationen internationaler Praktiken in all ihrer Komplexität und Labilität. Nun möchte ich das Interesse dieser Perspektive durch die Präsentation von drei bemerkenswerten Fällen zeigen, die meinen Beobachtungen entstammen, die ich seit 2013 durchführe. In allen drei Fällen ermöglicht die Aufmerksamkeit, mit der die Erfahrung dieser Personen wahrgenommen wird, ein besseres Verständnis der Kontexte, die den Rahmen dafür abgeben, sowie die Entfaltung und Artikulation der vorhandenen Elemente. Wenig fruchtbare Kooperationen Im Rahmen einer Untersuchung über Forschende der Medien- und Kommunikationswissenschaften25 berichtet B. von einer mehrjährigen Kooperation (mit Ta-

24 European Communication Research and Education Association (ECREA), aber auch International Association for Media and Communication Research (IAMCR) oder International Communication Association (ICA). 25 Cordonnier, Sarah/Wagner, Hedwig (2013): Savoirs sur la communication, communication des savoirs. Circulation des connaissances, interculturalité et épistémologie

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gungen und Publikationen) zwischen Forschenden aus zwei Ländern, welche einen konkreten Gegenstand26 betraf, über den man sich, vordergründig betrachtet, einig war. Diese Erfahrung wird von ihm jedoch nicht positiv bewertet, sondern er gibt seine Frustration zu erkennen angesichts des oberflächlichen Charakters des Austauschs und seine Enttäuschung bezüglich der wissenschaftlichen Auffassungen (oder »wissenschaftlichen Gegenstände«, in der Terminologie von Davallon) seiner ausländischen Kollegen, die ihn irritieren. Da er zur Zusammenarbeit verpflichtet ist, weist B. nur kurz auf diese Diskrepanzen hin, ohne sie weiter zu vertiefen. Er kommt zu dem Schluss, dass »das Arbeiten mit ausländischen Kollegen jedenfalls kompliziert ist. […] Denn man muss viel Zeit investieren, man stößt auf Probleme der Finanzierung, man muss gemeinsame Themen finden, über die man sich verständigen kann. Das ist gar nicht so einfach.«

Wenn man die Laufbahn von B. betrachtet, so zeigt sich, dass dieses »Scheitern« aber nicht nur die Interaktionen mit seinen ausländischen Kollegen betrifft. Einerseits hat B. eine distanzierte Haltung zu seiner Disziplin (»Ich war immer ein bisschen am Rande«, »ich bin zufällig zur InfoCom gelangt, ohne dass mich dies besonders interessiert hätte – zumindest damals –, ich hatte den Eindruck, dass dies ein nicht genau definiertes Gebiet war, in dem man alles machen konnte«); andererseits hat diese Disziplin aber auch eine sehr marginale Stellung in der (nebenbei bemerkt, prestigereichen) akademischen Institution, in der B. Karriere gemacht hat: »in der [Universität] sind die Kommunikationswissenschaften, wenn man es auf einen knappen Nenner bringen will und auch etwas satirisch betrachtet, das fünfte Rad am Wagen«; »jedes Mal, wenn die Universität einen neuen Präsidenten erhält, müssen wir ihm unser Anliegen erneut vortragen, weil er uns nicht kennt«. Außerdem ist B., der entweder allein forscht oder in ad hoc Kooperationen mit gemeinsamer Methodik (oder »Forschungsgegenständen«, in der Terminologie von Davallon), Hauptsächlich besorgt um die soziale Anerkennung seiner Disziplin in seinem lokalen Arbeitsumfeld, was ihn mehr beschäftigt als deren kognitive Weiterentwicklung.

comparée (France et Allemagne). Rapport de recherche, Institut des Sciences de la Communication du CNRS (ISCC). 26 Davallon, Jean (2004): »Objet concret, objet scientifique, objet de recherche«, in: Hermès 38, S.30-37.

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Unvorteilhafte internationale Laufbahnen Die Etablierung eines »echten« internationalen Austausches kann sich in der beruflichen Laufbahn mancher Personen sogar unvorteilhaft auswirken. Das gilt beispielsweise für A., den wir im Rahmen derselben Untersuchung getroffen haben. A. hat mehrere Jahre lang in Frankreich gelebt, wo er bestimmte Theorien der Kommunikation entdeckt hat; er hat auch deren Urheber kennengelernt und hat damit begonnen, einige ihrer Werke ins Deutsche zu übersetzen und Einleitungen dazu zu verfassen. Jedoch hat er diese Einflüsse deutlich verringert, als er seine Habilitation in der deutschen Medienwissenschaft verfasste: »Ich musste mich ja mit der Habilitation auch auf ein nationales Forschungssystem einlassen und da unter Beweis stellen, dass ich in der Lage bin, auch in einem nationalen Kontext zu agieren.« Anders als B., der eine distanzierte Beziehung zu den Inhalten seiner Disziplin pflegt, fühlt A., der promovierte als »das Fachgebiet Medienwissenschaft noch nicht in dieser Form existierte« und der dabei bereits auf eine Reihe außeruniversitärer Berufserfahrungen zurückblicken konnte, sich verpflichtet, die Zugehörigkeit zu seiner Disziplin deutlich zu erkennen zu geben. Jedoch betont er, dass eine exakte Definition dieser Disziplin seines Erachtens nicht möglich ist: »Die deutsche Medienwissenschaft kann nur auf eine Entwicklung von 20 oder 25 Jahren zurückblicken. Was versteht man überhaupt darunter? Das Fachgebiet war bereits in den Neunzigerjahren stark fragmentiert.« Aus seiner heutigen Position als Professor der Medienwissenschaft heraus erklärt A.: »Da es in der Medienwissenschaft unterschiedliche Arten von Ausbildung gibt, ist es für Außenstehende schwierig, zu verstehen, worum es in diesem Fachgebiet überhaupt geht.« In der Performanz seiner wissenschaftlichen Arbeit achtet A. jedoch auf die nationale Kohärenz seiner Disziplin, deren Anerkennung die Voraussetzung für seine Berufung auf diesen Posten darstellte; erst anschließend konnte er sich offen zu den französischen Einflüssen in seinem Denken bekennen. Gewagte nationale Zuschreibungen von Denkweisen Am Ende eines integrierten deutsch-französischen Doppelstudienprogramms, im Laufe dessen sie drei Universitätssemester in Frankreich verbringt, verfasst L. eine Hausarbeit, in der sie eine »deutsche Diskursanalyse« verteidigt, die in jeder Hinsicht der »französischen« Diskursanalyse ähnelt, was zumindest für die Pra-

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xis in den beiden von ihr besuchten Universitäten gilt.27 Trotz meiner Bemerkungen zur Kompatibilität der Ansätze beim spezifisch von ihr behandelten Punkt gibt L. nicht nach: Ihre wiederholte Erfahrung der Unterschiede zwischen dem Studium in Frankreich und in Deutschland sowie paradoxerweise auch ihr Wunsch, eine wirklich interkulturelle Erfahrung zu machen, halten sie davon ab, die gemeinsame epistemologische Basis der von ihr verwendeten Theorien zu erkennen. Die Forschenden geben ihre Erfahrung wieder, indem sie diese mit anderen Aspekten ihres beruflichen und wissenschaftlichen Lebens verknüpfen (das national verankert ist). Die Studierenden stützen sich auf ähnliche interpretative Rahmen, um ihrem Aufenthalt im Ausland einen Sinn zu verleihen, jedoch haben sie noch keine beruflichen Einblicke und nur geringe wissenschaftliche Kenntnisse. Dies gewährt allerdings keineswegs den Studierenden eine größere »Freiheit«, noch ermöglicht es ihnen automatisch jene »Offenheit«, die von den Befürwortern der internationalen Mobilität der Studierenden gerne angeführt wird.28 Dies bietet jedoch der forschenden Person die Chance, aus einem anderen Blickwinkel die sowohl flexible als auch strukturierende Rolle der Disziplin zu untersuchen, die von den Personen je nach ihren Erfahrungen unterschiedlich interpretiert werden und die in Verbindung steht mit der Zirkulation des Wissens, aber auch mit den akademischen Einrichtungen und den verschiedenen Schulsystemen.29 Diese Fallstudie kann operational umgesetzt werden zur Erzielung von fruchtbareren internationalen Austauschverfahren, denn sie ermöglicht Fragestellungen auf der Basis erlebter Situationen sowie deren Beantwortung mit Hilfe der Werkzeuge der Medien- und Kommunikationswissenschaften: Wie und warum soll man Unterschiede identifizieren, sich mit diesen auseinandersetzen, sie zu schätzen und zu nutzen lernen? Und wie kann man die Gedankengänge identifizieren, die man teilt? Wie und warum kann man sich von der Alternative zwischen Irritation und Gleichgültigkeit befreien, erstere verstanden als Unwohlsein oder Ablehnung gegenüber »ausländischen« Konzepten, letztere gegenüber

27 Angermüller, Johannes (2007): »L’analyse du discours en Europe«, in: Simone Bonnafous/Malika Temmar (Hg.), L’analyse du discours en sciences humaines, Paris: Ophrys, S.9-23, hier S.17-18. 28 S. Cordonnier (2015). 29 Bourdieu, Pierre (1999): »The Social Conditions of the International Circulation of Ideas«, in: Richard Shusterman (Hg.), Bourdieu: A Critical Reader, Oxford, UK: Blackwell Publishers, S.220-228.

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Praktiken, die man als irrelevant erachtet, weil im (akademischen) nationalen Rahmen weder »importierbar« noch »evaluierbar«?

FAZIT Der Befund einer »Unzulänglichkeit der innereuropäischen Beziehungen auf der Ebene der Forschung« im Bereich der Informations- und Kommunikationswissenschaften30 ist keine Besonderheit, die nur diese Disziplin charakterisiert: Der internationale wissenschaftliche Austausch und die Entwicklung der internationalen akademischen Gemeinschaften sind weiterhin nur schwach ausgeprägt. So stellt beispielsweise Christine Musselin in einem Artikel, welcher den Titel »Towards a European academic labour market?«31 trägt, gleich zu Beginn fest, dass trotz der nationalen und europäischen Anreize zur Schaffung eines derartigen Marktes dieser bisher noch nicht realisiert werden konnte. Die Ergebnisse ihrer sozio-ökonomischen Untersuchung, welche sich mit den Verfahren zur Personalanwerbung beschäftigt, decken sich mit denen anderer Arbeiten soziologischen oder historischen Charakters,32 die sich darum bemühen, zu verstehen, auf welche Weise die »internationale Ideenzirkulation«33 behindert wird, vor allem durch die nationale Verwaltung von Forschung und Hochschulen. Diese Arbeiten zeugen vom allmählichen Erwerb eines Wissens über die internationale Zirkulation wissenschaftlicher Erkenntnisse und über die Operationen, die es ermöglichen, diese zu erfassen. Um die »nationalen Traditionen«34 zu identifizieren, diese miteinander zu vergleichen oder die gegenseitigen Einflüsse zu studieren, folgen die Forschungen meist einem disziplinären Ansatz: Dies gilt natürlich für die Problemstellung und die Werkzeuge der Untersuchung, aber auch zur Eingrenzung der zu untersuchenden Gegenstände. Jedoch werden in beiderlei Hinsicht (Problemstellung und Gegenstand) die Kommunikationswis-

30 Thema der internationalen Tagung »L’information-communication en Europe: perspectives nationales, transnationales ou comparatives« (Grenoble: Gresec, 2016). Angaben in FN 1 31 Musselin, Christine (2004): »Towards a European academic labour market? Some lessons drawn from empirical studies on academic mobility«, in: Higher Education 48, S.55-78. 32 Sapiro, Gisèle (Hg.) (2009): L’espace intellectuel en Europe: De la formation des États-nations à la mondialisation XIXe- XXIe siècle, Paris: La Découverte. 33 P. Bourdieu (1999). 34 J. Heilbron (2008).

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senschaften normalerweise außer Acht gelassen. Aufgrund ihrer bemerkenswerten Geschichte stellt diese Disziplin aber ein relevantes Untersuchungsgebiet dar und sie hat neuartige Untersuchungsmethoden entwickelt, um aus kommunikativer Perspektive die Art und Weise zu analysieren, wie das gelehrte Wissen einerseits durch die nationale Entwicklung der Disziplinen strukturiert wird und wie es andererseits auch Zuwachs erhält durch paradoxale Formen internationalen intellektuellen Austausches. Somit können die Medien- und Kommunikationswissenschaften einen Beitrag leisten zur Verbesserung der konzeptuellen und praktischen Rahmenbedingungen, welche die internationale Zirkulation des Wissens nachvollziehbar machen, im Dienst der Entwicklung und gemeinsamen Nutzung konkreter Epistemologien.

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Was ist Europäische Medienkultur? Oder wie Europa und Atlas Hand in Hand über den nullten Längengrad balancieren, sie Blumen pflückend, er den Globus schulternd 1 Sonja Neef

EINLEITUNG Zurecht mag man sich fragen, was das Fach der Europäischen Medienkultur ist. Als ausgewiesenes Lehr- und Forschungsgebiet der Fakultät Medien an der Bauhaus Universität in Weimar gehört es dem Fachbereich Medienkultur an, der aber seinerseits kein akademisches Fach im Sinne von »Disziplin« ist. Zwei Gründe sind hierfür anzuführen: Erstens hat die Medienkultur keinen Gegenstand, wie beispielsweise die Literaturwissenschaft, die sich mit literarischen Werken befasst. Vom Gegenstand her geht Medienkultur weit über das hinaus, was wir gemeinhin unter »den Medien« verstehen, schließt sie doch sämtliche ästhetische, historische und gesellschaftliche Ereignisse und Prozesse mit ein, die mit den Begriffen »Medien« und »Kultur« zusammenhängen. Und auch das attributive Adjektiv »Europäisch« macht den Forschungsgegenstand nicht griffi-

1

Eine englische Version dieses Artikels »M/Othering Europe. Or: how Europe and Atlas are Balancing Hand in Hand on the Prime Meridian – she Carrying the Alphabet, he Shouldering the Globe they are Walking on«, erschien 2007 in: Mieke Bal/Joanne Morra (Hg.), Acts of Translation. Special issue, Journal of Visual Culture 6 (1), S.5876. Die deutsche Erstveröffentlichung erschien 2004 im OPUS der Bauhaus-Universität Weimar https://doi.org/10.25643/bauhaus-universitaet.226. Die Herausgeberin dankt Martin Neef für die Veröffentlichungsrechte. Für weitere Publikationen von Sonja Neef, siehe: www.sonjaneef.de.

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ger, ist doch Europa ständig im Wandel – historisch, geographisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell. Medienkultur kann auch nicht – und das ist der zweite Grund – von einem bestimmten methodischen Verfahren aus gedacht werden, wie Kunstgeschichte oder Archäologie. Und doch, so möchte ich behaupten, gibt es sie, die »Europäische Medienkultur«, und zwar nicht nur institutionell in Form von europäischen Forschungs- und Lehrkooperationen, sondern auch – und davon soll dieser Artikel handeln – als »Fach«. Europäische Medienkultur, wie ich sie verstehe, konstituiert sich erst durch eine besondere Fragestellung, die im Kern interdisziplinär ist. Interdisziplinarität, so Roland Barthes, »besteht nicht darin, bereits bestehende Disziplinen miteinander zu konfrontieren [...]. Um etwas interdisziplinär anzugehen, reicht es nicht, einen Gegenstand (ein Thema) zu wählen, und zwei oder drei Disziplinen hinzuzuziehen. Interdisziplinarität besteht darin, einen neuen Gegenstand zu konstituieren, der zu keiner Disziplin gehört.2«

Europa denken; Europa neu denken, und zwar entlang der medienkulturellen Artikulationen und Unterschriften, derer sich Europa bedient, das ist das Ziel der Europäischen Medienkultur. Diesem »neuen Denken« möchte ich mich im Folgenden anhand eines Begriffspaares annähern, in dessen Dialog sich das Spielfeld der Europäischen Medienkultur austariert, bestehend aus 1. dem Begriff der Übersetzung, die wohl als Basisoperation jeglicher medienkultureller Aktivität angesehen werden kann, und 2. dem Begriff »Europa«.

2

»Interdisciplinary work, so much discussed these days, is not about confronting already constituted disciplines (none of which is willing to let itself go). To do something interdisciplinary it’s not enough to choose a ›subject‹ (a theme) and gather around it two or three sciences [=multidisziplinär]. Interdisciplinarity consists in creating a new object that belongs to no one.« Barthes, Roland (1972): »Jeunes Chercheurs.«, in: Communications 19(1), Paris.

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EUROPA UND DER STIER Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige. J. Derrida (2003): S.133

Seit dem frühen Altertum erzählt man sich die Sage von Europa, jener phönizischen Königstochter, die, als sie eines Tages mit ihren Gespielinnen am Strand ihrer Heimat Blumen pflückte, vom Göttervater Zeus erblickt wurde. Von ihrer Anmut entzückt, entbrannte dieser in Liebe. Um sich ihr zu nähern, verwandelte er sich in einen herrlichen Stier und täuschte so die Europa. Sie kam, um das zahme Tier zu streicheln und zu liebkosen, seine Hörner mit Blumen zu schmücken, bis sie sich schließlich traute, sich auf seinen Rücken zu setzen. Woraufhin der Stier aufsprang und die Prinzessin übers Meer nach Kreta trug, also von Asien nach Europa hinüber. Dort verband er sich mit ihr. Dann vermählte er sie dem Kreterkönig Asterios. Sie gebar drei Söhne und gab dem Kontinent ihren Namen. Für eine Reflexion über den Begriff der Übersetzung liefert der Mythos von Europa reichhaltiges Material. Erstens, weil allein schon die Gattung der Sage selbst auf dem Prinzip der Übersetzung aufbaut. Im Prozess seiner Überlieferung ist der Mythos Europa unzählige Male übersetzt worden: vom Mündlichen ins Schriftliche, von einer literarischen Ausformulierung in eine andere, von der Mythographie in die Historiographie, vom Altgriechischen ins Lateinische und von dort in sämtliche moderne Sprachen Europas, vielmals auch ins Visu4 elle auf Vasen, Reliefs, Fresken, Gemälde, Kollagen und Installationen. In diesem chambre d’echos gibt es nicht die eine wahre Europa-Geschichte, denn keine ist einer anderen vorzuziehen; es gibt nicht das eine Original, das eine

3

Derrida, Jacques (2003): Die Einsprachigkeit des Anderen, München: Fink.

4

Eine Internet-Recherche in Google liefert unzählige Treffer für Europa-Bilder. Literarische Ausformulierungen von der frühen Antike bis zur Gegenwart finden sich versammelt in Renger, Almut-Barbara (Hg.) (2003): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig: Reclam, visuelle Interpretationen im von Siegfried Salzmann herausgegebenen Ausstellungskatalog: Salzmann, Siegfried (Hg.) (1988): Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation. (Ausstellungskatalog Kunsthalle Bremen und Wissenschaftszentrum Bonn. Bonn: Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute e.V.).

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Reihe von Übersetzungen nach sich zieht. Anders gesagt: die Übersetzungen selbst bilden erst den Mythos, konstituieren ihn sozusagen nachträglich. Darüber hinaus ist auch der Stoff, der im Mythos verhandelt wird, dem Begriff der Übersetzung hochgradig verpflichtet, trägt – überträgt, transfert – doch der Stier die Prinzessin von der Heimat in die Fremde hinüber. Je nach Erzählvariante wird das fremde Land mal als befreundet, mal als verfeindet dargestellt, und entsprechend wird auch die ›Migration‹ der Europa unterschiedlich inszeniert, nämlich als Verschleppung im Sinne der im Zuge der persischen Kriege gängigen Praxis des Frauenraubs (wie Io), gelegentlich aber auch als Verführung und Erfüllung einer tiefen Sehnsucht nach dem Anderen, dem Fremden. Der Zug dieser Reise führt bezeichnenderweise von Ost nach West, als wären die historischen Konflikte zwischen Orient und Okzident, Ost und West – Kubakrise und Mauerbau sowie der Schrecken des 11. September – apodiktisch im Mythos eingeplant. (Abbildung 1)

Abb. 1.: Johannes Grützke. »Europa auf dem Stier, auf der Mauer balancierend« (In: S. Salzmann (1988): S.309) Entwurf von Johannes Grützke für ein Fresko an der Giebelwand am Grenzübergang Friedrichstraße 44, auch bekannt als Checkpoint Charlie, aus dem Jahre 1978

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In diesem Beitrag wird es mir nicht darauf ankommen, den Europa-Mythos auf einen im Akt des Übersetzens konstruierten teleologischen Status zuzutreiben, denn ein so erzeugtes spiegelbildliches Original kann doch nur vorläufig sein, da der Prozess des Übersetzens es immer in der Bewegung des Aufschubs belässt: transferre, deferre. Vielmehr besteht mein Anliegen darin, die Brüche unter die Lupe zu nehmen, die sich bei jeder weiteren Europa-Inszenierung einstellen, insbesondere wenn mit der Übersetzung auch eine mediale Umschrift einhergeht. Den Europa-Begriff entlang seiner Übersetzungen im oben genannten Sinne zu denken – nämlich sowohl als ein Verfahren intermedialer Überlieferungen und Transkriptionen eines aufgeschobenen Originals als auch als durchaus physisch zu verstehende Bewegung einer Migration zwischen Heimat und Fremde – ist das zentrale Ziel dieses Beitrags. Diesem Ziel möchte ich mich anhand von drei kulturellen Gegenständen annähern, die in verschiedenen medialen Modi am Europa-Begriff arbeiten, und zwar 1.) mythographisch in der Variante des Epyllions von Moschos, 2.) kartographisch anhand des Nullmeridians und 3.) graphisch anhand von Tiepolos Fresken im Treppenhaus der Fürstbischöflichen Residenz in Würzburg. Eine Sage, ein kartographisches Element und ein architektonisches Gemälde, sie alle verstehe ich als medienkulturelle Übersetzungen Europas, die mir als theoretische Objekte im Sinne von Mieke Bals Kulturanalyse dienen sollen, nämlich als kulturelle Gegenstände, die nicht nur stumm zur Schau gestellt werden, sondern selber über eine beachtliche »epistemic authority« verfügen.5

)2,1,.$67$ (8523+- PHÖNIX: EUROPA Man spricht immer nur eine einzige Sprache. Man spricht niemals eine einzige Sprache. J. Derrida (2003): S.19

Wer Europa war, in welchem Land und in welcher Sprache sie zu Hause war, welche Staatsbürgerschaft und welche kulturelle Identität sie mitbrachte, als der Stier sie forttrug, bleibt in der Polyphonie des Mythos vage. Gewöhnlich gilt sie als Tochter von Telephassa und Agenor, König von Sidon oder Tyros; bei Hesiod sind Okeanos und Tethys die Eltern, und gelegentlich wird Parthenope als

5

Bal, Mieke (1999): »Introduction«, in: Mieke Bal/Hent de Vries (Hg.), The Practice of Cultural Analysis, Stanford: UP, S.1-14, hier S.6.

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Mutter angeführt.6 Die späteren Inszenierungen der blumenpflückenden Europa gehen oft auf Moschos zurück, der Europa als Tochter des Phönix ausgibt. Insgesamt erscheint Europa als eine Erzählfigur mit vielen Gesichtern, und die Verwirrungen ihrer genetischen Herkunft steuern sich entlang der Genealogie der Texte. Aber auch wenn es nicht so etwas wie eine eindeutige Identität Europas auszumachen gibt (oder gerade deswegen), einen Namen, einen unverwechselbaren Fingerabdruck, eine ursprüngliche Unterschrift, möchte ich den Begriff der Identität in meine Überlegungen zu den Operationsweisen des Übersetzens einbeziehen. Denn wenn eine Übersetzung auch nicht unbedingt vom Original ausgeht, so hat sie doch so etwas wie einen Ausgangspunkt, ein Identitätszeichen, ein Signum oder eine Signatur, die es dem Anderen zu erklären oder zu übersetzen gilt. Wie sich eine solche Signatur zur Idee eines Originals verhält und wie sie für die gleitende Figur Europas ausgesehen haben mag, möchte ich im Folgenden anhand des erzählten settings diskutieren, das Moschos in seinem Epyllion (2. Jh.v.Chr.) bereitstellt. In diesen Versen gibt es eine signifikante Stelle, in der Moschos beschreibt, wie Europa, als sie sich mit ihren Begleiterinnen auf der Blumenwiese am Strand dem Stier näherte, folgende Worte sprach (ich folge der Übersetzung von Winfried Bühler):7

6

Einen umfänglichen Überblick vermittelt Bergers »Europa«-Artikel: Berger, Ernst Hugo (1993(1909)): »Europa«, in: Georg Wissowa (Hg.) unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen, Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Band 6, Stuttgart: Metzler, sowie Bühler, Winfried (1960): Die Europa des Moschos. Text, Übersetzung und Kommentar. Wiesbaden: Steiner (=Hermes Einzelschriften Klassische Philologie 13), S.1-29.

7

Bühler rechtfertigt seine Übersetzung wie folgt: »Die Übersetzung erhebt nicht den Anspruch, die sprachliche Wirkung des Originals wiederzugeben, sondern soll lediglich zeigen, wie der Text verstanden worden ist.« Diese Behauptung, ohne jeden Zweifel zu wissen, wie der Text in einer historisch fremden Kultur verstanden worden ist, skizziert im Grunde genau die Art von »Projektion« auf den Anderen, die Gegenstand dieses Beitrags ist. Da Bühlers Übersetzung aber über diese fragliche Vorbemerkung hinaus ein wahrhaftiges Meisterwerk an philologischer Detailarbeit leistet, möchte ich sie unbedingt den bis heute prominenten Übersetzungen der deutschen Romantik vorziehen, der final »eindeutschenden« eines Gustav Schwab wie der eines Eduard Möricke, der die »sprachliche Wirkung des Originals« dadurch nachzuempfinden versucht, dass er die griechische Grammatik im Deutschen transparent macht und nur die Wörter selbst übersetzt. Auch Benjamin (Benjamin, Walter (1972) (1923): »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser

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»Kommt her, ihr lieben Freundinnen ..., daß wir uns daran erfreuen, diesen Stier zu besteigen! Denn er hat seinen Rücken niedergestreckt und wird uns alle aufnehmen, so mild, sanft anzuschauen und lieblich ist er; und er gleicht nicht den anderen Stieren, sondern ein freundlicher Sinn, wie der eines Menschen, umgibt ihn; es fehlt ihm nur die Sprache.«8

Als freundlich und verständig, fast schon wie ein Mensch, charakterisiert Europa den Stier. Da ihm aber doch die Sprache fehlt, richtet sie ihre Rede nicht an ihn, sondern – in ihrer eigenen Muttersprache – an ihre Gefährtinnen. Der Stier selbst bleibt vorerst stummes Objekt ihres Sprechakts. Obwohl sie doch indirekt auch ihm zuspricht. Auf dem Meer dann redet sie den Stier direkt an: »Wohin bringst du mich, Gottstier? Wer bist du? ... Bist du etwa ein Gott?« (Vers 135; 140), und zwar abermals in einer Art muttersprachigem Monolinguismus, der dem seltsamen Fremden, dem Tier, eigentlich fremd sein müsste, aber dennoch von ihm verstanden wird. Das sich hier vollziehende Übersetzungswunder erinnert an das biblische Pfingsten, als die feurigen Zungen die Aposteln dazu befähigen, der polyglotten Bevölkerung der Vielvölkerstadt Jerusalem in den ihnen eigenen Sprachen zuzusprechen, wobei sie trotz ihrer Anderssprachigkeit von ihnen verstanden werden.9 (Apg. 2, 1-14) Hier drängt sich Benjamins Begriff von Übersetzung auf. Denn für Benjamin sind die Sprachen einander nicht fremd, was er ausdrücklich nicht auf historische Sprachverwandtschaften zurückführt, sondern darauf, dass in

(Hg.), Tillman Rexroth (Hg. Band IV.1), Gesammelte Schriften/Walter Benjamin unter Mittwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.17) beklagt sich mit Bezug auf Hölderlins Sophokles-Übersetzungen über die »monströsen Beispiele der Wörtlichkeit«: »Gar die Wörtlichkeit hinsichtlich der Syntax wirft jede Sinneswiedergabe vollends über den Haufen und droht geradenwegs ins Unverständliche zu führen.« 8

Moschos, Vers 102-107, zit.n. W. Bühler (1960): S.39.

9

Die biblische Idee eines Universalübersetzers liegt auch jenem Gerät zugrunde, das in der Science-Fiction-Fernsehserie Star Trek das Besatzungsmitglied +Hoschi im Raumschiff Enterprise zur Kommunikation mit Klingonen und anderen‚ ›aliens‹ verwendet, dessen Funktion ähnlich wie beim Pfingstwunder darin besteht, die Rede des anderen final zu chiffrieren, ohne sich umständlich auf seine Fremdartigkeit einzulassen.

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»jeder [Sprache] als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache.«10

Benjamin entfaltet die Vorstellung von einer Art universellen Einsprachigkeit, die sich nicht aus der Summe idiomatischer Vokabulare und Grammatiken ergibt, sondern aus dem Drang des Sprechen-Wollens der einzelnen Sprachen. Eine so gedachte »reine Sprache« bedarf keiner anderen Sprache und keiner Übersetzung, sie zu verstehen bleibt aber den Sterblichen versagt. Im Gespräch zwischen Europa und dem Göttervater Zeus mag der performative Sprechakt dieses Übersetzungswunders geglückt sein. 11 In der Diaspora dagegen wird die phönizische Prinzessin zur Gemahlin des kretischen Königs, und als solche wird sie sich den Widrigkeiten irdischer Kommunikation ausgesetzt gesehen haben, die ständig Gefahr läuft zu scheitern. Dem Vaterland fern wird ihre Muttersprache zudem zur Fremdsprache geworden sein, zur Sprache der Anderen, der Einwanderin, des Gastes oder der Exilierten, bis sie ihr schließlich selbst fremd war. Und auch die Schrift, in der sie unterschrieb, als sie die Übersiedlung beglaubigte und dem Kontinent ihren Namen gab, mag Spuren der Migration aufgewiesen haben. Anders als Benjamin, der jegliche sprachhistorische Argumentationsweise für eine Ausformulierung des Übersetzungsbegriffs zurückweist, möchte ich gerade – allerdings ohne deterministische Ansprüche zu erheben und in diesem Punkt somit auch nicht ganz ohne sein Einverständnis – darauf hinweisen, dass die phönizische Schrift aus linguistischer Sicht zu den ersten nicht-bildhaften, stabilen und abstrakten Alphabet-

10 W. Benjamin (1972): S.14. 11 Der Performativitätsbegriff hat seine erste Hochkonjunktur in der Ethnologie des 19. Jahrhunderts und dient von da an der Beschreibung von singulären Ereignissen wie Riten, Festen, Theater- und anderen Aufführungen, also kulturellen Szenen, die mit einem traditionellen Textbegriff nicht adäquat zu erfassen sind. Eine Neudefinition erfährt der Begriff bei John L. Austin, der die Kategorie sogenannter performativer Verben zur Bestimmung eines spezifischen Typs von Sprechakten prägt, die im Moment ihrer Artikulation zugleich eine Handlung vollziehen. Dem Ereignis-Charakter des Performativitätsbegriffs hat Jacques Derrida sodann in »Signatur Ereignis Kontext« die paradoxe Idee einer iterablen Singularität abgewonnen, indem er am Beispiel der Signatur auf die Zitierbarkeit oder die Wiederholbarkeit des einzigartigen Ereignisses insistiert.

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schriften überhaupt gezählt wird. Diese Schrift hatte nur einen »Mangel«: da sie eine reine Konsonantenschrift war, fehlten ihr die Vokalbuchstaben. 12 Denkbar wäre also, dass es Europa war, die die Leerstellen zwischen den phönizischen Konsonantenbuchstaben ihres Heimatlandes, ... Resh ... Peh ... mit den aus dem Semitischen stammenden Vokalbuchstaben Heh Vav ... Ayin ... Het füllte.13 Mit dieser Kreolisierung mag sie die ohnehin durchlässigen Grenzziehungen zwischen den phönizischen und semitischen Schriften endgültig verwirrt und mit der so entstandenen, nunmehr griechischen Unterschrift: IRLQLNDVWDHXURSK (sie, die mit phönizischen Buchstaben schreibt: Europa) die Initialzündung zum erfolgreichsten Alphabet des Kontinents gegeben haben.14 Mythographie und Historiographie erweisen sich hier wie so oft als joined discourses, denn aus sprachhistorischer Sicht wird in der Tat angenommen, dass das Prinzip der Buchstabenschrift – wie Europa selbst – von Phönizien nach Griechenland wanderte und dass genau jene Übersetzung als Geburtsstunde der modernen westlichen Alphabetschriften anzusehen ist.15

12 Vgl. Coulmas, Florian (1989): Writing Systems of the World. Oxford: Basil Blackwell, S.164; Haarmann, Harald (1991): Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/ New York: Campus, S.288. 13 Freilich ist diese strikte Zuteilung der Buchstaben in zwei Parallelschriften hier pseudo-mythographisch zugespitzt. Schließlich geht es mir in diesem Beitrag nicht darum, Europa und ihre Insignien einem ursprünglichen Ursprung zuzuordnen, sondern es kommt mir gerade darauf an, die Aufschubbewegung und die Durchdringung durch den Anderen nachzuzeichnen. Für eine genaue Erörterung des Verhältnisses zwischen den phönizischen und semitischen Schriften verweise ich auf die monumentale Universalgeschichte der Schrift von H. Haarmann (1991): S.278,288. Die Entwicklung der hier erwähnten einzelnen Buchstabenzeichen ist systematisch dargestellt in Ouaknin, Marc-Alain (1999): Mysteries of the Alphabet. The Origins of Writing, transl. by Josephine Bacon. New York/London/Paris: Abbeville Press: Heh 158, Vav 170, Resh 299, Ayin 264-267, Peh 277-278, Het 192. 14 Haarmann führt den Ausdruck »IRLQLNDVWD9« auf eine kretische Inschrift aus dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. zurück: »Dort wird als Titel für eine Person, der die Stadtkanzlei untersteht, der Ausdruck »IRLQLNDVWD9« erwähnt, was soviel bedeutet wie derjenige, der mit phönizischen Buchstaben schreibt.« H. Haarmann (1991): S.284. 15 F. Coulmas (1989): S.141; H. Haarmann (1991), S.278-282. Haarmann (S.271) legt dar, dass auch Herodot (Historien) die griechischen Buchstaben nach ihrer phönizischen Herkunft als »Phoinikéia grammata« (V.58) bezeichnet. An anderer Stelle spreche Herodot sogar wörtlich von »Kadméia grammata« (V.59), womit er den Prozess

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Für diese neue Schrift wäre schließlich noch zu überlegen, in welche Richtung Europa sie wohl geschrieben haben mag. In der Schriftgeschichte wird angenommen, dass der Schriftfluss der phönizischen Schrift sinistrograd verlief, also von rechts nach links, entsprechend Europas Reiserichtung der untergehenden Sonne entgegen. Schon dieser linksläufigen phönizischen Schrift soll aber auch ein rechtes Moment innegewohnt haben, denn die Buchstaben wurden konträr zur Schreibrichtung von links nach rechts, also dextral, produziert.16 Diese in sich gegensinnige (sinistrograd-dextrale) phönizische Schreibrichtung soll von den Griechen zunächst übernommen worden sein. Paläontologen berichten aber auch von solchen Inschriften, die innerhalb desselben Textes abwechselnd links- und rechtsläufig in der sogenannten Bustrophedonform geschrieben sind, also in der Art, »wie die Furchen des Ackers gezogen werden«.17 Bemerkenswert ist, dass die Buchstaben dabei ihre »Blickrichtung« von Zeile zu Zeile ändern,18 als wollten sie sich dem Diktum eines abendländischen kulturellen Koordinatensystems entziehen, das künftig den Links-RechtsDualismus zu seiner zentralen Semantik machen sollte: dort wird man fortan zur rechten Hand Gottes sitzen, mit rechts grüßen und schwören, und alles Linke und insbesondere die linke Hand wird, gerade wenn es ums Schreiben geht, als linkisch, sinister, maladroit, gauche, queer, awkward gelten; sie zu benutzen wird die abendländische Pädagogik denn auch mithilfe von strengen Benimmregeln zu exorzieren versuchen.19

ihrer Übertragung auf den Europa-Mythos zurückführt, nämlich auf jenen Erzählstrang, der davon handelt, dass Europas Bruder Kadmos aus Phönizien loszieht, die verschollene Schwester zu suchen. 16 Wiebelt, Alexandra (2004): Symmetrie bei Schriftsystemen. Ein Lesbarkeitsproblem, Tübingen: Niemeyer (=Linguistische Arbeiten 488), S.51. 17 Faulmann, Carl (1990(1880)): Das Buch der Schrift. enthaltend die Schriftzeichen und Alphabete aller Zeiten und aller Völker des Erdkreises, Frankfurt a.M.: Eichborn, S.167. 18 A. Wiebelt (2004): S.51. 19 Für eine wunderbar reiche Kulturkritik des Links-Rechts-Dualismus verweise ich auf: Sofri, Adriano (1998): Der Knoten und der Nagel: Ein Buch zur linken Hand. Frankfurt a.M.: Eichborn. Die Rechts-Autorität der Schrift und ihre Verzahnung mit einer binär strukturierten abendländischen Kultursemantik habe ich in »The W/Ri(gh)ting Hand. Leonardo da Vinci as Screen Saver« detailliert erörtert. Siehe: Neef, Sonja (2003): »The W/Ri(gh)ting Hand. Leonardo da Vinci as Screen Saver«, in: Nancy Pedri (Hg.), Travelling Concepts III: Memory, Image, Narrative, Amsterdam: ASCA, S.341-355. In Bezug auf die Prädominanz des Rechten verweise ich auch auf Derri-

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Europas Unterschrift, wenn sie so gedacht wird, bleibt unentschieden – in der Komposition ihrer Buchstaben wie in ihren gegenläufigen und zudem in sich widersinnigen Schreibrichtungen. Sie erweist sich auch niemals als eine erste oder endgültige Signatur, sie erzeugt kein Original, von der sich alle nachfolgenden Signaturen ableiten und die als Maßstab für deren Echtheit gelten könnte. Vielmehr tariert sie im singulären Akt des Unterzeichnens ihre möglichen Spielarten aus, der – und ich folge hier Jacques Derridas legendärem »Signatur Ereignis Kontext« – auch wenn er jeweils einzigartig ist, immer auch nachgemacht ist: singuläre Iterabilität, iterable Singularität. In ihrer Unterschrift inszeniert Europa sich als niemals identisch mit sich selbst und als in sich nicht-heimisch: »IRLQLNDVWDHXURSK«: sie, die auf Griechisch – in phönizischen Buchstaben – zeichnet. Diese aus Europas Migration hervorgegangene neue Schrift möchte ich dann aber nicht in Korrelation zu Benjamins »reiner Sprache« verstehen – gereinigt von der idiotischen und einfältigen Idiomatik der Einsprachigkeit, vom Mangel an Vokal- beziehungsweise Konsonantenbuchstaben – sondern die neue Schrift trägt als eine Art phönizisch-semitisches Kreol immer auch den durch den Mangel hervorgerufenen Bruch in sich, einen Bruch, den man mit Abdelkebir Khatibi auch als »aktive Teilung«20 bezeichnen könnte: »Wenn es ... die Sprache nicht gibt, wenn es keine absolute Einsprachigkeit gibt, dann bleibt einzukreisen, was eine Muttersprache in ihrer aktiven Teilung ist und was zwischen dieser Sprache und der sogenannten Fremdsprache übertragen/aufgepfropft wird. Was dabei übertragen/aufgepfropft wird und was dabei verloren geht, wobei es weder der einen noch der anderen zugutekommt: das Nichtmitteilbare.«21

»Nicht-Mitteilbar« ist in diesem Diskurs, den ich hier in Zusammenhang mit Jacques Derridas Einlassungen zur Einsprachigkeit des Anderen einführen möchte, weniger das von Benjamin gemeinte nicht-übersetzbare »Wesentli-

da’s Einlassungen zur »Hand Heideggers« (Derrida, Jacques (1988): Die Hand Heideggers, in: Peter Engelmann (Hg.), aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen, S.80). Derrida bemerkt, dass wenn Heidegger immer im Singular von der »Hand« des Menschen spreche, und wenn er betone, die Hand sei nicht »leibliches Greiforgan« (S.65), sondern »[a]lles Werk der Hand beruht im Denken« (S.69), dann meine er damit bestimmt nicht die linke, sondern die rechte Hand. Zitiert nach J. Derrida (1988). 20 Khatibi, Abdelkebir (1985): Du bilinguisme, Paris: Denoel, S.10. 21 Zitiert nach J. Derrida (2003): S.20, Hervorhebung SN.

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che, ... Unfassbare, Geheimnisvolle, ›Dichterische‹« des Originals.22 Vielmehr kommt das Nicht-Mitteilbare der Sprache bei Derrida vom Anderen her, der wie die Sprache selbst in seiner Fremdheit nicht-aneigenbar23 und unbeherrschbar bleibt. Europas Sprache gehört ihr nicht, und auch ihre Söhne haben – wie Wetzel es in seinem Nachwort zu Derridas Einsprachigkeit des Anderen formuliert – keinen »genealogischen oder autochthonen Anspruch«24 auf sie. Denn die Muttersprache kommt, auch wenn sie von der Mutter kommt, immer vom anderen her, der sich mitteilt im besagten Bindestrich zwischen semitischphönizisch, durch den Orient und Okzident zugleich verbunden wie gewaltsam getrennt werden. Dieser Binde- und/oder Trennstrich weist das Verfahren des Übersetzens als eine niemals endende Unentscheidbarkeit aus, die auch vor der Autorität der Schrift nicht Halt macht. Im Folgenden möchte ich einen solchen Strich denn auch in noch anderen als schriftlichen medialen Inszenierungen betrachten.

GEZEICHNET: EUROPA UND DER NULLMERIDIAN Herodot25 berichtet, wie Europas Vater seine Söhne losschickte, die entführte Tochter zu suchen. Ihre Fahrt führte sie nach Thera, Kadmos und Delphi, wo sie, da sie die Schwester nicht finden konnten, als Kolonisten neue Siedlungen gründeten. Die Erforschung und Eroberung des Erdteils durch jene und andere Seefahrer fand seine jeweilige räumliche Entsprechung in einer Reihe von antiken Weltbildern. Hatte sich die Geltung des Namens Europa bei Homer 26 auf das griechische Festland beschränkt, dehnte sie sich bald auf andere Gebiete des Mittelmeerraumes aus. Herodot27 teilte die damals bekannte Ökumene in drei Erdteile – Europa, Asien und Libyen. Der Horizont Europas wurde sodann durch die legendäre Nordlandfahrt des Pytheas von Massalia und eine Reihe anderer großer Entdeckungen bis zu den Küsten Islands und Norwegens erweitert, die Eratosthenes von Kyrene in einem neuen Weltbild kartographierte. An-

22 Ebd.: S.9. 23 »inassimilable« ebd.: S.46. 24 Wetzel, Michael (2003): »Alienationen. Jacques Derridas Dekonstruktion der Muttersprache«, in: Jacques Derrida. Die Einsprachigkeit des Anderen, München: Fink, S.141-154, hier S.147. 25 Herodot: »Historien.« 4, 147 26 Homer: »Ilias«, xiv.321-322 27 Herodot: »Historien« 4, 42

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lässlich der Feldzüge der Römer bekam Europa schließlich eine politische Kontur, die sich in Ptolemaios’ bedeutsamem Weltbild (abgeschlossen um 180 n. Chr.) niederschlug, worin die Grenzen Europas mit der Größe des Imperium Romanum übereinstimmen.28 Aus »der« Europa war »das« Europa geworden. Es zeichnet nicht mehr im griechischen, sondern vornehmlich im lateinischen Alphabet, und bezeichnet nicht mehr eine mythologische Figur, sondern einen Kontinent. Die auf Herodot zurückgehende Dreiteilung der bekannten Welt veränderte sich manchmal. So übertrug Poseidonios das Weltbild des Eratosthenes in einen kartographischen Grundriss der Ökumene, den er »durch Verbindung der größten Linien der Länge und Breite formte«, wobei »Europa das nordwestliche Dreieck« bildete.29 Diese antike Zonenlehre resultiert aus dem Bedürfnis nach einer Maßeinheit, nicht nur um die bekannte Welt zu kartographieren, sondern auch um die terra incognita zu erfassen und zum Heimatland zu positionieren. Hier zeichnet sich eine weitere Unterschrift Europas ab. Als Schrift vollzieht sie sich im Zug einer graphischen Linie, die weder phönizische, noch griechische oder lateinische Buchstaben bildet und die dennoch so etwas wie eine Signatur ist. Denn mit dem Duktus der schreibenden oder zeichnenden Hand, die die Ökumene in Zonen einteilt, in Nord und Süd, Ost und West, ereignet sich eine Handlung, die nicht bloße Re-Präsentation einer bereits vorhandenen Realität ist, sondern hier performiert sich Europa erst in der Geste des Zeichnens. Noch heute durchläuft eine solche Linie Europa. Als Messingstreifen ist sie in die Holzdielen von Meridian House auf dem Gelände der ehemaligen Königlichen Sternwarte im Londoner Stadtteil Greenwich eingraviert: der Nullmeridian der Welt, auf dem die Greenwich Mean Time basiert. Aus aller Herren Länder kommen Touristen hierher, um die Linie zu bestaunen. Unter Glas gelegt und von unten beleuchtet verläuft sie durch den Hof von Meridian House, macht auch vor den benachbarten Gebäuden nicht halt, setzt ihren Weg hier als Messingstreifen, dort als eine Kette roter Lämpchen fort, zieht als imaginäre Linie durch Greenwich und Großbritannien, durch den Kanal und das europä-

28 Treidler, Hans (1979): »Europa«, in: Konrat Ziegler/Walter Sontheimer (Hg.), Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter, München: Metzler, S.446-449, hier S.448-449. 29 E. H. Berger (1993(1909)): S.21-43.

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ische Festland, durch Meere und Ozeane hindurch, Afrika durchlaufend, am Mittelpunkt der Pole konvergierend.30

Abb. 2: Weltkarte aus Claudius Ptolemäus Cosmographia, um 150 n.Chr., in einer Ausgabe von 1482.

Wie der Äquator spaltet der nullte Längengrad den Globus in zwei gleich große Hemisphären. Die Breitenlinien gewinnen aber ihre Autorität aus einem natürlichen Umstand, zeichnet doch der Äquator den Zenit der Sonnenbahn, der Wendekreis des Krebses und der Wendekreis des Steinbocks die nördliche beziehungsweise südliche Grenze der Sonnenbahn innerhalb eines Jahres nach. Die Bestimmung des nullten Längengrads ist dagegen verhandelbar. So befand sich der Nullmeridian des Kartographen Ptolemäus, der um 150 n. Chr. den ersten umfänglichen Weltatlas entwarf, an der westlichen Grenze der damals bekannten

30 Sobel, Dava/Andrewes, William J.H. (1999): Längengrad. Die illustrierte Ausgabe. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste, aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork/Dirk Muelder, Berlin: Berlin Verlag (Kt 6053), S.203.

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Welt vor der Nordwestküste Afrikas bei den heutigen Kanarischen Inseln (Abb. 2).31 Als »Urmeridian« ist die Linie aber auch ein Politikum. Denn als einschlägige Maßeinheit zur Bestimmung von globalem Raum und globaler Zeit markiert sie buchstäblich die Mitte der Welt. Im Laufe der Zeit wurde sie denn auch von allen großen Zentren, von Rom, Kopenhagen, Jerusalem, St. Petersburg, Pisa, Paris und Philadelphia beansprucht, bis 1884 Greenwich offiziell zum internationalen Nullmeridian »erklärt« wurde.32 Gezeichnet ist diese Linie letztlich von der Hand einer Seemacht, die ihre Schiffe über die chronometrische »Uhr-Zeit« an Bord und den Stand der Sonne zur »Ur-Zeit« an diesem universell gültigen Vermessungspunkt positionierte und auch das ferne, fremde Land, das es zu entdecken, zu erobern galt, von – wo sonst – der Sternenwarte eines europäischen Königshauses aus vermaß, verrasterte und kartographierte. Grund genug für Joseph Conrads literarische Phantasie in seiner Erzählung The Secret Agent (1894), das Observatorium in Greenwich in die Luft zu jagen und mit ihm das »imperiale metropolitische Zentrum« im Herzen zu treffen. Der kartographische Atlas mit seinem modernen, eurozentrischen Weltbild kann kaum anders denn als Übersetzung des Mythos Europa verstanden werden. Ob in der winkelgetreuen Mercator-Projektion (1569), die die Länder am Äquator richtig, die Flächen in der Nähe der Pole vergrößert abbildet, ob in der bei der UNO als politisch korrekt geltenden flächengetreuen Peters-Projektion (1972), die Afrika und Südamerika mehr Platz zubilligt, oder in der vermittelnden Wagner-Projektion (1949), die bemüht ist, die Verzerrungen der rechteckigen Karten einigermaßen auszugleichen,33 getäuscht und geraubt wird das Land in jeder dieser visuellen Inszenierungen, da die kartographische Projektion die multidimensionale Landschaft des Globus in die Zweidimensionalität des Pa-

31 Ein eindrucksvolles Panorama über die Geschichte der Atlanten von den Frühformen bis zum Satellitenbildatlas liefert der von Hans Wolff herausgegebene Sammelban: Wolff, Hans (Hg.) (1995): Vierhundert Jahre Mercator. Vierhundert Jahre Atlas. »Die ganze Welt zwischen zwei Buchdeckeln.« Eine Geschichte der Atlanten, Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag. 32 D. Sobel/W. J. H. Andrews (1999): S.8-11. 33 Globale Trends. Daten zur Weltentwicklung (1991): Bonn/Düsseldorf: Stiftung Entwicklung und Frieden, S.19-37.

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piers bannt, oder – wie man Deleuzianisch sagen könnte – einfaltet.34 Mit derselben Autorität wie die Schrift vermitteln uns Karten, wo oben und unten, wo links und rechts ist. Dass die Ordnung dieses eurozentrischen Koordinatensystems auch unser politisches Handeln prägt, ist von den Theoretikern der radical geographers eingehend erörtert worden,35 und so kann man nicht umhin, jener kartographischen Verzerrung auch ein traumatisierendes Moment zuzuschreiben. Der Verlust, der entsteht, wenn der Welt ihre Tiefe amputiert wird, resultiert nicht nur aus dem unumgänglichen Mangel an Ikonizität, mit dem jeder Abbildungsversuch grundsätzlich zu tun hat, sondern er gleicht jenem Verlust der einen, der einzigen oder gar der eigenen Sprache als derjenigen des Anderen. So wie sich das Einfalten des Anderen auf der Trennlinie des nullten Längengrades als traumatischer Einbruch darstellt, als Anstrengung, das Fremde gewaltsam in ein final lesbares System zu übersetzen, so kann auch der Bindestrich in den Konjunktionen ost-west oder phönizisch-semitisch eben nicht nur als ganzmachender, heilender Vorgang einer harmonischen Sprachvermischung und Sprachverschmelzung verstanden werden, der ein vollständiges und mächtiges Alphabet als Inbegriff europäischer Hegemonie hervorbringt. Vielmehr markiert dieser Strich auch die Narbe einer Wunde, die das Fremde dem Heimischen zufügt – und umgekehrt. Denn die Falte, die entsteht, wenn die Welt in ihrer fremden Weite erfasst und kontrollierbar gemacht werden soll, schneidet von zwei Seiten, als Linie dazwischen bewirkt sie sowohl die Traumatisierung durch den Anderen als auch die Traumatisierung des Anderen/am Anderen. Genau dieses Fremdwerden des Eigenen – des eigenen Kontinents wie der eigenen Sprache – und zwar nicht nur in Hinblick auf eine harmonische Einsmachung, sondern auch und gerade in Hinblick auf die Verletzung, die das Anerkennen des Nichtheimischen im Heimischen mit sich bringt, möchte ich als die Basisoperation des Übersetzens verstehen.

34 Ich verweise auf Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1980): Mille Plateaux, Paris: Ed. De minuit; sowie auf Deleuze, Gilles (1996): Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 35 Dazu zählen u.a. Homi K. Bhabha, David Harvey, Doreen Massey, Gillian Rose, Edward Said.

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VERZEICHNET: EUROPA IN TIEPOLO’S TREPPENHAUS Die Sprache der Metropole war die Muttersprache, in Wahrheit jedoch das Surrogat einer Muttersprache (gibt es jemals etwas anderes?) als Sprache des anderen. J. Derrida (2003): S.73

Europas mediale Übersetzungen, die verbalen wie die visuellen, sind voller solcher Eurozentrismen. Sie beschränken sich nicht auf die Praxis der Kartographie, die ohnehin nie als isoliertes Medium existiert hat, da sie von ihren Anfängen an eine liaison mit der Malerei einging, der sie über Jahrhunderte hinweg treu blieb. So findet der nullte Längengrad mit seiner Logik einer Organisation des Raumes entlang eines Nullpunkts eine medienkulturelle Entsprechung, oder Übersetzung, in der figurativen Malerei. Die Idee eines Nullpunkts der Malerei gilt als Entdeckung des italienischen Architekten Brunelleschi im 15. Jahrhundert und meint eben jenen Punkt in perspektivischen Zeichnungen, auch als »Fluchtpunkt« bezeichnet, von wo aus die abgebildeten Gegenstände in die Ferne zu verschwinden scheinen. Hatte die Kartographie mit ihrem »panoramatischen Blickpunkt der Karte« schon lange eine Tradition in der Malerei geprägt, setzt sich im Bild der Renaissance ein weiterer, »perspektivischer Blickpunkt« durch.36 Der »Trick« dieses Nullpunkts besteht darin, der Betrachterin die Illusion einer dreidimensionalen Realität auf der zweidimensionalen Bildfläche zu vermitteln, indem sie der abgebildeten Welt gegenüber denselben Standort einnimmt wie vormals der Maler. Die Logik der Inszenierung basiert hier wie auf Europas Blumenwiese auf Täuschung, Tarnung und Trug. Die Idee des renaissancistischen Nullpunktes möchte ich im Folgenden anhand von Tiepolos berühmter Darstellung der Kontinente als Fresken im barocken Treppenhaus der Würzburger Residenz (1752) für meinen Europa-Begriff operationalisieren.

36 Buci-Glucksmann, Christine (1997): »Der kartographische Blick der Kunst. Beschreibung und Allegorie«, in: Paolo Bianchi/Sabine Folie (Hg.), Atlas Mapping. Künstler als Kartographen. Kartographie als Kunst, Austellungskatalog Offenes Kulturhaus Linz und Kunsthaus Bregenz/Magazin 4, Wien: Turia & Kant, S.55-65, hier S.59.

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Abb. 3: Giovanni Battista Tiepolo. Deckenfries »Europa« im Treppenhaus der Residenz zu Würzburg

Abbildung 3 zeigt einen Ausschnitt des Deckengewölbes im Treppenhaus, das die vier Erdteile in einem Gemälde vereint: im Zentrum der Himmel mit dem Sonnengott Apollo, auf dem Ostfries Afrika, auf dem Westfries Asien, im Norden Amerika und im Süden Europa. Worauf es mir bei diesem TreppenhausBesuch ankommt, ist der perspektivische Nullpunkt, von wo aus die Kontinente der Welt gesehen werden. Dieser Frage sind auch Alpers und Baxandall in Tiepolo und die Intelligenz der Malerei nachgegangen, in dem sie die optischen Bedingungen des Zugangs zu den Treppenhausfresken analysieren. 37

37 Dieses Buch ist in einigen Aspekten problematisch. Sowohl die Formulierung im Titel, die dem »Piktoralen« eine Intelligenz und eine Intention unterstellt, die nicht in einem Subjekt verortet sei, sowie auch die fortlaufende Behauptung, Tiepolos Bilder seien nicht-narrativ, hat Mieke Bal als Einladung zu einer kulturanalytischen Kritik aufgenommen (Bal, Mieke (2002): Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, S.270-283). Die Exper-

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Wie der aufgefaltete Globus hat auch der gewölbte Raum des Treppenhauses die Verzerrung als zentrales Problem, und – wie Alpers/Baxandall feststellen – »ebenso wie Mercators Kartenprojektion der Erdkugel zeigen [die tiepoloschen Landkarten] einen Blick, den niemand – nicht einmal Tiepolo – je gesehen hat.«38 Denn zu sehen sind immer nur Teilaufnahmen. Vom Blickwinkel des Besuchers aus betrachtet, der die untere Treppe des Treppenhauses hinaufgestiegen ist und nun auf dem Zwischenpodest steht, fällt der Blick geradeaus auf die Südseite des Deckenfrieses und trifft dort auf das Frontispiz: Europa. Dargestellt sind die europäischen Attribute: der Stier – das Pferd – Tempel, Kreuz und Bischofsstab, die für die Religion stehen – ferner die Gerätschaften des Krieges sowie die Gerätschaften der Künste: die Malerei links vor dem Stier, die Musiker weiter rechts hinten und der Bildhauer noch weiter rechts. 39 Sowohl die Komposition der Fresken als auch die Lichtverhältnisse und die architektonische Struktur des Treppenhauses, so Alpers und Baxandall, machen Europa zum privilegierten Ausgangspunkt für die Betrachtung der anderen Kontinente.40 Beim Betreten des Treppenhauses ist Europa »der erste der vier Erdteile, den man als ganzen aus einem unverkrampften Blickwinkel sieht, nämlich von dem Treppenabsatz am Wendepunkt der Treppe. Seine Anlage ist speziell auf diesen Blickwinkel ausgerichtet. Die Perspektive ... kommt hier zur Geltung. Und da [der Kontinent Europa] in diesem Maße spezifisch auf einen Blickwinkel zugeschnitten ist, unterscheidet er sich von den anderen drei Friesen, deren Wirkung im Hinblick auf einen Betrachter in Bewegung berechnet ist. Vielleicht soll man sich Europa gar nicht von der oberen Galerie aus ansehen, von der aus man Asien, Afrika und Amerika betrachtet. Wenn überhaupt, sollte man von Europa aus schauen. Kommt man vom Zwischenpodest auf die Galerie, so hat man von unterhalb Europas den ersten vollständigen Blick auf Asien, Afrika, und Amerika. Der einführende Charakter Europas reicht noch weiter. Selbst wenn man vom Südende der Galerie unterhalb der Friese entlanggeht, bleibt es weiterhin der eigentliche Blickpunkt ... Asien, Afrika, und Amerika sind in ihrer Beziehung zu Europa dargestellt. Europa ist die Titelzeile, der Schlüssel zum

tise dieses Buches als umfängliche Materialsammlung zu Tiepolo’s Arbeit bleibt dennoch ein beachtlicher und respektabler Beitrag. 38 Alpers, Svetlana/Baxandall, Michael (1996): Tiepolo und die Intelligenz der Malerei, aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Berlin: Reimer, S.110. 39 Ebd.: S.154. 40 Ebd.: S.115-117.

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Zugang ... Der vordergründige Bezugsrahmen ist Europa mit den anderen drei Erdteilen als Tributpflichtigen.«41

Das Spiel der Repräsentation, das sich dem Betrachter des Treppenhauses darbietet, gründet sich auf genau jene Logik eines Nullpunktes, der als idealer Ausgangspunkt der Betrachtung vorausgesetzt wird. Europa und die westliche Welt werden ganz selbstverständlich als primärer Blickpunkt der Perspektive gesetzt, von wo aus sich die anderen Kontinente als intrikate Komplikationen ableiten. Demjenigen Betrachter, der sich diesem Spiel widersetzt und etwa von Afrika aus zu Europa hinüberschaut, bieten sich die Kontinente in verzerrter Perspektive. Im Treppenhaus gibt es nur ein »richtiges« Weltbild: das – wörtlich – eurozentrische. Dennoch möchte ich nicht wie einst Conrad in Hinblick auf Greenwich dafür plädieren, Tiepolos Treppenhaus als »kolonialistisch-imperialistisches« Bauwerk in die Luft zu jagen. Die Komposition der Friese kann nämlich als ausgezeichnetes theoretisches Objekt für die Europäische Medienkultur fungieren, an dem sich auch der methodisch interdisziplinäre Mehrwert zeigt. Aus ihrer ursprünglichen Disziplin – der Kunstwissenschaft – herausgelöst und in eine andere Fragestellung eingerahmt, erweist sich die Komposition der Friese als »doppelt exponiert« im Sinne von Mieke Bal. Zur Schau gestellt wird hier das Objekt in gleichem Maße wie das Subjekt der Exposition, »which objectifies, exposes himself as much as the object; this makes the exposition an exposure of the self.«42 Erzählt wird demnach nicht nur eine Geschichte aus der Perspektive Europas, sondern auch über die Perspektive Europas, indem die Strategien und Mechanismen, derer die Rhetorik dieser Voranstellung bedarf, beobachtbar werden. Eine medienkulturelle Herangehensweise, wie sie mir vorschwebt, wird genau jenen Fixpunkt destabilisieren und diejenigen Europabilder anvisieren, die sich aus den problematischen, sekundären, den vormals ausgeschlossenen Standorten – von Asien und Afrika aus – ergeben. Der gerade Blick auf Europa wird sodann von den verzerrten komplementiert. Europa, aus der Bewegung heraus gesehen, stellt sich immer wieder neu dar. Die Aufgabe der Europäischen Medienkultur besteht nicht darin, die Verzerrung wegzurechnen, sondern darin, sie gerade zu ihrem zentralen Gegenstand zu machen. Aus der Bewegung heraus gesehen, erweist sich das gleitende, »neue« Europa als ein hybrider Ort.

41 Ebd.: S.154. 42 Bal, Mieke (1996): Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York: Routledge, S.2.

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Er konstituiert sich eben nicht unter Ausschluss der anderen, fremden Kontinente, sondern gerade durch sie und mit ihnen.

DIE MUTTER, DIE FREMDE Die Einsprachigkeit des Anderen [bedeutet auch,] daß man nur eine Sprache spricht – und daß man sie nicht hat. Man spricht von jeher nur eine Sprache – und sie ist auf asymmetrische Weise, so daß sie immer dem anderen zukommt, einem vom anderen her wiederkehrt, vom anderen bewahrt wird. Sie ist vom anderen gekommen, beim anderen geblieben und zum anderen zurückgekehrt. J. Derrida (2003): S.69

Schon Moschos’ Europa war dem Fremden gegenüber nicht völlig desinteressiert. Weniger bekannt an Moschos’ Gedicht ist sein Anfang, der von einem Traum handelt, den Europa am frühen Morgen in der Nacht vor ihrer Entführung träumte: »[E]s schien ihr, als stritten sich zwei Erdteile um sie, Asien und der gegenüberliegende; sie hatten die Gestalt von Frauen; die eine von ihnen sah aus wie eine Fremde, die andere glich einer Einheimischen, und (diese) klammerte sich fester an (sie als) ihr Kind, wobei sie sagte, sie hätte sie selbst geboren und aufgezogen. Die andere aber zog (das Mädchen) mit der Gewalt ihrer starken Hände (zu sich), ohne dass es sich sträubte, denn sie sagte, nach dem Willen des ... Zeus sei ihr Europa als Ehrengabe bestimmt.«43

Als Europa aus ihrem Traum erwachte, war sie lange stumm vor Schreck. Immer noch verwirrt von der Klarheit der Erscheinung der beiden Frauen sprach sie endlich verängstigt im Selbstgespräch:

43 Moschos, Vers 8-15, zitiert nach W. Bühler (1960): S.33.

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»Wer war die Fremde, die ich im Schlaf erblickte? Wie ergriff Sehnsucht nach ihr mein Herz, wie freundlich hat sie sich auch ihrerseits meiner angenommen und mich wie ihr eigenes Kind angesehen! Mögen mir nun die Götter den Traum zum Guten erfüllen!«44

Keine Freud’schen Tagesreste sind in diesem Traum dargestellt, sondern gemäß der Traumanalyse der Antike ein performativer Sprechakt der Götter an die Sterblichen: »es werde Schicksal!« Dieses Schicksal bricht zwar »mit Gewalt« auf Europa herein, aber sie sträubt sich nicht dagegen. Ganz im Gegenteil erweckt die Prophezeiung eine Sehnsucht in ihrem Herzen, und zwar nicht nach der biologischen, beheimatenden Mutter, sondern nach der anderen, der nicht-heimischen, nach dem Landstrich, der dem Kontinent Asien gegenüber liegt – wo immer das sein mag. Gleichwohl erscheint ihr diese verheißungsvolle Unbekannte als eine Mutter. Wie ein Keil treibt sich Europas Verlangen, ihr Heimweh nach dem NichtHeimischen, zwischen den traditionellen Konnex von Geburt und Blut – Boden – Heimat – Staatsbürgerschaft – Kultur – Sprache. Das Verständnis der Mutter, von der man nichts anderes sagen kann als »ich habe nur eine Mutter, eine einzige, einzigartige«, wird hier komplementiert von diesem anderen Satz »sie ist nicht die meine.« Die Mutter ist der Ursprung meiner Muttersprache – und – wie die Mutter gehört mir diese Sprache nicht. In dieser Spaltung wird eine Muttersprache beschworen, die entsprechend der Derrida’schen Vorstellung von Einsprachigkeit niemals »die eine Sprache des Selbstverständnisses«45 ist, sondern immer eine ursprünglich fremde. Europas Sehnsucht kann hier nicht anders denn als deutliches Symptom angesehen werden für das, was gemäß Derrida unter Übersetzung zu verstehen wäre, nämlich eine Alienation dessen, was gerade den höchsten Anspruch auf genealogische Identität erhebt: die Mutter selbst und mit ihr die Muttersprache. Genau dieses Anerkennen des Fremden im Eigenen wird in den postcolonial studies als Grundkonstituente für kulturelle Identität in der Sprache und darüber hinaus angenommen: eine Identität, die niemals abgeschlossen und rein, sondern immer hybrid, nämlich in Hinblick auf »den anderen« gedacht ist. Als exemplarische Figur für Hybridität versteht Robert Young in seiner Einleitung zu Postcolonial Desire den Nullmeridian. Seinen Begriff von Hybridität erklärt Young mit dem Bild eines Subjekts, das in Greenwich genau auf der Linie steht, mit einem Fuß in der westlichen, dem anderen in der östlichen Hemisphäre. Der kartographischen Logik zufolge reicht ein einziger Schritt nach

44 Vers 24-26, zitiert nach W. Bühler (1960): S.33. 45 M. Wetzel (2003): S.147.

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links aus, um dieses Subjekt als okzidental, ein Schritt nach rechts, um dieses Subjekt als orientalisch auszuweisen. So beginnt, was vormals als homogen westlich galt, sich mit dem »Anderen« zu durchmischen. Hybridität im Sinne von Young meint aber weniger eine Auflösung der vormaligen Gegensätze durch Assimilierung als vielmehr die Herausforderung, dass Europa mit der Festlegung des nullten Längengrades auf Greenwich auch anerkennt, dass die Totalität, Homogenität und Einheitlichkeit des Westens immer auch von der in Greenwich erzeugten Differenz gespalten ist. Wenn Einsprachigkeit als hybrid in diesem Sinne verstanden wird, dann hat die »Aufgabe des Übersetzens« nicht eine allenfalls touristische multi-kulti Annäherung an den Anderen zum Ziel, wie sie ebenfalls anhand des Nullmeridian als Plattform für Globetrotter und Hemisphärenbummler exemplifiziert werden kann. Die »dekonstruktive Alienation der Muttersprache« ist, so Wetzel, »nicht gleichzusetzen mit einem polyglotten Internationalismus oder mit Esperanto, sondern meint auch eine Pflege ›der Poetizität des Idioms‹ in seiner Differenz.«46 Hier kommen Derrida und Benjamin, wie sehr sie im Laufe dieses Beitrags auseinandergedriftet sind – als es um Benjamins Begriff der reinen Sprache und des Originals ging, dessen Wesentliches als unmitteilbar und unübersetzbar gilt – doch zusammen, denn die Arbeit des Übersetzens ist für beide immer auch eine Arbeit an der eigenen Sprache, an der Einsprachigkeit, die nicht nur fremd zu werden ist, sondern es gilt, wie Wetzel dezidiert betont, sie fremd zu »machen«. Europa, ob sie rittlings auf dem Rücken des Stieres mit den phönizischen Konsonantenbuchstaben in der Gürteltasche reitet, ob sie in den nullten Längengrad die terra incognita einfaltet oder in der Bewegung des Treppenhauses dahingleitet, Europa ist niemals ein Fixum, niemals nur west oder nur ost. Ob bei Moschos, in Greenwich oder in Tiepolos Treppenhaus, Europa ist niemals etwas, das problemlos mit sich selbst identisch ist. Als Ort ist sein »Hier« immer durchdrungen von einem »Dort«, das zwar in der Ferne liegt, aber dennoch in seine Mitte eingefaltet ist und in diesem unablässigen Entfalten und Einfalten der Ebenen den Anderen immer auch miteinschließt. Seine Falte oder sein Trennstrich gleicht jener Konzeption des weiblichen Geschlechts bei Luce Irigaray als eine sich selbst berührende Hautfalte, die gespalten und ganz, entzweit und eins, »immer gleichzeitig die Eine und die Andere«47 ist. Mit dem Unterschied, dass Europas Falte vor diesem Binären nicht Halt macht, sondern

46 Ebd.: S.154. 47 Irigaray, Luce (1979): Das Geschlecht das nicht eins ist, Berlin: Merve, S.224.

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ins Unendliche geht.48 Dieses Heimisch-Machen des Fremden und FremdMachen des Heimischen unter dem Vorbehalt ihrer jeweiligen Einsprachigkeit, das ist die Aufgabe des Übersetzens. Hand in Hand balancieren Europa und Atlas über den nullten Längengrad, er den Globus schulternd, sie Blumen pflückend.

LITERATUR Alpers, Svetlana/Baxandall, Michael (1996): Tiepolo und die Intelligenz der Malerei, aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Berlin: Reimer. Bal, Mieke (1996): Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York: Routledge. Bal, Mieke (1999): »Introduction«, in: Mieke Bal/Hent de Vries (Hg.), The Practice of Cultural Analysis, Stanford: UP, S.1-14. Bal, Mieke (2002): Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press. Barthes, Roland (1972): »Jeunes Chercheurs.«, in: Communications 19(1), Paris. Benjamin, Walter (1972) (1923): »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Tillman Rexroth (Hg. Band IV.1), Gesammelte Schriften/Walter Benjamin unter Mittwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Berger, Hugo Ernst (1993(1909)): »Europa«, in: Georg Wissowa (Hg.) unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen, Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Band 6, Stuttgart: Metzler. Buci-Glucksmann, Christine (1997): »Der kartographische Blick der Kunst. Beschreibung und Allegorie«, in: Paolo Bianchi/Sabine Folie (Hg.), Atlas Mapping. Künstler als Kartographen. Kartographie als Kunst, Austellungskatalog Offenes Kulturhaus Linz und Kunsthaus Bregenz/Magazin 4, Wien: Turia & Kant, S.55-65. Bühler, Winfried (1960): Die Europa des Moschos. Text, Übersetzung und Kommentar. Wiesbaden: Steiner (=Hermes Einzelschriften Klassische Philologie 13). Coulmas, Florian (1989): Writing Systems of the World. Oxford: Basil Blackwell.

48 Derrida spricht von einer »Falte«, die »in die Dissemination als Dissemination verwickelt wird.« (2003): S.48.

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Derrida, Jacques (1988): Die Hand Heideggers, in: Peter Engelmann (Hg.), aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen. Derrida, Jacques (2001): »Signatur Ereignis Kontext«, in: Peter Engelmann (Hg.), Limited Inc, aus dem Französischen von Werner Rappl unter Mitarbeit von Dagmar Travner, Wien: Passagen, S.15-45. Derrida, Jacques (2003): Die Einsprachigkeit des Anderen, München: Fink. Faulmann, Carl (1990(1880)): Das Buch der Schrift, enthaltend die Schriftzeichen und Alphabete aller Zeiten und aller Völker des Erdkreises, Frankfurt a.M.: Eichborn. Globale Trends. Daten zur Weltentwicklung (1991): Bonn/Düsseldorf: Stiftung Entwicklung und Frieden. Haarmann, Harald (1991): Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/New York: Campus. Irigaray, Luce (1979): Das Geschlecht das nicht eins ist, Berlin: Merve. Khatibi, Abdelkebir (1985): Du bilinguisme, Paris: Denoel. Moschos (1960 (2. Jh. v. Chr.)): »Europa«, in: Bühler, Winfried (1960): Die Europa des Moschos. Text, Übersetzung und Kommentar. Wiesbaden: Steiner (=Hermes Einzelschriften Klassische Philologie 13), S.32-43 (auch in Schwab, Gustav (1877): Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Nach seinen Dichtern und Erzählern, Gütersloh: Bertelsmann, S.26-33; sowie in Mörike, Eduard (1976): Werke und Briefe. Band 8, erster Teil, Stuttgart: Klett, S.158-162.) Neef, Sonja (2003): »The W/Ri(gh)ting Hand. Leonardo da Vinci as Screen Saver«, in: Nancy Pedri (Hg.), Travelling Concepts III: Memory, Image, Narrative, Amsterdam: ASCA, S. 341-355. Ouaknin, Marc-Alain (1999): Mysteries of the Alphabet. The Origins of Writing, transl. by Josephine Bacon, New York/London/Paris: Abbeville Press. Renger, Almut-Barbara (Hg.) (2003): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller, Leipzig: Reclam. Salzmann, Siegfried (Hg.) (1988): Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation. (Ausstellungskatalog Kunsthalle Bremen und Wissenschaftszentrum Bonn. Bonn: Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute e.V.). Sobel, Dava/Andrewes, William J.H. (1999): Längengrad. Die illustrierte Ausgabe. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste, aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork/Dirk Muelder, Berlin: Berlin Verlag (Kt 6053). Sofri, Adriano (1998): Der Knoten und der Nagel: Ein Buch zur linken Hand, Frankfurt a.M.: Eichborn.

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Treidler, Hans (1979): »Europa«, in: Konrad Ziegler/Walter Sontheimer (Hg.), Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter, München: Metzler, S.446-449. Wetzel, Michael (2003): »Alienationen. Jacques Derridas Dekonstruktion der Muttersprache«, in: Jacques Derrida. Die Einsprachigkeit des Anderen, München: Fink, S.141-154. Wiebelt, Alexandra (2004): Symmetrie bei Schriftsystemen. Ein Lesbarkeitsproblem, Tübingen: Niemeyer (=Linguistische Arbeiten 488). Wolff, Hans (Hg.) (1995): Vierhundert Jahre Mercator. Vierhundert Jahre Atlas. »Die ganze Welt zwischen zwei Buchdeckeln.« Eine Geschichte der Atlanten, Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag. Young, Robert J. C. (1990): Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race, London and New York: Routledge.

Europe Materializing? Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichte der europäischen Infrastrukturen Alexander Badenoch und Andreas Fickers 1

Nach einer Reihe gescheiterter Startversuche wurde kürzlich in Brüssel ein ›Museum of Europe‹ eröffnet, wenn auch als Sonderausstellung anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Römischen Verträge. Das Museum, das noch immer auf der Suche nach einem dauerhaften Sitz ist, dient der Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Identitätsgefühls durch ein europäisches Geschichtsnarrativ.2 Ein Teil der vorgeschlagenen Dauerausstellung des Museums ist einer Reihe animierter Karten gewidmet, von denen sich die letzte, die die europäische Geschichte nach 1945 repräsentiert, in einem Raum befindet, der einer Bahnhofswartehalle ähnelt. Die Besucher können eine sich verändernde Karte betrachten, die wie die ständig wechselnde Abfahrtstafel in einem großen europäi-

1

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine eigens für diesen Band angefertigte Übersetzung der um die Artikelcharakterisierung des Originalbandes gekürzten programmatischen Einleitung Introduction: Europe Materializing? Toward a Transnational History of European Infrastructures zum 2010 bei Palgrave erschienenen Sammelband von Alexander Badenoch und Andreas Fickers Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe. Die Herausgeberin bedankt sich bei den beiden Autoren und Herausgebern Alexander Badenoch und Andreas Fickers für die Übersetzungsgenehmigung, bei Palgrave für die Wiederabdruckerlaubnis, bei Viola Güse für die Übersetzung des Artikels und bei Scott Simpson für die Unterstützung schwierig zu übertragender Textpassagen.

2

Eine Beschreibung des Projekts ist auf der Website des Museums in seiner gegenwärtigen Form in Brüssel zu finden: http://www.expo-europe.be/en/site/musee/museeeurope-bruxelles vom 21.03. 2009.

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schen Bahnhof die ›Ankunft‹ der Nationen in Europa zeigt. »Nach den Jahrhunderten der Einheit durch den Glauben und den Jahrzehnten der Einheit durch die Aufklärung (dargestellt auf anderen Karten) entwickelt sich die Einheit durch das Projekt Jahr für Jahr, wie ein digitaler Zähler zeigt.«3 Während diese Erzählung der europäischen Geschichte bestenfalls fragwürdig ist, ist die Metapher des Zuges für das Projekt Europa keineswegs unpassend. 4 Sie ist sogar überaus treffend: Während sie eine optimistische Geschichte der stetigen Modernisierung untermauern soll, sind die Assoziationen zwischen Europa und den Netzwerken, insbesondere den Zügen, nicht so einfach zu vermitteln. Die Beobachter in diesem Wartezimmer könnten genauso gut an andere Züge und dunklere Seiten der europäischen Geschichte und Moderne erinnert werden: Die Züge, die nie ankamen, wie die Vorkriegs-Eisenbahn Berlin-Bagdad oder viele Abschnitte des deutsch-niederländischen Betuwe-Linienprojekts, die nie anhielten und bestimmte Städte und Orte von der Karte des ›europäischen‹ Fortschritts verließen, oder die Züge in der brutalen Maschinerie des Holocaust, die nie zurückkehrten. Darüber hinaus könnten die Besucher leicht das Gefühl haben, dass der mechanische Prozess des ohnmächtigen Beobachtens geradezu emblematisch für das ›Demokratiedefizit‹ der Europäischen Union steht. Es wäre in der Tat nicht das erste Mal, dass die EU mit einem führerlosen Zug assoziiert würde. Eine solche Symbolik voll bedeutungsträchtigen Schweigens und voller Mehrdeutigkeiten stößt auf so breite Resonanz, weil sie eine gesellschaftlich konsensfähige, wenn auch mehrdeutige, Realität widerspiegelt: Es gibt und gab menschengemachte materielle Verbindungen zwischen Nationen und über Grenzen hinweg in Europa, die den ›offiziellen‹ Prozessen der politischen und wirtschaftlichen Integration, die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen haben, vorhergingen, sie begleiteten oder darüber hinausgingen. Die starken und vielfältigen metaphorischen Resonanzen verweisen zugleich auf das Versprechen und die Probleme, die Geschichte dieser Verbindungstechnologien und ihre Rolle bei der Gestaltung der Räume, Institutionen und Erfahrungen Europas zu entwirren. Um es einfach auszudrücken: Es scheint offensichtlich, dass technologische Infrastrukturen mit Projekten der europäischen Einigung zusammenhängen, aber es ist bei weitem nicht klar, wie. In vielerlei Hinsicht sind technologische Infrastrukturen in der Tat die Essenz europäischer Integration. In materieller Hinsicht bilden sie die physische Grundlage für transnationale Ströme von Menschen, Waren und Dienstleistun-

3

Museum van Europa (Hg.) (2004): Museum of Europe, Brussels, S.28.

4

Kritik an diesem Narrativ findet sich in: Nederveen Pieterse, Jan (1991): »Fictions of Europe«, in: Race and Class 32(2), S.3-10; Shore, Chris (2000): Building Europe: The Cultural Politics of European Integration, London: Routledge, S.59-60.

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gen. Bereits mit dem Aufkommen von Eisenbahnen und Telegrafen im 19. Jahrhundert entstanden neue grenzübergreifende Netze in und über Europa hinaus, die die Erweiterung, Neuverhandlung und Veränderung der Beziehungen zwischen Nationen, Imperien und gesellschaftlichen Gruppen zur Folge hatte. Neben materiellen Strukturen wurde eine Reihe von Institutionen und Regimen gebildet, um diese aufzubauen und zu verwalten. Diese Gremien funktionierten über die nationale Ebene hinaus und etwas abseits offizieller Politik. 5 Gleichzeitig machte Technologie bei vielen Diplomat*innen und Politiker*innen einen wichtigen Teil des politischen Denkens aus.6 Viele wurden als europäische Institutionen definiert, entweder explizit durch ihre Namen und offiziellen Aufgaben (wie die United Nations Economic Commission for Europe) oder implizit durch ihre eigentlichen Tätigkeitsbereiche, wie die International Union of Railways oder die Alliance Internationale de Tourisme. Um zu verstehen, wie sich solche Institutionen und die von ihnen verwalteten Infrastrukturen durch Expertenwissen, Arbeitspraktiken und Visionen konstituiert haben, ist es wichtig, Infrastrukturen auf einer diskursiven Ebene zu verstehen. Insbesondere Diskurse und Konzepte des Internationalismus, die zunehmend mit Ideen der technologischen Modernisierung verwoben wurden, entwickelten sich zu einem gemeinsamen Merkmal solcher Expert*innengemeinschaften und bildeten eine Verbindung zwischen ihnen und breiteren Bewegungen für ein geeintes Europa. Über diese institutionellen Rahmenbedingungen hinaus, haben Infrastrukturen auch als Symbole die Sprache der europäischen Integration in mehreren Bereichen maßgeblich geprägt. Von den Elektrizitätssystemen in den 1920er Jahren über die Kohlezüge in den 1950er Jahren bis hin zu den Toren und Brücken auf Euro-Banknoten in diesem Jahrzehnt, wurden die Infrastrukturen weitreichend immer wieder als Symbole und Metaphern für umfassendere Formen der Modernisierung, Integration und Zusammenarbeit herangezogen.7 Gleichzeitig spielte und spielt die Rhetorik eines geeinten Europas, insbesondere in Kombination mit Fortschrittsnarrativen, eine wichtige Rolle beim Vorantreiben großer infrastruktureller Maßnahmen. Kurz gesagt, haben die ma-

5

Vgl. Iriye, Akira (2002): Global community. The role of international organisations in

6

Vgl. Zaidi, Waqar (2009): Science and Technology & Liberal Internationalism in

the making of the contemporary world, Berkeley: University of California Press. France, the United States and Great Britain, 1920-1945, PhD Thesis, Imperial College, London. 7

Vgl. Pemberton, Jo-Anne (2002): »New worlds for old: the League of Nations in the age of electricity«, in: Review of International Relations 28, S.311-336; C. Shore (2000): S.113-114.

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teriellen Infrastrukturen dazu beigetragen, zahlreiche Räume und Wege zu gestalten, in und auf denen sich die Menschen durch ›Europa‹ bewegt, darüber gesprochen und es erlebt haben. Infrastrukturen und Europa gemeinsam zu betrachten, bedeutet in erster Linie, materielle Infrastrukturen zur Entwicklung eines transnationalen Ansatzes für die europäische Geschichte zu nutzen, was den Historiker*innen des modernen Europas die unerforschten Dimensionen der europäischen Integration aufzeigt. Dieser Ansatz ermöglicht uns die empirische Untersuchung transnationaler Bewegung von Dingen, Menschen und Ideen, die im Mittelpunkt der meisten europäischen Projekte stehen. Auf diese Weise überprüfen wir erneut kritisch den Begriff ›Integration‹ und definieren ihn sinnvoll neu, um längerfristige Prozesse und eine breitere Palette von Institutionen einzubeziehen. Dies rückt eine Reihe von Akteur*innen, Institutionen und Foren ins Licht, die normalerweise nicht in der offiziellen Geschichte der Integration berücksichtigt werden. So ist eine historische Kontextualisierung der Rolle der Europäischen Union als einer Akteurin in einem größeren und längerfristigen Ensemble von Prozessen, die zur Integration – und Spaltung – der Gesellschaften in Europa beigetragen haben, möglich. Die Öffnung und Erforschung dieser Prozesse stellt eine Herausforderung der Agenda der Technikgeschichte dar, da sie deterministische Darstellungen der unhinterfragten Rolle der Technologie bei der Gestaltung der Gesellschaft in Frage stellen. In einer Zeit, in der technologische Projekte eine immer größere Rolle bei der Errichtung und Verwaltung europäischer Räume spielen, finden vereinfachte Geschichten über Technologie und Europa größeren Anklang denn je. Um die europäische Maßstabsebene in den Fokus zu rücken, baut dieser Ansatz auf den Erkenntnissen der transnationalen Geschichte auf und zeigt zudem sehr produktiv die Grenzen in Bezug auf Nationalisierungs- und Globalisierungsrahmen sowie stärker lokalisierte Rahmen der Stadtgeschichte auf, die bisher historische Infrastrukturforschung dominiert haben. Während Untersuchungen auf nationaler Ebene zu Recht die Rolle der Infrastrukturen bei der Nationalstaatenbildung akzentuierten, haben die Geschichte(n) der Globalisierung die Rolle der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen in der dem Kapitalismus inhärenten Expansionslogik und imperialen Projekten weiter hervorgehoben.8 Konzentrieren wir uns auf die europäische Ebene, sind wir in der Lage,

8

Headrick, Daniel (1988): The Tentacles of Progress: Technology Transfer in the Age of Imperialism, 1850-1940, Oxford: Oxford University Press; Hendrick, Daniel (1981): The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, Oxford: Oxford University Press. Siehe auch van Laak, Dirk (2004):

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diese und andere Prozesse gemeinsam und in ihren komplexen Zusammenhängen zu betrachten.

NEUE PERSPEKTIVEN AUF EUROPA UND TECHNOLOGIE ERÖFFNEN Das Gefühl, Europa und Infrastrukturprojekte gingen Hand in Hand, ist Wissenschaftler*innen und Laien gemein. Die zunehmende Expansion der Europäischen Union in verschiedene ›europäische‹ Räume und Infrastrukturpolitiken einerseits und das Fortbestehen einfacher und überdeterminierter Narrative von Technologie, Modernisierung und europäischer Integration andererseits machen eine ausführliche historische Auseinandersetzung mit diesen Themen dringend, wenn nicht gar zwingend erforderlich.9 Diese Erkenntnis hat in jüngster Zeit zu einer Forschungsagenda geführt, die weitestgehend unter Technikhistoriker*innen verbreitet ist und versucht hat, solche Fragen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung zu stellen.10 Innerhalb dieser Forschungsagenda spielen materielle Infrastrukturen und Netze wie Straßen, Eisenbahnen, Stromnetze, Wasserstraßen usw., die lange Zeit als einige der wichtigsten Aspekte und Motoren von Modernisierungsprozessen angesehen wurden, zwangsläufig eine wichtige Rolle. Wie van der Vleuten und Kaijser in einem kürzlich erschienenen Bericht über die Historiographie der Infrastrukturen und Europas zeigen, war der Aufbau und die Nutzung materieller Netzwerke bestenfalls nebensächlich in einem Großteil der Geschichtsschreibung Europas.11 Die Rolle solcher Netzwerke wird häufig in Bezug auf ihre Funktion bei gesellschaftlicher Transformation thematisiert. Seltener wird hingegen eine detaillierte Analyse der komplexen und umstrittenen Prozesse gemacht, durch die diese Strukturen entstanden sind. Während Studien zu Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen in den Sozial-

Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn: F. Schöningh. 9

Jensen, Ole B./Richardson, Tim (2004): Making European Space: Mobility, Power and Territorial Identity, London: Routledge.

10 Vgl. Tensions of Europe http://www.tensionsofeurope.eu. Siehe auch »Tensions of Europe« Special Issue, History and Technology 21(1) (2005). 11 Van der Vleuten, Erik/Kaijser, Arne (2005): »Networking Europe: transnational infrastructures and the shaping of Europe, 1850-2000«, in: History and Technology 21(1), S.26-31.

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wissenschaften seit langem die Bedeutung solcher Strukturen erkennen, war die Analyse der kontingenten Prozesse, die den Aufbau, die Verknüpfung und die Pflege solcher Netzwerke beeinflussten, von zweitrangiger Bedeutung. Parallele Entwicklungen in einer Reihe von Disziplinen lassen die Bereitschaft erkennen, diese Situation zu ändern und etliche Forschungszugänge zu erschließen, die der Band Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe behandelt. In erster Linie werden damit neue Perspektiven auf die Geschichte der europäischen Integration eröffnet. Wie Jost Dülffer in einem historiographischen Essay über die europäische Integrationsliteratur gezeigt hat, wird diese Literatur von einer Reihe prominenter Narrative geprägt, die die verschiedenen Phasen oder Perioden wissenschaftlicher Debatten über die Ziele der zeitgenössischen Geschichtsschreibung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegeln, der allgemein als entscheidender Bezugspunkt für den Beginn einer neuen Ära europäischer Integrationsinitiativen gilt. 12 Nach Dülffer ist ein Großteil der Geschichtsschreibung zur europäischen Integration von einem dominanten Narrativ geprägt, das er in Anspielung auf die deutsche Tradition des sonntäglichen Anzündens von Kerzen auf einem Adventskranz provozierend als ›Weihnachtsgeschichte‹ der europäischen Integration bezeichnet. Diese ›Weihnachtsgeschichte‹ erzählt die Erweiterung des europäischen Kranzes von sechs auf neun, auf zwölf, fünfzehn und heute nach dem Brexit sechsundzwanzig Staaten und spiegelt eine teleologische Erzählung wider, die Verzögerungen, Stillstände, Neustarts und – vielleicht – auch Krisen akzeptiert.13 Diese ›Weihnachtsgeschichte‹ über die europäische Integration, verdeckte die (politischen) Ereignisse und wird von monodisziplinären Studien dominiert, die die Entstehung der europäischen Institutionen und Agenturen widerspiegeln. Dies wurde natürlich von Autoren wie Alan Milward und John Gillingham in Frage gestellt: Sie entwickelten herausragende Alternativerzählungen, indem sie das Fortbestehen nationaler Interessen betonten und die übermäßige Bürokratisierung der politischen Institutionen kritisierten. Laut Dülffer gibt es mindestens vier weitere Einschränkungen für den An-

12 Dülffer, Jost (2009): »The History of European Integration: From Integration History to the History of Integrated Europe«, in: Wilfried Loth (Hg.) Experiencing Europe. 50 Years of European Construction 1957-2007, Baden-Baden: Nomos, S.17-32. 13 Ebd., S.22-3. Ben Rosamond (2007) legt in ähnlicher Weise dar, wie die Integration beschreibende Sprache, solche Begriffe verfestigt: »The political sciences of European integration: disciplinary history and EU studies«, in: Knud Erik Jørgensen/Mark A. Pollack/Ben Rosamond (Hg.), Handbook of European Union Politics, London: Sage, S.7-30.

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satz der ›Weihnachtsgeschichte‹. Erstens werden andere Institutionen als die politischen Kerninstitutionen, wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Europäische Wirtschaftsunion (EWU) oder die eigentliche Europäische Union in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, nicht beachtet. Zweitens erkennt er eine Vernachlässigung der Rolle der Vereinigten Staaten als entscheidenden Akteur im Integrationsprozess. Drittens kritisiert er die Unterrepräsentation Osteuropas, insbesondere der UdSSR, als wichtige Akteure im Kalten Krieg, der den allgemeinen politischen Rahmen für den europäischen Integrationsprozess bildete. Schließlich betont Dülffer die dringende Notwendigkeit eines umfassenderen kulturellen Ansatzes für den europäischen Integrationsprozess unter dem Label ›Europäisierung‹, wie er beispielsweise in den Werken von Hartmut Kaelble dargestellt wird.14 Die Studie über die europäische Integration wird mit einem transnationalen Ansatz für die Erforschung von Infrastrukturen eröffnet. Der Begriff ›transnational‹ selbst hat eine lange, komplexe und umstrittene Geschichte, und seine Bedeutung ist bis heute nicht eindeutig geklärt. 15 Diese laufenden Debatten werden auch in Zukunft fortgesetzt. Erstens folgen wir der relativ weiten Definition der transnationalen Geschichte als diejenige, die sich mit grenzübergreifenden Strömen beschäftigt. Wie Pierre-Yves Saunier argumentiert, »umfasst [dies] Waren, Menschen, Ideen, Worte, Kapital, Macht und Institutionen.«16 Zweitens betrachten wir diese lose Definition von ›transnational werden‹ als Mittel zur Schärfung des empirischen Fokus; europäische Infrastrukturen als transnationale Probleme zu betrachten, bedeutet, sie als Leitfaden zu verwenden, um die Ströme und Grenzen von Materialien, Akteuren und Diskursen so genau wie möglich darzu-

14 Kelble, Hartmut (1987): Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas, 1880-1980, München: Beck. 15 Wichtige Beiträge zu umfassenden aktuellen Diskussionen liefern unter anderem A. Iriye (2002); Iriye, Akira (2004): »Transnational history«, Contemporary European History 13(2), S.211-22; Patricia Clavin, ›Introduction: defining transnationalism‹, Contemporary European History 14(4) (2005), S.421-440; Saunier, Pierre Yves (2006): »Going transnational? news from down under«, History. http://geschichtetransnational.clio-online.net vom 13.01.2006. Budde, Gunilla/Conrad, Sebastian/Janz, Oliver (2006): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Für einen guten Überblick über ihre Bedeutungen und Anwendungen in der Technikgeschichte, vgl. van der Vleuten, Erik (2008): »Toward a transnational history of technology: meaning, promises, pitfalls«, in: Technology and Culture 49, S.974-994. 16 P. Y. Saunier (2006)

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stellen.17 Drittens nehmen wir eine Konstruktion des ›Nationalen‹ an, insofern es uns ermöglicht, nicht nur die Rolle der Nationalstaaten, die zweifellos wichtige Akteure sind, neu zu kontextualisieren, sondern auch über andere Kategorien wie das ›Globale‹ oder das ›Europäische‹ nachzudenken. Ein Blick in die Geschichte der Infrastrukturen zeigt schnell, dass die Zirkulation von Dingen, Menschen und Wissen bisher nur teilweise von Nationalstaaten eingeschränkt wurde. Viele große Netzwerkprojekte, von der Eisenbahn über die Elektrizitätsversorgung bis hin zum Rundfunk, begannen als private, oft internationale Initiativen, die zum Teil durch die transnationale Verbreitung von technischem Wissen und Kapital angetrieben wurden. Die Errichtung staatlicher Monopole über Infrastrukturen wurde entweder bald von internationalen Regulierungsbehörden begleitet oder sogar vorangetrieben, entweder von zwischenstaatlichen Organisationen wie der International Telegraph Union (ITU, gegründet 1865) oder von Nichtregierungsorganisationen wie dem International Council on Large Electrical Systems (CIGRE, gegründet 1921) und der International Broadcasting Union (IBU, gegründet 1925).18 Offensichtlich sind Nationalstaaten für die Geschichte dieser Prozesse relevant, aber ein transnationaler Ansatz erlaubt es uns, sie als eingebettet in breitere Prozesse zu sehen, in denen sie nicht unbedingt die Hauptakteure sind, aber dennoch Macht und Handlungsfähigkeit auf neue Weise ausüben.19 Wir folgen dem gleichen Impuls, der zu einer wirkungsvollen Dezentrierung und Kontextualisierung der Nation geführt hat, um eine Historiographie der europäischen Integration zu entwickeln, die die Europäische Union und ihre Vorgänger als eine Einheit und einen Prozess unter vielen anderen dezentriert und kontextualisiert. Transnationale Infrastrukturen sind ein hervorragender Ort für eine solche Agenda, da sie bereits vor den formalen Prozessen der europäi-

17 Ebd. 18 Vgl. Lagendijk, Vincent (2008): Electrifying Europe: the power of Europe in the construction of electricity networks. Vol. 2, Amsterdam University Press, S.58-59; und Fickers, Andreas/Lommers, Suzanne (2010): »Eventing Europe: broadcasting and the mediated performances of Europe«, in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan, S.225-251. 19 Mann, Michael (2010): »Globalization, Macro-regions and nation-states« in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte, Vandenhoek & Ruprecht, S. 21. Zu weiteren detaillierteren Ausführungen dieser Dynamiken, vgl. Milward, Alan (2000): The European Rescue of the Nation-State, second Edition, London and New York: Routledge, und für eine sehr differenzierte Darstellung dieser Prozesse in den letzten Jahrzehnten Brenner, Neil (2004): New State Spaces, Oxford: OUP.

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schen Integration existierten. Darüber hinaus befanden sich die für die Vernetzung Europas und die Steuerung solcher Systeme verantwortlichen Institutionen auch nach Beginn des Prozesses lange Zeit außerhalb des Wahrnehmungsradius solcher Prozesse. Die Essays von Schipper et al. und Johan Schot20 stellen diese Institutionen insbesondere in den weiteren Kontext internationaler Organisationen, sowohl zwischenstaatlicher als auch nichtstaatlicher Natur, die eines der Schlüsselfelder der transnationalen Geschichtsforschung darstellen. 21 In einem Artikel, in dem die ursprüngliche Agenda für dieses Projekt dargelegt wird, haben Thomas J. Misa und Johan Schot vorgeschlagen, dass der Begriff der europäischen Integration sinnvollerweise über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse hinaus erweitert werden könnte, die nach dem Zweiten Weltkrieg formal in Gang gesetzt wurden. Stattdessen sollten wir, ihrer Argumentation folgend, das Konzept der ›versteckten Integration‹ einbeziehen. Diese entzieht sich dem Blick formaler Untersuchungen zur europäischen Integration, weil sie auf Prozesse verweist, die teilweise unabhängig von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen, die offiziell zum Komplex Integration gezählt wurden, stattfanden, aber dennoch eine tiefgreifende Rolle innerhalb all dieser Prozesse gespielt haben.22 Indem sie ›Integration‹ für umfassendere Prozesse öffnen, schlagen sie vor, auch auf die Fragmentie-

20 Schot, Johan (2010): Transnational Infrastructures and the Origins of European Integration, S.82-109; Schipper, Frank/Lagendijk, Vincent/Anastasiadou, Irene (2010): New Connections for an Old Continent: Rail, Road and Electricity in the League of Nations Organisation for Communications and Transit, S.113-143. Beide in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan. 21 Vgl. A. Iriye (2002); Clavin, Patricia/Wessels, Jens-Wilhelm (2005): »Transnationalism and the League of Nations: Understanding the Work of Its Economic and Financial Organization«, in: Contemporary European History 14, S.465-492; Eine interessante Folgelektüre, die eine längere Geschichte behandelt, findet sich in Kaelble, Hartmut (2002): »The historical rise of a European public sphere?«, in: Journal of European Integration History 8(2), S.9-22. 22 Misa, Thomas J./Schot, Johan (2005): »Introduction: Inventing Europe: Technology and the Hidden Integration of Europe«, in: History and Technology 21(1). In den Jahren seit der Erstveröffentlichung des Artikels hat der Begriff bereits eine doppelte Bedeutung erlangt und bezeichnet sowohl Bereiche der Integration, die von Wissenschaftler*innen bei der Untersuchung der europäischen Integration übersehen wurden, als auch das bewusste »Verstecken« ihrer integrativen Aktivitäten durch Ingenieur*innen und Diplomat*innen vor dem Blick von Politiker*innen und Öffentlichkeit.

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rungs-, Entkopplungs- und Zerfallsprozesse zu achten, die in solchen Projekten ebenfalls offensichtlich und gewissermaßen inhärent waren und sein werden.23 Diese Prozesse der Verknüpfung und Entkopplung standen im Mittelpunkt des jüngsten Bandes Networking Europe, herausgegeben von Arne Kaijser und Erik van der Vleuten.24 In diesem Band beschreiben die Autoren die Entwicklung einer Reihe von Projekten, beginnend mit dem Aufkommen von Eisenbahn- und Telegrafennetzen. Die Autoren konzentrieren sich auf die Konstruktion von Systemen und heben vor allem nationale Akteure hervor, die in internationalen, bilateralen und auch unilateralen Prozessen Netzwerke geschaffen haben oder schaffen wollten, die über nationale Grenzen hinweg operierten. 25 Wir wollen weiter auf dieser Agenda aufbauen, indem wir ›Europa‹ problematisieren und in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen. Während die Autor*innen des vorherigen Bandes transnationale Prozesse in Europa beleuchteten (wobei sie darauf achteten, sie nicht essentialistisch zu fassen), fragen wir, welche Rolle besondere Vorstellungen und Räume Europas bei der Konstruktion, Nutzung und/oder dem Scheitern verschiedener materieller Systeme gespielt haben. Welche Visionen und Projekte von Europa haben solche Netzwerke und die Prozesse seiner Entstehung sichtbar gemacht? Wie haben materielle Strukturen Praktiken und Definitionen von Europa geprägt? Die historische Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird die zunehmende wissenschaftliche Aufmerksamkeit für technologische Infrastrukturen in einem

23 T. Misa/J. Schot (2005). Zu Narrativen der Fragmentierung siehe Andreas Fickers’ Arbeit zu Linienstandards und Farbfernsehformaten in Europa (2007), ›Politique de la grandeur‹ versus ›Made in Germany‹. Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL/SECAMKontroverse, München: Oldenbourg; Fickers, Andreas (2006): ›National Barriers for an Imag(e)ined European Community: The Techno- Political Frames of Postwar Television Development in Europe‹, in: Lennard Hojbjerg/Henrik Sondergaard (Hg.), European Film and Media Culture, Northern Lights. Film and Media Studies Yearbook 2005, Copenhagen: Museum Tusculum Press/University of Copenhagen, S.1536. 24 Van der Vleuten, Erik/Kaijser, Arne (Hg.) (2006): Networking Europe. Transnational Infrastructures and the Shaping of Europe 1850-2000, Sagamore Beach: Science History Publications. 25 Vgl. Maier, Helmut (2006): »Systems Connected: IG Auschwitz, Kaprun, and the Building of European Power Grids up to 1945«, in: Erik van der Vleuten/Arne Kaijser, Networking Europe, Sagamore Beach: Science History Publications, S.129160.

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breiten Spektrum von Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften erhöhen, wenn sie sich mit den aktuellen Räumen Europas und darüber hinaus auseinandersetzen. Insbesondere spricht dies für das sich abzeichnende ›neue Mobilitätsparadigma‹ in einem breiten Spektrum von Disziplinen, das die Aufmerksamkeit auf verschiedene Systeme gelenkt hat, die Menschen, Dinge und Bilder mobilisiert – und verankert – haben, und wie diese Mobilitäten und Verankerungen die verschiedenen Räume und Zeiten der Interaktion verändert haben. 26 Tatsächlich fordert dieses Paradigma forschungsleitend »eine Analyse des Zusammenhangs zwischen Mobilitätssystemen und infrastrukturellen Verankerungen, insbesondere im Hinblick auf die Neuskalierung und Umstrukturierung der Räumlichkeit unter verschiedenen Regimen der Wirtschaftsregulierung und der Staats- und Stadtverwaltung.«27 Wichtiger Bestandteil dieses neu entstehenden Fokus ist, passend zu unserer Untersuchung der Prozesse der Verknüpfung und Entkopplung, dass ein tieferes Verständnis der Machtdynamiken relativer Mobilität zunehmend als dringlich wahrgenommen wird: wer und was kann sich in Bezug auf welche ›unbeweglichen‹ Menschen und Orte bewegen? Mit dem zunehmenden Hineinwachsen der EU in eine Technikexpertenrolle stellen sich auch Wissenschaftler*innen der Herausforderung, zu verstehen, wie Technologien zunehmend Teil der EU-Politik werden.28 Die jüngsten Planungsarbeiten auf europäischer Ebene haben die Wichtigkeit der Rolle der Infrastrukturen bei der Gestaltung der EU-Politik hervorgehoben.29 Insbesondere da der Begriff ›Netzwerk Europa‹ bei der Untersuchung der jüngsten Konfigurationen der Europäischen Union an Bedeutung gewinnt, kann ein vertieftes Verständnis der komplexen Prozesse des Aufbaus und der Nutzung transnationaler Netzwerke in Europa über einen größeren Zeitraum hinweg dazu beitragen, wichtige Genealogien solcher Projekte herzustellen, um ihre Neuartigkeit zu erfassen und zentrale Kontinuitäten aufzudecken.30 Wie Ginette Verstraete feststellt, berufen Künst-

26 Dieser Fokus wird beispielsweise in folgenden Publikationen behandelt: Thrift, Nigel (2006): Spatial Formations, London, S.256-310; Sheller, Mimi/Urry, John (2006): »The new mobilities paradigm«, in: Environment and Planning A 38, S.207-226; Hannam, Kevin/Sheller, Mimi/Urry, John (2006): »Editorial: Mobilities, Immobilities and Moorings«, Mobilities 1(1). 27 K. Hannam/M. Sheller/J. Urry (2006). 28 Barry, Andrew (2001): Political Machines: Governing a Technological Society, London: Athlone. 29 Vgl. O. Jensen/T. Richardson (2004). 30 Vgl. die Spezialausgabe zu »Rethinking European Spaces« herausgegeben von Chris Rumford (2006), in: Comparative European Politics 4(4).

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ler*innen sich aktuell auf mehrere alternative Geschichten der transnationalen Mobilität um aktuelle Infrastrukturagenden der EU zu hinterfragen.31 Obwohl unsere Instrumente und Ziele unterschiedlich sein können, öffnen sich sicherlich noch Forschungsräume für transnationale Historiker*innen.

DIE EUROPA-TECHNOLOGIEUNSCHÄRFERELATION UND DIE FRAGE DER SKALIERUNG So vielversprechend ein Gebiet wie materielle Infrastrukturen für die Erforschung europäischer Geschichten ist, so gehen damit auch eine Reihe von Herausforderungen einher. Infrastrukturen sind, einmal installiert, fast unsichtbar, besitzen aber auch, wie Dirk van Laak bemerkt, »eine symbolische Kraft von manchmal utopischer Qualität.«32 Sie sind tief politisch geprägt und scheinen doch oft ›neutralen‹ technologischen Prinzipien zu folgen. Wenn man versucht, sich mit den Zusammenhängen zwischen Infrastrukturen und Europa auseinanderzusetzen, wird man schnell mit einem scheinbaren Paradoxon konfrontiert, das in zahlreichen Diskussionen rund um die Essaysammlung unseres Buches Materializing Europe: Transnational Infrastructures and the Project of Europe aufgetreten ist: Wir nennen es, mit Anspielung auf Werner Heisenberg, die Europa/Technologie-Unschärferelation. Einfach ausgedrückt: Je mehr man sich mit den großen Zielen, räumlichen Visionen und umstrittenen Projekten Europas beschäftigt, die zum Aufbau und der Nutzung transnationaler Systeme beitragen, desto mehr verblassen die spezifischen materiellen Komponenten der Systeme. Auf der anderen Seite, je genauer man die Verbindungstechnologien versteht, d.h. die Mechanismen, Normen, Protokolle und Konventionen, die es den Systemen ermöglichen, sich zu verbinden und zu interagieren, verschwinden die ›europäischen‹ Aspekte zunehmend, wenn nicht ganz. Es bleibt die Frage, was ein System ›europäisch‹ macht und welchen Beitrag ›Europa‹ tatsächlich zu seiner Erschaffung und/oder seiner Funktionsweise leistete. Bei näherer Betrachtung ist dieses Prinzip weniger ein Paradoxon, sondern eher eine Zusammenführung von zwei verschiedenen, aber eng miteinander verbundenen historischen Prozessen, die innerhalb von Infrastrukturen ineinander-

31 Verstraete, Ginette (2009): »Timescapes: An artistic challenge to the European Union paradigm«, in: European Journal of Cultural Studies 12(2), S.157-174. 32 Van Laak, Dirk (2001): »Infrastrukturgeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 27, S.385.

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greifen. Die ›europäische‹ Seite der Relation befasst sich mit der Mobilisierung und Bereitstellung von Technologien für eine Reihe von Projekten in Europa. Wir argumentieren in unserem Buch, dass die formalen Prozesse der wirtschaftlichen und politischen Integration, die normalerweise unter dem Begriff ›europäische Integration‹ verstanden werden, als eines von vielen solcher Projekte zu betrachten sind. Die ›Technologie‹-Seite beschreibt die Verbreitung von Systemen, Standards und Praktiken, die Teil umfassenderer Prozesse der Globalisierung und Modernisierung im Allgemeinen sind, speziell aber auch Mobilitäten in europäischen Räumen leiten. Auch diese zweiteiligen Prozesse sind voller Widersprüche. Projektionen Europas erstrecken sich oft über räumliche oder systemische Kluften, wie sie auf touristischen Karten mit europäischen Netzwerken, sogar über den Eisernen Vorhang hinweg, oder in den Erfahrungen kosmopolitischer Flugreisender zwischen den Weltkriegen zu finden sind. In anderen Fällen sind technologische Systeme trotz scharfer Trennungen in politische oder wirtschaftliche Sphären oft eng eingebunden, vor allem, weil sie außerhalb der Wahrnehmung dieser Sphären operieren. So war beispielsweise die Organisation des Völkerbundes für Kommunikation und Verkehr in vielerlei Hinsicht effektiver als die politischen Ausschüsse des Gremiums und konnte nicht nur eine internationale Zusammenarbeit erreichen, sondern auch allgemeine Verhandlungsregime festlegen.33 Die Dynamik unserer sogenannten ›Unschärferelation‹ wird am deutlichsten, wenn wir versuchen, sie auf Makroebene zu verstehen, was genau das ›transnationale Problem‹ ist, das unser Band aufgreift. Den Autoren der Kapitel wurden zwei grundlegende Richtlinien gegeben: Sie sollten empirisch die Prozesse des Aufbaus und/oder der Nutzung transnationaler Infrastrukturen untersuchen und in welcher Beziehung diese Prozesse zu der Gestaltung, Definition, den Erfahrungen und Praktiken Europas im zwanzigsten Jahrhundert stehen. Darüber hinaus sollten sich die Studien nicht auf nationale Fallstudien stützen, sondern den Fokus auf Infrastrukturentwicklungen auf europäischer Ebene legen. Die Aufgabe, ›Infrastrukturen auf europäischer Ebene‹ zu untersuchen, ist natürlich nicht einfach. Gerade weil es an starren territorialen Grenzen und mehr oder weniger zentralisierten nationalstaatlichen Regierungsinstitutionen mangelt, könnte man ›Europa‹ als offenkundig ungenauen Maßstab für die akademische Forschung bezeichnen, insbesondere bei einer Betrachtung über einen längeren Zeitraum. Unter der Annahme, dass ›Europa‹ eine diskursive Konstruktion ist – und immer war – beginnt das Problem bereits mit der Definition von Europa selbst. Wie Achim Landwehr und Stefanie Stockhorst gezeigt haben, war das Konstrukt Eu-

33 Siehe F. Schipper/V. Lagendijk/I. Anastasiadou (2010).

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ropa aufgrund unterschiedlichster Interessenslagen stets einer kontinuierlichen Bedeutungsaushandlung ausgesetzt.34 In all diesen Dimensionen – religiös, räumlich, politisch und historisch – gibt es mehrere Definitionen, wo – oder was – Europa ist.35 Wir sind der Meinung, dass Europa am besten als eine unendliche Geschichte oder – nach den Worten des deutschen Soziologen Richard Münch – als ein laufendes Projekt charakterisiert werden könnte.36 Wie der Prozess der westlichen Modernisierung war und wird auch der Prozess der europäischen Integration – versteckt oder sichtbar, unbeabsichtigt oder geplant – ein hart umkämpfter und konfliktbehafteter Vorgang sein. Angesichts der Herausforderung der Unschärferelation müssen wir uns in jedem Fall fragen, ob, wann, für wen und inwieweit ›Europa‹ eine Frage der Skalierung nationaler und/oder regionaler Prozesse ist, oder einfach ein projizierter ›Ausgleichsraum‹ für Prozesse kollektiver Selbstversicherung oder ein ›Erwartungshorizont‹ für transnationale Identitätskonstruktionen.37 Die immer schon problematische Skalierung Europas kann konstruktiv einer präziseren Befragung anderer, essentialisierter Skalen des ›Nationalen‹ und des ›Globalen‹ dienen und ermöglicht es uns, ihre Dynamik und Probleme konkreter und präziser zu erfassen.38 Gleichzeitig kann uns ein transnationaler Ansatz zur Untersuchung von In-

34 Landwehr, Achim/Stockhorst, Stefanie (2004): Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn: UTB, S.264ff. Siehe weiterhin Delanty, Gerard (1995): Inventing Europe: Idea, Identity, Reality, London; Stråth, Bo (Hg.) (2000): Europe and the Other, Europe as the Other, Brussels; Paasi, Anssi (2001): »Europe as a Social Process and Discourse. Considerations of Place, Boundaries and Identity«, in: European Urban and Regional Studies 8(1), S.7-28. 35 Vgl. Stråth, Bo/af Malmborg, Mikael (2002): »Introduction: The National Meanings of Europe«, in: Bo Stråth/Mikael af Malmborg (Hg.), The Meaning of Europe, Oxford: Berg, S.1-26. 36 Vgl. Münch, Richard (1993): Das Projekt Europa. Zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 37 Vgl. Schmidt-Gernig, Alexander (1999): »Gibt es eine »europäische Identität««?, in: Kaelble/Schriewer, Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt: Campus, S.163-216; David Morley hat intensiv die verschiedenen und probaten Wege erforscht, auf denen zunehmend destabilisierte Vorstellungen von »Heimat« auf und durch veränderte Strukturen der mediation neu aufgearbeitet werden. Vgl. dazu Morley, David (2000): Home Territories: Media Mobility and Identity, London: Routledge. 38 Michael Müller und Cornelius Torp argumentieren so in einem Artikel, dass die Polarität, die in vielen Wissenschaften zwischen dem Globalen und dem Nationalen zu

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frastrukturen, den wir hier vorschlagen, helfen, Geschichten über Europa zu verstehen, die über Fragen der Skalierung hinausgehen. Wie Pierre-Yves Saunier erinnert, liegt das Versprechen des Transnationalen nicht darin, es als »eine weitere Ebene zu betrachten, die sich im oberen Bereich der verschachtelten Ebenen befindet, sondern vielmehr als einen Exkurs, der durch Ebenen schneidet und ihre Konzeption als eigenständige Einheiten teilweise zerstört. Dementsprechend eröffnet die transnationale Perspektive einen direkten Ausblick auf die Zirkulationen und Verbindungen, deren Akteure und Strukturen diese unterschiedlichen sozialen Sphären erfassen, gleichzeitig oder unabhängig von ihrer ›verschachtelten‹ Ordnung.«39

Dies gilt insbesondere für die Betrachtung der ›europäischen Integration‹, die als ein nach dem Zweiten Weltkrieg beginnender Prozess definiert ist. Ein transnationaler Fokus auf Infrastrukturen fügt nicht nur dem ohnehin schon engen Geflecht der europäischen Integration mehr Fäden hinzu; vielmehr stellt er die genaue Definition dieses Prozesses in Frage und eröffnet gleichzeitig mehrere potenziell ergiebige Wege, um diese Herausforderung anzugehen. Von außen betrachtet, bietet die Untersuchung der materiellen Verbreitung und Nutzung von Infrastrukturen ein Mittel, um das Ausmaß, die Grenzen und den Nutzen von, für Europa geeigneten, Systemen zu untersuchen. So war beispielsweise die Türkei (zumindest bis Istanbul) aus Sicht der Netzgestaltung und -planung stärker in viele ›europäische‹ Netze eingebunden als viele Nationen, deren ›Europäizität‹ weit weniger zur Debatte stand.40 Darüber hinaus standen imperiale Logiken bei der frühzeitigen grenzüberschreitenden Infrastrukturentwicklung, wie Dirk van

finden ist, »die Gefahr mit sich bringt, den Raum als eine Dimension der Geschichte insgesamt zu vernachlässigen«: Müller, Michael G./Torp, Cornelius (2009): »Conceptualising transnational spaces in history«, in: European Review of History 16(5), S.611. 39 Saunier, Pierre-Yves (2008): »Learning by Doing: Notes about the Making of the Palgrave Dictionary of Transnational History«, in: Journal of Modern European History 6(2), S.173-174. 40 Für eine Darstellung dieser Kräfte auf lokaler Ebene siehe auch Dinçkal, Noyan (2009): »The Universal Mission of Civilisation and Progress«. Infrastruktur, Europa und die Osmanische Stadt um 1900«, in: Themenportal Europäische Geschichte, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1478.

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Laak41 zeigt, einer Vorstellung Europas als natürlicher Einheit der infrastrukturellen Verbindung gegenüber. Nach den beiden Weltkriegen wurde Europa zunehmend als widerspenstige Verwaltungseinheit angesehen, die mit ähnlichen technokratischen Projekten der räumlichen Neuordnung angegangen werden konnte. Indem sie sich auf Bereiche der internationalen und transnationalen Zusammenarbeit konzentrieren, die in historischen Berichten, die sich auf den Nationalstaat konzentrieren, übersehen werden, zeigen diese Studien also auch neue Machtdynamiken zwischen Institutionen, Nationen und Einzelpersonen auf. Die Prozesse der Infrastrukturentwicklung zu verfolgen, kann uns wertvolle Erkenntnisse darüber geben, inwieweit und wie Räume reterritorialisiert wurden. Wie Patrick Kammerers Essay42 zeigt, spielte die Entstehung und Anerkennung eines geschützten europäischen Marktraums eine entscheidende Rolle im Kampf um Mobiltelefoniestandards. Gleichzeitig fällt bei der Betrachtung der Institutionen und langfristigen Pläne für den Infrastrukturausbau in Europa auch auf, dass viele der gegenwärtigen Vorurteile gegenüber Westeuropa in den Prozessen der formalen europäischen Integration aus der Zeit vor den Weltkriegen stammen. Bis zu einem gewissen Grad führt der Anschluss an diese transnationalen Akteure notwendigerweise zu einer Übernahme dieser geografischen Verzerrung in unser Buch. Dies ermöglicht es uns wiederum, ein genaues Auge darauf zu werfen, wie die Macht in diesen technischen Foren ausgeübt wurde, und zu sehen, wie scheinbar weniger mächtige oder ›zentrale‹ Nationen und Akteure in der Lage waren, sie zu nutzen, um bestimmte Formen der Macht auszuüben, oft durch Aufweichung ihrer eigenen Territorialregime, um Infrastrukturströme besser zu steuern. Darüber hinaus haben wir durch die Öffnung der Definition von Integration auch die Grundlage für die Erforschung von Integrationsprozessen aus anderen Regionen und Systemen, insbesondere aus Mittel- und Osteuropa, geschaffen.43

41 Vgl. van Laak, Dirk (2010): »Detours around Africa: The Connection between Developing Colonies and Integrating Europe«, in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan, S.27-43. 42 Kammerer, Patrick (2010): »Off the Leash. The European Mobile Phone Standard (GSM) as a Transnational Telecommunications Infrastructure«, in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan, S.202-222. 43 Dazu finden sich bereits interessante Arbeiten, wie beispielsweise, Steffen, Katrin/Kohlraush, Martin (2009): »The limits and merits of internationalism: experts, the state and the international community in Poland in the first half of the twentieth centu-

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Es ist auch wichtig zu erkennen, dass Infrastrukturen vor eigenen Herausforderungen in Bezug auf Definition und Skalierung stehen. Sie werden oft, sowohl in einigen akademischen Diskursen als auch im Alltagsverständnis, als fest verdrahtete Strukturen verstanden, die sich langsam entwickeln, vernetzen und erweitern – und gelegentlich verfallen.44 Aber sie stehen Nutzer*innen und akademischen Beobachter*innen in vielfältiger Gestalt gegenüber. Ihre Definition erweist sich als problematisch, wenn wir akzeptieren, dass Infrastruktursysteme ebenso aus Institutionen, Routinen und diskursiven Praktiken bestehen wie aus materiellen Artefakten. Darüber hinaus erschweren die Verknüpfungen mehrerer Systeme, wie z.B. Eisenbahnen und elektrischer Systeme, oder die zunehmenden Verbindungen zwischen Rundfunk- und Straßenverkehrssystemen es, den Beginn und das Ende einer einzigen ›Infrastruktur‹ zu definieren.45 Wie Paul Edwards vorschlägt, sind Infrastrukturen am leichtesten negativ zu definieren, als jene Systeme, ohne die modernes Leben nicht funktioniert. 46 Das bedeutet, dass

ry«, in: European Review of History 16, S.715-737; Janac, Jiˇri (2008): »Europe through waterways: The European Coasts of Bohemia«, in: Tensions of Europe Working Papers, 2008_8: http://www.tensionsofeurope.eu/publications/working/working pdf/2008_8.pdf vom 11.07.2009. 44 Dies ist ungefähr die Dynamik, die unter dem Konzept der Large Technical Systems (LTS) auf der Grundlage der Pionierarbeit von Thomas P. Hughes erforscht wird. Einen Überblick gibt es bei van der Vleuten, Erik (2005): »Understanding Network Societies: Two Decades of Large Technological Systems«, in: Vleuten, Erik/Kaijser, Arne (Hg.), Networking Europe, S.279-314; Eine kritische Evaluation der Vor- und Nachteile des LTS-Ansatzes ist zu finden bei Joerges, Bernward (1999): »High Variability Discourse in the History and Sociology of Large Technological Systems«, in: Olivier Coutard (Hg.), The Governance of Large Technological Systems, London/New York: Routledge, S.258-290. 45 Das Problem der Kopplung verschiedener Systeme wurde rund um unser Buch »Materializing Europe: Transnational infrastructures and the project of Europe« (2010) mehrfach diskutiert. Eine Möglichkeit, diese Probleme anzugehen, besteht darin, sich mehr auf die Meso-Ebene zu konzentrieren (wie von Schot in ebendiesem Buch vorgeschlagen). Eine weitere Möglichkeit wird unter dem Begriff »Resilienz« diskutiert. Vgl. Liljenström, Hans/Svedin, Uno (2005): »Bridges, Connections and Interfaces – Reflections on the Meso Theme«, in: Hans Liljenström/Uno Svedin (Hg.), Micro, Meso, Macro. Addressing Complex Systems Couplings, London: World Scientific, S.317-330. 46 Edwards, Paul N. (2003): »Modernity and Infrastructures: Force, Time and Social Organization in the History of Sociotechnical Organizations«, in: Misa, Thomas J./Brey,

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Infrastrukturen nie einfach in materieller Hinsicht als das definiert werden können, was sie sind, sondern nur in Bezug auf das, was sie tun, und als solche nur in Bezug auf die sozialen Strukturen und kulturellen Bedeutungen, in denen sie wirken. Edwards argumentiert, dass Infrastrukturen auf mehreren Dimensionen untersucht werden können – und müssen – um ihre oft widersprüchliche Dynamik vollständig zu erfassen.47 Dramatische Veränderungen auf einer Ebene bleiben auf höheren oder niedrigeren Ebenen oft unbemerkt. Andererseits wird vor allem an großen Knotenpunkten oder Verbindungspunkten wie dem Ärmelkanal, der Öresundbrücke oder dem Gotthardt-Tunnel die Präsenz lokaler, nationaler, ›europäischer‹ und globaler Systeme gleichzeitig, und in oft problematischem Verhältnis zueinander, sichtbar.48 Unter Stadthistoriker*innen haben Infrastrukturen längst ein Mittel zur Verfolgung der komplexen Zusammenhänge und Machtverhältnisse der Stadt geschaffen.49 Tatsächlich können solche Systeme, wie Graham und Marvin hervorgehoben haben, auch die Städte, Nationen oder Kontinente, die sie zusammenzuhalten scheinen, ›spalten‹.50 Daraus folgt, dass, wenn wir ›Europa‹ als Akteurskategorie betrachten, die verschiedenen transnationalen

Philip/Feenberg, Andrew (Hg.), Modernity and Technology, Cambridge, MA: MIT Press, S.185-226. 47 Ebd. 48 Vgl. Darian-Smith, Eve (1999): Bridging Divides: The Channel Tunnel and English Legal Identity, Berkeley: University of California Press; Berg, Per Olof/LindeLaursen, Anders/Löfgren, Orvar (Hg.) (2000): Invoking a Transnational Metropolis, Lund: Studentlitteratur; Schueler, Judith (2008): Materializing Identity: the coconstruction of the Gotthard Railway and Swiss national identity, Eindhoven: Aksant/SHT. 49 Vgl. Kaika, Maria/Swyngedow, Erik (2000): »Fetishising the modern city: the phantasmagoria of urban technological networks«, in: International Journal of Urban and Regional Research 24(1), S.120-138; Hård, Mikael/Misa, Thomas J. (Hg.) (2008): Urban Machinery: Inside Modern European Cities, Cambridge, Mass.: MIT Press; Dinçkal, Noyan (2009): » ›The Universal Mission of Civilisation and Progress‹. Infrastruktur, Europa und die Osmanische Stadt um 1900«, in: Themenportal Europäische Geschichte: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=348 50 Graham, Stephen/Marvin, Simon (2001): Splintering Urbanism: networked infrastructures, technological mobilities and the urban condition, Taylor & Francis. Eine weitere Diskussion der These des »splitternden Urbanismus« ist auffindbar in Coutard, Olivier/Hanley, Richard/Zimmerman, Rae (2005): Sustaining Urban Networks: the Social Diffusion of Large Technical Systems, London: Routledge.

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Netzwerke, die sich durchkreuzen, überschneiden und zu seiner Definition beitragen, nicht anders behandelt werden können. Dies zu suggerieren, mindert nicht die Bedeutung, die Hartnäckigkeit oder das, was Bruno Latour die ›agency‹ materieller Systeme bei der Gestaltung sozialer Beziehungen, Praktiken und Räume nennen würde.51 Auch den Schnittstellen zwischen solchen Systemen und den Machtkämpfen über und durch sie wird nicht weniger Bedeutung beigemessen. Im Gegenteil, wir sind dazu aufgerufen, diese Fragen genau zu untersuchen, dabei aber dringend ein breiteres Spektrum von Akteuren (Menschen und Nicht-Menschen), Arenen und Kämpfen zu berücksichtigen, wenn wir die ›europäische‹ Dimension der Infrastrukturen erfassen wollen. Der Aufbau neuer Technologien wurde oft von Visionen der Vernetzung und des sozialen Wandels begleitet, die weit über die Grenzen zweier Nationen und die heutige technologische und/oder wirtschaftliche Durchführbarkeit hinausgingen. Gleichzeitig wären viele infrastrukturelle ›Netze‹ von Ingenieuren überhaupt nicht als solche betrachtet worden, sondern als heterogene Systeme, die nur durch Nutzungs- und Repräsentationsregime, wie z.B. den Tourismus, ›verbunden‹ waren.52 Die Beobachtung solcher Prozesse gibt uns einen Einblick in die Art und Weise, wie transnationale Netzwerke für Europa angeeignet wurden und Bedeutung erlangten. Ziel des Bandes Materializing Europe.Transnational Infrastructures and the Project of Europe ist es nicht, eine ›Kopenhagener Deutung‹ dieses Problems zu liefern, d.h. ein übergreifendes Modell zur Erklärung der komplexen Dynamik von Infrastrukturen und der europäischen Integration zu präsentieren.53 Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die sich ändernden Kontexte, Skalen und Prozesse, die beschrieben werden, solchen Modellen entgegenstehen und, dass die vielfältigen Ansätze der Autor*innen die Standardinterpretationen schnell zunichte-

51 Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social: An Introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford: Oxford UP. 52 Vgl. u.a. Gugerli, David (2003): »The Effective Fiction of Internationality. Analyzing the Emergence of a European Railroad System in the 1950s«, in: Preprints zur Kulturgeschichte der Technik 17: http://www.tg.ethz.ch/dokumente/pdf_Preprints/Prepri nt17.pdf vom 19.03.2007, sowie Badenoch, Alexander (2010): »Myths of the European Network: Constructions of Cohesion in Infrastructure Maps«, in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan. 53 Für eine bekannte Erklärung der epistemologischen Folgen oder Probleme der modernen Quantenphysik und zu Nils Bohrs »Prinzip der Komplementarität« als Interpretation der Heisenbergschen Unschärfe-Relation siehe Gribbin, John (1984): In Search of Schrödinger’s Cat. Quantum Physics and Reality, London: Bantam.

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machen würden. Stattdessen sollen wichtige Schauplätze hervorgehoben werden, bei denen diese komplexe Dynamik offenkundig zu Tage tritt und gezeigt wird, wie multidisziplinäre Untersuchungen beginnen können, sich mit jenen komplexen Dynamiken historisch auseinanderzusetzen, indem sie deren Spannungsverhältnis aufrechterhalten. Im Hinblick darauf schlagen wir hier zwei grundlegende Konzepte zur Bewältigung dieser Herausforderung vor: mediating interfaces und events – werden zu Medien. Wir verstehen sie als zeitliche und räumliche Rahmenbedingungen, die es uns ermöglichen, die Geschichten von Technologie und Europa in denselben narrativen Rahmen zu bringen. Bei der Ausarbeitung dieser Konzepte ist es unser Ziel, einen programmatischen Aufruf zur tieferen Untersuchung der verworrenen Geschichten über technologische Infrastrukturen und Europa vorzulegen.

INFRASTRUKTUREN ALS MEDIATING INTERFACES 1 Infrastrukturen vermitteln. Sie sind Strukturen ›dazwischen‹, die es Dingen, Menschen und Zeichen ermöglichen, sich über mehr oder weniger standardisierte Wege und Protokolle zur Umwandlung oder Übersetzung durch den Raum zu bewegen. Das Betrachten von Infrastrukturen als vermittelnde Schnittstellen mediating interfaces, d.h. als Orte der Interaktion und Übersetzung auf materieller, institutioneller und diskursiver Ebene, ermöglicht es uns, zum Kern der Dynamik zu gelangen, die wir erfassen wollen. Vermittlungspunkte auf materieller Ebene finden sich in ›Gateways‹ zwischen Systemen, wie dem standardisierten Schiffscontainer (der zum Teil von internationalen Organisationen wie der International Union of Railways entwickelt wurde) oder dem Zug mit variablen Achsen (der kürzlich entwickelt wurde, um den langjährigen Unterschied in der Spurweite zwischen der französischen und der spanischen Eisenbahn zu lösen), die es ermöglichen, inkompatible Systeme zu verbinden und zu erweitern. 54 Solche Gateways, so Edwards et al., können nicht als ›rein‹ materiell angesehen werden, sondern als »Kombination einer technischen Lösung mit einer Sozialwahl, d.h. einem Standard, die beide in bestehende Communities of Practice der Nutzer*innen integriert werden müssen.«55 Mit anderen Worten, eine solche ma-

54 Egyedi, Tineke (2001): »Infrastructure Flexibility Created by Standardized Gateways: The Cases of XML and the ISO Container«, in: Knowledge, Technology & Policy 14(3), S.41-54. 55 Edwards, Paul N. et al. (2007): »Understanding Infrastructure: Dynamics, Tensions, Designs«. Report of a Workshop on »History & Theory of Infrastructure: Lessons for

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terielle Vermittlung erfordert fast immer soziale oder institutionelle mediators, die wir als die Institutionen und Personen verstehen können, die innerhalb dieser Institutionen arbeiten, um die infrastrukturelle Nutzung zu steuern und zu gestalten.56 Nicht alle System-mediators sind diejenigen, die Systeme aufbauen und verwalten; Akteure wie Werbetreibende, Bildungseinrichtungen und Verbrauchergruppen haben oft eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Design, Bedeutung und Nutzung von Infrastrukturen gespielt. 57 Schließlich können wir uns Infrastrukturen selbst als Medien im herkömmlichen Sinne des Wortes vorstellen, als Systeme, die Beziehungen strukturieren und Bilder und Zeichen über Entfernungen übertragen. Eisenbahnen zum Beispiel umgeben die Reisenden mit Schildern, die den Verkehr in Bezug auf staatliche Autorität (Insignien der nationalen Eisenbahnen), Klasse, nationalen Landschaften usw. strukturieren. 58 Diese Aspekte sind wesentlich für die Bedeutung und Erfahrung der Nutzung von Eisenbahnen. Neben der Kanalisierung und Gestaltung solcher Botschaften entwickeln Infrastrukturen auch eigene symbolische Bedeutungen, wie in der mehrdeutigen Symbolwirkung von Zügen, auf die wir zu Beginn dieses Kapitels hingewiesen haben.59

New Scientific Cyberinfrastructures« (Januar 2007), S.16: http://www.si.umich.edu/ InfrastructureWorkshop/documents/Understanding- Infrastructure2007.pdf 56 Einige dieser Rollen wurden im Konzept des »Systembauers« in der Tradition der Large Technical Systems (LTS) erfasst, der sich an Akteur*innen richtet, die in der Lage sind, Technologien in soziale und institutionelle Rahmenbedingungen einzubetten. Vgl. van der Vleuten, Erik et al. (2007), »Europe’s system builders: The Contested Shaping of Europe’s Road, Electricity and Rail Networks«, in: Contemporary European History, 16(3), S.321-347; siehe weiterhin van der Vleuten, Erik (2010): »›Feeding the peoples of Europe‹: Transnational Food Transport Infrastructure in the Early Cold War, 1947-1960.«, in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan, S.148-177. 57 Vgl. Oldenziel, Ruth/de la Bruhèze, Adri Albert/de Wit, Onno (2005): »Europe’s Mediation Junction: Technology and Consumer Society in the Twentieth Century«, in: History and Technology 21(1), S.107-139. 58 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang (1977): Geschichte der Eisenbahnreise. Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt: Fischer. 59 Roger Silverstone und Leslie Haddon bezeichnen dies als die »doppelte Artikulation« von Medien als konsumierbare Objekte sowie als Medien für andere Produkte: Silverstone, Roger/Haddon, Leslie (1996): »Design and Domestication of Information and Communication Technologies: Technical Change and Everyday Life«, in: Robin

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Die Betrachtung von Infrastrukturen als mediating interfaces in einer Reihe von Interaktionen ermöglicht es uns daher, das Zusammenspiel der materiellen, institutionellen und diskursiven Strukturen zu erfassen. Ein Blick auf die Rundfunkinfrastrukturen kann dies verdeutlichen. Auf der materiellen Ebene zeugen Sender, Netze von Relaisstationen, Kabel und Satellitenschüsseln von Europa als einem technisch vernetzten Kommunikationsraum. Aufgrund der unterschiedlichen Linien- und Farbstandards in Deutschland und Frankreich spielen Punkte für die Signalumwandlung seit langem eine wichtige Rolle. Auf der institutionellen Ebene haben europäische Rundfunk- und Fernsehanstalten wie die European Broadcasting Union und Telekommunikationsanstalten wie die Conférence Européenne des Administrations des Postes et des Télécommunications (CEPT) und die International Telecommunication Union (ITU) entscheidende Gateways für transnationale Interaktionen hervorgebracht, auf technischer wie juristischer Ebene wie auch auf der Ebene der interkulturellen Kommunikation. Diese institutionelle Ebene steht für Europa als einen Sozialraum. Die Kombination des materiellen und institutionellen Ansatzes mit einer diskursiven Analyse der übertragenen und empfangenen Inhalte von Rundfunkprogrammen bedeutet, die Spannungen zwischen der Absicht hinter der Übertragung europäischer Klänge und Bilder und ihrer individuellen und kreativen Aneignung zu untersuchen. Akustische und visuelle Ikonen des europäischen Rundfunks, wie der zeremonielle Pomp der Eurovisionshymne, versuchen, über die technische Verbindung hinaus eine Bedeutung als europäischen Kulturraum zu kreieren. Weniger offen kommunikative Infrastrukturen können auf die gleiche Weise behandelt werden. In Barbara Bonhages Artikel 60 über das Euroschecksystem wird gezeigt, wie beispielsweise eine Reihe von Banken in Europa aus Angst vor der US-amerikanischen Konkurrenz versucht haben, ein Zahlungssystem zu schaffen, das technologisch wettbewerbsfähig ist. Sie entwickelten den Euroscheck, ein Papier-›Gateway‹, das den Geldtransfer zwischen den Bank- und Einzelhandelssystemen verschiedener Länder ermöglichte. Damit wurde ein ›europäischer‹, oder zumindest ›Euroscheck‹-Raum definiert, der gleichzeitig ein Raum materieller Zirkulation (in dem sich die Schecks/Fonds bewegen), ein Raum institutioneller Governance und eine diskursive Konstruktion (ein ge-

Mansell/Roger Silverstone (Hg.), Communication by Design: The Politics of Information and Communication Technologies, Oxford: Oxford University Press, S.44-74. 60 Bonhage, Barbara (2010): »Eurocheque: Creating a ›Common Currency‹ European Infrastructure for the Cashless Mass Payments System«, in: Alexander Badenoch/ Andreas Fickers (Hg.), Materializing Europe, London: Palgrave Macmillan, S.182197.

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schützter Markt oder eine Geschäfts-/Tourismuszone) war. Die Materialität des Systems erwies sich als sein Untergang, da das zu behandelnde Papiervolumen mit wachsender Beliebtheit des Systems bei den zunehmend mobilen Bankkunden wuchs. Auf institutioneller Ebene konnte der Schweizerische Bankenverband dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen den Banken zu intensivieren, und die Entwicklung eines solchen Systems auf westeuropäischer Ebene trug dazu bei, eine Plattform für die Entwicklung weiterer europäischer Massenzahlungssysteme zu schaffen. Auf diskursiver Ebene spielte der Wunsch, Europa in Bankkreisen defensiv gegen die USA abzugrenzen, eine entscheidende Rolle bei der Etablierung des Systems, während der Name auf dem Scheck dazu beitrug, die Mobilität seiner internationalen Nutzer*innen als europäisch zu definieren. Bei der aufmerksamen Betrachtung dieser unterschiedlichen Ebenen der mediation im Laufe der Zeit, wird die komplizierte und oft widersprüchliche Dynamik Europas und seiner Infrastrukturen sichtbar.

EUROPÄISCHE INFRASTRUKTUREN ZUM EVENT MACHEN Wie sich gezeigt hat, ›interagieren‹ die materiellen, institutionellen und diskursiven Aspekte von Infrastrukturen auf unterschiedliche Art und Weise. Aber wie können wir als Historiker*innen diese verschiedenen Prozesse gleichzeitig sichtbar machen? Wir sind der Meinung, dass dies am besten erreicht werden kann, indem man sich auf das, was wir sie europäische Infrastrukturereignisse nennen, konzentriert. Diese definieren wir als außergewöhnliche Ereignisse, die mehrere Elemente und Ebenen von Infrastrukturen in das Blickfeld rücken und die Beziehungen zwischen ihnen erneut bestätigen und/oder reorganisieren. Klassische Ereignistypen sind Momente der Verbindung, wie beim Bau einer Brücke oder eines Tunnels, oder auch Momente des Ausfalls, wie bei den großen Stromausfällen in den Jahren 2003 und 2006. Was Ereignisse von Alltagserfahrungen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie auf Formen der vermittelten Partizipation aufmerksam machen und oft hochgradig ritualisiert sind. Die Vorbereitung, Organisation, Inszenierung und Übertragung (live) eines Programms wie des ›Eurovision Song Contest‹ für Millionen von Menschen in Europa und im Ausland bedeutet, einen konkreten historischen Moment in ein europäisches Ereignis, einen feierlichen Anlass zur Bestätigung ›Europas‹ als Kulturraum, zu verwan-

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deln.61 Nach der Argumentation des britischen Anthropologen und Mediensoziologen Nick Couldry sind diese Phänomene der ›transnationalen Gemeinschaft‹ durch Infrastrukturen jedoch privilegierte Momente, nicht weil sie Ausdrucksformen eines wirklich existierenden Europas sind, sondern weil sie die mythische Konstruktion des vermittelten Zentrums (Europa) am intensivsten offenbaren.62 Unser Erleben Europas beschränkt sich natürlich nicht nur auf diese extravaganten und eher seltenen Momente der vermittelten Partizipation. Wie soziologische Untersuchungen zeigen, ist unsere ›Eventgesellschaft‹ tief geprägt von zahlreichen unspektakulären, alltäglichen Erfahrungen mit Technologien und Infrastrukturen, die oft durch routinierte und unbewusste Handlungsformen gekennzeichnet sind.63 Die eigentliche Herausforderung besteht darin, diese gewohnten Interaktionen mit technischen Infrastrukturen als ›europäisch‹ zu beschreiben oder zu analysieren, ohne den theoretischen Erwartungshorizont (unsere Forschungsfrage) in die Materialität der Untersuchungsgegenstände (Infrastrukturen) oder die mentale Disposition ihrer Nutzer einzuschreiben. Der Hochgeschwindigkeitszug Eurostar ist mit Markierungen seiner ›Europäizität‹ bedeckt, und eine Fahrt damit ist oft ein ›ereignisreiches‹ Vorkommnis für die Fahrgäste, aber erzeugt die Fahrt unter dem Kanal wirklich ein Gefühl der ›Europäizität‹ in den Köpfen der Fahrgäste? In persönlichen Beobachtungen konnten wir feststellen, dass Begegnungen zwischen Reisenden im vermeintlich ›kosmopolitischen‹ Umfeld des Eurostar-Zuges ebenso gut nationale Stereotypen und Vorurteile verstärken können. Für reguläre Reisende hingegen ist der gesamte Prozess meist ›ereignislos‹. Die Aufmerksamkeit auf diese Dynamik der Ereignishaftigkeit in technischen Begegnungen zu lenken, kann uns helfen, sie so zu lesen, dass wir die komplexen Vorgänge verstehen, durch die Infrastrukturen es den Menschen ermöglichen, ›europäische‹ Dinge zu tun. Wie sowohl Großereignisse wie der Eurovision Song Contest, als auch das Beispiel der Eurostar-Reise auf kleinerer Ebene zeigen können, leben Ereignisse auch von den Performances der Akteur*innen (menschlich oder anderweitig). Das heißt, sie treten in eine anerkannte Rolle ein, die bestimmte Aspekte ihres Erscheinungsbildes betont. Wie der Anthropologe Bryan Pfaffenberger betont,

61 Vergleiche dazu die Studie von Katz, Elihu/Dayan, Daniel (1994): Media Events. The Live Broadcasting of History, Cambridge, MA: Harvard University Press. 62 Couldry, Nick (2003): Media Rituals. A Critical Approach, London/New York: Routledge, S.56. 63 Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus.

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können wir Prozesse der Infrastrukturentwicklung als ›technologische Dramen‹ betrachten: »Die Metapher des Dramas hervorzuheben bedeutet auch, eine aussagekräftigere Metapher als Text zu verwenden. Es gilt, den performativen Charakter von technologischen ›Statements‹ und ›Counterstatements‹ zu betonen, die die Erschaffung von Szenen (Kontexten) beinhalten, in denen Akteur*innen (Designer*innen, Artefakte und Nutzer*innen) ihre vorgefertigten Rollen im Hinblick auf eine Reihe von beabsichtigten Zielen (und vor einem Publikum) ausspielen. Zusätzlich soll betont werden, dass es sich bei dem Diskurs nicht um den argumentativen und akademischen Diskurs eines Textes handelt, sondern um das symbolische Medium des Mythos (in dem die Skepsis aufgehoben ist) und des Rituals (in dem menschliche Handlungen in kontrollierten sozialen Räumen mythisch strukturiert sind).«64

Während dramatischer europäischer Ereignisse nutzen die Akteur*innen eine bekannte pro- oder antieuropäische rhetorische Werkzeugkiste, um entweder Artefakte oder Systeme als symbolische Darbietungen des europäischen Geistes und der Einheit zu loben oder europäische Träume in sichere nationale oder regionale Grenzen zu zwängen. Eve Darian-Smith hat dargelegt wie der Ärmelkanal bei seiner ereignisreichen Geburt anachronistisch von der EU als Vorzeigeprojekt des Trans-European Transport Network (TEN-T) und von der Regierung Thatcher auf nationaler Ebene als wirtschaftlich pragmatischen, internationalistischen und national rühmlichen Erfolg vereinnahmt wurde. Für viele, die auf der internationalen Bühne viel weniger sichtbar waren, war es ein eklatanter Verlust der Souveränität an eine übermächtige französisch geprägte Europäische Union und die »Vergewaltigung Kents, des Garten Englands«.65 Die Arenen technischer Expert*innen, wie die jährlichen Treffen internationaler Organisationen, können auch als europäische Ereignisse gelesen werden, bei denen Macht durch Leistung zum Ausdruck kommt. Vor allem Vertreter*innen kleinerer oder weniger mächtiger Nationen konnten oft die Leistungen der technischen Expertise oder der europäischen Einheit nutzen, um sich auf der europäischen Bühne zentraler zu positionieren. Wie oben bereits allgemein argumentiert wurde, sind diese oft widersprüchlichen oder mehrdeutigen Diskurse über europäische, technologische Events nicht nur rhetorische ›Hintergrundmusik‹ zu den irgendwie ›echteren‹ materiellen oder politischen Systemen; stattdessen spielen sowohl materi-

64 Pfaffenberger, Bryan (1992): »Technological Dramas«, in: Science, Technology & Human Values, 17(3), S.286. 65 E. Darian-Smith (1999).

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elle als auch diskursive Elemente solcher Ereignisse eine Schlüsselrolle dabei, die Wirkung der Technologie zu verstehen. Europäische technologische Ereignisse sind Ausdrucksformen par excellence dramatischer Erzählungen, die die fragmentierten Zutaten zu einer sehr komplexen und komplizierten Geschichte verschmelzen. Indem wir auf sichtbarere ›ereignisreiche‹ Momente schauen, beginnen wir auch Einblicke in die Art und Weise zu gewinnen, wie ›normale‹ Bedeutungen Europas im Laufe der Zeit konstruiert, verinnerlicht, reaktiviert und neu verhandelt wurden. Aus dem Englischen übersetzt von Viola Güse.

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Autorinnen und Autoren

Badenoch, Alexander, lehrt am Institut für Media and Culture Studies der Universität Utrecht. Er ist der Autor von Voices in ruins: West German radio across the 1945 divide (Palgrave 2008) und Herausgeber der virtuellen Online-Ausstellung ›Europe, Interrupted‹, zu finden unter www.inventingeurope.eu. Bauer, Matthias, Prof. Dr., Professor am Institut für Sprache, Literatur und Medien an der Europa-Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Erzählforschung, Kultursemiotik, Medienanalyse. Cordonnier, Sarah, Professeure des universités an der Universität Lumière Lyon 2, Sciences de l’Information et de la Communication (SIC) und Mitglied des ELICO (Forschungszentrum der SIC). Ihre Forschungsschwerpunkte: Geisteswissenschaften und ihre Anwendung im Bereich der zeitgenössischen bildenden Kunst; internationale Wissenschaftsverflechtung der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Fickers, Andreas, Direktor des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH) und Professor für Contemporary and Digital History an der Universität Luxemburg. Er ist Gründer der Doctoral Training Unit ›Digital History & Hermeneutics‹ (DTU) und Leiter eines trinationalen Doktorandenkollegs. Neueste Erscheinung, zusammen mit Pascal Griset (ed.): Communication Europe. Technologies, Information, Events, Basingstoke: Palgrave 2019. Er beschäftigt sich mit der Kulturgeschichte der Kommunikationstechnologien aus einer vergleichenden europäischen Perspektive. Filk, Christian, Prof. Dr., Professor für Medienpädagogik und interdisziplinäre Medienforschung sowie Leiter des Seminars für Medienbildung an der EuropaUniversität Flensburg (EUF), Arbeitsschwerpunkte: Transformationsforschung der digitalen Netzwerkgesellschaft, empirische Kommunikationswissenschaft

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und partizipatorische Handlungsforschung sowie Kulturphilosophie und Medienethik. Krivanec, Eva, Jun.-Prof. Dr., Juniorprofessorin für Europäische Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Populärkultur in Europa, Medien und Krieg. Neef, Sonja, gestorben 2013, war von 2003-2010 Juniorprofessorin für Europäische Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar. Die Medienkulturwissenschaftlerin hatte Stipendien und Fellowships inne, u.a. der Alexander-vonHumboldt Stiftung, des Internationalen Kollegs Morphomata. Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen, der Amsterdam School for Cultural Analysis (ASCA). Monographien und zahlreiche Artikel zu Schrift und Handschrift, zu Übersetzung, Astrokultur und Kultur. Siehe: http://sonjaneef.de. Nesselhauf, Jonas, Dr. phil., Juniorprofessor für Europäische Medienkomparatistik an der Fachrichtung Kunst- und Kulturwissenschaft der Universität des Saarlandes. Er reflektiert das Aufkommen von studies und geht wie Christian Filk auch den Entstehungsbedingungen von Wissenschaftsdisziplinen nach. Arbeitsschwerpunkte von Jonas Nesselhauf sind: Medien und Körper/lichkeiten; Narratologie der Fernsehserie/»Serial Narration on Television«; Medien und Ökonomie (besonders Wirtschaftskrisen); Theorie und Geschichte der Kulturwissenschaften. Wagner, Hedwig, seit 2016 Professorin für Europäische Medienwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg (EUF), von 2010-2016 Juniorprofessorin für Europäische Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar, Direktoriumsmitglied im Interdisciplinary Centre for European Studies (ICES) der EUF, Leiterin des transnationalen Europaforschungsprojekts MEWEB: Media of East/ West European border traffic in times of the Cold War, Mit-Initiatorin und Teilprojekt- bzw. Co-Leiterin der transnationalen Europaforschungsprojekte LEMEL: L’Europe dans les médias en ligne: Studying the media coverage of European issues by online media, DIREPA: Diskurs und Repräsentation der konfliktreichen Vergangenheit Europas in den Medien/Discours, représentations, passé de l’Europe; CODES: Communication, Diversité culturelle et Solidarité/ Kommunikation, kulturelle Diversität und Solidarität. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Verhältnis von Europa und Medien. Siehe: https://www.uni-flens burg.de/germanistik/wer-wir-sind/alle-lehrenden/wagner-hedwig-prof-r/#unfoldc50971

Autorinnen und Autoren | 269

Weber, Thomas, Prof. Dr., Professor für Medienwissenschaft am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Dokumentarische Filme, Medien und Erinnerung, Medientheorien, europäische Medien.

Medienwissenschaft Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)

Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz 2018, 392 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3530-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3530-4 EPUB: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3530-0

Geert Lovink

Digitaler Nihilismus Thesen zur dunklen Seite der Plattformen 2019, 242 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4975-8 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4975-2 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4975-8

Mozilla Foundation

Internet Health Report 2019 2019, 118 p., pb., ill. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4946-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4946-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienwissenschaft Susan Leigh Star (verst.)

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Ramón Reichert, Karin Wenz, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Annika Richterich (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 4, Issue 2/2018 – Digital Citizens 2019, 220 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4477-7 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4477-1

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 21 Jg. 11, Heft 2/2019: Künstliche Intelligenzen 2019, 208 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-4468-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4468-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-4468-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de