Medienwissenschaft: 2. Teilband 9783110194197, 9783110163261

Aufgabe des Handbuchs ist es, das anerkannte Wissen über die Medien zusammenzustellen. Der Weg führt von den technischen

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Medienwissenschaft: 2. Teilband
 9783110194197, 9783110163261

Table of contents :
XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film
92. Vom Stummfilm zum Tonfilm
93. Die Filmformate
94. Der Trickfilm
XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik
95. „Projektionskunst“. Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts
XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution
96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung
97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung
98. Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung
XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen
99. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films
100. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Stummfilms
101. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Spielfilms
102. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Dokumentarfilms
103. Die kommunikativen und ästhetischen Funktionen der Filmmusik
XXIV. Geschichte des Films und seiner Erforschung IV: Forschungsgeschichte
104. The Research History of Film as an Industry
105. Forschungsgeschichte des Kinos
XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien
105a. Die Anfänge des Films
106. David Wark Griffith
107. Die Ufa in der Weimarer Republik (1918–1933)
108. Der russische Film. Lev Kuleschov, Vsevolod Pudovkin, Sergei Eisenstein
109. Tobis-Klangfilm und die Anfänge des Tonfilms (zwanziger Jahre)
110. Der lassische Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre
111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni)
112. Das ‘cinema des auteurs’ und die Nouvelle Vague
113. Der DDR-Film
XXVI. Technische Grundlagen der Medien III: Hörfunk
114. Die akustischen Grundlagen der Tontechnik
115. Grundlagen der Hörfunk-Studiotechnik
116. Die Grundlagen der Hörfunk-Übertragungstechnik
XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung
117. Die drahtlose Informationsübertragung
118. Die leitergebundene Informationsübertragung
119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen
120. Zusatzdienste in Rundfunk und Fernsehen
121. Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen
XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik
122. Von der Edisonwalze zur CD
123. Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung
124. Vom Kristalldetektor zum Superhet
125. Kunstkopf-Stereophonie
XXIX. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik
126. Die internationale Sendertechnik vor 1945
127. Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung
128. Groß-Veranstaltungen der Rundfunk-Übertragung: Olympische Spiele in Berlin 1936
XXX. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung III: Organisation, Programm und Forschungsgeschichte
129. Die Organisationsstruktur des Hörfunks in ihrer Entwicklung
130. Die Programmstruktur des Hörfunks in ihrer Entwicklung
131. Zur Geschichte der Hörfunkforschung
XXXI. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung IV: Kommunikative und ästhetische Analysen
132. Kommunikative und ästhetische Funktion des Hörfunk-Features in seiner Entwicklung bis 1945
133. Kommunikative und ästhetische Funktionen des hörfunkdramatischen Bereichs in ihrer Entwicklung bis 1945
134. Kommunikative Funktion der Hörfunkpropagandasendungen im Zweiten Weltkrieg
XXXII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung V: Geschichtliche Längs- und Querschnitte in Auswahl
135. Geschichte der politischen Berichterstattung im Hörfunk
136. Geschichte des Hörspiels
137. Die Arbeiter-Radio-Bewegung in Deutschland
138. Die Geschichte des Musikprogramms
XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung
139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik
XXXIV. Geschichte des Fernsehens
140. Geschichte des Fernsehens
141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland
XXXV. Mediengegenwart I: Buch und Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- und Bibliothekswesen
142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung
143. Bibliotheken – gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung
XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen
144. Bettina Kümmerling-Meibauer, Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs
145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart
146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons
147. Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts
148. Kommunikative und ästhetische Funktion der Comicschriften
149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch
150. Verbraucherverhalten und Leserreaktion (am Beispiel der Lesersituation im postsowjetischen Rußland)
XXXVII. Mediengegenwart III: Buch und Broschüre III: Zukünftige Entwicklungen
151. Zukunftsperspektiven des Buches
XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen
152. Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion
153. Moderne Zeitungsdruckereien
154. Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag
XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen
155. Agenturen und Pressestellen als Informationsquellen der Zeitung
156. Kommunikative Funktion von Pressestellen
157. Kommunikative Funktionen der Agenturarbeit
158. The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects
159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars
160. Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen
161. Kommunikative Funktionen des Zeitungsinterviews
162. Kommunikative Funktionen der Zeitungsrezension
163. Kommunikative und ästhetische Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen)
164. Zeitschriftenspezifische Präsentationsformen und Texttypen
165. Kommunikative und ästhetische Dispositionen im Konsum- und Rezeptionsverhalten von Zeitungs- und Zeitschriftenlesenden
XL. Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen
166. Auswirkungen der Digitaltechnik auf die technische Weiterentwicklung von Zeitungen und Zeitschriften
167. Zukunftsperspektiven von Zeitungen und Zeitschriften
XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen
168. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbeplakats
169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats
170. Kommunikative und ästhetische Leistungen von Bild und Sprache im Plakat

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Medienwissenschaft HSK 15.2

w

Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer

Herausgegeben von / Edited by / Edités par Armin Burkhardt Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand

Band 15.2

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Medienwissenschaft Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen Herausgegeben von Joachim-Felix Leonhard · Hans-Werner Ludwig Dietrich Schwarze · Erich Straßner 2. Teilband

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Medienwissenschaft : ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen / hrsg. von Joachim-Felix Leonhard — Berlin ; New York : de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 15) Teilbd. 2. - (2001) ISBN 3-11-016326-8

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck: Oskar Zach GmbH & Co. KG, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Rudolf Hübler, Berlin

Inhalt 2. Teilband XX.

Technische Grundlagen der Medien II: Film

92. 93. 94.

Wolfgang Mühl-Benninghaus, Vom Stummfilm zum Tonfilm . . . Bodo Weber, Die Filmformate Peter Kübler, Der Trickfilm

XXI.

Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik

95.

Ludwig Maria Yogl-Bienek, „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

XXII.

Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

96.

Helmut Merschmann, Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung Carsten Fedderke, Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung Thorsten Lorenz, Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung

97. 98.

XXIII. 99. 100. 101. 102. 103.

1027 1032 1038

1043

1059 1072 1084

Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen Erich Straßner, Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films Wolfgang Mühl-Benninghaus, Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Stummfilms Jürgen Felix, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Spielfilms Wolfgang Mühl-Benninghaus, Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Dokumentarfilms Hans-Christian Schmidt-Banse, Die kommunikativen und ästhetischen Funktionen der Filmmusik

XXIY.

Geschichte des Films und seiner Erforschung IV: Forschungsgeschichte

104. 105.

Douglas Gomery, The Research History of Film as an Industry Michael Töteberg, Forschungsgeschichte des Kinos

1093 1106 1117 1123 1137

1143 1150

VI

Inhalt

XXV.

Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

105a. 106. 107. 108.

113.

Martin Loiperdinger, Die Anfänge des Films Hans-Werner Ludwig, David Wark Griffith Frank Kessler, Die Ufa in der Weimarer Republik (1918-1933) . . Janina Urussowa, Der russische Film. Lev Kuleschov, Ysevolod Pudovkin, Sergei Eisenstein Olaf Schumacher / Hans J. Wulff, Warner, Fox, Tobis-Klangfilm und die Anfänge des Tonfilms (zwanziger Jahre) Hans-Peter Rodenberg, Der klassische Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre Gianni Rondolino, Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni) Klaus Peter Walter, Das 'cinéma des auteurs' und die Nouvelle Vague Harry Blunkf, Der DDR-Film

XXVI.

Technische Grundlagen der Medien III: Hörfunk

114. 115. 116.

Dietrich Schwarze, Die akustischen Grundlagen der Tontechnik . . Wolfgang Rein, Grundlagen der Hörfunk-Studiotechnik Peter Lentz, Die Grundlagen der Hörfunk-Übertragungstechnik . .

XXVII.

Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

117.

Dirk Didascalou / Werner Wiesbeck, Die drahtlose Informationsübertragung Joachim Speidel, Die leitergebundene Informationsübertragung . . Frank Müller-Römer, Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen Henning Wilkens, Zusatzdienste in Rundfunk und Fernsehen . . . Siegfried Dinsel, Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen

109. 110. 111. 112.

118. 119. 120. 121.

XXVIII.

Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

122. 123.

Hans Schubert, Von der Edisonwalze zur CD Gerhard Steinke, Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung Ansgar Diller, Vom Kristalldetektor zum Superhet Dieter Stahl, Kunstkopf-Stereophonie

124. 125.

XXIX.

Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik

126. 127.

Heinrich Brunswig, Die internationale Sendertechnik vor 1945 . . Peter Senger, Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung

1161 1167 1177 1185 1198 1207 1219 1228 1237

1246 1272 1289

1305 1323 1339 1348 1353

1362 1366 1375 1377

1387 1395

Inhalt

128.

VII

Ansgar Diller, Groß-Veranstaltungen der RundfunkÜbertragung: Olympische Spiele in Berlin 1936

XXX.

Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung III: Organisation, Programm und Forschungsgeschichte

129.

Horst O. Halefeldt, Die Organisationsstruktur des Hörfunks in ihrer Entwicklung Renate Schumacher / Horst O. Halefeldt, Die Programmstruktur des Hörfunks in ihrer Entwicklung Renate Schumacher, Zur Geschichte der Hörfunkforschung . . . .

130. 131.

XXXI.

Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung IV: Kommunikative und ästhetische Analysen

132.

Felix Kribus, Kommunikative und ästhetische Funktion des Hörfunk-Features in seiner Entwicklung bis 1945 Wolfram Wessels, Kommunikative und ästhetische Funktionen des hörfunkdramatischen Bereichs in ihrer Entwicklung bis 1945 Ansgar Diller, Kommunikative Funktion der Hörfunkpropagandasendungen im Zweiten Weltkrieg

133. 134.

XXXII.

Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung V: Geschichtliche Längs- und Querschnitte in Auswahl

135.

Peter Ziegler, Geschichte der politischen Berichterstattung im Hörfunk Hans-Jürgen Krug, Geschichte des Hörspiels Horst O. Halefeldt, Die Arbeiter-Radio-Bewegung in Deutschland Manfred Jenke, Die Geschichte des Musikprogramms

136. 137. 138.

XXXIII.

Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

139.

Werner Rupprecht, Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik

XXXIV.

Geschichte des Fernsehens

140. 141.

Dietrich Schwarzkopf, Geschichte des Fernsehens Friedrich-Wilhelm von Seil, Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland

XXXV.

Mediengegenwart I: Buch und Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- und Bibliothekswesen

142.

Renate Stefan, Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung

1412

1415 1429 1445

1460 1469 1478

1483 1488 1500 1504

1514

1539 1552

1564

VIII

143.

Inhalt

Elmar Mittler, Bibliotheken - gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung

XXXVI.

Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

144.

Bettina Kümmerling-Meibauer, Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs Rosemarie Gläser, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart Günther Hadding / Werner Ludewig, Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons Hans-Otto Hügel, Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts Dietrich Grünewald, Kommunikative und ästhetische Funktion der Comicschriften Horst Dieter Schlosser, Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch Valeria D. Stelmakh, Verbraucherverhalten und Leserreaktion (am Beispiel der Lesersituation im postsowjetischen Rußland) . .

145. 146. 147. 148. 149. 150.

XXXVII.

Mediengegenwart III: Buch und Broschüre III: Zukünftige Entwicklungen

151.

Günther Pflug, Zukunftsperspektiven des Buches

1574

1585 1594 1605 1621 1631 1639 1648

1556

XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen 152. 153. 154.

Boris Fuchs, Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion Boris Fuchs, Moderne Zeitungsdruckereien Volker Schulze, Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag

XXXIX.

Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

155.

Volker Schulze, Agenturen und Pressestellen als Informationsquellen der Zeitung Christoph H. Roland, Kommunikative Funktion von Pressestellen Peter Zschunke, Kommunikative Funktionen der Agenturarbeit . . Roger Fowler, The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects Hans Ramge / Britt-Marie Schuster, Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars Michael Geisler, Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen

156. 157. 158. 159. 160.

1664 1671 1677

1681 1685 1689 1693 1702 1712

Inhalt

161. 162. 163. 164. 165.

IX

Thomas Schröder, Kommunikative Funktionen des Zeitungsinterviews Gernot Stegert, Kommunikative Funktionen der Zeitungsrezension Bernhard Sowinski, Kommunikative und ästhetische Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen) . . . Erich Straßner, Zeitschriftenspezifische Präsentationsformen und Texttypen Hans-Dieter Kübler, Kommunikative und ästhetische Dispositionen im Konsum- und Rezeptionsverhalten von Zeitungs- und Zeitschriftenlesenden

XL.

Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen

166.

Thomas Breyer-Mayländer, Auswirkungen der Digitaltechnik auf die technische Weiterentwicklung von Zeitungen und Zeitschriften Andreas Kübler, Zukunftsperspektiven von Zeitungen und Zeitschriften

167.

XLI.

Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

168.

Michael Schirner, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbeplakats Gerd Müller, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats Erich Straßner, Kommunikative und ästhetische Leistungen von Bild und Sprache im Plakat

169. 170.

1720 1725 1729 1734

1740

1751 1756

1766 1770 1783

1. Teilband Vorwort

XXI

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke Abkürzungen aus dem Bereich Technik und Organisation

I.

Medien Wissenschaft I: Grundlagen

1.

Ulrich Saxer, Der Forschungsgegenstand der Medienwissenschaft Frank Hartmann, Die Grundlagen der wissenschaftlichen Erforschung der Medien Manfred Muckenhaupt, Die Grundlagen der kommunikationsanalytischen Medienwissenschaft

2. 3.

XXIII XXVI XXXI

1 15 28

X

4. 5. 6. 7. 8. 9.

Inhalt

Die Grundlagen der ästhetikorientierten Medienwissenschaft (entfallen) Siegfried Weischenberg, Die Grundlagen der Kommunikatorforschung in der Medienwissenschaft Anna M. Theis-Berglmair, Die Grundlagen der Organisationsforschung in der Medienwissenschaft Michael Charlton / Michael Barth, Grundlagen der empirischen Rezeptionsforschung in der Medienwissenschaft Walter Klingler / Gunnar Roters, Die Grundlagen der Wirkungsforschung in der Medienwissenschaft Helmut Mangold / Peter Regel-Brietzmann, Die Schnittstelle Mensch-Maschine in der Medienwissenschaft

II.

Medienwissenschaft II: Medientheorie

10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

Wolfgang Adam, Theorien des Flugblatts und der Flugschrift . . Hans Bohrmann, Theorien der Zeitung und Zeitschrift Johannes Kamps, Theorien des Plakats Tilo R. Knops, Theorien des Films Friederike Herrmann, Theorien des Hörfunks Manfred Schneider, Theorien des Fernsehens Jürgen Heinrich, Theorien der Medienverflechtung

III.

Medienwissenschaft III: Medienanalyse

17. 18.

Semiotische Methoden der Medienanalyse (entfallen) Hans-Jürgen Bucher, Sprachwissenschaftliche Methoden der Medienanalyse Bernhard Zimmermann, Literaturwissenschaftliche Methoden der Medienanalyse Klaus Merten, Sozialwissenschaftliche Methoden der Medienanalyse Hans-Dieter Kübler, Qualitative versus quantitative Methoden in der Medienanalyse

19. 20. 21.

IV.

Nachbar- und Hilfswissenschaften

22. 23. 24.

Hans-Dieter Bahr, Medien-Nachbarwissenschaften I: Philosophie Winfried Nöth, Medien-Nachbarwissenschaften II: Semiotik . . . Hans-Jürgen Bucher, Medien-Nachbarwissenschaften III: Linguistik Klaus Kanzog, Medien-Nachbarwissenschaften IV: Literaturwissenschaft Hans-Dieter Kübler, Medien-Nachbarwissenschaften Y: Sozialwissenschaften

25. 26.

58 70 82 111 118

132 143 148 161 175 189 200

213 231 244 256

273 281 287 310 318

Inhalt

27. 28. 29.

XI

32.

Thomas Hoeren, Medien-Nachbarwissenschaften VI: Jurisprudenz Franz Xaver Bea, Medien-Nachbarwissenschaften VII: Ökonomie Hans-Dieter Kübler, Medien-Nachbarwissenschaften VIII: Pädagogik und Didaktik Gundolf Winter, Medien-Nachbarwissenschaften IX: Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte Hans Norbert Janowski, Medien-Nachbarwissenschaften X: Theologie Klaus Haefner, Medien-Nachbarwissenschaften XI: Informatik .

V.

Technische Grundlagen der Medien I: Printmedien

33. 34.

Eva Hanebutt-Benz, Technik des Buches Ernst-Peter Biesalski, Buchbinderei

VI.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung I: Buch und Broschüre I: Technik

35.

Otto Mazal, Schreib- und Illustrationstechniken bis zum Beginn des Buchdrucks Das abendländische Buch vor der Erfindung des Buchdrucks (entfallen) Severin Cor sten, Die Technikgeschichte der Inkunabeln (Wiegendrucke) Gerhard Brinkhus, Die Technikgeschichte des Buches und der Broschüre vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

30. 31.

36. 37. 38.

VII.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung II: Buch und Broschüre II: Geschichte des Verlags-, Vertriebs- und Bibliothekswesens

39. 40. 41. 42.

Eduard Schönstedt, Geschichte des Buchverlags Stephan Füssel, Geschichte des Buchhandels Joachim-Felix Leonhard, Geschichte der Bibliotheken Ernst Fischer, Geschichte der Zensur

VIII.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung III: Buch und Broschüre III: Kommunikative und ästhetische Analysen

43.

Erich Kleinschmidt, Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in Büchern und Broschüren in ihrer geschichtlichen Entwicklung Peter Rau, Kommunikative und ästhetische Funktionen des antiken Buches Volker Honemann, Funktionen des Buches in Mittelalter und früher Neuzeit

44. 45.

337 347 355 366 374 385

390 421

439

444 450

458 468 473 500

514 526 539

XII

46.

Inhalt

Bettina Kümmerling-Meibauer, Kommunikative und ästhetische Funktionen historischer Kinder- und Jugendbücher

IX.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung IV: Buch und Broschüre IV: Forschungsgeschichte

47. 48.

Stephan Füssel, Buch-Forschung Ute Schneider, Forschungsgeschichte des Buch- und Broschürenautors Ute Schneider, Forschungsgeschichte des Lesers

49.

X.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung V: Buch und Broschüre V: Geschichtliche Längs- und Querschnitte in Auswahl

50. 51.

Werner H. Kelber, The Bible in the book tradition Justus Cobet, Herodot (ca. 485—425 v. Chr.), Historien und die antike Geschichtsschreibung Johannes Brachtendorf, Augustinus, 'Confessiones' (354—430) und die großen Autobiographen Benedikt Konrad Vollmann, Von Isidor von Sevilla, 'Etymologiae' (636 gest.) zu Albertus Magnus (1193-1280). Die großen mittelalterlichen Enzyklopädien Joerg O. Fichte, The shaping of European historiography: Beda, 'Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum' (c. 731) and Geoffrey of Monmouth, 'Historia Regum Britanniae' (c. 1136) Jakob Hans Josef Schneider, Die Summa Theologiae des Thomas von Aquin (1225—74) und das christliche Weltbild des Mittelalters Folker Reichert, Marco Polo, 'Divisament dou monde' und die Reisebücher Hans-Werner Ludwig, Thomas Morus, 'Utopia' und die Utopien Lothar Fietz, Baidassare Castigliones Ί1 Cortegiano' (1528) und das Menschenbild der Renaissance Margarete Lindemann, Robert Estienne, Dictionarium (1531), und die Entwicklung der Lexikographie Peter Herde, Niccolò Machiavelli, 'Il Principe' (1532) und die Staatskunstlehren Andreas Kühne / Stefan Kirschner, Nicolaus Copernikus, 'De Revolutionibus Orbium Coelestium' (1543) und das Neue Weltbild Bernhard Kelle, Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum (1570) und die Entwicklung der Atlanten Ernst Fischer, Bestseller in Geschichte und Gegenwart Bernd Dolle-Weinkauff, Entstehungsgeschichte des Comic

52. 53.

54.

55.

56. 57. 58. 59. 60. 61.

62. 63. 64.

560

569 574 583

592 600 614

625

636

649 665 680 695 710 725

734 746 764 776

Inhalt

XIII

XI.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung VI: Flugblatt und Flugschrift I: Herstellung, Vertrieb und Forschungsgeschichte

65.

Eva-Maria Bangerter-Schmid, Herstellung und Verteilung von Flugblättern und Flugschriften in ihrer geschichtlichen Entwicklung Wolfgang Harms, Forschungsgeschichte der Flugblätter und Flugschriften

66.

XII.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung VII: Flugblatt und Flugschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen sowie geschichtliche Längs- und Querschnitte in Auswahl

67.

Erich Straßner, Kommunikative Aufgaben und Leistungen des Flugblatts und der Flugschrift Johannes Schwitalla, Präsentationsformen, Lexttypen und kommunikative Leistungen der Sprache in Flugblättern und Flugschriften Michael Schilling, Geschichte der Flugblätter und Flugschriften bis um 1700 Sigrun Haude, Geschichte von Flugblatt und Flugschrift als Werbeträger

68.

69. 70.

XIII.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung VIII: Zeitung und Zeitschrift I: Technik

71.

Roger Münch, Lechnische Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften bis ins 20. Jahrhundert

XIV.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung IX: Zeitung und Zeitschrift II: Geschichte des Verlagsund Distributionswesens

72.

Volker Schulze, Geschichte der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage

XV.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung X: Zeitung und Zeitschrift III: Kommunikative und ästhetische Analyse

73.

Erich Straßner, Kommunikative Aufgaben und Leistungen der Zeitung Erich Straßner, Kommunikative Aufgaben und Leistungen der Zeitschrift

74.

785 790

794

802 817 820

825

831

837 852

XIV

75.

Inhalt

Ulrich Piischel, Präsentationsformen, Texttypen und kommunikative Leistungen der Sprache in Zeitungen und Zeitschriften

864

XYI.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung XI: Zeitung und Zeitschrift IV: Forschungsgeschichte

76. 77.

Hartwig Gebhardt, Forschungsgeschichte der Zeitung Hans Bohrmann, Forschungsgeschichte der Zeitschrift

XVII.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung XII: Zeitung und Zeitschrift V: Geschichtliche Längs- und Querschnitte in Auswahl

78. 79.

Kurt Koszyk, Allgemeine Geschichte der Zeitung Erich Straßner, Historische Entwicklungstendenzen der Zeitungsberichterstattung Gerhardt Petrat, Geschichte des Intelligenzblattes Hans-Wolfgang Wolter, Geschichte des General-Anzeigers Heinz-Dietrich Fischer, Geschichte der Parteizeitung Jörg Hennig, Geschichte der Boulevardzeitung Geschichte der alternativen Presse (entfallen) Hasso Reschenberg, Geschichte der Fachzeitschriften

80. 81. 82. 83. 84. 85.

881 892

896 913 923 931 939 955 965

XVIII.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung XIII: Das Plakat I: Herstellung, Vertrieb und Forschungsgeschichte

86.

Johannes Kamps, Herstellung und Verteilung des Plakats in seiner geschichtlichen Entwicklung Johannes Kamps, Forschungsgeschichte des Plakats

87.

974 979

XIX.

Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung XIV: Das Plakat II: Kommunikative und ästhetische Analysen sowie geschichtliche Längs- und Querschnitte in Auswahl

88.

Dieter Fuder, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Plakats in ihrer geschichtlichen Entwicklung Dieter Fuder, Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im Plakat in ihrer geschichtlichen Entwicklung Bernhard Denscher, Geschichte des Plakats Robert Müller, Geschichte des Werbeplakats

89. 90. 91. Farbtafeln

985 1001 1011 1016

nach 1025

Inhalt

XV

3. Teilband XLII.

Mediengegenwart VIII: Der Film I: Kommunikative und ästhetische Analysen

171.

Jürgen Felix, Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Spielfilms Rüdiger Steinmetz, Kommunikative und ästhetische Charakteristika des gegenwärtigen Dokumentarfilms Hermann Kalkofen, Kommunikative und ästhetische Funktionen des aktuellen Wissenschaftsfilms Ursula von Keitz, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbefilms Thomas Herbst, Film translation: dubbing Reinhold Rauh, Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im Film

172. 173. 174. 175. 176.

XLIII.

Mediengegenwart IX: Der Film II: Förderung

177.

Klaus Peter Dencker, Filmförderung in der Bundesrepublik Deutschland

XLIV.

Mediengegenwart X: Der Hörfunk I: Technik

178.

Bertram Bittel / Ingo Fiedler, Konzept und Realisierung der Analog-Digitalen Senderegien beim Südwestfunk Gerhard Steinke, Produktions- und Speichertechnologien im Hörfunk Henning Wilkens, Zusatz-Dienst: ARI, Radiodatensystem etc.

179. 180.

XLV.

Mediengegenwart XI: Der Hörfunk II: Übertragungstechnik

181. 182.

Joachim Kniestedt, LW-, MW- und KW-Rundfunkverbreitung Theodor Prosch, Die Netze des Planes Genf 1984 für UKW am Beispiel Baden-Württemberg (Bundesrepublik Deutschland) Thomas Lauterbach, Das Digitale Radio DAB

183.

XLVI.

Mediengegenwart XII: Der Hörfunk III: Organisations-, Programm- und Konsumentenstrukturen

184.

Hans J. Kleinsteuber / Barbara Thomaß, Gegenwärtige Organisationsstrukturen des Hörfunks Horst O. Halefeldt, Gegenwärtige Programmstrukturen des Hörfunks Walter Klingler, Die Hörfunkkonsumenten

185. 186.

XVI

Inhalt

XLVII.

Mediengegenwart XIII: Der Hörfunk IV: Kommunikative und ästhetische Analysen

187.

Matthias Holtmann, Der Hörfunk in Abhängigkeit von Zulieferern Jürg Häusermann, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Hörfunkprogramms Gerlinde Mautner, Kommunikative Funktionen der Hörfunknachrichten Jürg Häusermann / Carmen Zahn, Kommunikative Funktionen des Hörfunkmagazins Felix Kribus, Kommunikative und ästhetische Funktion des Hörfunkfeatures in seiner Entwicklung ab 1945 Peter Kottlorz, Kommunikative und ästhetische Funktion religiöser Hörfunksendungen Wolfgang Seifert, Kommunikative und ästhetische Funktionen der Musiksendungen im Hörfunk Kurt Sauerborn, Wissenschaft im Hörfunk: Aufgabe, Inhalt, Form, Präsentation Herbert Kapfer, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Hörspiels Hans-Rüdiger Fluck, Hörfunkspezifische Präsentationsformen und Texttypen Josef Eckhardt, Kommunikative und psychologische Dispositionen beim Radiohören

188. 189. 190. 191. 192. 193. 194. 195. 196. 197.

XLVIII.

Mediengegenwart XIV: Der Hörfunk V: Zukünftige Entwicklungen

198. 199.

Gerhard Steinke, Technische Weiterentwicklung des Hörfunks Peter Marchai, Zukünftige Programmentwicklungen des Hörfunks

XLIX.

Mediengegenwart XV: Fernsehen I: Technik

200.

Heide Riedel, Von der Nipkowscheibe zur Braunschen Kathodenstrahlröhre Heide Riedel, Der Weg zum Ikonoskop und Ikonoskopabtaster Heide Riedel, Die Entwicklung des Zwischenfilmverfahrens Heide Riedel, Der Fernseheinheitsempfänger El (1939) Heide Riedel, Der Weg zur Gerbernorm Wilhelm Sommerhäuser, Von der Composit- zur Componententechnik Manfred Strobach, Produktionstechnik und -methoden Heinz Tschäppät, Technik der Elektronischen Berichterstattung Reinhard Kalhöfer, Sendeabwicklung beim Fernsehen

201. 202. 203. 204. 205. 206. 207. 208.

Inhalt

XVII

L.

Mediengegenwart XVI: Fernsehen II: Übertragungstechnik

209.

Sven Boetcher / Eckhard Matzel, Entwicklung der Farbfernsehsysteme (PAL, Secam, NTSC, PAL plus) Douglas Gomery, History of U.S. Cable TV Networks (CATV) Wolfgang Weinlein, Die Fernsehversorgung und das Frequenzspektrum Douglas Gomery, The Multimedia Project — Orlando/Florida Pierre Meyrat, Die Satellitentechnik im Fernsehen Ulrich Reimers, Die HDTV-Diskussion Ulrich Reimers, Das Digitale Fernsehen (DVB)

210. 211. 212. 213. 214. 215.

LI.

Mediengegenwart XVII: Fernsehen III: Organisations-, Programm- und Konsumentenstrukturen

216. 217. 218.

Dietrich Schwarzkopf, Organisationsstrukturen des Fernsehens Miriam Meckel, Programmstrukturen des Fernsehens Walter Klingler, Die Fernsehkonsumenten

LH.

Mediengegenwart XVIII: Fernsehen IV: Kommunikative und ästhetische Analysen

219.

Andreas Schorlemer, Die Abhängigkeit des Fernsehens von den Programm-Zulieferern Georg Felsberg, Service-Sendungen im Fernsehen Bernhard Nellessen, Magazine — Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Magazinbeiträge: Politische Magazine Bernhard Zimmermann, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Fernsehens in ihrer Entwicklung Peter Ludes / Georg Schütte / Joachim Friedrich Staab, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Fernsehnachrichten Heinrich Löffler, Talkshows: Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen Gerd Hallenberger, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Game Shows Gabriele Kreutzner, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Soap-Operas Knut Hickethier, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Fernsehspiele Peter Kottlorz, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen religiöser Sendungen im deutschen Fernsehen Ludwig Graf / Hans Elwanger, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Telekolleg- oder Akademie- Sendungen

220. 221.

222. 223.

224. 225. 226. 227. 228. 229.

XVIII

230. 231. 232. 233. 234.

235.

236. 237. 238.

Inhalt

Richard Brunnengräber, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Wissenschaftssendungen Verena Burk, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Sportsendungen Jan Uwe Rogge, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Kindersendungen Hans Friedrich Foltin, Fernsehen als Unterhaltung Siegfried J. Schmidt, Entwicklung, Funktionen und Präsentationsformen der Werbesendungen aus der Sicht der Wissenschaft Karl-Heinz Hofsümmer / Dieter K. Müller, Entwicklung, Funktionen und Präsentationsformen der Werbesendungen aus der Sicht der Praxis Michael Altrogge, Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Yideoclips Werner Holly, Fernsehspezifik von Präsentationsformen und Texttypen Colin Berry, Viewing patterns and viewer habits: Communicative and aesthetic analyses

LIII.

Mediengegenwart XIX: Fernsehen Y: Zukünftige Entwicklung und Forschungsgeschichte

239.

Gerd Hallenberger, Zukünftige Programmentwicklung des Fernsehens

240.

Lothar Mikos, Forschungsgeschichte des Fernsehens

LIY.

Neue Dienste

241.

248.

Dietmar Kaletta, Die technischen Grundlagen von OnlineDiensten im Internet Dietmar Kaletta, Online-Dienste: Technik Georg Sandberger, Online-Dienste: Urheberrecht und Haftung Ralph Schmidt, Neue Online-Dienste und Internet Martin Gläser, Online-Dienste: Ökonomie Friedrich W. Hesse / Stephan Schwan, Internet-Based Teleteaching Birgit Godehardt / Carsten Klinge / Ute Schwetje, Aktuelle Bedeutung der Telearbeit für Unternehmen — Empirische Befunde aus dem Mittelstand Werner Stephan, Electronic Publishing

LV.

Mediengesellschaft I: Medienmarkt

249. 250.

Helmut Volpers, Der internationale Buchmarkt Horst Röper, Der internationale Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt Hannemor Keidel, Der internationale Film- und Videomarkt

242. 243. 244. 245. 246. 247.

251.

Inhalt

252.

XIX

254. 255.

Peter Zombile / Carl Mahlmann, Der internationale Markt für Musik-Produktionen George Wedell / Olivia Henley, International media markets: Television-Production Horst Röper, Die internationale Medienverflechtung Jürgen Heinrich, Massenmedien in der Internet-Ökonomie

LVI.

Mediengesellschaft II: Medienpolitik

256. 257. 258.

Gerd G. Kopper, Medienpolitik in Deutschland Dirk M. Barton, Medienpolitik in Europa Gerald J. Baldasty, Media-Politics in USA

LVII.

Mediengesellschaft III: Medienrecht und Medienethik

259. 260. 261. 262.

Udo Branahl, Medienrecht in Deutschland Herbert Bethge, Medienrecht in Europa Wolfgang Hoffmann-Riem, Medienrecht in USA Dietmar Mieth, Medienethik

LVIII.

Mediengesellschaft IV: Medienpädagogik und Mediendidaktik

263. 264.

Dieter Baacke, Medienpädagogik Gerhard Tulodziecki, Mediendidaktik

LIX.

Forschungsschwerpunkte und Forschungseinrichtungen

265.

269.

Hans Bohrmann, Medienforschungsschwerpunkte und -einrichtungen: Deutschland Medienforschungsschwerpunkte und -einrichtungen: Europa Douglas Gomery, Media Research Programmes and Institutions in the United States Nobuya Otomo, Medienforschungsschwerpunkte und -einrichtungen: Japan Joachim-Felix Leonhard, Medienarchive

LX.

Register

253.

266. 267. 268.

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen 2. Teilband Bodo Weber, Vom Stummfilm zum Tonfilm Abb. 93.1: Ableitung der Filmformat-Abmessungen Abb. 93.2: Ubersicht der gebräuchlichsten Filmformate bei NormalAufnahmesystemen Abb. 93.3: Vergleich der Bildformate von IMAX, 35 mm und Super-8 in Originalgröße Ludwig Maria Vogl-Bienek, „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts Abb. 95.1: Laterna magica Projektion im Kontext einer technologischenzyklopädischen Darstellung. England 1788 nach Abb. 95.2: Zeitungsannonce von Unger und Hoffmann, mit Nebelbildapparat, 1890 Abb. 95.3: Dreistrahliger Nebelbildapparat. England ca. 1890 Abb. 95.4: Komplexer Bewegungsmechanismus in einem Einzelbild aus der Nebelbildreihe: „Das Auswanderschiff' Abb. 95.5: Zwei Phasen aus dem Nebelbild: „Ausbruch des Vesuv" Abb. 95.6: Laterna magica Bild eines Showman aus Wales mit dreistrahligem Nebelbildapparat, Kinematograph und Phonograph Abb. 95.7: 2 Phasen-Schiebebild aus einer Zirkusreihe Abb. 95.8: Teufeldarstellung mit der Laterna magica ('s Gravesande 1720/21) Abb. 95.9: Kontaktabzug eines Negativs zum religiös orientierten Life Model Set „The Old Actors Story" Abb. 95.10: The Illustrated London News 18.10.1890 Dietrich Schwarze, Die akustischen Grundlagen der Tontechnik Abb. 114.1: Hörschwelle und Kurven gleicher Lautstärkepegel für Sinustöne im freien Schallfeld bei zweiohrigem Hören Abb. 114.2: Kurven gleicher Lautstärke bei Oktavbandgefiltertem Rauschen im diffusen Schallfeld Tab. 114.1a: Schallsignale und ihre Spektren Tab. 114.1b: Schallsignale und ihre Spektren Abb. 114.3: Der elektroakustische Übertragungskanal Tab. 114.2: Akustische Größen Tab. 114.3: Größenordnung akustischer Größen Abb. 114.4: Wien'sches-Membran-Manometer (Pistonphon) Abb. 114.5: Prinzipschaltbild eines Kondensatormikrophons in Hochfrequenzschaltung Abb. 114.6: Einteilung von Mikrophonprinzipien Abb. 114.7: Eigenschaften verschiedener Lautsprechertypen, Lautsprecherfunktionsprinzipien Abb. 114.8: Schema eines elektrodynamischen Lautsprechers Abb. 114.9: Versuchsaufbau zur Ermittlung der Kurven gleicher Lautstärke Abb. 114.10: Aufbau des Gehörorgans Abb. 114.11: Die optimale Nachhallzeit für verschiedene Arten der Darbietung Wolfgang Rein, Grundlagen der Hörfunk-Studiotechnik Tab. 115.1: Wichtige Pegel in der Studiotechnik Tab. 115.2: Bewertung eines Signals nach CCIR

1033 1034 1037

1044 1045 1048 1050 1051 1052 1053 1055 1056 1057

1247 1248 1249 1250 1251 1252 1252 1254 1257 1259 1260 1261 1264 1264 1270

1273 1273

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen

XXI

Abb. Tab. Tab. Tab.

115.1: 115.3: 115.4: 115.5:

1274 1275 1281 1281

Peter Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

Lentz, Die Grundlagen der Hörfunk-Übertragungstechnik 116.1: Übertragungswagen der Reichsfunk-Gesellschaft R R G (1936) 116.2: Ü- Wagen 9 des S D R 116.3: Ü-Wagen 6 des SDR 116.4: Reportagewagen R I , R2 und R3 116.5: Messestudio des SDR auf der IGA 116.6: DAT-Recorder T C D - D 8 116.7: Mandozzi, D A R T 2 116.8: Kommentatorposition von A R D Radio bei der Leichtathletik W M 1993, Stuttgart 116.9: UHF-Reportagefunk 116.10: Inmarsat-Übertragung 116.11: M T Reporter Β 200 116.12: Prinzipschaltbildung Stromversorgung

Abb. Abb. Abb. Abb. Dirk Abb. Tab. Abb. Abb. Tab. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

Schematischer A u f b a u eines A/D-Wandlers Verschiedene Quelldatenformate Spurbreiten bei der Mehrspuraufzeichnung Kompandersysteme zur Rauschminderung

Abb. 118.1: Abb. 118.2:

Abb. Abb. Abb. Abb.

1296 1298 1299 1300 1303

Didascalou; Werner Wiesbeck, Die drahtlose Informationsübertragung 117.1: Prinzip eines Übertragungssystems 1306 117.1: Frequenzbereiche nach C C I R 1307 117.2: Wesentliche Komponenten und Einflußgrößen einer Funkübertragungsstrecke 1308 117.3: Allgemeines Antennenprinzip 1309 117.2: Modulationsarten 1311 117.4: Schematische Darstellung der Ausbreitung elektromagnetischer Wellen durch die Aufteilung in verschiedene Ubertragungswege 1312 117.5: Momentaufnahme einer ebenen Welle 1313 117.6: Ausbreitung über ebener Erde, Zweistrahlausbreitung 1314 117.7: Streuphänomene 1315 117.8: Streuung an rauhen Oberflächen 1316 117.9: Geometrie bei der Beugung am Keil 1317 117.10: Kanonische Objekte mit bekannten UTD-Lösungen 1318 117.11: Sphärisch geschichtete Atmosphäre 1318 117.12: Veranschaulichung der verschiedenen Ausbreitungsphänomene und ihres Einflusses auf die Wellenausbreitung (Frequenz: 300 MHz) . . . . nach 1320 117.13: Ausbreitungsumgebungen f ü r die Funknetzplanung 1321 117.14: Beispiele für die Ausbreitungsmodellierung vor 1321

Joachim Speidel, Die leitergebundene

Abb. Abb. Abb. Tab. Abb.

1290 1291 1291 1293 1294 1295 1295

118.3: 118.4: 118.5: 118.1 118.6:

Informationsübertragung

Typische Frequenzbereiche und Dämpfungsbeläge verschiedener Kabel . . Die elektrische Leitung mit Ersatzschaltbild des Leitungsstück der Länge dx Querschnitt des Flachbandkabels AWG 28 Querschnitt einer Streifenleitung auf Epoxidglasgewebe System zur optischen Informationsübertragung

Statische Modulationskennlinie einer InGaAsP-Laserdiode für 1310 nm (Philips C Q F72/D) 118.7: Statisches und dynamisches Ersatzschaltbild der Laserdiode 118.8: Betrag der Übertragungsfunktion nach Gin. (12 a, b) einer Laserdiode . . 118.9: Aufbau eines Glasfaserkabels 118.10: Dämpfungsbelag moderner Einmoden-Glasfasern in Abhängigkeit von der Wellenlänge

1324 1324 1326 1326 1326 1327 1328 1328 1328 1328 1329

XXII

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen

Abb. 118.11: Optische Sendeimpulse und optische Empfangsimpulse nach Durchlaufen einer Glasfaser Abb. 118.12: Chromatischer Dispersionskoeffizient DChr als Funktion der Wellenlänge zweier Glasfasertypen Abb. 118.13: Statische Modulationskennlinie einer InGaAsP-PIN-Photodiode für 1310 nm Abb. 118.14: Statisches und dynamisches Ersatzschaltbild der Photodiode Tab. 118.2 Abb. 118.15: Betrag nach Übertragungsfunktion nach Gin. (18 a, b) einer Photodiode Abb. 118.16: Prinzipielles Ersatzschaltbild eines optischen Empfangers mit Rauschquellen Tab. 118.3 Abb. 118.17: Prinzip des optischen Faserverstärkers Abb. 118.18: Verstärkung des erbiumdotierten Faserverstärkers (EDFA) in Abhängigkeit von der Signalwellenlänge Abb. 118.19: Verstärkung des praseodymdotierten Faserverstärkers (PDFA) in Abhängigkeit von der Signalwellenlänge Abb. 118.20: Verstärkung des PDFAs als Funktion der Pumpleistung Abb. 118.21: Spektrale Leistungsdichte des ASE-Rauschens am Eingang der dotierten Faser und am Ausgang beim PDFA Tab. 118.4 Abb. 118.22: Optisches Übertragungssystem mit PDFAs Abb. 118.23: Signal-Rauschabstand als Funktion der gesamten Streckenlänge Abb. 118.24: Bitfehlerwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der gesamten Streckenlänge für k Verstärkerfelder

1330 1330 1331 1331 1332 1332 1333 1334 1334 1335 1335 1336 1336 1337 1337 1338 1338

Henning Wilkens, Zusatzdienste in Rundfunk und Fernsehen Abb. 120.1: FM-Muliplexsignal Abb. 120.2: Vertikal-Austastlücke

1350 1351

Siegfried Dinsel, Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen Tab. 121.1: Fernsehfrequenzbereiche Tab. 121.2: Analoge Farbfernsehstandards Tab. 121.3: Die Parameter des Fernseh-Ubertragungsstandards in Deutschland Tab. 121.4: Digitale Fernsehsysteme in Europa Abb. 121.1: Funktionsblöcke des TV-Empfangers Abb. 121.2: Funktionsblöcke des zukünftigen TV-Empfängers Abb. 121.3: Offene Architektur der Decoder-Box Tab. 121.5: Kabelfrequenzbereiche Abb. 121.4: Baumstruktur und Sternstruktur von Hausverteilanlagen Tab. 121.6: Frequenzbereiche im Tonrundfunk Abb. 121.5: Funktionsblöcke des UKW-Empfängers

1354 1354 1355 1355 1356 1356 1357 1359 1359 1359 1360

Dieter Stahl, Abb. 125.1: Abb. 125.2: Abb. 125.3: Abb. 125.4: Abb. 125.5: Abb. 125.6: Abb. 125.7:

....

Kunstkopf-Stereophonie Systematik räum- und kopfbezogener Übertragungsverfahren Zur Kompatibilität zwischen Aufnahme- und Wiedergabeseite Kunstkopfmodell des H H I Berlin Kunstkopfmodell der Universität Göttingen H R T F des linken Ohres bei verschiedenen Azimutwinkeln. Messungen 3 X wiederholt Individuelle HRTFs von 40 Testpersonen Aufteilung der Übertragungsfunktion in einen Aufnahme- und einen Wiedergabeteil

Peter Senger, Das Sendemetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung Tab. 127.1: Deutsche Welle Fremdsprachen-Programme Radio Abb. 127.1: Auslandsdienste im Vergleich, Stand 1990

1379 1379 1380 1380 1383 1384 1384

1396 1398

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen

Abb. 127.2: Abb. 127.3: Abb. 127.4: Abb. Abb. Abb. Abb.

127.5: 127.6: 127.7: 127.8:

Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

127.9: 127.10: 127.11: 127.12: 127.13: 127.14: 127.15: 127.16:

XXIII

Deutsche Welle-Satellitenversorgung weltweit 1399 Deutsche Welle Satelliten-Transpondernutzung 1399 Kurzwellen-Raumwellenausbreitung durch Reflexion an Ionosphärenschichten 1400 Sendernetz der Deutschen Welle 1401 Deutsche Welle-Relaisstationentwicklung 1963 bis 1998 1402 Versorgungsdienste der Deutschen Welle - Relaisstationen nach 1408 Lage der Deutschen Welle Relaisstation Kigali auf dem afrikanischen Kontinent 1403 Lageplan der Deutschen Welle Relaisstation Kigali/Ruanda 1404 Lage der Deutschen Welle Relaisstation Sines/Portugal 1405 Lageplan der Deutschen Welle Relaisstation Sines 1406 Deutsche Welle Relaisstation Antigua 1407 Lage der Deutschen Welle Relaisstation Trincomalee auf Sri Lanka . . . . 1408 Welt um Trincomalee 1408 Satellitennetz der D W vor 1409 Abschattung von Satellitensignalen 1410

Werner Ruppreeht, Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik Abb. 139.1: Erforderlicher technischer Aufwand bei Analoggeräten und bei Digitalgeräten in Abhängigkeit von der gewünschten Genauigkeit Abb. 139.2: Zur analogen und digitalen Anzeige eines Schall-Signals Abb. 139.3: Beispiele für Symbole Abb. 139.4: Beispiele binär codierte Digitalsignale Tab. 139.1 Abb. 139.5: Binär ( M = 2) und quaternär ( M = 4) codierte Digitalsignale Tab. 139.2: Zur Bildung binärer Codewörter Tab. 139.3: Vergleich von Dezimalzahlen, Dualzahlen und Gray-code Abb. 139.6: Verlauf und Kenngrößen eines sinusförmigen Spannungsverlaufs Abb. 139.7: Beispiele für Signalspektren Abb. 139.8: Zum Funktionswert eines Dichte-Spektrums Abb. 139.9: Zur Störfestigkeit binärer Digitalsignale Abb. 139.10: Zulässige Störungen bei einem quaternären NRZ-Signal und einem binären NRZ-Signal gleicher Bitrate und gleichem Signalhub d = 1 . . . . Tab. 139.4 Abb. 139.11: Zur Bildung von QAM-Digitalsignalen

1533 1535 1536

Renate Stefan, Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung Abb. 142.1: Konventionelle Druckplattenherstellung Abb. 142.2: Computer to Film Abb. 142.3: Computer to Plate

1566 1568 1569

Boris Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

1665 1666 1666 1667 1668 1668 1669 1670

Fuchs, Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion 152.1: Die Wirtschaftlichkeit bei Computer-to-Plate im Zeitungsdruck 152.2: Die zonenfreie Einfarbetechnik im Zeitungsdruck 152.3: Das Sprühfeuchtwerk 152.4: Die Achterturm-Druckeinheit im Zeitungsdruck 152.5: Die elektronische Welle nach dem SERCOS-Standard 152.6: Moderne Rollentiefdruckmaschine 152.7: Trockenhaube von Tiefdruckwerken mit normalen Papierleitwalzen . . . . 152.8: Rollenoffsetmaschine mit wellenlosem Antrieb

Boris Fuchs, Moderne Zeitungsdruckereien Abb. 153.1: Der Grundriß des Druckhauses Spandau am Brunsbütteler Damm in Berlin Abb. 153.2: Lageplan des neuen MVD-Druckzentrums im neu ausgewiesenen Gewerbegebiet in Barleben

1518 1522 1523 1524 1525 1526 1527 1528 1529 1530 1531 1533

1672 1674

XXIV Abb. 153.3: Abb. 153.4: Abb. 153.5: Abb. 153.6: Abb. 153.7:

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen

Perspektivische Darstellung (Ostansicht) des Druckzentrums für die „Volksstimme" in Barleben bei Magdeburg Grundriß der Druckerei der „Volksstimme" in Barleben Schnitt durch das Gebäude des D H F vom Rollenlager bis zur Versandstraße Gesamtansicht des neuen DHF-Druckzentrums Die neue Geoman-Linie des D H F

1675 1676 nach 1676 vor 1677 nach 1676

Bernhard Sowinski, Kommunikative und ästhetische Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen) Abb. 163.1: Vorgangsschema der werblichen Kommunikation 1733 Michael Schirner, Kommunikative und ästhetische Funktionen des Abb. 168.1: „Der Käfer der Käfer" Abb. 168.2: „Der Welt Meister" Abb. 168.3: „VW. VW. VW. VW" Abb. 168.4: „Liobe Sokretärin" Abb. 168.5: „Taille 59. Hüfte 88. Creme 21" Abb. 168.6: „Bau. Steine. Erden. Conti" Abb. 168.7: „Rrrmm. Brrmm. Wrrmm. Conti"

Werbeplakats 1769 1769 1769 1769 1769 1769 1769

Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke AB Archiv für Begriffsgeschichte Ä&Κ Ästhetik und Kommunikation AEÜ Archiv für Elektronik und Übertragungstechnik AGB Archiv für Geschichte des Buchwesens AJS American Journal of Sociology (Dt.) Ak. Wiss. B./DDR. IdSL/ZI Baust. = (Deutsche) Akademie der Wissenschaften zu Berlin bzw. der DDR. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur bzw. des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft. Bausteine zur (Sprach)geschichte des Neuhochdeutschen Ann Rev Psych Annual Review of Psycholgoy APr Archiv für Presserecht Archiv Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen AS Acta Sociologica ASG Archiv für Sozialgeschichte ASR American Sociological Review Aufriß Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. v. Wolfgang Stammler, 3 Bde., Berlin 1952-57 BbdB Börsenblatt für den deutschen Buchhandel BDW Bild der Wissenschaft BES Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache BGR Beiträge zur Geschichte des Rundfunks BGS Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft BRP Beiträge zur Romanischen Philologie C Cinema CC Cahiers du cinéma Ch Cahiers d'histoire mondiale CJ Cinema Journal CL Comparative Literature CP Cognitive Psychology CQ Critical Quarterly CR Communication Research CS Communication and Society CSMC Critical Studies of Mass Communication CY Communication Yearbook DAI Dissertation Abstracts International DaP Data Processing DaS Discourse and Society DASDJb. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch DB Das deutsche Buch DD Development Dialogue DG Dialog der Gesellschaft DLE Das literarische Echo DNS Die neueren Sprachen DP Discourse Processes DS Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Analyse und Dokumentation DU Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung

XXVI DVjs EA EBU-Review EC ECI EF EJC ES ETZ Euph. FB FL FM FMK FS GFBRD GJ GKJ GL GpF GRM GW HA HbPsych HCR HdA HdF HdP HdZ HeS HJC HJFRT IASL IHHF IJSL IZK JaP JB JBEM JC JCE JEGP JELH JET JIG JLSP

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Etudes Anglaises European Broadcasting Union, Technical Review and Monographs Essays in Criticism Etudes Classiques Études Françaises European Journal of Communication English Studies Elektrotechnische Zeitschrift Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte Fernsehen und Bildung Folia Linguistica Le Français Moderne Funkkolleg Medien und Kommunikation. Studienbrief Frühmittelalterliche Studien Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Helmut Kreuzer/Christian Thomsen, 5 Bde., München 1993 — 94 Gutenberg Jahrbuch Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Hrsg. v. Jörg Aufermann/Hans Bohrmann/Rolf Sülzer, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1973 Germanistische Linguistik. Berichte aus dem Forschungsinstitut für deutsche Sprache, Deutscher Sprachatlas Grundlagen des populären Films. Hrsg. v. Bernhard Roloff/Georg Seessien, 10 Bde., Reinbek b. Hamburg 1979-1981 Germanisch-Romanische Monatsschrift Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hrsg. v. d. Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Leipzig 1925 ff. A Handbook of Archaeology. Hrsg. ν. Homer L. Thomas. 4 Bde., Jonsered 1993-1996 Handbuch der Psychologie. Hrsg. v. David Katz. Basel 1951 Human Communication Research Handbook of Discourse Analysis. Hrsg. v. Teun van Dijk, 4 Bde., London 1985 Handbuch der Fachpresse. Hrsg. v. Otto B. Roegele/Hans Großmann. Frankfurt a . M . 1977 Handbuch der Publizistik. Hrsg. v. Emil Dovifat, 3 Bde., Berlin 1968-69 Handbuch der Zeitungswissenschaft, Hrsg. v. Walther Heide, 2 Bde., Leipzig 1940-43 Handbuch der empirischen Sozialforschung. Hrsg. v. René König, 14 Bde., Stuttgart 1962-79 Harward Journal of Communication Historical Journal of Film, Radio and Television Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Internationales Handbuch für Hörfunk und Fernsehen. Hrsg. v. HansBredow-Institut für Hörfunk und Fernsehen. Baden-Baden/Hamburg 231 996 International Journal of the Sociology of Language Internationale Zeitschrift für Kommunikationsforschung Journal of applied Psychology Journal of Broadcasting Journal of Broadcasting and the Electronic Media Journal of Communication Journal of Contemporary Ethnographie Journal of English and Germanic Philology Journal of English Literary History Journal of Educational Television Jahrbuch für Internationale Germanistik Journal of Language and Social Psychology

Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke

JMK JML JMLit JPC JPol JPR JQ JVL KuP KZSS LB LE LGL LiLi LM LS LT Κ Maf MBK MBKÖ MCR MCRY MCS MD Mf MFS MJ ML MLN MLQ MLR ModSpr MP mp MPh MSRG MTJ Mu NBL NDB NDL NGC NRF NS NTF NTZ OBST ÖM

XXVII

Jahrbuch zur Medienstatistik und Kommunikationspolitik Journal of Memory and Language Journal of Modern Literature Journal of Popular Culture The Journal of Politics Journal of Psycholinguistic Research Journalism Quarterly Journal of Verbal Learning and Verbal Behaviour Kommunikation und Politik Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Linguistische Berichte. Forschung, Information, Diskussion Literatur und Erfahrung Lexikon der germanistischen Linguistik. Hrsg. v. Hans P. Althaus/Helmut Henne/Herbert E. Wiegand. Tübingen 2 1990 Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Lexikon des Mittelalters. Hrsg. v. Robert-Henri Bautier. Bd I ff. München/ Zürich 1980 ff. Language in Society Lexikon für Theologie und Kirche, begr. v. Michael Buchberger, hrsg. v. Walter Kasper, 6 Bde., Freiburg i. B. 3 1993 —1997 Massenkommunikationsforschung, Hrsg. v. Dieter Prokop, 3 Bde., Frankfurt a . M . 1972-77 Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Hrsg. v. Bernhard Bischoff. 4 Bde., München 1918-1979 Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. Hrsg. v. d. Osterreichischen Akademie der Wissenschaften. 5 Bde., Wien/Köln/Graz 1915—1971 Mass Communication Review Mass Communication Review Yearbook Media, Culture and Society Medien Dialog Medienforschung, Hrsg. v. Dieter Prokop, 3 Bde., Frankfurt a . M . 1985-96 Modern Fiction Studies Medien Journal Modern Languages. Journal of the Modern Language Modern Language Notes Modern Language Quarterly Modern Language Review Moderna sprâk Media Perspektiven medien praktisch Modern Philology Mitteilungen. Studienkreis Rundfunk und Geschichte Media Trend Journal Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache Neue Beiträge zur Literatur Neue Deutsche Biographie Neue deutsche Literatur. Monatsschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik New German Critique Nouvelle Revue Française Die neueren Sprachen. Zeitschrift für Forschung, Unterricht und Kontaktstudium auf dem Fachgebiet der modernen Fremdsprache Nachrichtentechnische Fachberichte Nachrichtentechnische Zeitschrift Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie Die öffentliche Meinung

XXVIII PB PBB H bzw. Τ PCS PMLA Polit.Mein PolitVj POQ PQ PR PZ QJS REL RES RF Rqh RiD RJ RLSI RRQ RTM RuF RuH ShJ ShQ ShS SLG SM SMPTE-Journal SPh SPIEL SS STZ SU F SuL TAP TBC TCL TCS TEMC TLS TMTT TP TuK TuP VL VP VS WW WWP ZAA ZaP ZdA ZdB ZdG ZdS

Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen

Psychological Bulletin Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Η (= Halle) und Τ (= Tübingen) Progress in Communication Science Publications of the Modern Language Association Die politische Meinung Politische Vierteljahresschrift The Public Opinion Quarterly Philological Quarterly Psychological Revue Zur Politik und Zeitgeschichte The Quarterly Journal of Speech Review of English Literature Review of English Studies Romanische Forschungen Revue de questions historiques Rundfunk in Deutschland, Hrsg. v. Hans Bausch, 5 Bde., München 1980 Romanistisches Jahrbuch Research on Language and Social Interaction Reading Research Quarterly Rundfunktechnische Mitteilungen Rundfunk und Fernsehen Rufer und Hörer Shakespeare Jahrbuch Shakespeare Quarterly Shakespeare Survey Studia Linguistica Germanica Schweizer Monatshefte Society of Motion Pictures and Television Engineers-Journal Studies in Philology Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft Studien zur Sozialwissenschaft Sprache im technischen Zeitalter Sinn und Form Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht Transactions of the Antennas and Propagation society Transactions of Broadcasting society Twentieth Century Literature Theory, Culture and Society Transactions of Elektromagnetic compatibility society The Times Literary Supplement Transactions of Microwave Theory and Techniques society Theorie und Praxis Text und Kritik Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. v. Wolfgang Stammler/Karl Langosch. Bd. 1 - 1 0 ; Berlin-New York 21981 —1999 Victorian Poetry Victorian Studies Wirkendes Wort. Deutsche Sprache in Forschung und Lehre Wesen und Wirkungen der Publizistik Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik Zeitschrift für angewandte Psychologie Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für Deutschkunde Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte Zeitschrift für deutsche Sprache

Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke

ZEPP ZfdPh ZfG ZfS ZFSL ZFO ZGL ZPR ZPSK ZRP ZS ZZ

XXIX

Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik Zeitschrift für Semiotik Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur Zeitschrift Führung + Organisation Zeitschrift für Germanistische Linguistik Zeitschrift für Public Relations Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung Zeitschrift für Romanische Philologie Zeitschrift für Soziologie Zeitung und Zeit

Abkürzungen aus dem Bereich Technik und Organisation ABC ABV ACATS ADA ADR ADTV AES ALERT APL ARD ARI ASCII ASIC ASK ASPEC ATM ATRAC ATTC BB BCN BER BK BSS C/N CAE CATV CCD CCIR CCETT CD CD-i CD-ROM CENELEC CIRC COFDM COM CPU CRC CW D-VHS DAB DAT DATV DAVOS DB DBS DCC DCT

Annular Beam Control Asia-Pacific Broadcasting Union Advisory Committee on Advanced Television Service Auto Directional Antenna ASTRA Digital Radio Advanced Definition TV Audio Engineering Society Advice and Problem Location for European Road Traffic Average Picture Level Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands Autofahrer-Rundfunk-Informationen American Standard Code for Information Interchange Application Specific Integrated Circuit Amplitude Shift Keying Adaptive Spectral Perceptual Entropy Coding Asynchronous Transmission Mode Adaptive Transform Acoustic Coding Advanced Television Test Center Basisband Broadcast Communication Network Bit Error Rate Breitbandkommunikation Broadcast Satellite Services Carrier to Noise Computer Aided Engineering Cable Authority TV Charge Coupled Device Comité Consultatif International de Radiodiffusion Centre Commun d'Etudes de Télédiffusion et Télécommunications Compact Disc Compact Disc — interactiv Compact Disc - Read only Memory (650 Megabyte) Comité Européen de Normalisation Electrotecnique Cross Interleave Reed Solomon Code Coded OFDM Circle Optimized Modulation Central Processor Unit Cyclic Redundant Check Continuous Wave Digital-Video Home System Digital Audio Broadcasting Digital Audio Tape Digitally Assisted TV Digitales Audio-Video-Optisches System Data Broadcasting Direct Broadcasting Satellite Digital Compact Cassette Discrete Cosinus Transformation

Abkürzungen aus dem Bereich Technik und Organisation DCT DFS DIB DMX DQPSK DRAM DSC DSP DSR DTV DVB DVB-C DVB-MS DVB-S DVB-T DVC DVD D-VHS DZ E(I)RP EBU ECC ECS EDTV EEPROM ENG ESA ESC ESRO ETS ETSI EUREKA EUTELSAT EWS FBAS FCC FFT FIFO FSS FTTC FTTH FuBk GFK GGA GOPS GPS GSM HDI HDTV IBC IDTV IFFT IFRB INTELSAT IRD IRT ISDN

Digital Component Technology Deutscher Fernmeldesatellit (Kopernikus) Digital Integrated Broadcasting Digital Music Express Differential Quadrature PSK Dynamic Random Access Memory Digital seriell component Digital Signal Processing Digital Satellite Radio Digital TV Digital Video Broadcasting Digital Video Broadcasting-Cable Digital Video Broadcast-Multipoint System Digital Video Broadcast-Satellite Digital Video Broadcast-Terrestrial Digital Video Cassette Digital Video Disc (4,7 Gigabyte) Digital-Video H o m e System Datenzeile Equivalent (Isotropie) Radiated Power European Broadcasting Union (entspricht U E R ) Error Correction Code European Communication Satellite Enhanced Definition TV Electrical Erasable Programmable R O M Electronic News Gathering European Space Agença Energy Saving Collector European Space Research Organisation European Telecom Standard European Telecom Standardization Institute European Research Commission Agency European Telecommunication Satellite Organization Emergenca Warning System Färb-, Bild-, Austast- und Synchronsignal Federal Communications Commission, USA Fast Fourier Transformation First-In/First-Out Fixed Satellite Services Fiber to the Curb Fiber to the Home Fernsehausschuß der Funkbetriebskommission Glasfaserverstärkter Kunststoff Großgemeinschaftsantennenanlage Giga Operations per Second Global Positioning System Groupe Spécial Mobiles, Paris High Definition Interlaced High Definition TV International Broadcasting Convention Improved Definition TV Inverse F F T International Frequency Regulative Board International Telecommunication Satellite Organization Integrated Receiver Decoder Institut für Rundfunktechnik (München) Integrated Services Digital Network

XXXI

XXXII ISO W G ITU JESSI JPEG JTC KU LCA LCD LDTV LNC LSB LSI LWL MAC MACP MAZ Mbps MD MJD MMDS MOD MPEG MSC MSPS MUSE MUSICAM MVDS NICAM NMR NTSC OFDM Offline Online OTS PAD PAL PASC PCM PCN PDC Pixel POM PRZ PSK QAM QMF RBDS RDS RMS RP SAW SCA SCPC SDE SDTV SECAM

Abkürzungen aus dem Bereich Technik und Organisation International Standardization Organization Working G r o u p International Telecommunication Union Joint Electron Silicon Semiconductor Integration Joint Photographie Experts G r o u p Joint Technical Committee (ETSI-EBU) Frequenzband für Satelliten — Links 10,7—12,75 G H z Logic Cell Array Liquid Crystal Display Limited Definition TV Low Noise Converter Least Significant Bit Large Scale Integration Lichtwellenleiter Multiplex Analog Component Motion Adapted Color Plus Magnetische Aufzeichnungsanlage Megabytes per second Mini Disc Modified Julian D a y Multichannel Microwave Distribution-System Magneto Optical Disc Motion Pictures Expert G r o u p Multiadaptive Spectral Audio Coding Mega Symbols per Second Multiple Subnyquist-Sampling and Encoding Masking pattern-adapted Universal Subband Integrated Coding and Multiplexing Multipoint Video Distribution System Near Instantaneous Companding Noise to Mask Ratio National Television System Committee Orthogonal Frequency Division and Multiplexing Daten, die auf einem Datenträger, ζ. Β. einer Disc, gespeichert sind zeitkritische drahtlose oder drahtgebundene Datenübertragung Orbital Test Satellite Programme Associated Data Phase Alternation Line Precision Adaptive Subband Coding Pulse Code Modulation Personal Communication Network Programme Delivery Control Picture Element (Colour Picei = R . G . B oder Y.U.V) Power Optimized Modulation Prüfzeile Phase Shift Keying Quadrature Amplitude Modulation Quadrature Mirror Filter Radio Broadcast Data Service (USA) Radio-Daten-System Root Mean Square Radio Paging Surface Acoustic Waveform Subsidiary Channel Authorization Single Channel Per Carrier Satelliten-Direkt-Empfang Standard Definition TV Séquentiel Couleurs à Mémoire

Abkürzungen aus dem Bereich Technik und Organisation

SES SFN SIS SMATV SMD SM PTE SNG SRG S-VHS TCM TMC TWTA UEP UER UHF

UIT UTC VGA VHF

VHS VKF VPS VPV VSB Vtxt WARC www ZSB-AM

Société Européenne des Satellites, Luxemburg Single Frequency Network Sound-in-Sync Satellite Master Antenna Television Surface Mounted Device Société of Motionpictures and Television Engeneers Satellite News Gathering Schweizerische Rundspruchgesellschaft Super Video Home System Trellis Codierte Modulation Traffic Message Channel Travelling Wave Tube Amplifier Unequal Error Protection Union Européenne de Radiodiffusion (entspricht EBU) Frequenzbereiche für den Rundfunk Band IV (470-606 MHz) Fernsehen Band V (606-790/862 MHz) Fernsehen International Telecommunication Union Universal Time Coordinated Video Graphics Adapter Frequenzbereiche für den Rundfunk Band I ( 4 7 - 6 8 MHz) Fernsehen Band II (87,5-108 MHz) Radio Band III (174-230 MHz) Fernsehen + DAB Video Home System Verkehrsfunk Video-Programm-System Videotext programmierter Videorecorder Vestigial Sideband (Modulation) Videotext World Administrative Radio Conference world-wide-web Zweiseitenband-Amplitudenmodulation

XXXIII

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film 92. Vom Stummfilm zum Tonfilm 1. 2. 3. 4.

Die Anfänge Grundzüge der Tonfilmentwicklung in den USA Der Beginn des Tonfilms in Europa Literatur

1.

Die Anfänge

Thomas Alva Edison gilt als einer der ersten, der es für möglich hielt, Filme sprechend oder tönend herauszubringen. Sein 1877 zum Patent angemeldeter Phonograph bildete eine Grundlage für das spätere Nadeltonverfahren, für das der Ton mit Hilfe von Schallplatten getrennt vom Filmband aufgenommen und wiedergegeben wurde. Das erste Patent für seine Synchronisationsvorrichtung von Bildprojektor und Phonograph 1896 erhielt der Franzose Auguste Baron (Jossé 1984, 66ff.). In der Folgezeit entstand vor allem in Deutschland eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme, die Bild und Ton miteinander verbanden. Das erste — das 'Biophon' — entwickelte Oskar Messter. Er führte es am 31. August 1903 im Berliner Apollo-Theater vor. In den folgenden Jahren entwickelte sich Deutschland zum führenden Land in der Tonbildproduktion. Zeitlich parallel zu den Versuchen Messters konstruierte der Physiker Ernst Ruhmer 1904 die sogenannte 'sprechende Bogenlampe' und 1907 das 'Photographon'. Zusammen mit dem Franzosen Eugène Augustin Lauste legte er mit den Experimenten wesentliche Grundlagen für das Lichttonverfahren, bei dem der Ton und das Bild als eine unzertrennbare Einheit auf den Filmstreifen fotografiert werden. Die verschiedenen Versuche, Ton und Bild untrennbar miteinander zu verbinden, wurden in den zwanziger Jahren grundlegend von beiden Verfahren bestimmt. Sie wurden überwiegend von kleinen Entwicklungsunternehmen getragen, die miteinander kaum in Kontakt standen. Die Erfinder präsentierten ihre Zwischenergebnisse in wenigen öffentlichen Veranstaltungen. Der Schwede Sven Berglund führte bereits am 17. Februar 1921

mit dem von ihm entwickelten 'Photophon' zum ersten Mal Lichttonfilme öffentlich vor. Am 17. September 1922 zeigten Hans Vogt, Joseph Massolle und Mo Engl im Berliner Kino Alhambra die Ergebnisse des von ihnen entwickelten Tri-Ergon-Verfahrens in einer Sonderaufführung. Es bildete in der Folgezeit eine entscheidende Grundlage für die Weiterentwicklung der gesamten Lichttontechnik. Die frühen Aufführungen unterstrichen den filmästhetischen Kontrast zwischen den relativ statischen Tonfilmen und der freibeweglichen Stummfilmkamera. Trotz der Novität des Tons und der im Laufe der Zeit unübersehbaren technischen Fortschritte, konnten deshalb die Filme vor allem in Deutschland mit den Stummfilmen lange Zeit nicht konkurrieren. Hier entbrannte auch — im Unterschied zu den USA — ein heftiger Streit zwischen Befürwortern und Gegnern des neuen Mediums (Mühl-Benninghaus 1996, 188f.). Auf Grund des insgesamt geringen Interesses an Tonfilmen, das in Deutschland nicht zuletzt auch der thematischen Beschränkung auf den Kulturfilm geschuldet war, fehlte es im Reich lange am notwendigen Geld für den zielgerichteten Ausbau der Tonfilmtechnik.

2.

Grundzüge der Tonfilmentwicklung in den USA

In den USA förderte vor allem Western Electric die Weiterentwicklung der Tonfilmtechnologie, nachdem sie aus ihrem Versuchsstadium herausgetreten war, bis zur Vorführreife. Nach einem entsprechenden Vertrag mit Warner Brothers fand die Uraufführung der ersten Tonfilme auf der Grundlage des 'Vitaphon'-Systems, die ausschließlich mit Musik unterlegt waren, am 6. August 1926 in New York statt. Im Unterschied zu allen europäischen Konkurrenten zeigte das Hollywoodunternehmen zur Premiere nicht nur kurze Streifen verschiedener populärer Opernarien, sondern mit 'Don Juan' auch einen llOminütigen Spielfilm, dessen Ton auf 14 Schallplat-

1028 ten gepreßt war. Als Sänger hatte das Unternehmen Broadway-Stars verpflichtet. Der hochgradig besetzte und lange Spielfilm bedingte zusammen mit einer großen PR-Aktion den durchschlagenden Erfolg der Uraufführung. Im Januar 1927 stellte die Fox-Case Corp. die ersten 'Movietone'-Filme vor. Da der technische Vorsprung von Warner nicht einzuholen war, spezialisierte sich Fox in der Folgezeit zunächst auf die tönende Wochenschau, die beim Publikum einen vergleichbaren Anklang fand wie Warners Musikfilme. Nach zwei weiteren Spielfilmen, die im Juni 1927 in New York uraufgeführt wurden, gelang Warner mit 'The Jazz Singer' im Oktober 1927 der entscheidende Durchbruch auf dem Gebiet des Tonfilms (American MovieMakers 1989, 43ff.). Nach dem Erfolg der ersten Tonfilme brach in den USA zwischen den Elektrizitätskonzernen Electrical Research Products Inc. (ERPI), einer 100 prozentigen Tochtergesellschaft der Western Electric einerseits, und RCA Photophone Inc., einer gemeinsamen Untergesellschaft von Radio Corporation of Amerika, General Electric und Westinghouse andererseits, ein Kampf um Marktanteile an der Tonfilmtechnik aus. Western entwickelte zusammen mit Warner das 'Vitaphon'-(Schallplatten-)System und in Verbindung mit Fox Film Corporation das 'Movietone'-(Bildton-)System. Dem Elektrokonzern schlossen sich in der Folgezeit u. a. die Firmen Paramount, Metro-GoldwynMayer, Universal, Columbia und United Artists an. Mit den Verträgen sicherte sich Western einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber RCA Photophone, die die Aktienmehrheit der vergleichsweise kleinen Produktionsfirma Film Booking Office übernahm. Ausgewertet wurden die Filme in den KeithOrpheum-Theatern, die bis Oktober 1928 mit neuen Wiedergabeapparaturen ausgestattet wurden. Nach der ersten Marktaufteilung entbrannte ein Kampf um die Apparateausstattung der freien Theater. Um sich Absatzmärkte zu sichern, verhängte ERPI ein Aufführungsverbot auf ihren Wiedergabeapparaturen für jene Spielfilme, die nicht auf firmeneigenen Aufnahmegeräten produziert worden waren. Das Unternehmen hoffte so, die Konkurrenz ausschalten zu können. Infolge der Marktbeschränkung zögerten die verunsicherten Theaterbesitzer mit ihren Bestellungen, so daß die neuen Tonfilme mit den Hollywoodfirmen nicht gewinnbringend abgesetzt werden konnten. Nach Gesprächen zwischen ERPI und RCA Photophon, die auf Druck von Vertretern der Filmindustrie zu-

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

stande kamen, hob ERPI die bestehenden Einschränkungen am 14. Dezember 1928 wieder auf. Im August 1929 konnten bereits 25 Prozent aller amerikanischen Kinos, die 40 Prozent der Sitzplätze umfaßten, Tonfilme vorführen. 1928 gab es in den USA 38 Systeme zur synchronen Tonfilmwiedergabe und weitere 49 andere Reproduktions-Systeme (Film und Ton Beilage der Licht-Bildbühne (LBB) 16. 3. 1929, Nr. 11). Allerdings beherrschten die beiden Elektrogruppen bereits den amerikanischen Markt, so daß Außenseiter keine Chance mehr hatten, ihre Entwicklungen gewinnbringend auszuwerten.

3.

Der Beginn des Tonfilms in Europa

Die zersplitterte Forschung und Entwicklung in Europa bedingte eine Vielzahl von Patentund Gebrauchsmusteranmeldungen zur Tonfilmtechnologie. Eine interne Studie der Siemens & Halske AG kam im August 1928 zu dem Ergebnis, daß in Europa 18 verschiedene Tonaufzeichnungssysteme mit einer kaum zu übersehenden Patentvielfalt existierten (Siemens-Archiv 4/U7706). Die zum Teil sehr unterschiedlichen Verfahren, die um 1928 miteinander konkurrierten, lassen sich in sechs Gruppen einteilen (Tätigkeitsbericht der Spitzenorganisation der Deutschen Filmindustrie e. V. 1. 8. 1928 — 31. 10. 1929, Berlin 1929, 43f.): — Tri-Ergon-Verfahr en: Lichtbild und Ton werden getrennt aufgenommen und getrennt entwickelt. Sodann werden auf einem verbreiterten Filmstreifen Ton- und Filmaufnahme vereinigt. Die Tonaufzeichnung nach dem sogenannten Intensitäts- bzw. Schwärzungsverfahren erfolgt so, daß der Tonfilmstreifen gleichlange, horizontale Streifchen von verschiedener Breite aufweist. — 'Petersen- und Poulseri-Verfahren: Tonund Lichtbild-Aufnahmen erfolgen getrennt. Während der Tonaufzeichnung entstehen horizontale Streifen unterschiedlicher Länge; auch Transversalmethode genannt. — 'Küchenmeister'-Verfahren: Die Tonaufnahme nach dem Intensitätsverfahren befindet sich auf dem Außenrand des Filmstreifens, das Lichtbild hat eine normale Größe. — 'Movietone'-Verfahren: Entspricht dem Tri-Ergon-Verfahren. Da jedoch der Film nicht verbreitert wird, muß das Filmband verkleinert werden. Nach dem Lichttonverfahren arbeitete noch eine Reihe weiterer Systeme, wie 'Photophone', 'Cinophone', 'Filmophone' usw. Für die allgemeine Tonfilm-

92. Vom Stummfilm zum Tonfilm entwicklung blieben sie jedoch ohne Bedeutung. — Lignose Hörfilm, System Breusing: Der Ton wird auf einer Schallplatte, die bei der Filmvorführung gekoppelt mit dem Film läuft, aufgenommen. Nach demselben System arbeiteten 'Vitaphone', 'Firnatone', 'Photophone', 'Elegephon' und andere. — System Dr. Kurt Stille: Der Ton wird auf einem magnetisierten Stahldraht festgehalten, der mit dem Film gekoppelt abläuft. (Das Verfahren kam nur kurzzeitig in einem Atelier in der Nähe von London zur Anwendung). Im Mai 1928 wurden auf der Dresdener Ausstellung 'Die technische Stadt' die ersten 'Lignose'-Hörfilme uraufgeführt. Am 30. August 1928 bildete sich nach dem Vorbild vergleichbarer Kartelle in der Industrie unter der Führung von Dr. Heinrich Brückmann die Tonbildsyndikat A G (Tobis). Sie erwarb die Deutsche Tonbild A G , die im Besitz der deutschen Petersen- und Poulsen-Patente war. Der Tobis gelang es, die Patente von TriErgon, Küchenmeister, British Phototone, French Phototone, einige amerikanische Patente und das Synchronisierungsverfahren von Oskar Messter unter ihrem D a c h zu vereinigen und unter Verwendung der verschiedenen Verfahren eigene Aufnahme- und Wiedergabeapparaturen zu entwickeln. Im September 1928 Schloß das Unternehmen einen Vertrag mit dem Deutschen Lichtspielsyndikat zwecks Belieferung der dem Syndikat angeschlossenen Kinos mit Tobis-Wiedergabegeräten. Die großen Elektrounternehmen Siemens & Halske und A E G , die ihrerseits über mehrere Abkommen mit General Electric bzw. Westinghouse verbunden waren, beteiligten sich mit je 40 Prozent und das Schallplattenunternehmen Polyphon A G mit 10 Prozent an der am 3. Oktober 1928 gemeinsam gegründeten Klangfilm G m b H . Sie verfügte über alle Telefunken- und wichtige Schallplattenpatente. Anfang 1929 erwarb die Klangfilm die Mehrheit der Lignose-Hörfilm-Patente von der British Photophone und Schloß mit ihr ein Austauschabkommen. Der Versuch der Klangfilm, auch mit Hilfe amerikanischer Filme die Möglichkeiten der eigenen Apparatur im Berliner Filmpalast Universum zu demonstrieren, scheiterte an der Tobis. Diese hatte eine einstweilige Verfügung erwirkt, weil sie bei den von Fox gelieferten Streifen die Verletzung einiger ihrer Kopierpatente geltend machen konnte. Zur

1029 gleichen Zeit erwarb Warner Brothers die Mehrheit der deutschen National Film A G , um mit Hilfe des Unternehmens den in der gesamten Welt erfolgreich aufgeführten Spielfilm The singing fool auch in Deutschland aufführen zu können. Parallel wies die Western Electric alle Hollywoodfirmen, die ihre Aufnahmeapparaturen nutzten, an, ihre Filme in Deutschland nur auf Wiedergabeapparaten von Western abzuspielen. Die Erklärung stieß auf den Widerstand von Tobis und Klangfilm, die unter dem amerikanischen D r u c k ihre Streitigkeiten beendeten und am 12. März 1929 einen gemeinsamen Vertrag unterzeichneten, der die Interessengebiete beider Unternehmen definierte. Die neuen Partner forderten sofort von den amerikanischen Filmfirmen für die Aufführung von Tonfilmen für die Nutzung deutscher Patente Lizenzen, die diese verweigerten. Einen Monat später unterzeichneten die Klangfilm und die U f a einen Vertrag über die Lieferung von Aufnahme- und Wiedergabeapparaturen, der dem Filmkonzern erhebliche Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen deutschen Konkurrenten einräumte. Gleichzeitig konnte die deutsche G r u p p e in Europa erheblich an Einfluß gewinnen. Im April 1929 wurde unter Beteiligung des Bankhauses Oyens & Zonen das finanzielle Zentrum der Tobis nach Amsterdam verlagert und in die Ν. V. Küchemeister's Internationale Maatschappyi voor Accoustiek, die auch über wertvolle Schallplattenpatente verfügte, eingegliedert. In der Folgezeit unterzeichnete das Unternehmen Produktionsverträge zur Herstellung von Tonfilmen mit den Firmen Emelka, Aafa und Greenbaum. Als Warner im Mai 1929 begann, 'The singing fool' in einem von der Ufa gepachteten Kino aufzuführen, verklagte Siemens Western erfolglos wegen der Verletzung von Verstärkerpatenten. D a r a u f h i n setzte Telefunken beim Kammergericht am 21. Juli 1929 eine einstweilige Verfügung gegen die amerikanische Apparatur wegen der Verletzung des v. Lieben· Patents durch. Nach der Entscheidung durften zunächst keine amerikanischen Tonfilme in Deutschland gezeigt werden. Um eine Einigung herbeizuführen, reisten Anfang Juni Vertreter der Küchenmeister- und der Klangfilmgruppe nach New York. Die Verhandlungen scheiterten an der Forderung der Amerikaner nach der Aufhebung der deutschen Filmkontingentbestimmungen und nach einem englischsprachigen Tonfilmmonopol. Obwohl sich die Patentposition des

1030 Küchemeisterkonzerns in den folgenden Monaten in Europa immer mehr festigte und die Aufführung amerikanischer Filme deshalb schwieriger wurde, scheiterten auch die folgenden Verhandlungen, weil es in Europa an Tonspielfilmen fehlte. Da weder die Tobis noch die Klangfilm in der Lage waren, Aufnahme· und Wiedergabeapparaturen in für die Filmproduktion ausreichender Qualität und in höheren Stückzahlen herzustellen und zu liefern, verzögerte sich die deutsche Tonspielfilmproduktion erheblich. Vor allem die ERPI hoffte, diese Situation für die eigenen Interessen ausnutzen zu können. Ungeachtet des Verbots von ERPI beschlossen fast alle großen Hollywoodfirmen, ihre Filme auf gleichwertigen anderen Apparaturen im Ausland abzuspielen, die europäischerseits wieder mit Forderungen nach Entschädigungen für die widerrechtliche Benutzung von Patenten und einer Aufteilung des Weltmarkts beantwortet wurden. 'Atlantic' und einige andere, zum Teil stumm gedrehte und später nachsynchronisierte Filme kamen ab Oktober 1929 in die deutschen Kinos. Ab Dezember 1929 wurden jedoch bereits als Tonfilme gedrehte deutsche Spielfilme regelmäßig in den Lichtspielhäusern aufgeführt, die zum Teil auch in mehreren Sprachversionen hergestellt wurden, d. h. die gleiche Szene wurde von unterschiedlichen Schauspielern in verschiedenen Sprachen gedreht. Auf diese Weise sollte zum einen die Internationalität des Mediums gewahrt und zum zweiten sichergestellt werden, daß die Mundbewegungen der Schauspieler mit dem Text völlig übereinstimmten, eine Grundvoraussetzung für die Akzeptanz des neuen Mediums von Seiten der Zuschauer. Nach international großartigen Erfolgen von Filmen, wie 'Liebeswalzer' und 'Der blaue Engel', begannen im Sommer 1930 erneut Tonfilmverhandlungen zwischen den amerikanischen und deutsch/niederländischen Elektrokonzernen. Sie endeten mit dem Pariser Tonfilmabkommen, das am 22. Juli 1930 veröffentlicht wurde. Erstens gestand es den Deutschen die Interchangeability zu, also die Möglichkeit, jeden Film auf jeder Apparatur vorzuführen, die sowohl für den europäischen als auch für den amerikanischen Film die internationalen Auswertungsmöglichkeiten sicherstellte. Zweitens wurden die in früheren Verträgen zwischen den deutschen und amerikanischen Elektrokonzernen festgelegten sogenannten „Exklusivgebiete" (Das deutsche Exklusivgebiet umfaßte die Länder: Deutschland, einschließlich Freie Stadt Dan-

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

zig, das Saarland und das Memelgebiet, Osterreich, Ungarn, Schweiz, Tschechoslowakei, Holland, Niederländisch-Indien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien. Zum amerikanischen Exklusivgebiet gehörten: die USA, Canada und Neufundland, Australien, Neuseeland, Straits Settelements, Indien, Rußland. Die Grenzen der jeweiligen Exklusivgebiete sind identisch mit denen der Verträge von A E G und General Electric aus dem Jahr 1922 und denen zwischen Siemens und Westinghouse aus dem Jahr 1924.) sowie das „freie Gebiet" auch für den Tonfilm übernommen. Im letzteren konnten die Systeme beider Gruppen miteinander konkurrieren, während in den Exklusivgebieten die gegenseitige Konkurrenz der Elektrofirmen für die Vertragsdauer von 15 Jahren unterbleiben sollte. Dieser Punkt Schloß auch die Höhe und das Recht zum alleinigen Erheben von Aufnahme- und Importlizenzen ein, deren Höhe gemeinschaftlich festgelegt wurde. Mit diesen beiden grundlegenden Punkten garantierten die Patenthalter, daß analog zum Stummfilm auch das neue Medium international unbeschränkt verbreitet und aufgeführt werden konnte. Das Abkommen wurde bis 1936 mehrfach durch Continuing Agreements ergänzt und in Hinblick auf die Linzenzen modifiziert. Die für die Produktion von Tonfilmen abzuführenden Lizenzen unterschieden sich partiell in den USA und Europa. Western Electric verlangte eine Herstellungs-, Vorführ-, Kopier- und eine Lizenz für Auslandsverkäufe, die Tobis erhob dagegen keine Vorführlizenz. Statt dessen erhob sie eine Staffelabgabe auf den Nettoeinspielerlös jedes Films. Darüber hinaus vermietete die Tobis ihre Aufnahmeapparaturen nur einschließlich der sie bedienenden Techniker. Modellrechnungen ergaben, daß 1930 je nach den Gesamtkosten und den Einspielergebnissen etwa 30 Prozent bis 50 Prozent an die Elektrounternehmen abgeführt werden mußten (LBB 12. 8. 1930, Nr. 192). Im Verlauf der folgenden zehn Jahre sank dieser Anteil auf 6 Prozent bis 8 Prozent. Die erheblichen Mehrkosten für die Tonfilm herstell un g führten international zu einer erheblichen Senkung der Filmproduktion. Mit den Pariser Verträgen galten alle von den Vertragspartnern nicht genutzten Systeme als Schwarzapparaturen, gegen die sie zum Teil gerichtlich und auch mit Aufführungsverboten vorgingen. Die Verträge beinhalteten auch eine Normierung

92. Vom Stummfilm zum Tonfilm der Apparaturen und senkten damit das Entscheidungsrisiko der Theaterbesitzer. Die größere Zahl der Bestellungen ermöglichte eine billigere Produktion, die ihrerseits die Umstellung der deutschen und europäischen Lichtspielhäuser auf die neue Technologie forcierte. 1931 hatte fast die Hälfte aller deutschen Kinos, die mehr als 60 Prozent der Sitzplätze umfaßte, Tonfilmwiedergabeapparaturen installiert. Im August des folgenden Jahres konnten alle täglich spielenden Lichtspieltheater im Reich Tonfilme vorführen (Jason 1936, 139). Gleichzeitig sank die Zahl der produzierten Stummfilme: 1930 entstanden noch 45, ein Jahr später nur noch zwei und ab 1932 wurde in Deutschland kein Stummfilm mehr produziert (Jason 1936, 85). Mit der Einführung des Tonfilms änderten sich nicht nur die Dramaturgie und die ästhetisch-darstellerischen Erzählstrukturen des Mediums, sondern auch die gesamte Technik und Ausrüstung. U m den Anforderungen des Tonfilms Rechnung zu tragen, mußten neue Ateliers gebaut und die bestehenden von Grund auf verändert werden. Während im Stummfilmatelier über große Glasdächer das Tageslicht in die Studios fiel, waren die weitgehend schallisolierten Hallen dunkel und stellten daher völlig neue Anforderungen an die Beleuchtung und bisher unbekannte Probleme an die Akustik. In den geschlossenen Räumen traten Echo- oder Schallwirkungen auf, die sich auf die Tonaufnahmen nachteilig auswirkten. Nachdem alle bei der Konstruktion von Konzertsälen oder beim R u n d f u n k gesammelten Erfahrungen in den Studios versagt hatten, wurde das Problem nach vielen Experimenten mit Hilfe von wesentlich stabileren Kulissen gelöst. Die ersten Kameras waren so unbeweglich, daß sie nicht dem Spiel der Schauspieler folgen konnten, so daß diese gezwungen waren, u m die Kamera zu spielen. Außenaufnahmen waren in den ersten Jahren unter diesen Bedingungen nur mit großen Schwierigkeiten zu realisieren. Trotz der ästhetisch-darstellerischen Vorteile des Tonfilms gegenüber dem Stummfilm, die vor allem in einer gesteigerten Erzählökonomie, in einer präziseren und begrifflich faßbareren Erzählweise, im Einführen von Seitensträngen in die Plotlinien und in der Akzentuierung durch Ausschweifungen und Hervorhebungen lagen (Kasten 1994, 53 f.), stellten die ersten Tonfilme zunächst gegenüber den erreichten Leistungen des Stummfilms einen Rückschritt dar. Die relativ unempfindlichen Mikrophone erforderten die Aufnahme mehrerer Tonspuren, die erst im Kopierwerk

1031 mit dem geschnittenen Film auf den Filmstreifen kopiert wurden. U m die Geräusche der Wiedergabeapparaturen zu verdecken, mußten sich Sprech- und Musikpassagen permanent ablösen. Die Schwierigkeiten mit der Tonaufnahme bedingten, daß der Ton auch innerhalb einer Sequenz von unterschiedlichen Mikrophonen stammte, so daß zum Teil erhebliche Ton-Schwankungen auftraten, die bis zur Veränderung der Stimme reichten, wenn Echowirkungen nicht unterbunden werden konnten. Die technische Qualität der Wiedergabeapparaturen ließ zunächst noch viele Wünsche offen. Während der Premiere von Atlantic saß der Regisseur Ewald André D u p o n t noch mit dem Drehbuch in der Vorführkabine, um die Apparatur auszusteuern (Stand der Wiedergabetechnik im Gloria-Palast. Noch besser! Film-Kurier 29. 10. 1929, Nr. 257, 11. Jg.). Um die Investitionen gering zu halten, kauften viele Lichtspielbesitzer einfache Zusatzgeräte für die Tonübertragung, die sie mit den existierenden Projektoren koppelten. Da die Leinwand in vielen Kinos beschichtet war, u m die Lichtdurchlässigkeit zu verringern, mußte sie vielerorts ausgetauscht werden, da die Beschichtung schalldämmend wirkte. Wenn die Lichtquelle in den Projektoren nicht verstärkt werden konnte, minderte sich mit der Einführung des Tonfilms auch die Bildqualität — vor allem in kleineren Kinos. Die Unterschiede wurden erst 1934 beseitigt, als nach entsprechenden Verhandlungen alle deutschen Kinos mit patentreinen Vorführprojektoren ausgerüstet waren und sich die Tonqualität der Lautsprecher langsam verbesserte. Der Einsatz von unausgereifter Technik zwang die Klangfilm zur permanenten Verbesserung ihrer Geräte, die sie in den ersten Jahren nur vermietete. Daher fielen um 1930 die völlige Abschreibung der Stummfilme, Erst- und Folgeinvestitionen, die dem hohen moralischen Verschleiß der gelieferten Tonfilmapparaturen entgegenwirkten, zusammen. Allein die U f a tauschte nach der Erstinstallation in den dreißiger Jahren zweimal komplett ihre gesamten Aufnahmegeräte aus. Trotz permanenter Verbesserungen der Apparaturen konnte am Beginn der vierziger Jahre die Tonqualität partiell noch nicht befriedigen (vgl. u.a.: Die Diskussion: Es geht um die Musik im Tonfilm. Frage an die Komponisten: Warum Zweikampf zwischen Musik und Dialog, in: Film-Kurier 5. 2. 1941, Nr. 30, 23. Jg.). Die Kosten für die Umstellung auf das neue Medium wurden in Deutschland auf 80 Millionen R M geschätzt.

1032

4.

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

Literatur

American MovieMakers. The Dawn of Sound. Ed. by Mary Lea Bandy. New York 1989. Jason, Alexander, Handbuch des Films 1935/36. Berlin o. J. (1936). Jossé, Harald, Die Entstehung des Tonfilms. Beitrag zu einer faktenorientierten Mediengeschichtsschreibung. Freiburg/München 1984. Kasten, Jürgen, Vom visuellen zum akustischen Sprechen. Das Drehbuch in der Übergangsphase vom Stumm- zum Tonfilm. In: Sprache im Film. Hrsg. v. Gustav Ernst. Wien 1994.

Mühl-Benninghaus, Wolfgang, Die Tonfilmumstellung im Kontext medialer Veränderungen. In: Spektakel der Moderne. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Medien und des darstellerischen Verhaltens. Hrsg. v. Joachim Fiebach/Wolfgang Mühl-Benninghaus ( = Berliner Theaterwissenschaft Bd. 2). Berlin 1996. — Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren. Düsseldorf 1999.

Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin ( Deutschland)

93. Die Filmformate 1. 2. 3. 4.

Einleitung Geschichte Filmformate Literatur

1.

Einleitung

Beim Film und beim Fernsehen scheint momentan, d. h. zu Beginn dieses Jhs., alles in Bewegung zu sein. Man denke nur daran, daß sich das Fernsehen in vielen Phasen eines Ubergangs befindet: von FBAS- zu Komponentensignalen, von analog zu digital, vom Bildseitenverhältnis 4 : 3 zu 16:9, von 625 Zeilen (PAL, PALplus) zu erhöhten Zeilenzahlen von 1125, bzw. 1250 Zeilen (HDTV). Es scheint, als bliebe nur das Filmmaterial eine feste Konstante im Medium Film und Fernsehen. Denn obwohl man dem klassischen Bildträger Film seit Jahren ein baldiges Ende voraussagt, erlebt er als Programmträger und als Produktionsmittel für das Fernsehen und für das Kino seine Bestätigung. 1.1. Fernsehen Wegen seiner hohen Kornauflösung, seiner Haltbarkeit in den Archiven und seiner optimalen Weiterverarbeitungsmöglichkeit in allen Fernsehnormen bleibt der Film weiterhin ein interessantes und neben dem Videomaterial ein gefragtes Trägermaterial für TV-Produktionen. Die gegenwärtige Unsicherheit über künftige Fernsehproduktionsnormen und Sendestandards erhöht noch seine Nachfrage. Die Filmmaterial-Hersteller verbessern ihre Materialien im Hinblick auf Farbtreue, Empfindlichkeit, Kornauflösung und Kontrastumfang permanent weiter und festigen

damit die herausragende Stellung des Films als Trägermaterial für Film- und spezielle Fernsehproduktionen. Das Filmmaterial hat heute gegenüber dem Videomaterial zwei entscheidende Vorteile: die Bestandssicherung archivierter Programme, dadurch auch die Sicherheit für Repertoire-Programme und ein weltweit einheitlicher und damit kompatibler Produktionsund Wiedergabestandard für bewegte Bilder. Die Produktionen auf Film behalten ihren Wert auch, weil sie in allen derzeitigen und zukünftigen Film- und Fernsehnormen abgespielt werden können — weitgehend unabhängig von den für die Nachbearbeitung und Ausstrahlung festgelegten Systemparametern. Der Film ist und bleibt in absehbarer Zeit auch der Standard für den internationalen Fernsehprogrammaustausch. Durch das duale Fernsehsystem ist der Spielfilm in Deutschland insbesondere für die kommerziellen Fernsehkanäle eine überaus begehrte Ware geworden; so wurden im Jahr 1994 in den bundesdeutschen TV-Kanälen mehr als 15 000 Spielfilme gesendet. Dies wird sich durch die Digitalisierung und der Zunahme der Kanalvielfalt noch vermehren. Die elektronische Bildaufnahme spielt bei der Herstellung von Spielfilmen bislang nur eine unbedeutende Rolle. 1.2. Kino Nicht nur für das Fernsehen bleibt der Film als Programmträger weiterhin interessant, auch der klassische, jetzt mehr als hundertjährige Kinofilm erlebt seit einigen Jahren einen immensen Aufschwung. Hollywood's Filmindustrie produziert viel und finanziell

1033

93. Die Filmformate

erfolgreich. Europäische Kinofilme, unter ihnen einige deutsche, reihen sich in die Kassenschlager ein. Insbesondere die Jugend in Nordamerika und Europa füllt neugeschaffene Kinokomplexe und Programmkinos, konsumiert Aktion-, Science-fiction- und Historien-Filme ebenso wie neuaufgelegte Kultfilme. Der Film zeigt sich darüber hinaus auch im Zusammenspiel mit computeranimierten Bildern für neue Wege der filmischelektronischen Gestaltungsmöglichkeiten geeignet. Die aufsehenerregenden Kinofilme 'Matrix' oder 'Jurassic Park' von Steven Spielberg gelten als aktuelle Beispiele dafür. Der Regisseur Spielberg montierte und integrierte nahezu perfekt Movie Computergrafiken von Dinosauriern in reale Spielszenen. Es gilt festzuhalten, daß der Film in der Zukunft sowohl für die Fernsehanstalten wie für die Kinofilmproduzenten seine Bedeutung behalten und ausbauen wird.

verändert haben sich bis zum heutigen Tag die alteingeführten Filmformate behauptet. Diese Formate und ihre genauen Abmessungen der heute noch verwendeten Filmmaterialien sind nahezu identisch mit denen aus den Anfangen der Kinomatografie. Der amerikanische Industrielle George Eastman goß seine ersten Zelluloid-Filme für seine KodakKameras in einer Breite von 22" = 558,8 mm, teilte sie in acht gleichbreite Bahnen auf und erhielt einen 'Rollfilm' von 69,85 mm Breite. Thomas Alva Edison, nordamerikanischer Erfinder, ließ diesen 70-mm-Film teilen und arbeitete mit dem Maß von 34,925 mm, dem 35-mm-Format. Eine weitere Aufteilung aus der ursprünglichen Film bahn von 558,8 mm führte zum 16-mm-Film mit exakter Breite von 15,88 mm. Die Halbierung dieses Materials in seiner Filmbreite ergab den 7,94 mm breiten 8-mm-Film.

So bewegt wie das Leben des Spiel- und Kinofilms in seiner nunmehr einhundertjährigen Geschichte bis heute verlaufen ist, so un-

Diese vier Filmformate 70/ 35/ 16/ 8/, definiert durch die Breite des Filmstreifens, sind bis auf den heutigen Tag die gebräuchlichsten Filmformate sowohl für die Kinimatografie wie für die Fotografie geblieben. Die folgende Tabelle beschreibt diese Formate jeweils in den Normalaufnahme-Verfahren,

h"

2" A b f a l l s t r e i f e n = 2 2 " = 5 5 8 . 8 m m — η

2.

Geschichte

U r s p r ü n g l i c h e Breite der Giessbahn

ι

Film 70 / 35 / 16 / 8 - m m Ableitung

Abb. 93.1: Ableitung der Filmformat-Abmessungen.

der A b m e s s u n g e n

1034

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

wobei sich die technischen Parameter mit den Aufnahmesystemen verändern. Befaßt man sich mit der Historie der Breitwandfilme, so stößt man noch auf eine ganze Anzahl exotisch anmutender Filmformate, entstanden aus dem Bestreben, die Wirkung des Kinofilms ständig zu verbessern. Das älteste unter ihnen ist das Latham Eidoloscope aus dem Jahr 1895. Der Film war 51 mm breit und hatte pro Bild vier vertikal angeordnete Perforationslöcher an beiden Filmkanten. Noch breiter angelegt wurde der Veriscope-Film, der erstmals 1897 zum Einsatz gelangte. Seine Filmbreite betrug 63 mm, und er war mit fünf vertikal laufenden Perfolöcher versehen. Die französischen Photochemiker und Erfinder Auguste und Louis Lumiere schufen 1900 für die Kinomatografie einen lichtempfindlichen Zelloluid-Streifen von 75 mm Breite. Die Abbildungsgröße betrug 47 X 60 mm bei einer beidseitigen Perforation von je acht Löchern. Das 70-mm-Panoramica-Verfahren wurde 1914 eingeführt und verfügte über ein Bildseitenverhältnis von 2,52:1 bei einer Bildbreite von 57 mm. M.G.M. verwendete mit seinem Realife-System, 1930 entwickelt, ebenfalls einen 70mm-Kamerafilm, allerdings nur mit einer Bildbreite von 50 mm. Der Film wurde für die Projektion auf 35 mm herunterkopiert. Eine nahezu gigantische Vorführbreite hatte das 1927 eingeführte Polyvision. Die Aufnahme erfolgt auf drei nebeneinander laufende 35-mm-Filmbahnen, die Wiedergabe mit drei Projektoren. In den dreißiger Jahren fanden Kinofilmsysteme ihre Anwendung wie das Fox-Grandeur (70 mm), das Fox 50 mm,

Format

70

35 16 8 S

Bildfeldabstand

23,75

KameraBildfeldgröße mm

52,5 X 23

R.K.O. Natural Vision mit 63 mm Filmbreite, das Paramount mit 65 mm und der Paramount Magnafilm mit 56 mm. Alle Systeme arbeiteten mit vertikal laufender Perforation. Anders das Fear's Super Picture, ein 35-mm-Horizontal-Verfahren, 1953 zum Glamorama weiterentwickelt.

3.

Filmformate

3.1. Das 8-mm-Format Der 8-mm-Film, als der schmälste der klassischen Formate Schmalfilm genannt, hat als Normal-8, Doppel-8 oder Super-8 stark an Bedeutung verloren seit Amateur- oder Hobbyfilmer auf Videosysteme wie Video 8, VHS, Hi 8 oder S-VHS umgestiegen sind. Seine Nutzung ist stark rückläufig. Er verfügt über eine Filmbreite von acht Millimeter, in Super8 über ein Bildfeld von 5,69 X 4,14 mm und über ein Perforationsloch auf nur einer Filmseite. 3.2.

Das 16-mm-Format

3.2.1. Fernsehen Das Fernsehen hat sich für Filmproduktionen wie Fernsehfilme, Dokumentationen und Features von jeher überwiegend des 16-mmFilms bedient. Letztlich auch aus Gründen der Wirtschaftlichkeit bei dennoch ausreichender Bildqualität. Gedreht wurde dabei bislang überwiegend im Bildseitenverhältnis 1,33 :1, d. h. im TV-Format 4 : 3. Dieses Format wird heute immer häufiger durch die Aufnahme in Super-16 ersetzt. Seit der Einführung von PALplus und mit der finanziellen

Perforati*Dnsabstand mm

4,75

Laufgeschwindigkeit mm/s

Anzahl der Perf. Loch, pro Bild

5

24 Β 25 Β

18

570

-

-

22 X 16

4,75

4

456

7,62

10,3 X 7,5

7,62

1

182,8 190,5

4,23

5,69 X 4,14 4,23

1

101,5 105,7

19

Stummfilm 304

475

Abb. 93.2: Übersicht der gebräuchlichsten Filmformate bei Normal-Aufnahmesystemen.

16

137 76,1

122 67,7

1035

93. Die Filmformate

Förderung von 16:9-Produktionen und -Ausstrahlungen durch die Europäische Union gehen die europäischen Fernsehanstalten mehr dazu über, ihre Filmproduktionen im Format Super-16 herzustellen. Das Filmmaterial ist dabei identisch mit dem Normal-16, nur wird bei der Super-16-Aufnahme die Filmbreite von 16 mm auf einer Seite bis zum äußersten Rand ausgenutzt. Beträgt das Aufnahmefeld bei Normal-16 exakt 10,3 X 7,42 mm, so vergrößert sich dieses Feld bei Super-16 mm um 40 Prozent auf 12,35 X 7,42 mm. Man erhält eine Abbildung im Bildformat 15:9 oder 1,66:1. Eine der seitlich verlaufenden Perforationen entfällt. Der 16-mm-Film kommt mit einem Perfo-Loch pro Bild aus. 3.2.2. Kino Das Super-16-Bildformat wurde 1970 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Schwede Rune Ericson hatte das Format damals ausführlich im 'American Cinematographer' beschreiben. Er wurde in den Folgejahren als preiswertes Aufnahmeformat für Kinofilme genutzt, die mittels Blow-up auf 35-mm-Projektionskopien im Bildseitenverhältnis 1,66:1, d. h. im Europäischen Breitwandformat, übertragen wurden. Für die Filmproduzenten bietet dieses Verfahren neben der enormen Kostenersparnis gegenüber dem 2,5-fach höheren Filmverbrauch beim 35-mm-Film (1 Min. 35-mm-Film = 28,5 Meter, 1 Min. 16-mm-Film = 11,43 Meter) die Möglichkeit, mit kleineren Teams zu arbeiten, andere Ausdrucksformen zu gebrauchen und beweglicher zu sein; Gründe, die dazu führten, daß in dieser Verfahrensweise heute noch häufig produziert wird. 3.3. Das 35-mm-Format Der 35-mm-Film hat wegen seiner Verwendung für Kinofilmproduktionen, für KinoFernseh-Koproduktionen und als für reine Fernsehproduktionen Repertoire-Programm für ein hochauflösendes Fernsehen weltweit die größte Bedeutung aller Filmformate. Seit nunmehr einem Jahrhundert wird dieser 35 mm breite Filmträger mit sich geänderten Bildformaten und -systemen genutzt. Er ist ideal für eine ganze Anzahl von unterschiedlichen Systemen. Die derzeit gebräuchlichsten Bildformate im Filmformat 35 sind: das Academyformat 1,37:1 (Kinofilm) mit einer Abbildung von 22 X 16 mm und das 4 : 3-TVFormat, entsprechend dem Spielfilmformat 1,33:1, das Europäische Kinobreitwandformat 1,66:1, das neue TV-Format (PALplus/

HDTV) 16:9, entsprechend dem Spielfilmformat 1,78 :1, das Amerikanische Kinobreitwandformat 1,85:1 und das CinemascopeFormat für Breitwandfilme. Beim Cinemascope-3 5 wird aufnahmeseitig in den Seitenverhältnissen 1,275:1 und 1,175:1 und wiedergabeseitig in den Verhältnissen 2,55:1 und 2,35:1 gearbeitet. Bei allen genannten Verfahren verläuft die Perforation vertikal mit je vier Löchern an beiden Seiten. 3.3.1. Kino Moderne Breitwand-Systeme verwenden meist anamorphotische Objektive für Aufnahme und Wiedergabe. Dabei wird das Bild in der horizontalen Achse auf etwa die Hälfte seiner vertikalen Ausdehnung komprimiert und auf den Film abgebildet. Dadurch wird es möglich, mit einem nahezu normalen Bildfenster auf einem 35-mm-Film ein Breitbild zur Projektion auf eine Großleinwand zu speichern. Bei der Aufnahme wird das Bild auf die Hälfte der Wiedergabe komprimiert. Für dieses anamorphotische Verfahren ist die Bedingung, daß die Kompression bei der Aufnahme der Expansion bei der Wiedergabe einem Verhältnis von 1 : 2 entspricht. In Verbindung mit der Großleinwand soll der Einsatz anamorphotischer Objektive dem Zuschauer großmöglichste Realität vermitteln. Über die oben genannten Bildformate hinaus wird das 35-mm-Filmformat für eine große Anzahl Breitwand-Aufnahme- und -Wiedergabe-Systeme genutzt: Techniscope wird mit schmalem Bild von 22 X 9,36 mm Fläche und zwei vertikal angeordneten Perfolöchern im Seitenverhältnis 2,31:1 aufgenommen und mit Anamorphot projeziert. Ahnlich konstruiert ist das Colorama-System mit der Aufnahme im Verhältnis 2 : 1 mit einer Bildfläche von 1 8 , 8 X 9 , 4 mm bei einer 2-LochSchaltung und Projektion ohne Anamorphot. Super-Scope ist ein System im Aufnahmeseitenverhältnis von 1,55:1, einer Bildfläche von 24,89 X 16,03 mm, vier Vertikalperforationen und unterschiedlichen Wiedergabemöglichkeiten. Vistavision und Technirama arbeiten mit acht horizontalen Perforationen in den gleichen Bildformaten von 37,72 X 25,17 mm, das entspricht einem Bildseitenverhältnis von 1,5 :1. Beide Systeme werden in unterschiedlichen Varianten projeziert. Besonders beeindruckend für den Betrachter ist die Vorführung einer Filmproduktion in Cinerama, aufgenommen mit einer Cinerama-PanoramaKamera auf 3 x 3 5 mm Negativfilm.

1036 Ein Zwischenformat zwischen 35 und 70 bildet das Cinemascope-55-System mit einem Film von 55 mm und acht vertikalen Perforationen. 3.3.2. Fernsehen Wie bereits erwähnt wird der 35-mm-Film auch für künftige Fernsehsysteme eine grosse Bedeutung erhalten. Für das hochauflösende Fernsehen (HDTV) ist das 35-mm-Material hinsichtlich Bildschärfe und Detailauflösung feiner Bildstrukturen zumindest gleichwertig mit der Qualität elektronisch generierter HDTV-Bilder. Auch für die Herstellung hochwertiger Repertoire-Programme kommt nur der 35-mm-Film als Produktionsmittel in Betracht. So stellen einige Fernsehanstalten in Deutschland (ARD/ZDF/Schätze der Welt, Erbe der Menschheit) seit geraumer Zeit anspruchsvolle Dokumentationen und niveauvolle Spielfilme im 35-mm-Filmformat her. Ahnlich dem 16-mm-Film steht dem 35mm-Film ein wirtschaftlicher Bruder zur Seite, der Super-35-mm-Film. Grundsätzlich verhält sich die Nutzung der Filmbreite wie beim Super-16. Sie wird günstiger, indem die Tonspur mit in den Bildaufbau einbezogen wird. In Amerika, seit mehr als zehn Jahren als Bildformat praktiziert — Filme wie 'Silverado' oder 'Terminator' wurden so hergestellt — rückt das Thema S-35 auch in Europa, seit Filme wie 'Zeit der Unschuld' (Kamera Michael Ballhaus) und 'Les Visiteurs' (Kamera Jean Yves Lemener) auf Super-35 gedreht wurden und erfolgreich in den Kinos liefen, verstärkt in das Blickfeld von Produzenten und Kameraleuten. 3.4. Das 70-mm-Format Vereinfacht gesagt kann folgende Formel gelten: 16-mm für Fernsehproduktionen und Kinokleinleinwände, 35-mm für TV-Repertoireprogramme und normale Kinoleinwände, 70-mm für Kinokopien von 35-mmProduktionen und Aufnahmen im Filmformat 70-mm für besondere Projekte für die Großleinwand. In dem ständigen Bemühen, den Aufwand und die Kosten zu reduzieren, drehen Kinoproduzenten überwiegend im Format 35-mm und lassen für die große Leinwand 70-mmVerleihkopien fertigen. Erfordern aber besondere Stories und Drehbücher eine besondere Farbbrillanz, feinste Kornauflösung, großen Kontrastumfang, optimale Schärfeabbildung und Bilder mit großer Tiefenwirkung, um den

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

größtmöglichen Illusionseffekt des Kinos zu vermitteln, so drehen Produzenten in aufwendigen 70-mm-Verfahren. 'Little Buddha' von Bernardo Bertolucci (Kamera Vittorio Storaro) wurde in bestimmten Filmsequenzen und Lebensepisoden Buddhas auf 65 mm breitem Film gedreht. Gestaltungsaufwendige Trickpassagen in Science-fiction-Filmen wie 'Star wars' werden wegen der technischen Qualität des Films in 70 mm aufgenommen. Der Kinofilm 'In einem anderen Land' mit Tom Cruise und Nicole Kidman in den Hauptrollen, wurde 1992 in 65-mm produziert. Er ist der bisher letzte Movie, der in dem Format aufgenommen wurde. Leinwandfüllende Landschaftstotalen und eine hohe Detailauflösung bei den Innenaufnahmen hatte dieses Format gefordert. Dennoch muß festgestellt werden, daß der 70-mm-Film für die Aufnahme von Kinofilmen nur verhältnismäßig selten Anwendung findet. Häufiger wird das Material für gestalterisch aufwendige Video-Clips und Werbespots benutzt. Das gebräuchlichste 70-mm-Verfahren ist das TODD-AO. Die Aufnahme erfolgt auf einem 65-mm-Film mit fünf vertikal laufenden Perforationslöchern, wobei zwischen Bild und Perforation die Magnetton-Spuren angeordnet sind. Ähnlich arbeitet das Ultra-Panavision von M.G.M. Beide Systeme werden auf 70-mm-Filmkopien vorgeführt. Die volle Bildflächennutzung des 70-mm-Films bei der Aufnahme erreicht das IMAX-Verfahren, ein System, das alle Vorstellungen vom klassischen Kino hinsichtlich Bild- und Tonqualität in den Schatten stellt. Man nutzt den Film in seiner gesamten Breite, indem man, ähnlich wie beim Vistavision und Technirama, im Format 35-mm die Perforationen horizontal über und unter dem Bildfenster anordnet, den Filmstreifen horizontal durch Kamera und Projektor laufen läßt und das Filmmaterial ohne Tonspur läßt. Der Ton wird separat aufgenommen. Das horizontal laufende Filmmaterial wird mit einem Schaltschritt von 15 Perforationslöchern pro Bild bewegt. Die Bildfrequenz beträgt 60 Bilder in der Sekunde, damit auch die bei großen hellen Flächen oft störenden Flimmereffekte völlig verschwinden. Gegenüber dem Format 35-mm mit Fläche von 352 mm 2 beträgt die reine Bildfläche beim IMAX-System mit 3622 mm 2 mehr als das Zehnfache. Allerdings sind die Gerätschaften für Aufnahme und Wiedergabe von überdimensionaleen Ausmaßen. Mit die-

93. Die Filmformate

1037

Abb. 93.3: Vergleich der Bildformate von IMAX, 35 mm und Super-8 in Originalgröße. (Aus: Johannes Weber, Handbuch der Film- und Videotechnik, Franzis Verlag 5 1998).

1038

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

sem Verfahren, vorgeführt in speziellen Kinos, wird der Kinobesucher emotional in das audiovisuelle Ereignis voll eingezogen. Dieses moderne Kinoverfahren IMAX verdeutlicht unter anderem auch, daß der klassische Film mit seinen herkömmlichen Filmformaten über die Qualität und Flexibilität verfügt in zukünftige technische und gestalterische Innovationen einbezogen zu werden.

4.

Literatur

Weber, Johannes, Handbuch der Film- und Videotechnik. München 1993. Informationsschriften, Institut für Rundfunktechnik. München. Informationsschriften der Fa. ARRI. München.

Bodo Weber, Baden-Baden

(Deutschland)

94. Der Trickfilm 1. 2. 3. 4. 5. 6.

8. 9.

Einleitung Der Stopptrick oder 'Stop and go Motion' Der Zeichentrick- oder Phasentrickfilm Realfilm und Zeichentrickfilm Masken, Blenden und Geschwindigkeit Exakt hergestellte Masken und Gegenmasken Papieranimation, Sachtrick Painting auf Film Musik und Geräusche Literatur

1.

Einleitung

7.

Den Film gibt es seit 100 Jahren, aber der Traum, in statische Einzelbilder die Illusion von Bewegung hineinzubringen, geht durch die gesamte Kunstgeschichte. Um den Lauf vorzutäuschen, verdoppelte ein Künstler in den Höhlen von Altamira (Nordspanien) vor ca. 15000 Jahren die Beinpaare eines Wildebers. Die Griechen hielten auf ihren Gefäßen die Wettkämpfe in Ablaufphasen fest. Im 13. Jh. wurden in Japan Darstellungen auf Bildrollen schon mit Groß- und Totalaufnahmen gezeichnet. Mit der Erkenntnis über die Trägheit unserer Augen beginnt erst im 19. Jh. die eigentliche Geschichte, die uns zum Trickfilm führt. Der Netzhauteffekt ist die Fähigkeit unseres Auges, den Eindruck eines Bildes noch nach dessen Verschwinden, für den Bruchteil einer Sekunde festzuhalten. Wird ein zweites Bild schnell nachgeschoben, ist das Auge nicht in der Lage, den Intervall zwischen beiden zu erkennen; so werden aus Reihenfotografien oder Reihenzeichnungen das bewegte Bild — der Film — der Trickfilm. Mit der geschlitzten Scheibe, dem Phenakistiskop (trügerischer Blick), hat der Belgier Joseph Plateau (1801-1883) und unabhängig davon der

Wiener Simon von Stampfer (1792—1864) mit dem Stroboskop (rotierender Blick) die ersten wesentlichen Erfindungen gemacht. Zu seinen fotografischen Studien von Mensch und Tier setzte 1872 Eadweard Muybridge noch 24 nebeneinander aufgestellte Fotoapparate ein. Die Maschine, die Cinématographe genannt wurde, eine Entwicklung aus Kinetoskop und Laterna Magica, wurde 1895 von den Brüdern Louis und Auguste Lumière zum Patent angemeldet. Damit beginnt auch die Geschichte des Filmtricks.

2.

Der Stopptrick oder 'Stop and go Motion'

Angefangen hat alles mit einem Zufall. Der Franzose Georges Mèliès machte eines Tages Filmaufnahmen auf dem Pariser Opernplatz, da versagte mitten in einer Szene mit einem Omnibus die Filmkamera. Nach einigem Herumprobieren brachte er die Kamera wieder zum Laufen. Der Bus war inzwischen weggefahren und an seiner Stelle stand nun ein Leichenwagen. Der Effekt bei der Vorführung war für die Zuschauer verblüffend. Diese durch Zufall gefundene Erkenntnis wurde ein wichtiger Bestandteil des Filmtricks. Je nach Anforderung gehört zu einem professionell eingesetzten Stopptrick: — Trick-Kamera mit perfektem Bildstand — Stabile Kamerabefestigung (z. B. Stativ, Tricktisch, Motion Control Einrichtung) — Konstante Lichtverhältnisse — Drehplan — Modelle mit fixierbaren Gelenken — Eine Bildebene darf auf keinen Fall verändert werden. Diese Technik wird auch im Zusammenhang mit der Puppen- und Modellanimation einge-

94. Der Trickfilm setzt. Um eine Bewegung zu erzielen, wird kein Objekt mehr ganz ausgetauscht, sondern in 'Stop and go Motion' bewegt. D a f ü r gibt es bekannte Beispiele in der Filmgeschichte die von 'King Kong' bis 'Star Wars' reichen. Zur Technik: Jede Figur bekommt einen eigenen Animationsvorschub. Diese Veränderungen können, je nach Größe der Figur und Charakter, sehr klein sein. Dazu gibt es noch diverse Austauschteile, die je nach Modell Augen, Münder oder auch ganze Baugruppen sein können. Diese Arbeitsweise wird jetzt durch die Leistungssteigerung der hochauflösenden Computeranimation ersetzt. Im Film 'Jurassic Park' wurden die Realübergänge mit den Trickfiguren komplett mit dem Softimage 3D-Programm auf einem Silicon Graphics Rechner bearbeitet. Die Computerbilder werden dann in einem speziellen Verfahren auf Film transferiert.

3.

Der Zeichentrick- oder Phasentrickfilm

Die Entwicklung zum Zeichentrickfilm begann mit sehr primitiven Mitteln. Es waren Zeichner und Grafiker, die ihre Bilder unter der Kamera im Einzelbildmodus vervollständigten. Es wurden auch schon Versuche mit einfachen Bewegungen gemacht, wie zum Beispiel ein Ohrenwackeln einer Figur mit 2 Zeichenphasen. Der Zeichentrickfilm 'Humorous Phases of Funny Faces' von Stuart Blackton von 1906 und Emile Cohl mit T a n toché', der sich 1908 der Öffentlichkeit auf 72 Filmmetern präsentierte, sind zwei Beispiele dafür. Der endgültige Durchbruch war der Film von Winsor McCay 'Gertie the Dinosaur' mit ca. 5000 gezeichneten Phasen. Damit war das Erfolgsrezept erfunden, wie m a n einen Zeichentrickfilm herstellt. Als erstes steht die Idee — die Story. Alles ist möglich, jede Ubertreibung wird akzeptiert, vorausgesetzt die Handlung und die Figur lassen es vom Charakter her zu. Das Timing ist der eigentliche Schlüssel der Dramaturgie. Das optimale Verhältnis von Pausen zur Animation der Figur, mit dem gezielten Einsatz von Kamerafahrten, machen einen guten Film aus. Es gibt dafür wohl genügend Lehrbücher, aber wenn eine Figur mit 1,2 oder noch mehr Bildern pro Animation aufgenommen wird, hängt von der Erfahrung des Zeichners oder Drehplanschreibers ab. Als Regel gilt bei 25 Bildern pro Sekunde

1039 Wiedergabezeit (25 Bilder pro Sekunde = Fernsehnorm, 24 Bilder pro Sekunde = Kinonorm): einbildweise Animation ist f ü r ganz weiche und runde Bewegungen, z. B. Abbremsen einer Bewegung oder gleichmäßiges Drehen einer Scheibe. Kamerafahrten müssen, wenn kein spezieller Effekt erzielt werden soll, immer mit Einzelbildern aufgenommen werden. Um Zeichenphasen zu sparen, können z. B. Gehbewegungen zweibildweise aufgenommen werden. Ab drei und mehr Bildern pro Animation erreicht m a n eine ruckartige Bewegung, weil das Auge die letzte Phase zu lange aufnimmt. Für bestimmte Figuren kann dies auch ein interessantes Stilmittel sein. Damit ein Zeichentrickfilm wirtschaftlich und zeitlich kalkulierbar bleibt, gibt es folgende Produktionsabläufe: (a) S T O R Y B O A R D : Die Basis für einen Film ist die Idee. Der Vorteil beim Trickfilm ist, die Phantasie hat keine Grenzen, alles ist möglich und fast alles ist erlaubt. Eine Produktion kann von einer Person realisiert werden. Aufwendige Filme werden in monatelanger Arbeit von ganzen Produktionsteams hergestellt. Der vorhandene Text wird in einzelne Bildsequenzen eingeteilt. Die Hauptphasenzeichner entwickeln die Charaktere der Trickfiguren. Die Story wird mit entsprechenden Einstellungen in eine Bildersprache umgesetzt. Diese kreative Arbeit ist die Grundlage für jeden Film. Ist diese Phase abgeschlossen, wird es möglich, das Projekt im Gesamtaufwand zu kalkulieren. (b) R O T O S K O P I E R U N G : Die Grundlage f ü r eine gute Animation ist ein genaues Beobachten von realistischen Bewegungen. Es werden deshalb ganze Szenen mit Schauspielern, Tieren oder speziellen Maschinen mit Realfilm aufgenommen. Dieser Film wird dann so projeziert, daß der Phasenzeichner die Bewegung im Einzelbildtransport auf ein gelochtes Layoutpapier übertragen kann. Dieser Vorgang wird als Rotoskopierung bezeichnet. So werden durch das Uberzeichnen aus sachlichen Realbildern fantasievolle Trickfilmfiguren. (c) F O L I E N E B E N E N : Bei einem Zeichentrickfilm können bis zu drei Folien aufgelegt werden. Jede zusätzliche Folie oder Ebene beeinflußt nachteilig durch die Dichte den Bildcharakter. Mehrere Ebenen sind notwendig, wenn Teile einer Figur animiert werden sollen; z. B. eine Figur bewegt vor einem Hintergrund den Kopf und die Arme. Folgender

1040 Bildaufbau ist notwendig: Hintergrund, Ebene A = Arme, Ebene Β = Körper, Ebene C = Kopf. Durch diese Arbeitstechnik können Phasen mehrfach eingesetzt werden. Wenn eine zusätzliche Bewegung benötigt wird, werden die Arme zur Körperebene dazugezeichnet. Fällt eine Animationsebene weg, so muß diese durch eine leere Folie ausgeglichen werden. Es entstehen sonst innerhalb der Szene Lichtsprünge, die durch ein störendes Bildflackern sichtbar werden, (d) RINGPHASEN: Beispiel: Ein Rad soll sich 20 sec. gleichmäßig drehen. Die Animation für eine Umdrehung ist mit einer Sekunde geplant. Für eine Bewegung werden demnach 25 Bilder, gleich 25 Phasen, benötigt. Nachdem alle Phasen aufgenommen sind, fängt der „Ring" wieder mit der Phase 1 an. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt bis 20 sec. oder 500 Bilder belichtet sind. Damit der Einstieg in eine Ringphasenbewegung homogener wird, müssen Ein- und nach dem Ring Ausstiegsphasen dazugezeichnet werden. Zur Technik: Damit die Phasenzeichnungen auch exakt zueinander passen, müssen alle Vorlagen zuerst gelocht werden. Diese Lochung wird mit einem Präzisionsgerät in ACME-Norm (amerikanische CartoonNorm) durchgeführt. Am Zeichenbrett und später am Tricktisch ist eine A C M E Pegbar (Justierschiene mit einem runden und zwei länglichen Aufnahmestiften) zur Aufnahme der gelochten Vorlagen befestigt. Die Phasen werden auf ein weißes, stark durchscheinendes Papier (bis zu 8 Lagen auf dem Leuchttisch) vorgezeichnet. Vor dem Übertragen oder Kopieren auf Folie wird zur Kontrolle der Animation eine Probeaufnahme auf Film gemacht. Dieser Linetest mit den Papierphasen gibt die Möglichkeit, den Drehplan und die Animation am laufenden Bild zu überprüfen und, wenn nötig, zu korrektieren. Für einen Zeichentrickfilm werden Ultraphan-Folien verwendet. (Dieses Material ist wegen seiner hohen Transparenz besonders dazu geeignet.) Das normale Format ist ca. D I N A 4 , die Folienstärke beträgt 0,10 mm. Eine Folie kostet ca. D M 0,50. Für einen Minutenfilm werden ca. 600 Trickfilmfolien kalkuliert. Nach dem Kopieren werden die Folien von hinten mit spezieller Folienfarbe bemalt. Wichtig dabei ist, daß über die ganze Produktion hinweg die verwendenden Farbmischungen konstant bleiben. Aufgenommen

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

werden alle Folien am Trickfilmtisch, der aus folgenden wesentlichen Teilen besteht: TRICK— Präzisionskamera, speziell KAMERA für Einzelbildaufnahmen KAMERA— Vertikale fahrbare BefeWAGEN stigung der Kamera A U F N A H M E - — In Nord-Süd und OstTISCH West Ebenen, beweglicher Tisch mit festen Pegbars zur Aufnahme der Folien BELEUCH— Halogenlampen, über eiTUNG nen Spannungskonstandhalter geschaltet, für eine gleichmäßige Beleuchtung TischebeS T E U E R U N G — Elektronische nensteuerung für koordinierte Kamerafahrten Als Standard wird die Plan- und Panoramatechnik eingesetzt. Die Folien werden vom Trickkameramann nach einem Storyboard, Foliendrehplan und Kameralayout gelegt. Bei meist abendfüllenden Trickfilmen wird als zusätzlicher Effekt die Multiplantechnik eingesetzt. Diese Tricktische haben mehrere vertikale Aufnahmeebenen, die dann unabhängig voneinander animiert werden können. Dabei sind die Ebenen so weit auseinandergelegt, daß der optische Eindruck einer räumlichen Tiefe entsteht.

4.

Realfilm und Zeichentrickfilm

Im Jahre 1923 entschloß sich Disney, um Kosten zu sparen, einen Zeichentrickfilm mit einer realen, menschlichen 'Heldin' zu drehen. Er übernahm aber nicht das 1914 von Max Fleischer erfundene Rotoskopie-Verfahren, sondern er drehte das Grundprinzip einfach um. Bei der Technik von Fleischer wurden die Realaufnahmen Bild für Bild durchgepaust und als Grundlage für die Zeichentrickfigur benützt. Disney veränderte die Realszenen nicht, sondern baute sie in den Trickfilm so ein, daß eine Spielhandlung entstand. So entstand eine Serie mit dem Haupttitel 'Alice'. U m den Eindruck der Bildkombination zu erreichen, wurde zuerst die Realaufnahme gegen einen weißen Hintergrund aufgenommen. Da die weißen Flächen transparent sind, konnte dann an diesen Stellen der fertige Trickfilm im Zweibandverfahren zusammenkopiert werden. Da diese Technik nur einen engen Gestaltungsspielraum zuläßt, wurde die Rückprotechnik eingesetzt. In einem Einzelbildprojekt wird ein Realfilm eingelegt. Die Aufnahme wird über ein Luftbild, einen Spiegel in 45 Grad und einer Sam-

94. Der Trickfilm mellinse, direkt in die Trickkamera projeziert. Die Geräte werden so synchronisiert, d a ß zuerst die Kamera ein Bild macht, danach wird der Projektor um ein Bild weiter transportiert. Auf der Sammellinsenebene werden die Trickfolien nach Drehplan gelegt und zusammen mit dem projeziertem Realfilm von der Trickfilmkamera aufgenommen. Dabei maskieren sich die Phasen selbst; es müssen deshalb keine transparente Flächen mehr freigehalten werden. Der Nachteil ist, Kamera und Projektor können wegen der L u f t b i l d a u f n a h m e nur an festen optischen Positionen stehen bleiben. Wenn Fahrten benötigt werden, so k o m m t auf die Samellinsenebene eine Mattscheibe. Der Nachteil dieser Technik ist, durch die Mattscheibe wird die Bildqualität gemindert, u n d die Folien können nicht mehr gleichzeitig mit Auflicht in einem Arbeitsgang a u f g e n o m m e n werden. Diese Mattscheiben-Rückprotechnik ist auch lange Zeit, u m Kosten zu sparen, im Realtrick eingesetzt worden. Es gibt dabei immer Probleme mit der Bewegungssynchronität und der Lichtabstimmung. Wie schon a m Filmbeispiel 'Jurassic Park' beschrieben, gibt es heute bessere Lösungen. Als Musterbeispiel f ü r eine Real-Trickfilm-Kombination steht 'Roger Rabit'. Auch hier steht zuerst der Realfilm, der aber genau nach einem Storyboard gedreht wurde. Die Realbilder wurden einzelbildweise projeziert und dazu wurden die Trickzeichnungen angefertigt. Bei der A u f n a h m e der Phasen werden auch dekkungsgleiche schwarz/weiß Masken hergestellt. Die Endbearbeitung wird d a n n auf einer optischen Bank durchgeführt. Dabei ist es möglich, im Bi-pack-Verfahren den unbelichteten Film zusammen mit einem Maskenfilm gemeinsam einzulegen. Im Projektor wird der fertige Trickfilm dazubelichtet. Mit zusätzlichen Masken k ö n n e n durch Mehrfachbelichtungen weitere Effekte dazukopiert werden. D a s Traveling Matte-Verfahren (Wandermasken) wird beim Filmtrick eingesetzt. Beispiel d a f ü r ist der Spielfilm ' M a r y Poppins': Realfiguren, ohne die Stanzfarbe blau, werden vor einem blauen Hintergrund aufgenommen. In einem Kopierverfahren wird eine s/w-Maske hergestellt. Auf der optischen Bank werden d a n n wieder Hintergrund, Maske und Vordergrund zusammengefahren. Wichtig dabei ist der präzise Bildstand der K a m e r a u n d der optischen Bank sowie ein exakter Aufnahmeplan. Diese Technik ist heute ein Standardgestaltungsmittel beim Farbfernsehen — bekannt unter der Bezeichnung Blue ¿ V í a - A u f n a h me. D a s Prinzip

1041 ist gleich wie beim Film, auch hier sollte sorgfaltig gearbeitet werden, da es sonst blaue Farbsäume gibt. Die Elektronik ist aber wesentlich schneller bei der Herstellung von Key-Masken.

5.

Masken, Blenden und Geschwindigkeit

Die aufwendigste und komplizierteste Maskentechnik ist die Wandermaske, das Traveling Matte. Z u r einfachsten Form gehören die Schiebemasken oder Blenden, die CacheÜbergänge. Die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Wischblenden ist nahezu unbegrenzt. Es werden von irgendeiner Seite eine oder mehrere Flächen ins Bild geschoben. Die F o r m ist dabei völlig offen, der Ablauf sollte möglichst schnell gehen, d. h. mit ca. 6 bis 15 Einzelbildern. N u r so entsteht der Wischblenden-Eindruck. Um auf ein Bild zusätzliche Effekte, wie z. B. der Blick durch ein Fernglas, Schlüsselloch oder Fadenkreuz zu erhalten, werden die Masken nicht bewegt, sondern gleich mit der R e a l a u f n a h m e vor der Kamera oder mit einem Maskenfilm auf der optischen Bank hergestellt. Mit dem Maskenverfahren k ö n n e n auch Doppelgänger oder auch integrierte Szenenübergänge hergestellt werden. Die Voraussetzung d a f ü r ist eine Kamera mit einem absoluten Bildstand.

6.

Exakt hergestellte Masken und Gegenmasken

Z u r Technik: Ein Schauspieler sitzt an der linken Bildhälfte und wird aufgenommen. Dieser Vorgang wird mit demselben Schauspieler wiederholt, indem er auf der rechten Bildseite sitzt. Am Tricktisch wird eine Maske hergestellt, eine Seite weiß, der andere Teil deckend schwarz, dazu wird eine Gegenmaske mit deckend schwarz und die andere Seite weiß aufgenommen. Beide Masken a n einandergelegt ergeben einen deckenden Schwarzfilm. Auf der optischen Bank werden die Realszenen zuerst mit dem Schauspieler links u n d der rechten schwarzen Maske belichtet. Der Film wird noch einmal mit dem gleichen Schauspieler und der Gegenmaske belichtet. Ergebnis, eine Doppelgängeraufnahme. Dieser Vorgang k a n n auch f ü r integrierte Szenenübergänge eingesetzt werden. Es werden auch in diesem Fall Mehrfachbelichtungen mit Hilfe von Masken durchgeführt.

1042

XX. Technische Grundlagen der Medien II: Film

Für einen weichen Szenenbeginn oder Abschluß werden Auf- und Abblendungen eingesetzt. Mit einer Trickfilmkamera kann dies gleich bei der Aufnahme gemacht werden. Auf- und Abblenden können aber auch erst nach dem Schnitt, bei der Erstellung der Sendekopie, mit der Kopiermaschine hergestellt werden. Um zwei Szenen, oder einen zusätzlichen Bildinhalt weich einzublenden, werden Überblendungen eingesetzt. Die Technik ist dabei, daß die Szene 1 nach einer festgelegten Geschwindigkeit linear abgeblendet wird. Ohne zu belichten wird zum Blendbeginn zurückgefahren. Die Szene 2, oder ein zusätzlicher Bildinhalt, wird mit der gleichen Geschwindigkeit linear aufgeblendet. Wenn die Überblendung exakt durchgeführt wurde, darf sich an der Grundhelligkeit des Bildes nichts ändern. Dieses Grundprinzip des abund zunehmenden Pegels wird auch bei den elektronischen Mischern eingesetzt. Tricktechnisch einfache Effekte werden durch veränderte Aufnahmegeschwindigkeiten und geänderte Kameralaufrichtung erreicht. U m einen schnellen realen Vorgang sichtbarer oder auch übertriebener darzustellen, wird bei der Aufnahme mit einer wesentlich höheren Bildfrequenz belichtet. So wird aus einer Realszene von einer Sekunde Dauer bei 100 Bildern pro Sekunde Aufnahmegeschwindigkeit eine vierfache Zeitlupe. Umgekehrt entsteht bei langsamen Realbewegungen, beim Weglassen von Bildern bei der Aufnahme, eine Zeitrafferaufnahme. Damit Vorgänge zeitverkehrt sichtbar werden, gibt es den Trick der Rückwärtsbelichtung. Wenn ζ. B. Linien oder Säulen auf einer Grafik entstehen sollen, dann wird folgende Technik eingesetzt: Der Film wird ohne Belichtung über die Länge des gewünschten Ablaufs vorgefahren. Die Karte oder Säulengrafik ist komplett mit zwei Ebenen hergestellt. Die Kamera wird rückwärts gestellt und die Linien oder Säulen werden Bild für Bild weggewischt bzw. zurückgeschoben aufgenommen. Der Film wird danach wieder ohne Belichtung vorgefahren. Bei der Vorführung wird der Vorgang zeitverkehrt gezeigt, die Linien und die Säulen laufen oder schieben sich durchs Bild.

7.

Papieranimation, Sachtrick Painting auf Film

Bei der Papier- oder Sachtrickanimation entsteht der Bewegungsablauf direkt bei der Aufnahme. Die Phasen sind nicht wie beim Zeichentrickfilm vor der Aufnahme fertig durch-

animiert, sondern die Figuren bestehen aus vielen ausgeschnittenen Einzelteilen. Auch hier gibt es ein Storyboard, es ist jedoch die Improvisation bis zum Schluß möglich. Wenn eine Laufphase 8 oder 12 Bilder dauert, eine Hand in 4 Bildern vorgeht, dann 12 Bilder stillsteht und in 8 Bildern zurückgeht, ist dies in keiner Tabelle festgelegt. Beim Puppen- oder Modelltrick wird die gleiche Animationstechnik eingesetzt. Wichtig ist die mechanische Stabilität der Modelle um möglichst natürliche Bewegungen zu erreichen. Beim Modell- und Sachtrick ist aber besonders auf die Lichtführung zu achten, die sich in der Ausleuchtung an die Realstudiobeleuchtung hält. Der Kanadier McLaren entwickelte die Technik, einen Zeichentrickfilm ohne Tricktisch, Kamera und Folienphasen herzustellen. Auf eine von unten beleuchtete Spezialfilmhalterung wird ein transparenter Film mit Bildstrich gelegt. Mit Folienfarbe werden die Phasen dann einzelbildweise direkt auf den Film gezeichnet. Die Länge der Filmbahn beträgt 25 Filmbilder.

8.

Musik und Geräusche

Seit dem Trickfilm 'Steamboat Willie' (1928) von Disney steht fest, wie wichtig Geräusche und Musik in einem Trickfilm sind. Als Technik gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. (1) Nach einem Text wird der Dreh plan ausgetimet und anschließend wird der Ton auf das fertige Bild synchronosiert. (2) Ein fertiger Ton wird ausgetimet und dazu das Bild aufgenommen. In beiden Fällen können durch Geräuschemacher zusätzliche Akzente hergestellt werden. Der Ton unterstreicht und verdeckt auch Trickfilmeffekte.

9.

Literatur

Baron, Christian, Das große Buch vom Zeichentrickfilm. Berlin 1982. Brion, Patrick, Tex Avery. Herrsching am Ammersee 1986. Finch, Christopher, Walt Disney — Sein Leben — Seine Kunst. Stuttgart 1984. Frese, Frank/M. V. Hotschewar, Filmtricks und Trickfilme. Düsseldorf 1965. Giesen, Rolf, Das große Buch vom Zeichentrickfilm. Berlin 1982. Luther, Marcus, Das große Buch vom Zeichentrickfilm. Berlin 1982. Smith, Thomas G., Industrial Light and Magic. London 1986.

Peter Kübler, Baden-Baden

(Deutschland)

XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik 95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts 1. 2. 3. 4.

Einführung Begriff des Projektionskunst Praxis der Projektionskunst Literatur

1.

Einführung

1.1. Dem Formenspektrum, das heute unter dem Terminus technicus audiovisuelle Medien zusammengefaßt wird, stehen im Laufe der Geschichte vielfaltige visuelle und auditive Darstellungs- und Aufführungsformen auf der Basis technischer Verfahren und Instrumente gegenüber, die sich nach Wirkung und Funktion als ihre historischen Entsprechungen identifizieren lassen. Die visuellen Medien als dramatisierte Formen der Bildpräsentation, vornehmlich unter Verwendung zeitgenössischer Beleuchtungstechnologien, nehmen dabei die führende Rolle ein, charakteristisch für das 19. Jh. sind dabei: Projektionskunst (entstanden aus der Spiegelschreibkunst und der Laterna magica, Nebelbilder, Agioskop, früher Film etc.); Panorama; Diorama, Transparentgemälde etc.; mechanische Theater; stereoskopische Darstellungsformen; Vorrichtungen und Instrumente auf Basis der Augenträgheit, des phiPhänomens und des stroboskopischen Effekts; Photographie. Die Präsentation eines wesentlichen Teils dieser Medien verbindet die Darstellung und/oder Handlung in den Bildern mit dem Auftritt lebendiger Akteure zur Gesamtheit einer theatralischen Handlung. Im auditiven Bereich dominierten daher in der Regel die menschliche Stimme und direkt aufgeführte Formen der Musik gegenüber den durchaus verwendeten technischen Aufzeichnungs- und Übertragungsformen. Die Genese der Inszenierungs- und Gestaltungsformen solcher Aufführungsereignisse stellt sich als Geschichte einer autonomen

bildorientierten Dramaturgie dar, die im 20. Jh. vor allem als Filmsprache hervortritt. 1.2. Der aktuelle Wert einer Auseinandersetzung mit diesen historischen Formen liegt auf zwei Ebenen: (1) Sie präsentieren sich als aufschlußreiche Zeugnisse ihrer Zeit, nämlich durch die formulierten Inhalte und deren ästhetische Gestalt selbst, aber auch jenseits der Inhalte in ihrer zeitgenössischen Funktion als Medium und Verfahren der Kommunikation. (2) Die heutigen AV-Medien werden als Resultat der Geschichte erkennbar. Ihre konkrete Gestalt, die häufig als einfach gegeben, aktuell oder rein technisch bedingt hingenommen wird, begründet sich nun auch durch lange zurückliegende, jedoch prägende Einflüsse. Damit wird diese auch als Negation anderer historischer Potentiale bestimmbar, die im selben Entwicklungsprozeß verlorengingen oder unterbrochen wurden. Die historische Betrachtung gibt der Medientheorie und -kritik ein Instrument an die Hand, das nicht nur gestaltgebende Gründe aufdeckt und allgemein geschichtliche Kontexte herstellt, sondern auch die Veränderlichkeit selbst einbezieht. Die Kontingenz des bestehenden Ist-Zustands wird damit begreiflich und Orientierungsbedürfnisse über künftige Entwicklungen erhalten eine historische Fundierung. 1.3. Die Geschichte der visuellen Medien tritt uns heute zunächst in Gestalt illustrer Fundstücke gegenüber, die den Sammler reizen (ein Sachverhalt, dem mancher wichtige Gegenstand seine Erhaltung und Zugänglichkeit verdankt). In der Tat muß sich die medientheoretisch historische Interpretation auf die Arbeit mit solchen Fundstücken, wie Bildern, Bildserien, Geräten und Zubehör, Plakaten etc., als Quellen ebenso stützen wie auf

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XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik

schriftliche Quellen, um Licht in das Dunkel der Mediengeschichte zu bringen. Dabei genügt es nicht, sie nur als Gegenstände zu sehen, ihre Funktion als Medien muß durch die experimentelle Rekonstruktion und Neuinszenierung in die Betrachtung einbezogen werden. Die Dramaturgie der Bildrepräsentation und innerbildlicher Vorgänge stellt selbst — jenseits der konkreten Fundstücke oder genauer, als Beziehung, die sie zwischen ihnen stiftet — ein historisches Gut dar, das auf diesem Wege erschlossen werden kann. (Der häufige gebrauchte Begriff der 'Medien—Archäologie' gründet sich ebenfalls auf die Arbeit mit Fundstücken, läßt allerdings auch die exotische Aura anklingen, die diese ehemals alltäglichen Dinge inzwischen umgibt.) 1.4. Die Geschichte der audiovisuellen Medien muß immer noch als weitgehend unerforschtes Terrain gelten, sie erfährt gegenwärtig jedoch ein rapide wachsendes Interesse. Einzelpublikationen, Ausstellungen und Neuinszenierungen stellen verschiedene Themen der Mediengeschichte vor dem 20. Jh. dar. Autoren wie Liesegang, die zur Jahrhundertwende über das Thema publizierten, finden wieder Beachtung. Die eigenständige Bedeutung, die der Geschichte des frühen Films seit den achtziger Jahren zugemessen wird, hat auch in der filmhistorischen Betrachtung einen Paradigmenwechsel vorbereitet, der die Aufführungsgeschichte neben die reine Produktgeschichte stellt und damit erkennbar macht, daß filmische Formen aus der Übernahme historischer Produktions- und Gestaltungs- bzw. Inszenierungsformen der Projektionskunst entstanden sind (vgl. Vogl-Bienek 1994, 10ff. und 1995, 23f.) und es wird mittlerweile deutlich, daß der frühe Film eine Spätform der historischen Projektionskunst (vgl. Loiperdinger 1998, 66ff.) darstellt. Der prägende Ursprung und Werdegang vieler Ausdrucksformen der audiovisuellen Medien einschließlich des Films, die in historischen Kontexten vor dem 20. Jh. zu suchen sind, rücken damit ins Blickfeld der Betrachtung. Bildschirmmedien (ζ. B. die Gestaltung individueller Bildbewegungen) weisen häufig auf vergleichbare Formen hin, die in den filmisch bestimmten Dekaden des 20. Jhs. in den Hintergrund getreten waren; nicht zuletzt deshalb sehen Praktiker der modernen Medienproduktion in der historischen Perspektive auch eine reiche Inspirationsquelle für ihre Arbeit (vgl. Heinze 1992, ohne Seitenangabe). Mit Pre-Cinema History (Hecht 1993) steht

mittlerweile eine hervorragende Bibliographie zur Verfügung, die nahezu die gesamte bekannte Literatur zu diesem Thema seit dem 14. Jh. zusammenfaßt und kommentiert (der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 1985), die von der Magic Lantern Society herausgegebene Iconography of the Magic Lantern (Robinson 1993) liefert überdies eine anschauliche bildliche Ergänzung. Von einer zusammenhängenden Geschichtsschreibung kann jedoch noch keine Rede sein und vergleichenden Bearbeitungen der bekannten Werke, Gegenstände und Textquellen von nennenswertem Umfang stehen bis heute aus. Der vorhandene Quellenbestand ist eher auf der Basis von Zufällen entstanden und nicht das Ergebnis systematischer Recherchen, die für fundierte Darstellungen erforderlich sind. 1.5. Im 19. Jh. werden die audiovisuellen Medien durch die industrielle Revolution bestimmt. Ihr auffälligstes Merkmal ist die zunehmende Produktion von 'Massenmedien', die sich tendenziell mit der Verdrängung individueller Akteure zugunsten automatisierter Abläufe verbindet. Gegebene Gestaltungs-, Vermittlungs- und Präsentationsformen werden aufgegriffen und für Kommunikationszwecke der entstehenden industriellen Gesellschaften handhabbar gemacht, die bekannten technischen Verfahren und Gerätekonstruktionen werden zur Grundlage industrieller Produkte, Distributionsformen und -wege zur Verbreitung der Medien werden konzipiert bzw. effektiviert und nehmen entscheidenden Einfluß auf die Produktgestaltung, dabei entstehen spezifische ökonomische Formen der industriellen Medienwirtschaft. Themen und Motive der Medien sind in der Regel durch gesellschaftliche Zwecke der frühen Industriegesellschaft geprägt. Die Projektionskunst kann aus folgenden Gründen als Paradigma der visuellen Medien des 19. Jhs. gesehen werden: - Charakteristische Ausbildung als Massenmedium auf verschiedenen Ebenen. Ich halte in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung von soziogeographischer Zentrums- und Verteilungsfunktion für sinnvoll. Auf einer Achse zwischen diesen Polen läßt sich die Lage der jeweiligen Medien im Siedlungsgebiet — also im Verhältnis zu den angesprochenen Massen — bestimmen. Während z. B. das Panorama oder die Weltausstellungen sich wesentlich dem Pol der Zentrums-

95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

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funktion annähern, also so angelegt sind, daß sich möglichst viele Menschen zu ihnen hin bewegen, sind die optischen Spielzeuge als Gegenbeispiel so konzipiert, daß sie möglichst weit verteilbar sind. Betrachtet man zur Verdeutlichung die gegenwärtige Situation nach 1945 unter diesem Aspekt, so ist festzustellen, daß sich das Kino zunächst auf den Pol der Verteilungsfunktion zubewegt und mit Dorf- und Stadtteilkinos immer weiter in die Wohngebiete vordringt; mit Verbreitung des Fernsehens als Abform der Projektionskunst in den privaten Wohnungen entsteht ein starker Gegendruck, der die Tendenz umkehrt und heute in Form der Multiplex-Kinos einen starken Trend zur Zentrumsfunktion an gut erreichbaren Plätzen erzeugt. Die Geschichte der Projektionskunst brachte Gestaltungsformen und Technologien hervor, die ihren Einsatz auf nahezu der gesamten Achse zwischen diesen beiden Polen ermöglichen. — Anwendung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Betrachtung von Medien als Kommunikationsmittel der Massengesellschaft des Industriezeitalters unterstellt ihre — durchaus gegebenen — universellen Einsatzmöglichkeiten. Dennoch ist bei Betrachtung der Pro-

duktion und Rezeption der Medien und bei ihrem zweckorientierten Einsatz die Unterscheidung nach gesellschaftlichen Gruppen notwendig. Die Projektionskunst repräsentiert dabei die größte gesellschaftliche Bandbreite aller visuellen Medien des 19. Jhs. — Diese große Bandbreite im Einsatz der Projektionskunst führte — sowohl technologisch als auch gestalterisch — zu einer entsprechenden Differenzierung der Qualitätsniveaus, die damit in Produkten der Projektionskunst vergleichend betrachtet werden können. — Alle zeitgenössischen Motive und Themen, die von Medien aufgegriffen wurden, finden sich in Bearbeitungen für die Projektionskunst. — Für die Projektionskunst werden wesentliche Medientechnologien im Kontext industrieller Technologie entwickelt (z. B. Optik der Projektion und Lichtführung, Beleuchtungstechnik, Konstruktionsformen im Apparatebau, Technologien der Bildreproduktion und der Bildbewegung für Projektionszwecke). — Nahezu alle wesentlichen Erfindungen neuer visueller Medien des 19. Jhs., z.B. Fotografie oder Bewegungsdarstellung durch Nutzung des phi-Phänomens und des stro-

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XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik

boskopischen Effekts, werden in die Projektionskunst integriert. — Die audiovisuellen Medien des 20. Jhs. (Film, Dia-AV, Projektionsformen im Theater, Bildschirmmedien etc.) entstehen in direkter Folge aus der Projektionskunst des 19. Jhs. Der frühe Film ist ihr noch direkt zuzurechnen, durch die Übertragung ihrer Gestaltungs- und Ausdrucksformen auf ein Industrieprodukt entsteht der Film nach heutigem Verständnis.

2.

Begriff der Projektionskunst

2.1. Verwendung des Begriffs Die mit Projektionen gegebene Vielfalt technischer und gestalterischer Möglichkeiten wird seit der Mitte des 19. Jhs. von verschiedenen Autoren unter dem Begriff der Projektionskunst/The Art of Projecting/L'Art de projections (vergi. Liesegang ca. 1860; Moigno 1872; Dolbear 1877) zusammengefaßt. Er umfaßt vor allem die Formen der Bildprojektion, die seit Erfindung der Laterna magica (Mitte des siebzehnten Jahrhunderts) entstanden waren, aber auch die bis in die Antike zurückreichenden Spiegelprojektionen (Spiegelschreibkunst) werden in diesem Zusammenhang erwähnt (vgl. Liesegang 1918, 15-27). Auf den frühen Film findet dieser Begriff bis in das 20. Jh. hinein ebenfalls Anwendung (vgl. Liesegang 1909). Er dient der Verständigung über gemeinsame Fragestellungen (Technik, Gestaltung, Angebotsinformationen etc.) eines disparaten Arbeitsfeldes, das sich durch eine Vielfalt von Formen und Mitteln der Aufführungsgestaltung, der gesellschaftlichen Einsatzfunktionen und kulturellen Kontexte auszeichnet. Diese Verständigung wurde auch von einschlägigen Industrieunternehmen durch Publikationen gefördert, z. B. die Vierteljahresschrift Laterna magica — Zeitschrift für alle Zweige der Projektionskunst, die zwischen 1877 und 1889 und zwischen 1896 und 1904 erschienen ist; sie steht in Zusammenhang mit dem Industrieunternehmen Liesegang, einem der wichtigsten Produzenten von Medientechnologien des 19. Jhs. 2.2. Grundlegende Eigenschaften der Projektion Projektionen sind gestaltete Lichterscheinungen. Mit einem technischen Gerät werden sie als gegenständliche Bilder, aber auch als

Schrift, Ornament, Farbenspiel etc. auf eine Projektionsfläche geworfen. Für die Durchsetzung der Projektion als dominante Form visueller Medien sind mehrere Eigenschaften verantwortlich: — Durch Projektionen werden Bildgrößen erreicht, die ein großes Publikum zulassen. Bereits in historischen Beschreibungen wird dies als eine wesentliche Eigenschaft hervorgehoben (vgl. 's Gravesande 1720/21, Bd. 2, 72ff.; A fellow of the Chemical Society ca. 1891, 5ff.). — Die im Gegensatz dazu sehr kleinen Projektionsbilder ermöglichen es, am selben Ort viele Bilder in kurzer zeitlicher Folge hintereinander zu zeigen und sie an viele Orte zu transportieren. In dieser Eigenschaft findet auch die Dramaturgie der Projektionskunst ihre Basis. — Die sinnliche Wirkung der projizierten Bilder wird als sehr intensiv und reizvoll erfahren und spricht ein Bedürfnis nach Erlebnissen an. — Sie sind gut geeignet, Dargestelltes als scheinbar Wirkliches erleben zu lassen, diese Illusionswirkung der Aufführungen im dunklen Raum gilt von Anfang an als charakteristisch (vgl. Schott 1671, 398; 407) und hat der Laterna magica den Namen gegeben. 2.3. Das Basisensemble der Projektionskunst Das Basisensemble der Projektionskunst bilden: (1) die Projektionsfläche (evtl. in Verbindung mit einer Bühne, (2) das Projektionsgerät mit den Projektionsbildern, (3) der Zuschauerbereich und der umgebende Raum. 2.3.1. Der dunkle Raum Der dunkle Raum ist der Ort der Projektionskunst, in ihm entfalten die leuchtenden Bilder ihre Eigenschaften als Illusion einer anderen Wirklichkeit und als LichtspielTheater. Die Geschichte der Projektionskunst ist auch eine Geschichte dieses Raumes, der sich historisch mit ihr verbindet, lange bevor das Theater im letzten Drittel des 19. Jhs. den dunklen Zuschauerraum für sich entdeckte und die erleuchtete Bühne in gewisser Weise den Lichtbildern ähnlich werden ließ. Die unterschiedlichen Funktionen der Mediendarbietung machen dabei eine adäquate Ausgestaltung des Zuschauerbereichs gegenüber der Projektionsfläche und evtl. Bühne notwendig, um beispielsweise ein großes Publikum aufzunehmen oder ein exklusives Am-

95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

biente zu erzeugen. Das Projektionsgerät wird dabei inmitten des Aufführungssaales, hinter der Leinwand (Rückprojektion) oder in einem eigens abgetrennten Vorführraum aufgebaut. Im 19. Jh. gab es nur selten Säle, die ausschließlich der Projektionskunst dienten, vielmehr wurden in der Regel Säle genutzt, die auch anderweitig öffentlichen Versammlungen, Vorträgen oder Lustbarkeiten dienten. Seit Ende des letzten Jhs. konnte durch die Verwendung starker Lichtquellen, der dunkle Raum dort aufgegeben werden, wo er nicht gewünscht war, beispielsweise für wissenschaftliche Vorträge oder zur Vermeidung von Störungen in Schulklassen (vgl. Liesegang 1882, 20). 2.3.2. Die Projektionsfläche Als Projektionsfläche dient in der Regel bis heute ein aufgespanntes Tuch (Leinwand) oder eine weiße Wand. Oft ist diese Wand vor Beginn der Vorstellung bedeckt und wird erst mit Erscheinung der Bilder freigegeben, um die zauberhafte Wirkung der Projektion zu verstärken. Die mögliche Größe der Projektionsfläche hängt von der Stärke der Lichtquellen ab, sie wurde im Laufe des 19. Jhs. rapide gesteigert. Für die Illusion von Geistererscheinungen, war vor allem darauf zu achten, daß das Publikum die Projektionsfläche als solche nicht erkennen konnte; besonders wirkungsvoll war dabei die Projektion in Rauch, die den Eindruck frei im Raum stehender Figuren ermöglichte. Dies ist nur ein Beispiel, wie Gestalt und Bewegung der Projektionsfläche in die Gestaltungsformen der Projektionskunst einbezogen wurde. Beim Serpentintanz der Jahrhundertwende, der auf Loie Fuller zurückgeht, formt die Tänzerin ihr Seidenkleid ausdrucksvoll zu weißen Wogen, die zur bewegten Projektionsfläche werden. Meesters Alabastra-Theater stellt ein Beispiel für Filmprojektionen mit plastischen Wirkungen dar, für die Realbühne und Projektionsbild durch den Einsatz spiegelnder Flächen ineinander integriert wurden. 2.3.3. Das Projektionsgerät Das Projektionsgerät hatte im Laufe seiner Geschichte verschiedene Namen, die auf seine Wirkung (z. B. Laterna magica/Schreckenslaterne), Funktion (z. B. Agioscop, Sciopticon, Projektor) oder verwendete Technologien hinwiesen (z. B. hydro-oxygener Gasapparat). Als seine Erfindung gilt die im 17. Jh. kon-

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struierte, technisch-apparative Zusammenfassung bekannter optischer Effekte zu einem Instrument, das als Laterna magica bezeichnet wurde, dessen grundlegende Konstruktion bis zu den heutigen Projektionen gleichgeblieben ist: (1) Lichtquelle und Lichtführung, (2) Bildebene mit entspr. Einrichtungen für Bildführung, -Wechsel und -bewegung und (3) Projektionsobjektiv. Veränderungen dieser Konstruktionsbestandteile (z. B. intensivere Lichtquellen, in den Abbildungsqualitäten optimierte Linsensysteme, Bildwechseleinrichtungen für genormte Bilder aus Massenproduktion) werden durch die Bedürfnisse der Aufführungspraxis und die allgemeine Technologieentwicklung vorangetrieben, ihre Betrachtung im Zusammenhang stellt das entscheidende Kapitel in der Geschichte der visuellen Medientechnologie dar (vgl. Crompton/Franklin/Herbert 1997). In der Regel sind die Projektionsgeräte für die Verwendung transparenter Bilder konzipiert, einige (Fantascop, Wunderkamera, Episcop) lassen jedoch auch die Projektion von opaken Bildern und Objekten zu. Die Technologie der Bildbewegung und -Verwandlung wurde sowohl in der Gerätekonstruktion als auch für spezifische Mechanismen einzelner Bilder entwickelt. Im 19. Jh. wurde eine hochdifferenzierte Vielfalt an Geräten, sowohl hinsichtlich ihrer Funktion als auch hinsichtlich ihrer Qualität und des Preises, zunehmend in industrieller Produktion hergestellt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die aus zwei oder drei (seltener mehr) Projektionseinheiten zusammengefügten Nebelbildapparate für Überblendungen (dissolving views) und Einblendungen (superiompose), die Apparate waren häufig in zwei- und dreistrahligen Geräten zusammengefaßt, wurden aber auch aus nebeneinander positionierten Einzelgeräten aufgebaut (siehe auch 2.3.4. Nebelbilder). Bevor sich im 20. Jh. die Geräteproduktion in die beiden Hauptrichtungen Diaprojektoren und Filmprojektoren spaltete, wurde eine große Zahl von Geräten entworfen, die es zuließen, Laternenbilder und Films (frühe Bezeichnung) gleichermaßen zu zeigen.

2.3.4. Die Projektionsbilder Projektionsbilder sind das Haupt-Element in der Dramaturgie der Projektionskunst, häufig wurden bereits in ihrer Gestaltung und Konzeption raum-zeitliche Vorgänge, durch

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XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik PERKEN, SON, & RAYMENT, 99, Hatton Garden, LONDON.

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Abb. 95.3: Dreistrahliger Nebelbildapparat. England ca. 1890.

Darstellung von Abfolgen, Veränderungen bzw. Verwandlungen und Bewegungen im selben Bild, durch aufeinanderfolgende Bildreihen oder durch Überblendungen integriert. Sie sind auf durchsichtigen Trägermedien (Glas, Zelluloid für den frühen Film, sehr selten andere Materialien wie H o r n oder Glimmer) ausgeführt, Farbflächen transparent, Konturen und Schwarzflächen opak. Herstellungstechniken sind verschiedene Formen der Malerei bzw. Kolorierung, fotografische Techniken und eine Reihe drucktechnischer Verfahren. Die Herstellung der Projektionsbilder wurde einerseits von Projektionskünstlern selbst ausgeführt oder in Auftrag gegeben, soweit der Qualitätsanspruch und

die Finanzkraft der Unternehmen groß genug waren, mit individuellen Programmen zu arbeiten, andererseits entwickelten sich im 19. Jh. viele industrielle Unternehmen, die Bilder auf allen Qualitätsebenen herstellten, u m den wachsenden Medienmarkt zu bedienen (vgl. Barnes 1990, 1 9 - 3 0 ) . Für die Herstellung großer Auflagen von Bilderserien wurden technische Reproduktionsverfahren optimiert und Normen für Bildgrößen festgelegt. Die massenhafte Ausbreitung technisch reproduzierter Projektionsbilder, verbunden mit einem Verfall der bildlichen und Aufführungs-Qualitäten, führte in den neunziger Jahren des letzten Jhs. zu einer Debatte über Krise und Z u k u n f t der Projektion (vgl. Johnson 1894, 208f. bzw. Hepworth 1896, 6f.).

95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

2.3.4.1. Bildarten Gebräuchliche Bezeichnungen für Projektionsbilder im Allgemeinen waren: Laternamagica-Bilder, Laternbilder, Tableaux, Dias. Unter den Bildarten der Projektionskunst des 19. Jhs. sind folgende hervorzuheben: (1) Nebelbilder (dissolving views): Mit diesem Begriff wurden Bilder bezeichnet deren Wirkung auf Uber- bzw. Einblendungen beruhte. Ihre faszinierende Wirkung und das große Potential bilddramatischer Gestaltungsmöglichkeiten ließ sie häufig zum Begriff für Projektionsaufführungen schlechthin werden, ihr Name verdankt sich der verschwommen — nebligen Wirkung des dritten Bildes während der Überblendung (Barth 1875, 3ff.). (2) Fotografische Projektionsbilder: für ihre Herstellung finden sich seit 1849 verschiedene Verfahren. Die als authentisch geltenden Abbildungsqualitäten der Fotografie sowie die Genauigkeit und Effizienz als Reproduktionstechnik ließen die Fabrikationsziffern dieser Bilder rasch ins Unermeßliche steigen. Bis zur Einführung der Farbenfotografie im 20. Jh. werden die fotografischen Projektionsbilder häufig koloriert. (3) Life model slides: unter diese Bezeichnung wurden narrative Bildreihen mit fotografischer Technik produziert. Dafür wurden Studios mit Bühnenbildern und gemalten Hintergründen eingerichtet, in denen sich kostümierte Menschen (Life models) als Darsteller für szenische Bilder in Pose stellten. Die Life model slides repräsentieren eine für Massenmedien spezifische Form der Gestaltung und Dramaturgie und wurden in großen Auflagen industriell reproduziert. Sie sind im letzten Drittel des 19. Jhs. vornehmlich im Zusammenhang sozialpädagogischer Einflußnahme zu finden, werden dann aber mit steigender Tendenz — bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts — auch in der Massen-Unterhaltung eingesetzt. (4) Bewegte Bilder: Die Erzeugung von Bildbewegungen verbindet sich praktisch von Beginn an mit der Laterna magica, die Bilder wurden hierfür auf gerätetechnische Vorgaben eingerichtet bzw. mit eigenen Bewegungsmechanismen ausgestattet (s. Abb. 95.4). Nach der Klassifikation von Barnes lassen sich die Projektionsbilder des 19. Jhs. auf der Basis ihres mechanischen Aufbaus in 22 Hauptgruppen mit insgesamt 66 Untergruppen einteilen (Barnes 1990, 75ff.). (5) Animierte Bilddarstellung und animierte Fotografien: Eine spezielle Art von bewegten

1049

Bildern macht sich das phi-Phänomen (vgl. Sarris 1987, 17ff.) zunutze: Sieht man zwei einzelne Phasen eines Bewegungsablaufs in schneller Folge, so wird von der psychischen Wahrnehmung der vollständige, dazwischen liegende Bewegungsablauf ergänzt, z. B. sieht man im Bild eines Schmiedes am Amboß dessen Arm mit dem Hammer einmal im oberen Wendepunkt und dann beim Schlag auf das Werkstück, beide Phasen können wechselweise mit Masken abgedeckt werden, bei entsprechend raschem Wechsel ergibt sich zwingend der Eindruck des schlagenden Arms. Für die Darstellung einer einzelnen Bewegung genügt es daher, die beiden Endpunkte in dieser Weise zu zeigen. Komplexe Bewegungen jedoch müssen in kleine Einheiten aufgeteilt und in unterbrochener, schneller Folge gezeigt werden (stroboskopischer Effekt), wie bei der Wundertrommel, dem Praxinoskop etc. (vgl. Füsslin 1993). Diese Verfahren sind unabhängig von der Projektionskunst entstanden, wurden aber auf allen Entwicklungsstufen adaptiert. Die Übertragung dieser Formen auf die Fotografie (vgl. Rossel 1995, 119ff.) führt zu den Basistechnologien des Films, dessen frühe Formen als animierte Fotografien in die traditionelle Projektionskunst der Jahrhundertwende integriert werden.

3.

Praxis der P r o j e k t i o n s k u n s t

Die Verbreitung der Projektionskunst und anderer visueller Medien im 19. Jh. ist bis heute kaum erforscht, es lassen sich noch keine hinreichend präzisen Angaben über den Einsatz zu bestimmten Zeiten in konkreten Regionen machen. Berichte über Aufführungen/Darbietungen existieren zwar, aber nicht auf der Basis systematischer Recherchen. Immerhin läßt die Quellenlage eindeutig die Feststellung zu, daß ihr Einsatzgebiet immens war, es reicht von der Variéteunterhaltung bis zur Volksbildung, von der sozialpädagogischen Einflußnahme bis zu wissenschaftlichen Vorträgen (s. Abb. 99.5). Aufführungen fanden in Kirchen ebenso statt wie in Wirtshäusern, umherreisende Schausteller reüssierten mit der Laterna magica nicht weniger, wie ortsfeste Häuser. Aus zeitgenössischen Publikationen, Werbeinseraten, Firmenkatalogen, Produktionsverfahren etc. zu schließende Größenordnungen der Produktion und Rezeption visueller Medien zeigen deut-

1050

X X I . Geschichte des Films u n d seiner E r f o r s c h u n g I: Technik

Abb. 95.4: Komplexer Bewegungsmechanismus in einem Einzelbild aus der Nebelbildreihe: „ D a s Auswanderschiff". Zwei bewegte Platten zeigen das ausfahrende Schiff (Schiff und Hafen verschwinden im Gegenzug aus dem Bildfeld, während n u r noch entfernt L a n d zu sehen ist); zwei exzentrisch bewegte Platten zeigen die Bewegung der Wellen.

95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

Abb. 95.5: Zwei Phasen aus dem Nebelbild: „Ausbruch des Vesuv"

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XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik

lieh, daß im 19. Jh. von Massenmedien gesprochen werden muß. Darüber hinaus ist eine Tendenz zur Verbreitung der Laterna magica etc. im privaten Rahmen erkennbar. 3.1. Aufführungsgestaltung Die vielfältigen Gestaltungsmittel und Techniken der Projektionskunst dienen der Inszenierung von Aufführungsereignissen (analoges gilt für dokumentarische Darstellungen). Deren Ablauf wird in der Regel durch die Bildfolge strukturiert und erhält durch sie ihren zeitlichen Rhythmus. Die Qualitäten der Aufführung werden damit ebenso von denen der Bildgestaltung und bildlichen Darstellung bestimmt wie von denen der Bildfolge im Zusammenspiel mit Bildbewegung und -Verwandlung. Aus der Betrachtung überlieferter Geräte und Bilder geht eine differenzierte Variationsbreite allein der Anschluß- und Ubergangsformen von einem zum nächsten Bild bzw. zur nächsten Sequenz hervor, sie ist kennzeichnend für die zentrale Funktion der Darstellung raum-zeitlicher Vorgänge in der Gestaltung des zeitlichen Ablaufs der bildlichen Darbietungen. Die Dramaturgie der Projektionskunst setzt sich, von diesem Kernproblem ausgehend, mit der Gestaltung

des jeweiligen Aufführungsganzen durch die Verbindung mit weiteren Formen wie Sprache, Musik, Gesang etc. auseinander. In der sprachlichen Entwicklung werden die Aufführungen — vergleichbar einer Theateraufführung — durch Projektionskünstler inszeniert und dargeboten, es besteht eine direkte Interaktion zwischen Akteuren und Publikum (s. Abb. 95.6). Historisch ist die Vorstellung im kleinen Kreise ebenso zu finden wie das große Publikum mit mehreren hundert Zuschauern; wir kennen sowohl Aufführungen, die ausschließlich mit Mitteln der Projektionskunst arbeiten, als auch solche wo diese sich mit anderen Darbietungen (z. B. Variéteattraktionen) abwechseln; die Zeit des frühen Films ist vornehmlich von vielfältigen Programmen dieser Art geprägt (Loiperdinger/Vogl-Bienek 1997, 134ff.). Mit der Entwicklung visueller Massenmedien auf der Basis technisch reproduzierter Bildfolgen entsteht im 19. Jh., anfangs vor allem in England, eine zunehmende Tendenz, die Medien so zu gestalten, daß wesentliche Anteile des Aufführungsablaufs bereits bei der Bildproduktion festgelegt werden. Es ist davon auszugehen, daß der Markt für diese Produkte einen entscheidenden Einfluß auf ihre Gestal-

Abb. 95.6: Laterna magica Bild eines Showman aus Wales mit dreistrahligem Nebelbildapparat, Kinematograph und Phonograph.

95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

tung hatte, er wurde weniger von den Rezeptionswünschen der Medienkonsumenten, als vielmehr durch die Intentionen zahlungskräftiger Auftraggeber bestimmt (vgl. 3.2.3.). Dabei wurden die autonomen künstlerischen Fähigkeiten und personalvermittelten Gestaltungselemente am Aufführungsort tendenziell zugunsten einer technisch-operativen Wiedergabe verdrängt, der Gestaltungsprozeß begann sich vom Publikum zu entfernen (VoglBienek 1994, 23ff.). Diese Tendenz erhielt durch die Verbindung der Dramaturgie der Projektionskunst mit dem neuen Verfahren der animierten Fotografien zu Beginn des 20. Jhs. eine neue Dimension: das normierte Taktband Film erlaubt es, vollständige Aufführungsereignisse zu speichern, in beliebiger Auflage zu reproduzieren und an vielen Orten durch einen technischen Operateur vorführen zu lassen (vgl. Vogl-Bienek 1995, 23).

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ihnen damit offensichtlich geglückt — mit steigender Tendenz — ein breites Publikum anzulocken (s. Abb. 95.7). Es existierte eine große Bandbreite von Anbietern: umherziehende Schausteller (z. B. Savoyarden), Buden-

3.2. Themen und Motive/Einsatzbereiche Die Quellenlage läßt einerseits eine nahezu unendliche Vielfalt der Themen und Motive, andererseits aber auch einen Kanon vorrangiger Themengebiete in den historischen Medien erkennen, die sich verschiedenen Verwendungszusammenhängen und Einsatzzwecken zuordnen lassen. Bereits im 17. Jh. finden sich Belege für fiktionale und nichtfiktionale Darstellungsbereiche (vgl. Schott 1671, 398; 407; vgl. auch Liesegang 1918, 17 ff.), die heute insbesondere durch die Unterscheidung von Spiel- und Dokumentarfilm (fiction—nonfiction) erkennbar werden. Jenseits dieser Unterscheidung spielen die reinen visuellen Attraktionen (z. B. die kaleidoskopartigen Farbenspiele der Chormatropen) eine wichtige Rolle für die Dramaturgie der Projektionskunst. Bestimmende Einsatzbereiche der Medien im 19. Jh. waren (1) Unterhaltung, vornemlich als Massenunterhaltung; (2) Bildung vornehmlich als Volksbildung; (3) sozialpädagogische Einflußnahme, oft in Verbindung mit religiösen Themen. 3.2.1. Unterhaltung Projizierte Bilder in wohlinszenierten Aufführungen bergen ein hohes sinnliches, emotionelles und darstellerisches Wirkungspotential. Projektionskünstler haben daraus intensive Erlebnisangebote zum Zwecke der Unterhaltung inszeniert, verbunden mit dem hohen Neuigkeitswert mancher Bilder oder der Darstellung sensationeller Phänomene ist es

Abb. 95.7: 2 Phasen-Schiebebild aus einer Zirkusreihe. Werden die beiden Phasen in kurzer Folge gezeigt, entsteht durch das „phi-Phänomen" der zwingende Eindruck des „springenden" Reiters (vgl. 2.3.4.1.).

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XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik

unternehmen auf Jahrmärkten und Messen, eigenständige Einrichtungen oder die eleganten Variétés der letzten Jahrhundertwende. Als Kennzeichen einer Epoche der unterhaltsamen Projektionskunst am Ausgangspunkt der Industrialisierung sind die Phantasmagorien (Geistererscheinungen) zu sehen, die im ausgehenden 18. und frühen 19. Jh. ihre Blütezeit erlebten. Für die Phantasmagorien wurden wesentliche gestalterische und gerätetechnische Entwicklungen vorangebracht, was sich u. a. in den Patenten Robertsons ausdrückt (vgl. Hecht 1993, 59): in der Darstellung von Einzelfiguren wurde ζ. B. der bisher offengelassene Fonds abgedeckt, um die Illusion einer realen Figur zu verstärken (vor allem bei der Projektion in Rauch), im technischen Aufbau des eigens konstruierten Fantascops wurde die neue Argand-Lampe als starke Lichtquelle eingeführt, es ist in der Lage opake Objekte (ζ. B. speziell angefertigte Püppchen) zu projizieren, es ist fahrbar und damit in der Lage, größer bzw. kleiner werdende Figuren zu zeigen usw. Die größte Beachtung in der Literatur fanden bisher die Phantasmagorien Robertsons, was nicht zuletzt in seinen ausführlichen Memoiren begründet liegt (Robertson, 1831). Im Paris des ausgehenden 18. Jhs. faszinierte er mit seinen Geistererscheinungen ein großes Publikum in einem alten Kapuzinerkloster, das sich „[...] in einen offenen Tummelplatz des Lachens und der gereizten Neugier verwandelt [...]" hatte (vgl. Meyer 1802, 189ff.). Geister und Geistererscheinungen erhalten sich zwar dauerhaft als Thema der Projektionskunst, im Laufe des 19. Jhs. treten jedoch romantische Bildsequenzen, attraktive Effekte, Geschichten und Märchen zunehmend in den Mittelpunkt ihrer unterhaltsamen Verwendung (vgl. Liesegang 1918, 32ff.). Die effektvollen Nebelbilder werden im ausgehenden 19. und frühen 20. Jh. zu einem Markenzeichen der Medienunterhaltung, zunehmend in Verbindung mit animierten Photographien. 3.2.2. Bildung Die Möglichkeit, gleichzeitig ein großes Publikum an illustrativen, anschaulichen Darstellungen beteiligen zu können, machen projizierte Bilder zu einem hervorragenden Bildungsmedium. Aus einem Bericht von Schott geht hervor, daß bereits der Jesuit V. Andreas Takquet eine „[...] gantze Reise aus China ins Niderland [...]" durch Projektion gezeigt hat (Schott 1671, 398); Liesegang datiert diesen,

nach seiner Auffassung ersten geographischen Lichtbildervortrag der Geschichte auf 1653 oder 1654 (Liesegang 1918, 21). Die Illusionswirkung der Projektion, die das Dargestellte oft als quasi wirkliches erscheinen läßt, in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. noch erheblich verstärkt durch die fotografischen Projektionsbilder, macht sie als anschauliches Medium sehr beliebt. Besonders die Darstellung der Geographie hat davon sehr profitiert. Neben die Ausweitung der Mobilität durch die Verkehrstechnologie tritt die völlig entgrenzte virtuelle Mobilität durch die Medientechnologie. Aber auch klassische und aktuelle Werke aus Literatur und Theater wurden dem breiten Publikum durch die Projektionskunst näher gebracht; so präsentierte der Projektionskünstler Paul Hoffmann im Jahre 1887 bereits den gesamten Ring des Nibelungen von Richard Wagner als Projektionsdrama an einem Abend (vgl. Junker 1987, 7ff.). Auch alle weiteren Wissenschaftsund Bildungsbereiche finden sich auf Projektionsbildern des 19. Jhs., unter denen die bewegten Darstellungen des Laufs der Gestirne eine besonders erwähnenswerte Stellung einnehmen. Die Volksbildungsbewegungen, deren Klientel die existentiell einigermaßen versorgten, aber nicht oder nur wenig gebildeten Teile der Bevölkerung waren, tragen erheblich dazu bei, die Projektionskunst zum Massenmedium zu entwickeln. Einerseits locken Zentren, wie The Royal Polytechnic Institution in London (vgl. Ryan 1986, 4 8 f f ) , tausende Neugierige an, zum anderen wird die massenhafte Verbreitung der Bildungsmedien vorangetrieben, um möglichst viele zu erreichen. Die im 19. Jh. entstandenen visuellen Medien für Bildungszwecke stehen häufig in einem engen Zusammenhang zu weiteren Veranstaltungen der Volkserziehung. 3.2.3. Volkserziehung/sozialpädagogische Einflußnahme Die Ausbildung der modernen Sozialarbeit in der Industriegesellschaft verbindet sich offensichtlich mit dem zunehmenden Einsatz von Medien. Die enorm große Zahl erhaltener Projektionsbilder dieser Art spricht definitiv dafür, daß sie sich gegenüber dem Zielpublikum (in der Sprache der Sozialarbeit: Klientel) als sehr wirksam erwiesen haben. Es ist davon auszugehen, daß das attraktive Erlebnisangebot die Offenheit der in kargen Verhältnissen lebenden Menschen gegenüber den medial vermittelten Botschaften bzw. Verhaltensanleitungen stark begünstigte. Als häufigstes Thema läßt sich dabei der Alkoholis-

95. „Projektionskunst". P a r a d i g m a der visuellen Massenmedien des 19. J a h r h u n d e r t s

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Abb. 95.8: Teufeldarstellung mit der Laterna magica ('s Gravesande 1720/21); sie zeigt eine aufschlußreiche Verbindung von präziser technologischer Darstellung und phantasmagorischem Sujet.

mus ausmachen, der oft zum eigentlichen Verursacher sozialer Probleme stilisiert wurde. Aus dem erhaltenen Material ist zu erkennen, daß sowohl informative als auch narrative Bildserien eingesetzt wurden; die auffällig große Zahl der narrativen Bildserien, verweist auf den besonderen erzieherischen Effekt von Geschichten. Reihen dieser Art wurden in großen Auflagen industriell

hergestellt, mit der deutlichen Tendenz, Erzählform und Aufführungsablauf bereits in die Anlage und die Produktion der Serien aufzunehmen (vgl. 3.1.). Sie wurden von Organisationen der Sozialarbeit zum Zwecke der sozialen Einflußnahme über eigene Distributionssysteme verbreitet. Dieser Einsatzbereich stellt eine der Grundlagen für die Entstehung industrieller Massenmedien dar

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XXI. Geschichte des Films und seiner Erforschung I: Technik

Abb. 95.9: Kontaktabzug eines Negativs zum religiös orientierten Life Model Set „The Old Actors Story", das auch die Studioumgebung gut erkennen läßt (vgl. 2.3.4.1.).

und übte wesentliche, formprägende Einflüsse auf sie aus (vgl. Vogl-Bienek 1994, 23ff.). In ökonomischer Hinsicht entstehen beispielsweise effiziente Verleihformen und eine typische, bis heute häufig anzutreffende Marktkonfigurarion industrieller Massenmedien: Produktentscheidungen, die die Rezeption determinieren, werden zwischen Produzenten und Vertretern bestimmter Intentionen, die Einfluß auf die Rezipienten zu nehmen wünschen und die zahlungskräftige Nachfrage repräsentieren, getroffen; der Einfluß der Rezipienten selbst ist dabei als gering einzuschätzen, er reduziert sich auf Akzep-

tanz. Vom großen Einfluß kirchlicher Organisationen in diesem Bereich zeugen die vielen Projektionsbilder für den kirchlichen Gebrauch im 19. Jh. Es finden sich Erzählungen und Gleichnisse aus der Bibel als farbenprächtige Projektionsdramen, ganze Gottesdienste, die auf Geschichten und Liedern beruhen, existieren als fertig vorbereitete Verlagsprodukte, die zugehörigen erzählenden Projektionsbilder wurden im Verleih bezogen. Religiöse Gebrauchsweisen, Unterhaltung und Indoktrination bildeten auch einen der wichtigsten Einsatzbereiche des frühen Films.

95. „Projektionskunst". Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts

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Abb. 95.10: The Illustrated London News 18.10.1890.

4.

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Ludwig Maria Vogl-Bienek, Bad Camberg ( Deutschland)

XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution 96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Einleitung Der Beginn der Filmproduktion Die Phase der Konsolidierung Anfänge des amerikanischen Studiosystems Ein Blick nach Europa Die Entstehung Hollywoods Es werde Ton Die 'klassische' Periode Hollywoods Zensur und Politik Krisenstimmung Europa unter Kuratel Hollywood und Europa heute: freies Spiel ungleicher Kräfte Literatur

1.

Einleitung

Von Beginn an war die Filmproduktion als profitabler Wirtschaftszweig geplant. Zwar hat das Medium Film immer wieder den Spagat zwischen Kunst und Kommerz gewagt. Doch hat die Filmgeschichtsschreibung darüber ein Zerrbild entworfen, wenn sie die ökonomische Bilanz der Filmkunst außer acht ließ. Die meisten filmkünstlerischen Epochen waren nicht von finanziellem Erfolg gekrönt. Begriffe wie 'Traumfabrik', 'Showbusiness' und 'Unterhaltungsindustrie' charakterisieren bereits die ökonomischen Vorzeichen der Filmproduktion. Gerade die Frühgeschichte des Films ist geprägt von Verteilungskämpfen um Standorte, Erfindungen und Patente. Standards sollten geschaffen werden, die eine genormte Produktion und ein einheitliches Abspiel auf dem jeweils neuesten Stand der Technik garantierten. Dabei konnten sich allerdings nur diejenigen technischen Errungenschaften durchsetzen, die von finanzstarken Potentaten unterstützt wurden. Während die Filmproduktion vor allem Geld verschlang, waren es der Verleih und das Abspiel, welche den Gewinn einbrachten. Das Entstehen und der Erfolg der heute weltweite dominierenden nordamerikanischen Filmindustrie wäre ohne den zur Zeit

des Studiosystems erfolgten Schulterschluß von Produktion, Distribution und Abspiel nicht denkbar. Dort wurde der Grundstein für einen Erwerbszweig gelegt, der zu den lukrativsten Industrien gehört.

2.

Der Beginn der Filmproduktion

Die erste öffentliche Vorführung des 'Cinématographe', einer Erfindung von Auguste und Emil Lumière, im Paris des Jahres 1895 brachte gerade einmal 33 Francs ein. Drei Wochen später belief sich der Einspielerlös bereits auf 2500 Francs. Schnell wurde das wirtschaftliche Potential des Lichtspiels erkannt. Bevor sich die Filmproduktion jedoch zu einem internationalen Wirtschaftszweig mit monopolistischen Strukturen entwickeln konnte, durchlief das Kino seine Jahrmarktsjahre. In den 'Penny Arcades', im 'Nickelodeon' und 'Vaudeville' herrschte die Anarchie des freien Wettbewerbs. Kleinanbieter teilten sich den Markt in freier Konkurrenz untereinander auf, ohne ihn kontrollieren zu können. Es wurde produziert, was der Markt verlangte. Das Bildungsbürgertum hatte sich nach anfänglichem Interesse desillusioniert vom Kino abgewandt, dafür drängten die sensationslustigen Massen in die Vorführungen. Es entstanden die ersten Produktionsfirmen, um ständigen Nachschub zu gewährleisten. In Amerika gründete der ehemalige Edison-Mitarbeiter William K. L. Dickson 1896 die 'American Mutoskop and Biograph Company'. In Frankreich errichtete im selben Jahr Charles Pathé mit seinen Brüdern die 'Pathé-Frères', eine schnell anwachsende Gesellschaft mit Produktionsstätten in England, Deutschland, Italien und Rußland. Diese Produktionsfirma war an der Industrialisierung der Filmproduktion wesentlich beteiligt und beherrschte den europäischen Markt bis 1914. In Deutschland waren es die Filmpioniere Oskar Messter und Guido Seeber, die

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vor allem an der Weiterentwicklung der Filmtechnik teilhatten. 1896 richtete Messter ein Kunstlichtstudio in Berlin ein. Im Jahr darauf beziffert sich seine Filmproduktion bereits auf 84 Werke, darunter kurze Spielfilme, Dokumentarmaterial, wissenschaftliche und Werbe-Filme. Schon in den Gründerjahren der Filmproduktion spielten finanzstarke Geldgeber eine Rolle, wie sie noch in unseren Tagen das Filmgeschäft diktieren. Die amerikanische 'Biograph Company' erhielt 1896 von der 'New York Security and Trust Company' ein Darlehen über 200.000 Dollar, bevor sie ihren Studiobetrieb aufnehmen konnte. Tino Balio (1985, 11) bezeichnet dies als ersten Kredit der Filmgeschichte. In Frankreich machte das erfolgreiche Beispiel Pathé Schule und fand mit Unterstützung der 'Banque Suisse et Française' in Léon Gaumont einen Nachahmer, der 1905 moderne Filmateliers einrichtete und ab 1908 reguläre Wochenschauen produzierte. Zu den festangestellten Regisseuren bei Gaumont zählte Louis Feuillade, der ab 1913 an der berühmten 'Fantômas'-Serie arbeitete. In Deutschland war die Filmproduktion bis zum ersten Weltkrieg unterentwickelt. Nur zögerlich war das Großkapital bereit, zur Entwicklung der Kinematographie beizutragen. Das Filmwesen galt als wirtschaftliches Risiko und genoß zudem wenig Ansehen. Allerdings brachte der Apparatebau (Ernemann), die optische Industrie (Zeiss) und die Rohfilmherstellung (Agfa) die Filmproduktion durch technische Innovationen voran (vgl. Zimmerschied 1922, 5). Erst allmählich wurde der Film seßhaft. In den Anfangsjahren auf Jahrmärkten und in Wanderkinos präsentiert, entstanden ab 1905 die ersten festen Abspielhäuser. Einer amtlichen Statistik von 1907 zufolge gab es in Berlin bereits 139 Kinosäle (Jacobsen 1993a, 20). Die Zahl der amerikanischen Nickelodeon betrug 1908 dagegen schon fünftausend. Die Filmproduktion, allen voran die französische, schaufelte im Wochenrhythmus Filme in die Kinos, deren Herstellung meist nur einen Tag erforderte und eine Länge von dreißig Meter selten überschritt, was einer Vorführdauer von etwa fünf Minuten entspricht. Die Themen reichen von Dokumentarischem bis zu Fiktionalem. Karl Zimmerschied (1922, 5 — 16) zählt in seiner Studie über die frühe deutsche Filmindustrie heute noch gültige Genres und Gattungen auf: Vom Groteskfilm und Lustspiel über den Detektiv· und Wildwestfilm bis zum Filmdrama,

zum literarischen und historischen Film. Aber auch Dokumentarfilme waren überaus populär. Aus einer Firmenstatistik von 'Biograph' geht hervor, daß in den Jahren 19001906 über 1000 Dokumentationen gegenüber 770 fiktionalen Stoffen produziert wurden (Balio 1985, 20). Auf der technischen Seite entstanden die grundlegenden Innovationen. Es wurde mit Fahrten und Kameraschwenks, Totalen und Großaufnahmen experimentiert, Filmtricks und Belichtungsstudien durchgeführt. Die Filmpioniere waren alle zugleich auch Tüftler.

3.

D i e P h a s e der K o n s o l i d i e r u n g

Läßt sich die amerikanische Filmindustrie der Gründerzeit als Polypol beschreiben (vgl. Prokop 1982), sieht die Situation in Europa vollkommen anders aus. Die meisten Länder hatten die Techniken von Edison und Lumière lediglich aufgegriffen, brachten aber mit Ausnahme von Italien in den Anfangsjahren keine nennenswerte eigene Filmproduktion hervor. Die französische 'Pathé' und die dänische 'Nordisk' hatten die meisten Marktanteile an der kontinentalen Filmproduktion inne. Der Grund hierfür liegt in den Distributionsstrukturen, die beide Gesellschaften etabliert hatten. 'Pathé' unterhielt Vertreterbüros in allen europäischen Großstädten und die 'Nordisk' setzte ganz auf den Export von Langfilmen, die sich aufgrund ihrer Theatralität und Psychologisierung größter Beliebtheit auch beim bürgerlichen Publikum erfreuten. Regisseure wie Peter Urban Gad und dessen Frau und Star Asta Nielsen, beide aus dem Theater hervorgegangen, stehen für die hohe Qualität des dänischen Films. Guido Seeber verpflichtete sie für eine Serie von Filmen bei der 'Deutschen Bioskop'. Die Jahre vor dem ersten Weltkrieg brachten der Filmwirtschaft eine weltweiten Boom. Die Produktionskapazität der Firmen wuchs ständig. Es entstanden neue Firmen, Zusammenschlüsse und Übernahmen, organisiertes Verleihwesen wurde etabliert und Kinoketten gegründet. Bis dahin war der Direktverkauf von Filmkopien an die Abspieler üblich. Dennoch wollten die Produzenten verhindern, daß ihre Kopien weiterverliehen oder erneut reproduziert wurden, da sie sich der Einhaltung des Urheberrechts nicht sicher sein konnten. Vorsichtshalber ließen etwa die französische 'Mèliès' oder die amerikanische

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96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung

'Vitagraph' Firmensignets im Vorspann, aber auch auf Requisiten anbringen, um unautorisiertes Abspiel zumindest zu erschweren. Hinzukam, daß eine Flut von Gerichtsverfahren, die meist Patentrechte zum Gegenstand hatten, angestrengt wurden. Besonders 'Biograph' und 'Edison' waren Erzrivalen und überzogen einander mit Klagen und Gegenklagen. In dieser Situation schlossen sich in den USA auf Initiative Edisons mehrere große Apparatehersteller und Produktionsfirmen, die gleichzeitig auch Verleihe betrieben, gegen Ende 1908 zu einem Trust zusammen, die 'Motion Picture Patents Company' (MPPC). Die Gründungsmitglieder, zu denen Edison, Kalem, Lubin, Vitagraph, Pathé und Mèliès gehörten, gaben ihre gesamten Patente in einen Pool und vertrieben ihre Filmtitel gemeinsam als General Film Company. Selbst mit 'Biograph' wurde man sich handelseinig. Lizenzen für die Filmproduktion und Geräteherstellung wurden nur an Mitglieder ausgegeben, umgekehrt die Hersteller verpflichtet, nur an diese auszuliefern. Ein Vertrag mit Eastman Kodak, dem führenden Rohfilmhersteller, sicherte der M P P C Exklusivrechte. Die Kinobetreiber waren so gezwungen, wollten sie bestimmte Filme zeigen, sich dem Trust zu beugen. Als erstes internationales Monopol erschwerte die M P P C den ihr nicht angehörenden Produzenten die Arbeit damit sehr. Ein wahrer Kinokrieg entbrannte, zumal sich in den folgenden Jahren der Unmut über die Praxis des Trusts unter unabhängigen Produzenten, Verleihern und Abspielern verschärfte und ab 1912 zur offenen Opposition führte. William Fox, der spätere Gründer des Hollywood-Studios 'Twentieth Century Fox', und Carl Laemmle mit seiner 'Independent Motion Picture Distribution and Sales Company' (IMP) zählten zu den Widersachern. Die MPPC war mit dem Ziel angetreten, die amerikanische Filmproduktion zu stärken. Und tatsächlich sank der Anteil ausländischer Filme ständig, und der Trust kontrollierte die Hälfte der amerikanischen Abspielhäuser. Wie eine Auflistung der Gewinnausschüttung von 1913 aufzeigt (Anderson 1985, 149), profitierten davon besonders die Firmen 'Edison' und 'Biograph', die sich den Hauptanteil der Tantiemen untereinander aufteilten. Die kleineren Produzenten sowie die französischen Partner gingen so gut wie leer aus. Den endgültigen Fall der M P P C führten aber weder interne Streitigkeiten noch die von William Fox 1913 angestrengte

Kartellklage herbei. Vielmehr hatten die unabhängigen Produzenten zu der Zeit einen Status erlangt, der sie in vielfacher Hinsicht attraktiver erscheinen ließ.

4.

Anfänge des amerikanischen Studiosystems

Gemeinhin wird das Abwandern der unabhängigen Produzenten an die Westküste damit erklärt, daß sie der Kontrolle des Trusts entgehen wollten. Tatsächlich hatten jedoch, wie Anderson (1985, 150) konstatiert, auch 'Biograph', 'Vitagraph', 'Kalem' und einige weitere Firmen Produktionsstätten in Kalifornien errichtet, und auch das sich dort etablierende Starsystem war keineswegs nur von den unabhängigen Produzenten etabliert worden. Daß die MPPC jedoch 1915 ihr Monopol einbüßte, hängt für Anderson (ebd.) vor allem damit zusammen, „that the Trust failed to understand the significance of the feature film" [daß der Trust die Bedeutung des Spielfilms verkannte]. Immer noch waren die Filme meist Ein- oder Zweiakter und somit kaum mehr als zwanzig Minuten lang. In Europa hingegen setzte sich bereits der Spielfilm mit manchmal bis zu zwei Stunden Länge durch. In Italien beispielsweise entstand 1912 das auch in den USA überaus erfolgreiche Geschichtsepos 'Quo Vadis?' (Regie: Enrico Guazzoni), ein Monumentalfilm mit beeindruckender Ausstattung und bombastischen Massenszenen. Zwischen 1907 und 1908 zeichnete sich bereits ein Wechsel in der amerikanischen Filmproduktion ab, mit dem der Anstieg fiktionaler Stoffe (Komödien und Dramen) gegenüber dokumentarischen einhergeht. Das Publikum war anspruchsvoller geworden und an komplexen Erzählungen interessiert. Um 1909 ist der Beginn des Starsystems zu datieren, von da an wurde mit den Namen von Schauspielern geworben. Das 'Biograph-Girl', Florence Lawrence, wird zum Inbegriff des Filmstars, nachdem sie von Carl Laemmle mit dem Versprechen abgeworben wurde, namentlich in der Filmwerbung von IMP erwähnt zu werden. Stars avancieren damit zu ökonomischen Faktoren der Produktion (deCordova 1991, 24). Darüber hinaus wurden die Darsteller eines Films fortan als Schauspieler wahrgenommen. Die Öffentlichkeit zeigte Interesse an Privatgeschichten, die in Filmzeitschriften publiziert werden. Die Jahre zwischen 1908 und 1914 zählten zu den innovativsten der Filmgeschichte. Be-

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deutende formal-ästhetische Innovationen werden gemacht. Besonders der Name David Wark Griffith verbindet sich mit dieser Periode. Griffith fand als Darsteller zu 'Biograph' und bekam bald schon Regieaufträge für die damals noch üblichen Einakter angeboten. Schnell bewies er Talent, und erste filmästhetische Elemente, wie der Wechsel der Kameraperspektive innerhalb einer Szene, die Naheinstellung und die Parallelmontage, werden ihm zugeschrieben. Sein Gespür für die formale Eigenständigkeit des Mediums Film hob sich von anderen Filmen jener Zeit ab. Charakteristisch für Griffiths Arbeiten ist die Dramatisierung und Rhythmisierung einer Szene durch Kamerabewegung und Montage. Als ihm Einakter nicht mehr ausreichten, konnte er die 'Biograph' überzeugen, mit 'Judith of Bethulia' (1914) einen Spielfilm mit vier Akten zu wagen. Allerdings überzog er das Budget, und der Bruch mit der Firma war besiegelt. Die respektablen Erlöse aus seinem filmischen Hauptwerk, 'The Birth of a Nation' (1915), gehen bereits auf das Konto der unabhängigen Produktionsgesellschaft 'Mutual Film Corporation', zu der Griffith zwischenzeitlich gewechselt war. Neben 'Mutual' zählte die 1912 gegründeten 'Famous Players' des Kinobetreibers Adolph Zukor zu den wichtigsten Gesellschaften der unabhängigen Gemeinde. Wie der Firmenname schon anklingen läßt, setzte Zukor auf Berühmtheiten und konnte Mary Pickford, John Barrymore, Edwin S. Porter u.v.a. an seine Firma binden. Bis etwa 1920 waren im amerikanischen Film Stars und 'Famous Players' Synonyme. Die Firma hatte großen Einfluß. Zukor nutzte die Gunst der Stunde, indem er das System des Block- und Blindbuchens einführte, welches Kinobesitzer verpflichtete, Titel eines ganzen Pakets en bloc anzumieten ('packaging'), bzw. die Verleihe nötigte, Filme zum Teil noch vor Produktionsende in ihr Programm aufzunehmen. Als Konsequenz fanden auch Werke von geringerer Qualität Abnehmer, die sogenannten B-Filme, welche meist deutlich unterhalb von 500.000 Dollar Produktionkosten lagen (Prokop 1982, 51 f.). Einen Gutteil der Ausgaben strichen damals schon die Schauspieler ein. Mary Pickford konnte etwa 1915 eine Gage von mehr als 2.000 Dollar pro Woche fordern, Charlie Chaplin im folgenden Jahr bereits 10.000 einstreichen. Auch wurden die 'production values' zum geflügelten Begriff: den Filmen

mußte anzusehen sein, wieviel in sie investiert worden war. Janet Staiger (1986, 108) beschreibt für das junge Hollywood eine ökonomische Spannung zwischen der Tendenz zu Effizienz und Standardisierung und jener zu Originalität und Differenzierung. Das Dilemma des Films schlechthin: er will gleichzeitig Massenkultur und Kunst sein.

5.

Ein Blick nach Europa

In Europa hatte sich die Filmindustrie grundsätzlich anders entwickelt. Zwar beherrschten französische Firmen den Markt, doch eine standardisierte Produktion wie die amerikanische war nicht verbreitet. Besonders an Effizienz waren die Amerikaner den Europäern überlegen. Während sich die Filmproduktion in den USA schnell zu einer arbeitsteiligen und durchrationalisierten Industrie entwikkelt hatte, setzte sich in den europäischen Filmnationen ein eher künstlerisches Modell durch, das an die französischen 'Film d'Art'Produktionen angelehnt war, denen renommierte Literaturautoren und Theaterdarsteller ihre Dienste zur Verfügung stellten. Dem Regisseur kam in Europa mehr künstlerischer Einfluß und größere Kontrolle über die gesamte Produktion zu, verglichen mit Amerika, wo er nur einen Posten im Räderwerk darstellte. Dort war es der Produzent, der über den Gesamtablauf der Filmproduktion herrschte, und der Grund dafür liegt, so Janet Staiger (Bordwell/Staiger/Thompson 1985, 134ff.), in der frühen Verbreitung des „continuity script", dem vor Beginn der Filmarbeit angefertigten Drehbuch, das penible Angaben zu einzelnen Einstellungen enthielt und ab 1914 zum Standard wurde. Ein solches Drehbuch hatte eine strikte Arbeitsteilung zur Folge. Buch, Regie und Schnitt waren voneinander getrennt. Oftmals hatte der Regisseur überhaupt keine Befugnis, den Filmschnitt zu beeinflussen. Kristin Thompson (1993, 401) schließt daraus, daß „the Hollywood mode of production only allowed for a limited degree of experimentation" [der Produktionsstil in Hollywood nur begrenztes Experimentieren zuließ). In Europa war diese strikte Trennung hingegen unbekannt. Die Regisseure waren sowohl an der Entwicklung eines Stoffes, am Dreh, als auch am Schnitt beteiligt — womöglich mit ein Grund dafür, daß die europäische Produktion künstlerischen Ambitionen mehr Raum gewährte. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges änderte sich die Situation auf dem Kontinent.

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96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung

Da die Verbindungen zu Exportmärkten weitgehend gekappt wurden, war vor allem in Deutschland die heimische Produktion auf sich selbst gestellt und mußte dem steigenden Unterhaltungsbedarf allein nachkommen. Anfangs kam noch die 'Nordisk' aus dem neutralen Dänemark dieser Rolle nach, doch mit dem Einfuhrverbot von 1916 versiegte auch diese Quelle. Als Konsequenz erfuhr die inländische Filmproduktion Konjunktur, und die Anzahl von Produktionsfirmen verzehnfachte sich zwischen 1913 und 1919 von 25 auf 250. Neben der 'Deulig' (Deutsche Lichtspiel-Gesellschaft) war es vor allem die 'Ufa' (Universum Film Aktiengesellschaft), die von diesem Aufschwung profitierte. Im Dezember 1917 auf Betreiben General Ludendorffs mit einer Staatsanleihe zu Propagandazwecken gegründet, gingen in die 'Ufa' die wichtigsten Produktionsfirmen ein: der Messter-Konzern, die deutsche Tochtergesellschaft der NordiskGruppe und die Projektions-Union AG, samt der ihnen angegliederten Verleihe und der 56 Abspielhäuser der Nordisk. 1918 übernahm die Deutsche Bank die Staatsanteile an der 'Ufa', eine Allianz, die der Filmhistoriker Klaus Kreimeier (1995, 42) folgendermaßen beschreibt: „Die Ufa-Gründung fand unter Bedingungen statt, die das Kräftefeld Kapital — Kino — Publikum in Deutschland nachhaltig belasten werden [...]. Die Ufa marschierte aus dem Krieg, dem sie entsprungen war, in den Frieden, für den sie wie geschaffen schien. Aber dieser Frieden war nichts anderes als eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln". Mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet, war es der 'Ufa' nun möglich, die besten Drehbuchschreiber, Regisseure und Darsteller von anderen Produktionsfirmen abzuwerben. Rochus Gliese, Fritz Lang und Ernst Lubitsch und die Darsteller Asta Nielsen, Henny Porten, Pola Negri, Paul Wegener, Emil Jannings und Viggo Larsen zählten zu ihnen. Die 'Ufa' entwikkelte sich schnell zum führenden Konzern in Europa. Auf dem riesigen Studiogelände in Potsdam-Neubabelsberg entstanden einige der bedeutendsten Filme deutscher Provenienz: 'Der letzte Mann' (1923, F. W. Murnau), 'Varieté' (1925, E. A. Dupont) und 'Metropolis' (1927, Fritz Lang) u.v. m. Erich Pommer, der 1919 noch mit seiner eigenen Decla-Gesellschaft den Film 'Das Kabinett des Dr. Caligari' unter der Regie von Robert Wiene produziert hatte, wurde ab 1921 Produktionsleiter der 'Ufa'.

Die 'Ufa' war der erste deutsche Konzern, der dem amerikanischen Vorbild nacheiferte und sich stringent bemühte, vertikale Organisationsstrukturen zu etablieren. Produktion, Verleih und Abspiel waren unter dem selben Firmendach integriert, wobei dem Aufschwung nach dem Krieg auch die Inflation zuhilfe kam. Günstig produziert, waren die Ufa-Filme für ausländische Exportmärkte besonders attraktiv. Dennoch handelte es sich um eine 'Scheinkonjunktur', wie Thiermeyer (1994, 80) feststellt, die bald wieder abebbte. Zunehmend drängten die Amerikaner auf den Markt, und deutsche Produktionsfirmen sahen sich einer verschärften Konkurrenzsituation ausgesetzt. Bei der 'Ufa' hielt man starrsinnig an Großproduktionen fest, setzte auf aufwendige Ausstattungs- und Monumentalfilme wie 'Die Nibelungen' (1924, Fritz Lang) und bewies damit wenig Sinn für Rentabilität. Auf dem Gebiet von Großprojekten waren die Amerikaner eindeutig überlegen. Schon 1926 stürzte die 'Ufa' in eine Krise und mußte amerikanische Kredite bei 'Paramount' und 'Metro-Goldwyn-Mayer' aufnehmen. Es kam zur Gründung einer Verleihorganisation namens 'Paraufamet', in deren Rahmen gegenseitige Abspielabkommen getroffen wurden (Kreimeier 1995, 153).

6.

Die Gründung Hollywoods

Um 1920 hatten amerikanische Firmen ihren Anteil am Weltmarkt wesentlich erhöhen können. Systematisch bauten die unabhängigen Produktionsfirmen ihren Vorsprung im Bereich des Spielfilms aus. Durch Zusammenschlüsse entstanden Studios, deren Namen uns heute noch wohlvertraut sind. Adolph Zukors 'Famous Players' schloß sich etwa mit der 'Paramount Pictures Corporation' zusammen, eine Firma, die bis dahin vornehmlich im Bereich Verleih tätig war. Carl Laemmles 'Independent Motion Picture Company' (IMP) bildete sich 1912 zur 'Universal' um. Aus Louis B. Mayers 'Metro Picture Corporation' wurde 1924 schließlich, nach Übernahme durch das Kinoimperium von Marcus Loew und der Zusammenlegung mit der Goldwyn Pictures, die 'Metro-Goldwyn-Mayer' Corporation (MGM). Die vier Warner-Brüder, zuerst im New Yorker Verleihgeschäft tätig, gründeten 1923 an der Westküste die 'Warner Bros. Pictures'. Und aus William Fox' Produktions- und Verleihgesellschaft wurde 1935 die 'Twentieth Century Fox'. Als 'Big Five' gehen sie in die Annalen der Filmgeschichte ein.

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

Die Filmstudios waren an der Westküste unweit von Los Angeles angesiedelt, wo noch heute ihr Firmensitz ist. Die günstigen klimatischen Bedingungen erlaubten Außendreharbeiten, und auch die Nähe zu Mexiko erwies sich von Vorteil, wenn es galt, Filmmaterial über die Grenze zu retten, um einer Konfiszierung durch Inspektoren der M PPC zu entgehen. Der Erfolg, der diese Studios gegenüber dem MPPC-Kartell auszeichnete, gründete weitgehend auf einer rigoros vertikalen Integration, einer aus der Not geborenen Organisationsstruktur: Weil die Hälfte der USKinos dem Kartell angehörte, bauten die unabhängigen Produktionsfirmen systematisch eigene Verleih- und Abspielnetze aus. Spätestens ab 1920 dominierten sie den amerikanischen Markt und bildeten faktisch selbst ein Monopol, welches 45 Prozent des Gesamtverleihaufkommens der USA beherrschte (vgl. Prokop 1982, 53). Die 'Big Five' waren zwar nur im Besitz von 15 Prozent der Filmtheater, doch dies waren meist die innerstädtischen Erstaufführungskinos, die 75 Prozent des Gesamtabspiels einbrachten (vgl. Malby/ Craven 1995, 63). Dieses Quasi-Monopol blieb jedoch nicht lange unangetastet. Die von Harry Cohn 1920 gegründete 'Columbia Pictures' begann durch das Engagement profilierter Regietalente (Frank Capra) und Stars (Rita Hayworth), den 'Großen Fünf' Paroli zu bieten. Auch die ' R K O Radio Pictures Inc.', aus der American 'Pathé' und einem 1928 erfolgten Zusammenschluß mit dem Rockefeller-Imperium hervorgegangen war, in den dreißiger Jahren mit Musicals sowie im Verleihgeschäft äußerst erfolgreich. Und schließlich gehörte auch die 'United Artists', ein 1919 von D. W. Griffith, Charles Chaplin, Douglas Fairbanks und Mary Pickford gegründeter Zusammenschluß, zu den 'Little Three'. Diese drei Studios verstanden es, bis in die siebziger Jahre hinein erfolgreich in Hollywood zu bestehen. Andere Firmen, wie die 'First National', die sich als Reaktion auf die Blind- und Blockbuchungs-Praxis der Paramount gebildet hatte und später von Warner Bros, geschluckt wurde, errangen zeitweilige Bedeutung. Und aus der sogenannten 'Poverty Row', kleinen Firmen wie Republic, Monogram und Tiffanys, meldete sich Konkurrenz vor allem auf dem B-Movie-Sektor. Aus ihren Reihen gingen so renommierte Regisseure wie Nicholas Ray hervor. Es ist leicht nachzuvollziehen, daß sich die Geschichte der unabhängigen Filmproduktion in den Vereinig-

ten Staaten am jeweils vorherrschenden Monopol orientieren mußte. Oft hatten die Unabhängigen den Vorteil, flexibler und schneller auf Trends reagieren zu können und damit Maßstäbe für das gesamte filmische Schaffen zu setzen. Die Liste der Filme von United Artists liest sich bis in die späten siebziger Jahre hinein wie in Kompendium des künstlerischen und dennoch populären amerikanischen Films, von Chaplins 'Goldrush' (1925) über die 'West Side Story' (1961, Robert Wise) bis zu dem Film, der die Firma schließlich zu Fall brachte: 'Heaven's Gate' (1980, Michael Cimino).

7.

Es werde Ton

Bevor die goldenen Jahre Hollywoods anbrachen, mußte sich erst die Erfindung des Tonfilms durchsetzen. Schon vorher waren Filmvorführungen niemals wirklich stumm gewesen; Klavierbegleitung oder eigens komponierte Partituren für ganze Sinfonieorchester gehörten zum Standard der Stummfilmzeit. Das Problem des Filmtons war jedoch das seiner Synchronizität zum Bild, an dessen Lösung seit langem gearbeitet wurde. Bereits 1903 hatte Oskar Messter im Berliner ApolloTheater sein 'Biophon' vorgestellt, „eine Apparatur, bei der Projektor und Grammophon über einen besonderen Mechanismus synchronisiert werden" (Jakobsen 1993a, 18). Auch andere Verfahren wurden erprobt, doch konnte sich bis 1926, als Warner Bros, eine Entwicklung der Bell Telephone Laboratories, das Vitaphone, lancierte, keines richtig durchsetzen. Zuerst auf großen Schallplatten, später dann im Lichtton-Verfahren, brach mit Al Jolsons Dialogzeile „Wait a minute, you ain't hear nothing yet" aus 'The JazzSinger' (1927, Alan Crosland) die Ara des Tonfilms an. Schon ab den frühen dreißiger Jahren bildete der Filmton die Norm in Europa und Amerika. Mit seinem Aufkommen erlitten einige Schauspielerkarrieren Schiffbruch, deren Stimmlage oder Akzent nicht angemessen erschienen. Auch empfanden einige Kunstinteressierte den Filmton als Rückfall in die Barbarei, in ein vom Naturalismus bestimmtes Widerspiegelungsdogma, zumal anfangs nur diegetischer Ton verwandt wurde, d. h. Dialoge und Geräusche, deren Quellen auch im Bild zu sehen waren: „Einigen Vorteil vom Tonfilm haben die Blinden [...]. Dafür aber sind die Tauben wieder schlechter dran" (Alfred Polgar). Ungeachtet

96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung

solcher Bedenken setzte sich der Ton im Film schnell durch und mit der technischen Möglichkeit, mehrere Tonspuren zusammenzumischen und den Ton insgesamt zu manipulieren, begann die Zeit der großen Hollywoodfilme.

8.

Die 'klassische' Periode Hollywoods

Die Blütezeit des klassischen Hollywoodkinos, die mit dessen wirtschaftlichem Monopol einhergeht, waren die dreißiger und vierziger Jahre. Die großen Studios zeichneten sich damals alle durch einen mehr oder minder identifizierbaren Stil aus. Jedes einzelne hatte bestimmte Schauspieler, Regisseure, Ausstatter usw. unter Vertrag, welche die Ästhetik entscheidend mitprägten. Einige spezialisierten sich auf bestimmte Genres, andere konnten am Aufwand, der für einzelne Produktionen getrieben wurde, identifiziert werden. 'Warner Bros.' zum Beispiel machte sich in den dreißiger Jahren mit Musicals von Busby Berkeley und mit Gangsterfilmen mit Humphrey Bogart, James Cagney und Lauren Bacali von sich reden, war berühmt für einen realistischen Stil, zumal häufig aus Kostengründen an Originalschausplätzen gedreht wurde. Die 'Paramount' beschäftigte viele europäische Immigranten, darunter Ernst Lubitsch und Billy Wilder, und kultivierte Komödien mit geschliffenen Dialogen, etwa die Screwball-Comedies von Preston Sturges. Die 'Columbia' war ebenfalls Spezialist in Sachen Komödie, die jedoch, wie im Fall Frank Capras, mitunter patriotische Töne anschlagen konnten. M G M mit seinen Stars Greta Garbo, Joan Crawford und Clark Gable war bekannt für luxuriöse Dekors und oppulente Bildgestaltungen, teure Produktionen, von denen einige Filmgeschichte schrieben, z. B. 'Gone with the Wind' (1939, David O. Selznick). Die 'Twentieth Century Fox' beschäftigte mit Vorliebe Genre-Handwerker wie Henry Hathaway und John Ford, welche Stars wie Spencer Tracy, Henry Fonda und Shirley Temple inszenierten. Obwohl diese Beispiele sicherlich nur die Höhepunkte repräsentieren und jedes einzelne Studio auch weniger homogene und erfolgreiche Filme schuf, lassen sich solche Unterschiede zwischen ihnen aufzeigen. Zur Glanzzeit der Studioära hatten sich die filmischen Techniken — der Produktionsstil, die Genres und die Narration — soweit entwik-

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kelt und verfeinert, daß eine effiziente, wenngleich manchmal verschwenderische Filmproduktion möglich war. David Bordwell (1985, 157 ff.) bezeichnet diese Phase als den Beginn der „klassischen Narration", womit sich die Psychologisierung der Erzähldramaturgie verbindet und die Standardisierung der wichtigsten filmästhetischen Stilmittel (180-Grad-Regel, psychologische Montage). Allerdings verstanden sich die Major-Firmen nicht allein auf die Spielfilmproduktion. Auch Reiseberichte, Cartoons, Newsreels, Trailer und B-Movies — auf letztere hatte sich Universal spezialisiert gehörten zur Produktionspalette; sie wurden üblicherweise in 'Double Feature'-Vorstellungen nach dem Hauptfilm gezeigt. 1940 betrug der Gewinn der amerikanischen Filmindustrie zwei Millionen Dollar (Maltby/Craven 1995, 60). In die Kassen der Major-Studios flössen 90 Prozent der Binnenerlöse und 60 Prozent der weltweiten Auswertung. Doch waren dies keine reinen Einnahmen, die unumwunden wieder der Filmproduktion zugeflossen wären. Die jährliche Gesamtproduktion betrug in den Jahren 1930 — 1940 rund 500 Filme, woran sich jedes Major· Studio im Durchschnitt mit etwa 50 Filmen beteiligte (Prokop 1982, 78 ff.), deren Kosten jeweils bis an die Millionengrenze heranreichen konnten. Auf Expansionskurs versuchte jedes Studio obendrein, die anderen an Einfluß zu überbieten, und investierte in den Bau von Abspielstätten. Allein die 'Paramount' unterhielt 1945 annähernd 1400 Kinos. Diese vertikale Integration trieb die Studios indes in die Hände von New Yorker Banker, denn die Investitionen geschahen zum überwiegenden Teil auf Kreditbasis, bereitwillig von der New Yorker Wall Street zur Verfügung gestellt. Auch die technischen Innovationen, besonders die Umrüstung auf Ton und Farbe, verschlangen viel Geld, so daß sich die amerikanische Filmindustrie de facto im Besitz von Großbanken befand. Dieter Prokop (1982, 83) konstatiert: „Aus der wechselseitigen Abhängigkeit der Konzerne von den Banken Morgan und Rockefeller erklärt sich die konkurrenzfreie Situation der amerikanischen Filmwirtschaft seit etwa 1934." Am Monopol der amerikanischen Filmindustrie hatte der Export großen Anteil. Während sich die Filme auf dem inländischen und dem kanadischen Markt bereits amortisierten, brachte das ausländische Einspiel einen immerhin 35 prozentigen zusätzlichen Erlös, wovon zwei Drittel aus Europa stammten.

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

Der Grund, weshalb die USA auf dem europäischen Markt einbrechen konnte, hängt aber nicht allein mit dessen Lähmung infolge des ersten Weltkrieges zusammen, sondern auch mit den aggressiven Verleihpraktiken zu Dumping-Preisen. Um die ausländischen Märkte zu schwächen, wurden die Filme billiger als die jeweils heimischen angeboten. Maltby/Craven (1995, 67) charakterisieren diese Zeit als Beginn des „universal mass entertainment", als Hollywood den Rest der Welt mit seinen standardisierten Produkten zu beliefern begann.

9.

Zensur und Politik

Das gut funktionierende amerikanische Kartell aus Filmindustrie und Finanzwelt wurde von einer Organisation gestützt, die seit 1922 mit der Alibifunktion einer Selbstkontrolle angetreten war: die 'Motion Picture Producers and Distributors Association of America' (MPPDA). Als Dachorganisation des späteren 'Hays-Office' verstand sie es, staatliche Eingriffe in die Filmproduktion der Majors abzuwehren. Wenn es galt, Anti-Trust-Bedenken zu zerstreuen, stand die M P P D A mit Sanktionen zur Seite, legitimierte beispielsweise die Absprache von Einheitspreisen, indem diese als „business self-regulation" (Maltby/Craven 1995, 68) ausgegeben wurden. Verständlicherweise stärkte dies nur die Wettbewerbsposition der Majors. Zur Gründung der M P P D A kam es, als die öffentliche Meinung aufgrund verschiedener Skandale begann, die Moral Hollywoods in Zweifel zu ziehen. Zunächst von den Studiobossen selbst als Morallobby installiert und um den guten Ruf des amerikanischen Films bemüht, wendete sich das Batt 1929, als katholische Priester den berüchtigten 'Production Code' ausriefen. Wegen ständiger Mißachtung wurde dessen Nomenklatur im Juli 1934 schließlich für alle Filmproduktionen verbindlich. Der Code sorgte für die rigorose Einhaltung detailierter Richtlinien, welche die Darstellung von Verbrechen, Sexualität, Vulgarität, Kleidung, Tanz, Religion und Nationalität regelten (vgl. Inglis 1985, 380—383). Unter Vorsitz von Joseph Breen fiel der 'Production Code Administration' (PCA), dem Vorposten der Zensur in Hollywood, die Rolle eines umfassenden Kontrollorgans zu. Wie Gregory D. Black (1989, 168) darlegt, ging es nicht nur darum, kontroverse Themen von der Leinwand zu verbannen und

eine konservative Sicht durchzusetzen, sondern auch um den „worldwide appeal of Hollywoods films". Denn die von allen politischen Aussagen bereinigten Filme ließen sich als pure Unterhaltung in die ganze Welt verkaufen. So fielen dem Code häufig grundlos Filme zum Opfer, deren soziale oder politische Haltung den Zensoren nicht gefiel. Die geforderte Selbstverpflichtung der Filmindustrie brachte dabei aus heutiger Sicht unfreiwillig komische 'Lösungen' mit sich; so hatten etwa Ehepaare in getrennten Betten zu schlafen. Ein 1939 ins Leben gerufener Zusatz verbot schließlich eine Reihe doppeldeutiger Begriffe wie 'Madam' (für Prostituierte) und als eine der schicksalhaften Konsequenzen des Production-Code muß das Ende der Karriere von Mae West gelten. Auch die 1927 gegründete 'Academy of Motion Pictures Arts and Sciences', welche damals einen gewerkschaftlichen Hintergrund hatte und heute den 'Oscar' verleiht, konnte der konservativen Stimmung, die schließlich in die Hysterie der McCarthy-Prozesse mündete, nichts entgegensetzen.

10. Krisenstimmung Obwohl 1946 Hollywoods erfolgreichstes Jahr gewesen war, beginnt ab diesem Zeitpunkt eine Rezession, die mit vielerlei Faktoren zusammenhängt. Zum einen bewirkte der Babyboom und die Motorisierung einen Rückzug in die Vorstädte, wo die filmische Infrastruktur weniger gut ausgebildet war. Zum anderen begann sich das Fernsehen in Amerika zunehmend zur ernsthaften Konkurrenz zu entwickeln, so daß zwischen 1947 und 1955 die Zuschauerzahlen um 50 Prozent zurückgingen (vgl. Prokop 1982, 139) und ein Kinosterben begann. Entscheidender noch war jedoch ein Anti-Trust-Urteil, das sogenannte 'Paramount Decree', welches die Majors 1946 nach achtjähriger Verhandlungszeit zwang, sich von ihren Filmtheatern zu trennen. Das Urteil bedeutete das Ende des klassischen Studio-Systems, zumal das Abspiel den gewinnträchtigsten Teil darstellte (vgl. Bornemann 1985, 449ff.). Doch stärkte dies die Position der unabhängigen Produzenten und ihre Filme gelangten nun auch in die Erstaufführungskinos. Als Konsequenz begannen sich in den fünfziger und sechziger Jahren die Besitzverhältnisse der HollywoodStudios zu wandeln; die Firmengeschichten komplizierten sich, viele Studios wurden von

96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung

Industriekonzernen übernommen, die bis dahin meist gar nicht in die Filmproduktion involviert gewesen waren. Die Gründe: „From the standpoint of the film business, conglomeration insures a steady flow of capital to make films through diversification of risk [Vom Standpunkt der Filmindustrie sicherten die Konglomerate einen steten Fluß von Produktionsgeldern, indem das Risiko verteilt und umgeschichtet wurde] (Lees/Berkowitz 1981, 76). Und aus Sicht der Konzerne versprach man sich neben Profit auch eine Aufwertung des eigenen Images durch den Glanz Hollywoods. So wurde etwa ' R K O ' vom Pressezar Howard Hughes an General Tire and Rubber Company veräußert und die 'Paramount', die 1966 zur Holding des Ölkonzerns Gulf & Western Industries avancierte, ging später in den Besitz von Kabelbetreiber Viacom über. 'Warner Bros.' wiederum fusionierte zuerst mit der kanadischen Firma Seven Arts, ehe das Studio 1970 von Kinney National Services annektiert und in 'Warner Communications' überführt wurde, einem Konglomerat, das in den achtziger Jahren dann eine weltweit beachtete Fusion mit dem Time-Zeitschriftenverlag einging und zum damals größten Medienimperium avancierte. Die einzelnen Stationen der Fusionen lassen sich an dieser Stelle nicht genauer nachzeichnen. Festzuhalten ist jedoch die generelle Tendenz zur Diversifizierung. Die Filmproduktion im Zeichen der Internationalisierung stellt nur noch einen Erwerbszweig dar neben vielen anderen Aktivitäten der Medienmultis. Die seit den fünfziger Jahren grassierende Krise geht neben den aufgezeigten Gründen auch auf das Verbot der Blockbuchung zurück. Nach dem Paramount-Urteil mußte jeder Film einzeln vermarktet werden und konnte nicht mehr via 'packaging' in die Kinos gelangen. Das ließ die Produktion abermals dramatisch abfallen. 1959 waren es nur noch 200 Filme, die die Majors insgesamt zuwege brachten, gegenüber 350 zehn Jahre zuvor (Maltby/Craven 1995, 72). Man würde aber kaum heute noch von 'Hollywood' sprechen, wenn der Filmindustrie nicht Mittel und Wege eingefallen wären, mit der Flaute umzugehen. Abgesehen von der Frage, ob die Umstrukturierungen im ökonomischen Sinn überhaupt als Rezession darstellbar sind, verstand es Hollywood seit jeher, seine Notlagen in mitunter kassenträchtige Mythen zu verwandeln. Filme wie 'Sunset Boulevard' (1950, Billy Wilder), 'The Last Tycoon' (1976, Elia

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Kazan) oder auch 'The Player' (1992, Robert Altman) lassen eine gewisse Koketterie mit der Krise erkennen. Eine andere Lösung bestand in der Flucht nach vorn. Man setzte auf wenige, dafür umso aufwendigere Filme, die nur ein Mehr an Profit abwarfen. Neue Filmtechniken, wie die vielen Farbverfahren (Technikcolor, Eastman-Color), wurden erprobt, das Filmformat vergrößert (Cinemascope, Panavision), auch um sich vom Fernsehen, kleinformatig und schwarz-weiß, abzuheben. Die dritte Dimension hielt mit dem 'Cinerama' und anderen 3D-Verfahren Einzug, auf der Tonspur machte sich die Stereofonie breit. Die Studios wollten mit gewaltigem Aufwand und großen Budgets noch größere Erlöse einfahren. Während 1960 nur zwanzig Filme mehr als 10 Millionen Dollar einspielten, waren es 1970 schon mehr als achtzig (Maltby/Craven 1995, 74). Diese Tendenz mündete schließlich in die Blockbuster-Produktionen der siebziger Jahre und feierte mit 'Jaws' (1975, Steven Spielberg) einen ersten, unverhofften Höhepunkt, dem viele ungleich teuerere Filme folgten: für wenige Millionen Dollar produziert, spielte 'Jaws' laut James B. Twitchell (1992, 140) knapp 130 Millionen ein. Dennoch konnten 'Big-Budget-Movies' nicht als allgemeines Patentrezept gelten, zumal sich das Risiko potenzierte und etwaige Flops nur schwer aufzufangen waren. Andere Wege, nach ökonomischen Alternativen zu suchen, stellte die Weitervermietung von Studiokapazität an unabhängige Produktionsfirmen dar, in deren Zusammenhang sich die sogenannten 'MiniMajors' (z. B. Orion und Cannon) formierten. Auch die anfänglich abgelehnte Arbeit fürs Fernsehen nahm zu. Schon beim Verkauf der RKO-Studios 1955 trug das Konkurrenzmedium einen insgeheimen Sieg davon, denn das Studio ging in eine Firma namens 'Desilu' auf, hinter deren Acronym sich Desi Arnaz und Lucille Ball verbargen, zwei Fernsehschaffende, die mit ihrer Serie Ί love Lucy' seit 1951 wöchentlich dreißig Millionen Zuschauer vor den Bildschirm lockten (Balio 1985a, 423). Im darauffolgenden Jahr begann der große Ausverkauf der Filmarchive von 'Warner', 'Twentieth Century Fox' und 'Paramount', welche für zweistellige Millionen-Dollar-Beträge ans Fernsehen gingen. Mit der 1961 von NBC eingerichteten Programmreihe 'Saturday Night at the Movies' fanden die Hollywoodfilme eine ideale Plattform für eine Zweitverwertung. Der New Yorker Sender WOR-TV bestritt sein Pro-

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

gramm schon 1956 zu 88 Prozent aus Spielfilmen (Barnouw 1990, 197f.). Und Hollywood wurde im Gegenzug allmählich zum Mekka für dort produzierte Fernsehfilme, -serien und -shows.

11. Europa unter Kuratel Die Exportanstrengungen der US-amerikanischen Filmproduktion mußten sich auf dem europäischen Markt niederschlagen. Schon die wichtigsten Technikinnovationen, Ton und Farbe, hatten jeweils tiefe Einbrüche für die Filmindustrien Europas bedeutet. Zur Zeit der beiden Weltkriege war die kontinentale Filmproduktion umso mehr geschwächt. Im Deutschland der Nazizeit produzierten 1943 lediglich zehn Firmen, darunter die 'Ufa', 'Tobis', 'Bavaria' und 'Terra', über 96 Prozent der Filme, insgesamt 78 Stück. Zwar konnte sich „der immer aufwendigere und teuerere deutsche Qualitätsfilm [...] im erweiterten Staatsgebiet ohne weiteres amortisieren", wie Michael Thiermeyer (1994, 83) schreibt, doch kann dies nicht von der Tatsache ablenken, daß der deutsche Markt, abgeschnitten vom Rest der Welt, geschwächt am Boden lag. Die 1933 gegründete Reichsfilmkammer kontrollierte alle Produktionen und obwohl direkte Propaganda verpönt war, fanden die Nationalsozialisten Mittel und Wege, ihre Botschaften auch in Unterhaltungsfilme einzubringen. Eine innere Zensur setzte die redlichen Filmschaffenden unter Druck und als schließlich 1942 der Staat sämtliche Filmproduktionen in Auftrag gab und eine Menge der vorangegangenen Filme seiner Zensur zum Opfer fiel, hatten bereits viele ihr Glück im Filmexil gesucht. In den anderen europäischen Ländern sah es, was das Produktionsaufkommen anbelangt, ähnlich aus. In Frankreich war die Filmproduktion 1944 auf ganze 50 Filme geschrumpft. England war schon immer stark vom amerikanischen Markt beeinflußt gewesen, der in den Kriegsjahren achtig Prozent ausmachte. In Italien, wo seit 1927 eine 10Prozent-Quote für nationale Produktionen eingeführt worden war, hatte die Filmproduktion alle Mühe, dieser nachzukommen (vgl. Thiermeyer 1994, 159; 174; 188). Die italienischen Produktionsstätten waren im Krieg weitgehend zerstört worden und als unmittelbar danach der Neorealismus weltweite Anerkennung davontrug, war dies in ökonomischer Hinsicht von eher geringer Bedeutung.

Die Situation in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg war noch verheerender. Finanz· und Rohstoffmangel sowie das Kuratel der Besatzungsmächte machten es äußerst schwierig, die Filmproduktion wieder anzukurbeln. Viele Produktionsstätten lagen in der sowjetischen Besatzungszone, und nur mittels Lizenzen war es im Westteil überhaupt möglich, Filme zu produzieren. Vermutlich hatten die Besatzungsmächte ohnehin wenig Interesse an einer erstarkenden deutschen Filmwirtschaft, konnten sie doch auf diesem Wege den eigenen Export stützen. Das zentrale Problem blieb die Finanzierung, zumal sich die deutschen Banken risikoscheu zeigten. Erst in den fünfziger Jahren erholte sich die Filmindustrie, gestützt durch Finanzhilfen seitens Bund und Länder. 1954 wies die Produktionsziffer bereits 108 Filme auf, zu zwei Dritteln vom Staat mit Ausfallbürgschaften bedacht. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern gab es in Deutschland noch keine reguläre Filmförderung, deren Gelder für ausländische Investoren interessant gewesen wären, so daß Aktivitäten in diese Richtung gegen Null tendierten. Allerdings konnten ausländische Produktionen recht freizügig über den deutschen Kinomarkt bestimmen, den der amerikanische Film in den fünfziger Jahren mit weit über vierzig Prozent dominierte. „Ausländische Firmen suchten den Markt in den Griff zu kriegen, die Synchronkapazitäten der Studios — Babelsberg/Berlin, Geiselgasteig/München - auszunutzen, die zum Spielbetrieb fähigen Kinos zu beliefern. Mit einer Reihe von deutschen Firmengründungen sollten die Unternehmungen der fremden Filmindustrien gestoppt, der Markt für die eigene Produktion gewonnen werden [...]", beschreibt Fritz Göttler (1993, 176) die Misere. Doch war dieses Unterfangen kein erfolgreiches. Nach einer kurzfristigen Konjunktur im Zeichen des Heimat- und Schlagerfilms auf der einen Seite, und den mühsamen Versuchen auf der anderen, sich filmisches Selbstverständnis wiederanzueignen, welches freilich ohne Vergangenheitsbewältigung nicht zu haben war, schlug dann in den sechziger Jahren die Kinokrise vollends durch. 'Papas Kino' war einem rigorosen Besucherschwund ausgesetzt, was das filmproduzierende Gewerbe deutlich zu spüren bekam: Von den 69 Spielfilmen des Jahres 1965, waren nur noch 25 rein inländische Produktionen, der Rest kofinanziert (vgl. Thiermeyer 1994, 85; 300).

96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung

Die Krise rief die Jungen auf den Plan, das 'Oberhausener Manifest' wurde 1962 aus der Taufe gehoben, der Junge und später Neue Deutsche Film geboren. Trotz oder gerade wegen interessanter formal-ästhetischer Umsetzungen blieben indes die Zuschauer fern. Gemessen an den deutschen Blockbuster der sechziger Jahre, den „Rialto-Märchen um Winnetou und Old Shatterhand" (Grob 1993, 214), erwies sich das junge deutsche Kino als ausgesprochener Publikumsfeind. Wieder einmal sprang der Staat in die Bresche und leistete mit verschiedenen Filmfördermodellen Schützenhilfe. Einen Anfang machte die angesehene Kulturelle Filmförderung Nordrhein-Westfalen, die von 1951 bis 1968 insgesamt 380 Filme unterstützte, mehrheitlich Kurzfilme. Im Kampf um Subventionen teilten sich jedoch die Lager, und es wurden neben 'kulturellen' auch 'wirtschaftliche' Fördermittel installiert: einerseits das 1965 ins Leben gerufene 'Kuratorium junger deutscher Film' und andererseits das 1. Filmförderungsgesetz (FFG) von 1968. Letzteres sorgte zwar für einen Anstieg deutscher Kinofilme auf 121 Produktionen im Jahre 1969 und provozierte ein ebenso großes Echo unter Firmenneugründungen, doch ließ es vor allem zahllose Sex-, Aufklärungs- und Heimatfilme gedeihen, die vom Gießkannenprinzip der Referenzfilmförderung profitierten. Wenn demnach ein Verleih-Brutto über 500.000 D M erzielt wurde (bzw. der Film ein Prädikat der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW) erhielt und nur noch 300.000 D M einspielen mußte), setzte umgehend der Förderregen ein. Mit der Novellierung des Gesetzes 1974 konnten auch Verleih- und Abspielförderungen beantragt werden. Vorbildliche Filmkunsttheater erhielten Prämien für ihr Programm und die Referenzschwelle wurde anhand von Zuschauerzahlen bemessen, so daß auch einige Autorenfilmer in den Genuß der Subventionen kamen. Mit Hilfe der 'Filmgroschen' verwaltete die Filmförderungsanstalt (FFA) in der ersten Runde ungefähr 15 Millionen D M , später 32 Millionen. Das Kuratorium hingegen mußte sich bis 1969 mit insgesamt fünf Millionen D M bescheiden und bekam danach jährlich 750.000 DM von den Ländern zur Verfügung gestellt. Als eigentlicher Lebensretter der deutschen Filmindustrie erwies sich jedoch das Fernsehen. Wie in den USA begann nach anfänglichem gegenseitigen Mißtrauen eine Phase der Annäherung. Bereits 1957 hatte die A R D einen Vertrag mit der immer noch existenten

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Ufa-Filmproduktion geschlossen, welcher die Herstellung von Fernsehfilmen vorsah. 1959 bewahrten der Westdeutsche und der Süddeutsche Rundfunk (WDR, SDR) die Münchener 'Bavaria Filmkunst' durch eine 51 prozentige Mehrheitsbeteiligung vor dem Bankrott. Um 1960 begannen die Sendeanstalten ihre Programme systematisch mit Spielfilmen anzureichern, kauften Lizenzen und Senderechte auf (vgl. Prümm 1993, 509; 512). Das Fernsehen übernahm filmmuseale Funktionen, wurde aber auch zum wichtigsten Auftraggeber und Koproduzenten für namhafte Regisseure wie beispielsweise Rainer Werner Fassbinder. Den Jungen Deutschen Film hätte es kaum ohne seine Haßliebe zum Fernsehen gegeben. Als 1974 das erste Film- und Fernsehabkommen zwischen den Sendeanstalten A R D und Z D F und der Filmförderungsanstalt (FFA) für die Dauer von fünf Jahren verabschiedet wurde, brachte dies der notleidenden Filmindustrie Finanzmittel in Höhe von 17 Millionen DM ein, die sich nach einigen Novellierungen des Abkommens bis 1992 auf insgesamt 316,4 Millionen D M belaufen haben. In den Jahren 1974 bis 1979 beteiligten sich die Anstalten mit 46 Millionen D M an 74 Koproduktionen, gaben weitere 5,6 Millionen für Vorab-Ausstrahlungsrechte aus und 6 Millionen für andere Vorhaben. Bis 1984 waren es schon 334 geförderte Projekte seit Bestehen des Abkommens (vgl. Berg-Schwarze 1985, 778). Das Fernsehen geriet zum wichtigsten Bündnispartner der deutschen Filmindustrie. Seitdem hängt die Industrie am Tropf ihrer Zuwender, seien es die Fördergremien, zu denen sich 1991 die Filmstiftung NordrheinWestfalen und 1994 das Filmboard BerlinBrandenburg neben weiteren wirtschaftlich orientierten Länderförderungen gesellt haben, oder sei es die vermehrte Aktivität des Privatfernsehens im Bereich von Eigenproduktionen. Bernd Eichingers 'German Classics'-Reihe, die im Dezember 1996 vier Remakes deutscher Filmklassiker auf den Weg schickte, stellt ein Paradebeispiel dar. Vom Fernsehsender SAT 1 in Auftrag gegeben und mitfinanziert, erhielt die Reihe auch großzügige Förderungen seitens der Filmstiftung NRW und des Bayerischen Film-FernsehFonds. Wie Jan Pehrke (1997) beschreibt, scheinen nun die kulturellen Fördermodelle ausgedient zu haben und Filmpolitik wird als wirtschaftliche Standortfrage entschieden. Ohnehin kommt es bei aufwendigen, internationalen oder europäischen Koproduktionen

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

häufig zu Budgets, die kleineren HollywoodProduktionen ähneln. Mischkalkulationen, für die auch aus den zwanzig Töpfen des M.E.D.I.A.-Programms der Europäischen Union Gelder fließen können, sind an der Tagesordnung. Wenn die Produzentin Renée Gundelach für 1990 eine Gesamtförderkapazität von beinahe 124 Millionen DM errechnet, vermittelt dies einen Eindruck dessen, wie es um den deutschen Film ohne Subventionen bestellt wäre.

12. Hollywood und Europa heute: freies Spiel ungleicher Kräfte? Hält man sich vor Augen, daß der europäische Markt mit 112 Millionen Haushalten um fast ein Drittel größer ist als der amerikanische, muß dessen 80 prozentige Dominanz im hiesigen Film- und Fernsehgeschäft umso eindrucksvoller anmuten. Allerdings ist der amerikanische Binnenmarkt im Gegensatz zum europäischen in der Lage sich zu amortisieren, was aufgrund kultureller Unterschiede und Sprachbarrieren in Europa nicht der Fall ist. Trotz zeitweiliger Flauten und trotz Filmnationen wie Indien und Hongkong, die eine erfreuliche Binnenautarkie vorweisen können, ist das amerikanische Mainstream-Kino weltweit dominierend. Der Grund muß in dessen strikter wirtschaftlicher Ausprägung gesucht werden, die „auf Gewinn, Gewinnsteigerung oder Gewinnmaximierung durch Markterschließung oder Marktsicherung" (Thiermeyer 1994, 63) ausgerichtet ist. Aber auch ein Vorsprung an Ressourcen auf technologischem, materiellem, finanziellem und kreativem Gebiet sicherte der USA die Vorherrschaft seit 1945. Im Zeichen weltweit agierender Unterhaltungskonglomerate hatten amerikanische Firmen bei jeder Umstrukturierung der Medienlandschaft die Nasen im Wind. Stichwort: Diversifizierung. Nachdem die Bedrohung seitens des Fernsehens in den fünfziger Jahren durch Inkorporierung des selbigen abgewehrt worden war, ließ die amerikanische Filmindustrie immer wieder das Talent erkennen, alle technologischen Neuerungen sich zum eigenen Vorteil angedeihen zu lassen. Als in den achtziger Jahren der Videorecorder dort Einzug hielt und 1984 schon neun Millionen Geräte in Betrieb waren, reagierten die Verleihe unmittelbar und schufen einen lukrativen Videomarkt für die Zweitverwertung ihrer Filme, zuerst als Leih-, dann als Kaufkassette, was „die

Verbreitungsmöglichkeiten für die Produkte aus Hollywood entscheidend" (Wasko 1985, 224) erweiterte. Auch die Produktion zog allmählich in Betracht, Filme speziell für den Video- oder Fernsehmarkt herzustellen, 'direct-to-video' oder 'direct-to-TV' genannt. Diese sogenannten „Ergänzungsmärkte" (Guback 1985, 808), zu denen auch Pay-TV und Pay-per-view zählen, haben die Verwertungszeiten eines Films im Kino erheblich beeinträchtigt. Brauchte es vor der Einführung von Video noch durchschnittlich drei Jahre, bevor ein Film im Fernsehen zu sehen war, hat sich diese Zeitspanne gehörig reduziert. Damit die Programme von Pay-TV-Sendern wie Home Box Office (HBO) und Showtime sowie des Videoverleihs attraktiv bleiben, erfolgt eine Zweitverwertung mittlerweile nicht mehr als sechs Monaten später. Das Filmgeschäft ist generell schnellebiger und risikoreicher geworden. Die meisten Studios hatten die Kinokrise der siebziger Jahre nur überlebt, weil sie mindestens einmal im Jahr einen Blockbuster lancieren konnten, der die weniger erfolgreichen Streifen aufgewogen hat. Denn wenn sich ein Film nicht innerhalb von zehn Wochen, so die Faustregel, auf dem amerikanischen Binnenmarkt einspielt, können ihn selbst die Export- und Ergänzungsmärkte nicht mehr retten — er gilt dann als Flop. Die Medienmultis haben natürlich Möglichkeiten ersonnen, dies zu verhindern bzw. größeren Schaden abzuwenden. Gerade die Werbe- und Marketingkonzepte der Studios sehen zunehmend verstärkte Aktivitäten im Merchandising-Bereich vor. Angegliederte Industrien sorgen für die Vermarktung von Film- oder Serienfiguren bis ins Kinderzimmer, als Spielfigur, Musik-CD, Computerspiel, auf T-Shirts, Keksdosen usw. Das „Miss-Piggy-Phänomen" (Wasko 1985, 225) nahm besonders kuriose Formen beim ersten 'Batman'-Spektakel von 1989 an (Regie: Tim Burton). Bevor der Film die Kinos erreichte, war mittels Werbung eine solche Hysterie geschürt worden, daß die Merchandising-Industrie ein leichtes Spiel hatte. Zunächst verschlang der Film 10 Millionen Dollar für Werbung, Kinotrailer und Promotion-Aktionen. Er spielte jedoch in den folgenden fünf Monaten nicht allein 250 Millionen durch das internationale Abspiel ein sowie zusätzliche 400 Millionen durch das Videogeschäft (vgl. Maltby/Craven 1995, 77), sondern bescherte auch seinem Darsteller Jack Nicholson, dessen Vertrag eine prozentuale Beteiligung am Merchandising festlegte,

96. Die Filmproduktion in ihrer geschichtlichen Entwicklung

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zwischen g e s c h ä t z t e n dreißig u n d sechzig Millionen Dollar. Die Ergänzungsmärkte sind l ä n g s t keine N e b e n s c h a u p l ä t z e m e h r . E n d e d e r a c h t z i g e r J a h r e b e t r u g e n die Einn a h m e n durch das Kinoabspiel n u r noch dreißig P r o z e n t , den Rest b r a c h t e n die Neb e n m ä r k t e ein. Eine U m k e h r u n g d e r Verhältnisse ist a n z u z e i g e n , w o d a s K i n o g e s c h ä f t f ü r die N e b e n m ä r k t e u n d d e r einzelne F i l m f ü r die P r o d u k t e u n d P a r a p h e r n a l i e n w e r b e n , die n a c h dessen A b b i l d hergestellt w e r d e n .

nis Film/Fernsehen in Zahlen. In: M P 11/1985, 777-783.

E s erscheint klar, d a ß die e u r o p ä i s c h e F i l m p r o d u k t i o n a n diese M e ß l a t t e n i c h t heranreichen kann. Der Marktanteil der amerik a n i s c h e n M a j o r s in E u r o p a belief sich 1993 a u f achtzig P r o z e n t . A u c h w e n n sich die hiesige F i l m p r o d u k t i o n i h r e r W u r z e l n z u besinn e n scheint u n d v o m d e u t s c h e n ' F i l m w u n d e r ' die R e d e ist, a n d e m sich a u c h a m e r i k a n i s c h e Verleiher beteiligen, l ä ß t sich dieser Vors p r u n g k a u m a u f h o l e n . O h n e h i n scheint die Z u k u n f t des M e d i u m s Film u n g e w i ß . D e r T r e n d zu G l o b a l i s i e r u n g , D e r e g u l i e r u n g u n d K o n z e n t r a t i o n , d e n alle a m e r i k a n i s c h e n M e dienkonzerne vollzogen haben, bedeutet a u c h , Z u k u n f t s m ä r k t e zu besetzen. N o c h stecken die digitalen T e c h n o l o g i e n in den K i n d e r s c h u h e n , d o c h schon ist die K o n v e r genz von Fernsehen und Internet projektiert, w e r d e n D a t e n a u t o b a h n e n errichtet, die in n i c h t allzu f e r n e r Z u k u n f t freie F a h r t f ü r digitale S i m u l a t i o n e n jeglicher A r t g e w ä h r e n w e r d e n . Bisweilen spielt H o l l y w o o d n o c h m i t den M u s k e l n , p r o f i t i e r t im Bereich d e r Spezialeffekte v o n C G I - A n i m a t i o n e n ( c o m p u t e r a n i m a t e d images) u n d k o m p l e t t generierten Filmen, wie ' T o y S t o r y ' (1995, J o h n Lasseter), d o c h zeichnet sich ab, d a ß sich d a s zweid i m e n s i o n a l e u n d a n a l o g e M e d i u m F i l m einmal überleben wird.

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Helmut Merschmann, Berlin

(Deutschland)

97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung 1. 2.

7.

Einleitung Vertragliche Grundlagen: Unterhaltungsbedürfnisse und Patentrechte Wallstreet spielt mit: Internationale Lein wand-Zeiteinteil ung Traummonopole: Majors und Staatsbetriebe Orientierungsschwierigkeiten: „runaway production" und Autoren-Kino „The last picture show": Bilderfluten und Geldströme Literatur

1.

Einleitung

3. 4. 5. 6.

Kurz nach der Jahrhundertwende hörte der Kintopp auf, eine Varieté-Attraktion zu sein. Das Betreiben eigenständiger, fester Abspielstätten, deren Zahl sich innerhalb kürzester Zeit um ein Vielfaches vermehrte, entwickelte sich zu einem eigenen Gewerbe. Es wurde für die Filmproduzenten (die sich eher als Gerätehersteller verstanden) zu einem Problem, diesen Markt zu übersehen und zu bedienen. Den Kinobesitzern fiel es entsprechend schwer, den sich entwickelnden Rezeptionsgewohnheiten des Publikums durch ihre Filmauswahl nachzukommen. Die Vermittlerrolle zwischen diesen beiden äußeren Polen des Filmgeschäfts übernimmt der Verleih. Sowohl Produktion wie Kinobetreiber gerieten dadurch in eine Abhängigkeit, die den unabhängigen Verleiher zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor und damit auch zu einem Ärgernis machte: Immerhin mußten sie Teile ihres Gewinns an den Zwischenhändler abführen. Dies ist einer der Gründe, die vor allem in Amerika zu immer stärkeren Monopolisierungstendenzen führten. Den großen amerikanischen Studios, den sogenannten Majors, gelang es, Produktion und Kinoauswertung unter einem Firmendach zu ver-

einen, was den Verleih teilweise zu einer reinen innerbetrieblichen Dienstleistung werden ließ. Ihre globale Präsenz und Übermacht als Verleiher auf dem internationalen Markt führte jedoch dazu, daß in den kleineren filmproduzierenden Ländern der Ruf nach Einschränkungen für die Einfuhr amerikanischer Filme bis heute nie ganz verstummt ist. Den amerikanischen Majors war es von Anfang an möglich, weltweit Konkurrenten aus den Kinos zu verdrängen. Sie konnten durch die Breitenakzeptanz ihrer Produkte volle Häuser garantieren. Drohten sie angesichts nationaler Einfuhrbeschränkungen mit Verleihboykotten, war der reguläre Kinobetrieb in manchen Ländern gefährdet. Ihre engen Verbindungen zur internationalen Hochfinanz bescherten den Majors eine zum Teil erstaunliche Langlebigkeit: Warner, Paramount, Twentieth Century Fox sind als Bestandteile sich ständig ändernder Firmenkonglomerate immer noch marktbeherrschend. Ihre kleineren Herausforderer sind auf politische Unterstützung und sympathisierende Kinobetreiber angewiesen. Die Marktführer garantieren seit Jahrzehnten eine ständige Versorgung mit Unterhaltung bewährter Qualität. Demgegenüber bemühen sich immer wieder mutige Kleinfirmen, ästhetisch ambitionierte oder aus eher vernachlässigten Filmländern stammende Werke ins Kino zu bringen. Trotz ihrer Verdienste um Filmkunst und Publikum gelingt es ihnen jedoch nur selten, sich lange auf dem Markt zu behaupten. Die Geschichte des Filmverleihs, und des Kinos, ist von einem relativ frühen Zeitpunkt an von diesem Gegensatz geprägt: Einerseits die monopolistischen Geschäftspraktiken der Weltmacht Hollywood und andererseits die uner-

97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung

müdlichen Versuche nationaler WirtschaftsLobbys oder engagierter Kleinunternehmen, dem etwas entgegenzusetzen.

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Der geschäftliche Umgang mit dem neuen Medium war zunächst von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt. Indem viele der Erfinder und Patentinhaber mit ihren Geräten anfänglich selber „auftraten", hofften sie den Verkauf ihrer Apparaturen zu fördern. Die von ihnen für diese Zwecke gedrehten Filme betrachteten sie als reines Demonstrationsmaterial. Kaum jemand erkannte den speziellen emotionalen und ästhetischen Reiz, der den Kinobesuch im 20. Jh. zum unverzichtbaren Erlebnis für breite Bevölkerungsschichten machen sollte. Ein Kinomarkt im eigentlichen Sinne entwickelte sich erst durch die Initiative der Hardware-Kunden. Sie beobachteten, welche Faszination ihre Neuerwerbungen, bzw. die mitgelieferten Filme, auf ein ständig wachsendes Publikum ausübten, und reagierten darauf mit ersten kommerziellen Nutzungsversuchen. Als Vorhut heutiger Vertriebsmethoden entstanden Wanderkinos, die mit ihren Filmen von Ort zu Ort zogen. Sobald jedoch der Reiz des Neuen nachließ bzw. das Repertoire an gezeigten Filmen bekannt war, mußten sie sich ein neues Publikum suchen: „... das Konsumtionsgut [blieb] während längerer Zeit das gleiche, während der Konsumtionsort dauernd wechselte (Bächlin 1945, 20)". Die kommerzielle Nutzung war dabei an die physische Lebensdauer des Filmmaterials gebunden — wenn ein Film zerfiel, war seine Auswertung beendet.

kaufte Filme, um sie dann wochenweise für die Hälfte des Kaufpreises weiter zu vermieten. 1902 schreibt er an seinen Bruder Herbert, der zu Verhandlungen mit Filmfirmen in New York ist: „If you will send me some films [zum Preis von 100 S pro Rolle], I can rent a reel to Grauman for a week for $50 and then get another S 50 from Lubelski. After that whatever we get is profit (zit. nach MacCann 1987, 26)". Damit ist der Filmverleih geboren und das Geschäft kann richtig losgehen. Innerhalb von fünf Jahren, bis 1907, erhöhte sich die Anzahl der „exchanges" auf ca. 150 (Huettig 1946,13). Aber womit wird eigentlich gehandelt? An den unterschiedlichen Vertragsformen für den Verleih, mit denen anfanglich experimentiert wurde, läßt sich ablesen, daß sich in der Filmindustrie erst allmählich eine klarere Vorstellung davon entwickelte. Mit der Entstehung des Verleihs als Bindeglied zwischen Produktion und Abspiel war „anstelle des Filmkaufs durch den Detaillisten [Kinobetreiber], wodurch die Ware in seinen Besitz überging, (...) jetzt die zeitlich begrenzte Übertragung eines Vorführrechts (Bächlin 1945, 26)" getreten. Nachteilig an dieser Regelung erwies sich, daß verschiedene Verleiher denselben Film konkurrierend am selben Ort herausbringen konnten und die Produzenten kein klares Bild vom Abschneiden eines Films an der Kinokasse erhielten. Mit Monopolverträgen, die einen Film nur einem Verleiher für ein bestimmtes Gebiet überließen, wurde geschäftsschädigender Wettbewerb der Verleiher untereinander ausgeschlossen und der Markt für die Hersteller wieder überschaubarer. (Der erste Monopolvertrag für Deutschland wurde 1912 von Ludwig Gottschalk für den Asta-NielsenFilm Abgriinde abgeschlossen [Weinwurm 1931, 8].)

Das ungeheure öffentliche Interesse an Filmen ließ ein Bedürfnis erkennen, das ein ständiges örtliches Kinoangebot zu einer vielversprechenden Geschäftsidee machte und es entstanden feste Abspielstätten (in den USA ab 1902, in Europa ab 1906/7). Die bisherige Praxis des direkten Verkaufs von Filmen zur öffentlichen Aufführung erwies sich an diesem Punkt als unzureichend: Angesichts des vom Publikum verlangten immer häufigeren Programmwechsels waren die Preise pro Film zu hoch und die Produzenten hatten dadurch, trotz der erhöhten Nachfrage, keine Absatzmöglichkeiten. Die rettende Idee hatte ein Kinobetreiber aus San Francisco namens Harry J. Miles. Er

Durch den Verkauf zu einem festen Preis blieb der Hersteller von den möglicherweise hohen Gewinnen des Verleihs ausgeschlossen. Deshalb setzten sich allmählich Verträge über die Vergabe eines Auswertungsrechts durch (Bächlin 1934, 28). Als Bezahlung wurde folgerichtig nicht mehr eine exakte Summe vereinbart, sondern sie wurde in Prozenten der eingespielten Einnahmen bemessen. Solche „gleitenden Preise" (Weinwurm) hatten zwischen Verleihern und Kinos schon früher gegolten. Hier war ursprünglich das Berechnungskriterium die Aktualität der Filme. Aus dem unkomplizierten Verkauf einer Ware wurde somit innerhalb weniger Jahre ein mehrstufiges System von Nutzungsrech-

2.

Vertragliche G r u n d l a g e n : Unterhaltungsbedürfnisse und Patentrechte

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

ten. Damit wurde den besonderen Risiken des Filmgeschäfts Rechnung getragen, vor allem der extrem langen Spanne zwischen Produktion und Rücklauf eines Gegenwertes und der unwägbaren Gunst des Publikums. Die frühe Phase des Filmverleihs löste eine Art Goldrausch aus — für die Verleiher wie für die Industrie insgesamt. Dementsprechend waren die Gepflogenheiten, wie sich ein Veteran der ersten Stunden erinnert: „As to buying the reels, why, we just went into the factories or offices of the producers. Saturday usually was buying day, and there were often fist fights among the men that wanted to buy (zit. nach Staiger 1983, 50)". Von solchen Typen waren wohl nur schwerlich genaue Abrechnungen über Theaterbuchungen, Kartenverkäufe oder prozentuale Beteiligungen zu erwarten! Wegen der Unzufriedenheit über die Unzuverlässigkeit der Verleiher und der dadurch verursachten finanziellen Einbußen für die Produzenten (Staiger 1983, 68 n. 28) blieb der Markt nur kurze Zeit offen für Neueinsteiger. Die französischen Produzenten Pathé und Gaumont schufen bis zum ersten Weltkrieg eigene weltweite Vertriebsnetze und in den USA wurde 1908 die Motion Picture Patents Company (MPPC) gegründet, bald nur noch der „Trust" genannt. Der Trust war ein durch Edison initiierter Zusammenschluß der wichtigsten auf dem amerikanischen Markt operierenden Patentinhaber und Produzenten. Auch Méliès und Pathé waren Mitglieder. Man lizenzierte sich gegenseitig exklusiv die Patente (cross-licensing) und erhob von allen externen Nutzern, Filmherstellern wie Theatern, eine pauschale Nutzungsgebühr von 2 S die Woche. Um den Handel mit nicht lizenzierten Filmen auszuschließen, kaufte man 58 der wichtigsten, regional operierenden Verleiher, sogenannter „exchanges" oder „states'-right men", auf bzw. zwang sie zur Zusammenarbeit. Bei Abnahme von Filmen anderer, nicht lizensierter Firmen drohten Geld- und Konventionalstrafen. Mit der Einrichtung eines eigenen landesweiten Verleihs, der General Film Company, hatte man 1910 eine vertikale Integration erreicht, die eine monopolistische Kontrolle der gesamten amerikanischen Filmindustrie ermöglichte. Das Vorbild, dem damit nachgeeifert wurde, waren die industriellen Trusts, die sich in einer ersten großen amerikanischen Fusionswelle 1890—1905 gebildet hatten (Staiger 1983, 4 3 - 4 4 ; Steinbock 1995, 17), wie z.B. Rockefellers Standard Oil Company.

Diese stabile Kontrolle funktionierte allerdings kaum länger als 4 Jahre. Eine Gruppe unabhängiger Verleiher widersetzte sich hartnäckig und begann selber zu produzieren, um nicht mehr vom Angebot der größtenteils mit dem Trust kooperierenden Filmhersteller abhängig zu sein. Der bekannteste unter ihnen war Carl Laemmle, der Gründer von Independent Motion Pictures (Imp), gegen den der Trust 289 Gerichtsverfahren anstrengte. Independent wollte man sein und der Begriff spukt seitdem durch die Filmgeschichte. Doch obwohl der Trust durch Urteil des Obersten Gerichtshofes 1917 unter Berufung auf den Sherman Antitrust Act aufgelöst wurde, erwiesen sich die ehemaligen Independents als seine gelehrigsten Schüler. Sie modifizierten zwar das filmische Produkt, indem sie den langen Spielfilm und das Star-System auf dem Markt durchsetzten, trieben aber die einmal begonnene Entwicklung zur Konzentration konsequent weiter. Was den Trust tatsächlich zu Fall brachte, war der starre Blick auf das Kino als ein Geschäft mit Patenten. Indem er stur am kurzen Filmformat festhielt und seinen Stars Namen verweigerte, verpaßte er den Anschluß an die aktuelle Marktentwicklung — und die Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums. Die Filmindustrie wurde von nun an nicht mehr von Patentbesitzern und Hardware-Produzenten dominiert, sondern von Showbusiness-erfahrenen Software-Vertreibern. Erst das ließ Hollywood zur filmischen Weltmacht werden, die es bis heute geblieben ist: „Around the globe, folks just can't get enough of America. They may not want our hardware anymore - (...) but (...) they increasingly turn to American software: our movies, music, TV programming ... (Fortune Dez. 1990. zit. nach Steinbock 1995, 16)".

3.

Wallstreet spielt mit: Internationale Leinwand-Zeiteinteilung

Mae D. Huettig beschreibt in ihrer ein flu Breichen Studie „Economic control of the motion picture industry" das Produkt, um das sich der klassische Kinomarkt strukturierte, als „the right to look at a film, in a given type of theatre, at a given time with reference to the original release date of the film (Huettig 1944, 3)". Um dieses Ensemble von Problemen zu lösen, zunächst national und später auch international, mußte das Vorbild des Trusts ernstgenommen werden; denn nur ein landesweiter Verleih, statt regionaler exchan-

97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung

ges, konnte die für eine optimale Filmauswertung erforderliche Logistik gewährleisten. Auch die Independents schlossen sich daher 1910 in einer national operierenden Firma zusammen, Motion Picture Distributing and Sales Co., die sich 1912 in Carl Laemmles Universal und die von Harry Aitken geleitete Mutual Film Corporation spaltete. (Aitken sorgte 1914 für die Finanzierung von Griffiths Birth of a Nation und war mit einem eigens gegründeten Verleih für den epochemachenden Erfolg dieses Films verantwortlich.) 1915 schuf William Hodkinson durch den Zusammenschluß von fünf Firmen unter dem Namen Paramount Pictures Corporation eine Verleihorganisation, die kurze Zeit zum marktbeherrschenden Faktor der amerikanischen Filmindustrie wurde (MacCann 1987, 125). Paramounts größte Aktiva waren die Verträge mit den zwei bedeutenden Produktionsfirmen Famous Players und Lasky Feature Play Company. Als sich Hodkinson einem Firmenzusammenschluß mit der unter Adolph Zukors Leitung fusionierten Famous Players-Lasky Corp. verweigert, wird er 1916 kurzerhand durch geheime Aktienaufkäufe aus seiner Position verdrängt. Durch diese feindliche Übernahme wird Zukor zum mächtigsten Mann des Filmgeschäfts, der sowohl den größten Verleih des Landes (Paramount) wie auch das größte Studio (Famous Players-Lasky) kontrolliert. Und damit kann er die Weichen stellen für die vertikale Integration von Produktion, Abspiel und Verleih im klassischen Hollywoodsystem. Mit der Filmproduktion allein war vergleichsweise wenig zu verdienen, wie eine Studie des Bankhauses Kuhn, Loeb and Company 1919 herausfand: Von 800 Mio $ Gesamteinnahmen an den Kinokassen erreichten nur schätzungsweise 90 Mio $ die Produzenten (Wasko 1982, 18-19). Die Filmmieten betrugen 1914 immerhin schon 700 S und mehr (Bächlin 1945, 217 n. 70), und die Gesamteinnahmen des Filmverleihs hatten von 1915/17 bis 1919/20 um 375 Prozent zugenommen, wie Kuhn, Loeb und Company feststellten. Das für eine geschickte Plazierung von Filmen auf dem Markt nötige Know-How ließ man sich bei Paramount mit 35 Prozent der Netto-Kasseneinnahmen entgelten. Denn der Filmverleih verursachte auch Kosten: Für Werbung und Herstellung von Kopien bezahlte man 1919 immerhin schon durchschnittlich 10.000 S pro Film (Wasko 1982, 9). Alles in allem war der Zusammenschluß von Produktion und Verleih

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im Sinne einer Profitmaximierung daher nur logisch. Das Spielfilmformat, mit dem die Independents den Trust vom Markt verdrängen konnten, hatte die Kosten in die Höhe schnellen und die Finanzierung durch Kredite zur Regel werden lassen. Sicherheiten für die Geldgeber bot im Prinzip nur der Verleih, denn er garantierte den Absatz. Abgesehen von einem ausreichenden Angebot an Filmen, um ein kostspieliges Verleihsystem mit (zunächst) landesweiten Niederlassungen rentabel zu machen, erforderten die durch die Kredite anfallenden Zinsen eine genaue zeitliche Kalkulation, um die Frist bis zur Amortisation weitestgehend zu verkürzen. Dafür gab es verschiedene Mittel: 1. Terminierung, das gezielte Buchen von „screentime" in den Kinos zu den günstigsten Zeiten der Woche und des Jahres. Als Perioden des intensivsten Kinobesuchs gelten bis heute in den USA die Sommerferien und die Weihnachtszeit, in Europa Herbst und Winter. An Wochenenden ist das Geschäft generell am besten. 2. Besondere Konzentration auf die städtischen Ballungsräume und speziell auf die dort entstandenen Erstaufführungs- oder First-Run-Theater. Trotz ihrer verschwindend geringen Zahl spielten diese innerhalb der ersten sechs Monate nach Veröffentlichung eines Films ca. 50 Prozent der Gesamteinnahmen ein, wie ein Bericht der Federal Trade Commission 1921 herausfand (Huettig 1944, 78). Außerdem kam der Zuschauer hier in den Genuß neuer, unbeschädigter Kopien. 3. Block-booking: Um einen Erfolgsgaranten, wie ζ. B. einen Mary-Pickford-Film, zu bekommen, mußten die Kinos gleichzeitig mehrere Filme ohne vergleichbare Attraktionen buchen. Solche Verträge wurden immer häufiger schon vor der eigentlichen Produktion abgeschlossen. Das hatte zur Folge, daß die Kinobesitzer, die Ware, die sie kauften, vorher nicht zu Gesicht bekamen und sich auf mehr oder weniger ausführliche Vorabinformationen verlassen mußten, was als BlindBooking bezeichnet wird und eine direkte Konsequenz des block-booking darstellt. Diese beiden Verfahren stellten eine Art Vorfinanzierung dar, die das hauptsächliche Geschäftsrisiko von Produktion und Verleih auf das Abspiel verschob. Damit wurde gleichzeitig das stets virulente Risiko des kommerziellen Mißerfolgs einzelner Filme auf eine größere Anzahl umgelegt. Auch die General Film Company hatte allerdings schon mit ähnlichen Verfahren operiert, indem sie den

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

Kinos sogenannte standing-orders, eine Art Abonnement, aufoktroyierte. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten sich die ehemaligen Independents ebenfalls zu marktbeherrschenden Großbetrieben (die jetzt entstehenden Firmen werden später zu den Major Studios der klassischen Hollywoodära), die mit Hilfe solcher Verleihpraktiken Kontrolle über Kinos und deren Terminplanung ausübten. Von einem ernstzunehmenden Wettbewerb konnte nicht mehr die Rede sein. Schon 1921 führte das zu einer Klage einer neuen Generation von Independents vor der Federal Trade Commission, die sich vor allem gegen das block-booking wandte. Nach jahrelangen Marktbeobachtungen wurde es 1927 als „unfair trade practice" gebrandmarkt, mit geringen Konsequenzen: „A cease-and-desist order was issued and completely disregarded by the majors (Huettig 1944, 116)". Diese Dehnbarkeit rechtlicher Vorgaben bildet in der Geschichte des Verleihs eher die Regel als die Ausnahme. Wie ihre astronomisch gestiegenen Gagen zeigten, profitierten die Stars von dieser Marktsituation. Angesichts ihrer ökonomischen Bedeutung für die Entwicklung Hollywoods standen die Einkünfte der Leinwandgötter jedoch in keinem Verhältnis zu den realen Gewinnen ihrer Studios. Das bewegte 1919 Zukors höchstbezahlten Star, Mary Pickford, zusammen mit Charles Chaplin, Douglas Fairbanks und D. W. Griffith zur Gründung einer eigenen Gesellschaft, um so in vollem Umfang an den Einnahmen ihrer Filme partizipieren zu können. United Artists war folgerichtig hauptsächlich als Verleih konzipiert, der die Filme seiner Teilhaber, die als selbständige Produzenten (Independents) auftraten, vertrieb. Man kalkulierte mit deutlich geringeren Verleihgewinnen als Paramount (20 Prozent der amerikanischen Einnahmen und 30 Prozent der Einnahmen im Ausland), „because United Artists was conceived of as a service organization rather than an investment that would return dividends (Balio 1985, 164)". Außerdem verzichtete man auf das Block-Booking. Trotz dieser anders gelagerten Geschäftsphilosophie, gelang es dem Star-Studio, sich als Major zu behaupten. Für große US-Investmentbanken begannen ab 1919 Geldanlagen in der Film W i r t schaft ähnlich interessant zu werden wie bei Stahl oder Eisenbahnen. Mit diesem hinter ihm stehenden Kapital gelang es Hollywood jetzt auch, weltweite Verleihnetze aufzubauen. Von Seiten der Banken wurde dies

förmlich als eine Voraussetzung für ihr finanzielles Engagement angesehen. Eine weitere konsolidierende Maßnahme war der großangelegte Ankauf von Kinos durch die Studios, die sogenannte „battle for theatres", wie ihn Zukor auf Anraten und mit massiver finanzieller Unterstützung seiner Geldgeber ab 1921 betrieb. Dadurch wurde die vertikale Integration im Sinne einer Kontrolle des Absatzes abgeschlossen und gleichzeitig schuf dieser Immobilienerwerb konjunkturunabhängige Sicherheiten. Alle großen Studios folgten seinem Beispiel. In dieser Zeit konnte in den USA die Filmproduktion erheblich gesteigert werden. In Europa hingegen brach sie in Folge des 1. Weltkriegs fast völlig zusammen. Infolgedessen fanden die amerikanischen Verleihe in Europa einen durch einheimische Produkte nicht zu deckenden Bedarf vor, der ihnen reißenden Absatz bescherte. Zumal für den Filmtransport, selbst über weite Strecken, kaum nennenswerte Mehrkosten entstehen: „Der Film ist eine ideale Exportware", faßte es Bächlin 1945 knapp zusammen. Mit ihrer von nun an überwältigenden Präsenz auf dem alten Kontinent schufen sie sich nicht nur ihren wichtigsten Nebenmarkt, sondern prägten auch die weitere Entwicklung in Europa entscheidend mit. Von europäischer Seite ließ man nichts unversucht, dieser Übermacht etwas entgegenzusetzen und das eigene Überleben zu sichern. Der Kampf wurde (und wird) mit ungleichen Mitteln geführt: Dort eine internationale Wirtschaftslobby, die erheblichen politischen Druck ausüben kann, und hier nationale Filmbranchen, die ihr wirtschaftliches und künstlerisches Existenzrecht zur politischen Forderung machen (müssen). Einzig Deutschland gelang es, eine Filmproduktion aufrechtzuerhalten (und zum neben den USA wichtigsten Filmland aufzusteigen). Gründe dafür waren 1. die Gründung der Ufa (Universum-Film-Aktiengesellschaft) 1917 unter Beteiligung von Großbanken, Militär und Politik. Als Propagandainstrument konzipiert, vereinte sie von Anfang an Kinos, Verleihe und Produktionsfirmen unter einem Firmendach; und 2. konnte man durch den rapiden Verfall der Mark zu enorm günstigen Bedingungen exportieren, ohne ausländische Konkurrenz im Inland fürchten zu müssen (Bächlin 1945, 45). Mit der Stabilisierung der Währung nach 1923 endete diese Phase, und die amerikanischen Verleihe eröffneten auch hier ihre Niederlassungen. Bis 1925 konnten sie ihren Anteil an in Deutschland verliehenen Filmen auf 60 Prozent steigern. Und

97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung

1926 zwangen die aus dem Ruder gelaufenen Kosten für die Monsterproduktion Metropolis (die geschätzten 7 Mio RM wären selbst für ein US-Studio niemals einspielbar gewesen) die Ufa, auf ein Angebot von Paramount und der neu gegründeten Metro-GoldwynMayer einzugehen. Der sogenannte Parufamet-Vertrag verschaffte der Ufa zwar einen Kredit von 17 Mio RM, zwang sie aber jährlich 20 Filme ihrer Geldgeber in den Verleih zu übernehmen und ihnen 50 Prozent der Spielzeit ihrer Theater zu reservieren. Als Gegenleistung sollten 10 Ufa-Produktionen in Amerika vertrieben werden (Bächlin 1945, 46). Damit konnte sich die Ufa nominell als größter Verleih auf dem Markt behaupten. Im Prinzip war es aber den amerikanischen Studios gelungen, den deutschen Markt (mehr oder weniger) versteckt mit zu kontrollieren und gleichzeitig eine seit 1925 geltende Kontingentierung von Filmimporten zu umgehen. Importbeschränkungen bzw. staatliche Interventionen, verfolgten das Interesse, der einheimischen Industrie wirtschaftlich beizustehen, verstanden sich aber auch als Mittel, einen nationalen Kunstzweig zu fördern (Guback 1969, 144). Kaum ein europäisches Land ging dabei soweit wie Dänemark: Nur einem öffentlichen Bildungsanspruch verpflichtete Bürger oder Institutionen konnten staatliche Lizenzen für das Betreiben von Kinos erwerben; durch regelmäßige Abgaben mußten sie zur Finanzierung der einheimischen Filmproduktion beitragen (Film centre 1950, 43). Da das State Department in den zwanziger Jahren fast überall in Europa im Interesse Hollywoods intervenierte, fielen die Bestimmungen andernorts aber eher zaghaft aus. In Großbritannien, wo amerikanische Filme praktisch das gesamte Filmangebot ausmachten und die Majors große Theaterparks besaßen, verabschiedete man 1927 den Quota Act, der vorsah, daß 5 Prozent der Leinwandzeit für britische Produktionen freigehalten werden mußten. Bis 1927 sollte diese Quote auf 20 Prozent erhöht werden (Minney 1947, 31—32). Aber selbst eine verhältnismäßig milde Auflage wie diese konnte umgangen werden: Mit amerikanischem Geld wurden billige Streifen heruntergekurbelt, sogenannte „quota quickies", um damit die freigehaltene Zeit zu füllen. Diese boten zwar ein Experimentierfeld für junge britische Talente, hatten aber kommerziell keine Chancen.

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Wenn auch in der Ufa ein nach amerikanischem Muster funktionierender Konzern entstanden war, der sich europaweit ausdehnte, existierten auf dem alten Kontinent weiterhin auch viele kleinere, unabhängige Verleihfirmen. In den USA dagegen wurde das Verleihgeschäft von den Majors beherrscht. „Independent" waren einzig Produzenten, die zwar Filme in eigener Regie herstellen mochten, tatsächlich aber auf Verleihgarantien der Majors angewiesen waren. Nur dadurch waren ihnen Kredite sicher, da ihr Film nach seiner Fertigstellung den Verleihservice der als Bürge auftretenden Firma genoß. Der europäische Verleiher gab die gleichen Garantien, ohne denselben Effekt erzielen zu können. Da sein Geschäftsrisiko durch die geringe Marktkontrolle, die er besaß, ein ungleich höheres war, zeigten sich seriöse Großanleger in der Regel äußerst reserviert. Man war weitestgehend auf private Kreditgeber angewiesen, die jeweils nur Teilsummen zur Verfügung (oder in Aussicht) stellten. Die Filmfinanzierung in Europa stand auf wackligen Beinen, was sich bis ins letzte Glied bemerkbar machte: „Dieses trostlose Finanzierungssystem wird manchmal von dem Produktionsleiter gegenüber den Kameraleuten usw. fortgesetzt (Weinwurm 1931, 66)". Der Verleihanteil an den Netto-Kasseneinnahmen betrug, zumindest in Deutschland, immerhin 50 Prozent. Davon mußten Werbung und die Herstellung von Kopien bezahlt werden. Die Kopienkosten wurden dem Verleiher allerdings schon vor der Teilung der Nettoeinnahmen erstattet und somit auf den Produzenten umgelegt (Weinwurm 1931, 16). Kleineren Verleihfirmen war in der Regel aber trotzdem kein langes Leben beschieden. Für die Jahre 1926 bis 1929 gibt Jason an, daß von 73 deutschen Verleihern nur 21 durchgängig aktiv waren, davon waren 15 gleichzeitig Produzenten (d. h. auch die Ufa und die Majors zählen dazu) (Jason 1930, 56). Auf dem amerikanischen Markt, mit einer größeren Anzahl von Kinos als in allen europäischen Ländern zusammen, waren die Amortisationsspannen weitaus kürzer als in Europa. Amerikanische Verleiher starteten ihre Filme mit bedeutend mehr Kopien als die Europäer (Bächlin 1945, 117), wodurch sie innerhalb kurzer Zeit ihr Geld eingespielt hatten und Platz für neue Produktionen machten. Zudem wurde noch der europäische Markt beliefert, wo man nach einer erfolgreichen Laufzeit in den USA unterdurchschnittlich billig anbieten und damit die ein-

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heimische Konkurrenz im Wettbewerb um Leinwandzeit unterbieten konnte. Innerhalb des herrschenden Firmen-Oligopols der Majors war die Phase der feindlichen Übernahmen bis Mitte der zwanziger Jahre zwar einer Politik des „fair play" gewichen, Neueinsteiger hatten jedoch keine Chance. Dadurch waren die USA ein de facto geschlossener Markt. (Was aber von amerikanischer Seite immer vehement bestritten und wiederum den Europäern und ihren Kontingentierungen zum Vorwurf gemacht wurde.) Europäische Filme konnten, wenn überhaupt, nur durch die Verleihe der Majors präsentiert werden, was, siehe Parufamet, durch Zugeständnisse zu Hause erkauft werden mußte. Um auf diesem Markt mitzuspielen, fehlte es in Europa an Kapital und politischer Unterstützung. RKO, das letzte der klassischen Hollywood-Studios, entstand hingegen 1928 als Joint-Venture von Elektroindustrie und Hochfinanz: R. C. Α., Tochterfirma des Großkonzerns General Electric und Besitzerin eines Tonfilmpatents, und Rockefeller Center Inc. waren an der Firmengründung beteiligt. Orchestriert wurde sie von Joseph Kennedy, Vater eines zukünftigen US-Präsidenten und eine schillernde Figur zwischen Hochfinanz, Alkoholschmuggel, Politik und Hollywood (u.a. Liebhaber und Produzent von Gloria Swanson) (Wasko 1982, 77-90). Der spätere Botschafter der USA in London verkörpert die besondere Allianz von Kapital und Politik, die es der amerikanischen Filmindustrie ermöglichte, bis zum Ende der zwanziger Jahre ihren Filmen weltweite Verbreitung zu sichern und internationale Marktstrukturen festzulegen.

4.

Traummonopole: Majors und Staatsbetriebe

Weinwurm stellt 1931 (für Deutschland) fest, „daß von selbstständigen Gewerbestufen in der Filmindustrie nicht mehr gesprochen werden kann. Sei es von dem Verleiher, den Produzenten, seltener dem Theaterbesitzer ausgehend, sei es auf dem Wege der finanziellen Einflußnahme, der wirtschaftlichen Abhängigkeit bei Erhaltung der juristischen Persönlichkeit oder schließlich der Beseitigung derselben, besteht immer eine enge Verbindung (Weinwurm 1931, 75)". Schon im „Normalfall" sind also die Funktionen einzelner (juristischer) Personen in der Filmindustrie schwer voneinander zu trennen. In den drei-

ßiger und vierziger Jahren lassen sich diese Verflechtungen aber nur noch als Monopole bezeichnen, innerhalb derer der Verleih die Funktion einer innerbetrieblichen Dienstleistung übernimmt. Mit ca. 90 Prozent Marktanteil hatten die Majors in den dreißiger Jahren unabhängige Verleiher fast völlig vom US-Markt verdrängt. Wichtigstes strategisches Instrument für diesen Erfolg waren ihre Theaterparks. Die 5 kinobesitzenden Studios, M G M , Paramount, Warner, R K O und Twentieth Century Fox hatten zwar nach einer wahren Einkaufsorgie in den späten zwanziger Jahren durch die Depression viele ihrer Kinos wieder verloren, trotzdem kann man in den dreißiger Jahren noch von vertikaler Integration sprechen; denn mit ca. 2.800 Häusern besaßen sie weiterhin mehr als 80 Prozent der First-RunTheater. Da sich der Marktwert eines Films nach seiner Aktualtität bemaß, „It is time what we sell" lautete eine Hollywood-Devise, wurden in den Erstaufführungstheatern die höchsten Verleihmieten und die höchsten Eintrittspreise gezahlt. Außerdem übernahmen Subsequent-Run- oder Wiederaufführungstheater in der Regel nur Filme, die hier erfolgreich waren. Zugang zu diesen Kinos bedeutete somit Zugang zum Markt — der aber immer emphatisch als „frei" bezeichnet wurde. Um deren Exklusivität zu sichern, wurden genaue Zeitspannen bis zum Start in den Wiederaufführungskinos festgelegt („clearance") und die Theater der Umgebung als Subsequent-Runs eingestuft („zoning"). Diese Kinohierarchie war durch Absprachen unter den Majors geregelt (Huettig 1944, 125-131). Da keins der Studios genug Filme produzierte, um in seinen Kinos ausschließlich eigene Produkte zeigen zu können, zumal seit Mitte der dreißiger Jahre Double Features das nachlassende Zuschauerinteresse anstacheln sollten, nahm man einander sehr wohl als Verleiher in Anspruch. Zusätzlich duldete man die drei „kleinen" Majors, United Artist, Universal und Columbia, die keine Kinos besaßen. Unabhängigen Verleihern dagegen waren die First-Runs - und so auch weitestgehend der Markt — versperrt. Mit ihrer schwachen Marktposition konnten sie daher nicht als Kreditgaranten für von den Studios unabhängige Produktionen dienen. Namhafte „unabhängige" Produzenten wie Walter Wanger, Samuel Goldwyn oder David Selznick waren im Prinzip Studioangestellte mit exklusivem Status, Disney hatte einen festen Verleihver-

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trag mit R K O und bezahlte dafür mit 30 Prozent seiner Kasseneinnahmen, und Chaplin nahm als Mitbesitzer von United Artists sowieso eine Sonderstellung ein. Untereinander waren die Verleihbeziehungen also recht harmonisch geregelt. Für unabhängige Kinos dagegen wurde das Blind- und Block-Booking durch immer größere Blöcke von bis zu 40 Filmen pro Vertrag verschärft. Damit sicherten die Majors bequem ihren Absatz, die Kinos jedoch hatten mit wenigen Verleihverträgen schon die „ screen-time" eines ganzen Jahres gefüllt. Statt aktuelle Hits spielen zu können, die sich oft erst überraschend als solche entpuppen, waren sie auf lange Sicht festgelegt. Auch ein vom Justizministerium 1940 mit den Big Five ausgehandeltes Reglement ihrer Verleihpraktiken änderte letztlich nichts, da der Theaterbesitz der Majors ausgeklammert blieb (Huettig 1944, 139-142; Bächlin 1945, 74-76). Monopole bedeuten in der Filmindustrie über ihre wirtschaftliche Logik hinaus auch Kontrolle über ein äußerst effektives Propagandainstrument. Die Toleranz der amerikanischen Behörden erklärt sich u. a. durch die Einsicht, daß Hollywood mit seinen Filmen nicht nur in alle Welt Unterhaltung verkaufte, sondern auch den Glauben an den amerikanischen Traum (und amerikanische Produkte) (Staiger 1983, 52; Guback 1969, 126). Andere Länder und Regimes versuchten ab den zwanziger Jahren den Propagandaeffekt des Kinos für eigene Zwecke zu nutzen und durchkreuzten dafür die Verleihpolitik der Majors, um selber Monopole zu errichten. Nach Revolution und Bürgerkrieg war die Filmwirtschaft in der Sowjetunion weit hinter den Stand von 1917 zurückgefallen. Es etablierte sich ein grauer Markt, der weder Sowjet-Kunst produzieren (schließlich Lenin hatte den Film zur „wichtigsten aller Künste" erklärt) noch volkswirtschaftliche Gewinne erwirtschaften konnte. 1922 beschloß die Regierung daher, durch die Gründung eines Film-„Trusts", Goskino, den sie zunächst mit bescheidenen 3,5 Mio Rubel subventionierte, stärkeren Einfluß zu nehmen. Der Versuch, fremdes Kapital zu Investitionen bei Goskino zu bewegen, war allerdings relativ erfolglos. Einzig Willi Münzenbergs Internationale Arbeiter-Hilfe stieg finanziell ein. Im Gegenzug erhielt sie die Verleihrechte für den europäischen Markt. Als sich 1923 der sowjetische Markt wieder westlichen Filmen öffnete, investierte die Re-

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gierung in den Erwerb von Verleihlizenzen, die sie als alleiniger Käufer auf dem Markt äußerst günstig erhielt. Die dadurch zu erwartenden Profite waren als Kapital für den Aufbau der sowjetischen Filmproduktion gedacht. Zunächst drohte diese Investition durch chaotische Verleihverhältnisse, an denen sich hauptsächlich unzählige Zwischenhändler bereicherten, ins Leere zu laufen. 1924 wurde Goskino deshalb in eine Aktiengesellschaft namens Sovkino umgewandelt, deren einziger Aktionär die Regierung war. Es wurde ein Verleihsystem in Rußland aufgebaut und die Auswertung in den anderen Sowjet-Republiken durch Verträge geregelt. Mit den jetzt erwirtschafteten Gewinnen konnte sich Sovkino sowjetische Filmkunst wie Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) leisten. Der Marktanteil der einheimischen Produktion stieg von 1924 bis 1928 von 21 Prozent auf über 50 Prozent (Kepley 1991, 68-76). Als diese Einnahmequelle aus Mangel an Devisen in den späten zwanziger Jahren versiegte und die Umstellung auf Ton enorme Probleme aufwarf, führte das zu einem dramatischen Produktionsrückgang (1928: 112 Filme, 1933: 29 Filme). Es zeigte sich, daß das staatliche Verleihgeschäft im Prinzip eine Subvention gewesen war. Die sowjetische Filmkunst der zwanziger Jahre war aus Verleihgewinnen finanziert, aber nicht aus den eigenen. Boris Sumjatskij, unter dessen Leitung aus Sovkino 1933 eine staatliche Behörde, G U K , geworden war, forderte denn auch ein „Kino für Millionen", ein massenwirksames Erzählkino, nicht selbst-reflexiv sondern identifikationsstiftend, in erklärtem Gegensatz zur Ästhetik der Zwanziger. Er schuf in den dreißiger Jahren eine Unterhaltungsindustrie von politischer und kommerzieller Durchschlagkraft, die (erleichtert durch den Ausschluß westlicher Verleihe) den eigenen Markt konkurrenzlos beherrschte. Um mit Hollywood wirtschaftlich und ideologisch konkurrieren zu können, errichtete in der Sowjetunion eine staatliche Gründung eigenständige Produktions- und Verleihstrukturen. In Deutschland dagegen übernahmen die Nazis eine sich immer stärker konzentrierende Industrie mit einem politisch sympathisierenden Konzern, der Ufa, an der Spitze. 1927, ein Jahr nach dem ParufametVertrag, hatte der rechte Pressezar Alfred Hugenberg, dessen Wirtschaftsimperium aktiv zum Aufstieg Hitlers beitrug, die amerikanischen Anteile der Ufa zurückgekauft.

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

Außerdem besaß die deutsche Elektroindustrie Tonfilmpatente und hatte 1928 mit der Tobis (Tonbild Syndikat A. G.) einen neuen Filmkonzern geschaffen. Den amerikanischen Patentinhabern gegenüber hatte man sich 1930 in einem Abkommen das Monopol auf dem europäischen Gerätemarkt gesichert. Mit dieser Position war es möglich, die Majors in Deutschland zum Verzicht auf das Blind-Booking zu zwingen (Weinwurm 1931, 11). In der Figur Hugenbergs überschnitten sich, zumindest zeitweise, die Interessen der Nazis an einer politisch-ideologischen Kontrolle der Filmindustrie mit deren eigener Tendenz zur Konzentration. Aber wie sein kurzes Gastspiel in Hitlers erstem Kabinett zeigte, war er nur Mittel zum Zweck. Während USVerleihe vom deutschen Markt ausgeschlossen wurden, kaufte das Propagandaministerium nach 1933 durch die von Max Winkler gegründete Holding-Gesellschaft Cautio GmbH Mehrheitsanteile an den wichtigsten Firmen auf. Schließlich mußte auch Hugenberg die Kontrolle über die Ufa abgeben und 1942 bewerkstelligte Winkler den Zusammenschluß der Branche zu einem Riesenunternehmen, der Ufa-Film G m b H (Ufi). Hier handelte es sich um ein ausschließliches Monopol, das selbst amerikanische Vorbilder in den Schatten stellte. Ein durch Okkupation enorm gewachsener Binnenmarkt wurde von einem einzigen Verleih, Deutscher Film Vertrieb, bedient und brachte bei über einer Milliarde Zuschauern jährlich Gewinne von über 80 Mio Reichsmark. Schon 1945 war dieser ökonomische Wunschtraum durch den politischen Alptraum, für dessen Propagandazwecke er geschaffen worden war, zunichte gemacht. Die US-Majors versuchten ihren eigenen fortzuspinnen und konnten sich dabei gerade in Deutschland auf den propagandistischen Nutzen ihrer Produkte für die Politik der Sieger berufen (Guback 1969, 126-134).

5.

Orientierungsschwierigkeiten: „runaway production" und Autoren-Kino

Gerade als durch den Zusammenbruch der Ufa eine konkurrenzlose Situation auf dem Weltmarkt entstanden war, geschah, womit niemand mehr gerechnet hatte: Nach jahrzehntelangen Querelen wurden die Majors nicht nur des Verstoßes gegen Antitrustge-

setze für schuldig befunden. In einer Reihe von Verfahren wurden ihre Verleihpraktiken reglementiert und sie zur Aufgabe ihrer Theater gezwungen. Da die erste Entscheidung 1948 gegen Paramount erging, wurden diese Urteile unter dem Namen Paramount Decrees bekannt. Die Studios arrangierten sich erstaunlich schnell mit den geänderten Verhältnissen. Zunächst änderte sich Hollywoods Geschäftspolitik: Kontinuierliche Verluste auf der Produktionsebene hatte man immer wieder durch die hohen Gewinne der Kinos ausgleichen können. Ohne diese Einnahmen konnte man sich das nicht mehr leisten. Mit den Kinos trennte man sich daher auch von der eigenen Produktion und konzentrierte sich hauptsächlich auf den Verleih. Nur Disney war als Produzent so erfolgreich, daß er es sich leisten konnte, 1953 seinen eigenen Verleih, Buena Vista, zu gründen, um damit die neue „Freiheit" auf dem Markt zu nutzen. Die übrigen entließen feste Mitarbeiter und vermieteten Studios und Ausrüstung an unabhängige Produzenten. United Artists, wo der Verleih von Anfang an die Unternehmensstruktur dominiert hatte, entwickelte sich jetzt zu einem „Big Major". Bis 1957 waren über 50 Prozent der von den Majors verliehenen Filme unabhängige Produktionen. Ihre Verantwortung für die Produktion beschränkte sich zunehmend auf die Finanzierung. Durch die Ausweitung ihrer Geschäftsaktivitäten, finanzielle Beteiligungen in anderen Industrien und kommerzielle Nutzung ihres ausgedehnten Immobilienbesitzes, hatten sich die Majors sichere Einnahmequellen geschaffen. Mit ihren weltweiten Vertriebsnetzen verfügten sie über die Infrastruktur, um die Finanzströme auf dem Filmmarkt zu kanalisieren. Beides machte sie in den Augen der Banken unbegrenzt kreditwürdig. Deshalb gingen diese zusehends dazu über, Kredite statt an die Produzenten direkt an die Majors zu geben, denen damit die Rolle des Geldgebers zufiel: „The majors therefore became surrogates for the bankers (Wasko 1982, 119)". Warners z.B. steigerte von 1946 bis 1956 eigene Kredite von 1,5 Mio S auf über 25 Mio S im Jahr. Ein außenpolitisches Kontrollinstrument entstand der amerikanischen Filmindustrie 1946 in der Motion Picture Export Association (MPEA), eine dem Wirtschaftsministerium angegliederte Organisation, die im Ausland auf höchster politischer Ebene amerikanische Filminteressen vertritt. Oft als „Little

97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung

State Department" bezeichnet, hat sie fast den Status einer diplomatischen Vertretung, was durch die hochrangigen Politiker an ihrer Spitze unterstrichen wird. 1994 benannte sich die M P E A um in MPA (Motion Picture Association) (Augros 1996, 184 n. 2). In den nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs (und der Ufa/Ufi) 1945 sich neu entzündenden Verteilungskämpfen auf dem europäischen Markt war diplomatisches Geschick allerdings dringend von Nöten. Ähnlich wie nach dem 1. Weltkrieg versuchte die amerikanische Industrie zunächst ihre daheim bereits amortisierte Kriegsproduktion zu Dumpingpreisen abzusetzen. In zähen Verhandlungen wurden 1946 in Frankreich (Blum-Byrnes-Abkommen) und 1949 in Italien (Andreotti-Gesetz) Import-Kontingente ausgehandelt, die von Anfang an in ihrer Höhe umstritten waren und auch selten streng eingehalten wurden. Für die spätere BRD gelang es der MPEA, eine Kontingentierung zu verhindern. (Die D D R , staatsmonopolistisch nach sowjetischem Muster, spielte auf dem internationalen Markt als Abnehmer keine Rolle mehr.) Verdankte die amerikanische Filmindustrie vor dem 2. Weltkrieg ca. 35 Prozent ihrer Einnahmen dem europäischen Markt, so steigerte sich dieser Anteil in den folgenden Jahrzehnten auf über 50 Prozent. In Europa zerbrach man sich den Kopf, wie man an diesem Geschäft partizipieren könne. Aus englischen Kinos flössen ζ. B. Ende der vierziger Jahre 60 Mio S in die Kassen der Majors. Das britische Finanzministerium reagierte 1947 mit einem 75 prozentigen Einfuhrzoll für ausländische Filme, worauf die MPEA einen Boykott über England verhängte. 1948 wurde dieser Konflikt mit einem Abkommen beigelegt, wonach weiterhin 17 Mio S ausgeführt werden durften. Alle darüber hinausgehenden Profite mußten im Lande bleiben. Diese „frozen funds" flössen großen Teils in die englische Produktion und begründeten das Phänomen der „runaway production": Begünstigt durch ähnliche Regelungen in Italien und die Einrichtung staatlicher Filmförderungen in England, Frankreich und Italien, deren Vergabekriterien man durch Gründung europäischer Tochterfirmen unterlief, wurde es für die Majors immer kostengünstiger, in Europa zu produzieren. Wurden 1949 nur 19 US-Filme im Ausland hergestellt, so waren es 1969 dagegen 183 (Augros 1996, 154). London und Cinecittà bei Rom entwickelten sich

1081

zu internationalen Zentren der Filmproduktion und blieben es bis in die siebziger Jahre. In den USA sank die Produktion bis 1958 auf unter 200 Filme jährlich, bis sie schließlich alle europäischen Quoten unterschritt und auch den Inlandsbedarf nicht mehr deckte. Gefüllt wurde die Lücke mit den in Europa produzierten Filmen. Nicht von den Majors finanzierte europäische Filme hatten wie bisher kaum Chancen auf eine Auswertung auf dem amerikanischen Markt. Als Haupthindernis galt dabei die Sprache. Da Synchronisationen in den USA unüblich sind, hätten sie in der Originalsprache aufgeführt werden müssen. Runaway-Produktionen, häufig mit amerikanischen Stars besetzt, wurden dagegen nicht selten schon auf Englisch gedreht. Mit einem Vorzug allerdings konnte der europäische Film das amerikanische Publikum ungeachtet aller Sprach barrieren reizen: Er unterlag nicht dem bis in die sechziger Jahre gültigen Production Code und konnte daher das Thema Sexualität freizügiger behandeln. Abspielstätten fand er in sogenannten Art Houses, großstädtischen Kinos, die versuchten, jenseits der Majors zu operieren und teilweise eigene Verleihe gründeten, wie z. B. die Continental Distributing des New Yorker Kinobesitzers Walter Reade (Guback 1969, 73). Hier wurde Brigitte Bardot auch für das US-Publikum zum Star. Vilgot Sjömans poppige Sexsatire Ich bin neugierig (1967) oder Fellinis La dolce vita (1959) spielten mit bis zu 19 Mio S Summen ein, die bis 1990 von keinem europäischen Film übertroffen wurden (Augros 1996, 185). Versuche europäischer Verleihe, auf den US-Markt vorzudringen, scheiterten dagegen immer wieder. 1951 hatten der Verband der italienischen Filmindustrie (ANICA) und die M P E A sich darauf geeignet, aus den Gewinnen amerikanischer Filme in Italien eine Vertriebsorganisation für italienische Filme in den USA zu finanzieren, Italian Film Export. Massiver Widerstand von Seiten unabhängiger amerikanischer Verleiher beendete bereits 1954 dieses einmalige Experiment. Selbst Englands Kinomogul J. Arthur Rank, in den vierziger und fünfziger Jahren mächtigster Mann auf dem britischen Markt und europaweit als Verleiher erfolgreich, konnte sich mit seiner 1957 gegründeten Firma Rank Film Distributors of America nicht länger als 2 Jahre behaupten. Offensichtlich hatten die Paramount Decrees den Majors nichts anhaben können.

1082

XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

Obwohl (oder gerade weil) die Produktion nie wieder ganz nach Hollywood heimkehrte, konnten sie als Verleihe ihre Macht über die Jahrzehnte immer weiter steigern. Monsterproduktionen wie Cleopatra (1962) - unter Ausnutzung labyrinthischer internationaler Finanzierungsmöglichkeiten entstanden — stellten das augenfällig unter Beweis (Guback 1969, 169—170), erschöpften sich aber oft in der Zurschaustellung kostspieliger Zutaten und floppten an den Kinokassen. Die reichlich kursierenden amerikanischen Gelder ließen in Europa ein eskapistisches Genrekino blühen: Spaghettiwestern, Sandalen- und Horrorfilme illustrierten das Unterhaltungskalkül der Majors (und des Publikums). Populärste Beispiele des Kinoeskapismus dieser Jahre waren die James Bond Filme, die United Artists ab 1962 in Großbritannien herstellen ließ. Beflügelt durch die Erfolge des Autorenkinos der Nouvelle Vague und des Jungen Deutschen Films in den frühen sechziger Jahren regte sich in Europa Widerstand gegen die Abhängigkeit von internationalen Verleihstrukturen. Die Investitionen Hollywoods in Europa wurden nicht länger als Unterstützung aufgefaßt, sondern vielmehr als eine Art ästhetisches Schweigegeld. Eine Politik konsequent niedriger Produktionskosten, die sich leicht und schnell amortisieren ließen, und die Nähe junger Regie-Autoren zu den originären Interessen des europäischen Publikums sollten Auswege bieten. Wim Wenders, Hark Böhm, Hans W. Geissendörfer u. a. gründeten deshalb 1971 den Filmverlag der Autoren, dessen Verleihaktivität ähnlich wie einst United Artists nicht vorrangig profitorientiert war, sondern die Mittel für eine kontinuierliche Produktion seiner Teilhaber aufbringen sollte. Gleichzeitig entstanden sogenannte Programmkinos, die, wie die amerikanischen Art Houses, ihr Programm nicht an der Verleihpolitik der Majors ausrichteten, sondern ein Bewußtsein für die Geschichte und die ästhetischen Möglichkeiten des Mediums wecken wollten und idealiter nichtkommerziell produzierte Autorenfilme beim Erstabspiel bevorzugten. Die Utopie eines alternativen Kinomarktes währte nicht lange. 1976 mußte Richard Augstein die Schulden des Filmverlags tilgen und wurde Hauptanteilseigner. Erst nachdem jetzt das Verleihprogramm auf gehobene internationale Unterhaltung, wie etwa Truffauts Le dernier métro (1980), umgestellt wurde, gelang es dem Filmverlag der Autoren, zu einem ernstzunehmenden Markt-

faktor zu werden. Autorenfilm, Dokumentationen und das außereuropäische Kino blieben Verleihen überlassen, auch „art et éssai" genannt, die zwar eher einer Mission als ökonomischem Kalkül folgen, dabei jedoch anstatt die Marktstrukturen zu attackieren, sich geschickt in deren Nischen bewegen. Dieser Angriff war also abgewehrt und Hollywoods Position schien gesichert. Amerikanische Verleihe besorgten größtenteils den intereuropäischen Vertrieb (nur selten, wie 1955 in Spanien nach einem Boykott der MPEA, ernstlich durch staatliche Kontrollen gehindert). Ihre Unkostenvergütung hatten sie in den sechziger Jahren (zumindest in den ersten Wochen nach Kinostart) von durchschnittlich 30 Prozent der Kinoeinnahmen auf bis zu 70 Prozent heraufgeschraubt (je nach Erfolg eines Films wurden diese Konditionen während seiner Laufzeit modifiziert). Da sie darüber hinaus, damals wie heute, vor der Erstattung ihrer eigentlichen Unkosten, eine 30 prozentige Kommission erhielten und die Rückzahlung der von ihnen gegebenen Kredite absolute Priorität gegenüber allen anderen Verbindlichkeiten besaßen, gingen die Majors kaum noch ein nennenswertes Risiko ein (Augros 1996, 172—174). War ein Film tatsächlich erfolgreich, bei der Größe ihres Angebots statistisch viel eher wahrscheinlich als bei kleineren Konkurrenten, profitierten auch sie als erste. In der von mühseligen Kofinanzierungen, staatlichen Subventionen und einer stärkeren Position der Kinos geprägten europäischen Situation spielte der Verleih eher eine dienende Rolle (auch hier hat sich seitdem wenig geändert). Europäische Verleihe mußten oft eine Unzahl von Finanziers vertraglich koordinieren, um die Realisierung eines Filmprojekts überhaupt zu ermöglichen. Außerdem waren sie nicht subventionsberechtigt, obwohl aus ihren speziellen steuerlichen Belastungen Subventionen finanziert wurden (Bonneil 1978, 218). Hier wurde allerdings Ende der achtziger Jahre mit einem EU-Förderprogramm, E F D O (European Film Distribution Office), Abhilfe geschaffen.

6.

The last picture

show: Bilderfluten

und Geldströme Ungefähr zeitgleich mit den Paramount Decrees etablierte sich ein neues Medium, das den Markt für die Ware Film mindestens genauso beeinflussen sollte: das Fernsehen. Sein

97. Der Filmverleih in seiner geschichtlichen Entwicklung

Einfluß auf das Freizeitverhalten machte sich ab den fünfziger Jahren in einem starken Rückgang der Besucherzahlen im Kino bemerkbar, weshalb die Filmindustrie den Bildschirm zunächst ausschließlich als Konkurrenz begriff. Nur B-Firmen wie Monogram und Republic in den USA nutzten das Fernsehen von Anbeginn als neuen Absatzmarkt — die Majors und auch die europäischen Verleihe versuchten, es zu boykottieren. Ziemlich bald war allerdings klar, daß bei ständig zunehmenden Sendezeiten kein Fernsehprogramm ohne den Rückgriff auf Kinoproduktionen zu bestreiten war. Für das Publikum wurde angesichts des billigen Unterhaltungsangebots zu Hause der Kinobesuch zum singulären Ereignis, das immer neue Sensationen (neue technische Verfahren, gigantische Budgets, skand al trächtige Stars) bieten mußte. Ältere Filme hatten somit k a u m noch Chancen auf eine Zweitauswertung im Kino und man entäußerte die Fernsehrechte gleich en bloc. Bis 1958 hatte Hollywood ca. 3.700 Filme aus der Zeit vor 1948 für etwa 220 Mio S verkauft. Eine erfreuliche Bilanz für die Studios, das eigentliche Geschäft aber machten Zwischenhändler wie Leo Kirch, der in dieser Zeit die Grundlagen für sein Imperium legte. Warner wurde in den sechziger Jahren sogar von seinem Hauptabnehmer Seven Arts übernommen. In den sechziger Jahren gestaltete sich die Ausstrahlung neuerer Kinoproduktionen zum spektakulären Fernsehereignis: 1966 z.B. lockte Bridge on the River Kwai 60 Mio USZuschauer vor die Geräte und war ABC 2 Mio S wert; für die Senderechte von Cleopatra zahlte derselbe Sender angeblich 5 Mio $. Selbst Kinomißerfolge erwiesen sich als taugliche Wohnzimmerunterhaltung und die Preise für die Rechte einzelner Filme stiegen. Fernsehverkäufe wurden allmählich f ü r den Verleih zu einem wichtigen Nebenmarkt und bis 1974 machten die Einnahmen aus dem Fernsehgeschäft ca. 40 Prozent des Umsatzes der US-Filmindustrie aus (Guback 1978, 521). Ständig wachsende Produktionskosten und niedrige Besucherzahlen hatten die Marktrisiken andererseits so gesteigert, daß sich die Filmindustrie in den sechziger Jahren neu strukturierte. Die meisten amerikanischen Studios/Verleihe flüchteten unter das D a c h von Konglomeraten, die durch ihre stabilen Gewinne in anderen Branchen mögliche Verluste der Filmindustrie ausgleichen konnten (Wasko 1982, 150-151). Außerdem Schloß man sich für den Auslandsverleih zu

1083

Joint-Ventures zusammen: Mit United International Pictures (UIP) entstand in den achtziger Jahren der größte Verleihriese, an dem Paramount, Universal und M G M / U A (United Artists war 1981 von M G M aufgekauft worden) beteiligt sind, und der 1991 Betriebskosten von 60 Mio $ verschlang. (Augros 1991, 181) Mit dieser geballten Kraft sind ganz neue Kinokampagnen möglich: Große Blockbuster-Produktionen können in den USA mit mehreren Tausend Kopien gestartet werden und danach weltweit, Land für Land, durch die Kinos gepeitscht werden. Die Verleihmargen in den ersten Wochen stiegen auf bis zu 90 Prozent, die Amortisationsspannen haben sich enorm verkürzt, die Gewinne vervielfacht. Allerdings spielen nur noch wenige Filme ihre Kosten in den Kinos ein. Seit den frühen achtziger Jahren, mit Aufkommen neuer Privat-, Kabel- und Pay-per-view-Fernsehkanäle und vor allem dem Verkauf und Verleih von Videokassetten, haben die sogenannten Nebenmärkte dem Kino als Abspielstätte den Rang abgelaufen. U m seiner Aufgabe einer optimalen ökonomischen Auswertung der Ware Film im Interesse aller an der Finanzierung Beteiligten nachzukommen, m u ß der Verleih, und ganz besonders der kleine, europäische, heute eine ganze Palette von Medien in Erwägung ziehen — zumal auch die Programmkinos mehr und mehr mit den Majors zusammenarbeiten und die Lein wandzeit ganzer Länder durch die Blockbusterkampagnen verbucht ist. Manche eigentlich fürs Kino produzierte Filme werden gleich auf dem Videomarkt oder im Fernsehen untergebracht. Selbst ein epochales Leinwandepos wie Ridley Scotts Blade Runner (1982) wurde nach einem schwachen Kinostart zunächst wieder aus dem Verleih zurückgezogen. Erst Fernsehausstrahlung und Videoverkäufe ließen ihn einem ständig wachsenden Publikum zum Begriff werden, das ihn schließlich auch im Kino sehen wollte. Die Epoche des klassischen Filmverleihs ist damit beendet, denn die „physical distribution", d. h. die Belieferung von Abspielstätten, hat ihren Stellenwert für die Verbreitung lebender Bilder eingebüßt. Der Titel von Peter Bogdanovichs elegischem Abgesang auf das (amerikanische) Kino als konkreten, sozialen Ort, The last picture show (1971), steht auch f ü r dessen Verlust an ökonomischer Bedeutung. D o c h der physische Aspekt des Filmgeschäfts war stets fadenscheinig. „Nothing

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

tangible changes hands throughout the whole transaction", schrieb bereits Mae Huettig (Huettig 1944, 113). Gehandelt wird hauptsächlich mit Rechten und das eigentlich Materielle, die Filmkopie, wird häufig nach Ablauf der Lizenz vernichtet, um eben diese Rechte zu schützen. (Vor Einführung des Filmverleihs dagegen war mit dem physischen Zerfall des Filmstreifens auch jeglicher Handelswert verfallen.) Im Zeichen elektronischer Medien beginnen sich auch die letzten materiellen Reste zu verflüchtigen und der Verbreitung audiovisueller Unterhaltung sind in Raum und Zeit keine Grenzen mehr gesetzt: Jeder Bildschirm auf der Welt kann zur Abspielstätte werden, physischer Verschleiß ist praktisch ausgeschlossen. Als die amerikanische Wirtschaft in den achtziger Jahren wieder massiv den „urge to merge" verspürte, wurden die Major-Studios zu Bestandteilen internationaler MedienKonzerne, die über Bücher, Zeitschriften, Musik bis hin zu Film, Fernsehen, Videokassetten und Computerspielen alles produzieren und vertreiben können. Aufgabe des Filmverleihs ist es, unter den zur Verfügung stehenden Hard ware-Varían ten auszuwählen und für das von ihm zu vermarktende Produkt zu nutzen. (Nach kurzer Zurückhaltung in Sachen Theaterbesitz haben die Majors auch schon lange wieder angefangen, Kinos zu erwerben.) Die eingespeisten Bilderfluten generieren immer leichter Geldströme, zumal im Zeitalter der Digitalisierung Informationen jeglicher Art — Telekommunikation, Unterhaltung und auch Geld - auf denselben Datenhighways reisen. Von der Ware Film als Software zu sprechen, ist mittlerweile mehr als eine bloße Metapher.

7.

Literatur in Auswahl

Augros, Joël, L'argent d'Hollywood. Paris 1996. Bächlin, Peter, Der Film als Ware. Frankfurt a. M. 1975 [Ί945], Balio, Tino, Stars in business: the founding of United Artists. In: The American film industry. Hrsg. von Tino Balio. Madison 2 1985, 153-172. Bonnell, René, Le cinéma exploité. Paris 1978. Film centre, The film industry in six European countries. Paris 1950. Guback, Thomas, The international film industry: Western Europe and America since 1945. Bloomington/London 1969. Guback, Thomas/Dennis J. Dombkowski, Television and Hollywood: economic relations in the 1970's. In: JB 20, fall 1976, 511-527. Huettig, Mae D., Economic control of the motion picture industry. A study in industrial organization. Philadelphia 1944. Jason, Α., Handbuch der Filmwirtschaft. Berlin 1930. Kepley, Vance, Jr., The origins of Soviet cinema: a study in industry development. In: Inside the film factory. New approaches to Russian and Soviet cinema. Hrsg. von Richard Taylor/Ian Christie. London/New York 1991, 6 0 - 7 9 . MacCann, Richard Dyer, The first tycoons. Metuchen/London 1987. Minney, R. J., Talking of films. London 1947. Staiger, Janet, Combination and litigation: structures of U.S. film distribution, 1896-1917. In: Cinema Journal XXIII/2, winter 84, 4 1 - 7 2 . Steinbock, Dan, Triumph and erosion in the American media & entertainment industries. Westport/ London 1995. Wasko, Janet, Movies and money. Financing the American film industry. Norwood, New Jersey 1982. Weinwurm, Edwin H., Der Filmverleih in Deutschland. Diss. Würzburg 1931.

Carsten Fedderke, Berlin

(Deutschland)

98. Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung 1. 2. 3. 4. 5.

Einführung Epochen der Kinogeschichte in Deutschland Das Kino der Illusion Sonderfälle Literatur

1.

Einführung

Das Kino gehört zum Inbegriff der Modernität und des Großstadtlebens im 20. Jh. Wäh-

rend die elektronischen Medien den Raum der Wahrnehmung zerstreuen und individualisieren, ist das Kino einer der letzten (Medien-)Räume, die Zuschauer zur gemeinsamen Rezeption an einem Ort zusammenführen. Die Geschichte des Kinos ist die Geschichte eines besonderen Raums, der kunstvoll inszeniert wird. Die Kinoarchitektur spiegelt stärker als das Theater die Moden,

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98. Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung

den Zeitgeschmack, die Ideologie und die Zukunftsvisionen der jeweiligen Epoche. Vor allem aber stellt das Kino im Innenraum wie in der Außenfassade das aus, was auf der Leinwand gezeigt wird: eine Choreographie, eine Architektur des Lichts. Nicht die gesellschaftliche Repräsentation, ein Bildungsanspruch oder Erbauung stehen, wie beim Theater, im Mittelpunkt des Besuches, sondern die Zerstreuung durch die Welt der bewegten Bilder. Dennoch wird bereits in der Frühzeit um 1900 versucht, im Begriff 'Kinematographien-' oder ' Lichtspiel-Theater' die Seriosität des Theaters auf die neuen Gebäude zu übertragen. Im Gegensatz zum Theater, der Konzerthalle, dem Panorama und dem Warenhaus bringt das Kino nur vereinzelt einen eigenständigen Bautyp hervor (Bignens 1988, 21). Der Grund liegt nicht zuletzt darin, daß Kinos im Gegensatz zum Theater fortwährend umgebaut und modernisiert werden. Die wenigsten Kinos sind freistehende Zweckbauten. Eher bildet sich mit der Zeit aufgrund der Anforderungen des Tonfilms und der Ästhetik des Kinointerieurs ein eigenständiger Kinosaaltyp heraus. Die Geschichte des Kinos wird erst seit den sechziger Jahren als Kulturgeschichte begriffen, als die Bedeutung des Fernsehens (und das damit einhergehende Kinosterben) zunimmt. In der Pionierzeit des Kinos gibt es kein Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung. Eine Nachfrage nach schriftlichen Werken zum Kino entsteht erst ab 1910, als das Kinogewerbe seßhaft wird. Diese Monographien wenden sich in erster Linie an Architekten und Unternehmer, die einen Kinobau planen (Bode 1957; Eßmann 1957; Gabler 1950; Grau 1977; Meloy 1916; Sexton/Betts 1977). Im besonderen geht es hier um Fragen der Rentabilität, des Standortes, der Gestaltung und der technischen Infrastruktur (Projektion, Klimatisierung, Bestuhlung, Beleuchtung, Lichtreklame). Als eine der ersten Publikationen erscheint 1914 Hans Schliepmans Schrift über Lichtspieltheater. Sie dokumentiert, daß sich das Kino zur großstädtischen Bauaufgabe entwickelt. Schliepmann stellt als einer der ersten eine Typologie der Kinos nach architektonischen Gesichtspunkten auf. Erst ab 1960, als mit dem Aufkommen des Fernsehens das Kinosterben beginnt, wenden sich Publikationen nicht nur an Architekten, sondern auch an ein an der Geschichte der Kinokultur interessiertes Publikum (vgl. Baacke 1982; Bignens 1988, 21 ff.; Hall 1961; Sharp

1969, Lacloche 1981; vgl. außerdem der Literaturüberblick in Fischli 1990, 164—166). In den letzten Jahren werden vor allem regionale Kinogeschichten verfaßt.

2.

Epochen der Kinogeschichte in Deutschland

2.1. Die Frühgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg Anders als der Theaterbau, dessen Raumgestaltung sich bis ins 20. Jh. an architektonischen Vorgaben aus der Antike orientiert, ist der Film in seinen Anfangen ein Medium, das abgesehen von einfachsten Projektionsbedingungen keinen fest definierten Raum voraussetzt. Man benutzt zunächst Veranstaltungsorte, die der Zerstreuung dienen und sich für Wanderkinos eignen. Aufführungsorte sind Schaubudenkinos in Zelten auf dem Jahrmarkt oder Zirkus-Kinematographen, die schon bald ein hohes Ausstattungsniveau erreichen (Circus Althoff). Wichtigster Aufführungsort aber ist das Varieté, in dem schon die Gebr. Skladanowsky die ersten Filme vorführen (Varieté Wintergarten, Berlin; ApolloTheater, Berlin). Zu ihrer technischen Einrichtung gehören meist Projektions-Leinwände, sogenannte 'Shirtings' (vgl. Gabler 1950, 4f.; Baacke 1982,11-20). Ab 1905 beginnt eine Kinogründungswelle, die vor allem im Arbeiterviertel Berlins sog. Ladenkinos, die 'Kintopps' (in England 'Nickelodeon' genannt), an ausgewählten Standorten aus dem Boden schießen läßt (vgl. Bode 1957, 3 0 - 3 3 ; Gabler 1950, 61; 108 — 111). Diese volkstümlichen Kinos in umgewandelten Parterre-Ladenräumen entwickeln schnell einheitliche Schemata, die auf baupolizeilichen Vorschriften beruhen, bevor diese 1912 in der Preußischen Lichtspieltheaterverordnung zur Festschreibung kommen (vgl. Bode 1957, 69-86). Besteht zunächst noch die Möglichkeit, den Bildwerferraum im Saal entweder in einem Verschlag oder offen unterzubringen, so muß er nun im Regelfall aufgrund der Feuergefahrlichkeit des Filmmaterials entweder an der Straßenseite oder hofseitig der Feuerwehr zugänglich und ohne direkten Zugang zum Saal ausgeführt sein. Vor der Leinwand steht im allgemeinen ein Klavier, etwas später wird oft schon ein kleiner Orchesterraum mit einer niedrigen Brüstungswand gegen die Platzreihen abgeschirmt. Wenige Jahre gehört auch noch ein Lesepult für den Sprecher oder Erklärer des

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XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

stummen Bildablaufs zur Einrichtung des Lichtspieltheaters. Bei den meisten Ladenkinos entspricht die Front der Schmalseite des Zuschauerraums. Sie übernimmt die Funktion der Reklame und des Zuganges (Bignens 1988, 35ff.; Bode 1957, 87-89). Es entstehen verschiedene Grundtypen von Kinos: die Normalkinos, Doppel- oder Doppelladenkinos (zwei Säle und eine trennende Leinwand, dabei eine mit seitenverkehrter Projektion) und sog. Winkelkinos mit Spiegelprojektion um die Ecke (Baacke 1982, 21 f.; Bechtold 1987, 139f.). Etwa ab 1909 vollzieht sich der Schritt vom Ladenkino zum Saalbau. Lichtspielsäle entstehen durch Umbau von Räumen, die zuvor anderen Zwekken dienten (Ball- und Konzertsäle, Markthallen u. a.). Ein gehobenes Publikum etabliert sich. Innenarchitektonisch wendet man sich dem aufwendig gestalteten Zuschauerraum zu, mit ägyptisierenden Portalen, Marmorpanelen, Spiegeln u. a. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstehen eigenständige Lichtspielhäuser, die meist in Geschäftshauskomplexe eingebunden werden. Die Fassade dient zunehmend der Großplakatwerbung. Das Cines-Theater in Berlin (1912/13, Architekt: Oskar Kaufmann) ist das erste freistehende Kino, das sich durch seine Fensterlosigkeit auszeichnet (Baacke 1982, 30; Hänsel/Schmitt 1995, 8f.). Das Dekor übernimmt nun eine wesentliche ästhetische Rolle. Je mehr der Film an kulturellem Stellenwert gewinnt, lehnt sich die neue Kinoarchitektur enger an die traditionelle Theaterarchitektur an. Hinzu tritt eine auskomponierte Lichtinszenierung. 1912 entsteht unter dem Architekten Hugo Pài eine 'Kinohaussensation': das mit weißem Marmor verkleidete 'Marmorhaus' in Berlin, das bis in die dreißiger Jahre als eines der bekanntesten und extravagantesten Uraufführungstheater gilt. Die Verwendung moderner Bautechniken (Eisenskelett- und Eisenbetonbau) ermöglicht die freie Disposition des Raumes sowie die Optimierung der Sichtbedingungen, da Ränge durch keine Pfeiler mehr verstellt werden. Vor allem der Stahlskelettbau findet bei den Kinos Verwendung. Sein Vorteil liegt unter anderem in der Option für einen späteren Umbau. Gleichzeitig wird damit einem Sicherheitsbedürfnis entsprochen, das wegen des leicht entflammbaren Nitratfilm-Materials bestand. Für die Baugeschichte dieses jüngsten Theatertyps war von großer Bedeutung, daß unmittelbar zuvor die grundlegen-

den Reformen im Theaterbau aufgrund zahlreicher Brandkatastrophen (u.a. der Ringtheaterbrand in Wien und der Brand des Iroquois-Theaters in Chicago) ausgearbeitet worden waren. Eine der Konsequenzen ist die gegenüber dem alten Bühnenhaus nun stark verminderte Höhenentwicklung des Lichtspieltheaters zum Einrangtheater. Auch bei der Konstruktion der Leinwandfront hält man nicht mehr am Prinzip der Schaubühne fest. Der schwarze Rahmen um die Leinwand ermöglicht die Abblendung unscharfer Randstrahlen. Vorhang und Rahmen unterstreichen die plastische Erscheinung des zweidimensionalen Bildes, da der Bühnenrahmen zusammen mit dem Vorhang einen sich dahinter befindlichen Raum vortäuschen und der schwarze Abdeckrahmen jeden Zusammenhang mit der Fläche lösen soll (Gabler 1950, 2ff. Zur Geschichte des Kinos bis 1914 vgl. Baacke 1982, 2 1 - 3 0 ; Bignens 1988, 7 - 8 4 ; Zucker 1931). 2.2. Zwischen den Weltkriegen 2.2.1. Der Weg zum Neuen Bauen Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verfügen die Architekten nicht über die finanziellen Mittel, um Luxus-Kinopaläste zu bauen. 1917 wird die U f a gegründet, die für die Nachkriegszeit ab 1919 neben dem Emelka-Konzern die wichtigste Bauherrin für Kinoneubauten wird. Anfang der zwanziger Jahre hält der Expressionismus Einzug in die Kinoarchitektur, der sich um 1925/26 wiederum mit der 'Neuen Sachlichkeit' vermischt, die in der Nachfolge die Kinoarchitektur dominierend prägt. Es entstehen sachlich-funktionale, karge Kinobauten, die sich im Zusammenhang mit der aktuellen Architekturdiskussion um das 'Neue Bauen', die 'Neue Architektur' (Peter Behrens, Walter Gropius, Hans Poelzig, Mies van der Rohe, Bruno Taut, Hans Scharoun u. a.) herausbilden und bewußt den Bruch mit dem Architekturerbe des luxuriösen Bauens suchen (Bignens 1988, 24). Die berühmtesten europäischen Kinobauten dieser Epoche sind das 'Roxy' in Zürich, das 'Cineac' in Amsterdam und das 'Flamman' in Stockholm. Zudem entwickelt die Architekten-Avantgarde ungewöhnliche Kinokonzepte (vgl. Boeger 1993, 11 f.). Die Kinos der späten zwanziger Jahre werden durch eine ästhetische und eine technische Innovation bestimmt: (i) die Vervollkommnung einer neuartigen Lichtarchitektur

98. Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung

1087

(ii) die Erfindung des Tonfilms um 1928 und die Konzeption der Tonfilm-Theater. Riesige Kinos mit 2000 — 3000 Plätzen werden die Regel.

tribute des Kinos sind: die Qualität der Luft, der Akustik, der Sichtbedingungen, der Sessel und der Ausstattung.

2.2.2. Lichtarchitektur Lichtinszenierungen sind in den zwanziger Jahren das beherrschende Gestaltungselement in der Kinoarchitektur. Raffinierte Lichteffekte und Lichtkunst werden für das Kino sowohl im Fassaden-Design wie dessen Fortsetzung in den Innenraum unentbehrlich und zu einem zentralen Element der großstädtischen Baukunst. Der Elektroingenieur Joachim Teichmüller prägt 1926 den Begriff 'Lichtarchitektur' (neben 'Architekturlicht'). Erst das Licht könne ein Bauwerk in seiner Architektur erklären (vgl. Baacke 1982, 34 ff.). Vorbild für die Lichtarchitektur der Kinos sind der Times Square und der Broadway. Beispiele hierfür sind das 'Capitol' (Berlin 1925, Architekt: Hans Poelzig) mit großen Leuchtbuchstaben außen und mit einem von 36000 Kerzen durchfluteten Innenraum. Vor allem beim herausragenden 'Titania-Palast' wird die Lichteinwirkung als Element der Außenarchitektur eingesetzt: mit einem 24 m hohen Leuchtturm. Hier ist Licht Element der Architektur selbst. Innen wird der Raum durch zwei typische Effektbeleuchtungsarten choreographiert: Lichtvouten und Lichttransparente. Ebenso eindrucksvoll ist das Aktualitätenkino 'Cineac' in Amsterdam (1934, Architekt: Johannes Duiker), das mit einem schachteiförmigen Baukörper eine riesige Lichtreklame gegen den Nachthimmel wirft. Hans Poelzig, der auch für den expressionistischen Film 'Der Golem' (1920) die Filmkulisse entwirft, gestaltet in Berlin mit einem Strahlenmotiv in der Kuppel des 'Capitol' (1926) das Licht zu einem kinospezifischen Thema. Zudem werden die Grenzen zwischen (expressionistischem) Film und Kino durch die expressionistische Ausgestaltung des Innenraums verwischt. (Zur Geschichte des Lichts bei Panorama und Diorama vgl. Schivelbusch 1983, 202-209; Bignens 1988, 28 ff. Zur Lichtarchitektur der Kinos vgl. Baacke 1982, Flagge/Henkel/Seufert 1990, Hänsel 1995. Zu Licht und Werbung vgl. Boeger 1993, 17-19).

Um 1910 hatten die einfachen Kinos eine Holzbestuhlung. Für den hinteren Bereich setzt sich schnell eine Anrampung durch, um die Sichtverhältnisse zu verbessern. Doch schon in den zwanziger Jahren werden bequeme und leicht zu reinigende Kinomöbel von Ingenieuren entworfen. Die Glanzverchromung kommt ebenfalls in den zwanziger Jahren auf und wird in der Folge kommerziell auch in der Stahlrohrstuhl-Fabrikation ausgewertet. Der Kinosessel gehört in das Interessengebiet der Architektenavantgarde. 1925/26 entwickelten Mart Stam und Marcel Breuer erstmals Stuhlmodelle aus Stahlrohr, die gegenüber Holzsesseln als vermindert feuergefährlich und als hygienischer gelten. Heute sind diese Patentstühle für immer aus den Kinos verschwunden und durch hochgepolsterte, hochlehnige Schalenfauteuils ersetzt (vgl. Bignens 1988, 85-93).

2.2.3. Innenraum In Lehrbüchern für das Kinogewerbe wird bereits in den zwanziger Jahren die weit verbreitete Ansicht wiedergegeben, daß ebenso wichtig wie der Film selbst grundlegende At-

2.2.3.1. Bestuhlung

2.2.3.2. Belüftung Luftqualität wird nach 1900 zu einem Thema der Architektur. Die Architekten-Avantgarde der zwanziger und dreißiger zog gegen stickigen Mief düsterer Wohnverhältnisse ins Feld. Durch die Klimaanlage und die automatische Luftbefeuchtung (noch in den zehner Jahren versetzt mit Ozon und Desinfektionsmitteln) werden in den zwanziger Jahren Kinoinnenräume besucherfreundlich. Besonders der Vorführraum sollte nach der Brandschutzverordnung feuersicher sein, direkte Luftzufuhr von außen bekommen und meist an der Straßenfront eingerichtet sein — eine Bestimmung, die bis heute Gültigkeit besitzt (vgl. Baacke 1982, 20; Bignens 1988, 81; Gabler 1950, 93-104). 2.2.4. Vom Stummfilm zum Tonfilmtheater Die Kinos der zehner Jahre verfügen über kleine, ebenerdige Orchestra vor der Bildwand, die dem Klavierspieler und Bilderklärer als Arbeitsplatz dienen. Bei luxuriöseren Kinos wie dem 'Capitol' in Berlin gehören neben der modernen Orgel auch ein versenkbares Orchester zur Ausstattung, das vom Dirigentenpult aus gesteuert werden kann. Der 'Titania-Palast' in Berlin sieht Platz für 70 Musiker vor. Der Raum selbst aber ist nicht durch akustische, sondern durch Gesichtspunkte der visuellen Ästhetik bestimmt.

1088

XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

1929 werden durch die Erfindung des Tonfilms (sprechender Film) die Lichtspieltheater langsam umgebaut von 223 (1929) zu 3500 (1932) Tonfilmtheatern. Mit dem Tonfilm erhält die Raumakustik eine neue, fundamentale Bedeutung. Die Theaterräume und Dekken werden von der Bildwand aus trichterförmig nach hinten erweitert. Der Ingenieur Gustave Lyon konzipiert aufgrund von Experimenten erstmals zwischen 1925 und 1927 für einen grossen Konzertsaal in Paris, die 'Salle Pleyel', eine parabolisch gekrümmte Decke, die die Schallrückwürfe in bestimmte Richtungen lenkt. Sie macht in den folgenden Jahren in den Saal- und Kinobauten Schule. Am Grundriß und an äußerer Gestalt ändert sich dagegen wenig. Gänzlich überflüssig wird nur der Kinovorhang. Neu mußten Lautsprecher als gestalterisches Moment in den Innenraum integriert oder hinter der Leinwand platziert werden. Auffallend ist ebenso die Größe der neugebauten Kinos, die knapp 3000 Zuschauer fassen können. Eines der aufsehenerregendsten Tonfilmtheater entsteht 1928 in Berlin: das 'Universum' des Architekten Erich Mendelsohn (vgl. Schaubühne am Lehniner Platz 1981; Bignens 1988, 51-136; Gabler 1950, 3 6 - 6 0 ; Baacke 1982, 3 8 - 4 2 ; Bode 1957, 17). 2.2.5. Kinovisionen Besonders im Umfeld der Expressionisten entstehen kühne, nicht realisierte Visionen von Kino-Modellen. Bruno Taut fordert (unter dem Pseudonym 'Glas') zu einem Filmprojekt auf, in dem er selbst die Idee eines Lichtspieltheaters für liegende Zuschauer entwickelt. Von ihm stammt auch als Frühwerk das Kino 'Kottbusser Damm' in Berlin aus dem Jahre 1910. U m 1920 entwirft Wassili Luckhardt eine Kinoarchitektur in Form emporwachsender Kristalle. 2.3. Das Kino im Nationalsozialismus Mittels des Gesetzes über die Einrichtung einer vorläufigen Filmkammer kommt das gesamte Kinogewerbe mit dem 14. Juli 1933 unter direkte Aufsicht durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Die Zusammenfassung des Reichsverbandes Deutscher Filmtheaterbesitzer und dem Bund Deutscher Architekten ermöglicht eine vollkommene Kontrolle, die sich im folgenden vor allem auf die kleineren Bezirkstheater erstreckt. Architekten wie Poelzig bekommen Berufsverbot, Mendelsohn emigriert. Architektonisch orientiert man sich

am Landhausstil und an Monumentalarchitektur. Die große Form der Lichtarchitektur bleibt den Bauten der Partei vorbehalten, bei den Kinos darf sie nur in bescheidenem Umfang erfolgen, um die Wirksamkeit der Massenkundgebungen nicht zu schwächen (vgl. Hänsel/Schmitt 1995, 15-17). 2.4. Das Kino von der Nachkriegszeit bis heute In Deutschland werden im Zweiten Weltkrieg viele Kinos zerstört. Während 1942 7042 Kinos in Betrieb sind, können nach dem Zusammenbruch nur noch 1150 Lichtspieltheater bespielt werden. In den fünfziger Jahren werden zunächst viele neue Kinos gebaut. Nicht mehr Prunk und Dekor herrschen vor, sondern sachliche Zweckmäßigkeit und Größe in der sog. Kastenbauweise. Der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Farbfilm erobert die Kinos, die in der Folge ihren Innenraum farblicher ausgestalten. Breitwand-, 3DFilme und panoramische Verfahren (erste dt. Cinemascope-Vorführung 1953 in Frankfurt) erfordern eine Umgestaltung der Kinos, um die volle Breite der Leinwand zu ermöglichen. Die Konsequenz: Ausgänge liegen nicht mehr seitlich von der Leinwand, die Sitzreihen müssen überhöht, nicht mehr 'auf Lücke' angeordnet werden (vgl. Bode 1957, 19-20). Das Fernsehen wird Ende der 50er Jahre zu einem ernsthaften Konkurrenten des Kinos. Die Besucherzahlen gehen nach ihrem Höhepunkt im Jahre 1956 kontinuierlich zurück und verzeichnen in den 60er Jahren dramatische Einbrüche. Man spricht vom 'Kinosterben'. So wie in der Frühzeit Läden in Kinoräume, werden jetzt Kinos zu Supermärkten umgewandelt. Große Kinopaläste haben in dieser Zeit wenig Chancen. Zwei entgegengesetzte Lösungen, das Kinosterben aufzuhalten, bieten sich an: (i) quantitativ durch Verkleinerung: in den siebziger Jahren wird aus den USA die Idee des durchrationalisierten Kinocenters eingeführt, große Säle werden in sog. 'Schachtelkinos' unterteilt ('Kino-Zellteilung'). Der Vater des deutschen Schachtelkinos ist Heinz Riech. Das statistische Durchschnittskino reduziert seine Sitzplatzzahl von 404 (1972) auf 252 (1981). Das System der Schachtelkinos ergänzt sich mit der sog. Blockbuster-Strategie der Verleihfirmen: Mega-Budget-Filme durchlaufen mit der Zeit verschiedene Kinogrößen. Eigens für die Kinocenter wurde in den USA eine sog. Telleranlage entwickelt,

1089

98. Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung

um die pausenlose Vorführung mit nur einem Projektor zu ermöglichen (automatisierte Projektion). (ii) qualitativ durch Einführung neuer Techniken, die dem Fernsehen weit überlegen sind, allerdings wiederum Großkinos erfordern. Hierzu zählen die Super-Breitwand, das Dolby Stereo- und THX-Sound-System sowie die 'Cinemiracle'-Projektionstechnik mit drei simultan laufenden Projektoren auf einer riesigen, konkav gewölbten Leinwand (Bechtold 1987, 159). Hinzu treten Entwicklungen neuartiger Kinotypen, um einerseits die Provinz (Kinomobil), andererseits die neue Mobilität des Publikums zu bedienen (vgl. 4.). In Frankreich und USA werden schon in den achtziger Jahren riesige Kugelkinos gebaut, die neue Wahrnehmungsweisen im 360 GradVerfahren erlauben. Im Mai 1986 wird im Pariser Parc La Villette das hypermoderne 'Géode' eröffnet: eine Kugel im Durchmesser von 36 Metern aus poliertem Edelstahl und 1000 qm Leinwand im Innern. N u r in Montreal und Orlando entstehen größere Kugelbauten. 1986 wird in Deutschland von der Filmförderungsanstalt der Wettbewerb 'Das Kino von morgen' ausgeschrieben (vgl. Flagge/Henkel/Seufert 1990), der in verschiedenen Entwürfen ein neues Konzept der audiovisuellen Kommunikation entwirft: verschiedene Kinos werden in einen Gebäudekomplex eingelassen, das eine Art Kinosystem wird. Die sog. Multiplex-(MultisaalKomplexe-) Kinos, erstmals Ende der sechziger Jahre von der amerikanischen Gesellschaft A M C aus Kansas City gebaut und Ende der achtziger Jahre über England nach Deutschland importiert, beherbergen mehrere unterschiedlich große Kinos (in der Regel etwa 8 Kinos mit ca. 1500 Plätzen). Entscheidend dabei ist der Anspruch höchsten Niveaus der Technik. Multiplex-Kinos verstehen sich als Kommunikationsraum des Sehens, als 'Erlebnis-Center' mit einem weitgefächerten Freizeit- und Gastronomieangebot. Eines der berühmtesten der ersten Jahre: das 'Kinopolis' in Brüssel. Das erste in Deutschland wurde 1990 in Hürth eröffnet (vgl. Bahr, 1995; Pätzold/Röper 1995). 'Futuroscope' ist ein gigantischer Medienpark nahe Poitiers/Frankreich, in dem futuristische Architektur und Kino eine einzigartige Symbiose eingehen. Er enthält die größte Bilderwand der Welt, bestehend aus 850 Monitoren. Diese Illusion der 'Teilnahme' am Geschehen in einer ganzheitlichen, holisti-

schen Wahrnehmung erzeugt auch das IMAX-System mit 35 cm (I)-Negativen und Sensurround-THX-Verfahren, gebaut in Kinos in der Höhe 5-stöckiger Wohnhäuser, mit steil ansteigenden Sitzen vor riesiger Leinwand. In sog. 'Cinémas Dynamiques' werden die Kinostühle zu den Bildern hydraulisch bewegt. In Z u k u n f t plant m a n sog. 'Full Entertainment Centers', mit Spielhallen, Kinos, Fastfood-Ketten, Musik- und Videoläden.

3.

Das Kino der Illusion

3.1. Kinonamen Kinematographentheater heißen zu Beginn Lichtspiel-77ieato', Lichtpalasi, Lichtòwrg. Im besonderen konzentrieren sich in den Kinonamen die Träume von Illusionen der Besucher. In der Frühzeit des Kinos beschreiben die Namen der Illusionsstätten exotische ('Aladdin', 'Aztec', 'Babylon', 'Chinese', 'Orient', 'Pagode'), paradiesische ('Eden', 'Elysium'), touristische ('Riviera', 'Rivoli', 'Tivoli') oder gar außerirdische Zufluchtsorte ('Kosmos', 'Universum'). Daneben verleihen die Namen antiker Götter und Kultstätten dem jungen Medium seine fehlende Verankerung in der Vergangenheit ('Apollo', 'Olympia', 'Capitol', 'Colosseum', 'Odeon', 'Olympia', 'Forum'). Namen, die mit hohem Ansehen verbunden sind, sollen das Niveau des Kinos aus der Kultur des Alltags heben ('Ambassador', 'Astoria' nach dem weltberühmten von Jacob Astor gebauten WaldorfAstoria-Hotel in New York, 'Elite', 'Embassy', 'Empire', 'Excelsior', 'Imperial', 'Majestic', 'Maxim', 'Regent', 'Rex', 'Royal', 'Scala' nach der Mailänder Oper). Heute suggerieren Kinonamen Großstadtabenteuer ('Broadway', 'City', 'Corso', 'Metropolitan', 'Piccadilly', 'Roxy' nach dem amerikanischen Showbusiness-König S. L. Rothafel) (vgl. Bignens 1988, 31 ff.). 3.2. Kinobauten der Illusionstheater: England und USA In England imitiert man im Kinobau andere Ausstattungstypen als in Deutschland: das Kino als vornehmes altenglisches Herrenhaus (Regal Cinema, Staudsworth; Tudor Cinema, Kings Heath), als englisches Landschloß (Empire Cinema, Aldershot) oder als typisch klassizistische Hoftheaterfassade (Capitol Cinema, Epson) (vgl. hierzu Eyles/Skone 1984; Field 1974; Sharp 1969; Zucker 1931). Die Filmgesellschaften in den U S A investieren in den zwanziger Jahren verstärkt in Kinos. Das

1090

XXII. Geschichte des Films und seiner Erforschung II: Produktion und Distribution

amerikanische Filmtheater wandelt sich zum exotischen Filmpalast. Marcus Loew, MetroGoldwyn-Mayers Kinomogul, sagt: „We seil tickets to theaters, not movies." Zwei Bautypen kristallisieren sich heraus: das StandardKino (eine exotische Version des Opernhauses oder kleinen Theaters) sowie die sog. 'atmosphere theatres'. In dieser Zeit wird der Begriff '(Film)theatre' für das Kino ersetzt durch '(Motion Picture) palace' (Pildas/Smith 1980, 17 ff.). Bekanntester Architekt des Standard-Kinotyps ist Thomas W. Lamb. Er war der führende Architekt für Metro-Goldwyn-Mayer, der in den zwanziger Jahren ein gigantisches Netz an Filmtheatern bauen läßt. Unter Lambs Führung entstehen in den USA über 3000 monumental-repräsentative Filmtheater im neoklassizistischen Stil. Unübersehbar ist der palladianische Einfluß auf seine frühe, an Säulen, Bögen und Kuppeln reiche Architektur. Fast schlagartig wechselt Lamb Mitte der zwanziger Jahre zum italienischen Barock und dem Stil Louis XIV. in einer übertriebenen, dem Rokoko vergleichbaren Manier. Nach 1929 erlag Lamb persischen, hinduistischen, chinesischen und spanischen Inspirationen. Die europäische Exotismus-Mode des 19. Jhs. wird im amerikanischen Kino kopiert. Dieser neue Trend zu exotischer Architektur beginnt mit den archäologischen Entdeckungen 1922 in Ägypten. Die große Halle von Karnak oder der Kopf des Tutenchamun beflügeln die Phantasien der Kinoarchitekten. Ungeheure Wandelhallen als Foyers dienen der Prachtentfaltung. Mit allen Mitteln wird die Illusion angestrebt, daß man sich nicht in einem Aufenthalts- und Verkehrsraum für großstädtische Massen befinde, sondern in den Empfangsräumen einer fürstlichen Residenz. Der Architekt John Eberson gilt als Erfinder des 'atmosphere-theatre'. Ebersons Baueskapismus hat den USA Kinos in Form italienischer Gärten, spanischer Patios, persischer Paläste (Avalon-Theater in Chicago) und ägyptischer Tempel beschert, perfekte Inszenierungen aus Licht, Farbe und Architektur. Die 'atmosphärischen Kinotheater', die später vor allem in England nachgeahmt werden, bilden vor allem den Innenraum nach architektonischen oder landschaftlichen Motiven aus, die als plastische Kulisse in Erscheinung treten (Loew's Theatre, Louisville; Riviera Theatre, Omaha), als spanische und türkische Städte (Avalon Theatre, Chicago) vermeintliche florentinische Renaissance-Ar-

chitekturen, Ruinen etc. Hinter und über diesen ist die Decke des Theaters als Kuppelhimmel mit glatter Unterfläche in Beton ausgeführt, der die Illusion eines freischwebenden Himmels erzeugt. Auf diesen Kuppelhorizont werden je nach Bedarf Wolkenzüge, Sternenhimmel o. ä. in Bewegung projiziert, um beschleunigt einen ganzen Tagesverlauf zu imitieren (ζ. B. Palace Theatre, Kanton). Die Zeit(raffer)dramaturgie des Films soll sich in den Kinoraum fortsetzen (zu Eberson vgl. Bignens 1988, 54; Zucker 1931). Die amerikanischen Stilimitate reflektieren auf verschiedene Weise die Kinematographie, die Vergangenes und Entferntes zur Darstellung bringt. Zu den berühmtesten Illusionstheatern gehören das Mayan-Kinotheater in Los Angeles (1927), das einer verzauberten Maya-Ruine in Yucatan gleicht. Exotistisch-monumental entwirft 1927 Sid Grauman das Chinese Theatre in Hollywood mit Pagoden-Balkons, silberfarbenen mit Bäumen und Vögeln ornamentierten Wänden, roten Lederstühlen mit phantastischen Blumenmustern (vgl. Endres/Cushman 1992). Samuel Lional Rothapfel, genannt 'Roxy', eröffnet 1927 das Roxy in New York, mit über 6000 Plätzen, ausgestattet mit Kristallüstern, Gold und Marmor, einem Orchestergraben mit riesiger Wurlitzer-Orgel. Rothapfels Erfolg gründet auf dem Rezept, dem Massenpublikum Komfort und Prunk zu bieten. Neuartig ist der begleitende luxuriöse Service, mit dem geworben wird, u.a. eine Krankenstation. Große Theater wie das 'Roxy' haben ihr uniformiertes Personal, das die Zuschauer und Gäste betreut, bis hin zu livrierten Bediensteten, die die Gäste schon beim Aussteigen auf der Straße in Empfang nehmen. Die Kinofront zeigt sich charakteristisch in den sog. 'Frontleuchtern', riesigen, bis 15 Meter hohen, schmalen, im rechten Winkel zur Fassade gestellten Leuchttransparenten mit Wanderlichtbuchstaben. Sie überragen oft die Giebelhöhe und beziehen ihre Wirkung aus der Perspektive der typisch amerikanischen Straßenfluchten. Ein solches senkrechtes Lichtband zieht die Aufmerksamkeit der Passanten schon kilometerweit auf sich (vgl. Zucker 1931). Ende der zwanziger Jahre verdrängt die Art-Deco-Architektur die barocken und die exotischen Kinoneubauten (Architekten: S. Charles Lee, Timothy L. Pflueger) (vgl. Naylor 1981, 162-174). Die große Zeit des Kinotheaters in den USA geht in den fünfziger Jahren zu Ende. Wie in Europa dominiert nun der funktionale Ge-

98. Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung

1091

danke. Dazu gehört unmittelbar in den sechziger Jahren der Tod der historischen Kinopaläste. Die 'Radio City Music Hall' und Graumans 'Chinese' werden wie viele andere zerstört oder umgewandelt. Ende der achtziger Jahre entstehen die sog. 'Multiplex-Kinos' (vgl. Kap. 2.4.), oft im Design von Hightech oder in kopierten Filmausstattungen berühmter und erfolgreicher Filme (etwa das Star-Wars-Design der Lloyd-Cinemas, Portland 1986). Zur Kinogeschichte der USA vgl. Flagge/Henkel/Seufert 1990; Naylor 1981, 31-176; Naylor 1987; Pildas 1980.

Baacke, Rolf-Peter, Lichtspielhausarchitektur in Deutschland. Von der Schaubude bis zum Kinopalast. Berlin 1982.

4.

Bignens, Christoph, Kinos. Architektur als Marketing. Kino als massenkulturelle Institution. Themen der Kinoarchitektur. Zürcher Kinos 1900-1963, Zürich 1988.

Sonderfälle

Das Autokino ist eine typisch amerikanische Institution. Es handelt sich um eine Sonderform des Freiluft-(Open Air-)Kinos, die es bereits in den zehner Jahren gab. Erfolg haben Autokinos ebenso in Kanada und Australien. Das erste europäische Autokino entsteht 1957 nahe Rom, das erste in Deutschland in Gravenbruch bei Frankfurt, doch bleiben es bis Ende der sechziger Jahre nur wenige in Europa. Erfinder ist der Amerikaner Richard M. Hollingshead, Jr. Sein erstes Drive-In-Kino (damals genannt 'Automobile Movie Theatre') baut er im Jahre 1933 in Camden, New Jersey 1933. Nach zunächst mäßigem Erfolg feiern die amerikanischen Autokinos ihren größten Triumph in den fünfziger Jahren, als das Benzin noch billig ist. Ihre unglaubliche Größe erlaubt den Besuch von bis zu 3000 Autos. Autokinos sind der kinematographische Reflex auf eine ungeheuer schnelle Motorisierung und der Mobilität auf der Straße, die sich auch thematisch in Filmen niederschlägt (zu Filmhommages an das Kino vgl. Schäfer 1985, 246— 262). In seiner Erfolgszeit 1958 gibt es in den USA 4063 Autokinos, 1987 nur noch 999. Versuche der Ton Übertragung über die Autoradio-Lautsprecher können in den siebziger Jahren das Sterben dieser Kinoriesen nicht aufhalten (vgl. Meddick 1984; Segrave 1992). Exotische Untergattungen der Open-Air-Kinos entstehen etwa in Form von Fly-Ins (zuerst 1948 Asbury Park, New Jersey 1948. Architekt: Edward Brown, Jr.). 5.

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Thorsten Lorenz, Mannheim

(Deutschland)

XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen 99. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Sprache und 'Filmsprache' Filmdialog 'Sprache' im Stummfilm Sprache im frühen Tonfilm Sprache im Trivialfilm Literatur Verfilmungen Sprache in frühen Fernsehfilmen Literatur

1.

Sprache und 'Filmsprache'

Wenn in filmtheoretischen, filmästhetischen oder filmkritischen Publikationen von Sprache gehandelt wird, ist damit fast stets gemeint die filmische Artikulationsweise, die bildlich-symbolische 'Sprache' der Filme, die Montage (filmischer Satzbau, Filmsyntax) und die Bedeutung (Filmsemantik), die sich aus dem Zusammenfügen und Zusammenwirken einzelner Bilder und Bild Sequenzen ergibt. Filmtheoretiker, Praktiker und Cineasten betrachten den Film primär als BildMedium, für den Wortsprache zwar konstitutiv sein kann, wie der Ton ganz allgemein, ebenso wie Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Körperbewegung, Auftreten und Benehmen der Schauspieler, Kostüme, Dekor, Musik und andere Objekte mit konventionellsymbolischer Bedeutung, für dessen Qualität aber die Bildkomposition bestimmend ist. Für den Praktiker, den Gestalter, den Regisseur ist die Dominanz des vom Bildrahmen begrenzten Sichtbaren, die Gruppierung von Menschen und Dingen in Bewegung oder Ruhe, die Verteilung von Licht und Dunkel, der harmonisierenden oder sich bekämpfenden Farben, der Verlauf der Bewegungen der Objekte im Bild, die Wirkung der Linien und Perspektiven, das Verhältnis der visuellen zu den auditiven Bildkomponenten wichtiger als die Dialoggestaltung, weil ihm diese im Drehbuch vorgegeben ist, während die anderen Mitteilungen seiner Kreativität entspringen. Bekannte Theoretiker haben sich deshalb f ü r

die freie kontrapunktische Handhabung von Ton und Bild (Balázs) ausgesprochen; Praktiker haben die Möglichkeiten des asynchronen, d. h. des gegen den unmittelbaren Bildsinn operierenden Tons genutzt (z. B. Chaplin). Andere, wie Alexander Kluge oder Edgar Reitz betonen die zunehmende Emanzipation des Tons und insbesondere der Sprache im Film im Verlauf der Filmgeschichte. Die hohe Wertschätzung des bewegten Bildes wird abgeleitet von einer erwarteten stimulierenden und motivierenden Funktion, welche die Aufmerksamkeit von Zuschauern zu sichern scheint. Zugleich wird dem Bild bei der Aufnahme und Verarbeitung, bei der Rezeption durch den Menschen, eine Leitfunktion zuerkannt. Psychologisch interpretiert hieße das, daß die Bildinformation, die Bildmitteilung bei der audiovisuellen Kognition über den Ton, über die Wortsprache dominiere. Die Idealvorstellung ginge dann dahin, daß aller Inhalt über das Bild transportiert werden müsse. Das führt zu einer nostalgischen Verklärung des Stummfilms mit seiner gestischen 'Sprache' und der ihm eigenen Mikrophysiognomik (Balázs) oder der Sehnsucht nach dem themenlosen absoluten Film. Trotzdem hat sich der Dialogfilm durchgesetzt, ist allbeherrschend geworden. Gegenüber einer barbarischen Theatralisierung durch ein Vorherrschen des gesprochenen Worts in den frühen Tonfilmen auf Kosten der filmischen Mitteilungsmittel hat sich in weiten Teilen der Filmproduktion und vor allem in ihren anspruchsvollen Beispielen eine Praxis entwickelt, in der der Ton, damit auch der Dialog, als bildkompositorischer Faktor eingesetzt wird. 2.

Filmdialog

Die randliche Rolle der Wortsprache in der Filmliteratur macht es verständlich, daß der

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

Dialoggestaltung in Filmen bisher von dieser Seite keine Aufmerksamkeit zukam. Auch in der Linguistik ist die Dialogforschung relativ neu. Im Rahmen des Interesses an der Analyse gesprochener Sprache richtete sich die Aufmerksamkeit in den siebziger Jahren auch auf Dialoge, zunächst jedoch auf natürliche Dialoge, d. h. Dialogstrukturen in der natürlichen gesprochenen Sprache. Als Dialoge werden kommunikative Handlungen bezeichnet, die zwischen mindestens zwei Personen stattfinden. Diese müssen miteinander Kontakt aufgenommen haben, also simultan, am gleichen Ort oder verbunden durch einen technischen Kanal miteinander so in Verbindung stehen, daß sie wechselweise die Sprecherrolle bzw. die Hörerrolle übernehmen, wobei die Aufmerksamkeit auf gemeinsame, möglicherweise wechselnde Themen gerichtet ist. Jeder Dialog wird beeinflußt durch die Situation, die Dialog- oder Sprechsituation, in der er stattfindet, weiter durch die Zahl der Teilnehmer an ihm und den sozialen Status, den diese Teilnehmer aufweisen. Die Kommunikation zwischen den Dialogpartnern basiert auf bestimmten Regeln und Konventionen, auf Planungen, die unterschiedliche Gradstufen aufweisen können, auf Organisiertheit, die bis zur Formalisierung reichen kann. Während im freien Gespräch, im Dialog der gesprochenen Sprache als dem frei formulierten, spontanen Sprechen, das gekennzeichnet ist durch natürliche, nicht gestellte Kommunikationssituationen, die Organisationsweisen und die Dialogstrukturen erst mühsam über Organisationsbeschreibungen und Transkriptionen gewonnen werden können, liegt für den Film im Drehbuch die grundlegende Dialogorganisation und Dialogstruktur fest und dem Analysierenden vor. Sie muß aber mit der Realisation verglichen werden, denn sie stellt nur ein den Bereich der externen Realität repräsentierendes Zeichensystem dar, das dem visuellen Vermittlungssystem Film zugeordnet ist. Der Dialog als sprachliches Substrat des Films gehört im Konzept der Gestaltungsmaßnahmen des Films in das Zuordnungsgefüge, das das Verhältnis von Bild und Sprache in charakteristischer Weise kennzeichnet. Das Drehbuch liefert einen Plan, der Film die Realisation. Die sprachliche Vorgabe, der Drehbuchdialog, nimmt als ein beherrschendes Mittel auf diese Realisation Einfluß. Sie bestimmt weitestgehend die Vermittlung an den Zuschauer und die Interpretation durch ihn. Organisation und Sicherung des Ge-

sprächs, des Filmdialogs, beziehen sich also nicht nur auf die jeweiligen Gesprächspartner im Film, auf die Schauspieler, die innerhalb eines vorgegebenen Schemas operieren, sondern vor allem auf die Zuschauer, zu deren Information, ästhetischen und ethischen Wertgewinnung oder Emotionalisierung die Wortsprache beiträgt. Der Filmdialog ist fiktiv innerhalb des Films; er ist ein Mittel einseitiger Kommunikation mit den stumm bleibenden Filmbesuchern. (Daß sich Personen im Film direkt an die Zuschauer wenden, ist selten. Ein Beispiel wäre Ferdinand im Godard-Film 'Pierrot le fou' (1965), der sich beim Publikum über Marianne beschwert und dieser auch sagt, er spreche mit den Zuschauern.) Sein Sinn konstituiert sich nicht aus der Interaktion der im Film agierenden Personen, sondern, wie beim Theater, nur mittelbar aus der Rekonstruktion der Mitteilung, die Autor, Regisseur und alle am Produktionsprozeß Beteiligten mit der Gesamtheit der visualisierten und verbalen Interaktionsabläufe beabsichtigen. Die Sprecherbeiträge der Handelnden werden nicht kontrolliert durch spontane Bekundungen von Verstehen, Mißverstehen, Rückfragen der Kommunikationspartner außerhalb des Films. Die sprachlichen Formulierungen müssen deshalb nicht auf das von der Situation mitbedingte Verständnis des unmittelbaren Gegenübers im Gespräch, sondern auf die wirkungsvollste Übermittlung der Worte an die Filmbesucher zielen. Von diesen kann, entsprechend der Konventionen der künstlerischen wie künstlichen Kommunikationsform Film, ein bestimmtes Maß an Toleranz gegenüber momentanem Mißverständnis erwartet werden. Jeder Vorspann eines Filmes macht deutlich, daß es sich um ein Spiel handelt, daß Schauspieler agieren, ein großer Stab von Produzierenden eingesetzt war, um das Produkt zu erstellen. Spielfilm ist also eine stark selektierende, ausschnitthaft technische Repräsentation eines fiktiven Geschehens. Verantwortlich für diesen Ausschnittcharakter sind die visuellen Artikulationsformen, vor allem Einstellungsgröße, Einstellungsperspektive, Objektbewegung, Kamerabewegung, Einstellungslänge und Induktion. Die möglichen Einstellungsgrößen Detail, Groß, Nah, Amerikanisch, Halbnah, Halbtotal, Total oder Weit wirken auf den Zuschauer ein, zwingen ihn entweder zu genauem Hinsehen oder halten ihn auf Distanz vom Geschehen. Sie werden vom Filmemacher alternierend eingesetzt, um den Bildtrakt

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anschaulich zu gestalten, um Reizwechsel zu bewirken, Reizerneuerung, um das visuelle Angebot attraktiv zu machen, und vor allem die Aufmerksamkeit der Zuschauer bis zum Filmende möglichst zu fesseln. Im Zusammenspiel mit den Sprachelementen eines Films, mit dem Dialog, lassen sich für einige der genannten Einstellungsgrößen Funktionsbestimmungen vornehmen: Der Großaufnahme, mit der vor allem Köpfe, redende Köpfe, gezeigt werden, kommt eine dialogillustrierende Funktion zu. Dem Zuschauer wird ermöglicht, den Sprecher sehr genau zu beobachten, seine Mimik zu überprüfen, Ironie, Hohn oder Spott über die rein sprachlichen Kennzeichen hinaus zu erkennen. Er kann Gefühle erahnen, die noch nicht sprachlich umgesetzt sind, vorausgesetzt natürlich, daß die Schauspieler die Fähigkeit besitzen, Gefühle erkennbar und glaubhaft auszudrücken. Häufig wird die Großaufnahme dann eingesetzt, wenn sich ein Gespräch zuspitzt, wenn es an Bedeutung, an emotionaler Aufladung gewinnt, wenn die Akteure auf den Höhepunkt einer verbalen Auseinandersetzung zusteuern. Hier wirkt sie wie ein Signal. Bestimmte Dialogpartien werden hervorgehoben. Die Großaufnahme fungiert hier sowohl dialogstrukturierend wie deiktisch im Bezug auf den Dialog. Die weitere visuelle Zuspitzung in der Detailaufnahme dient der Intensivierung des Dargestellten. Sparsam eingesetzt, kann etwa das Bild der zum Schrei geöffneten Lippen oder des den Befehl 'Feuer' ausstoßenden Munds des Kommandierenden eines Erschießungspelotons ein Höchstmaß an Emotionalisierung beim Zuschauer bewirken. Der Nahaufnahme kommt wie der Großaufnahme eine gesprächsbegleitende und dialogillustrierende Funktion zu; doch ist sie von weitaus geringerer Wirkungsintensität. Anlaß dafür ist wohl die Tatsache, daß die Nahaufnahme einer unserer gewöhnlichen Sichtweisen im Alltag entspricht. Vor allem längere Redepassagen, größere Dialogblöcke, Sprecherbeiträge von drei oder mehr Sätzen werden in Nahaufnahme gefilmt. Zu Mimik tritt hierbei die Gestik, die zur Charakterisierung der sprechenden Personen wie zur Interpretation des Gesprochenen beitragen kann. Die sog. amerikanische Einstellung und die Einstellung Halbnah, die etwa den Oberkörper einer Person bzw. die ganze Person zeigen, haben vor allem handlungsbeschreibende und handlungsbegleitende Funktion.

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Charakteristischerweise sind Dialogelemente, die mit ihnen gekoppelt sind, von ganz anderer Art als die der Groß- und Nahaufnahme. Sie sind meist von geringer Bedeutung für die Handlung, haben wenig Aussagekraft, sind oft trivial, meist kurz. Die Halbtotale zeigt und beschreibt den Ort einer Handlung. Verbindet sich mit ihr Dialog, so bietet dieser meist kaum Einblick in neue Sachverhalte, sondern erzählt Ereignisse nach, deutet oder interpretiert Geschehnisse, die der Zuschauer bereits visuell aufgenommen hat. Sogar simple Wiederholungen sind üblich. Wir können also von Redundanzdialogen sprechen, die vom Zuschauer ohne größere Schwierigkeiten mit aufgenommen werden. Schließlich kann Sprechen in solchen Szenen nur noch die Funktion einer Geräuschkulisse annehmen. In weniger häufigen Fällen gibt die Halbtotale Aufschluß über die Gesprächssituation. Sie wird verwendet beim Gesprächsbeginn, um die Sprechenden vorzustellen. Sie zeigt die Figurenkonstellation an, etwa den am Kopfende des Tisches sitzenden dominierenden Sprecher, um den diejenigen versammelt sind, denen etwas mitgeteilt wird. Sie weist HerrschaftsVerhältnisse aus, wenn sie einen Beschuldigten umringt von Vernehmenden zeigt. Die Totale wird selten mit Dialog gekoppelt, eher mit Musik und Geräusch. Beide unterstützen und verstärken ihre einstimmende, stimmungserzeugende oder emotionalisierende Funktion. Die Weitaufnahme entzieht sich dem Dialog völlig. Sie eignet sich höchstens für den Monolog, etwa für Sprechertexte, die erzählend in die Filmhandlung einführen. Bei der Einstellungsperspektive besitzt nur die Abweichung von der Normalsicht Signalcharakter auch für den Dialog. Durch Untersicht können Personen als gefährlich, bedrohlich, angsteinflößend, zumindest aber befremdend dargestellt werden. Stimmt die Aussage mit diesen Eindrücken überein, so fühlt sich der Zuschauer bestätigt in seiner Einschätzung. Läuft sie entgegen, so kann Ironie, Hohn oder Ahnliches im Spiel sein, natürlich auch Unfähigkeit oder Trivialität in der Darstellung. Die Objektbewegung ist überwiegend gekoppelt mit der Einstellungsgröße. Wenn der Zuschauer etwa ein Gesicht sehr nah sieht, ohne eigentlich in ihm sehr viel zu sehen, so wird durch eine restringierte Objektbewegung die Stereotypie der Bildwirkung noch verstärkt. Das ohnehin zur Dominanz nei-

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gende Bild wird künstlich reduziert in Reiz und Ausdruckskraft. Dadurch wird aber die ungestörte Rezeption der Dialoge sichergestellt oder zumindest gefördert. Je weniger dem Auge geboten wird, um so mehr kann das Ohr aktiviert werden. Die autonome Objektbewegung kann die Dialogführung unterstützen. Schreitet oder tritt etwa eine Person auf die Kamera zu, so setzt Dialog ein, werden Dialogstellen wichtig. Der Schauspieler bewegt sich gewissermaßen wie im Theater an die Rampe, teilt den Zuschauern Relevantes mit. Die gleiche deiktische Funktion haben Schwenks, Zooms oder Kamerafahrten auf sprechende Personen hin. Sie stellen diese in den Mittelpunkt oder heraus, weisen ihre Aussagen als besonders bedeutsam, eindringlich oder wichtig aus. Trotz dieser Möglichkeiten werden Kamera- und Objektbewegungen sparsam eingesetzt, denn es gilt offensichtlich als oberstes Prinzip, dann optisch auf ein Sparprogramm umzuschalten, wenn der Sprache die eigentliche Bedeutung zukommt. Die ungestörte Aufnahme der sprachlichen Einheiten soll so wenig wie möglich gestört werden. Dieses Sparprogramm kann ignoriert werden im Bereich der Einstellungslängen. Dialogsituationen von hohem emotionalen Gehalt zeigen häufig kurze bis extrem kurze Einstellungen. Eine rasche Schnittfolge hat dann die Funktion, die eintönigen Bildmotive, das bloße Zeigen von Köpfen oder Gesichtern aufzulockern oder die Dramatik zu unterstreichen. Durch diese Art der Reizmaximierung wird die Aufnahme der Sprecheinheiten nicht gefährdet, da die Bilder redundant sind, nur Zuordnungscharakter besitzen. Zudem besitzt die Großaufnahme dialogdeiktische Funktion. Eine rasche Schnittfolge zwischen Dialogpartnern kann den Dialog in kleine, gut aufnehmbare Teile gliedern. Der weniger emotionsgeladene Dialog wird dagegen meist mit langen Einstellungen verbunden. Monologische Einheiten erfordern sie stets. Der Induktionseffekt, die Verschmelzung von Einstellungen zu einer sinnvollen Einheit, kann auch über den Dialog erfolgen. Der Sprecherbeitrag eines Dialogpartners braucht nicht mit dem Ende einer Einstellung abbrechen. Seine Wirkung kann sich im Gesicht oder im Blick des anderen Partners spiegeln. Induktiv wirkt auch ein Frage-Antwortspiel.

3.

'Sprache' im Stummfilm

Historisch geht dem Tonfilm der Stummfilm voraus. Bei ihm wird durch Begleitmusik versucht, die Handlungen der Agierenden den Zuschauern begreifbar zu machen. Bei komplizierten Handlungen interpretiert der FilmErklärer. Zwischenstation ist der Stummfilm mit eingeblendeten Zwischentiteln, die um 1907 auftauchen. Anfanglich waren diese Titel überlang. Es gab Filme, die gut zur Hälfte aus Titeln bestanden. Dann lernte man, sich auf wesentliche Aussagen zu beschränken. Die Titel wurden plakativ eingesetzt, brachten Pointierungen und Pointen, versuchten einer zugespitzten bildlich skizzierten Stimmung die letzte Intensität zu geben. Beispiel 1: Die Königin der Nacht (Creutz-FilmGes., Dresden) III. Akt, 1. Bild Freiaufnahme: Vor der Hütte der Mutter Jankos Titel: Janko hat inzwischen seine Strafe verbüßt und kehrt zurück. Janko kommt hastig und freudig erregt heran, sieht auf die Hütte und umher, atmet tief auf und eilt in die Hütte. 2. Bild Die Mutter Jankos ist beschäftigt. Sie ist alt und schwach geworden. Da tritt Janko schnell in die Hütte, ruft sie an, und schon liegt er ihr in den Armen ... Jetzt springt Janko auf und fragt die Mutter, indem er sich umsieht, wo Manditza sei. Die Mutter senkt den Kopf. Janko ist erstaunt. Er schüttelt die Mutter bei den Schultern und drängt um Antwort. Da erhebt die Mutter ihr Gesicht und sagt bitter: Titel: Geflohen ist sie — mit einem Mann — mitten in der Nacht. Die — die — Dirne. Mit stieren Augen rüttelt Janko die Mutter an den Schultern, (nach Dafcik, 1947, 4 4 - 4 6 ) Während der 1. Titel einen Zusammenhang herstellt, einen Bericht gibt, bringt der 2. eine wichtige begrifflich-inhaltliche Ergänzung, eine Erklärung, die die weitere Filmhandlung beeinflußt.

4.

Sprache im frühen Tonfilm

In der Anfangszeit des Tonfilms stehen sich zwei Dialogprinzipien extrem gegenüber. Auf

99. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films

der einen Seite gab es das verfilmte Theater, die Übernahme der unveränderten Schauspieldialoge, oft verbunden mit dem Glauben, dadurch dem Film die Anerkennung als Kunst zu verschaffen. Film wurde hier zur illustrierten Literatur. Auf der anderen Seite versuchte man, an die bewährte Titelgestaltung des Stummfilms anzuknüpfen, den Dialog in einer äußerst kondensierten Form einzusetzen. Diese Art der Dialoggestaltung kann gezeigt werden an dem Filmtext von Walter Hasenclever 'Die Pest': Beispiel 2: Die Pest. Ein Film von Walter Hasenclever (Dresden ca. 1919) 125. Bild Leblose Hand des Kranken. Lebendige Hand des Erfinders sticht mit der Spritze hinein, spritzt. 126. Bild Erfinder läßt plötzlich die Hand los, greift an die Stime, Augen stier. „Die Pest!!!" Erfinder fallt über den Kranken. 127. Bild Hand des Erfinders. Todeskampf. Er zerdrückt die Flasche. 128. Bild Auditorium. Aufruhr. Bankier stürzt nach vorne: „Das Serum!!" Bankier rüttelt Erfinder, packt seine Hand. Flasche in Scherben (Nach Miriam Raggam, Walter Hasenclever. Leben und Werk. Hildesheim 1973, 128 f.) Der Dialog ist hier expressionistisch verkürzt auf Schlagworte, auf Interjektionen, auf Rufe und Schreie. Sparsamer Einsatz des Textes wird zunehmend propagiert, die Entdeckung gefeiert, „daß die Sprache in Tonfilmen um so künstlerischer wirkt, je sparsamer man sie verwendet, je entschiedener sie, nicht mehr, als letzte Offenbarung und Erfüllung eines Bildhaften ist." Man geht davon aus, daß „alles, was für Geschehen, Handlung, Entwicklung, Spannung und Stimmung von substantieller Bedeutung ist, im Bilde gestaltet und dargestellt werden muß" (Dafcik, 1947, 54). Das Wort im Film soll nur das Bild ergänzen, unterstützen, unterstreichen, erweitern, abrunden. Es soll gegenständlich deuten und begründen, gegenständlich vorausweisen und psychisch vertiefen. Gedeutet und begründet werden kann dann, wenn vor dem

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Beginn des filmischen Geschehens Dinge sich ereigneten, die für den Ablauf der Handlung wichtig sind und ihre retrospektive filmische Gestaltung einen so großen Raum einnehmen würde, daß Dynamik und Kontinuität des aktuellen Geschehens gestört würden. Verbal nachgeholt und ergänzend eingebracht werden Ereignisse, die nicht wichtig genug sind, ausführlich bildlich abgehandelt zu werden. Dialogisch rekapituliert wird auf gezeigte Handlungen oder Ereignisse, wenn neue Handlungspartner hinzutreten, denen diese Geschehnisse unbekannt sind. Eine wichtige Aufgabe des Dialogs besteht darin, gezeigte Handlungen zu motivieren, sie psychologisch zu begründen, abzusichern, zu ergänzen, zu vertiefen. Die einzelnen Dialogsequenzen charakterisieren die handelnden Personen, kennzeichnen sie als Typen, können sie trefflich karikieren, ihre Tätigkeiten ironisch pointieren oder zynisch kommentieren. Mit der Dialogorganisation kann im Film das Wesentliche herausgehoben, besonders Bedeutungsvolles unterstrichen werden, ist Spannung zu erregen und zu steigern. Gerade durch verbale Mißverständnisse, durch ein Aneinandervorbeireden können Konflikte entstehen, kann sich eine Katastrophe abzeichnen oder anbahnen. In Einzelfallen läßt sich Sprache auch verwenden, um in gestalterische Dimensionen vorzudringen, die dem reinen Bildzusammenhang verschlossen sind (Es sei verwiesen auf Filme wie 'Die Kinder des Olymp'). Weiter läßt sich Sprache abheben vom Bildgeschehen, ihr eigenständige deklamatorische Funktion übertragen wie in 'Hiroshima mon amour' oder ihr Vernunft und Logik nehmen wie in 'Zazie'. Im experimentellen Film könnten visuelle, akustische, literarische oder triviale Komponenten so weit getrennt werden, daß eigenständige Ausdruckseinheiten entstehen, die aber eventuell einen neuen Sinnzusammenhang erschließen. Für den Filmdialog ist wichtig, daß alle genannten Charakteristika Eindeutigkeit besitzen. Die Dialogführung muß in sich stimmig und nach außen, dem Zuschauer gegenüber, verständlich und durchsichtig sein. Der Dialog transportiert die Handlung nicht, aber er muß sie markieren, eindeutig verstehbar machen. Es dürfen beim Zuschauer keine Reflektionen ausgelöst werden, keine Spekulationen über den Gang und das mögliche Fortschreiten der Handlung, die Entwicklung der Charaktere. Filmdialog ist konzentrierter Dialog, denn die im Film agierenden Perso-

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nen sprechen dann, wenn Sprechen, wenn zu machende Aussagen von Bedeutung sind, für die Handlung, für den Film, wenn etwas auszudrücken ist, was mit dem Bild, mit der Aneinanderreihung von Bildern nicht allein auszudrücken wäre. Jede Abweichung von dieser Grundregel kennzeichnet den Gebrauchsfilm, den Trivialfilm. Sparsame Dialogführung ist funktional für die Wirkung eines Films, für seine Qualifikation, für seine Ästhetik. Noch rühmen Cineasten und Filmtheoretiker die sparsame Dialogführung im Film 'Der blaue Engel', der nach Heinrich Manns Roman 'Professor Unrat' gedreht worden war, der sich aber von der Vorlage löst. Szenen wie die berühmte 'Kikeriki-Szene' sind frei gestaltet. Beispiel 3: Der blaue Engel (1930) Bild 488 - (Saal im Blauen Engel) NAH: der Wirt an der Theke, auf die Bühne sprechend: „Herr Direktor, meine Eier sind alle geworden, können Sie mir nicht ein paar herzaubern?" Bild 489 - (Bühne) N A H : Kiepert lauscht auf den Wirt. Versichert: „Ach gewiß doch." Noch immer rührt sich Rath nicht, noch immer steht er da, als wäre er aus Holz. Aber jetzt wendet er den Kopf ganz langsam nach der Garderobenseite. Er starrt hinunter. Kiepert murmelt Zaubersprüche. Rath reagiert nicht. Stimme aus dem Saal: „Eierlegen!" Kiepert in heimlicher Wut, packt Raths Kopf unter dem Kinn und dreht ihn nach vorn. Dann spricht er zum Wirt hinunter: „Einen Moment!" Bild 490 - (Bühne) GROSS: Kiepert sieht Rath an. Rath steht fassungslos. Kiepert flüstert ihm zwischen zusammengebissenen Zähnen zu: „Mensch — gackern!" Rath versucht angestrengt, einen Laut hervorzubringen. Es gelingt ihm nicht. Kiepert ist müde. Bild 491 - (Bühne) GROSS: Raths Rockschoß. Kieperts Hand zaubert ein Ei hervor. Bravorufe ... Bild 492 - (Bühne) GROSS: Kiepert zeigt das Ei dem Publikum. Kiepert sagt: „Ein echtes Hühnerei!" Bild 493 - (Bühne) GROSS: Auf Raths Kopf zerschlägt Kieperts Hand das Ei. Gelb und weiß rinnt es über Raths Gesicht. Er rührt sich nicht.

Johlen im Publikum setzt ein, das nicht mehr abreißt. Schreie dazwischen: „Mehr Eier!" Bild 494 - (Bühne) GROSS: Kiepert raunt Rath zu: „Mensch, gacker — oder ich schlag dich tot!" Bild 495 - (Bühne) GROSS: In Raths Gesicht arbeitet es. Mühsam, die Halsmuskeln krampfen sich. Er öffnet den Mund. Noch kein Laut. Aber dann dringt aus der Kehle — nervenerschütternd — ein heiseres, langgezogenes „Kikeriki!" Im gleichen Moment verstärkt sich das Toben bis zur Raserei. Andere, wie die Entlassungsszene, haben in der Romanvorlage kaum ihre Begründung. Beispiel 4: Der Blaue Engel Bild 337 — (Konferenzzimmer) NAH: Der Direktor, fortfahrend. „Und nun zu Ihnen, Herr Professor! Die Lauterkeit Ihres Charakters und Ihre vorbildliche Lebensführung waren bisher über jeden Zweifel erhaben!" Bild 338 - (Konferenzzimmer) GROSS: Rath, mit einer leichten Verbeugung antwortend. Die Stimme des Direktors: „Um so mehr schmerzt es uns, daß Sie gerade mit einer solchen Person — " Rath fahrt dazwischen: „Herr Direktor!" Bild 339 — (Konferenzzimmer) NAH: Der erstaunte Direktor und ein paar Lehrer, sich umwendend: betroffen, zynisch, neugierig. Raths scharf akzentuierende Stimme: „Bevor Sie weiterreden, möchte ich betonen": Bild 340 - (Konferenzzimmer) GROSS: Der breit aufgerichtete Rath spricht: „Sie sprechen von meiner zukünftigen Frau!" Er dreht das gerutschte Röllchen am Arm zurück. Bild 341 - (Konferenzzimmer) HALBTOTALE: Betroffenes Schweigen, der Direktor erhebt sich ohne Vorwurf, fast mit Bedauern. „Dann allerdings, Herr Professor! Sie kennen doch die Gesetze unserer Anstalt!" Rath macht eine knappe Verbeugung und geht zur Tür.

99. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films

Bild 342 - (Konferenzzimmer) GROSS: Schon die Hand auf der Klinke, wendet Rath sich um, fast anklagend: „Ich folge einem Gesetz, meine Herren, das Sie nicht kennen, dem Gesetz des Herzens!" Wendet sich zurück und öffnet die Tür. — (Geht den Korridor entlang. Hinter ihm humpelt der Pedell. Rath geht in eigene Klasse. Bleibt stehen, sieht in die Klasse. Offnet die Schublade, nimmt Kleinigkeiten heraus. Setzt Hut auf, nimmt Mantel. Geht, den Mantel anziehend, am Pedell vorbei. Rath verschwindet. Pedell schließt die Türe und dreht den Schlüssel um.) ABBLENDEN (nach Estermann, 1965, 291-293) Das Geschehen wird im wesentlichen filmisch vermittelt, die Charakterisierung der Personen erfolgt in ihrer Handlung, in ihrer Gebärde, in ihrer Mimik und Gestik. Die Worte unterstreichen, pointieren, verabsolutieren dort, wo bildlich die Grenzen gesetzt sind, etwa in Raths Begründung seiner Haltung gegenüber dem Direktor. In der Schilderung Heinrich Manns steckt eine Allgemeinheit bei aller Hochorganisiertheit der sprachlichen Mittel, die im Film nur durch eine Vielzahl von Sequenzen aufzulösen wäre. Durch die Massierung der entscheidenden Ausdrucks- und Bedeutungselemente in wenigen Dialogsätzen gelingt es im Film, ein Höchstmaß an Ausdruckswirkung zu erreichen. Verwiesen werden kann auf ein Beispiel filmischer Umsetzungsnotwendigkeit hochverdichteter bzw. hochorganisierter Sprache, das Reitz/Kluge/Reinke in ihrem Aufsatz 'Wort und Film' anführen: Beispiel 5: Die Textpassage aus 'Die Teuflischen' von Barbey d'Aurevilly: „[...] sie entgegnete auf diese Wutausbrüche als echtes Frauenzimmer, das nichts mehr zu schonen hat, das den Mann, dem sie sich verbunden, bis in die Knochen hinein kennt und weiß, daß auf dem Grund dieses Schweinestalls eines gemeinsamen Haushaltes der ewige Krieg schlummert. Sie war weniger gemein als er in seiner Wut, aber entsetzlicher, grausamer, verletzender in ihrer Kälte." Zur filmischen Umsetzung dieser Beschreibung wäre wahrscheinlich ein Kurzfilm von etwa 20 Minuten Länge erforderlich, der sich in folgende Sequenzen aufgliedern könnte: Studie des Krachdialogs

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zwischen Mann und Frau. Studie gereizter Reaktionsweisen dieser Frau und von Frauen überhaupt. Studie der Ehegewohnheiten. Studie der Liebesgewohnheiten „bis auf die Knochen". Die Hilflosigkeit beider Teile während einer langen Ehe, vorwiegend aber Hilflosigkeiten des Mannes. Die Geschichte der bürgerlichen Ehe in den vergangenen 200 Jahren. Situationen des ewigen Krieges. Biologische Überlegenheit der Frau, ihre Kälte. Visuelle Auflösung eines Konflikts durch eine Montage, die über einen größeren Zeitraum hinweg UnVerhältnismäßigkeit und Asynchronität der Mimik der Frau und der Mimik des Mannes gegenüberstellt. Im 'Blauen Engel' kann noch auf ein Charakteristikum hingewiesen werden: Das Schweigen handelnder Filmgestalten ist, nach Béla Balázs, „nicht eine Eigenschaft (wie Stummheit), sondern ein Ereignis. Es bekommt unweigerlich eine besondere Bedeutung, die in der Handlung begründet sein muß, sonst verfälscht sie den Stil und die beabsichtigte Stimmungswirkung." Nach Siegfried Kracauer sind es im 'Blauen Engel' zwei Figuren, deren Schweigen beredt ist. Der Clown der Schauspielertruppe beobachtet seinen zeitweiligen Kollegen, den Professor Unrat, unablässig. Und der Schulpedell, der den Tod des Professors im alten Klassenzimmer miterlebt, ist wie der Clown Zeuge der Geschehnisse, nicht Teilnehmer. „Was immer sie empfinden mochten, sie griffen nicht ein. Ihre schweigende Tatenlosigkeit ließ die Passivität vorausahnen, mit der so viele andere sich später totalitärer Herrschaft fügten."

5.

Sprache im Trivialfilm

Gerät der Dialog jedoch so knapp, daß die Geschehniszusammenhänge nicht mehr durchund einsichtig werden, so wird die für den Film geforderte verbale Beschränkung zur Gefahr. Sie ist aber noch größer, wenn der Dialog überquillt, wenn sich Handlung erst durch Worte, aus den Dialogen heraus entwickeln muß oder diese die Handlung ersetzen. Beispiel 6: Brüderlein fein ... (Wien-Film 1942) Bild 122 Freie Landschaft bei Gutenstein. Grillparzer, lebhaft, offenbar eine längere Rede fortsetzend: „Nein, nein, mein Lieber, Sie wissens's eh selber genauso gut wie ich, aber Sie wol-

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len's halt nicht zugeben. Nix ist sinnlos, was einem das Leben aufhalst, auch das Schwerste nicht ... Sie sollen dem Schicksal jeden Tag danken für die wunderbare Gabe, die es Ihnen gegeben hat ... die Gabe, sich seinen Mitmenschen mitteilen zu können ..." Grillparzer fahrt eindringlicher fort: „Ich habe Ihnen schon einmal einen Rat gegeben, jetzt gebe ich Ihnen wieder einen: Verwerten Sie Erlebtes ... Erlittenes ... und Sie werden manchem helfen, manchen trösten, der vielleicht keinen Trost findet ..." Grillparzer bleibt stehen. Raimund ebenfalls. Grillparzer immer lebhafter: „Der Künstler ist der Griffel Gottes auf der Welt. Er schreibt nicht nur auf, was war und wie es war ... Er gibt allem seine Dichtung, seinen Sinn." Raimund, sieht Grillparzer schmerzlich lächelnd zu: „Auch der Künstler ist nur ein Mensch, armselig und schwach ... und wer weiß, was ihm die Zukunft noch dreinmischt in's Leben ..." Grillparzer, mit leichtem Unwillen: „Sind wir froh, daß wir den Schleier net wegziehen können, der uns gnädig die Sicht auf das Kommende verhängt..." Er tritt auf Raimund zu und fährt fort, aufmunternd: „Leben's net in der Zukunft und in der Vergangenheit, geniessen's das Heute. Ein guter Engel hat Ihnen im richtigen Moment ein Wesen zur Seite gestellt, dessen einfache Natürlichkeit Ihnen Ruhe und Kraft geben mußte." Raimund nickt. Er sagt leise: „Ich weiß es ja ... und bin dankbar dafür, aber manchmal brennt es und bohrt es in mir und schmerzlich melden sich die Gedanken an die Theres." Im Gespräch zwischen Grillparzer und Raimund werden allgemeine Lebensweisheiten ausgetauscht, wird der Sinn hehren Dichtertums beschworen, lange und ausführlich. Operiert wird mit stehenden Wendungen, mit Klischeevorstellungen und -begriffen, mit Stereotypen, Versatzstücken, mit einem vorfabrizierten sprachlichen Jargon, der hier als poetisch-literarisch gekennzeichnet ist. So reden Dichter miteinander, bekräftigen sich in ihrer Aufgabe, bestärken sich in ihrem Künstlertum. So wird Milieukolorit zu erzeugen versucht. Die literarischen Leerbegriffe, wie sie sich in allen schlechten Romanen fin-

den, eignen sich auch im Filmdialog ideal für den Transport von Klischeehandlungen. Die Massenwirkung des Films wird nicht durch genaue Beschreibung oder sprachliche Charakterisierung gestört. Mit solcher Art Typisierung „fälscht der Film [...] die Wirklichkeit, da er immer nur den Schluß von etwas Konkretem auf ein allgemeines Klischee zuläßt, niemals aber ein allgemeines Bild von beliebig viel Konkretem geben kann" (Reitz/ Kluge/Reinke, 1965, 1021 f.). 6.

Literaturverfilmungen

Für den Film wichtig ist das Zusammenspiel von Wort und Bild, das gegenseitige Ergänzen der beiden konstituierenden Elemente, wobei auf der Tonebene noch Geräusch und Musik fördernd oder hemmend hinzutreten können. Die Verfilmung literarischer Werke, speziell von Schauspielen bei voller Übernahme des Schauspieldialogs oder von prosaischen Werken ohne wesentliche Umgestaltung der Dialogteile, ist immer als problematisch angesehen worden. Theaterdialoge und Roman- oder Novellendialoge besitzen ihre Eigenart, ihre Eigengesetzlichkeit. Sie sind konzipiert für die literarische Gattung, in der sie auftauchen. Transformiert man Dialogformen, indem man sie direkt übernimmt, indirekte Reden in direkte oder monologische Passagen in dialogische umformt, so setzt man einen „Prozeß der Autonomisierung" (Schneider) in Gang. Die im literarischen Werk selbständigen Redeformen werden im Film 'unselbständig'. Sie geraten in Abhängigkeit von der Bildebene, von ihrem kinematographischen Kontext. Durch eine solche Abhängigkeit verliert der Code der verbalen Sprache in gewisser Weise seine Autonomie. Konsequent müßte ihnen die Konzeption des Filmischen, des Bildlichen, untergeordnet werden. Die stilisierte, geschliffene, geformte, ausgefeilte, primär den ästhetischen Prinzipien verhaftete Dialoggestaltung des Theaters oder der erzählenden Prosa ist für den Film eine Gefahr. Sie ist selbständig und muß sich auch im neuen Medium selbständig machen. Damit wird sie aber leicht zum Fremdkörper, zum falschen künstlerischen Mittel. Das Geschehen in literarischen Werken entfaltet sich häufig oder überwiegend in Form abstrakter Gedankenreihen. Die schöpferischen Leistungen des dramatischen und epischen Dichters vollziehen sich überwiegend abstrakt mit den Mitteln der Sprache. Sie gewähren dem Zuschauer und Leser ein opti-

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sches Phantasiespektrum, die schöpferische Ergänzung durch Assoziationen. Irmela Schneider hat noch auf ein wichtiges Kriterium hingewiesen am Beispiel der Verfilmung von Theodor Fontanes Roman 'Der Stechlin'. Übernimmt der Film die Dialoge des Romans etwa für die Hauptgestalt Dubslav Stechlin konsequent, so entsteht im Film der Eindruck, Stechlin sei ein geschwätziger Mensch. Haben die Reden, hat die Redelust des alten Stechlin im Roman Funktion, ist sie immer auch ein erzähltechnisches Kompositionsprinzip Fontanes, um seine Erzählfiguren in ihrem sozialen Umfeld und in ihrer Psychologie zu entwickeln, charakterisieren also im Roman die Gespräche, die Erzählfigur und den Erzähler zugleich, so verfälscht die Übernahme, der Transformationsprozeß, weil die Dialoge vom Autor gelöst werden, der neue kommunikative Kontext eine andere Charakterisierung der Gestalten erbringt. Reden in den unterschiedlichen Medien hat einen unterschiedlichen kommunikativen Status. Im Film erzählt das Bild; über weite Strekken erzählt es alleine. Das Dialogwort ist ihm unter- bzw. nebengeordnet. Es ergänzt, verdeutlicht, klärt. Ist es eindeutig, einfach lapidar, unmittelbar, so bedarf es keiner Redundanz, die ein Kennzeichen des Dialogs in der Alltagssprache ist. Die Handlung des Filmschauspielers, seine Gestik, seine Gebärde ergibt sich aus der Bildpartitur des Drehbuchs ohne abstrakt-begriffliche Denkakte. Seine Gebärde ergänzt er durch das Wort, das diese bekräftigt, ihr aber möglicherweise auch widerstrebt. Zum Gestischen, Theatralischen der Bühne gehört die sogenannte gehobene Ausdrucksweise, die theatralische Rhetorik, die sich ausspielen läßt. In der gebremsten Atmosphäre des Films, für den jeder Ausbruch störend wäre, werden normale, ausgeglichene Sprechweisen sowie eine zivile, leicht untertriebene Deklamation funktionell. Die Symbolhaftigkeit, der starke Bildgehalt, die extreme Metaphorik sollte dem Filmdialog ebenso fremd sein wie weitschweifige, philosophierende Redepassagen. Die das Schauspiel mit charakterisierenden Monologe sind dem Film ebenso fern wie das Beiseitesprechen auf der Bühne. Ausnahmen bestätigen auch hier jeweils die Regel. Die Bildsymbolik, die Bildmetaphorik ist eine jeweils andere als die Sprachsymbolik und Sprachmetaphorik. Versuche, Sprachsymbole direkt in Bildsymbole zu übersetzen, würden eine lächerliche Bilderkolportage ergeben. (Man hat

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in der Literatur reflektiert über die Frage, wie der Eingangsmonolog Fausts zu bebildern sei, etwa durch das Zeigen von Tier- oder Menschenskeletten oder Teile davon bei den Worten: „umgibt in Rauch und Moder nur / Dich Tiergeripp und Totenbein ...".). Die Erwartung, daß ein Kumulieren von Zuordnungen nicht nur die Ausdrucksmittel vervielfältigte, sondern auch Bedingungen für eine Verdichtung der Asthetizität schaffe, erweist sich in solchen Fällen als falsch. Die Wahrnehmung des Zuschauers besteht in einer zielgerichteten Informations- oder ästhetischen bzw. emotionellen Wertgewinnung mittels auswählender, organisierender und bedeutungszuweisender Prozesse. Jede ihm gelieferte bildliche Information ist grundsätzlich offen für verschiedene Auswertungen, die sich an der Erwartungsstruktur, an gespeicherten Denkschemata, dem angeeigneten Wissen und an Wertvorstellungen orientieren. Jede Interpretation des zu Sehenden wird aber eingeschränkt durch den beigegebenen Text. Dieser steuert das Bildsehen, die Informations- und Wertaufnahme. Eine bloße Verdoppelung, durch ein gleichzeitiges Vermitteln von Bild- und Sprachsymbolen, erbringt keinen Gewinn, im poetisch-ästhetischen Bereich so wenig wie im rein informatorischen etwa beim Versuch, im Fernsehen die Nachrichten als Text zu zeigen und sie zugleich verlesen zu lassen. Der Dialog und das Filmbild als audiovisuelle, als mediale Einheit simuliert in der Vielfalt der Zuordnungen und Wahrnehmungsgeschichten ein Maximum an Ausdruckspotential. Es ist ein mögliches Potential, das allerdings in den seltensten Fällen, in absoluten Glücksfällen voll genutzt wird. Der Filmdialog unterscheidet sich vom Dialog der Alltagssprache selbst dann in wesentlichen Merkmalen, wenn er vorgibt, diese zu verwenden. Ausnahmen bestätigen auch hier nur die Regel. Im Filmdialog als einem literarischen Dialog gelten die von Siegfried Grosse gefundenen Charakteristika, nämlich das Fehlen von Redundanz und Rekurrenz, von Korrekturen, Neueinsätzen, eingestreuten Assertationsmorphemen etc. auch dort, wo Personen als aus dem Volk stammend, als 'normal sprechend', extrem als umständlich, phrasenhaft leer, genau oder behäbig charakterisiert werden sollen. Ein solcher Eindruck werde etwa „durch die inhaltliche Breite des Informationsflusses" geweckt. Grosse erklärt das damit, daß alle diese Formen „den ästhetischen Normen der stilistischen Konvention"

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

widersprechen, und Drehbuchautoren wie Filmemacher unterliegen diesen in Schule und Ausbildung eingeübten Konventionen. Die Tendenz zum knappen Dialog, die syntaktische Verkürzung der Aussagen, die dem Medium entgegenkommt, suggeriert dem Zuschauer häufiger die Nähe zur Alltagssprache, als diese wirklich gewollt und erreicht wird.

7.

Sprache in frühen Fernsehfilmen

Es bleibt die Frage zu beantworten, ob die für den Film aufgezeigten medienbedingten Einflüsse auf dialogisches Sprechen auch für den Fernsehfilm bzw. das Fernsehspiel gelten, wobei zu berücksichtigen ist, daß immer mehr Filme in Koproduktion mit den Fernsehanstalten entstehen und für die Einbeziehung in das Fernsehprogramm vorgesehen sind. Zu Beginn des Fernsehens stehen sich wiederum zwei Prinzipien extrem gegenüber. Den Theaterinszenierungen für das Fernsehen wird das sogenannte Originalfernsehspiel als das eigentliche gegenübergestellt. Es handelt sich dabei um ein eigens für das Medium Fernsehen geschriebenes Stück, das zunächst nicht auf einer Literaturvorlage basiert. Autoren für solche Stücke fanden sich allerBeispiel 7: Derrick — Ein tödlicher Preis (ZDF) „Entschuldigen Sie bitte!" „Was ist denn mit Ihnen passiert?"

„Ich seh schlimm aus, was? Ich bin die Treppe runter gefallen, ein ziemlich böser Sturz." „Hier im Hause?" „Ja, vor ein paar Minuten. Bitte kommen Sie!"

„Tut das nicht schrecklich weh?" „Es geht schon. Weswegen sind Sie gekommen?" „Ja, wir ermitteln natürlich weiter ..." „Bitte!" „... Danke, und stellen alle möglichen Überlegungen an. Für uns war die Frage, ob der Koffer nicht doch in dem Mordfall eine Rolle gespielt hat!"

dings nur schwer, und sie waren meist identisch mit den Film-, Theater- und Hörfunkautoren, wie auch Regisseure und Schauspieler in den verschiedenen Medien wirkten. Am Anfang der Fernsehspielproduktion steht die These, daß dieses sich am Wort, nicht am Bild zu orientieren habe. Modellhaft wurde das Hörspiel, das als Sprachkunstwerk den Schriftstellern näher lag als der Film, der den spzialisierten Drehbuchautor erforderte. Obwohl man von Seiten der Produzenten wie der Kritiker auf das angelsächsische Fernsehspiel hinwies, das seine Alltagsnähe, seine Spannung oder Möglichkeiten für die Zuschauer zu Selbstidentifizierung auch aus der knappen, lebendigen Sprache bezog, konnten sich deutsche Autoren lange nicht von ihren literarischen Ansprüchen lösen. Erst die Hinwendung zum Dokumentarspiel, mit einer Verwendung von Originaltexten und die Erfolge von Krimi- oder Spionagestories mit klarem Rollenschema und einfachen Dialogen brachten eine gewisse Abkehr von der Dominanz des Wortes gegenüber dem Bild. Eine Trivialisierung wurde dabei durchaus in Kauf genommen. Vor allem in den Kriminalserien, speziell in denen von Reinecker, wird versucht, mit sprachlich-stilistischen Mitteln die Dialoge als zur gesprochenen Sprache gehörend zu kennzeichnen.

Harald Dornwall öffnet die Türe zu seiner Wohnung Klein kommt herein, schaut auf dessen Gesicht. Harald schließt die Tür, wendet sich Klein zu.

Klein Harald schaut kurz in Richtung Türe. Er und Klein gehen nach rechts, den Flur entlang, dann links durch Türe aus dem Bild. Beide kommen in das Wohnzimmer, bleiben an der Türe stehen. Klein schaut Harald an, zeigt kurz auf ihn: Harald Klein Harald macht eine zum Sitzen einladende Handbewegung. Klein geht nach links, Harald folgt ihm in die Sitzecke. Klein setzt sich links vorne in einen Sessel, Harald rechts hinten auf das Sofa.

99. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films

„Wir denken, ja!" „Das denk ich auch, ja!" „Obwohl, es erscheint da etwas ungereimt ..., ich mein ... der Besitzer hat zwar seinen Koffer wiederbekommen, es gibt also eigentlich keinen Grund ... warum man ihren Vater ermordet hat ..., es sei denn ..., und das ist wirklich nur 'ne Möglichkeit — Könnte es sein, daß der Besitzer seinen Koffer nicht unversehrt zurückbekommen hat?" „Um es direkt zu sagen ... könnte Ihr Vater dem Koffer etwas entnommen haben?" „Was wollen Sie damit sagen?" „Wollen Sie sagen, daß er den Koffer aufgebrochen hat, daß er ein Dieb ist?" „Ich sprach nur von einer Möglichkeit. Ihr Vater könnte etwas herausgenommen haben." „Ja, was denn? Wolln wer gleich nachsehen, alles untersuchen ... alles auf den Klopf stellen? Bitte!" „Sie müssen es ganz sachlich sehen, wie gesagt, es ist nur eine Möglichkeit!" „Ja, schon gut ... Ja, schon gut ... ... ich hab's gehört ... ... besten Dank. Ich werd nachsehen und Ihnen dann Bescheid sagen."

Bayerische und Münchener Akzentuierung kennzeichnet viele der handelnden Personen. Die in der Umgangssprache üblichen Abschleifungen und phonetischen Verkürzungen sind häufig ('Nich' statt 'nicht'; 'Das denk ich' statt 'das denke ich'; 'ne' statt 'eine'). Die lexikalische Ebene weist Deiktika auf ('In dem da' = im Hotel), Füllsel ('Ja', 'denn', 'doch'), Interjektionen ('ja was denn'). Demonstrative ersetzen Personalpronomina. Syntaktisch häufig sind Wiederholungen ('Was wollen Sie damit sagen, wollen Sie sagen:'), Anakoluthe ('Obwohl, es erscheint da etwas...'), Ellipsen ('Was willst denn machen ...'), Parenthesen ('..., ich mein, ...'), inkorrekte Wiedergabe indirekter Rede ('Da hieß es, er ist nicht da'), Satzabbrüche ('Aber D u sagst doch, daß —'), Parallelismen ('Er hielt es für möglich, war aber ... Er wollte ..., aber ...'), Ergänzungen ('der Mörder, ich hab mit dem Mörder gesprochen'), nachgestelltes Subjekt ('hört sich nich gut an, Dein Husten'), Reduplikationen ('Kinder' — 'Ach, Kinder ...'). Einzelne Personen werden sprachlich zu charakterisieren versucht, etwa

1103

KLEIN (Großaufnahme seines Gesichts) H A R A L D , nickt. KLEIN, schaut zu Boden, dann auf in Haralds Gesicht. Schaut wieder auf den Boden. K L E I N (Stimme aus dem Off) Haralds Gesicht in Großaufnahme. Klein schaut auf Harald H A R A L D , schüttelt leicht den Kopf KLEIN, schaut zu Boden. Sieht Harald ins Gesicht H A R A L D , beugt sich vor

KLEIN, sieht kurz weg, dann zu Harald. H A R A L D (laut), erregt (Stimme aus dem OFF) Klein schaut weg K L E I N sieht Harald an HARALD, steht auf läuft zur Türe. Bleibt dort stehen und zeigt auf die Türe. Klein steht auf, sieht Harald an, geht an ihm vorbei. Harald schaut ihm kurz ins Gesicht. Klein geht aus dem Zimmer, Harald folgt ihm. durch überzogenen Gebrauch sprachlicher Füllsel, trotzdem bleiben alle Dialogpartien klischeehaft, vorhersagbar, da über die gesamten Serien hinweg und diese übergreifend, bei Reinecker vom 'Kommissar' zu 'Derrick' fortschreitend, die gleichen Versatzstücke verwendet werden. Außerdem fehlen typische Merkmale der gesprochenen Sprache wie Nachhaken, Stellen von Verständnisfragen, gleichzeitiges Sprechen usw. Literarisch anspruchsvolle Fernsehfilme setzen dagegen vor allem auf die Wirkung des Wortes, auf den nuancenreichen Dialog. Dieter Wellershoff, der davon ausgeht, daß im Fernsehfilm die „Inhalte dominieren, nicht die optische Suggestion", zeigt dies an folgendem Text: Beispiel 8: Glücksucher (7) Auf der Straße Außen/Nacht Odenthal und Isa gehen nebeneinander her Isa: Aber Sie waren doch sicher noch eingeladen. Man rechnet doch mit Ihnen. Sie können nicht einfach wegen mir ...

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

Odenthal: Isa:

Odenthal: Isa:

Odenthal:

Isa:

Odenthal: Isa:

Odenthal:

Isa: Odenthal:

Isa: Odenthal: Isa:

Es ist nicht wegen Ihnen. Oh, es ist gut, daß Sie das sagen. Jeder andere Mann ... Ich meine die, an deren Umgang ich gewöhnt bin ... Ja, was ist damit? Ach, sie hätten ein Kompliment gemacht an dieser Stelle, das Übliche. Entschuldigen Sie, mein Auto steht um die Ecke, wenn Sie bis dahin mitkommen ... Sie haben mir heute Abend eine Nachricht geschickt, daß Sie mich sprechen wollen. Das ist nicht mehr so wichtig jetzt, auch nicht mehr so angebracht. (Kleine Pause) Ich hatte vor, Sie einzuladen. Wie soll ich es sagen? Mein Mann ist Industrieller. Wir führen ein großes Haus. Und ich habe vor einem Jahr einen Diskussionskreis gegründet, der sich auch mit Literatur befaßt. Aber auch mit gesellschaftlichen Problemen. (Kleine Pause) Es ist grotesk, daß ich jetzt damit anfange, entschuldigen Sie. (Kleine Pause) Diese Veranstaltungen, diese Auftritte müssen doch für Sie schwer erträglich sein. Nicht immer. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Diese Rücksichtslosigkeit, dieser Wunsch zu verletzen. Ich dachte, es verschlägt mir den Atem. Ich hätte nicht mich exponieren dürfen, dann wäre alles anders gelaufen. Aber ich war nicht kühl genug. Es sah so aus, als ob er recht hätte. Sicher. Vielleicht hat er es auch. Er muß meine Gleichgültigkeit gespürt haben, die Gleichgültigkeit hinter der Reizbarkeit. Ja, sie waren ungeduldig. Sie wollten es hinter sich bringen. Kennen Sie das nicht? Ich versuche, dagegen anzugehen, ich versuche teilzunehmen. Ich glaube, es ist gelahrlich, es ist nicht mehr zu können.

Sie bleibt stehen. So, hier ist mein Auto. Soll ich Sie ins Hotel fahren? Odenthal: Nein, danke, ich gehe gerne noch durch die frische Luft. Wohnen Sie in der Nähe? Ich wohne gar nicht hier. Ich Isa: bin zu Besuch bei meiner Schwester für ein paar Tage. Gestern las ich in der Zeitung, daß Sie hier sein würden. (Kleine Pause) Ich habe Ihnen vor zwei Jahren schon einmal geschrieben. Odenthal: So, das muß ich nachprüfen. Ein Leserbrief, eine unaufrichIsa: tige Albernheit. Ich war beeindruckt von dem, was Sie geschrieben hatten, aber doch nur, um von mir selber zu sprechen. Odenthal: Das ist immer so. Nein, das kann nicht wahr Isa: sein. Es wäre jedenfalls nicht gut. (Kleine Pause) Entschuldigen Sie. Odenthal: Was? Isa: Ich suche herum. Ich falle allen Leuten zur Last. Das war irgendwie ein verdrehter Abend, ich muß darüber nachdenken. Sie gibt ihm die Hand. Gute Nacht. Odenthal: Gute Nacht. Schnitt, während sie sich noch ansehen. (Wellershoff, Dieter, Glücksucher. Vier Drehbücher und begleitende Texte. Köln 1979, 318 f.) Für die Adaption von Literaturvorlagen als Fernsehspiele standen dramatische Werke, epische Werke und, in geringer Zahl, Hörspiele zur Verfügung. Gegen letztere richtete sich von vorneherein das Argument, daß das hinzutretende Bild funktionslos bleiben müsse, weil sie ganz aus dem Wort lebten. Wegen der eigenen Anschaulichkeit der Texte konnte beim Zuschauer leicht eine eigene Bildvision entstehen, zu der die gesehene nicht paßte. Theaterstücke ließen sich dagegen direkt übernehmen, obwohl hier Praktiker und Kritiker bald darauf verwiesen, daß sich der Bildschirm gegen Monologe, gegen das Pathos gebundener Sprache und die Kostümierung sperre. Die beim Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland lange einzig erfolgreiche Art von Theater, die der Ohne-

99. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache in der Geschichte des Films

sorg-, Millowitsch- oder Löwinger-Bühnen, operierte nicht nur dramaturgisch mit Versatzstücken, Stereotypen und Klischees, sondern auch auf der sprachlichen Ebene. Bei der Adaption prosaischer Werke scheinen eher die bevorzugt zu werden, in denen dem Dialog eine vorrangige Stellung zu kommt, so daß er bei der Umgestaltung weitgehend übernommen werden kann. Wo die erzählenden Passagen vorherrschen und die Vorlage, aus thematischen Gründen oder aus der immer wieder beschworenen Stoffnot heraus, dennoch übernommen werden, wird eine nahezu absolute Dialogisierung angestrebt. Für Übernahmen und Dialogisierung gilt die für den Film schon aufgezeigte Autonomisierung, die Herauslösung aus der Vorlage, aus dem Bezug zum Erzähler, die kommunikative Veränderung des Dialoggeschehens. Wie im Originalhörspiel wird bei den Adaptionen immer wieder darauf verwiesen, daß Fernsehfilme eine stärkere Dialog- bzw. Sprachorientiertheit besitzen als Filme im allgemeinen. Das wird einmal mit dem Rezeptionsverhalten zusammengebracht, mit dem stundenlangen Sehen des Fernsehprogramms, unabhängig davon, ob ein Fernsehspiel eingebettet ist zwischen Nachrichten, Unterhaltungssendung und wieder Nachrichten, oder ähnlich, mit dem Betrachten des Films 'bei Licht', während der traditionellen oder üblichen familialen Gruppensitzungen vor dem Bildschirm, wobei das kommentierende Gespräch oder die Nebenbeschäftigung an der Tagesordnung sind. In dieser Kommunikationssituation ist der Zuschauer nicht oder weniger eingestimmt auf das Sehende als beim Film, wo er sich in das Kino begibt und im abgedunkelten Raum sitzt. Er kann das Bild in seinen Rahmen dadurch verweisen, daß er den Standort verläßt oder sich für Zeit überhaupt vom Bildgeschehen abwendet. Da das gesamte Fernsehprogramm der gelokkerten Rezeptionshaltung Rechnung trägt, muß die Aufmerksamkeit des Zuschauers/Zuhörers vor allem über den Ton angereizt werden. Das bedeutet einen grundsätzlich antivisuellen Charakter dieses Mediums, zugleich aber auch einen „Wortlärm" (Amos Vogel), eine „Sprachbefallenheit" (Uwe Gaube), die auch in den Fernsehfilm durchschlägt.

8.

Literatur

Arnheim, Rudolf, Film als Kunst. Berlin 1921 (München 1974). Balázs, Béla, Der Geist des Films. Halle 1930.

1105

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1106

XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

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Erich Straßner, Tübingen

(Deutschland)

100. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Stummfilms 1. 2. 3. 4.

Einleitung Das frühe Kino Das Weimarer Kino Literatur

1.

Einleitung

Die Geschichte des Stummfilms gliedert sich grob in zwei Etappen, in das frühe Kino, das von 1895 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges reicht, und die Zeit des Weimarer Kinos, das mit der Umstellung auf den Tonfilm um 1930 endet. Bei den Filmen der ersten Periode handelt es sich überwiegend um kurze Streifen, die im Rahmen eines Nummernprogramms zur Aufführung gelangten, das sich seinerseits in der Grundstruktur an den zeitgenössischen Varieté- und Zirkusprogrammen orientierte. Für das Weimarer Kino war der abendfüllende Spielfilm signifikant. Im Vorprogramm liefen zu dieser Zeit nur noch einige kürzere Streifen: In der Regel ein oder zwei der sogenannten Kulturfilme und eine Wochenschau. Gemeinsam war den Programmen erstens, daß „ein Nacheinander von Handlungen im Film dazu drängt, diese

in einer kausalen Beziehung zueinander zu sehen." Zum zweiten, daß die „dargestellte Wirklichkeit immer eine beobachtete (erzählte) und aufgezeichnete bzw. gespeicherte ist und daß sie sich im Spannungsverhältnis von Darstellung, Beobachtung und Speicherung konstituiert." Drittens: „Die auf der Zeitachse organisierten ästhetischen Produkte, die im Augenblick ihrer Präsentation immer Gegenwart — die Gegenwart ihrer Zuschauer — sind, können in diesen durch Illusionierung den Eindruck erwecken, sich außerhalb ihrer eigenen Gegenwart zu befinden" (Hickethier 1994, 11). Die unterschiedlichen Programme der Frühzeit und des Weimarer Kinos verweisen aber auch auf eine differenzierte Aufführungspraxis in den Kinos. In der Frühzeit mußten die Programme aus vielen Einzelfilmen komponiert werden, in den zwanziger Jahren bestimmte der jeweilige Spielfilm als Hauptattraktion die inhaltliche Gestaltung der Vorführung. Obwohl sich das Medium Film technisch nur wenig änderte, wandelte sich dessen ästhetische und kommunikative Funktion im Ubergang vom frühen Kino zu dem der Weimarer Republik.

100. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Stummfilms

Die letzten Jahrzehnte des 19. Jhs. schufen die Basis einer weitgehend veränderten Daseinslage: Neben den politischen Veränderungen bestimmten umwälzende Neuerungen auf dem Gebiet der Technik, der Wissenschaft, der Künste, der Sozialstrukturen, der Verkehrs- und Kommunikationsbeziehungen verstärkt alle Lebensbereiche. U m die Jahrhundertwende wurde die Großstadt zunehmend dominant für die Sozial- und Kommunikationsbeziehungen. Der neue Lebensraum ermöglichte eine erweiterte Verfügbarkeit von Kultur, die sich in anderen Darstellungsarten von Kunst ebenso äußerte wie in neuen Formen von Inszenierungen des öffentlichen Lebens und damit auch von Visualisierung. Im privaten Bereich äußerten sich diese etwa in der Mode oder im Wohnen, in öffentlichen Räumen etwa in der Architektur von sakral ausgestatteten Produktionsgebäuden oder Warenhäusern (Wilzopolski 1992, 105f.). Integraler Bestandteil des Veränderungsprozesses war der mediengeschichtliche Ubergang im Rahmen der visuellen Kommunikation, der sich zunächst vor allem in den Großstädten vollzog. An seinem Ausgangspunkt stand die Projektionskunst, wie die Transparentbilder (Verwiebe 1989), die Panoramen (Sehnsucht. Das Panorama ... 1993) oder die Laterna Magica. Diese unterschiedlichen Projektionsverfahren hatten ihre Wurzeln zum Teil schon in der Antike, erreichten aber auf Grund der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen ihren Höhepunkt erst in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

2.

Das frühe Kino

1895 fanden in Berlin und Paris die ersten Filmvorführungen statt. In ihrer Folge spaltete sich die Projektionskunst in verschiedene mehr oder weniger unabhängige Bereiche: in Film, in Diaprojektion sowie in die Projektionsverfahren im Theater. „In diesem Rahmen bedeutet der Film allerdings auch eine Kontinuität der Projektionskunst, die zunächst den Nukleus der filmischen Entwicklung, die animierten Fotografien, als weitere Attraktion aufnimmt und dann ihre bekannten Verfahren zunehmend auf diese überträgt und weiter verändert. Dabei offenbart sich zunehmend das enorme Potential dieses Verfahrens zur Reproduktion — es bringt eine Entwicklung, die bereits während des gesamten 19. Jhs. wirksam war, noch einmal auf

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eine neue Stufe: Es handelt sich dabei um die Tendenz, immer mehr Bestandteile, aus denen sich das Aufführungsereignis zusammensetzt, in Vorproduktion herzustellen, massenhaft zu reproduzieren und am Ort des Geschehens in einem technisch-operativen Vorgang immer gleich ablaufen zu lassen. Aus dieser Sicht ist der Film als industrielle Automatisierung des projektionskünstlerischen Aufführungsereignisses zu verstehen, mit einer Effizienz der Distribution, die bis dahin unerreicht war" (Vogl-Bieneck 1994, 14f.). Den diesbezüglich ersten Höhepunkt und damit zugleich auch das Ende dieses ersten mediengeschichtlichen Umbruchs stellt das von Hollywood geprägte Erzählkino dar. Im Europa und Amerika vor der Jahrhundertwende war offenbar das Hauptmotiv eines Cinemabesuchs, „Neugier, Vertrautes und Bekanntes durch eine neue technische Erfindung auf ungewohnte Weise zu sehen und anders zu erfahren." Die Zuschauer wollten „nicht die Wirklichkeit auf der Leinwand sehen, sondern von der Wirklichkeit sich unterscheidende Bilder dieser Wirklichkeit" (Loiperdinger 1996, 49f.). Die überwiegende Mehrheit der ersten Filme waren Remakes von Laternenbildergeschichten und Aktualitätenfilme. Häufig zeigten beide Medien die gleichen Inhalte und bis in die zehner Jahre hinein gleichen noch manche Filmeinstellungen in ihren Tableaudarbietungen den stehenden 'Bildern', die nicht nur auf die Laterna Magica, sondern vor allem in der Frühzeit auch auf Postkarten oder kitschige Gemälde des 19. Jhs. verweisen (Loiperdinger 1997, 69). Der frühe Film verzichtete auf soziale Inhalte, die wesentlich zur Ausbreitung der Projektionskunst zum Massenmedium beigetragen hatten, wie z. B. die Darstellung des 'Dämon Alkohol'. An ihre Stelle traten u.a. Bilder des Kaisers und seiner Familie, die sowohl während offizieller Gelegenheiten als auch im privaten Bereich immer wieder abgebildet und in den Kinos immer wieder mit Erfolg aufgeführt wurden. Auf diese Weise avancierte Wilhelm II. zum ersten deutschen Stummfilmstar (Loiperdinger 1997, 41 ff.). Der sozialen Einflußnahme früher Filme bediente sich vor der Jahrhundertwende bereits der Deutsche Flottenverein, der Streifen über die Flotte, das Heer oder den Kaiser zu Werbezwecken herstellen ließ. Aufgeführt wurden sie auf eigens organisierten oder auf den um die Jahrhundertwende in Mode gekommenen Wohltätigkeitsveranstaltungen, die vom Adel bzw. dem gehobenen Bürgertum organisiert

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

wurden (Berliner Damen Zeitung 1900, 886; ebd. 1901, 721). Auf letzteren zählten Filme wie auch andere visuelle Neuheiten — so etwa die Herstellung von Röntgenbildern — zu beliebten Unterhaltungsformen (Loiperdinger 1993, 32f.). Die Mehrzahl der ersten Filme wurden zuerst als Attraktion in Varieté-Theatern präsentiert. Das Publikum interessierten zu diesem Zeitpunkt weniger die jeweiligen Inhalte, sondern der Apparat und die Abbildung der kontinuierlichen Bewegung auf der Leinwand. Deshalb begannen auch Wanderschausteller auf Volksfesten oder Gewerbeaussteilungen sehr früh, das Medium zu nutzen. Ab 1903, verstärkt aber in den Jahren 1907/08 öffneten Kinematographentheater an belebten Plätzen und Straßen der Großstädte ihre Tore. Sie zogen ein Laufpublikum an, dessen hervorstechendes Merkmal die soziale und kulturelle Heterogenität war. Das Kino war somit ein Moment von Demokratisierung von Kultur, die mit der Entwicklung auf der Bühne - vor allem im Varieté und in der Salonoperette (vgl. u. a. Kraus 1977, 203ff., insbesondere 213) — korrespondierte. D a auch nationale Bindungen für diese ästhetischen Produktionen an Bedeutung verloren, entstand ein international orientierter Markt, der sich weniger an kulturellen Traditionen und sozialen Bindungen als am Publikumsgeschmack orientierte. Neben den Nonfictionfilmen kamen fiktionale Stories in den Kinos zur Vorführung. Es dominierten melodramatische Stoffe, die überwiegend Gassenhauern, Groschengeschichten und Romanheftchen entnommen wurden (Panofsky 1993, 21 ff.). Neben den melodramatischen Stoffen gehörten Abenteuer·, Kriminal-, Tragödien- und Komödienstoffe zu den fiktionalen Inhalten früher Filme. In der erzählerisch-thematischen Darbietung bevorzugte man Einfachstrukturen, etwa Gegensatzpaare wie Bestrafung und Belohnung, Tugend und Laster, Fleiß und Faulheit usw. Die Filminhalte befriedigten um die Jahrhundertwende — wie in oralkommunikativen Gesellschaften die Märchen — den Sinn für Gerechtigkeit und Moral, und starke Emotionen wie Sentimentalität, Sensationsbedürfnis, Verlangen nach Blut und Rache. Die ersten Stripteaseaufführungen stimulierten — zumeist in geschlossenen Gesellschaften — den sexuellen Geschmack und die Slapsticksaufführungen den Sinn für Humor. Vor solchem Schematismus verschwand die Individualität der Schöpfer. Dieses Moment wird

unterstrichen durch den Verzicht des frühen Kinos — im Unterschied zu den Filmen der Weimarer Zeit — auf die Nennung der Namen von Schauspielern, Drehbuchautoren bzw. Regisseuren. Von einigen Komikern, wie Max Linder, der in Slapstickkömidien spielte, oder sehr wenigen bekannten Schauspielern, wie dem Star des Berliner Metropoltheaters, Josef Giampetro, in 'Don Juan heiratet' von 1908 abgesehen, blieben die in den Filmen handelnden Personen und die sie darstellenden Schauspieler unbekannt. Wenn überhaupt, läßt nur das Firmenlogo Rückschlüsse auf den Hersteller zu. Der frühe Film unterschied sich somit signifikant von dem auf das Originalgenie fixierten Kunstbetrieb. Statt dessen kennzeichneten alle Aspekte eines Warenhauses das neue Medium. Auf diese Analogie lassen eine relativ schematische Dramaturgie, ein hoher Grad an Verfügbarkeit von Filmen sowie die standardisierten Themen und Haltungen, die sie zur Sprache brachten, schließen. Darüber hinaus entsprach es der Logik des Kinos als Warenhaus, die Filminhalte als Glücksversprechen zu verkaufen. Nicht nur auf der Leinwand, sondern auch die Innenarchitektur und das äußere Erscheinungsbild der Lichtspielhäuser rechtfertigten die Analogie, denn das Kino zeichnete sich, wie das Warenhaus, durch bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Formen der Beleuchtung und der Werbung aus (Grabowsky 1910,124f.). Die ersten Jahre des 20. Jhs. waren eine „Zeit in Bewegung: Anschwellen von Themen, Chaos von Stilgebärden" (Adorno/ Horkheimer 1987, 59). Der frühe Film ist ein Spiegel dessen. Er war - vergleichbar der Salonoperette — das Medium verschiedenster Themen und vor allem Stile. Die Hindernisse, die die jeweiligen 'Helden' zu überwinden haben, sind keine gesellschaftlichen, sondern private und treffen oft den erotischen Nerv der Zeit im angedeuteten Geschlechterkampf. Im Optischen veräußerlichten die Darsteller Figuren im Bild der Zeit. Die opulente Ausstattung der Handlungsräume, das betont gezeigte Nutzen moderner Verkehrs- und Kommunikationsmittel und nicht zuletzt die modische Kleidung der Schauspieler — nicht selten finden wir in vielen Filmen aus Reklamegründen Hinweise auf die Modefirma - verweisen auf das Konsumtionsverhältnis von Publikum und Film. Er selbst als modernes Medium demonstrierte durch das Dargestellte seine Modernität allerdings nicht als ästhetisches, sondern als soziales Phänomen, das Produkt und Re-

100. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Stummfilms

zipienten verband. Auf diese Weise verbinden sich im fiktionalen frühen Film auf der Oberfläche des Dargestellten Modernität und Sinnlichkeit. In der Dramaturgie der Filme regierte — im Unterschied zum klassischen Stummfilm der zwanziger Jahre — vor allem das Prinzip des Zufalls, der für die Handelnden zum positiven Schicksal wird und der die theatralische Überhöhung des Zurschaustellens von Ereignissen und Aktionen noch steigert. Die zufällig eintretenden Aktionen lösten beim Zuschauer einen zudem oft nicht eingestandenen Voyerismus aus. Dieses Moment wurde durch die permanenten Andeutungen innerhalb der Grenzen eines Spiels mit dem moralischen Normsystem bewußt verstärkt. Der Zuschauer wurde hier gezielt einbezogen, indem er das Angedeutete in seiner Phantasie ergänzen konnte. Wenn er das System anerkannte, durfte er es insgeheim auch übertreten. So war der Kuß als einzige erotische Handlung im Film abbildbar. Er bildete die moralische Grenze, über die hinaus nur wage symbolische Andeutungen möglich waren, die schließlich auch als Synonym für den nicht gezeigten Geschlechtsakt galten. Die Zeitnähe des Dargestellten hatte noch eine weitere Funktion. Sie suggerierte Nähe zum Publikum, das unvermittelt aus den Tagesgeschäften kommend, für kurze Zeit die Vorführungen besuchte. Die Zuschauer hatten keine Lust, sich in eine ungewohnte geistige Welt versetzen zu lassen, deshalb dominierte ein wiedererkennbarer äußerer Rahmen, in dem ein Spiel mit der Wirklichkeit angeboten wurde. Die darin angebotene Freiheit und das Amüsement boten ein Gegenstück zur Monotonie des Alltags (Bloch 1978, 513). Insgesamt verband der frühe Film auf diese Weise verschiedene Elemente, wie Modernität, Amüsement, scheinbare Realitätsnähe und Sinnlichkeit miteinander. Da produktionsseitig die filmische Narration und deren Faßbarkeit durch das Publikum in der Frühzeit des Kinos nicht fixiert bzw. kodiert waren, herrschte insgesamt eine Formenvielfalt der visuellen Medienprodukte und ihrer Präsentation, die später verloren ging. Der Filmhistoriker Stephen Bottomore (1995, 307) bezeichnete deshalb auch die ersten beiden Jahrzehnte als die „Galápagosinseln in der Filmgeschichte". Dieser tendenzielle Reichtum fand seine Grenzen im Kampf um Kinoprogrammplätze, Zuschauer und Profite. Während der gesamten Periode des frühen Films wurden all jene Ansätze

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ausgesondert, die sich diesbezüglich nicht bewährten. Nach dem Vorbild des Varietés und der Salonoperette bediente sich das frühe Kino Nummernprogrammen, die mit einem GenreMix ein Wechselbad der Gefühle erzeugen sollten. Darüber hinaus wurden bis circa 1910 nicht nur Filme gezeigt, sondern auch immer wieder Glasbilderfolgen mit einer Laterna Magica projiziert. Das aus zehn bis fünfzehn Kurzfilmen bestehende Programm war disparat organisiert. Es richtete sich nach den Erfahrungen der Kinobesitzer, die sich ihrerseits an dem Geschmack und den Vorlieben ihres Publikums orientierten. 1910 empfahl die Fachzeitschrift 'Die Lichtbild-Bühne' folgende Abfolge: „1. Musikpièce, 2. Aktualität, 3. Humoristisch, 4. Drama, 5. Komisch — Pause — 6. Naturaufnahme, 7. Komisch, 8. Die große Attraktion, 9. Wissenschaftlich, 10. Derbkomisch" (Grundregeln für ... 1910). Offensichtlich sollte durch diese Anordnung erreicht werden, daß der einzelne Streifen als solcher erkennbar blieb und daß die Vielzahl der gezeigten Ereignisse und Aktionen durch den steten Wechsel ihre Wirksamkeit nicht verlören. Anfang und Ende der Vorführung wurden von den Besuchern, die das Kino zu beliebigen Zeiten betreten und wieder verlassen konnten, individuell festgelegt. Nur Gäste, die das gesamte Programm gesehen hatten, wurden vor Beginn der Wiederholung aufgefordert zu gehen. Da die Kinos in den ersten Dekaden billiger unterhalten konnten, als die zum Teil sehr kostenintensiven Live-Auftritte von Künstlern, verloren zunächst die Varietés Marktanteile an die Kinos. Zugleich verschwanden typische Nummernprogramme, wie die Völkerschauen, völlig aus den Programmen der Varietiés. Die Darstellung des 'Exotischen' übernahm bereits um die Jahrhundertwende zunehmend der Kinematograph. Die Räumlichkeiten der geschlossenen Varietés mieteten zum Teil Kinobetreiber, die ihrerseits die Filmvorführung selbst mit Live-Ereignissen anreicherten: Während der gesamten Stummfilmzeit wurden die Vorführungen von Musikern begleitet. Ab 1912/13 spielten in den großen Lichtspielpalästen ganze Symphonieorchester während der Vorstellung. Analog zum Musiktheater wurden sie im Graben vor der Leinwand piaziert. U m das stumme Geschehen auf der Leinwand verständlich zu machen, bediente sich der Film - analog den in der mittelalterlichen Kunst gebräuchlichen tituli und Schriftbändern - Zwischentiteln,

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die ohne großen Aufwand in beliebige Sprachen übersetzt und neu einkopiert werden konnten. Von daher war in der Stummfilmzeit die Internationalität des Mediums Film unproblematisch und eignete sich deshalb — von der Schallplatte abgesehen — wie kein anderes Medium zur internationalen Verbreitung. Dieser Vorteil bedingte, daß in Deutschland nicht nur während des Ersten Weltkriegs der Film massiv für die Auslandsund Inlandspropaganda eingesetzt wurde. Auch während der Weimarer Republik riß die Diskussion um den Film als Propagandamedium des Auslandes oder für das Ausland nicht ab (vgl. u. a. Becker 1973; Spicker 1975). U m die Verstehbarkeit des Geschehens weiter zu erhöhen, agierten vor allem in der Frühzeit, in Ausnahmefällen aber auch bis in die frühen dreißiger Jahre — gleichsam als Conférenciers — Rezitatoren oder Filmerklärer vor der Leinwand (Im Osten und ... 1932). Sie erläuterten bzw. kommentierten für die Zuschauer das Geschehen im Film. Durch den Kommentar konnten Melodramen zu Komödien werden, ältere Filmaufnahmen aktuell erscheinen. Die Filme wurden auf diese Weise dem Erwartungshorizont der Zuschauer angepaßt. Bei mangelndem Zulauf des Publikums wurden die Erklärer vom Kinobetreiber ausgewechselt (ausführlich zum Kinoerklärer: Chäteauvert 1996, 81 ff.). Der leichteren Verständlichkeit des Geschehens auf der Leinwand dienten bald sowohl narrative Typisierungen wie auch eine festgelegte Ikonographie in der Darstellung: Das Mädchen mit dem Herzen am rechten Fleck, der brave Mann, der Schurke, die glückliche Ehe usw. Den festgelegten Attributen entsprach das Verhalten der betreffenden Personen innerhalb der Handlung. Die Festlegung der einzelnen Rollen auf Stereotypen ermöglichte Erzählstrukturen, die auf eine individuelle Psychologie der Handelnden verzichten konnte. Alle dargestellten Ereignisse waren innerhalb dieses Systems logisch, was auf die Zuschauer bestätigend wirkte. Die Vorführung der Nummernprogramme war demnach ein 'wohlinszeniertes Aufführungsereignis', so daß Film und Kino insbesondere in der Frühzeit nicht identisch waren. Die Verwendung der Projektionskunst und des Films für Antialkoholkampagnen bzw. für die Werbung zum Bau von Kriegsschiffen spiegelt die zeitgenössische Überzeugung, Bilder insgesamt und bewegte, insbesondere als Mittel sozialer Einflußnahme nutzen zu können. Entsprechend führte die zunehmende Vi-

sualisierung in den Medien bereits um die Jahrhundertwende zu Auseinandersetzungen. So warnte etwa Konrad Lange (1900, 199ff.) ebenso wie ein langes Feuilleton in der Frankfurter Zeitung (Kirchbach 1900) vor den Gefahren einer wachsenden Zuwendung von Bildern in den Tageszeitungen. Zuvor hatte Gustave LeBon (1938, 51 f.) in seinem 1895 erschienenen Buch 'Psychologie der Massen' bildliche Informationsübermittlung mit ihrer Wirkung weitgehend identifiziert. Die problematische Überzeugung, daß mit Hilfe von Bildern und insbesondere von Filmen verbreitete Aussagen und Absichten mit den Reaktionen beim Publikum gleichzusetzen sind, führte bereits 1897 zum Aufführungsverbot von drei Filmen (Birett 1980, 1). Nach dem 'Fall Hennig' im Jahre 1906 begannen die ersten Bundesländer, umfassende legislative Maßnahmen für eine Präventivzensur auszuarbeiten (Hennig war ein Mörder, dem es mehrmals gelang, sich einer Verhaftung zu entziehen. Vom Gefängnis aus verhandelte er mit einer interessierten Filmfirma über die Verwertung seiner Autobiographie. Während alle Zeitungsverleger ablehnten, den Stoff zu drucken, wurde ein Film nach der Biographie gedreht und anschließend wegen Verunglimpfung der Polizei sofort verboten). Ab 1912 mußten in allen Bundesländern Filme vor ihrer ersten Aufführung der jeweils zuständigen Polizeibehörde zur Zensur vorgeführt werden. Infolge fehlender inhaltlicher Bestimmungen und nicht zuletzt religiös und kulturell bedingter unterschiedlicher Vorstellungen über erlaubte oder zu verbietende Darstellungen blieb die Filmzensur bis 1920 im Deutschen Reich uneinheitlich. Im Unterschied etwa zu den USA, wo die Selbstzensur der amerikanischen Filmindustrie unter dem Vorsatz von Frederic Howe einen einheitlichen Filmmarkt garantierte, war dieser unter den Bedingungen der unterschiedlichen Verbotsgründe in Deutschland nur bedingt vorhanden. Zeitlich parallel zur Ausbreitung der Zensurstellen entstand die auf Deutschland beschränkte Kinoreformbewegung. An den Angriffen auf die Kinematographie ist auffallend, daß sich die Kritik ausschließlich auf die fiktiven Filmdarstellungen konzentrierte, während Nonfictioninhalte oft besonders lobend erwähnt und als förderungswürdig angesehen wurden (vgl. u. a. Kaes 1978; Schweinitz, 1992). Die Kinokritik, die ausschließlich von Angehörigen der 'Wortintelligenz' (Nipperdey

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1992, 817) formuliert wurde, bewegte sich auf mehreren Ebenen. Erstens argumentierten die Verteter rein formal. Sich ausschließlich an den Auffassungen Gottscheds und den Stücken der deutschen Klassik sowie Shakespeares und Wagners orientierend, sprach man dem Film jeden Kunstcharakter ab. Das elitäre Kunstverständnis ignorierte in seiner Argumentation nicht nur den aktuellen Theaterbetrieb, dessen Theateraufführungen auch gegen den Willen der zeitgenössischen Autoren um die Jahrhundertwende nur zwei bis zweieinhalb Stunden dauerten (Müller 1994, 213 ff.), sondern generell auch den infolge der Industrialisierung sich verändernden Lebensrhythmus (Friedeil 1923, 508ff.). Das Verhalten und die Erwartungen des Publikums in den Kinovorstellungen waren jedoch weitgehend unvereinbar mit dem für die Mehrheit der Bevölkerung lebensfernen Kunstverständnis der Kinoreformer. Das Publikum verlange vom Film nur 'naive Theaterwirkungen, Ausstattungen, Effekte', also 'reale Genüsse' (Levin 1912, 46). Besonders in den kleinen Kinos unterhielten sich die Zuschauer während der Vorstellungen miteinander bzw. aßen und tranken in den Pausen angebotene Speisen und Getränke. Das neue Medium wandte sich also an die Besucher in doppelter Hinsicht, als einzelnen und als Mitglied eines zeitweiligen Kollektivs (Elsaesser 1990, 13ff). Demgegenüber hoben die Kinoreformer die individuelle Rezeption künstlerischer Produktionen hervor: „Unser Theaterpublikum hat, anfangs widerwillig und zögernd, jetzt zu mindestens von unseren besten Bühnen gelernt, sich mit Andacht in den Geist eines Kunstwerkes zu versenken, den feinsten Seelenregungen zu folgen, das halb Angedeutete zu enträtseln, so manche Gestalt Shakespeares und Schillers in neuem Lichte zu erblicken. Man hat wenigstens auf den Bänken vor Wagners 'Götterdämmerung', Goethes 'Faust' und Shakespeares 'Hamlet', Nietzsches 'Erste Etappe der Heiligkeit' fünf Stunden sitzen gelernt. Und nun kommt der Kinematograph [...] und redigiert die Entwicklung rückwärts" (Stümcke 1912, 92). Drittens bemängelten die Kritiker die Filminhalte: „Was der Kino uns bisher an 'Dramen', verfilmten Romanen und sonstigen Hintertreppensensationen gebracht hat, ist minderwertiger Kitsch, der auf die rohesten und primitivsten Instinkte der Massen wirkt. Die wenigen Ausnahmen [...] bestätigen nur die Regel" (Geller 1913, 293). Viertens kritisierten die Reformer schließlich die Innenausstat-

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tung der engen Vorstadtkinos. Neben allgemeinen Bedenken, wie Hygiene, Enge usw. befürchteten sie darüber hinaus, daß die billigen Eintrittskarten den dort sich aufhaltenden Kindern ermöglichten, unerlaubte Bilder sehen zu können. Fünftens könnten die Schauspieler nach Ansicht der Reformer abgesehen von der fehlenden Sprache nur Äußerlichkeiten, nicht aber seelische Vorgänge im Stummfilm darstellen. Letztere seien aber der eigentliche Gegenstand der Kunst. Zugleich lasse die mechanische Reproduzierbarkeit der Filmhandlung keinen Platz für das Einmalige der Theateraufführung und widerspreche damit dem Kunstcharakter. Diese Argumente zum Teil aufgreifend, versuchten die Bühnen vor allem aus Konkurrenzgründen kurzzeitig und vergeblich, ihren Schauspielern die Mitwirkung in Filmen zu verbieten. Die deutsche Kinematographie reagierte auf diese Kritik in mehrfacher Hinsicht. So gehörten berühmte Opernarien zum Standardrepertoire der frühen kurzen Tonfilmstreifen. Des weiteren orientierten sich die ab 1910 in der City läge von Großstädten errichteten Lichtspielpaläste architektonisch am Theater. Diese Kinos in ihrem Streben um kulturelle Anerkennung und im Konflikt mit dem traditionellen Theater brachen als erste mit der Tradition der kurzen Streifen und führten statt dessen die ersten langen Spielfilme vor. Diese bedingten ihrerseits eine intensive Suche nach Leihkapital, um die aufwendigere Produktion sicherstellen zu können, neue Vertriebsformen, um eine optimale Auswertung der immer teurer produzierten Filme zu gewährleisten. Als ein wichtiges Promotionmittel erkannte man das Hervorheben einzelner Filmschaffender, insbesondere der Darsteller. Aus Vermarktungsgründen entstand ein Starsystem, das die Zuschauer in die Kinos locken sollte (ausführlich zum Übergang zum langen Spielfilm: Müller 1994). In Deutschland wurde dieses Konzept kurzzeitig auch auf ausgewiesene Schriftsteller übertragen. Der 'Autorenfilm' der Jahre 1913/14, dessen Grundlage Stoffe angesehener Literaten, wie Gerhard Hauptmann oder Arthur Schnitzler bildeten. Auch angesehene Theaterregisseure, wie Max Reinhardt, begannen in dieser Zeit, Filme zu drehen. Mit Albert Bassermann als Rechtsanwalt in 'Der Andere' und den ersten Leinwandstars, wie Asta Nielsen und Henny Porten, die namentlich im Vorspann genannt wurden, verschwand die Anonymität der

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Mitwirkenden. Autoren und Schauspieler nobelierten somit den Film, der nun selbstbewußt den Anspruch erhob, 'Kunst' zu sein. Mit diesem Schritt zielte das Medium nicht nur auf gesellschaftliche Anerkennung, sondern auch auf zahlungskräftige Publikumsschichten, insbesondere aus kulturbürgerlichen Kreisen. Dieses gelang nur zum Teil, denn die 'Autorenfilme', insbesondere 'Der Andere' und 'Der Student von Prag' werden zwar allgemein als Inselwerke der deutschen Filmkunst angesehen, an den Kinokassen blieb jedoch der Mehrzahl dieser Filme ein Erfolg versagt. Neben ihrer Respektabilitätsfunktion hatten die 'Autorenfilme' für die weitere Entwicklung der deutschen Kinematographie insofern noch Bedeutung, als sie das wichtige Zusammenspiel der erzählerischen Vision des Drehbuchautors und der visuell interpretierenden-inszenatorischen Phantasie des Regisseurs verdeutlichen. Zugleich wurden in diesem Zusammenhang neue Filmthemen erschlossen und eine Reihe neuer dramturgischer Techniken entwickelt. Neben den 'Autorenfilmen' entstanden eine Reihe von weiteren langen Filmen (Mehraktern), die unterschiedliche Genres bedienten. Sie verwiesen ebenso wie die Produktion der Detektivserien, vor allem während des Ersten Weltkrieges, auf das Interesse der Filmindustrie, gezielt unterschiedliche Publikumsschichten anzusprechen. Infolge der durch längere und teurere Filme erhöhten Eintrittspreise kam es zu einem Umbruch in der Kinostruktur. Die längeren Spielfilme schränkten das Nummernprogramm erheblich ein, so daß die gewohnte Abwechslung, die jedem Geschmack gerecht werden konnte, nicht mehr gegeben war. Zeitgenössische Branchenbeobachter konstatierten als Folge der Neuorientierung der Filmproduktion bereits 1913 eine gewisse 'Kinomüdigkeit' und ein Ausbleiben des bisherigen Stammpublikums (Die Décadence ... 1913; Dekorative Filmes 1914). Die bisherige soziale und kulturelle Heterogenität der Zuschauer begann in dieser Zeit zu schwinden und an ihre Stelle trat in den Großstädten zunehmend eine zielgruppenorientierte Programmausrichtung der Kinos.

3.

Das Weimarer Kino

Im Ersten Weltkrieg wurde der Film vor allem vom deutschen Generalstab unter propagandistischen Gesichtspunkten betrachtet.

Demgegenüber verwies der spätere Generaldirektor der 'Ufa', Ludwig Klitzsch, bereits in seinen vor und im Weltkrieg gehaltenen Reden immer wieder auf die Notwendigkeit des Filmexports. Die noch während des Weltkrieges erfolgten Gründungen der 'Deulig' und der 'Ufa' entsprangen der Einsicht, daß mit Filmen in den wirtschaftlich interessanten Ländern eine bessere nationale Propaganda zu leisten sei als mit Waffen an den Fronten. Die Produktionspalette der neugegründeten 'Ufa' und insbesondere die monumentalen Ausstattungsfilme der Nachkriegszeit knüpften an diese Überlegungen an. Insofern stehen diese Filme für eine weitgehende Umorientierung innerhalb der Filmproduktionspolitik, die sich weitgehend an wirtschaftlichen und kaum noch an propagandistischen Inhalten orientierte. Allerdings gelang es der auf mehrere große Firmen und einigen 100 Kleinfirmen zersplitterten Industrie nie, eine Hollywood vergleichbare, einheitliche Ästhetik in Deutschland zu entwikkeln. Darüber hinaus fehlten, von Emil Jannings und einigen wenigen anderen abgesehen, Stars, die den deutschen Film auf den Weltmärkten repräsentierten. Viele deutsche Exportfilme bedienten weit weniger als die Holly wood-Produktionen ein internationales Massenpublikum. Andererseits zeigen die Listen der in deutschen Kinos geschäftlich erfolgreichsten Spielfilme, daß das Publikum hier trotz eines ab 1924 mit ca. 40 Prozent Marktanteil permanent hohen Angebots an US-Filmen pro Jahr den eigenen Produktionen den Vorzug gab (Garncarz 1993, 198 ff.). In der bereits im Weltkrieg, vor allem aber während der Inflationszeit aufgeblähten deutschen Filmproduktion (Jahresausstoß bis zu 300 Spielfilmen) entstand eine Reihe von Filmen, die sich an die bürgerlichen Schichten im Inland wandten und unter dem Markenzeichen 'deutsch' für den Exportmarkt bestimmt waren. Dazu zählten etwa Wegeners Märchenfilme und die Schauergeschichten Ripperts in den zehner Jahren, die exotischen und orientalischen Filme, wie 'Die Augen der Mumie Ma' oder 'Sumurun', sowie in der Nachfolge von 'Das Cabinet des Dr. Caligari' die expressionistischen Filme. Diese Qualitätsprodukte, die filmhistorisch alle zum seit Jahrzehnten festgeschriebenen Klassikerkanon des Weimarer Films zählen, standen in einer intertextuellen Beziehung sowohl zum zeitgenössischen Theater als auch zum schauerromantisch-phantastischen Fortsetzungsroman und mehr oder weniger im

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Gegensatz zu zeitgleichen amerikanischen Produktionen sowie zu den populären Filmen deutscher Produktion. Die nicht-klassischen Filme knüpften im Werben um ihr Publikum ebenfalls an internationale Bezüge an. So gehörte die Verfilmung von Operetten, wie 'Die Fledermaus', 'Der Walzertraum', 'Die Keusche Susanne', 'Der Zigeunerbaron' zum jährlichen Standardrepertoire deutscher Spielfilmproduktionen. Andere Filme in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre entnahmen ihre Inhalte populären Schlagertiteln, so etwa die Studenten-, Rhein- und Weinfilme 'Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren' oder 'Lindenwirtin am Rhein'. Neben dem Spielfilm 'An der Weser' ließen sich noch eine Reihe weiterer Produktionen nennen, die bereits im Titel den Zusammenhang von populärer Musik und Filminhalten veranschaulichen und im intermedialen Kontext auf die Schallplatte und den Rundfunk verweisen. In diesem Zusammenhang sind auch Übernahmen von Filmstoffen aus Romanen und Zeitungen erkennbar. Nicht zuletzt zeigen die frühen Ausstattungsfilme, wie 'Madame Dubarry', daß bereits am Beginn der Weimarer Republik Filme mit deutlichen Bezügen zu amerikanischen aber auch französischen Filmen entstanden. Bis 1930 gab es — von dem temporären Sonderfall 1919 und 1923 sowie wenigen regionalen Ausnahmen, wie dem Balkan, Frankreich und Südamerika abgesehen — nur wenige deutsche Filme, die einen großen internationalen Erfolg hatten (BA R 8119 Nr. 19067 Bl. 17). Zum zweiten war der Markt etwa in Großstädten wie Berlin gespalten: In den großen Lichtspielhäusern war es üblich, neben Werbefilmen, einen kurzen Kulturfilm, eine Wochenschau und einen abendfüllenden Spielfilm vorzuführen. Viele kleine Kinos warben dagegen mit dem sogenannten Zweischlagersystem. Das bedeutet, daß während einer Vorstellung zwei Spielfilme gezeigt wurden. — Vereinzelt wurden in deutschen Kinos auch Dreischlagerprogramme aufgeführt (Preisschleuderprogramme 1929). Da die Kinos gegenüber dem Verleih prozentual zu ihren Einnahmen abrechneten, war eine Folge des Zweischlagersystems, daß sich die Einnahmen pro Spielfilm halbierten. Der geringere Geldrückfluß beschleunigte bei weniger erfolgreichen Filmen den Bankrott vieler kleiner Filmproduzenten, die sich in der Regel die Gelder für die Produktion zuvor geliehen hatten. Um im Rahmen einer Vorführung zwei Spielfilme zeigen zu können, wur-

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den die jeweiligen Filme mit einer schnelleren Bildfolge vorgeführt und nicht selten wurden auch Szenen herausgeschnitten. Da die Verleihkopien nach den Vorstellungen nicht immer wieder in den alten Zustand gebracht wurden, stimmte vor allem bei älteren Verleihkopien oft deren Inhalt mit der Zensurkartenbeschreibung nicht mehr überein. In den zwanziger Jahren unterschieden sich die Filmpaläste von den Provinztheatern nicht nur durch ihre Innenausstattung und das Filmangebot, sondern auch durch die angebotene Kinomusik. Trotz des permanenten Einsatzes von Musik wurden zwischen 1913 und 1927 nur für 44 Spielfilme originale Musikstücke, sogenannte Autorenillustrationen, komponiert (Pringsheim 1930, 333). Da die Partituren von den Kinobesitzern extra erworben werden mußten, ist aus mehreren Gründen davon auszugehen, daß diese Begleitmusik nur in wenigen großen Palästen gespielt wurde: Wenn überhaupt, besaßen nur die großen Theater Orchester, die auf Grund ausreichender Instrumentalisierung die entsprechenden Stücke spielen konnten. In der Regel jedoch divergierten auch hier die vom Komponisten vorgesehenen Instrumente und die tatsächliche Besetzung der Orchester. Deshalb mußte die Partitur dem jeweiligen Ist-Zustand der Orchester angepaßt und umgeschrieben werden. Einschneidende Veränderungen der ursprünglichen Musik blieben unter diesen Umständen unumgänglich. Schließlich stand den Orchestern großer Theater in der Regel nur eine Probe zum Einstudieren von Vorlagen bzw. der von den Kapellmeistern zusammengestellten musikalischen Untermalung zur Verfügung. Kleineren Theatern fehlte oft nicht nur das notwendige Geld, um die Musikinstrumente zu erneuern (Herrmann 1927), sondern auch, um neben dem Film die Musikrechte zu erwerben. Durchlaufproben entfielen dort oft völlig. Die Kapellmeister orientierten sich oft nur an den Inhaltsangaben der Zensurkarten und improvisierten auf der Grundlage von Musikmotiven, die sie ab Mitte der zwanziger Jahre aus speziell arrangierten Katalogen — sogenannten Kinotheken — bezogen. Nicht zuletzt auf Grund immer wieder vorgenommener Filmschnitte durch die Theaterbesitzer war in der Stummfilmzeit eine auch nur annähernd gleiche Tonuntermalung der jeweiligen Filme nicht möglich (Pringsheim 1930, 3 34 f.). Auf Grund der vielfältig divergierenden Einflüsse auf die Filmvorführung zerfiel der

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deutsche Filmmarkt nicht nur in fünf Verleihbezirke. Auch innerhalb der jeweiligen Bezirke existierten zwischen den Kinos große Unterschiede in bezug auf die Kinoausstattung und die Filmpräsentation. In einer Beschreibung der Kinos um den Berliner Humboldthain heißt es u. a.: „Beschaut man die Hofkinogeschwister rings, so sieht man sie fast durchweg mit ähnlichen Moritaten- und Kitschankündigungen bekleistert. Mitunter gibt es Filme, die man uns im Westen überhaupt nicht vorsetzt, alle aber sind sie durch das Holderdipolder-Zweischlagersystem unverständlich zusammengeschnitten, rhythmuszerstörend im 35-Sekundentempo heruntergedreht, dazu durch die abgespielte Kopie und die veraltete Apparatur auch rein visuell vermanscht und schließlich durch das BilligOrchester sinnwidrig illustriert. Es ist ein Graus, wie man hier eines der wichtigsten Instrumente heutiger Zivilisation zu einer Jahrmarktsbudenangelegenheit degradiert ... Rund 800 Millionen Besucher zählt die Kinostatistik für Deutschland, 799 Millionen behandelt man à la Badstraße 58" (Horkheimer 1928; vgl. auch K.F.B.: Lob ... 1928). Die Zeitschrift 'Film und Volk' faßte diesen Zustand folgendermaßen zusammen: „Fürs Volk 'Ein Tag der Rosen im August' und süßlicher Courths-Mahler-Schmus, für das Bürgertum Filme mit literarischen Ambitionen [...] Die Welt des Wedding-Kinos und des Kurfürstendamm-Filmpalastes haben nichts miteinander zu tun" (Korpus 1928, 31; vgl. auch W.H.: Die Sender ... 1928). Das Berliner Tageblatt berichtete im August 1932, daß in einem Kino in der Köpenicker Straße auf Grund der Tonfilmumstellung der letzte Berliner Filmerklärer entlassen worden sei. In einer Seitenstraße des Kurfürstendamms, der Joachimsthaler Straße, trat zur gleichen Zeit in einer Abnormitätenschau mit dem Titel: 'Kino von 1905' zum Amüsement der Zuschauer noch einmal ein Filmerklärer auf (Im Osten und ... 1932). Unter diesen Bedingungen kann in Deutschland vor der Einführung des Tonfilms — und danach bis Ende der zwanziger Jahre auch nur begrenzt - von einer einheitlichen ästhetischen und kommunikativen Funktion des Stummfilms ausgegangen werden. Dieses Moment wurde durch die individuelle Rezeption noch verstärkt. Für die überwiegende Mehrheit der Spielfilme war „die schon lange fühlbare Divergenz zwischen den wahrhaftigen und guten Details und der verlogenen Stupidität der Gesamtfabel" (Balázs

1930, 236) charakteristisch. Die Zuschauer verhielten sich diesem Phänomen sehr unterschiedlich gegenüber. Der Drehbuchautor und Filmtheoretiker Béla Balázs beispielsweise lehnte die Freude an der Darstellung der kleinen Wirklichkeiten 1930 ab, weil er sie für die Abneigung des Kleinbürgers als bezeichnend ansah, sich auf die Bewältigung und Durchdringung des Lebensganzen einzulassen. — 1923 argumentierte Balázs (1973, 233) noch völlig anders. - Die Gleichgültigkeit gegenüber der Handlung zeigt nicht nur das Verhalten des Publikums während der Vorstellung, das kam und ging, wann es wollte, das während der Vorführung aß, trank und sich unterhielt und die Inhalte rasch wieder vergaß (Gregor 1932, 175). Die Besucher verlangten vor allem von einem Film die vordergründig ausmalende „Echtheit der Szene und die 'Natürlichkeit' der Darsteller" (Mierendorff 1923, 178; vgl. auch Göll 1920, 164) sowie „eine Gefühlskunst, keine Gedankenkunst". Für die Zeitgenossen war der Stummfilm „Kino der Seele" (Kurt Pinthus), „jähe Urmitteilung der Seele" (Carl Hauptmann), eine „Epik der Empfindungen" (Balázs) oder „wo die Worte versagen, dort ist das eigentliche Reich des Films" (Walter von Molo)" (Zitat nach Güttinger 1984, 78 ff.). Der abgedunkelte Vorführraum erzeugte demnach unterschiedlichste Stimmungen und Gefühle jeweils neuer gruppeninterner Öffentlichkeiten. Die Mauer des jeweiligen Lichtspielhauses bildete den zeitweiligen Schutz für die Privatsphäre der 'Gruppenmitglieder'. Die Amerikaner trugen dieser vom klassischen Theater deutlich unterscheidbaren Rezeptionshaltung Rechnung, indem sie ihre Filme in reels unterteilten. In der Weimarer Republik fand die in der Kinoreformbewegung begonnene Debatte über die ästhetische und kommunikative Funktion des Stummfilms ihre Fortsetzung. Die unleugbare Abhängigkeit des Films von der Technik und damit seine Unterwerfung unter die herrschenden ökonomischen Verhältnisse führten zwischen Filmgegnern und -befürwortern zu einer die gesamten zehner und zwanziger Jahre anhaltenden Diskussion. Ihr lagen letztlich divergierende Konzepte von Kunst zugrunde: Einerseits die Ansprüche an eine autonome individuelle Kunstproduktion, die bereits am Ende des 19. Jhs. fragwürdig geworden war, und andererseits der Versuch einer „produktiven Aneignung der neuen gesellschaftlich-ästhetischen Produktionsweisen des neuen Medi-

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ums" (Heller 1985, 247). Unbestritten blieb in den Diskussionen, daß der Film wie auch der Rundfunk als Institution unterschiedliche soziale und geistige Interessen zu befriedigen hatten. Im Unterschied zur Vorkriegszeit, wurde die „Sprachlosigkeit des Films" nicht mehr „als Verlust sinnstiftender Wirklichkeitsdeutung interpretiert; im Gegenteil: Gebärde und Mimik wurden als Darstellungsund Kommunikationsweisen begriffen, die die Ausdrucksmöglichkeiten der konventionellen Alltagssprache wie der intellektuellen Literatursprache bei weitem übersteigen" (Heller 1985, 176f.). Jenseits dieses Konsens lagen den öffentlichen Film- und Rundfunkdebatten jedoch zwei kontroverse Grundüberzeugungen in bezug auf die Inhalte zugrunde. Die eine Seite präferierte die bildende, darstellende und reflektierende, die andere die mehr unterhaltenden Funktionen des jeweiligen Mediums. Die gegensätzlichen Auffassungen verdeckten nicht nur den von verschiedenen sozialen Gruppierungen und Organisationen geführten Kampf um die Präsenz der jeweils bevorzugten Themen und ästhetischen Darstellungsmittel in den Medien. Die Diskussion verdeutlichte auch die unterschiedlichen zeitgenössischen Kulturkonzepte. Vor allem kommunistische und konservative Kreise zeigten sich von der gefühlsmäßigen Einflußnahme der Medieninhalte auf den Rezipienten überzeugt und meinten, daß Medieninhalte mit deren Wirkungen identifiziert werden könnten. Um unerlaubte Gefühle bei den Rezipienten zu verhindern, betrachteten Vertreter dieser Auffassung die Zensur und die Einschränkung von Themen als wichtige Instrumente, um die jeweils für richtig befundenen sozialen und politischen Grundvorstellungen durchzusetzen. Aus der Sicht von konservativen Kreisen sollten die Lichtspielzensur bzw. die Uberwachungsausschüsse im Rundfunk diese Aufgabe erfüllen. Anders ausgedrückt, die Zensur wurde von den genannten Gruppen nicht nur restriktiv, sondern auch erzieherisch insofern verstanden, als daß an den Platz von unerwünschten Themen und Darstellungen solche treten sollten, die den als subjektiv richtig befundenen Standpunkt beförderten und ihn somit generalisierten. Film und Kino wurden damit begriffen als Tansmissionsapparat einer für richtig erachteten Ideologie. In Abgrenzung von den zitierten Auffassungen interpretierten Politiker anderer politischer Richtungen die jeweiligen Medienangebote als selbständige Kulturfaktoren, die ein breitangelegtes

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inhaltliches Angebot erforderten. Während die eine Seite Medienkritik und -zensur als ein Mittel betrachtete, um eigene Wertvorstellungen durchzusetzen, akzeptierte die andere eine formale und inhaltliche Vielfalt von Themen und Darstellungen in Film und Hörfunk, ohne deren Zensur grundsätzlich in Frage zu stellen. Trotz aller Unterschiede lassen sich im Film der zwanziger Jahre auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten erkennen. Vielen Stummfilmen lag zunehmend eine ausgefeilte Textur für eine in sich geschlossene dramatische Erzählstrategie zugrunde. Die Visualität der Bilder wurde durch eine sich frei im Raum bewegende Kamera und unterschiedliche Montagen erzielt. Optische Einfälle, geschickt geschnittene Bildfolgen, das differenzierte gestische 'Sprechen' und Spielen der Schauspieler und im Laufe der Zeit entstandene Darstellungsikonographien, sowie die Typisierung von Charakteren — etwa des Vamp — gestatteten in den letzten Jahren des Stummfilms einen zunehmend reduzierten Einsatz von Zwischentiteln. Eine komplexe und kohärente kunstvolle filmische Narration wurde zunehmend zum Standard. In dieselbe Richtung zielte auch der Verzicht auf Seitenstränge in den Plotlinien und die Akzentuierung durch Ausschweifungen und Hervorhebungen. Auf der Ebene der Inszenierung traten die Ausdifferenzierung von psychologischen Vorgängen und die physische Aktion in den Vordergrund. Der Stummfilm mußte alles Hörbare zeigen, so das Orchester in einer Spelunke oder im Ballsaal, die Kirchenglocken oder das Bellen eines Hundes. Er bildete die Reaktion des Hörenden ab, etwa die Reaktion der Mutter auf ihr schreiendes Kind. Diese visuelle Verdoppelung einer akustischen Erscheinung überließ es der Einbildung des Zuschauers, wie er das Gezeigte wahrnahm. Die entsprechenden Bilder, die in der 2. Hälfte der zwanziger Jahre deutlich zunahmen, intensivierten den Blick auf das Auditive und verwiesen damit bereits auf den Tonfilm. Ein Vergleich der kommunikativen und ästhetischen Funktionen des Stummfilms zwischen der Frühphase und dem Weimarer Kino verdeutlicht, daß sich der Film in den ersten beiden Dekaden seiner Existenz auf der Suche nach eigenen medien- und verwertungsgemäßen Ausdrucksformen wesentlich stärker veränderte als in der Folgezeit, die auch die Zeit des Tonfilms bis in die Gegenwart einschließt.

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4.

XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

Literatur

Adorno, Theodor W./Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr Bd. 5. Frankfurt a. M. 1987. Balázs, Béla, Der Film des Kleinbürgers. In: Die Weltbühne 26. Jg. 12. 8. 1930, Nr. 33. - , The Kid. In: Essay, Kritik 1922-1932. Berlin 1973. Becker, Wolfgang, Herrschaft und Film. Berlin 1973.

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Wolfgang Mühl-Β enninghaus, Berlin (Deutschland)

101. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Spielfilms 1. 2. 3. 4.

1.

Das Massenmedium Kino und die Kunst des Films Das System Hollywood und die großen Erzählungen Der anvisierte Zuschauer und das Zeichensystem des Films Literatur

D a s M a s s e n m e d i u m K i n o u n d die K u n s t des Films

„Man nehme dem Volk und der Jugend nicht die Schundliteratur noch den Kientopp; sie brauchen die sehr blutige Kost ohne die breite Mehlpampe der volkstümlichen Literatur und die wässerigen Aufgüsse der Moral", notierte Alfred Döblin nach seinen ersten Besuchen im „Theater der kleinen Leute" (1909). Das provokative Statement des Schriftstellers verweist nicht nur auf die erste bildungsbürgerliche 'Kino-Debatte', sondern auf grundlegende Prämissen eines bis heute andauernden medienkritischen Diskurses: daß der Film und insbesondere der Spielfilm ein Massenmedium 'für's niedere Volk' sei, das in erster Linie die Sehnsüchte der Ungebildeten befriedige und vorrangig kompensatorische, ja eskapistische Funktionen erfülle. Dem entspricht der Topos vom Kino als 'Traumfabrik' ebenso wie die von Filmtheoretikern veranschaulichte Analogie zwischen dem kinematographischen Dispositiv und 'Piatos

Höhle': Wie die an ihre Sitze gefesselten Gefangenen im „Höhlengleichnis" der 'Politela' starren auch die Zuschauer im Dunkel des Kinos unentwegt auf projizierte Lichtspiele, anscheinend ohne die ideologischen Implikationen der medialen Apparatur zu durchschauen und offenbar gewillt, diese Scheinwelten für die „wahre Welt" zu halten, zumindest für die Dauer der Rezeption. Man kann diese Macht des kinematographischen Mediums soziologisch erklären: als Vorspiegelung einer idealen, realiter unerreichbaren Welt, psychoanalytisch als Befriedigung narzißtischer Bedürfnisse, mit Blick auf das 'Männerkino' auch feministisch: als Identifikation mit einer patriarchalischen Machtkonstellation, die dem Mann das Privileg voyeuristischer Schaulust zugesteht und die Frau zum passiven Lustobjekt degradiert. Auf jeden Fall weiß die Filmindustrie die kollektive Wirkung der Kinomaschine zu nutzen, wenn bereits fertiggestellte Filme nach 'test screenings' umgeschnitten werden, gemäß der beobachteten Publikumsreaktionen, wenn einzelne Einstellungen oder ganze Sequenzen eliminiert oder nachgedreht werden, bis hin zum beinahe unvermeidlichen Happy-end. Kino und Schaulust gehören offenbar untrennbar zusammen, nicht zuletzt der populäre Spielfilm und die „schaurige Lust am Schauen von Greuel, K a m p f u n d Tode", wie der Dadaist Walter Serner bereits 1913 be-

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

merkte, als er das Kino eben nicht als 'moralische Anstalt' taxierte, sondern als eine durchaus amoralische Vergnügungsstätte, und gerade in dieser „kulturschänderischen Tatsache" die größte Gefahr des Kinos erblickte „und seine größte Attraktion". Schon Walter Benjamin wußte, daß das Medium Film, wie zuvor die Photographie und andere Reproduktionstechnologien, „mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung" verändern würde, und längst sprechen nicht nur Medienpädagogen von einem „Leben wie im Kino". So mag es nicht wundern, daß immer wieder über die verrohende Wirkung des Films spekuliert und das Kino gesellschaftlichen Kontrollinstanzen unterstellt wurde, zum Schutze des Publikums und zum Wohl der Kultur, und so läßt sich durchaus eine historische Linie ziehen von den ersten, mitunter handgreiflichen Angriffen einer selbsternannten 'Kinoreformbewegung auf die vermeintlich sittengefährdenden 'Schundfilme' bis hin zu den Diskursen über die Bilder der Gewalt und die Gewalt der Bilder in einem sich an Spezialeffekten ständig überbietenden Gegenwartskino. Von Anfang an wurde die Vorführung der 'lebendigen Photographien' als unterhaltsames Spektakel für ein Massenpublikum präsentiert, ob mit Hilfe von Max Skladanowskys 'Bioscope' in Berlin, des Cinématographe Lumière' in Paris oder Edisons 'Vitascope' in New York, ob in Varietés oder auf Jahrmärkten, in Vergnügungsparks, auf den berühmten 'Penny Arcades'. Damals konnte man kurze 'Alltagsszenen', 'Naturaufnahmen' und abgefilmte Varieténummern bewundern, manchen erotischen 'Schleiertanz' und auch ein 'boxendes Känguruh'. Als die 'Wanderkinos' den Film aus den Metropolen in die Provinz brachten, war die ursprüngliche Intention der Gebrüder Lumière längst vergessen: daß der Kinematograph vor allem der Wissenschaft dienen sollte. Mit dem Kinogründungsboom kurz nach 1900, der von den billigen 'Ladenkinos' und 'Nickelodeons' schließlich zu den seriösen 'Lichtspieltheatern' und pompösen 'Kinopalästen' der zwanziger und dreißiger Jahre führte, ging eine doppelte Transformation des neuen Massenmediums einher: Aus dem Kino der Bastler und Erfinder entstand eine Filmindustrie, die arbeitsteilig produzierte und ihre Produkte international vermarktete, und aus dem frühen 'Kino der Attraktionen', das erst auf originalgetreue Abbildung der Wirklichkeit, bald auch auf ver-

blüffende Trickeffekte ausgerichtet war, gingen die Urformen des Genrekinos hervor: Komödie, Melodram, Western und Kriminalfilm, auch Monumentales und 'erotische Films' wie 'Die Frau des Hauptmanns', über den Kurt Tucholsky 1913 schrieb: „Es war die lebendig gewordene Pornographie". Dominierten im frühen Kino zunächst die 'dokumentarischen' Aufnahmen, auch wenn es den Trickkünstler Georges Méliès und zahlreiche Experimente mit filmischen Effekten gab, so wurde ab etwa 1905 der narrativfiktionale Film, also der Spielfilm, zur vorherrschenden Gattung des neuen Unterhaltungsmediums. Mit der Entdeckung von Großaufnahme, Einstellungs- und Perspektivwechseln, von Mise en scène, Schnitt und Montage, entwickelten sich die dramaturgischen Prinzipien der filmischen Erzählung, etwa die Parallelmontage oder die 'Rettung in letzter Sekunde', und zwar maßgeblich unter Rückgriff auf das Vaudeville-Theater und die Populärliteratur. Melos, Krimis, Western und Slapstick Comedies, in denen ehemalige Bühnendarsteller wie Charles Chaplin ihre akrobatische Körperkomik inszenierten, wurden nicht nur 'wie am Fließband' produziert, zunächst noch ohne ausgearbeitetes Drehbuch, aber mit reichlich Lust an der Improvisation, sondern bedienten sich auch wiederkehrender Standardsituationen und serieller Erzählformen, etwa der berühmten 'Tücke des Objekts' oder exzessiver Verfolgungsjagden, die mit den englischen 'Chase Films' gar ein eigenes Subgenre der Filmkomödie konstituierten. Man 'verfilmte' Vampirgeschichten und Kriminalromane, etwa die Abenteuer des Meisterverbrechers Fantomas, und vermarktete die Filme als 'Serie'. Man entdeckte die Schauwerte von historisch-exotischen Kulissen und aufwendigen Massenszenen, erstmals in italienischen 'Monumentalfilmen' wie 'Cabiria' (1914), und in den USA wurde der Western zu einer Erzählform entwickelt, die nicht nur triviale Geschichten über die Eroberung und Verteidigung des Landes jenseits der Grenze ins Bild setzte, sondern auch ein mythologisiertes Bild der amerikanischen Geschichte entwarf. Mit der Etablierung des narrativen Genrekinos wurde der Spielfilm zu dem gesellschaftlichen Leitmedium, das nicht nur gepflegte Unterhaltung bot, sondern auch Weltbilder produzierte. Daß Film Kunst sei, proklamierte Ricciotto Canudo in seinem „Manifeste des Sept Arts" (1911), und schon 1907 hatte die fran-

101. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Spielfilms

zösische Produktionsfirma 'Film d'art' mit der Verpflichtung von renommierten Theaterschauspielern der Académie Française den Versuch unternommen, das 'Kinematographentheater' kulturell aufzuwerten - und dem Massenmedium Kino eine neue Publikumsschicht zu erschließen. Zwar wurde das Historiendrama 'La mort du duc de Guise' (1908) nicht mehr als ein Achtungserfolg, zwar war in Frankreich die Mode des 'Kunstfilms' bald vorüber, aber die eingeschlagene Tendenz fand nicht nur im deutschen 'Autorenfilm' der zehner Jahre ihre Fortsetzung. Regisseure wie Abel Gance, F. W. Murnau oder Sergej Eisenstein erprobten in den zehner und zwanziger Jahren systematisch neue, gegen das 'abgefilmte Theater' gerichtete Formen der filmischen Erzählung, und sie entwarfen auch nie zuvor gesehene Bildwelten, die die Geschichte der Wahrnehmung revolutionierten: etwa jene 'dämonische Leinwand', die den 'Caligarismus' des deutschen expressionistischen Films kennzeichnete, oder die Geschichtspanoramen des sowjetischen Revolutionsfilms, der mit Eisensteins 'Panzerkreuzer Potjomkin' (1925) im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte schrieb, oder das Historiendrama 'Napoleon' (1927), das Abel Gance auf drei Leinwänden gleichzeitig projiziert sehen wollte. Doch nicht nur die — von der 'Autorentheorie' so gern — gefeierten Regisseure hatten Anteil am Entstehen der neuen Kunst. Es waren nicht zuletzt die — oftmals vergessenen — Kameraleute, deren Kunst die filmische Vision auf der Leinwand manifestierte: etwa Karl Freund, dessen 'entfesselte Kamera' Murnaus 'Der letzte Mann' (1924), E. A. Duponts 'Varitè' (1925) und Fritz Langs 'Metropolis' (1927) gestaltete. Und es waren die Personen vor der Kamera, in den drei genannten Filmen vor allem Emil Jannings und Brigitte Helm, deren Schauspielkunst den Filmbildern Ausdruck und Emotion verlieh. Daß Charlie Chaplin „Everybody's Language" sprach, formulierte einst Winston Churchill; aber im Grunde konnten — und können — alle großen Leinwandhelden mit ihrem Publikum kommunizieren, und viele der Stars, nicht nur die 'göttliche Garbo' oder die 'unsterbliche Marilyn', haben die Filmgeschichte weitaus stärker geprägt als eine Vielzahl von routinierten 'Regiehandwerkern' ohne eigene Vision. Nicht den mit der Kunstform Film experimentierenden bildenden Künstlern, wie Salvador Dali oder Andy Warhol, ist es zu danken, daß im Massenmedium Kino die Kunst

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des Films, eine einzigartige Synthesis der Künste, entstand, sondern vor allem jenen Kreativen, die das Erzählkino und die Filmgenres perfektionierten — jenen 'Schmugglern' im System, die für die Filmindustrie arbeiteten und die dennoch ihre persönliche 'vision du monde' auf die Leinwand brachten, oftmals gegen die Vorgaben von Kommerz und Zensur. John Ford und Howard Hawks sind solche Filmkünstler gewesen; beide begannen ihre Arbeit im 'Stummfilm' (der freilich nicht gänzlich 'stumm' war, weil von Musik und/oder Filmerzählern begleitet), und beide Visionäre des Kinos haben sich nie als 'Filmkünstler' verstanden, eher als 'Professionals' und 'Geschichtenerzähler'. Bereits in den zwanziger Jahren entwickelte sich der populäre Spielfilm zu einer 'Hochkultur', die mit der Ästhetik des frühen 'Kientopp' kaum noch etwas gemein hatte. Viele 'Meisterwerke' dieser Ära sind heute verschollen, einige wurden wiederentdeckt und restauriert; und was heute vielfach vergessen wird: daß nach der Blüte des Stummfilms die Erfindung des Tonfilms eine zerstörerische Umwälzung mit sich brachte, von der sich das Kino erst erholte, als aus den schlichten 'talkies' wieder eine Kunst der bewegten, sprechenden Bilder geworden war.

2.

Das System Hollywood und die großen Erzählungen

Fast ein Jahrhundert lang hat die US-amerikanische Filmindustrie, wie kein anderes Produktionssystem, das Erzählkino dominiert. Gab es anfänglich noch einen Wettstreit der nationalen Kinematographien, so erlangte Hollywoods Genrekino, zentriert um die Koordinaten 'Stars, Stories, Special effects', nach dem Ersten Weltkrieg die Vorherrschaft auf dem internationalen Markt. Was zunächst mit den eher simplen Geschichten der Slapstick Comedies und Western begann, formte sich bereits in den Melodramen von D. W. Griffith, insbesondere in 'Birth of a Nation' (1914) und 'Intolerance' (1916), zu einer Erzählkunst, die Hollywoods Studiosystem perfektionierte. Jedes der großen Studios hatte einen festen Stab von Mitarbeitern unter Vertrag, vom prominenten Schauspieler und routinierten Regisseur bis hin zu Kameraleuten, Cuttern und dem technischen Personal. Zudem besaß die Mehrzahl der 'Majors' eigene Kinoketten, so daß die Studios sowohl die Produktion als auch die Di-

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

stribution der Filme kontrollierten. Manche Studios spezialisierten sich auf bestimmte Genres, und einige verliehen ihren Filmen einen eigenen Stil. Welche Stoffe verfilmt wurden, bestimmten die Studiobosse, allgewaltige Filmmogule, die auch über den 'final cut' entschieden. Drehbuchautoren und Regisseure waren im Hollywood-System nicht mehr als gut bezahlte Angestellte, für einen bestimmten Aufgabenbereich und mit begrenzter Entscheidungsgewalt. Für die MGM-Produktion 'The Wizard of Oz' (1939) zeichneten insgesamt fünf renommierte Regisseure 'verantwortlich': Victor Fleming, King Vidor, Richard Thorpe, George Cukor und Lewis Milestone, und daß sich eine Vielzahl von Drehbuchautoren an einem einzigen Filmstoff abarbeitete, war keineswegs nur die unrühmliche Ausnahme. Es gab in Hollywood scheiternde 'Wunderkinder' wie Orson Welles, und es gab erfolgreiche Regisseure, die nie eine eigene 'persönliche Handschrift' entwickelten und doch 'Filmklassiker' von bleibendem Wert schufen, in einer fast zeitlosen Eleganz. Die melodramatische Romanze zwischen Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann in 'Casablanca' (1942), bei der Michael Curtiz für Warner/ First National Regie führte, ist dafür nur ein Beispiel unter anderen. Bis in die fünfziger Jahre hinein funktionierte dieses HollywoodSystem und zwar nicht zuletzt, weil es den Studios immer wieder gelang, mit technologischen und dramaturgischen Innovationen auf den sich ändernden Zeitgeist zu reagieren: in Zeiten der Depression mit 'realistischen' Gangsterfilmen wie 'Public Enemy' (1931) und mit glamourösen Musicals wie 'Footlight Parade' (1933), in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren mit dem melodramatischen 'Woman's Film', der Frauenfiguren ins Zentrum der Erzählung stellte und auf die Bedürfnisse des — zahlenden — weiblichen Publikums ausgerichtet war. Die sozialen Umbrüche einer irritierten Nachkriegsgesellschaft spiegelten sich in den düsteren Szenerien, verworrenen Geschichten und verunsicherten Protagonisten des 'Film noir' wider, etwa in Fritz Langs 'Double Indemnity' (1944) oder in Jacques Tourneurs 'Out of the past' (1947), und in manchem Familienmelodram der fünfziger Jahre, etwa in Douglas Sirks 'All that heaven allows' (1955), fand ein unterdrücktes weibliches Begehren zu einer zumindest symbolischen Präsenz. Auch darin bestand eine 'Kunst' Hollywoods: zum Anziehungspunkt europäischer Filmschaffender zu werden, für freiwillige Emigranten wie

Chaplin, Murnau, Ernst Lubitsch oder Alfred Hitchcock, und für diejenigen, die vor dem Nazi-Terror nach Hollywood flüchteten, wie Samuel 'Billy' Wilder oder Douglas Sirk, der eigentlich Detlef Sierck hieß. D a ß Hollywood in den fünfziger Jahren allmählich in die Krise geriet, schließlich an den Rand des Ruins, lag nicht zuletzt an der Konkurrenz des Fernsehens, das sich mehr und mehr als gesellschaftliches Leitmedium etablierte, zunächst in den USA, wenig später auch in Europa. Als die Erwachsenen vermehrt vor dem Bildschirm saßen und sich die Jugend eher für die Popkultur als die 'klassischen' Filmthemen interessierte, funktionierte Hollywoods 'Familienkino' nicht mehr, das erst Steven Spielberg restaurieren konnte. Breitwandfilme, Double Features und B-Movies waren vergebliche Versuche, das angestammte Publikum zurückzugewinnen oder sich ein neues, junges Publikum zu erschließen. Erst Ende der sechziger Jahre begann mit Filmen wie 'Bonnie and Clyde' (1967) und 'Easy Rider' (1967) jenes 'New Hollywood', das einerseits die Mythen des 'All American Dream' und die Dramaturgie des klassischen Hollywood-Kinos dekonstruierte, andererseits den Siegeszug jenes 'post-klassischen' Hollywood-Kinos einleitete, der über Spielbergs 'Jaws' (1975) und George Lucas' 'Star Wars' (1977) zu 'Blockbustern' wie James Camerons 'Titanic' (1997) oder Lucas' 'Star Wars: Episode One' (1999) führt. In seiner vielbeachteten Studie „The Classical Hollywood Cinema: Film Style & Mode of Production to 1960" (1985) hat David Bordwell die These aufgestellt, daß sich das Hollywood-Kino erstens in der Zeit von 1917 bis 1960 nicht wesentlich verändert habe, trotz all der spezifischen Stile von einzelnen Regisseuren, Studios und Genres, und daß dieses Hollywood-Kino zweitens als die prägende Dominante des internationalen Erzählkinos zu begreifen sei, also nicht nur in den USA Produktion, Distribution und Rezeption von Spielfilmen beherrscht habe, sondern den Spielfilm dieser 'klassischen' Periode überhaupt. Zum einen ist dieses Hollywood-Kino eng verknüpft mit der Produktionsweise des US-amerikanischen Studiosystems, das von anderen Filmindustrien, etwa der deutschen UFA, kopiert wurde, zum anderen mit einem System narrativer Strategien, die sich an der 'realistischen' Literatur des 19. Jhs. orientieren und sämtliche filmischen Mittel der Narration subordinieren. Psychologisch motivierte Charaktere, insbe-

101. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Spielfilms

sondere identifikationsträchtige Hauptfiguren, und eine klar strukturierte Handlung, mit klar definierten Konflikten, gehören ebenso zum 'Realismus' dieses Illusionskinos wie eine unauffällige Kameraführung und der berühmte 'unsichtbare Schnitt'. Der Plot, zumeist aufgespalten in zwei parallel geführte Handlungsstränge, gesellschaftlich relevantes Abenteuer und heterosexuelle Romanze, entwickelt sich über Konflikt und Kampf zwingend zum Happy-end, das Bordwell selbst als 'extrinsische Norm' bezeichnet. Jenseits solcher universellen Erzählstrategien zeigt sich allerdings auch das 'klassische HollywoodKino' keineswegs als monolithischer Block; vielmehr zeigt gerade die Entwicklung der einzelnen Genres, wie Mythologen etabliert, modifiziert, revidiert, schließlich destruiert wurden — bisweilen von ein und demselben Regisseur, wie sich bereits im Vergleich von John Fords Western 'The Iron Horse' (1924), 'Stagecoach' (1939), 'Fort Apache' (1948) und 'The Searchers' (1956) verdeutlichen läßt. Wenn auch das Genrekino, wie Bordwell betont, der 'kognitiven Mitarbeit' des Filmzuschauers bedarf, der um die narrativen Schemata weiß und die dramaturgischen Genremuster antizipiert, so bedienen, um nur ein Beispiel zu nennen, die Gangsterfilme, Komödien und Western von Howard Hawks, etwa 'Scarface' (1932), 'Bringing up baby' (1938) oder 'Red River' (1948), keineswegs nur die 'Gesetze' des Genres und das 'Regelwissen' des Zuschauers. Das HollywoodKino ist alles andere als pure 'Traumfabrik', trotz einer Unzahl trivialer B- und C-Produktionen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Strömungen des vielzitierten 'Zeitgeistes' haben sich immer wieder in die filmischen Erzählungen eingeschrieben, zu Stilwechseln und Genremodifikationen geführt. Nicht nur viele Screwball Comedies unterminieren die gesellschaftliche Logik der herrschenden Verhältnisse, und nicht nur in Science FictionFilmen der fünfziger Jahre ist das Klima des 'Kalten Krieges' und die Angst vor atomarer Vernichtung präsent.

3.

Der anvisierte Zuschauer und das Zeichensystem des Films

Daß sich das Zeichensystem des Films auch als 'Sprache' lesen läßt, war die Entdeckung der Filmsemiotik in den sechziger Jahren. Allerdings funktioniert die Kommunikation zwischen Film und Betrachter keineswegs

1121

einseitig, wie neuere Rezeptionstheorien betont haben. Der Film, und gerade der Spielfilm, ist nicht nur ein historisches Produkt, sondern ist auch ein Produkt der Rezeption. Man kann von der Rezeption als einer 'zweiten Produktion' sprechen, denn im Kopf und Körper des Zuschauers und Zuhörers entsteht der Film immer wieder anders und neu. Das expressive Spiel vieler Stummfilm-Darsteller erscheint uns heute 'unrealistisch', mitunter quälend langsam, während wir die tempogeladene Akrobatik eines Chaplin, die stoische Ruhe eines Buster Keaton oder die nach dem 'Slow burn'-Prinzip inszenierten Destruktionsorgien von Laurel und Hardy noch immer genießen können, ungeachtet aller Verstöße gegen das 'Realitätsprinzip'. Der Realismus der filmischen Bilder konstituiert sich nicht einfach durch mechanische Reproduktion, durch die bloße Abbildung einer vorfilmischen Realität, und auch die Illusionsmächtigkeit des Kinos resultiert aus ästhetischen Konventionen, einem unausgesprochenen 'Vertrag' zwischen dem Film und seinen Zuschauern, der immer umgeschrieben wird. Die vielfach kolportierte Legende, die Vorführung des Lumière-Streifens 'L'arrivée d'un train en gare de la Ciotat' (1896) habe beim zeitgenössischen Publikum eine Panik ausgelöst, als die Lokomotive aus dem Bildhintergrund heranbrauste, ist nicht nur von Filmhistorikern als Gründungsmythos des seinerzeit neuen Mediums entlarvt, sondern wurde bereits in Filmen wie Robert W. Pauls 'The countryman's first sight of animated pictures' (1901) genüßlich parodiert. Der 'Blick in die Kamera', im klassischen Spielfilm allerhöchstens im Rahmen der Filmkomik erlaubt, war im frühen Kino noch keineswegs ein sakrosanktes Tabu, und der Wechsel zwischen verschiedenen Genres innerhalb eines Films, oftmals als Errungenschaft des 'postmodernen Kinos' genannt, findet sich auch bereits in Fritz Langs 'M. Mörder unter uns' (1931). So wenig wie die 'Sprache des Films' zeitlos ist, so wenig konstituiert sich Filmgeschichte als lineare Chronologie, schon gar nicht als fortschreitende Entwicklung, auch wenn dies uns die Filmgeschichten immer wieder nahegelegt haben. Wenn man davon spricht, daß der 'moderne Film' mit dem Neorealismus beginnt, oder ein Jahrzehnt später mit der Nouvelle vague, weil in diesen Filmen ein neues Realitätsverständnis sichtbar wird, weil tradierte Regeln des konventionellen Erzählkinos außer Kraft gesetzt

1122

XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

w e r d e n , so w ä r e z u f r a g e n : W a r e n G a n c e u n d L u b i t s c h , Eisenstein u n d Welles keine m o d e r nen F i l m k ü n s t l e r , sind viele ihrer Filme n i c h t vielfach ' m o d e r n e r ' als m a n c h e P r o d u k t i o n des g e g e n w ä r t i g e n M a i n s t r e a m k i n o s ? O b 'entfesselte K a m e r a ' o d e r G e n d e r - K o m ö d i e , ob Attraktionsmontage oder offene, fragmentarische, ja zersplitternde Erzählungen — all d a s h a t es bereits lange v o r d e r E r f i n d u n g des ' m o d e r n e n Films' gegeben, in u n d a u ß e r h a l b H o l l y w o o d s . Freilich gab - u n d gibt — es a u c h d a s k o n v e n t i o n e l l e Illusionskino, die trivialen F i l m e r z ä h l u n g e n v o m K a m p f zwischen ' G u t u n d Böse' u n d m i t d e m o b l i g a t o rischen H a p p y - e n d . M a n m a g diese Spielfilme 'klassisch' n e n n e n , ihre F o r m e n u n d S c h e m a t a k a t a l o g i s i e r e n , ihre stilistische S c h ö n h e i t preisen, o d e r m a n m a g die Message des M a i n s t r e a m k i n o s , die M a r k e t i n g strategien d e r F i l m i n d u s t r i e u n d die I k o n o g r a p h i e d e r Stars kritisch d u r c h l e u c h t e n , a u s marxistischer Widerspiegelungsperspektive o d e r m i t p s y c h o a n a l y t i s c h e m Blick — u n d wird d o c h d e r W o l l u s t des S c h a u e n s j e n e r bew e g t - b e w e g e n d e n Bilder k a u m n a h e k o m m e n . „Als S p r a c h e w a r die E i n z i g a r t i g k e i t d e r G a r b o v o n begrifflicher O r d n u n g " , schrieb der Strukturalist Roland Barthes über das „ G e s i c h t d e r G a r b o " , aber die S p r a c h e d e r F i l m b i l d e r weist a u f d e n Z u s c h a u e r z u r ü c k — a u f ein P u b l i k u m , d a s sich seinen j e eigenen F i l m a u f d e n jeweiligen F i l m m a c h t . „ Z w e i Klischees sind lächerlich, h u n d e r t Klischees sind e r g r e i f e n d " , n o t i e r t e U m b e r t o E c o b e i m W i e d e r s e h e n des ' K u l t f i l m s ' ' C a s a b l a n c a ' : „Wenn alle A r c h e t y p e n s c h a m l o s h e r e i n b r e chen, erreicht m a n h o m e r i s c h e T i e f e n " .

4.

Literatur

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Jürgen Felix, Mainz

(Deutschland)

102. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Dokumentarfilms 1. 2. 3.

6. 7.

Einleitung Die Anfänge Exemplifikationen des Militärischen im Ersten Weltkrieg Der deutsche Kulturfilm Zum Problem des Dokumentarischen im Film bis in die sechziger Jahre Der Dokumentarfilm im Fernsehen Literatur

1.

Einleitung

4. 5.

D i e F i l m t h e o r i e u n t e r s c h e i d e t zwischen fict i o n · u n d n o n f i c t i o n - F i l m e n . Z u letzteren z ä h len n e b e n W e r b e f i l m e n , w i s s e n s c h a f t l i c h e n o d e r L e h r f i l m e n in d e r F r ü h z e i t die A k t u a l i t ä t e n u n d seit M i t t e / E n d e des E r s t e n Weltkriegs die D o k u m e n t a r f i l m e . Im Z u s a m m e n h a n g m i t einer K r i t i k a n R o b e r t F l a h e r t y s M O A N A ( G u n n i n g 1995, 112f.) p r ä g t e 1926 J o h n G r i e r s o n d e n Begriff ' D o k u m e n t a r f i l m ' , d e r allerdings bis h e u t e n i c h t e i n d e u t i g definiert ist. I n s o f e r n v e r s t e h e n sich die folgend e n A u s f ü h r u n g e n , die sich a m A b l a u f d e r Film- u n d F e r n s e h g e s c h i c h t e orientieren, als

ein Beitrag z u r D i s k u s s i o n , v o n d e r z u e r w a r t e n ist, d a ß sie n o c h ü b e r e i n e n l ä n g e r e n Zeitr a u m g e f ü h r t w e r d e n wird.

2.

Die Anfänge

D a s 19. J h . ist g e k e n n z e i c h n e t v o n einer zun e h m e n d e n Visualisierung d e r G e s e l l s c h a f t . I n seinem Verlauf e n t s t a n d e n d e r m o d e r n e B i l d r o m a n , die illustrierte Z e i t u n g u n d die illustrierte E n z y k l o p ä d i e . D e s weiteren fielen in diese Zeit wesentliche E r f i n d u n g e n im Schaustellergewerbe u n d es e n t s t a n d e n eine Vielzahl v o n R a r i t ä t e n k a b i n e t t e n . Gleichzeitig ö f f n e t e n in b i s h e r n i c h t g e k a n n t e m U m f a n g M u s e e n . D i e P a n o r a m e n , die Veranstaltungen mit Laterna Magica-Aufführungen sowie die W e l t a u s s t e l l u n g e n e n t w i c k e l t e n sich zu beliebten U n t e r h a l t u n g s s t ä t t e n u n d Touris t e n a t t r a k t i o n e n . D i e A u s b r e i t u n g des k ü n s t lichen Lichtes v e r ä n d e r t e n i c h t n u r den Alltag, sondern führte auch zu Veränderungen in d e r K u n s t , i n s b e s o n d e r e im T h e a t e r (vgl. Schivelbusch 1983). D i e s p r u n g h a f t e E n t -

1124

XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

wicklung der Verkehrstechnik erzeugte zum einen neue Perspektiven, weil bei zunehmender Geschwindigkeit nahegelegene Gegenstände nur verschwommen wahrnehmbar sind. Zum anderen ermöglichte das Transportwesen Einsichten in bisher unbekannte Gegenden mit anderen Bräuchen, Trachten usw., was auch bedeutete, daß eigene kulturelle Gewohnheiten wiederum von anderen betrachtet wurden. Goethes und Schopenhauers Schriften über die Farben sind nur zwei einer Reihe von theoretischen Auseinandersetzungen mit den Problemen des Sehens und Wahrnehmens. Die Gedichte, wie die von Mörike oder der Droste-Hülshoff und der Realismus in der Literatur unterstreichen ebenso wie zeitgleiche Entwicklungen in der bildenden Kunst, die Erfindung der Photographie und die Verbesserungen der Bilddrucktechnik, daß um 1800 ein neues optisches Zeitalter begann. Die ersten Filme der Gebrüder Lumière, die 1895 im Pariser Grand Café gezeigt wurden, knüpften insofern an die bisherigen Visualisierungstendenzen an, als die 'laufenden Bilder' den Besuchern wiederum neue Ansichten des Alltags offerierten. Sie und die in der Folgezeit produzierten Filme vermittelten vor dem Hintergrund eines fließenden Horizontes eine Abfolge von Ereignissen und Landschaften aus dem Blickwinkel der Kamera. Wie bei der frühen Fotografie entsprachen beim Film die Ansichten des Gesehenen denen des Sehens. Mit Hilfe der Montage gelang es zunehmend besser, die abgebildeten Räume aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erfassen und die Ereignisse, wie etwa Feste oder Produktionsprozesse, in ihrer logischen Abfolge darzustellen. Auf diese Weise lenken sie die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf komplexe Details, die in der zeitlichen Abfolge ihrerseits eine Konstruktion von Zusammenhängen bilden. Schnitte, Nahaufnahmen und andere Montageformen, die nach 1906 erprobt und angewendet wurden, dienen als zusätzliche Mittel des Beschreibens. Die abgelichteten Inhalte wurden in der Regel so arrangiert, daß sie kameratechnisch gut aufgenommen werden konnten, um der 'Schaulust' des Publikums gerecht zu werden. Die Themen der zunächst meist kurzen Streifen hatten einen nahezu enzyklopädischen Charakter. Neben immer wiederkehrenden Bildern vom Kaiserhaus sah das Publikum Städte- und Naturstreifen, Aufnahmen von Expeditionen in ferne Länder, Aktualitäten und Filme über unterschiedlichste Hand-

lungsabläufe. Nicht zuletzt befriedigten Abfilmungen von nackten oder sich entkleidenden Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft den Voyeurismus von Männern, für die zu diesem Zweck eigene Vorstellungen arrangiert wurden. Im Unterschied zu späteren nonfiction-Filmen fehlte allen diesen Streifen noch das Moment des Argumentierens. Statt dessen spielen sie mit Enthülltem und Enthüllenden, sind sie also auf die Blicke der Zuschauer fixiert. In ihnen „ist eine Art von ursprünglichem Austausch und Begegnung im Akt des Schauens enthalten, und zwar in all seinen möglichen Spielarten: Beherrschung, Neugier, Verführung und Verdinglichung" (Gunning 1995, 117). Anders ausgedrückt, die teilweise heute noch beeindruckenden Bilder folgen den Vorstellungen einer Ästhetik der Ansicht, über die auch zeitgenössische Vorurteile oder Ideologismen transportiert wurden. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, daß Kinoerklärer dem Publikum die Abläufe auf der Leinwand erläuterten bzw. Musiker die Handlungen nach eigenen Vorstellungen untermalten. Dementsprechend wurde das Geschehen auf der Leinwand in unterschiedliche diskursive Zuammenhänge gestellt, ohne daß die Produzenten, die die Handlungsabläufe in der Regel weder in einen argumentativen noch einen dramatischen Zusammenhang setzten, darauf Einfluß nehmen konnten.

3.

Exemplifikationen des Militärischen im Ersten Weltkrieg

Vor dem Ersten Weltkrieg passierten, von sexuell anzüglichen Filmen abgesehen, die nonfiction-Produktionen einschließlich aller militärischer Aufnahmen weitgehend ungehindert die Zensur (vgl. Kilchenstein 1997). Nach dem 1. August 1914 änderte sich das Verhältnis der für Zensur zuständigen Militär· und Polizeibehörden zu diesem Genre grundlegend. Filme aus den Ententestaaten kamen in Deutschland nicht mehr zur Aufführung. Der Kriegsbegeisterung vieler Kinobesucher Rechnung tragend, engten viele Kinobetreiber ihre Spielpläne auf militärische Darstellungen ein, die im nonfiction-Bereich in den folgenden Kriegsjahren dominierten. Von daher unterlag nicht nur der Spielfilm, sondern auch der frühe Dokumentarfilm starken thematischen Einschränkungen während des Krieges (vgl. Mühl-Benninghaus 1997, 72ff.).

102. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Dokumentarfilms

Die Erwartungen der Kinobesucher an die Kriegsaufnahmen waren geprägt von Schilderungen über den Krieg 1870/71. Die Lichtverhältnisse des Stellungskrieges und die nur wenig mobilen Kameras gestatteten bis Kriegsende keine Aufnahmen in den Schützengräben. Zugleich verhinderte die Militärzensur aus Angst vor Spionage Aufnahmen in Frontnähe (Kriegsabenteuer eines KinoOperateurs, 12. 05. 1915). Des weiteren waren Abbildungen moderner Waffen, wie bestimmter Schiffstypen, größerer Kanonen, Flugzeuge, Vermessungsgeräte verboten. Um jeder 'Verrohung', aber auch Ängsten im Hinterland vorzubeugen, durfte der Tod nur in Form von Kriegsgräbern abgebildet werden. Verwundete sollten nur mit Verbänden und auf dem Wege der Genesung zu sehen sein (Bundesarchiv (BA)/Militärarchiv R M 5 Nr. 3798 Bl. 50ff.). Die inhaltlichen Einschränkungen bewirkten, daß die überwiegende Mehrheit der erhaltenen Bilder den Eindruck eines bis dahin traditionellen Krieges vermitteln, der um neuere Waffen erweitert worden war. Die zeitgenössischen Zuschauer, die vor allem im Herbst und Winter 1914/15 aktuellste Kriegsaufnahmen erwarteten (Der Mangel ..., 12. 08. 1914; Die schwere Lage, 12. 09. 1914), verloren schnell jedes Interesse an den inhaltsarmen Klischeebildern. Um die bestehenden Defizite an aktuellen Aufnahmen zu kaschieren, deklarierten einige Produzenten historische Aufnahmen als aktuelle, Manöverszenen als Kriegsszenen und im Hinterland gedrehte Aufnahmen als Frontbilder (vgl. u.a. Der Krieg und ..., 10. 10. 1914; Der Soldat ... 13. 01. 1915; Streifzüge 06. 02. 1915). Die gestellten oder nachgestellten Kriegsfilme der ersten Wochen standen am Beginn einer Aufnahmepraxis, die für die gesamte Kriegszeit typisch blieb. Die Darstellungen des Krieges im deutschen Kino waren inszeniert und spiegelten nur sehr vermittelt und stark eingeschränkt das Geschehen an der Front, ein Problem, das die Kriegsberichterstattung bis in die Gegenwart nur bedingt gelöst hat. Das Leid, der Tod, die Entpersonalisierung und die Destruktion des Raumes, die sich mit diesem Krieg verbinden, sind in den zwischen 1914 und 1918 entstandenen Kriegsbildern, die bis heute unser visuelles Gedächtnis prägen, nicht einmal in Ansätzen erkennbar (vgl. Hüppauf 1994, S. 883ff.). Anfang Oktober 1914 hatte die dem Auswärtigen Amt zugeordnete Zentralstelle für

1125

Auslandsdienst damit begonnen, regelmäßig deutsche Kriegswochenschauen (ausführlich: Mühl-Benninghaus 1996) in das neutrale und befreundete Ausland zu schicken, um die Bevölkerung von dem deutschen Standpunkt zu überzeugen (Messter 1994, 93ff.). Damit wurde der Film erstmals in seiner Geschichte von staatlichen Stellen als Propagandamedium eingesetzt. Die Bemühungen blieben nicht zuletzt deshalb zwei Jahre relativ erfolglos, weil das Interesse führender Militärs an dem noch jungen Medium gering blieb. Erst im Zuge der totalen Mobilisierung aller Kräfte, die mit der Ernennung Hindenburgs zum Chef der Obersten Heeresleitung begann, setzte sich bei vielen führenden Persönlichkeiten des Reiches, unter ihnen auch viele Offiziere, die Überzeugung durch, daß der „Film im Krieg die beste Propaganda bilde" (BA Reichsministerium des Innern (RMdl) Nr. 14033 Bl. 156). Die theoretische Basis dieser Entwicklung lieferten LeBons Theorien, wie ζ. B. die Aussage, daß der „Zuschauer [...] nicht nur mit den Augen, sondern mit Gemüt und Empfindung" sieht (BA Reichswirtschaftsministerium RWM Nr. 8031 Bl. 18). Zugleich wurde den im Kino gezeigten inszenierten Kriegsfilmen vor allem von den Verantwortlichen Militärs Wahrheitstreue, eine unverfälschte Abbildung der Wirklichkeit und daraus folgend eine hohe Beweiskraft für die eigene Überlegenheit bescheinigt. Entsprechend beider Grundüberzeugungen wurde die Kriegsfilmproduktion seit Sommer 1916 erheblich forciert. Ab der zum gleichen Zeitpunkt aufgelegten 5. Kriegsanleihe entstanden regelmäßig immer aufwendigere, teilweise unter Einschluß von Trickfilmszenen gedrehte Werbespots (vgl. u. a. die Beschreibungen entsprechender Werbespots: Das Kino im Dienste ..., 23. 09. 196; Zeichnet die ..., 22. 09. 1917; Kriegsanleihfilme, 03.10.1917). Sie sollten die Bevölkerung ermuntern, die staatlichen Schuldscheine zu zeichnen. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Antikriegsstimmung und einer zunehmenden antideutschen Atmosphäre im Ausland sollten die Werbefilme zusammen mit Kriegswochenschauen, interessanteren Kriegsaufnahmen, verschiedenen Streifen über Industrieanlagen und Banken sowie deutsche Städte- und Landschaftsbildern den Durchhaltewillen hinter der Front und die Heimatliebe der Kinobesucher stärken. Im Zuge einer Intensivierung der Propagandatätigkeiten wurde am 8. August 1916 beim Großen Generalstab die Militärische

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

Film- und Photostelle gegründet (Giese 1940, 41). Sie bildete die institutionelle Basis für das am 30. Januar 1917 gegründete Bild- und Filmamt (BuFA) (BA Auswärtiges Amt (AA) Zentralstelle für Auslandsdienst (ZfA) Nr. 1030 Bl. 86ff.; dazu ausführlich: Barkhausen 1982, 46ff.), das in der Folgezeit alle 'amtlichen' Kriegsfilme produzierte. Inhaltlich und ästhetisch korrespondierten die Filme mit den ebenfalls von der neugegründeten Stelle herausgegebenen Fotos und Broschüren. Insofern war die BuFA der erste Versuch, eine medienübergreifende einheitliche Propaganda zu entwickeln, innerhalb derer der Kriegsfilm eine herausragende Position einnahm. Viele der in den amtlichen Propagandafilmen gezeigten Bilder wurden auch für die Wochenschauen verwendet. Insbesondere gegen Ende des Krieges, als in Deutschland die Durchhaltestimmung zunehmend einer fatalistischen Grundhaltung wich, fehlten in den Wochenschauen auf Grund beschränkter Aufnahmemöglichkeiten emotional ansprechende Bilder (BA A A Z f A Nr. 973 Bl. 5; 13), um die Durchhalteparolen mit visuellem, authentischem Material zu unterstützen. Die Verleiher deutscher Wochenschauen im neutralen Ausland übermittelten immer wieder Themenvorschläge für Propagandafilme, denen von Seiten der BuFA nicht entsprochen wurde. Das mangelnde Interesse an den gestellten Kriegsaufnahmen im Ausland führte dazu, daß die entsprechenden Filmtheater „oft leer" waren „oder ein nur gelangweiltes Publikum in ihnen Platz suchte" (BA AA Z f A Nr. 956 Bl. 36f.). Die Einschätzung korrespondierte mit dem Verhalten der deutschen Zuschauer. Sie empfanden die gezeigten Aufnahmen „nicht n u r " als „eine Belastung des Programms, sie waren geradezu eine Belästigung. Sie waren langweilig und verdienten meist ihre Bezeichnung gar nicht, weil sie zu oft nicht den Krieg widerspiegelten, sondern weil sie gestellte Bilder brachten. Im übrigen wußte das das Publikum ganz genau (Bilanz und Ausblick, 08. 01. 1919).

4.

Der deutsche Kulturfilm

Als Kulturfilme wurden unter dem Einfluß der Kinoreformbewegung jene Filme am Ende des Kaiserreiches bezeichnet, die dem Publikum als etwas Besonderes angeboten wurden. Ihr Ursprung lag in jenen Reihen und Serienaufnahmen, die nach den ersten

erfolgreichen Aufnahmen von Eadweard Muybridge 1877 in Kalifornien in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jhs. unter anderem auch in Berlin hergestellt wurden, um Bewegungsabläufe von Menschen und Tieren zu studieren (ausführlich: Marey/Muybridge 1996). Neben der Darstellung analoger Vorgänge nutzte man Filme in der Folgezeit auch dazu, langsame bzw. schnelle Vorgänge in der Natur etwa mit Hilfe von Zeitraffer bzw. Zeitlupe für das menschliche Auge nachvollziehbar zu machen. Die entstandenen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Filme erweiterten nicht nur die Forschungs-, sondern auch die Darstellungsmöglichkeiten. Die im 19. Jh. noch vorhandene Beschränkung, wissenschaftliche Ereignisse fast ausschließlich im Rahmen von Schriftkultur zu publizieren und zu popularisieren, wurde nun ergänzt durch das visuelle und später auch audiovisuelle Medium. Erhaltene Schallplattenaufnahmen aus der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende zeigen, daß in speziellen Fällen, wie ethnographischen Expeditionen, akustisches Material das visuelle schon vor der Einführung des Tonfilms ergänzte (vgl. auch: O. Stoll 1917/18, 114ff.). Bisher ist der Begriff des Kulturfilms, der in den sechziger Jahren für die Mehrzahl jener Kurzfilme, die im Beiprogramm der Filmtheater liefen, verwendet wurde, nicht eindeutig definiert worden. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft unterschied ζ. B. in bezug auf die Freigabe in den Prüfanträgen zwischen Spiel-, Werbe-, Wirtschafts-/Public-Relations-Filmen sowie Kultur- und Dokumentarfilmen. Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden, die über Steuerermäßigungen zu entscheiden hat, differenzierte zwischen Lehr-, Dokumentär-, Kultur-, Jugend- und Märchenfilmen. In der Folgezeit wurde der Kulturfilm zunehmend unter dem Begriff des Kurzfilms subsummiert, der im Beiprogramm gezeigt wurde (Friedewald O.J., 2ff.). Die Themen der Kulturfilme gliedern sich in zwei klassiche Bereiche. Zum einen stehen Menschendarstellungen in verschiedenen Lebenssituationen im Mittelpunkt der Filme. Zu dieser G r u p p e zählen auch die Landschafts- und Städtefilme, Filme über Kunstwerke oder historische Ereignisse, Filmbiographien oder die Darstellung von verschiedenen Technologien. Ein anderer Gegenstandsbereich von Kulturfilmen waren geographische und biologische Themen. Spiel-

102. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Dokumentarfilms

handlungen waren im Rahmen von Kulturfilmen erlaubt, sie mußten sich aber der Zielsetzung des jeweiligen Films unterordnen (ebenda, 5f.). Die Aufzählung der weit gefaßten Themenbereiche verdeutlicht, daß Kulturfilme vor allem in der Weimarer Republik nicht mit Kurzfilmen identifiziert werden können. Vor dem Ersten Weltkrieg kam die Mehrheit der in Deutschland aufgeführten Filme aus dem Ausland. Dennoch wurden auch im Kaiserreich die ersten Kulturfilme gedreht. So filmte Oskar Messter bereits 1899 im Auftrag des Berliner Chirurgen Ernst von Bergmann eine Unterschenkelamputation (Bekow 1959, 207). 1908 wurde die Teilung von Seeigeleiern auf Zelluloid gebannt und ab 1911 nutzten Unternehmen, so die Kabelwerke Operspree und die Siemens-SchuckertWerke, den Film für Werbezwecke. Für die kaiserliche Armee wurden mit Hilfe von Trickaufnahmen 'lebende Karten' hergestellt. Man nutzte sie für die Taktikausbildung, um berühmte Schlachten, wie die von Sedan und Austerlitz (Mehr Anschauung ..., 1912, 9f.; Seitz 1912, 33ff.), nacherlebbar zu machen. Mit Manöveraufnahmen wurde das Zusammenwirken verschiedener Waffen und Waffengattungen demonstriert. Viele der speziell für wissenschaftliche oder militärische Zwecke aufgenommenen Filme wurden auch in den Kinos im Rahmen des normalen Programms gezeigt. Darüber hinaus entstanden vor 1914 neben aktuellen Tagesbildern populärwissenschaftliche und die ersten ethnographischen Filme, die zum Teil auch zur kolonialen Bewußtseinsbildung im Reich beitragen sollten (Panowsky 1944, 83). Während der ersten Kriegsjahre wurde eine Reihe weiterer Kulturfilme zu unterschiedlichen Themenbereichen produziert. Infolge der veränderten Einstellung zum Medium Film wurde in der zweiten Kiegshälfte dessen Produktion deutlich intensiviert. Nach der Gründung der Deutschen Lichtspiel Gesellschaft, die vor allem von Teilen der Schwerindustrie unter Leitung Alfred Hugenbergs beeinflußt wurde, entstand bis Ende 1918 eine Reihe von zum Teil gestellten Industriefilmen (BA MA RM 3, Nr. 9876 Bl. 79f.), die bei den Kinobesuchern den Durchhaltewillen stärken sollten. Die Reichsbeteiligung an der U f a implizierte die Auflage, eine Kulturabteilung zu gründen, die am 1. Juli 1918 ihre Arbeit aufnahm. Das Entstehen der beiden Unternehmen entsprang weniger den kurzfristigen Kriegszielen. In der Tradition

1127

der Kinoreformbewegung und nach ersten Erfahrungen mit dem Propagandamedium Film, glaubten die Verantwortlichen des Reiches, den Kulturfilm auch in Friedenszeiten als Lehrer bzw. Erzieher nutzen zu können. Vertreter der Wirtschaft waren davon überzeugt, daß mit Filmen in den wirtschaftlich interessanten Ländern eine bessere Überzeugungsarbeit als mit Waffen zu leisten sei. Auf diesen Aspekt hatte vor allem der spätere Generaldirektor der Ufa, Ludwig Klitzsch, bereits in seinen vor und im Weltkrieg gehaltenen Reden immer wieder verwiesen. Infolgedessen erhielt der Kulturfilm didaktische Aufgaben. Das bedingte, daß die Handlungsabläufe in argumentative Zusammenhänge gestellt wurden. Diese veränderte Auffassung von dem Medium illustrieren bereits die ersten Kulturfilme der Ufa, die sich mit den Folgen des Krieges beschäftigten. K R Ü P P E L N O T U N D K R Ü P P E L H I L F E zeigt die Behandlung von Kriegsversehrten, die nach erfolgter Heilung im Berliner Oskar-Helene-Heim bis zu ihrer Entlassung auch lernten, wieder zu arbeiten. DIE W I R K U N G DER H U N G E R BLOCKADE A U F D I E VOLKSGESUNDHEIT zielte vor allem auf Mitglieder der neutralen Kommissionen, die Deutschland nach dem Krieg bereisten. Die Aufführung des künftigen Kulturfilms sollte sich nicht auf das Kino beschränken, sondern auch in Schulen und Universitäten aufgeführt werden können. In Vorbereitung auf den erhofften neuen großen Markt wurden, zunächst ohne auf die Kosten zu achten, von der Ufa teilweise sehr aufwendige Lehrfilme produziert. Dazu zählten vor allem eine Reihe medizinischer Filme, die der Leiter der Ufa-Kulturabteilung, der Mediziner Dr. Nicolas Kaufmann, in der Berliner Charité drehte. Darüber hinaus erteilte das Preußische Kultusministerium dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht noch 1918 der Ufa den Auftrag, die alten Bufa-Bestände nach möglichen Lehrfilmen durchzusehen. Im Ergebnis entstand u. a. ein abendfüllender Alpenfilm, für den Felix Lampe verantwortlich zeigte (Kaibus 1956, 21). Infolge der durch den Krieg chronisch leeren Kassen der öffentlichen Hand und der wahrscheinlich geringen Aufgeschlossenheit der Lehrenden dem Medium gegenüber, konnten viele dieser Filme nicht oder nur sehr begrenzt abgesetzt werden. Infolgedessen entwickelte sich die Kulturfilm herstell un g in der Nachkriegszeit zu einem defizitären Geschäft (BA AA ZfA Nr. 975 Bl. 56f.).

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

Dennoch wurden von der UFA auch nach 1919 Kulturfilme gedreht, allerdings nicht mehr mit einem vergleichbaren Aufwand, wie in der Anfangszeit. 1920 wies das KulturfilmVerzeichnis der Ufa 404 Filme mit einer Gesamtlänge von 96 919 m aus (BA RMdl Nr. 10658 Bl. 18). Da in der Regel für die Kinofassung des jeweiligen Themas nur ein Zehntel des belichteten Materials verwendet wurde (Rikli 1942, 152 ff.), begann man, bestimmte Stoffe dreifach zu bearbeiten: Neben dem Kinofilm produzierte man auch Fassungen für Schul- und Universitätsfilme. An der Gesamtbilanz änderte dies wenig. Um sich geschäftlich nicht gegenseitig zu beeinträchtigen, schlossen die Deulig und die Ufa am 12. Mai 1920 einen Vertrag. Danach übernahm die Deulig die Messter-Woche und konzentrierte sich zukünftig vor allem auf Industriefilme, während die Ufa alle übrigen Kulturfilme abdeckte (BA AA ZfA Nr. 1088 Bl. 21). Neben den beiden für die deutsche Kulturfilmentwicklung dominanten Unternehmen begann vor dem Hintergrund der Kinosozialisierungsdebatte noch eine Reihe weiterer Firmen, nonfiction-Filme zu drehen. Die Bindung des Silber- an den Goldpreis bedingte, daß die Rohfilme unter den Bedingungen der Hyperinflation von 1923 kaum noch gezahlt werden konnten, so daß die Kulturfilmproduktion in Deutschland weitgehend zusammenbrach. Da die Aufführungspraxis der stummen Filme in den Lichtspielhäusern der Weimarer Republik nach wie vor stark differierten, hatten die Produzenten auf die Kontexte, in denen die Produktionen aufgeführt wurden, kaum Einfluß. Die Tatsache, daß vor dem Hintergrund der Rheinlandbesetzung im Anschluß an jede Aufführung des Rheinfilms der Ufa, RHEIN WEIB U N D GESANG, in den Berliner Kammerspielen die Zuschauer regelmäßig das Deutschlandlied anstimmten (Dahms 1925, 126), zeigt, daß der Kulturfilm nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern auch später immer wieder für propagandistische Zwecke (Die Rheinfilme, deren Herstellung staatlicherseits finanziell unterstützt wurde, waren ein Mittel, mit dem die Reichsregierung versuchte, gegen die Rheinlandbesetzung zu intervenieren. BA Reichsministerium für die besetzten Gebiete Abt. I alt Nr. 669, Bl. 97) genutzt werden konnte. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht stellte unter Federführung von Felix Lampe bereits 1918 Anerkennungsscheine für

Lehrfilme aus. Ab August 1924 konnten auch Spielfilme als Volksbildungsfilme anerkannt werden. Die Entscheidungen des sogenannten Lampe-Ausschusses wurden im gesamten Reich zwar anerkannt, dennoch gab es permanent Diskussionen über die Prädikate, insbesondere weil Lampe nicht nur Ausschußvorsitzender, sondern auch Ufa-Mitglied war. Im Zusammenhang mit der neuen Filmbewertung wurde den Gemeinden empfohlen, die Aufführung von den entsprechenden Filmen steuerlich zu begünstigen. Angesichts leerer Kassen erließen nur wenige Städte den in Frage kommenden Lichtspielhäusern Anteile an der Lustbarkeitssteuer. 1926 wurde die Steuerermäßigung gesetzlich vorgeschrieben und das Prädikat 'künstlerisch wertvoll' eingeführt (Spiker 1975, 119). Beide Verordnungen behielten auch nach 1945 ihre Gültigkeit. Die Möglichkeiten der Steuerersparnis und Verträge mit den USA über die regelmäßige Abnahme von Kulturfilmen (Rikli 1942, 93) beförderte im Reich deren Produktion. Ein 1927 herausgegebener Verleihkatalog verzeichnete 6 000 in- und ausländische Kulturfilme. Im gleichen Jahr produzierte die Ufa noch 91 Kulturfilme und 214 Unternehmen 870 Lehr- und Kulturfilme (Kaibus 1956, 43). Nach dem Erlaß des Goebbelsministeriums 1934 mußten in allen Häusern in jedem Programm vor dem Spielfilm eine Wochenschau und ein Kulturfilm gezeigt werden. Seit dieser Zeit setzte sich das tägliche Programm der Lichtspieltheater bis Ende der sechziger Jahre zusammen aus der Aufführung von Kulturfilmen, der Wochenschau und einem abendfüllenden Spielfilm. Der Kulturfilm avancierte damit zum festen Bestandteil der Kinovorführungen, ohne daß dramaturgische Zusammenhänge zu den übrigen Teilen des gesamten Programms erkennbar sein mußten. Nach der Aufführung der ersten Tonfilme zu Beginn und in der Mitte der zwanziger Jahre glaubte niemand daran, daß der Stummfilm für immer verschwinden würde. Die schweren Tonfilmkameras schränkten die Bewegungsmöglichkeiten der Kameramänner erheblich ein. Deshalb nahm zunächst die für den späten Stummfilm typische 'Fluidität der Einstellungen' ab und bedingte erhebliche visuelle Einschränkungen. Da diese im Kulturfilm eine eher untergeordnete Rolle spielten, sah einer der Gründer der Tobis, Heinrich Brückmann, vor allem im Kultur- und Werbefilm die eigentliche Zukunft des neuen Mediums (BArch Ν 1275/384). Die anfängliche

102. Kommunikative und ästhetische Funktionen des deutschen Dokumentarfilms

inhaltliche Beschränkung der Tobis auf den Kulturfilm bedingte, daß sich die Tonfilmentwicklung in Deutschland gegenüber den USA erheblich verzögerte. Das frühe Tonfilmpublikum erwartete, daß Ton und Bild völlig kongruent liefen. Die Spielfilmregisseure bemühten sich deshalb, die Synchronität nicht nur herzustellen, sondern sie in Form von Nahaufnahmen immer wieder zu zeigen. An die Kulturfilme wurden andere Anforderungen gestellt. Im Unterschied zu den frühen Wochenschauen, die vor allem am Anfang versuchten, möglichst viele Originaltöne einzufangen, wich bereits der erste tönende Kulturfilm der Ufa, DER RARITÄTENLADEN, der im Februar 1930 uraufgeführt wurde, von diesem Schema ab. Gezeigt wurden Aufnahmen vom Leben auf dem Meeresgrund. Der Ton wurde nachträglich synchronisiert. Zu diesem Zweck legte man in den Produktionsstudios umfangreiche Lautarchive an, aus deren Beständen nach dem Feinschnitt der in der Regel mit einer Handkamera gedrehten Bilder passende Töne einmontiert wurden. Darüber hinaus wurden, wie bei den Wochenschauen, bestimmte Sequenzen mit einem off-Ton bzw. Musik unterlegt (Rikli 1942, 153ff.). Infolgedessen konnten die Kameraleute wie zur Stummfilmzeit komponierte Bilder aufnehmen. Der belehrende Ton, der schon nach der Uraufführung des RARITÄTENLADENS heftig kritisiert wurde (vgl. u. a.: h. p.: Der sprechende Kulturfilm. 23. 2. 1930), blieb zum Teil bis in die sechziger Jahre ein charakteristisches Merkmal des deutschen Kulturfilms. Auch jene Tonfilme, die Originaltöne enthalten, bestehen überwiegend aus inszenierten Bildern, die bereits den Stummfilm charakterisierten, weil die komplizierte und störanfällige Technik zu Wiederholungen zwang. Darüber hinaus waren vor allem die Aufnahmegeräte für die Wachsplatten so schwer, daß sie praktisch nur Interviews zuließen. Die Aufnahme beiläufiger Äußerungen innerhalb des gefilmten Vorgangs war praktisch nicht möglich. Auch die ersten Tonbandgeräte, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kamen, änderten durch ihr enormes Eigengewicht nur wenig an dieser Situation. Es zwang die jeweiligen Akteure, wie beim Spielfilm, ihre Handlungen und Aussagen mehrmals zu wiederholen, bis ein befriedigendes Ergebnis erreicht wurde. Der Grad der technischen Entwicklung war demnach der wesentliche Grund, daß sich der Kulturfilm, im Unterschied zum Spielfilm, mit dem Auf-

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kommen des Tones bis zum Ende der fünfziger Jahre ästhetisch kaum weiterentwickelte und deshalb oft älter wirkt als zeitgleiche Spielfilme (Roth 1982, 9). Die teilweise Verwendung von 35 mm-Apparaturen für Kulturfilmaufnahmen und die permanente Suche nach harmonischen Bildabläufen machte das Medium insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus anfallig für propagandistische Inhalte. Vor allem antisemitische Filme, wie D E R E W I G E J U D E und J U D SÜSS oder Kriegsfilme wie MIT K R E U Z E R 'KÖNIGSBERG' IN SEE und U-BOOTE WESTWÄRTS zeigen, daß Kultur· und Spielfilm diesbezüglich in gleichem Maße vereinnahmt wurden. Die von Goebbels persönlich genau überwachten Kriegswochenschauen zeigen, daß, wie im Ersten Weltkrieg, wieder mit inszenierten Bildern gearbeitet wurde. Aus technischen Gründen war die Herstellung von Originalaufnahmen an der Front noch immer kaum möglich. Deshalb wurden viele Szenen im Hinterland nachgestellt und abgedreht. Die so produzierten Aufnahmen transportierten die gewünschten einseitigen Aussagen. Erst die letzten, 1945 gedrehten Filme lassen, weil die Propagandamaschinerie fast zusammengebrochen war, etwas von den grausamen Kämpfen an den Fronten erkennen. Die Wochenschauaufnahmen und Kulturfilme aus dem Zweiten Weltkrieg, die bis heute das originäre Bildmaterial für Dokumentarsendungen im Fernsehen liefern, vermitteln wiederum, wie bereits im Ersten Weltkrieg, nur einen selektierten Ausschnitt der Kriegswirklichkeiten. Allerdings verdeutlichen die wiederverwendeten Aufnahmen auch, daß die Unterlagen neuer Kommentare und die teilweise veränderten Schnitte den Bildern selbst eine der ursprünglichen Intention teilweise entgegengesetzte Deutung bewirken kann. Das Beispiel verdeutlicht, daß neben den Intentionen der Macher vor allem auch der soziale und individuelle Bezugsrahmen der Rezipienten, wie Bildung, verfügbare Informationen, weltanschauliche oder parteiliche Zugehörigkeit usw., entscheidend für die Rezeption von Filmaussagen sind.

5.

Zum Problem des Dokumentarischen im Film bis in die sechziger Jahre

Vertreter der Kinoreformbewegung sahen im 'zeitgeschichtlichen Film' ein wichtiges Mittel, um das Ansehen Deutschlands bei den in-

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

und ausländischen Besuchern der Lichtspielhäuser zu stärken (vgl. u.a.: Hellwig 1992, 97ff.). Der Wahrheitsgehalt und die Auswahlkriterien dieser Bilder blieben in diesem Kontext unhinterfragt. So bezeichnete etwa der Kinematograph die Kriegswochenschauen auf Grund ihrer vermeintlichen Authentizität als „höchst wertvolle zeitgeschichtliche Dokumente [...] die auch nach Jahrzehnten nicht veraltet sein werden" (Der moderne Bilder-Nachrichtendienst. 28. 10. 1914). Obwohl dem Publikum gegen Ende des Krieges bekannt war, daß die Kriegsaufnahmen gestellt waren, hatte dies auf die Diskussion über die Authentizität des kinematographischen Materials kaum Einfluß. So stellte der Ethnograph Stoll bezüglich des dokumentarischen Charakters von Medien fest: „Grammophon und kinematographischer Projektionsapparat sind [...] außerordentlich wirkungsvolle Mittel, um einem größeren Hörer- und Zuschauerkreis gleichzeitig die in der Ferne gewonnenen Resultate vorzuführen" (Stoll 1917/18, 115. Ähnlich unreflektiert argumentierte auch: Fritz Krause: 1929, 70). Viele der ethnographischen Filmaufnahmen, die zum Teil schon vor dem Ersten Weltkrieg vor allem aber danach als 'bewunderungswürdige Dokumente' beschrieben wurden, waren ebenso gestellt, wie die Kriegsaufnahmen. So hielt etwa der Operateur in dem von der Pelzindustrie finanzierten abendfüllenden Kulturfilm N A N U K , D E R ESKIMO (Bayerisches Haupt- und Staatsarchiv MWi 7248) die einheimischen hungrigen Jäger längere Zeit davon ab, daß mühsam erlegte Walroß sofort zu zerlegen, weil er das tote Tier erst von allen Seiten filmen wollte. Auch die Bilder aus dem familiären Bereich - der Vater, der mit seinem Kind spielt oder der Blick in ein Schlafzimmer jenseits des Polarkreises — entsprachen offensichtlich inhaltlich den Erwartungen der Zuschauer (Nanuk, 1924, 101), wie in den Filmen aus Afrika Aufnahmen unbekleideter Frauen nicht fehlen durften (Rikli 1942, 101 ff.). Das Arrangement des Dargestellten korrespondierte hier, wie auch in vergleichbaren Filmen, offensichtlich mit dem von den eigenen Wertvorstellungen und kulturellen Mustern geprägten Blickwinkel, der zugleich auch den Erwartungen des potentiellen Publikums entsprach. Insofern befriedigten derartige Kulturfilme eher die Neugier und die Vorurteile, als daß sie zum Kennenlernen fremder Kulturen beitrugen. Indem sich die Operateure bei der Bildauswahl am erhofften Kassenerfolg ihrer Produkte

orientierten, verfestigten sie zugleich das europäische Selbstverständnis gegenüber fremden Kulturen. Mit Beginn des Kalten Krieges wurden die Inhalte des Dokumentarfilms zum Bestandteil der Systemauseinandersetzung. In der D D R stellten sich die nonfiction-Filme vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Dritten Reich, zunächst noch in der Tradition des Kulturfilms, in den Dienst des sozialistischen Aufbaus. Zu den ersten Filmen zählte D E R WEG NACH OBEN, der, wie auch einige der frühen DEFA-Spielfilme, versuchte, den Aufbau der neuen Gesellschaft als Lehre aus der Vergangenheit darzustellen. Während es in den Spielfilmen der vierziger Jahre gelang, die Entscheidung der Protagonisten für das Neue als Konsequenz aus den Erfahrungen der vergangen Jahrzehnte deutlich werden zu lassen, kam den Bildern der nonfiction-Filme kaum ein Eigenwert zu. Statt dessen erhielten sie ihren Sinn durch den unterlegten Kommentar. Auch in den folgenden Kompilationsfilmen wie D U U N D M A N C H E R KAM E R A D oder in den biographisch angelegten Streifen U R L A U B A U F SYLT bzw. UNTERNEHMEN TEUTONENSCHWERT, die alle von Annelie und Andrew Thorndike produziert wurden, verfeinerte sich der Umgang mit historischen Dokumenten, ohne daß sich im Verhältnis von Bild und Ton wesentliches veränderte (vgl. Roth 1977, 169ff.). In der Bundesrepublik entstanden neben den in der bisherigen Traditionslinie produzierten Kulturfilmen auch eine Reihe von 'Filmen des Marshall-Planes'. Die Kosten für die meist deutschen Drehstäbe und das Filmmaterial übernahmen die USA. Die Streifen präsentierten in unterhaltsamer Aufmachung Informationen über die Wirtschaftshilfe, deren Ergebnisse und zum Teil kurze Sequenzen über Entwicklungen in Ostdeutschland. Vergleichbare Filme wurden auch in anderen westeuropäischen Staaten mit dem Ziel gedreht, die Zuschauer von den Vorteilen westlicher Demokratie im allgemeinen und der positiven Rolle der US-Politik für die Entwicklung des jeweiligen Landes zu überzeugen. Von den politisch instrumentalisierten Filmen abgesehen, wurden inhaltlich und ästhetisch die Themen der Vergangenheit in den in den fünfziger Jahren entstandenen Kulturfilmen in beiden Teilen Deutschlands fortgeschrieben. Mitte der sechziger Jahre schwanden die Kulturfilme zusammen mit den Wochenschauen aus den Kinos. Dieser Prozeß

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war — von den Werbefilmen abgesehen fast gleichbedeutend mit dem Ende des Nonfiction-Films in den Lichtspielhäusern. 6.

Der D o k u m e n t a r f i l m im Fernsehen

Das Verschwinden des Kulturfilms in den deutschen Kinos fiel zeitlich mit der zunehmenden Verbreitung des Fernsehens zusammen. In dem neuen Medium gehörten Dokumentationen von Anbeginn zu einer festen Konstante innerhalb des Programms. So strahlte die A R D 1954 die Dokumentation M U S U R I - ES G E H T A U F W Ä R T S A M K O N G O aus. 1957 entstand die erste Dokumentationsreihe A U F DER SUCHE NACH FRIEDEN U N D SICHERHEIT. Während im Kino der tradierte Ufa-Kulturfilm nach dem Krieg noch über ein Jahrzehnt weiter existierte, beschritt der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Anlehnung an die englische Dokumentarfilmschule und nach den nordamerikanischen Vorbildern neue Wege. Regisseure, wie Peter von Zahn oder Rüdiger Proske setzten mit ihrer demokratischen Berichterstattung neue Maßstäbe. Im Unterschied zum Kulturfilm, bei dem der off- bzw. onTon eine wesentliche Rolle spielte, setzten die neuen Dokumentationen verstärkt auf visuelle Gestaltungsmittel. Charakteristisch für die frühen Dokumentationen ist die häufige Anwesenheit der Reporter im Film, die auf diese Weise den Zuschauer zu Hause individuell ansprechen wollten. Ab Ende der fünfziger entwickelte sich in der Bundesrepublik wie in der D D R das Fernsehen mit seinen Informations- und Magazinsendungen zu einem scheinbar weltumspannenden dokumentarischen Medium. In den ersten Jahren mußten die Berichte und Analysen der Fernsehanstalten noch mit Hilfe traditionaller Verkehrsmittel in die Redaktionen transportiert werden. Seit den siebziger Jahren wird der Datentransport in wachsendem Maße von der Satellitentechnik übernommen. Dies führt nicht nur zu einer schnelleren, sondern auch zu einer vermehrten Informationsübertragung. Das sich ständig vergrößernde Uberangebot an Informationen ermöglicht und erfordert zugleich eine Beschränkung auf ausgewählte Themen in Relation zur vorhandenen Sendezeit. Mit der Zunahme an Programmangeboten wird die Entscheidung über die inhaltliche Auswahl immer ausschließlicher unter dem Aspekt der Marktanteile getroffen.

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Am Ende der fünfziger Jahre und zu Beginn des folgenden Jahrzehnts wandten sich in verschiedenen westlichen Ländern junge Regisseure gegen die Inhalte des Kommerzkinos. So verabschiedeten die amerikanischen Filmemacher im September 1960 eine entsprechende Resolution, 1962 wurde in der Bundesrepublik das Oberhausener Manifest beschlossen, und in Frankreich machten Vertreter der Nouvelle Vague auf sich aufmerksam. Zur gleichen Zeit überschritten im Osten Europas, zunächst vor allem in Polen und Jugoslawien, Regisseure mit ihren Filmen die bisherigen thematischen und ästhetischen Grenzen des sozialistischen Realismus (Dazu und zum folgenden ausführlich und mit weiteren Literaturhinweisen: Roth 1982, lOffi). Ausgelöst wurden die Protestwellen auf dem Gebiet des Dokumentarfilms vor allem durch technische Erfindungen. Durch die von den Amerikanern Richard Leacock, Robert Drew und Donn Alan Pennebaker entwickelte Synchrontontechnik und die Möglichkeit, hochempfindliche 16 mm-Filme sowie lichtstarke Objektive zu nutzen, konnten sich die Teams nicht nur ohne die bisherigen Beschränkungen bewegen, sondern auch die Abhängigkeit von der Beleuchtung konnte wesentlich verringert werden. Mit dem Film PRIMARY, der einen Ausschnitt aus dem Vorwahlkampf Humphrey und Kennedy zeigt, gelang es Leacock, Drew und Pennebaker, reale Personen in realen Situationen in bewegten Bildern festzuhalten. Zugleich entstanden dank des Originaltons erstmals Filme ohne vorgefertigte Dialoge. Vor dem Hintergrund der neuen technischen Möglichkeiten entwickelten sich zwei unterschiedliche Richtungen im nonfictionFilm, das Direct Cinema, für das vor allem Filme der Amerikaner Richard Leacock, Robert Drew und Donn Alan Pennebaker standen, und das Cinéma Vérité, dessen wichtigste Vertreter die Franzosen Jean Rouch und Chris Marker waren. Der Unterschied zwischen beiden Strömungen lag im Verständnis des Dokumentarischen. Analog der strikten Trennung von Information und Meinung in der Presse, gingen die Amerikaner davon aus, daß die Kamera Handlungen nur abzubilden, sich aber nicht einzumischen habe. Wie im Fotojournalismus, den Drew auf Grund seiner Tätigkeit bei Time-Life kannte, sollte auch beim Dokumentarfilm nur durch die Dramatisierung des Abgebildeten oder durch Konflikte, die im Stoff selbst zu Tage traten, das Zuschauerinteresse geweckt werden. Die

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Dramatik konnte nur durch Sujetauswahl, kommentierende Schwenks und Schnitt erzielt werden. Infolgedessen verzichteten die von ihnen produzierten Dokumentarfilme auf jede vordergründige Belehrung und überließen die Interpretation des vorgeführten Materials der Beurteilung durch die Rezipienten. Die Franzosen plädierten dagegen für einen Methodenpluralismus, um sich mit Hilfe des Mediums der Wirklichkeit zu nähern. Die internationalen Veränderungen auf dem Gebiet des Dokumentarfilms wirkten sich schnell auch auf Deutschland aus. Ihre Breitenwirkung entfalteten sie aber über das Fernsehen. In der Bundesrepublik war es vor allem Klaus Wildenhahn, der auf den amerikanischen Ansätzen aufbaute. 1964 drehte der Filmemacher unter dem Panorama-Chef Eugen Kogon fast ohne Kommentar drei kurze Filme über die Parteitage von CDU, CSU und SPD. Insbesondere der Beitrag über die CSU erregte Aufsehen, weil Wildenhahn hier Politkeraussagen mit Zuständen in Bayern konfrontierte. Jenseits der Politik begann der Dokumentarfilm sich zunehmend auch für „Sensationen des Alltags" zu interessieren. Beeinflußt durch den 1964 in Italien produzierten Film SIAMO ITALINI, der das Medium zur Artikulation von Gegenöffentlichkeiten nutzte, und den Studentenprotesten von 1968, erhielten in der Folgezeit auch in der Bundesrepublik soziale Randgruppen oder Außenseiter Möglichkeiten, sich zu artikulieren. Darüber hinaus verband etwa Wildenhahn Dokumentationen über Musikereignisse und Theaterproben mit einer Gesellschaftsanalyse. So konfrontierte er in EINE W O C H E AVANTGARDE F Ü R SIZILIEN (1965) in Kontrastmontagen Bilder und Töne des gesponserten Festivals mit dem menschlichen Elend in Süditalien. Das Beispiel beleuchtet, in welch hohem Maße die thematische Sensibilisierung des nonfictionFilms für den Alltag eine politische Positionierung der Filmemacher einschloß. Andere Filme zeigten kleine Ausschnitte von Wirklichkeiten und hoben sich auf diese Weise von der scheinbaren inhaltlichen Beliebigkeit der Themenauswahl im Fernsehen ab. Zur ersten Blüte des Dokumentarfilms im öffentlich-rechtlichen Fernsehen entwickelte sich dabei die Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks, Z E I C H E N D E R ZEIT, die von dem ehemaligen Spiegelredakteur Dieter Ertel entwickelt wurde. Inhaltlich wurde sie ergänzt durch Dokumentationen zu historischen Ereignissen, Zeitzeugenberichte/-inter-

views, wie die von Hans-Dieter Grabe im Z D F bzw. Günter Gaus für die A R D verantworteten, und durch das Dokumentarspiel. Mit Hilfe von letzterem wurden historische Ereignisse auf der Basis von Originalquellen durch Schauspieler nachgestellt, so etwa Heiner J. Kipphards Stück IN D E R SACHE J. ROBERT O P P E N H E I M E R (Wagner 1990, 30f.). Insofern ermöglichte Fernsehen einen wesentlich breiteren Ansatz im Hinblick auf das Dokumentarische, als es dem Film möglich war. Nach dem Bau der Berliner Mauer wurde in der D D R der Alltag, wie in anderen sozialistischen Staaten, zum wesentlichen Thema des Dokumentarfilms. Als erster drehte Karl Grass zwei Filme im Erdölverarbeitungswerk Schwedt. In der Folgezeit entstanden bis 1989 im Auftrag des Dokumentarfilmstudios Babelsberg und des Staatlichen Filmarchivs eine Vielzahl von Dokumentarfilmen. Im Ergebnis entstand ein bemerkenswert differenziertes und professionell bearbeitetes Material, das die Gesellschaft über weite Strecken durchaus kritisch reflektiert. Insofern standen viele dieser Dokumentationen im krassen Gegensatz zu den glorifizierenden Bildern, die das Fernsehen ausstrahlte. Die relativ einfach zu bedienende Technik und die vergleichsweise billige Herstellung von Dokumentarfilmen in den 70er Jahren ermöglichten in beiden deutschen Staaten neue Formen der Entdeckung des Alltags. So wurden in der Bundesrepublik unter dem Einfluß der Studenten- und Alternativbewegung beispielsweise Konfliktsituationen thematisiert, indem offizielle Aussagen mit der Meinung von Betroffenen konfrontiert wurden (Zimmermann 1992, 34). Das Staatliche Filmarchiv der D D R ließ zur gleichen Zeit punktuell Dokumentaraufnahmen in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens herstellen, die jedoch nie öffentlich gezeigt wurden, z. B. Thomas Heises 14stündige Dokumentation über den Arbeitsablauf in einer Ostberliner Polizeiwache. Für die weitere Entwicklung des Dokumentarfilms spielten Langzeitbeobachtungen eine besondere Rolle. In der Bundesrepublik suchte z. B. Wildenhahn über mehrere Monate nach den historischen Kontexten für das gegenwärtige Leben in Emden. Eberhard Fechner arbeitete an seinem Film WOLFSK I N D E R mehr als 22 Jahre. In all seinen Filmen, die zum Teil mehrfach ausgezeichnet wurden, stellte der Regisseur mit Hilfe von Interviews ein deutsches Panorama quer

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durch unterschiedliche soziale Schichten dar. In der D D R dokumentierte Winfried Junge über mehrere Jahre die Entwicklung einer Schulklasse in Golzow in Form von Gesprächen und Interviews. Ab Mitte der siebziger Jahre besuchte Volker Koepp mehrfach Textilarbeiterinnen in Wittstock. Während ein Teil der in den sechziger und siebziger Jahren begonnenen Filme gradlinig erzählt, das optische Material stark verdichtet oder kontrapunktisch zusammensetzt, mutierten andere in den siebziger Jahren unfreiwillig zu „Radiofilmen", weil es einigen Nachahmern Wildenhahns nicht gelang, Erzählung, Ruhepunkte und Kameraführung aufeinander abzustimmen. Jenseits der biographischen Notizen und den Aussagen über politische Einstellungen enthalten viele der Langzeitbeobachtungen einen hohen Uberschuß an Informationen über zeitgenössische Realitäten, die sich oft in vielen kleinen Details äußern. Neben den Langzeitbeobachtungen nutzten verschiedene Regisseure den Film als Medium für die sozial und politisch Unterprivilegierten. Insbesondere Absolventen der in Berlin ansässigen Deutschen Film- und Fernsehakademie drehten zu Beginn der siebziger Jahre eine Reihe zum Teil auch im Fernsehen gesendeter Streifen in unterschiedlichen sozialen Umfeldern. Sie alle stellten Menschen in den Mittelpunkt, die sich normalerweise in den Medien nicht äußern konnten. Auf diese Weise entstand eine Art Gegeninformation zu den etablierten Medieninhalten. Die Erweiterung unseres visuellen Gedächtnisses durch die Fotografie und den Film führte schon in den zwanziger Jahren zu ersten historischen Dokumentationen, wie die Arbeiten von Esfir èub VELIKIJ PUT' und P A D E N E N I J DINASTII R O M A N O \ Ί Φ oder die beiden Ufa-Produktionen über den Weltkrieg. Andere historische Kompilationen, wie F E U E R T A U F E oder WHY WE FLY entstanden im zeitlichen Umkreis des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel, die Rezipienten von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen. Während in den fünfziger Jahren die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Bundesrepublik weitgehend tabu blieb, entstanden in der D D R erneut Kompilationsfilme. Sie stellten die D D R als Ergebnis des jahrzehntelangen Kampfes der Arbeiterklasse um Demokratie und Fortschritt dar und die Bundesrepublik als Heimstatt der Reaktion. Die Ideologisierung all dieser Filmaussagen wirft bereits die Frage nach der immer wieder beschworenen Au-

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thentizität auf, die zum Teil auch später hergestellte Dokumentarfilme berührte. Alle verwendeten Bilder und Töne, die in der Regel aus Archiven stammten, konnten nicht immer historisch exakt datiert werden. Uber bestimmte Ereignisse existierten keine Bilder, weil sie geheim waren oder, wie ζ. B. im Ersten Weltkrieg die Grabenkämpfe, nicht gefilmt werden konnten. Um Aussagen zu untermauern, wurden historische Szenen nachgestellt. In den sechziger Jahren begann auch im Film der Bundesrepublik eine intensive Auseinandersetzung mit der Zeit des Dritten Reichs. Erwin Leiser drehte seine ersten Filme noch in Schweden (DEN BLODIGA) und in der Schweiz ( E I C H M A N N U N D DAS DRITTE REICH). Der Mitgebründer der englischen Dokumentarfilmschule, Paul Rötha, produzierte 1961 in Hamburg DAS LEBEN A D O L F HITLERS. Die im einzelnen sehr unterschiedlichen Filme verwendeten für ihre historische Bestandsaufnahme bisher zum Teil unbekanntes Material. Im internationalen Vergleich, etwa mit den polnischen oder sowjetischen Filmen, die ebenfalls versuchten, sich mit neuen Bildern und Tönen an die Nazidiktatur heranzutasten, wurde deutlich, daß Authentizität und Wahrheit im Dokumentarfilm auseinanderfallen. In den siebziger Jahren wurden zwischen die Filmausschnitte zunehmend Aussagen von Zeitzeugen, Opfern wie Tätern, geschnitten. Des weiteren traten in beiden deutschen Staaten zunehmend Gruppen- oder Einzelporträts sowie historische Orte an die Stelle von Überblicksdarstellungen. Das insgesamt breite Themenspektrum mit sehr differenzierten Aussagen hatte zur Folge, daß in bezug auf das Gesamtprogramm Fernsehen als Integrationsmedium fungierte, unter dessen Dach sich unterschiedliche Standpunkte annähern konnten. D a Fernsehberichte auch im jeweils anderen Teil Deutschlands empfangen werden konnten, avancierten bestimmte Kommunikationsinhalte auch zu einer Standortbestimmung innerhalb des Kalten Krieges. Die Auslandsberichte in beiden deutschen Staaten verdeutlichten, daß Themen und ihre Bewertung im Fernsehen, wie früher in den Kulturfilmen, ausschließlich von einem eurozentristischen Blickwinkel geprägt waren. Diese Einseitigkeit erleichterte die Rezeption der Beiträge in Deutschland, weil sie auf die Innensicht des jeweiligen Geschehens verzichteten. Im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten

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übertrug der öffentlich-rechtliche Rundfunk diesen Ansatz auch auf die überregional ausgestrahlten Dokumentationen aus den neuen Ländern. Die Einseitigkeit der Darstellungen hat zur Folge, daß die Einschaltquoten von A R D und Z D F dort auch neun Jahre nach der Herstellung der Einheit wesentlich geringer liegen als in den alten Ländern. Auf die direkte Auseinandersetzung mit dem Westen spezialisierten sich nach dem Bau der Mauer in der D D R Walter Heynowski und Gerhard Scheumann. 1965 strahlte der D F F ihren ersten Interviewfilm KOMM A N D O 52 aus. Er begründete die einzige fernsehpublizistische Schule, die es in 40 Jahren D D R gab. Das Team, das bald unter dem Kürzel H & S firmierte, ließ — im Unterschied zu bisherigen Sendungen — 'Klassengegner' selbst zu Wort kommen. Die gewählten Themen berührten oft politisch stark umstrittene Themen, wie Ende der sechziger Jahre den Krieg in Vietnam (PILOTEN IM PYJAMA) oder den Putsch der Junta in Chile (DER K R I E G DER MUMIEN). Im ersten Beitrag kamen europäische Söldner zu Wort, die gegen die Befreiungsbewegung im Kongo kämpften. Anders als bei anderen zeitgleichen publizistischen Sendungen fehlte bei Heynowski und Scheumann der Wortschwall. Man beschränkte sich auf die filmische Montage und auf Selbstzeugnisse, mit denen sich der jeweilige Personenkreis selbst charakterisierte. Die Recherche zum ersten Film führte das Team auf die Spuren des deutschen Söldnerführers Siegfried Müller — auch Kongo-Müller genannt. In dem 1966 ausgestrahlten Film D E R L A C H E N D E M A N N wurde er über seine Tätigkeit im Kongo interviewt. Das Team erhielt für diesen Streifen seinen ersten internationalen Preis. Internationale Diskussionen löste vor allem die Annäherung der Dokumentarfilmer an den sie interessierenden Personenkreis aus. Walter Heynowski und Gerhard Scheumann arbeiteten mit verschiedenen Tricks, um sich ihren Zielpersonen zu nähern. So nutzten sie für das Interview mit Müller seine Alkoholabhängigkeit und seine unmittelbar vor dem Interview stattgefundenen Erfolge auf dem Kriegsschauplatz aus. Beide Monmente ließen ihn besonders redselig werden. Wie Müller wußten schließlich auch die übrigen Personen, die sich in den weiteren Filmen äußerten, nicht, daß die Dokumentarfilmer aus der D D R kamen. Insgesamt entstanden auf diese Weise bis 1989 etwa 50 Dokumen-

tarfilme und Spots, die auch außerhalb des Fernsehens genutzt wurden. Neben Kinovorführungen nutzten etwa auch Theaterregisseure Filmausschnitte von Heynowski und Scheumann, um sie in Theaterinszenierungen zu integrieren. Die meist als zu kritisch empfundenen Dokumentarfilme der DEFA erhielten im Fernsehen der D D R keinen Sendeplatz. Bis auf unterhaltsame Dokumentationen, wie über den Verlauf der Spree, blieb die Gegenwart der D D R jenseits der Nachrichten- und Magazinsendungen weitgehend aus dem Adlershofer Programm ausgespart. Nach seiner Absetzung als Leiter der Abteilung Dramatische Kunst 1978 entwickelte Hans Bentzin als Leiter der Abteilung Geschichtsdokumentation eine Reihe historischer Dokumentationen, die ausgestrahlt wurden, obwohl sie sich inhaltlich nicht in das enge Geschichtsbild der D D R einpaßten. In bezug auf die Eigenproduktionen des öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde nicht zuletzt infolge einiger spektakulärer Zensurentscheidungen deutlich, daß die verantwortlichen Redakteure und das politische Klima wesentlichen Einfluß auf die Inhalte und damit auch die Konfliktdarstellungen innerhalb der jeweiligen Beiträge hatten. „Unter dem Eindruck der politischen Tendenzwende und der Resignation und Integration oppositioneller und alternativer Strömungen wurde seit Ende der siebziger Jahre der Aufklärungsanspruch des politisch engagierten Dokumentarfilms selbst auf illusionäre Projektionen und ideologisches Wunschdenken hin überprüft. Im Zeichen der Postmoderne entstanden in zunehmendem Maße bewußt subjektive und vielfach essayistische Dokumentarfilme, die die Möglichkeit authentischer Widerspiegelung von Realität durch den dokumentarischen Film grundsätzlich in Frage stellten" (Zimmermann 1992, 35). Für das Programm hatte diese Entwicklung zur Folge, daß Dokumentationen zunehmend auf wenige Sendeplätze, wie 'Das kleine FernsehspieP (ZDF) oder 'Unter deutschen Dächern' (ARD) quantitativ und thematisch beschränkt wurden. Von Ausnahmen, wie etwa in Teilen von Spiegel-TV abgesehen, verschwand der Aufklärungsanspruch des Dokumentarfilms in den neunziger Jahren endgültig. Vor allem zwei Gründe bedingten diese Erscheinung: Bereits der 8 mm-Film erlaubte, vielfältige vor allem auch private Ereignisse zu filmen. Durch die Einführung der Videokamera ver-

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vielfachten sich die diesbezüglichen Möglichkeiten. Infolgedessen steht heute wesentlich mehr Bildmaterial zur Verfügung als noch vor einem Jahrzehnt. Allerdings hat der Konkurrenzdruck der Bildproduzenten unter dem Anwachsen der zur Verfügung stehenden Filme auch dazu geführt, daß erreichte Standards, etwa im Ausleuchten des Hintergrunds oder im Schnitt, aufgegeben wurden. Dieses führte zwangsläufig zur Einebnung der ästhetischen Gestaltung der Beiträge, obwohl die in den Sendern vorhandene Technik größere Spielräume in der Bildkonfiguration zuließe. Darüber hinaus hat der Beginn des dualen Rundfunks die Programmauswahl stark anwachsen lassen. Die Werbefinanzierung der privaten Anbieter hat von Seiten der Verantwortlichen den Kampf um Marktanteile in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die einzelnen Beiträge wurden unter diesen Bedingungen zum Umfeld von Werbung und richteten sich in ihren Inhalten nach den dominanten Interessen der jeweils anvisierten Zielgruppen. Fernsehen wurde unter diesen Bedingungen zunehmend zu einem Medium des Augenblicks, das auf kontinuierliche und auf das Verstehen komplexer Situationen ausgerichteter Beiträge verzichtete. Vor dem Hintergrund, daß generalisierende Ansichten immer weniger Bestand haben, sind die Rezipienten offensichtlich kaum noch bereit, sich von Reportern, Journalisten und Filmemachern bestimmte Meinungen vordergründig aufdrängen zu lassen. Die Verantwortlichen in den Redaktionsstuben versuchen den Kampf um die Zuschauer mit weichen Themen, Sex und Betroffenheitsjournalismus, Naturdokumentationen usw. zu gewinnen. Den vor allem auf das Bild setzenden Beiträgen, die oft gefühlsbetont an- bzw. abmoderiert werden, stehen Dokumentationen wie die 1998 ausgestrahlte sechs-teilige Folge des ZDF, HITLERS HELFER, gegenüber. Da über Personen wie Eichmann oder Mengele kaum Bildmaterial existiert, wurden die einzelnen Beiträge mit Bildern von nur beschränkter Aussagekraft versehen. Insofern ist zu befürchten, daß Dokumentarfilme, die einst als preiswertes Markenzeichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gegenüber der privaten Konkurrenz genutzt wurden, ihren signifikanten Charakter innerhalb der bunten Bilderwelt des Fernsehens verlieren. An dieser generalisierenden Einschätzung ändert auch der Versuch Alexander Kluges nichts, in Fensterprogrammen privater Fern-

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sehsender oppositionelle Formen und Inhalte anzubieten. Sein Prinzip, individuelle Handschriften von Autoren durch individuelle Zugänge zu ausgewählten Programmen zu ermöglichen, hinterläßt, wie die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zeigt, keine erkennbaren Spuren. Das Quotenproblem beim öffentlich-rechtlichen Kultursender Arte verweist in die gleiche Richtung. Unter dem Aspekt, daß die Gegenwart in immer zahlreichere Wirklichkeiten und somit Wahrheiten und Bilder zerfallt, die Geschichtswissenschaft immer wieder neue Blickwinkel auf die Vergangenheit eröffnet und die digitalen Medien neue Formen der Bildgenerierung erlauben, werden sich die im Fernsehzeitalter entstandenen NonfictionDarstellungen in Zukunft wahrscheinlich noch weiter differenzieren. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verifizierung von Wirklichkeiten ist auch der theoretische Diskurs zu verstehen, der seit langem über den Dokumentarfilm im allgemeinen und dem Dokumentarischen im Fernsehen im besonderen geführt wird. Die gegebenen Antworten sind ebenso differenziert (vgl. u. a. die Zusammenfassung der Diskussion in: Berg-Walz 1995, 16ff.; 54ff.), wie sich der Dokumentarfilm selbst dem Rezipienten präsentiert. Peter Zimmermann definiert den Dokumentarfilm als „eine im gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß zwischen Autoren, Vermittlern und Publikum stets neu sich herausbildende Übereinkunft darüber, was als dokumentarisch, wahr und authentisch zu gelten hat oder akzeptiert wird" (Zimmermann 1992, 32). Möglicherweise verweist die relative thematische Beliebigkeit der dokumentarisch behandelten Fernsehthemen in der 2. Hälfte der neunziger Jahre darauf, daß es immer schwieriger wird, zielgruppenübergreifende Übereinkünfte zu finden. 7.

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Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin ( Deutschland)

103. Die kommunikativen und ästhetischen Funktionen der Filmmusik

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103. Die kommunikativen und ästhetischen Funktionen der Filmmusik 1. 2. 3. 4.

Wirkungen Funktionen Filmmusik? Literatur

1.

Wirkungen

An ganz bestimmten Stellen in Spielbergs 'Schindler's List' hört man die Menschen im Kino weinen. Wenn in 'Dancing with the Wolves' die Pfeile der Indianer akustisch quer durch den dunklen Raum zischen, duckt sich ängstlich das Auditorium. Wenn die Farmersfrau Francesca in 'Bridges of Madison County' ihren unbekannten Besucher Robert vom Fenster aus betrachtet, wie der sich am Brunnen wäscht und dabei eine sanfte, scheue Klaviermusik sich artikuliert, so fühlen wir, was Francesca fühlt: aufkeimende, zärtliche Empfindung. Wenn die mit perfektem computertechnischem SoundDesign hergestellten subfrequenten Schwingungen in den Kellerräumen von 'The Silence of the Lambs', vom Ohr kaum bemerkt, vom Körper indessen umso deutlicher aufgefangen werden, dann ist ein beständiges Gefühl von Beklemmung und unterschwelliger Angst unvermeidlich. Und wenn auf dem leeren Dorfplatz in 'Once upon a Time in the West' der Mörder Frank auf mögliche Attentäter lauert, dann teilen uns die stockenden Schlagzeug-Kleckse mit, daß höchste Spannung und größte Gefahr angesagt sind bei einer Musik, welche die Luft so anhält, wie wir selbst sie anhalten. Es besteht kein Zweifel: Filmmusik macht Wirkung, weil sich niemand den elementaren musikalischen Gesten (dem Zärtlichkeits-Gestus, dem Aktivitäts-Gestus, dem Depressions-Gestus und dem Imposanz-Gestus, vgl. Rösing 1993) entziehen kann. Es handelt sich um im Grunde sehr einfache vegetative Reaktionen dergestalt, daß die Folge von rhythmischen Patterns in raschem Tempo (eine Art 'Zeitraffung' also) Puls- und Atemfrequenzen erhöht. Entsprechend verlangsamen sich solche physiognomischen Reaktionen bei 'zeitgedehnter' Musik unterhalb 'Λ = 72 M M (was dem normalen Pulsschlag im Ruhestand entspricht). Seit den dreißiger Jahren werden empirische Untersuchungen hinsichtlich einer Wirkung von Musik auf die Filmwahrnehmung und auf das Film-Erleben vorgenommen. Deren Ergebnisse sind indessen allesamt unbefriedigend insofern, als das filmische Er-

lebnis vollumfänglich nur im abgedunkelten Kino stattfindet (womöglich noch beeinflußt durch jene Menschen, die in Begleitung sind): an einem Ort und in einer situativen Befindlichkeit also weit jenseits von Labors und anzukreuzenden Polaritätsprofilen. Einen umfassenden Uberblick über den Stand diesbezüglicher Wirkungsforschung gibt die Dissertation von Claudia Bullerjahn (1997). Sie gliedert die Wirkungsebenen wie folgt: — — — — — — —

Emotionale Einfühlung Urteils-/Meinungsbildung Strukturelle Wahrnehmung Kognitive Schemata/Anwendung Lernen von Fakten Bannung/Vereinnahmung Verhalten (ζ. B. Wahl- und Kaufentscheidungen)

Die Bullerjahn-Synopse läßt sich in Schlagworten wie folgt referieren: (1) Filmmusik hat einen maßgeblichen und unmittelbar feststellbaren Einfluß auf den emotionalen Gesamteindruck bzw. die Stimmung des Films, sofern kognitive Prozesse dies nicht unterbinden. (2) Das Ausmaß der Beeinflussung von Meinung ist von vorher gebildeten Urteilen und Präferenzen abhängig (Musik richtet nichts aus, wenn der Betrachter einen klaren Meinungsstandpunkt hat in Bezug auf das, was er sieht). (3) Filmmusik ist in der Lage, die strukturelle Wahrnehmung der Bilder zu beeinflussen (Bei gleichbleibender Musik wird ζ. B. die Wahrnehmung von Bildschnitten gemindert). (4) Filmmusik kann bei ambivalenten bzw. in ihrer Aussage unklaren Filmszenen als Hinweisreiz für ein bestimmtes kognitives Schema dienen (Sie kann ζ. B. die Mutmaßung, wie eine Handlung zu deuten ist oder wie sie weitergehen könnte, beeinflussen). (5) Ob Musik Lernprozesse bei sog. Bildungsfilmen befördern kann, ist aufgrund der vorliegenden Ergebnisse nicht zu entscheiden. Eine durchgehende Unterlegung mit Musik stört die sprachliche Vermittlung von Fakten. (6) Besonders in der Anfangsphase einer filmischen Rezeption lenkt vor allem schnelle Musik die Aufmerksamkeit ab.

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XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

(7) Eine direkte Beeinflussung des Verhaltens durch Filmmusik ist vermutlich nicht gegeben. Möglicherweise begünstigen Vorlieben für diese oder jene Musik (ζ. B. in Werbespots) die Akzeptanz eines Medienprodukts im Sinne eines SympathieTransfers (vgl. Bullerjahn, a. a. O.). Neben solchen empirischen Befunden mit fraglichem Aussagewert gibt es ein eindrückliches Indiz dafür, daß Filmmusik, obwohl sie im Kino selten bewußt wahrgenommen wird (vgl. Behne 1994), als essentieller Bestandteil des filmischen Erlebens bewertet und geschätzt wird: die stetig steigende Tendenz der Verkaufszahlen bei Soundtrack-CDs. Indem musikalische Gesten mit konkreten Filminhalten (Liebes-, Trauer- oder Spannungsszenen) 'beschriftet' werden, verhält der Hörer solcher CDs die Möglichkeit, jene Schlüsselszenen mittels seines 'affektiven Gedächtnisses' zu erinnern und beliebig oft zu wiederholen. Daß diese inhaltlichen 'Beschriftungen' — nennen wir es eine moderne Form der 'Programmusik' — dem Hörer die Gelegenheit gibt, die zunächst im Kino erlebten Gefühle später sozusagen auf Knopfdruck mehrfach nachzuerleben, kommt begünstigend hinzu. Nicht zu vergessen das Folgende: in den bei Bullerjahn referierten Wirkungsuntersuchungen wurden die Effekte von neuen Formen eines gezielt sensorisch wirkenden Film-'Klangs' (gesampeltes FilmSoundDesign und vielkanalige SensorroundUbertragungen) noch nicht erfaßt. Spätestens seit den siebziger Jahren sind Geräusche in der Lage, Filmmusik vollumfänglich zu ersetzen (vgl. Wolff 1996). Es steht zu vermuten, daß solche Klangbilder mit ihren extremen Frequenzbreiten zwischen hohen, scharfen Registern bis hin zu tieffrequenten Schwingungen, mit massiven Schalldrücken und mit Bewegungen im dreidimensionalen akustischen Raum beim Betrachter heute zu körperlichen Effekten führen, an denen auch kognitive Prozesse bzw. kognitive Schemata nichts ändern können. Im Kino von heute mit mehr als dreißig leistungsfähigen Lautsprechern rund um den Betrachter ist dieser den großformativen Mixturen aus überdimensionierten Klängen und Geräuschen nahezu hilflos ausgesetzt, es mag sich um die sinnenbetäubende Straßenschlacht in 'Heat', um die schrille Verfolgungsszene in 'French Connection', um das nervenzerfetzende Schiffsrumpfbersten in 'Titanic' oder um die bedrückende Stille in 'Das Boot' handeln,

von der die berühmte Einbruchsszene in 'Rififi' bereits einen aufregenden Vorgeschmack gab. Freilich muß man dann auch einsehen, daß der Begriff 'Filmmusik' obsolet geworden ist und — weil inhaltlich zu schmal — einem flexibler gefaßten Brgriff weichen muß: dem des FilmKlangs oder des FilmSoundDesigns. Und weiter: die noch ungelösten methodologischen Probleme einer diesbezüglichen Rezeptionsforschung (notabene auch des analytischen Instrumentariums) liegen darin, daß die auditive Schicht nur einer von vielen anderen filmischen Subtexten ist; weder sie noch ihre Wirkungen, notiert Klüppelholz, seien voneinander zu isolieren: „Das Erlebnis von Spannung und Gefühlen im Film ist multifaktoriell, die Intergration seiner Subtexte [Plot, Dialoge, sichtbares Spiel, Räume, Licht, Farben, Kamerabewegungen, -einstellungen, -stil, Montagerhythmen] führt zu einem System emotionaler Synergien", zu einem nicht allein von den Klängen entfachten „physiologischen Sturm" (Klüppelholz 1999, 300). Diesbezügliche exemplarische Analysen stehen noch aus. 2.

Funktionen

Bereits 1949 legt Aaron Copland einen Katalog der filmmusikalischen Funktionen vor (zit. n. Prendergast 1977): (1) Musik kann eine überzeugende Atmosphäre von Zeit und Ort schaffen. (2) Musik kann benutzt werden, um psychologische Feinheiten zu begründen oder zu verdeutlichen — unausgesprochene Gedanken einer Person [...]. (3) Musik kann als eine Art neutraler Hintergrundfüller dienen. (4) Musik kann helfen, ein Gefühl von Kontinuität im Film aufzubauen. (5) Musik kann das Fundament liefern für den dramaturgischen Aufbau einer Szene und sie dann durch eine musikalische Schlußwirkung abrunden. Eine bewundernswert gründliche und ausführliche Darstellung von Filmmusik-Funktionen liest man bei Zofia Lissa (1965). Ihre Systematik reicht vom „Wesen des Illustrativen" über „Musik als Ausdrucksmittel psychischer Erlebnisse" bis hin zu den „Funktionen der Geräuscheffekte und der Stille". Alle späteren funktionsästhetischen Erörterungen fußen auf Lissas feinsinnig diskutierten Kategorien, wenn sie nicht gar wörtlich dort abgeschrieben sind.

103. Die kommunikativen und ästhetischen Funktionen der Filmmusik

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Hansjörg Pauli bringt die ästhetischen Prinzipien der Filmmusik vereinfachend auf drei Kategorien (1976; vgl. auch dessen kritische Revision 1981):

(17) (18) (19) (20)

(1) Paraphrasierung: Musik verdoppelt die bildliche bzw. inhaltliche Ebene, indem sie die filmischen Bewegungen und Gesten mitvollzieht (Dafür steht der Begriff des „Mickeymousing" ein). (2) Kontrapunktierung: Musik steht quer zum Bild, bricht damit die Identifikation des Betrachters mit dem Filmgeschehen, setzt ihn „zwischen die Stühle" und behauptet gewissermaßen das Gegenteil zur Botschaft der Bilder. (3) Polarisierung: Musik weist einer neutralen oder ambivalenten Filmbotschaft eindeutigen Ausdruck bzw. Charakter zu.

In diese eher zufällige Ansammlung von Funktionen, welche sich in konkreten Fällen mehrfach überlagern können, greifen Maas und Schudack nochmals mit ordnender Hand ein und schlagen ein strukturalistisches Modell vor (1994):

Lothar Prox macht seine Ästhetik der Filmmusik an drei individuell-kompositorischen Schreibweisen fest und unterteilt in (1) Max Steiners Methode der „deskriptiven Filmmusik" (was Copland einmal zur spöttischen Bemerkung verführte, in Filmen mit Steiners Musik sei es der Hauptperson nicht möglich, auch nur die Augenbrauen hochzuziehen, ohne daß ihr dabei nicht zwanzig Geigen zu Hilfe eilten). (2) Alfred Newmans Methode einer „expressiven Filmmusik". (3) Bernard Herrmans Methode einer „sensorischen Filmmusik" (1977/78; zit. n. Schmidt 1982a). Einen üppigen Katalog filmmusikästhetischer Bestimmungen legt Norbert Jürgen Schneider 1986 vor. Demnach könne die Musik ... (1 (2 (3 (4 (5 (6 (7 (8 (9 (10 (Π (12 (13 (14 (15 (16

Atmosphäre herstellen Ausrufezeichen setzen Bewegungen illustrieren Bilder integrieren Emotionen abbilden Epische Bezüge herstellen formbildend wirken Geräusche stilisieren Gesellschaftlichen Kontext vermitteln Gruppengefühl vermitteln Historische Zeit evozieren irreal machen karikieren und parodieren kommentieren Nebensächlichkeiten hervorheben Personen dimensionieren

physiologisch konditionieren Rezeption kollektivieren Raumgefühl herstellen Zeitempfindungen relativieren

(1) Tektonische Funktionen (Musik als Baustein zur äußeren Gestaltung des Films; großstruktureller Bezug): — Titelmusik — Nachspannmusik — Musiknummer (als Teil der Handlung) (2) Syntaktische Funktion (Musik als Element der Erzählstruktur; formaler Bezug): — Akzentuierung von Szenenhöhepunkten (dramatischer Akzent) — Verklammerung von Szenenfolgen (musikalische Klammer) — Verklammerung zeitlich geraffter Vorgänge (Zeitraffer-Klammer) — Trennung von Real- und Traumhandlung (3) Semantische Funktionen (Musik als Element der inhaltlichen Gestaltung; inhaltlicher Bezug): a) konnotativ — Stimmungsuntermalung (MoodTechnik) — Bewegungsverdoppelung (Mickeymousing) — physiologische Stimulation (Sensorround, SoundDesign) b) denotativ — Leitmotiv — Inzidenzmusik (Source Music) — historische/geographische Deskription — gesellschaftliche Deskription — musikalisches Zitat — Denken/Unsichtbares durch Musik ausdrücken c) reflexiv (authentisch) — Musik als Handlungsgegenstand (auf sich selbst verweisend) (4) Mediatisierende Funktionen — zielgruppenspezifische Musikauswahl — Erwartungshaltung des Publikums Allerdings hat auch ein solches Modell seine systematischen Tücken. Wenn z. B. Mutter und Tochter in Bergmans 'Herbstsonate' sich

1140

XXIII. Geschichte des Films und seiner Erforschung III: Kommunikative und ästhetische Analysen

am Klavier treffen (vgl. Merten 2000), wo zunächst die Tochter das a-Moll-Prélude von Chopin vorspielt (unsicher und scheu), sodann die Mutter als Konzertpianistin demonstriert, wie man Chopin zu interpretieren habe (dominant, auftrumpfend und herb), dann spielt das Prélude gleich mehrere Rollen und verweigert sich einer Einsortierung in die eine oder andere Funktionsschublade. Es tritt in Erscheinung als — Musik in ihrer natürlichen Rolle — Musiknummer als Teil der Handlung — Hinweis auf die Unsicherheit und Unterlegenheit der Tochter — Symbol für mütterliche Dominanz — formal einender Faktor (viele Einstellungen gleiche Musik) — Hinweis auf kommende Streitigkeiten (dem „Vorspiel" folgt dann eine Konflikt-,, Fuge") — Möglichkeit als Einfühlung für den Betrachter (Mitleid mit Tochter, Antipathie gegen Mutter) — Repräsentation des Raumes (intimes Musikzimmer) — Referenzpunkt zweier Weltanschauungen (Demut der Tochter versus kühl-distanzierte Rationalität der Mutter, vgl. Schmidt 1982a)

3.

Filmmusik?

Grundsätzlich fallt unter diesen Begriff jedwede Art von Musik, die für einen Film komponiert bzw. als Fremdmusik für diesen verwendet wird. In der Forschungslandschaft gibt es allerdings noch mancherlei weiße Flecken. Von zwei Publikationen abgesehen (Schneider 1989 bzw. 1997) ist der Musik in Dokumentarfilmen noch kaum Beachtung geschenkt worden. Auch der Frage, wie die Musik im sog. Autoren-Film gehandhabt wird, wird nur sehr zögerlich nachgegangen (vgl. Schmidt 1992). Regisseure wie z.B. Louis Malle, Martin Scorsese oder Stanley Kubrik (vgl. Bodde 2000) arbeiten mit sozialgeschichtlich definierten musikalischen Charakteren, was einen erheblichen Unterschied macht zu speziell komponierten Soundtracks. Noch in den Anfängen stecken auch solche Analysen, welche sich mit dem sog. 'SoundDesign' befassen (vgl. z.B. Werner 1997, Schneider 1997, Elsaesser/Wedel 1997), d.h. mit einer in der Tat innovativen Form der filmischen Klangspur, darin das Geräusch ebenso sorgfältig komponiert — genauer:

sounddesigned - ist wie die Musik und wo die Grenzen zwischen den akustischen Phänomenen (Geräusch, Musik, Sprache, vgl. 'Apocalypse Now!') fließend geworden sind (das gilt für Filme wie 'Jurassic Parc', 'Outbreak', 'Lost Highway', 'Matrix' ebenso wie für 'La cité des enfants perdus' oder 'Der letzte Kurier'). FilmKlang oder FilmSound oder FilmSoundDesign (die Begriffe sind noch schwimmend) stellt sich nunmehr als integrale Audiokunst vor, darin musikalische Motive, Sprachpartikel und Geräusche computertechnisch verfremdet und zu vielkanaligen Klanggebilden zubereitet werden, welche dann auf die Physis und auf die Psyche des Filmbetrachters nach der Faustformel 'bigger than Life' derart massiv und unausweichlich einwirken, daß dessen Körperreaktion bzw. dessen Gefühle kalkulierbar und gezielt abrufbar werden. Indessen wäre es einseitig, unter SoundDesign nur den mächtigen und überwältigenden Klang zu verstehen; SoundDesign kann am Rande der Stille als subtile Klanglichkeit gestaltet sein mit der Absicht, ihren Weg „through the Side Door to the Brain" (Randy Thom) zu machen. In Hollywood hat sich deswegen die Einsicht durchgesetzt, daß die sorgfältige Gestaltung von filmischen Audiospuren ca. 50 Prozent der Qualität moderner Filme ausmacht. Das Kino hat sich, paradox gesagt, mithilfe des raffinierten Film Klangs aus seiner eigenen Krise in den siebziger Jahren befreit. Ein Medium für die Augen hat sich zu einem hohen Prozentsatz in ein Medium für die Ohren verwandelt und knüpft heute mit vollkommen neuen technischen Mitteln an jene alten überwältigenden Hörerlebnisse an, welche man in Zeiten des angeblich stummen Films und dessen orchestralen Klanggewalten durch Begleitorchester mit bis zu 120 Musikern hatte (vgl. Pauli 1981). Schließlich wird einer kommerziellen Erscheinungsform noch nicht in jenem Ausmaß Aufmerksamkeit gezollt, in welchem sie sich im alltäglichen Fernsehen, vor allem in TV-Magazinbeiträgen von durchschnittlich 4'30" Länge, etabliert hat: den zahllosen Clichés, die auf Hunderten von CDs den Fernsehredaktionen angeboten werden (ζ. B. von den Firmen 'Koka Media' oder 'Selected Sound'). So kann man, industriell gefertigt und auf CD-ROM-Katalogen nach Stichworten minutiös aufgelistet bzw. mittlerweile vom Sampler bereitgestellt, ein musikalisches 'Armbandglitzern' ebenso laden wie 'Weiße Wolken', 'Depression', 'Morgendämmerung' oder 'Genetische Manipulation'

103. Die kommunikativen und ästhetischen Funktionen der Filmmusik

(vgl. Schmidt 1997). Filmmusik ist auskomponierte Rezeptionsgeschichte und hat sich als eine Ansammlung von Clichés etabliert, um nicht zu sagen: normiert. Als solche werden sie kommerziell einer Zweitverwertung unterworfen und kehren in gedoppelter Clichierung auf den Markt zurück. D a ß zumal jüngere Filmemacher zunehmend bereitwillig Musik aus Spielfilmen zitieren bei der musikalischen Gestaltung ihrer eigenen Produkte, läßt einen Kreislauf ahnen, dessen Darstellung und Ergründung noch ausstehen. Seit Mitte der siebziger Jahre haben wir es also tatsächlich mit etwas Neuem zu tun, obwohl sich die definierten Funktionen von Filmmusik mit denen des SoundDesign annähernd decken (bestimmte Gefühle erzeugen, Aussagen machen, kommentieren etc.). Einhergehend mit technischen Innovationen (Sampler, vielkanaliger Raumklang, Digitaltechnik, One-Man-Studio) und einhergehend mit veränderten Präsentationsformen (z. B. in der Vervielfachung von TV-Kanälen), haben sich neue Rezeptionsmuster etabliert, die zumal bei jüngeren Mediennutzern zu einer stark veränderten Medienkompetenz (Video, DVD, Internet, TV- und Kino-Werbung), zu deutlich veränderten Wahrnehmungs-Toleranzen (Cross Over, DJ-Kultur, Rock/Pop als alltägliches Gebrauchsgut) geführt haben und weiter führen werden. Technische Innovationen, Aufhebung von stilistischen Grenzen (z. B. zwischen Avantgarde, Klassik, Jazz und Rock/Pop), veränderte Nutzergewohnheiten und jugendlich-unbefangene Medienkompetenzen treffen sich in Filmen wie 'Pulp Fiction' oder 'Lola rennt'; sie treffen sich in der Werbung als einem neuen Kleinstkunst-Gebilde, wo die Werbeform den Werbezweck nahezu vollständig verdrängt hat; sie treffen sich in audiovisuellen Medien-Genres, darin wie in einem gegenwartskulturellen „Melting Pot" die technischen, produktiven, konsumtiven und rezeptiven Grenzüberschreitungen und Genre-Synthesen unwiderruflich in Gang gesetzt sind. Tönende Filme - das sind längst nicht mehr nur Bilder, denen man Musik hinzufügt. Filme und ihre höchst differenzierten klanglichen Ausgestaltungen spielen mittlerweile hinüber aufs Gebiet des persönlichen Lifestyles und der invidivuellen Selbstinszenierungen: erwartet werden vom Kinogänger perfekte Sounds mit sorgfaltigem Design; Gleiches erwartet ein Autokäufer, dem der sonore Klang des Motors oder der satt-sanfte Sound schließender Türen neben PS-Zahlen und Beschleunigungswerten kaufentschei-

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dend sind. Erforschungen von solchen affektiven Klangbewertungen stecken indessen noch in den Kinderschuhen.

4.

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XXIV. Geschichte des Films und seiner Erforschung IV: Forschungsgeschichte 104. The Research History of Film as an Industry 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Introduction First Principles The Rise of Hollywood The Studio System The Television Age The Future Scholarly Roadblocks Literatur

1.

Introduction

ception. But the central question most scholars eventually come to is: how does Hollywood theoretically explain film aesthetics, ideology, reception? It would be nice if Marxist determinism handled the problem, but it does not.

2. What are the central debates at stake in the formulation of cinema. These include analyses of technology, aesthetics, and sociology. And history. This essay takes up one crucial aspect of the history of cinema — Hollywood as an industry. The study of the film industry presents a complex task simplified for one key historical reason. Since the 1920s, that is for most of the history of cinema, one industry, that based in the U. S. and known as Hollywood, has dominated the world. Thus the locus of study for the history of the film industry properly begins with Hollywood, not because the cinema industry based in the U. S. has produced the best films (by some criteria) but because it has forced all other national cinemas to begin by dealing with the power of Hollywood as an industry. This is the first principle of the study of the film as industry. As cinema technology has changed from black and white to color, from a traditional 4 x 3 ratio to wide screens, from chemical based celluloid to video, from silent to sound, the Hollywood industry has rules world cinema, and all other cinema industries have had to respond to survive, and then possibly thrive. The study of Hollywood as an industry is crucial and leads to all other cinema studies. But the analysis of Hollywood domination is not why most students and scholars enter film studies. Interest is usually first centered around issues of aesthetics, ideology, and re-

First Principles

Hollywood is an industry, a collection of profit maximizing corporations operated from studio headquarters in the U. S., and so like all film industries it consists of three fundamental components: production, distribution, and presentation of feature film, s Films must be created. Since the early 1910s this has been done in studios in and around Los Angeles — an area generically known as Hollywood although it encompasses more than that city section. From that base the new companies began to distribute their films around the world; since the 1920s worldwide distribution has long been the basis of Hollywood's power. No other film industry has been so far-reaching for so long as Hollywood. Finally, we watch movies in the theaters, and on television at home. Prior to the television age, films were shown principally in theaters sometimes as vast as 6,000 seat movie palaces. Since the 1960s most persons see most movies at home on television. The key question is: how did a collection of major-studio-corporations (Hollywood) come to and continue to dominate the production, distribution, and presentation of movies? Hollywood companies have maintained their control through the coming of sound, the innovation of color and wide screen images, the diffusion of television and home video. In the U. S., Hollywood as an industry has ruled so long it is taken as natural. Outside the U. S. other film industries have had to react to Hollywood's constant presence. That is

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not to say that film industries outside the U. S. did not reflect the imperatives and interests of their cultural heritage. It only states that despite varying cultural context, Hollywood came to dominate in markets from England to Ethiopia, from South America to Africa to Asia. In addition Hollywood gained and maintained so much economic power that it also marginalized other cinemas, particularly documentary and experimental film making.

3.

T h e Rise of H o l l y w o o d

Through the decade of the 1890s into the early days of the 20th century, inventors worked with the first filmmakers and exhibitors to convince a skeptical public to embrace the movie show. The study of the introduction of this new technology focuses on a set of businesses formed to exploit the new knowledge in the U. S. and around the rest of the world. The early inventors and entrepreneurs did not operate in a vacuum, seeking to create some ideal new enterprise, but rather at first they sought to sell their discoveries through the existing entertainment industries, principally vaudeville theater. The locus of economic struggle became was exhibition. First, as Allen (1985) has shown vaudeville (or variety) hall proved the business model embraced. But, as Allen (1982) has also shown for Manhattan, and Gomery (1992) for other cities in the U. S., the exhibition model soon shifted to the nickelodeon, thousands of converted storefront theaters, that from 1905 to 1910 presented hour-long all-movie shows. The nickelodeon in the U. S. became the basis of the film industry that by 1920 became Hollywood. David Bordwell, Janet Staiger, and Kristin Thompson (1985) in their highly influenctial book have argued convincingly how Hollywood established a flexible system for regularly producing (and distributing) feature length motion pictures as well as short subjects and newsreels. By 1925 Hollywood came to stand not only for a means and mode of production but also for world distribution and presentation. This economic development of Hollywood has fascinated historians since it was obvious that Hollywood would offer an industry global in power (Kennedy, 1927; Hampton, 1931). The data for such histories was in ready supply because the corporate comba-

tants sued each other endlessly. In particular Adolph Zukor's various companies, most particularly Famous Players-Lasky and Paramount Publix, become far richer than anyone would have predicted a generation earlier. Cassady (1982) and Conant (1960) richly mine legal data and offer us veins of information historians of Hollywood are still tapping into. This initial period ended with sudden technical change - the coming of sound. The popularity of the talkies enabled new companies, such as Warner Bros., to rise to power and join the small list of Hollywood's major studios (Gomery 1982a; Gomery, 1985a). But more remarkably even though the transition to sound was accomplished in but five years, with Paramount, Loew's and other powerful corporations of the silent era retaining their power, indeed gaining even more corporate clout (Gomery, 1980; Gomery, 1985).

4.

T h e S t u d i o System

The 1930s commenced with the domination by five major Hollywood studios. Historians have struggled to deal with studio system. We have an number of 'insider' studio histories best exemplified by Bosley Crowther's authorized history of Loew's, Inc., and its far more famous subsidiary, M G M . The contradiction is although this tome is rich in data, its is almost wholly lacking in perspective and method. Lillian Ross (1952) is far more skeptical — and more analytical — in her history of M G M and Loew's. There exist a few individual studio histories and powerful producers, for instance Tino Balio's history of United Artists (1976) and Mathew Bernstein's study of Walter Wanger (1994), have appeared. But as fine as these two studies are, United Artists and Walter Wanger hardly stood at the center of the Hollywood industry. Gomery (1986) covers the studio system as a whole, including its major participants, but his study lacks a richness of detail. Klaprat (1985) skillfully engages history with her analysis of a single star, Bette Davis, and how the struggled to work within the studio system. Ida Jeter (1986) looks at workers with less fame and fortune and their efforts to unionize. We need more basic building blocks studies such as these two. The studio era of the 1930s and 1940s was confluenced by legal wrangling, with which as Conant (1960) and Huettig (1944) deal,

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and so there is no lacking data. And during the past decade or so archives for Warner Bros., and R K O have opened, and historians are beginning to mine them. But the studio system also included Twentieth Century-Fox, Paramount, Universal, and Columbia Pictures, and in depth studies of these operations for the studio era are lacking. We need to consider the effects of the Great Depression and the Second World War on their operations. During the 1930s and 1940s the leading studios in terms of economic power owned the top money making theaters across the U. S. and in some countries around the world. And theater ownership defined the status of Hollywood in the studio era. By owning and operating picture palaces in all of the downtowns across the U. S., they took in three-quarters of the average box-office take in the U. S. Only after they granted their own theaters first and exclusive runs and soaked up as much of the initial wave of box-office grosses as possible did the 'Big Five' then permit smaller, independently owned theaters to scramble for the remaining bookings, sometimes months, or even years, after a film's premiere. Universal Pictures, Columbia Pictures, and United Artists constitued the Studio Era's Little Three and led the scramble for these left over film revenues. These three corporations, while always considered part of the Hollywood studio colossus, never could match the economic muscle of the 'Big Five' because they did not own the top (exclusively first-run) theaters. Even less powerful were Monogram and Republic Pictures, the inhabitants of 'Poverty Row,' only creating low budget fare for marginal theaters (Gomery, 1986). We know that the Great Depression caused many Hollywood practices to change. During those lean times, borrowing techniques from the dime stores across the U.S., marginal neighborhood movie houses began to regularly offer two films for the price of one — the double feature. The coming of the Second World War enabled Hollywood to prosper as never before; moviegoing increased, reaching its highest rate in the history of the U.S. (Gomery, 1992). Still we do not know enough how these two — and other — socio-economic changes effected Hollywood as an industry.

5.

The Television Age

The coming of television transformation Hollywood in expected and unexpected ways. Since the 1950s, when citizens of the U.S. stuffed their homes with TV sets, the Hollywood industry has been predicted to lose its power. It has not. Instead Hollywood has engulfed the production of television series and grown stronger. Indeed during the 1980s Hollywood as an industry grew into a series of massive corporations unmatched during the studio system. With the creation of a Time Warner, with Rupert Murdoch taking over Twentieth Century-Fox, and with MCA/Universal Pictures first taken over by Japan's Matsushita Electric and then by Canada's Seagrams, and with Columbia engulfed by Sony of Japan, Hollywood's major corporations have skillfully learned to use the new television technologies to increase their power and scope. Still the television age is too recent in memory, and so we have too few studies of this era of change. On the corporate level there is Tino Balio's history of the TV-age United Artists (1987), taking the company from 1952 through to the late 1970s. This company, as Balio argues, surely proved independent production was the way to make movies in Hollywood. But unlike other Hollywood corporate rivals of the 1950s pioneer United Artists did not survive long to benefit from its innovations and so by the 1980s had been reduced to a minor player in Hollywood. Balio and others argue for a new means of Hollywood production. Gone were the studios as factories turning out regular product for their theater chains. Indeed independent producers created packages of stars, a story, and production values that were turned into a feature film that was distributed by a studio. The studio boss disappears, replaced by the director as auteur. But this is myth. The studios simply figured out a more flexible, less costly way to fill their quotas of releases. No production was made without 'green ligthing' by a studio head, even if the director were an auteur or a hand hired by a talent agency. Packagers came and went, but the studios remained all powerful. Without studio approval no blockbuster was made. We should turn away from the fable of independence and understand how the studios as corporate structure were changing.

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Conglomeratization was the key transformation. We can see this, as Gomery (1994) has shown, with the rise of the Disney operation. As the age of television began after World War II, Disney was a minor player in corporate Hollywood, and indeed nearly went out of business during the early 1950s. But the studio entered television production early on, pioneered theme parks, and later skillfully exploited cable TV, home video, and merchandising. Disney became a major Hollywood operation and then became a major producer of feature motion pictures. We also need to focus on audience delivery. After the Second World war, loyal film fans in the U. S. began to look for other things to do: starting families, finding nicer homes in the suburbs, buying cars, refrigerators, or the elusive pair of nylons not available during the war. Weekly movie attendance in movie theaters in the U. S. crested in 1946 and then began to fall, so by the early 1960s it was one-half what it had been in the glory days of World War II. The causes of this decline have been much debated, with TV the central villain. Their straightforward argument is this: once television programming commenced in the U. S. after World War II, movie fans stayed home, attracted by the 'free' [advertising based] TV entertainment. Going out to the movies suddenly became a relatively expensive night out, requiring a long journey downtown. Television entertainment was so much cheaper that millions of citizens of the U. S. simply stayed home. Gomery (1992) argues that this 'analysis of substitution' ignores, first, that in most parts of the U. S. television signals did not become available until long after the decline in moviegoing had commenced. During the late 1940s and early 1950s, only one-third of the nation had sets, but it was precisely at this historical juncture when millions upon millions stopped going to the movies. Suburbanization and the baby boom dampened movie attendance in the U. S. Moving to a new home commanded all a family's resources. Filling the new home with many children seemed a national compulsion. As Hollywood tried to deal with these two dynamic social forces, the federal government of the U. S. forced the 'Big Five' to sell their movie palaces and suddenly Hollywood lost direct control of and access to the movie market. This legal antitrust case against the Big Five and the Little Three had its origins in the administration of President Franklin

D. Roosevelt. As Conant (1960 & 1985) has shown, during the second term [1936—1940] of President Franklin D. Roosevelt, the administration turned to renewed enforcement of existing antitrust laws to help bring the nation out of the Great Depression. Independent exhibitors, allied with women's groups and religious leaders who blamed the movies for all evils in society, had long complained of Hollywood's excesses of power its domination of film exhibition. Get Hollywood out of the motion picture theater business, they argued, return control of theaters to hometown merchants, and the evil producers would begin making good, clean family movies. During the 1950s and 1960s Hollywood adjusted, first with auto theaters (drive-in) and then with cinemas in shopping malls, the long term solution. Into this completely new network of venues, Hollywood differentiated its production from black and white TV, with wide-screen images. Panavision lenses and Eastman Color film stock ought to be judged as important in their day as the coming of sound had been a generation earlier. Indeed, as Branigan (1986) has so skillfully shown, the coming of color presents one of the most vexing issues in the history of Hollywood. Technicolor may be the most famous brand name, but Eastman Kodak successfully monopolized, as Reese Jenkins (1975) has so convincingly argued.

6.

The Future

By the mid-1970s Hollywood as an industry had adjusted to a new world of flexible film production, conglomerate structures and new audiences captured by television in their comfortable suburban homes. Most important Hollywood as an industry made peace with broadcast television. As can be seen in work by Mayer (1978), Gomery (1993), and Vogel (1995), a new era for Hollywood as a film industry commenced began in the mid1970s with the innovation of the blockbuster with such films as 'Jaws' and 'Star Wars.' At the same time satellites and video tape recorders initiated a wave of film viewing — at home. With the rise of new technologies — video assisted production, distribution by satellite, exhibition on cable television and directly to the home by satellite — we have entered the world of the contemporary cinema. The Hoi-

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lywood cinema industry since the mid-1970s, however, is still so recent that historical analysis is simply not possible. So this final period of Hollywood as industry is not so much history but a series of surveys of the contemporary events. Whatever approach one employs, during the final quarter of the 20th century residents of the U. S. have never been more fascinated with the movies and Hollywood as industry has continued to prosper. Even with the heralded 'end' of moviegoing, because everyone would stay at home an watch cable TV and home video, theatrical attendance in the U. S. has remained steady - at one billion admissions per year. Millions of fans journey during 'high season' in the summer to nearby multiplex cinemas in the shopping mall to relish Hollywood studio sponsored theatrical blockbusters. Indeed Hollywood coporate stock market prices ebb and flow based on weekend figures for such blockbusters. And Hollywood as industry is continually redefining itself, principally by adding to its technological bag-of-tricks. Indeed through the history of Hollywood technical innovation is constant and steady, despite the heralding of some moments such as the coming of sound or the introduction of color. But as the 20th century ends, consider the case of the innovation of computers in film making. Computers, in particular, enable filmmakers to craft special effects to live action and animation, a set of film making parameters simply not possible before. Major hits of the latter sixth of the 20th century - such as 'Jurassic Park' and 'Independence Day' — achieve a nearly miraculous interaction of live and animated visual effects. Despite these technological innovations, the process of moviemaking remains remarkably constant because the underlying ideological of narrative production, has remained unchanged. During the final quarter of the 20th century more important have been the new ways and places to watch movies. This began with the TV movie expanding into the mini-series and novel-for-television. Some critics dismiss these low-budget productions as the 'disease of the week,' but in reality today's made-for-TV dramas are successsors to Hollywood's Β movies of yore. They surely boost ratings, which is why mini-series such as 'Hollywood Wives' and 'The Thorn Birds' arrive like clockwork at key ratings-measurement periods. Since the turnaround time from production to presentation is so short,

made-for-TV films can deal with topical issues and even like 'The Day After,' about the world after an atomic holocaust, provoke discussion of important ideas (Gomery, 1992). In the mid-1970s, Time, Inc. changed the world of cable television in the U. S. forever with its Home Box Office or better known as Home Box Office [HBO], which, for a monthly fee of about ten dollars, offered cable television subscribers recent Hollywood motion pictures — uncut, uninterrupted by commercials, and not sanitized to please network censors. For the first time in the television age, a way had been found to make viewers pay for what they watched in their living rooms. As 'pay television,' HBO drew back to the older movie fan who did not want to go out to a theater but loved watching second-run films on television at home. But cable television offers the film fan much more than HBO. Ted Turner took a typical independent station, complete with its sports, re-runs, and old movies, and beamed it to all America via the satellite to create his famous Super-station with half of schedule filled with old films. By 1995 there was also American Movie Classics and a number of other repertory cable TV cinemas in the home where old Hollywood films, the best and worst, run all day long (Gomery, 1992). The post-1975 video age reached its greatest change in the mid-1980s with the home video revolution. Sony introduced its Betamax half-inch home video cassette recorder in 1975. Originally priced at more than S 1000 (double that in year 2000 dollars adjusted for inflation), the cost of the Beta machines and their newer rivals from VHS dropped to just over three hundred dollars per machine by the mid-1980s. An enthusiastic American public (plus millions in other nations) snapped up so many machines that by 1989 fully two-thirds of American households were equipped to tape off the air or run pre-recorded tapes. At first, the Hollywood moguls loathed the new machine. Jack Valenti, President of the Motion Picture Association of America, declared that the VCR was a parasitical instrument robbing Hollywood's take at the boxoffice. But quickly enough during the 1980s Hollywood found a way to capitalize on the innovation. In 1986, the returns from ancillary video sidelines exceeded the take at the box-office in the U. S. During the mid-1980s about four hundred new prerecorded cas-

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settes were being released each month, 70 percent of which are Hollywood feature films. In the 1990s came 'sell through' where Hollywood studios, led by Disney with 'Aladdin' and 'The Lion King' sold tapes at prices between S 1 0 - 2 0 directly to the public, by-passing rental altogether. As Hollywood moved toward the end of the 20th century it had fully absorbed the impact of the VCR and began to look forward to the next technological change. All of these changes, from cable to pay television, from the multiplex to the VCR, add up to one clear trend. More and more people are watching more and more movies in a variety of formats. And to the Hollywood majors, this is nothing but good news, for they continue to dominate, despite wave upon wave of new technical delivery systems. And nothing seems to loom on the horizon to lessen their hold on the industry. The handful of companies formed more than a half century ago still have hegemony over the creation of the movies and the distribution of them throughout the world. Since the end of the Second World War, the Hollywoood major studios have survived the forced selling of their theater chains, the rise of network television, the advent of cable and pay television, and, most recently, the video cassette revolution. These companies may have now owners, but they show no signs of weakening. Indeed, if anything, they are getting stronger (Gomery, 1993).

7.

Scholarly R o a d b l o c k s

Historians will continue to tackle the vexing problems of how best to understand the development of Hollywood as an industry. In that spirit we need to abandon myths which stand in the way of our understanding of Hollywood as industry. Only by removing these long held myths can we proceed to a truly general understanding of the most dominant cinema industry in history. The first myth begins with the explicit or implicit declaration of the studio system of the 1930s and 1940s as the most important — and interesting — era for film industry study. Then Hollywood film making was somehow purer, not confused and compromised by that "evil of all evils" — television. Yet as can be seen by the survey of key historical periods detailed above, the studio era was important, but represents only one of four fun-

damental eras in the history of Hollywood as industry. The activities during the studio period of the 1930s and 1940s were important. But it was only one of four periods. We ought to be careful and not overestimate the typicality of one epoch, unless we spell out useful criteria by which to demonstrate that one era was indeed superior to another. The motion picture industry in the U. S. grew from its origins during the final years of the 19th century to the late 1920s oligopolistic consolidation amidst the coming of sound. Too often this initial period of Hollywood as industry history is tainted by an overlay of sadness; in the end Hollywood prevented what 'might have been' — a working class audience served by progressive filmmakers. Instead capitalist Hollywood took an overt profit maximizing structure (Wasko, 1982 & Guback, 1969). We need to continue to look at how Hollywood as a remarkable institution came to be. The third era in the history of Hollywood as industry starts with the coming of television and it is very difficult to do history of this recent historical period. Indeed has the TV period ended? We do not know. We do know that with the coming of the feature film blockbuster, during the mid to late-1980s, Hollywood experienced a transformation of ownership of the major Hollywood corporation; outsiders recognized a new industrial era and bought in, beginning in 1985 when Rupert Murdoch took over Twentieth Century Fox (and dropped the hyphen). At that same moment Michael Eisner began to transform a rebuild the Walt Disney Corporation. At the end of the 1980s Japan invaded: Sony took over Columbia Pictures, and Matsushita acquired MCA. Time and Warner merged. Viacom took over Paramount. Thus early by 1995 all six of the major Hollywood studios had changed ownership as Seagrams bought MCA from Matsushita. A new period of history had begun. The Hollywood industry in 1998 consisted of but six multi-national media conglomerates: Disney, Fox's Twentieth Century Fox, Seagram's MCA/Universal, Viacom's Paramount, Sony's Columbia, and Time Warner's Warner Bros. These six are far more powerful and cohesive than the majors of the studio era. And by operating on so many fronts, the operations of the studio era, as summarized by Bordwell, Staiger, and Thompson (1985) and Gomery (1992), seem quaint in comparison. We like the studio era because it had a

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defined beginning, middle, and end. The industry was logically organized, transformed only by intrusions from the outside. This studio era began with the coming of inventions of sound from the outside which caused a crest in attendance. This surge was followed by a decline in demand caused by the Great Depression. The studio era came to a close, transformed by Paramount antitrust decrees, the social transformation of the U. S. with suburbanization and the baby boom, and the emergence of moving image rival, television. This brings us back to the locus of Hollywood itself. It seems that at least one fact that is certain. The locus of analytical action is straightforward. It rests in a single site, the Detroit of the movie business — Hollywood. Yet as straight forward as this seems this argument reduces the film industry from three functions (production, distribution, and presentation) to one, film making. There have been instances of vertical integration, as with the case of extensive theater ownership during the 1930s and 1940s. But even then the vast majority of movie houses (more than 80 percent) were owned by independents based throughout the U. S. Hollywood companies manifested control by owning the 2,000 or so picture palaces, but few of the remainder of 20,000 motion picture theaters (Gomery, 1986). Taking Hollywood as the single industrial center badly misleads all analysis. The core of the power of the film industry has long rested with its absolute control over international distribution. Taking advantage of sizable economies of scale, the Hollywood industry has long dominated bookings around the globe. Enterprising film companies have taken on the Hollywood colossus, often backed by their central governments, but Hollywood continues to dominate. Ask any filmmaker outside the U. S. It is on the cost side that Hollywood secures another enormous advantage, that is being able to distribute films around the world at relatively low costs. With economies of scale Hollywood corporations have long been able to spread out over dozens of films and amortize costs of multi-million dollar production budgets and the expenses of maintaining a global network of offices. That makes the per-film distribution costs far lower than competitors. If the core of Hollywoods's power has been its international control of distribution, this has inspired proportionally little scholarly research. Distribution, sadly, is the least

analyzed part of the industry; there are no fascinating movies to consider, only all dry dull figures, both numerical and executive, defining and producing raw power. Scholars need also to examine closely the third sector of the film business — the presentation of films. This too moves the analysis far outside the environs of Hollywood, California. Films appear in thousands of theaters and on millions of television sets around the world. Hollywood strives to make films that will appeal to persons in all nations on our globe. The executives recognize that through theaters and television the monies that make cinema production possible enter the system. And this presentation sector has seen considerable change during the final quarter of the 20th century with multiple 'windows' on release on video. Today Hollywood conglomerates collect the bulk of their revenues from video forms. The Hollywood media conglomerates presently stand at the center of the new world of video, computers and inter-activity. Within a decade homes and workplaces will be wired with fiber optics and even more to the coffers of the six studios giants. In the end Hollywood companies create what people around the world have long desired, and there is no reason to think that a new wire into the home will change that.

8.

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Gomery,

Maryland

Norwood,

(USA)

105. Forschungsgeschichte des Kinos 1. 2. 3. 4. 5.

Geburtsstunde Quellen Aufführungsorte Fazit Literatur

1.

Geburtsstunde

Die G e b u r t s s t u n d e des Films definiert sich b e k a n n t l i c h d u r c h d a s K i n o — a m 28. D e z e m b e r 1895 zeigten die B r ü d e r L u m i è r e ihre projizierten Bilder e r s t m a l s einem z a h l e n d e n P u b l i k u m im ' G r a n d C a f é ' a u f d e m Boulev a r d des C a p u c i n e s in Paris - , d o c h die F i l m g e s c h i c h t e h a t lange Zeit sich k o n z e n triert a u f d e n K a n o n d e r W e r k e u n d ihrer S c h ö p f e r , die ästhetischen u n d technischen I n n o v a t i o n e n u n d e r r e i c h t e n S t a n d a r d s , die

n a t i o n a l e n P r o d u k t i o n s b e d i n g u n g e n u n d die S t u d i o s . E r s t s p ä t r ü c k t e die P r ä s e n t a t i o n d e r F i l m e u n d d e r O r t i h r e r R e z e p t i o n ins Blickfeld d e r W i s s e n s c h a f t . Eine G e s c h i c h t e des K i n o s steht bis h e u t e n o c h a u s . V o r a r b e i t e n z u Teilaspekten sind, speziell im letzten J a h r z e h n t u n d im U m f e l d d e r C e n t e n a r - F e i e r des F i l m s , geleistet w o r d e n . Die noch zu schreibende Kinogeschichte h a t ö k o n o m i s c h e , juristische, technische, p o litische, a r c h i t e k t o n i s c h e A s p e k t e , w o b e i die einzelnen F a k t o r e n o f t u n t r e n n b a r m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n sind u n d sich gegenseitig bed i n g e n . D i e H e r a u s b i l d u n g des o r t s f e s t e n F i l m t h e a t e r s , d a s die W a n d e r k i n o s , Varieté u n d J a h r m a r k t s v o r f ü h r u n g e n ablöste u n d f a s t gleichzeitig in den U S A z u m Nickelod e o n u n d in Berlin z u m L a d e n k i n o f ü h r t e , ist

105. Forschungsgeschichte des Kinos

nicht denkbar ohne die Entwicklung eines entsprechenden Programmangebots. Als Abnehmer auf dem Filmmarkt nehmen die Kinos unmittelbar (oder mittelbar über den Verleih) Einfluß auf die Produktion: Das Kino ist nicht nur Abspielstätte für Filme, es ist auch der eigentliche Auftraggeber der Filmindustrie: Hier findet sich das Publikum ein oder aber nicht. An der Kinokasse wird über Erfolg oder Mißerfolg entschieden. (Auch wenn heutzutage die Verwertungskette über das Kino hinausreicht: Fernsehen, Video, DVD sind sekundäre Auswerter, selbst wenn sie finanziell nicht im zweiten Glied stehen.) Der Glamour, der die Aura des Films umgibt, eilt dem Film durch die Berichterstattung der Medien, ζ. B. über Filmfestivals, voraus, muß sich jedoch im Filmtheater vor Ort spiegeln: Das Kino ist ein „Erlebnisraum", der inszeniert sein will, Kinoarchitektur kann man deshalb als „Marketing" (Bingens 1988) verstehen. Ständigen Wandlungen unterworfen, durch technische Neuerungen ebenso wie vom Zeitgeschmack erzwungen Kinos, die im Laufe der Zeit dem Prozeß der Deklassierung entkommen wollen, sind häufigen Umbauten unterworfen —, ist ihre Geschichte oftmals eine mühsame Rekonstruktion, zumal der Denkmalschutz diese Zweckbauten vernachlässigt hat: Der Kinohistoriker wird zum Archäologen, der „Ausgrabungen einer bald versunkenen Kultur" (Anne Paech 1985, 9) vornimmt. Der (oftmals nur vorgespielte) Luxus der großen Filmpaläste in den zwanziger Jahren, die Schachtelkinos der sechziger oder die Multiplexe der Gegenwart, von Kulturtheoretikern bereits als Kern der neuen Urban Entertainment Center gesehen, sind oftmals Gegenstand feuilletonistischer Betrachtungen, doch solche auffalligen Erscheinungen verstellen den Blick auf eine Kinolandschaft, die nicht allein aus dem großstädtischen Premierenkino besteht: Stadtteil- und Vororttheater (Nachspiel zu billigeren Preisen) und das Landkino, im Saal des Dorfgasthauses veranstaltet, aber auch nicht-kommerzielle Spielstätten wie früher die Matineen in sog. Reformkinos oder heute kommunale Programmkinos gehören ebenso dazu wie Sonderformen, ζ. B. das von der Hapag und Ufa gemeinsam betriebene Bordkino zur Zeit der Luxusliner (Kinosäle in allen drei Klassen), das Frontkino der Soldaten in beiden Weltkriegen, das Wochenschauoder Aktualitätenkino, das Drive-In-Kino, das im verkleinerten Maßstab aus dem Autoland USA nach 1945 auch nach Deutschland

1151 exportiert wurde. Kinogeschichte hat die Etablierung und Wandlung bestimmter Programmschemata nachzuzeichnen: die Kurzfilmprogramme der Frühzeit mit fortlaufendem Einlaß, das Double feature oder ZweiSchlager-Programm, der Hauptfilm mit Beiprogramm (Kulturfilm, Wochenschau oder — in den Filmpalästen der zwanziger und dreißiger Jahre — Bühnenshow), die heutige Struktur (Werbung und Trailer als Vorprogramm, Spielfilm). Kinounternehmer und Kinoketten, oftmals vertikal verknüpft wie im Falle Ufa oder Emelka, Konzerne, die auch in ihren Filmtheatern auf corporative identity setzten, sind ebenso Gegenstand einer Kinogeschichte wie eine Geschichte der Projektionskunst, des Vorführpersonals und seiner Professionalisierung. Die Tonfilm-Revolution (und damit verbunden die Abschaffung des Kinomusikers; auch der Kinoerzähler ist ein verschwundener Beruf) ist nur der auffälligste Umbruch in der Technikgeschichte des Kinos, zu der in der Frühzeit als markanter Punkt die Feuergefahrlichkeit des Nitrofilms und zahlreiche Theaterbrände, in den sechziger Jahren die Erfindung von Cinemascope und anderen Breitwandformaten als Antwort auf das Fernsehen gehören. Kinogeschichte muß stets das Umfeld einbeziehen: Das neue Medium Film und seine Institution Kino wurden als eine Bedrohung für die tradierten Künste, besonders das Theater empfunden und mußten sich kulturelles Prestige erst erkämpfen; als Segment der Unterhaltungsindustrie steht das Kino in Konkurrenz zu anderen Angeboten der Freizeitkultur. Film ist heute nicht mehr gebunden an das Kino, doch es ist geblieben der Ort, der das gemeinschaftliche Filmerlebnis in einer anonymen Gruppe ermöglicht. Eine Sozialgeschichte des Kinos untersucht die Soziologie des Publikums, wobei in allen Ländern und zu allen Zeiten das Kino speziell auf Kinder und Jugendliche eine besondere Faszination auslöst, während es ältere Publikumsschichten seit Aufkommen des Fernsehens nur bei besonderen Ereignissen mobilisieren kann. Die Besucherstatistiken zeigen, daß es als Flucht aus dem Alltag in Zeiten der Depression oder des Krieges genutzt wird: Das Kino floriert, sobald die Lebensbedingungen sich verschlechtern. Das Kino als Ort der Massenkommunikation ist — in allen Ländern, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß — der Einflußnahme seitens des Staates und seiner Behörden ausgesetzt worden: Von baupolizeilichen Vorschriften über

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XXIV. Geschichte des Films und seiner Erforschung IV: Forschungsgeschichte

die Vergnügungssteuer bis zur Zensur reichen die Themenfelder. Auch die Kirchen und Pädagogen hatten stets ein Auge auf das Kino und befürchten verderbliche Wirkungen auf Moral und Sitte der Besucher.

2.

Quellen

Die Quellen der Kinogeschichte sind Adreßbücher, Anzeigen und Branchenblätter: Quantität, Lebensdauer eines Kinos und die geographische Ansiedlung (ζ. B. in bestimmten Stadtbezirken, die sich als vornehmes Viertel oder Arbeiterbezirk charakterisieren lassen) erschließen sich aus den Adreßbüchern, Publikum s Strategien aus den Annoncen, die nicht nur die Attraktivität des jeweiligen Programms, sondern auch den Komfort des Kinos herausstellen. In den Branchenblättern (in Deutschland u. a. 'Komet', 'Der Kinematograph', 'Licht-Bild-Bühne' und 'Film-Kurier') manifestiert sich das Selbstverständnis der Kinobetreiber, deren Fachliteratur von der filmhistorischen Forschung bisher weitgehend ignoriert wurde: In den Büchern zum Kino-Management von J. F. Barry/Epes Sargent (1927), Harold B. Franklin (1927) und speziell Frank H. Ricketson (1938) finden sich Angaben über Verleihverträge und -kosten, Projektion, Ventilation, Licht, Werbung (Zeitung, Radio, Außenwerbung, Trailer, Gewinnspiele) und nicht zuletzt zur Auswahl des Personals. Kino-Alltag, nicht aus unternehmerischer Sicht, spiegelt sich in den Handbüchern und Broschüren für den Vorführer, ζ. B. in Walter Meineis 'Hilfsbuch für die Prüfung des Filmvorführers in Frage und Antwort', das zuerst 1924 erschien, unzählige veränderte Auflagen erlebte und zuletzt 1958 herauskam. Weitere Quellen finden sich in den Archiven der Städte, Länder und Gemeinden: Akten der Bau- und Gewerbebehörden sowie der Polizei. Die Behörden, die anfangs das Kino nicht einzuordnen wußten, haben schon frühzeitig Statistiken angefertigt und Regelungsbedarf entdeckt. Seitdem die Erforschung der Heimatgeschichte auch die Alltagskultur einbezieht, sind Studien zur regionalen und lokalen Filmhistorie keine Seltenheit mehr. Die hier vorgenommene Auswertung von lokalen Quellen, oftmals ergänzt durch Beiträge der oral history, kommt in vielen Fällen über eine positivistische Aufreihung von Fakten ohne methodischen Zugriff nicht hinaus und ist selten frei von Nostalgie und Lokalpatriotismus. Die Inventarisierung

der Kinos — ihrer Gründung, Kontinuität des Spielbetriebs und politische Einbettung, Krisen, Umbauten und Schließung — erlaubt Vergleiche und Rückschlüsse, die sich oft gegen die Intentionen des Verfassers kehren. Liegt dem Heimatkundler daran, die Eigenart und Einmaligkeit seines Ortes zu erforschen, so zeigen seine Ergebnisse in der Regel, daß die Entwicklungsschritte des Kinos, so sehr es vor Ort von individuellen Persönlichkeiten (Unternehmern) auch geprägt sein mag, weitgehende Parallelen zu anderen Orten aufweist. Nicht zuletzt gilt dies für das Programm: Es speist sich aus Filmen, die Produkte einer Industrie sind, entsprechend zentral vertrieben und vermarktet werden.

3.

Aufführungsorte

Dies gilt nur eingeschränkt für die Frühzeit, als der Kinobetrieb noch ambulant betrieben wurde und Teil komplexer Unterhaltungsangebote war. „Der ubiquitäre Ort gehört zur historischen Originalität der Präsentation von Film. Kino schuf sich nicht sofort seine eigenen Plätze und Räume. Es schlich sich zunächst in die vorhandenen und kommerziell bewährten Orte der Unterhaltungskultur ein und machte sich erst allmählich darin breit." (Zielinski 68) Das Filmgeschäft war Teil des Schausteller-Gewerbes (ihr Branchenblatt „Der Komet" ist für die Frühzeit in Deutschland die wichtigste Quelle), die Vorführung „lebender Bilder" fand auf dem Jahrmarkt, im Zirkus oder im Varieté statt. Die gängige Auffassung, das frühe Kino sei ein ursprünglich „plebejisches Medium" (Kluge in Bronnen/Brocher, 235), ist neueren Forschungen zufolge zumindest relativierungsbedürftig: Das Publikum, das im Varieté die Vorführungen von Lumière oder Max und Eugen Skladanowskys — ihr Auftritt mit dem 'Bioskop' im Berliner 'Wintergarten' am 1. 11. 1895 gilt als das deutsche Geburtsdatum des Films - verfolgte, zahlte auf den besseren Plätzen hohe Eintrittspreise und gehörte zumindest der Mittelschicht an. Der Sensationswert auf den Jahrmärkten verblaßte rasch und wurde von neuen Attraktionen abgelöst, während die Films (damals war der französische Plural üblich) sich als letzter Programmpunkt im Varieté etablieren konnten. Die Transformation vom Reise-Kino mit festem Programm zum ortsfesten Kino mit wechselndem Programm, datierbar auf die Jahre 1905-1907, ist erst ab 1985 von den

105. Forschungsgeschichte des Kinos

Vertretern der New Film History — Tom Gunning, Charles Musser, Eileen Bowser — detailliert erforscht und interpretiert worden; zuvor war diese Phase, sofern sie nicht nur als Technikgeschichte, d. h. als Geschichte der Erfindungen und des Kampfes der Patente behandelt wurde, als Kinderzeit des Kinos vornehmlich als Kuriosität betrachtet worden. Die neue Perspektive auf den bisher vernachlässigten Forschungsgegenstand hat das seit 1993 erscheinende Jahrbuch 'KINtop' ins Leben gerufen, herausgegeben von Frank Kessler, Sabine Lenk und Martin Loiperdinger, das international ausgerichtet ist. Die Entwicklung in Deutschland — nicht grundlegend verschieden von der anderer Kinonationen, auch nicht der USA — hat Corinna Müller in ihrer mustergültigen Arbeit 'Frühe deutsche Kinematographie' (1994) untersucht und nachgewiesen, daß das Aufkommen ortsfester Kinos die Herstellung (Ablösung des Kürzestfilms von ca. 1 Minute Länge durch Kurzfilme von 3 bis 5 Minuten) und die Distribution (Entstehung des Verleihsystems) revolutionierte. „Das Kino bewirkte eine radikale Veränderung der Filmwirtschaft, indem die Kapazitäten der Filmproduktion und die Organisation der Versorgung der Kinos einem kontinuierlichen Spielbetrieb angepaßt werden mußten." (Müller in: Müller/Segeberg, 55). Gegeben wurde ein buntes Programm, eine Mischung aus Humoresken und Melodramen in kontrastreicher Abfolge, wobei sich speziell in Deutschland eine Gesamtspieldauer von rund eineinhalb Stunden herausbildete. Der ab 1905 einsetzende Gründungsboom, anfangs weder durch Konzessionspflicht oder baupolizeiliche Vorschriften behindert, führte dazu, daß in Berlin ab 1906 monatlich rund 20 neue Kinematographen-Theater ihren Betrieb aufnahmen. Es waren meist primitiv eingerichtete, mit einem Schrankbetrieb kombinierte 'Ladenkinos', ohne großen Aufwand umgestaltete ehemalige Geschäfte: „(...) einen kleinen Verschlag für den Operateur, in irgend ein verfügbares Eckchen eingebaut; gegenüber an der Kurzwand die prall angespannte Bildleinwand, davor ein kläffendes Klavier und vielleicht auch noch ein quäkendes Harmonium für Todesfälle; ferner ein kleines Büffet, die möglichst engen Klappstuhlreihen und einen kleinbürgerlichen Kleiderschrank als Kassenraum neben dem Eingang." (Schliepmann, 8). Es herrschte Kneipenatmosphäre. Die schlechte Luft und vor allem die Dunkelheit riefen Sittenwächter

1153 und Pädagogen auf den Plan, die sich um Frauen, Kinder und Jugendliche sorgten: Sie waren es, die vornehmlich den 'Kientopp' frequentierten. Zahlreiche Pamphlete und Polemiken gegen das Kinounwesen belegen die zeitgenössische Debatte, wobei es ein historischer Glücksfall ist, daß mit Emilie Altenlohs Heidelberger Dissertation von 1913, basierend auf einer Umfrage unter Mannheimer Kinobesuchern, bereits sehr früh und zeitnah ein wissenschaftlicher Beitrag 'Zur Soziologie des Kino' vorliegt. Die GoldgräberStimmung, die Spekulanten und „Moneymakers", wie sie 'Der Kinematograph' 1907 nannte (Müller 1994, 30), wurde durch die starke Konkurrenz und den ruinösen Wettbewerb nicht gebremst, sondern gefördert. Die Schaffung immer größerer Kinos hatte zunächst betriebswirtschaftliche Gründe: Die Branchenzeitung riet im selben Jahr dazu, „Lokalitäten so groß wie möglich zu nehmen. Die laufenden Kosten sind bei 50 Plätzen nahezu dieselben, wie bei 150 oder 200 Plätzen, während die Einnahmen bei Andrang gewaltig steigen, ja, der Sonnabend und Sonntag die ganze Woche gutmachen kann." (ebd., 33). Film und Kino gelten als Großstadtphänomene, undenkbar ohne die technische Revolution des Industriezeitalters und der damit einhergehenden Wahrnehmung; bereits zeitgenössische Kulturkritiker haben auf den Zusammenhang ziwschen dem neuen Medium und dem modernen Großstadtmenschen hingewiesen. Der Rhythmus der Metropole findet seine Entsprechung in der Montage des Films; das Programmangebot des Kinos ist mit dem (zur gleichen Zeit entstandenen) Warenhaus verglichen worden. Standorte der Kinos waren die verkehrsreichen Zentren, in der Metropole Berlins ebenso wie in den anderen Städten. (Die ersten Hamburger Kinos entstanden am Spielbudenplatz in St. Pauli.) „Als Segment der Outdoor-Kultur des ausgehenden 19. Jhs. fügte sich das entstehende Kino hervorragend in die urbane Massenkultur mit ihrer beginnenden Vermischung von Kollektiv-Öffentlichem einerseits und IntimPrivatem andererseits ein." (Zielinski, 77) Der Kino-Boom blieb jedoch nicht auf die Hauptstadt beschränkt, sondern infizierte schlagartig das gesamte Reich. Aus den regionalgeschichtlichen Forschungen wissen wir, daß das vermeintliche Großstadtphänomen auch Kleinstädte und die Provinz in gleichem Maße eroberte. Dieter Helmuth Warstats Dissertation über Eckernförde leitete 1982 eine Reihe von ähnlichen Aufarbeitungen lo-

1154

XXIV. Geschichte des Films und seiner Erforschung IV: Forschungsgeschichte

kaier Filmhistorie ein, von denen besonders die Fallstudien und Kinotopographien von Düsseldorf (Ute Wiegand 1982), Osnabrück (Anne Paech 1985), Karlsruhe (Gerhard Bechtold 1987), Lübeck (Petra Schaper 1987), Köln (Bruno Fischli 1990), Hamburg (Michael Töteberg 1990), Münster (Wiltrud Henningsen 1990), Hannover (Rolf Aurich et al. 1991), Wien (Werner Michael Schwarz 1992), Lüneburg (Ricarda Strobel 1993), Basel (Paul Meier-Kern 1993), Bad Hersfeld (Nadja van Keeken 1993), Frankfurt a. M. (Rudolf Worschech et al. 1995), Bielefeld (Cornelia Fleer 1996) und Flensburg (Thomas Mahner 1999) Beachtung verdienen. Helmut Körte konstatierte nach kritischer Sichtung, die Untersuchungen wiesen zwei miteinander verbundene Defizite auf: „Zum einen sind es häufig isolierte Einzelarbeiten, die nur in wenigen Fällen methodisch und inhaltlich auf andere international ähnliche Arbeiten Bezug nehmen, und zum anderen bleiben die Ergebnisse meist punktuell, d. h. eine Verallgemeinerung ist kaum oder nur bedingt möglich." (Körte in: Joachim Steffen et al., 74) Als paradigmatisches Beispiel aus dem angelsächsischen Raum sei auf Gregory A. Wallers Studie 'Main Street Amusement' (1995) hingewiesen. Selbst in kleineren Orten und mittleren Städten waren Kinos selten Familienbetriebe; schon rasch bildeten sich Kinoketten mit ausgeprägtem Expansionsdrang. In den Großstädten führte der Boom zu Überkapazitäten im Platzangebot (heutzutage 'Overscreening' genannt), zugleich entfachte die Konkurrenzsituation einen ruinösen Preiskampf, dem nur durch einen Qualitätssprung begegnet werden konnte. Nicht gestiegene Erwartungen des Publikums führten vom Ladenkino zum Filmpalast: „Der Wettbewerb war der Mechanismus, der die deutsche Kinogeschichte - und damit auch die deutsche Filmgeschichte - vorantrieb." (Müller 1994, 34) Wohin der Trend ging, ist wiederum dem Branchenblatt 'Der Kinematograph' zu entnehmen, das schon 1907 die luxuriösen Interieurs der Berliner Innenstadt-Kinos lobte: „Die äußere Aufmachung dieser Institute ist eine wirklich theatermäßige und vornehme." Bei Neueröffnungen fiel oft der Satz, man brauche den Vergleich mit einem „richtigen Theater" nicht scheuen. Unverkennbar ist der Wille, vom Schmuddel-Image wegzukommen und den Anschluß an die Hochkultur zu finden; selbstbewußt konstatierte 'Der Kinematograph' 1912: „Wir sind aus dem Primiti-

ven heraus; ein neues höheres Niveau ist erreicht." Auch im Feuilleton, wo eine leidenschaftliche „Kino-Debatte" geführt wurde, nachzulesen in den Anthologien von Anton Kaes (1978) und Jörg Schweinitz (1992), ist von „Veredelung" des Kientopp und dem „Emporkömmling Kino" die Rede. Hans Schliepmann, der 1914 die erste Monographie zur Kinoarchitektur in Deutschland verfaßte, resümierte: „Das Kino war gesellschaftsfähig geworden, und die wachsende Verwandtschaft mit dem Theater prägte sich auch darin aus, daß der Film zu immer größerer Länge auswuchs: man gab ganze Dramen." (Schliepmann, 19). Das Kino imitierte das Theater: Die Bühne wurde durch eine Leinwand ersetzt, bei Vorstellungsbeginn der Vorhang gezogen. Es gab ein Foyer, wo man Programmhefte kaufen konnte, eine ausdifferenzierte Sitzplatzordnung (Parkett, oftmals noch unterteilt, Rang, Loge, wobei eine Umkehrung der Preisverhältnisse im Theater stattfindet: Der teuerste Platz ist hinten, der billigste in den ersten Reihen) mit numerierten Plätzen und Platzanweiserinnen in Uniform. Dieser „Prozeß der Verbürgerlichung" des Kinos ist als Ausschluß des bis dato eher proletarischen Publikums gedeutet worden: „Die sozial Unterprivilegierten wurden des originären Mediums der konzentrierten Zerstreuung und schnellen Entspannung zunehmend beraubt durch die literarische und theatralische Entfremdung des Films wie seiner Auratisierung im Kino." (Zielinski, 81 f.). Corinna Müller hat dagegen auf die Preispolitik der Kinounternehmer hingewiesen, die gerade in den Filmpalästen darauf bedacht waren, materiell schlechter gestellte Bevölkerungsschichten nicht vom Kinobesuch auszuschließen, zugleich aber finanziell gutsituiertes Publikum hinzuzugewinnen versuchten. Sie kommt zu dem Schluß, daß das Aufkommen der Filmpaläste „keineswegs eine Umorientierung des Kinos zu den feinen Leuten bedeutete, sondern nur für dessen Expansionsdrang in alle Richtungen stand" (Müller, 37). Vor allem blieb erhalten, daß die Entscheidung zum Kinobesuch, trotz Möglichkeiten der Vorbestellung von Karten, in der Regel spontan gefallt wird. „Hier lieg unzweifelhaft ein Vorzug vor dem Theater, das zu bestimmter Stunde eine etwas pathetisch anmutende festlich geschmückte Menge zu einem bestimmten ästhetischen Genuß vereinigt. In das Kino kann man gewissermaßen en passant eintreten, ohne irgendwelche Vorkenntnisse (wie

105. Forschungsgeschichte des Kinos

bei einer Oper), ohne irgendwelche Rücksichten, wie beim Theater als Sprechbühne. Jedes Gezwungene und Erkünstelte fällt fort. Ein Film geht in den andern über. Kein Beifallklatschen, keine Pause durch Bühnenvorbereitung zertrennt künstlich die einzelnen Akte, die heute sogar zusammenhängend hintereinander vorgeführt werden." (Rudolf Harms 1926, in: Witte, 226f.). Zwar ging man zunehmend dazu über, glanzvolle Premieren als gesellschaftliche Ereignisse zu inszenieren, der Kinoalltag sah jedoch anders aus. Kulturelle Eliten konnten nicht das Zielpublikum eines Massenmediums sein. Siegfried Kracauer stellte 1928 fest: „Von den Arbeiten in den Vorstadtkinos an bis zur Großbourgeoisie in den Palast-Establissements strömen heute dem Film sämtliche Schichten der Bevölkerung zu; am stärksten vermutlich die kleineren Angestellten, die sich seit der Rationalisierung unserer Wirtschaft nicht nur absolut, sondern auch relativ vermehrt haben." (Kracauer 295) Zugleich bedeutete das Kino für die Menschen in der Provinz Teilhabe an der Welt, Anschluß - mit geringer Verspätung — an Zeitgeist und Stadtkultur. Wenn im folgenden vornehmlich von den luxuriösen Lichtspieltheatern der Metropole Berlin gehandelt wird, so ist vorauszuschikken: Die Filmpaläste in der Hauptstadt sowie einigen Großstädten waren die glänzenden Schaufenster für Waren, die andernorts - in kleineren Filialen, weniger aufwendig präsentiert — dem Kinopublikum angeboten wurden. Speziell vertikal organisierte Konzerne wie die Ufa, die ihre Produktionen im eigenen Verleih und eigenen Kinos auswerteten, verfolgten eine durchdachte Marketingstrategie, die alle Elemente moderner Werbung und des Merchandising einbezog. Sinnfällig wurde die Ära der Filmpaläste in Deutschland eingeleitet 1910 durch den Umbau eines Konzertsaals: Aus dem 'Mozartsaal im Neuen Schauspielhaus' am Berliner Nollendorfplatz wurden die 'Lichtspiele' mit rund 1000 Plätzen. In kurzer Abfolge entstanden in den nächsten zwei Jahrzehnten zahlreiche weitere Großkinos, die Architekturgeschichte machten und mit den Namen großer Architekten wie Hans Poelzig und Erich Mendelsohn verknüpft sind. Die neue Bauaufgabe inspirierte zu innovativen, formal wie funktional interessanten Lösungen, die in den einschlägigen Publikationen von Zucker (1926), Wilms (1928), Baacke (1982) und Boeger (1993) dargestellt sind. In der äußeren Gestaltung arbeitete man mit ver-

1155 schieden dimensionierten, expressiven Baukörpern, deren Fassaden, oft mit integriertem Reklameturm, eine auffallige Außenwerbung mittels einer raffinierten Beleuchtung insbesondere am Abend ermöglichten. Die Innenräume wurden oft dominiert von geschwungenen Lichtkörpern. „Die gestalterischen Bemühungen der deutschen Kinoarchitekten lassen sich am besten im Begriff der Lichtarchitektur zusammenfassen; mit kompromißloser Konsequenz überführten sie die Materialität des Films, das Spiel mit Licht und Schatten, in das Medium der Architektur, in visionäre Orte und Räume." (Arns in: Schenk, 25 f.). Früher Höhepunkt der Gründungsphase von Filmpalästen war das 1913 eröffnete 'Cines-Theater', der erste „nur für die Belange des Kinos konzipierte freistehende Bau", ein „schlichter grauer und insbesondere fensterloser Kubus" (ebd., 22). Parallel entstanden auch in den USA die ersten Movie Palaces mit 900 bis 1900 Sitzplätzen. Diese Kino-Kathedralen mischten ungeniert sämtliche Stilrichtungen: „Architectural styles ran the gamut from Greek Revival, French Renaissance, Spanish Baroque, Italian Rococo and Gothic variations to an astounding hodge-podge of cultural motifs that wove elements of Egyptian, Moorish, Chinese Persian and Mayan design into dizzying displays of ostentatious glamour." (Stones, 35). Der Opernhaus-Pomp der Alten Welt wurde ebenso zitiert wie exotische Phantasie-Welten, das Kino begann hier schon, bevor der Film anfing, mit dem Eintritt ins Filmtheater. Marcus Loew, der Kino-Tycoon jener Jahre, prägte den Satz: „We sell tickets to theatres, not movies." Noch heutigen Architekturkritikern nötigen die seinerzeit realisierten Kinobauten Respekt und Bewunderung ab. „Die ansonsten verpönte Illusion, das Kino-Recht auf Stimmungsarchitektur, stachelten die Architekten zu Entwürfen an, die, bis heute wenig beachtet, zum Besten des Bauens der zwanziger Jahre zählen." (Bartetzko, 160). Zeitgenössische Berichte vermitteln, welchen überwältigenden Eindruck die neuen Unterhaltungsstätten ausübten. „Die großen Lichtspieltheater in Berlin sind Paläste der Zerstreuung; sie als Kinos zu bezeichnen, wäre despektierlich", leitete Kracauer seinen berühmten Aufsatz 'Kult der Zerstreuung' ein, geschrieben anläßlich der Eröffnung der 'Goria-Palasts' 1926. (Kracauer, 311 ff.). Er sah einen Widerspruch zwischen dem vom Kino gemachten Angebot der Zerstreuung und dem würdevol-

1156

XXIV. Geschichte des Films und seiner Erforschung IV: Forschungsgeschichte

len architektonischen Rahmen, der „die bunte Reihe der Äußerlichkeiten in ein gestalthaftes Ganzes pressen möchte." Die anzuzeigende Neueröffnung charakterisierte er kurz und treffend: „Der Gloria-Palast gibt sich als Barock-Theater." Mit dem Neuen Bauen vollzog sich auch für die Kinoarchitektur ein Paradigmenwechsel. Beispielhaft Erich Mendelsohns „Universum"-Kino, 1928 eröffnet, das auch international als Inbegriff der Moderne gefeiert wurde. Sein ästhetisches Credo formulierte der Architekt emphatisch in einer Ansprache zur Einweihung: „Keine Pose, keine Rührmätzchen / Im Film nicht, nicht auf der Leinwand, nicht im Bau", forderte er und erteilte dem traditionellen Kinobau eine Absage: „Also kein Rokokoschloß für Buster Keaton. / Keine Stucktorten für Potemkin und Scapa Flow." Die neusachliche Huldigung an Dynamik und Rhythmus der Moderne zielt darauf, das Publikum aus dem Dunstlicht des Abends, vorbei am Leuchtturm der Kasse, in das verheißungsvolle Dunkel des Kinosaals zu locken: „Alle Flächen, Kurven, Orgelbänder und Lichtrollen der Decke sausen zur Leinwand über das Medium der Musik ins flimmernde Bild — ins Universum." Das 1800-Plätze-Kino, am weniger frequentierten Teil des Kurfürstendamms gelegen, arbeitete jedoch nie rentabel, wurde von der Ufa wieder abgestoßen und nach einer wechselvollen Geschichte umgenutzt. Diesmal wurde aus einem Kino ein Theater: die Schaubühne am Lehniner Platz, seit 1981 beheimatet im ehemaligen „Universum" (Töteberg, in: Bock/Töteberg, 225 ff.) 1921 existierten 3791 Kinos in Deutschland, 1930 5059. Eines der letzten Bauprojekte dieser Ära ist der Ufa-Palast in Hamburg, 1929 errichtet, mit 2750 Plätzen damals das größte Kino Europas. Der Bedarf war gedeckt, der Kartenverkauf 1930/31 sogar rückläufig. Das „Dritte Reich" machte sich die Licht- und Stimmungsarchitektur und ihr Formenrepertoire für Propagandazwecke zunutze, erwähnenswerte Kinoneubauten sind jedoch nicht zu verzeichnen. Man beließ es bei Umbauten, deren Tendenz Anne Paech für die Provinz, Dieter Bartetzko für den Berliner Ufa-Palast aufgezeigt haben: aus modernen oder neoromanischen Filmpalästen wurden Stätten der Versammlung, Würdebauten des neuen Staates. Die Bedeutung des Massenmediums Film war den Nationalsozialisten bewußt: Der Kinobesuch wurde gefördert, z. B. durch den 'Film-Volks-Tag', kinolose Orte versorgte der Filmwagen der

Gaufilmstellen. Der Verleih wurde zentral organisiert, der Kinopark neu geordnet. Offiziellen Statistiken zufolge stieg seit 1937 der Kinobesuch von Jahr zu Jahr und erreicht 1943 mit 1,1 Milliarden verkauften Karten den Höchststand. Danach dezimierte sich durch Luftangriffe der Kinobestand erheblich. Während die Theater per Erlaß des Propagandaministers zum 1. September 1944 ihren Betrieb einzustellen hatten, spielten die Kinos bis zum unmittelbaren Kriegsende.

4.

Fazit

Eine zusammenfassende Darstellung der deutschen Kinogeschichte seit 1945 ist ein Desiderat der Filmforschung. Die Filmstatistischen Jahrbücher sowie die Jahresberichte der sich in der Bundesrepublik neu etablierenden Institutionen FBW (Filmbewertungsstelle), FSK (Freiwillige Selbstkontrolle), SPIO (Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) und FFA (Filmförderungsanstalt) liefern das Zahlenmaterial, anhand dessen sich die Entwicklung nachzeichnen läßt: von den Nachkriegsjahren unter alliierter Kontrolle, dem Wiederaufbau und Boom in den fünfziger Jahren bis zum Kinosterben mit dem Aufkommen des Fernsehens. Initiativen für den „guten Film", die Bewegung der Filmclubs, aber auch die Einflußnahme der Kirchen, prägen die Kinokultur der fünfziger Jahre, von der Forschung noch weitgehend vernachlässigt. Soziologische Studien zum Kinobesuch in Stadt und Land (wo das Wanderkino wiederauflebt) hat Walter Hagemann ediert. Innovationen wie Cinemascope und andere Breitwandverfahren oder der 3-D-Film - die das Kinoerlebnis zu überhöhen versuchen, um den Abstand zum Fernsehen zu vergrößern — konnten den Niedergang des Kinos in den sechziger Jahren nicht stoppen. Im Zeitraum von zwei Jahrzehnten sank die Zahl der Zuschauer in der Bundesrepublik von 817,5 Millionen (1956) auf 115,1 Millionen (1976). Nicht allein das Fernsehen, sondern auch die Änderungen der Lebensbedingungen (z. B. größere Mobilität) dürften dafür verantwortlich sein, daß das Kino sein Publikum weitgehend verlor und nur in einer Altersgruppe, den Jugendlichen, bevorzugtes Unterhaltungsmedium blieb. Die Verödung der Kinolandschaft, die in den siebziger Jahren zur Schließung oder Umwandlung großer Säle in Kino-Center (Schachtelkinos) führte, wurde vom Feuilleton beklagt, Untersuchun-

1157

105. Forschungsgeschichte des Kinos

gen über strukturelle Umbrüche und deren Folgen fehlen jedoch: Fallstudien (statt der nostalgischen Erinnerung, wie sie in den regionalen Filmgeschichten dominiert) wären zu wünschen, auch zu Themenbereichen wie der Ausbildung von den Programmkinos, die Filmklassiker zum Wiedereinsatz brachten und zu Kultfilmen machten, bevor ihr Repertoire in das durch neue Kanäle vervielfältigte Fernsehprogramm bzw. Videotheken abwanderte und sich neu definierten als Arthouse Kinos. (In dieses Feld gehört auch die Wandlung kommunaler Kinos, einst als Alternative zum Kommerzkino von Kulturpolitikern gefördert, inzwischen zu Archivkinos der Filmmuseen mutiert.) Die Ausstrahlung des Kinos auf Konsumwelten (Mode, Musik) ist ebenso ein Seismograph für die veränderte Stellung des Kinos im Kommunikations- und Medienverbund wie der Abgabe von Bildungs- und Informationsaufgaben (Kulturfilm, Wochenschau) an andere Medien, speziell das TV. Mit der Eröffnung des ersten Multiplex 1990 in Köln-Hürth begann auch in Deutschland eine neue Kino-Ära, gekennzeichnet durch einen erneuten Bauboom und Anstieg der Besucherzahlen. Multiplex wird definiert als Kinokomplex mit mindestens acht Leinwänden und 1500 Plätzen sowie einem gastronomischen Angebot (meist an Fast-FoodKetten vermietet, was Auskunft gibt über das Zielpublikum). CinemaxX, Cinestar und Cinedom sind jedoch nur in der Platzzahl mit den Filmpalästen der zwanziger Jahre zu vergleichen; eine gestalterische Vision weisen nur wenige Multiplexe auf, erwähnenswert ist vor allem der vom Architektenteam Coop Himm e l b l a u entworfene, 1998 eröffnete Dresdner Ufa-Palast „Kristall". Multiplexe sind ebenso komfortable wie funktionale Abspielstätten; sie unterscheiden sich vom bisherigen Kino-Standard nicht durch ästhetische, sondern technische Aufrüstung. Kino zielt auf sinnliche Überwältigung, mittels neuer Technik wird Illusionssteigerung erreicht und dem Zuschauer neue Erlebnisdimensionen verschafft (Hickethier, in: Schenk). Für die Programmierung ihrer großen Säle brauchen Multiplexe spezielle Ware: event movies, die durch digitale Bildbearbeitung ihre Effekte steigern, durch Soundsysteme wie THX oder DTS auch akustisch den Zuschauer direkt in den Erlebnisraum Kino versetzen. Die Raumillusion perfektioniert das I MAX-Kino — eine Weiterentwicklung des 3-D-Films —, das in amerikanischen und europäischen Großstädten Fuß gefaßt hat und im französi-

schen Poitiers über einen eigenen Freizeitpark verfügt, das Futoroscope. Wieweit die neuen Kinoformen zur von Hickethier und anderen befürchteten Entdifferenzierung des Progammangebots führen, bleibt abzuwarten. In manchem erinnert das Multiplex-Kino wie eine Erneuerung des Kinos der Attraktionen der Frühzeit, selbst der spekulative Bauboom und der rigide Verdrängungswettbewerb scheint eine Wiederkehr alter Zeiten. Die Definition von Kino bedarf jedenfalls keiner Modifikation: Es bleibt der Ort, den ein zufällig zusammengesetztes Zuschauerkollektiv gegen Bezahlung aufsucht, um gemeinsam einen Film zu erleben. 5.

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Michael Töteberg, Hamburg

(Deutschland)

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien 105a. Die Anfänge des Films 1. 2. 3. 4.

6.

Einleitung Frühe Techniken lebender Bilder Unterschiedliche Verwendungsmodelle Einführung des Cinématographe Lumière in Deutschland Etablierung eines kinematographischen Markts Literatur

1.

Einleitung

5.

In der filmgeschichtlichen Literatur ist oft von der „Geburt" des Films oder des Kinos die Rede. Als Geburtstag wird meist der 28. 12. 1895 angegeben, orientiert an der ersten kommerziellen Vorführung eines Filmprogramms durch den Cinématographe Lumière im Souterrain des Grand Café in Paris. Die Öffentlichkeit in den europäischen Ländern hat die Centenarfeiern 1995 an diesem Datum ausgerichtet. Die Société Lumière in Lyon war seinerzeit mit ihrem Cinématographe und den damit gedrehten und projizierten Filmaufnahmen so erfolgreich, daß ihr Gerät dem neuen Medium weltweit seinen Namen gab: Cinéma, Cinema, Cine ... Auch der deutsche Ausdruck „Kino" ist eine Abkürzung für „Kinematograph". Von einer „Geburt" am 28. 12. 1895 kann gleichwohl nicht die Rede sein. In den USA wurde das 100jährige Filmjubiläum bereits 1993 begangen: Thomas A. Edison hatte der amerikanischen Öffentlichkeit bereits am 9. 5. 1893 ein Filmbetrachtungsgerät nach Art des Guckkastens vorgestellt, das er Kinetoscope nannte. Im Streit um Erstlingsrechte an der Erfindung des Films war die Filmgeschichtsschreibung jahrzehntelang darauf fixiert, die Etablierung des neuen Mediums als Einführung einer neuen Technik zu sehen, die sich mit Patenten eindeutig belegen läßt. Dadurch erscheinen die visuellen Medien des 19. Jhs. wie z. B. die Projektionskunst (vgl. den Beitrag von Ludwig Vogl-Bienek in diesem Band)

nicht als eigenständige Formen sozialer Kommunikation, sondern als „pre-cinema", d. h. „Vorläufer des Kinos". In der Konstruktion eines Stammbaums des Films reduzieren sie sich teleologisch auf ihre Funktion für die angebliche Evolution der Filmtechnik. Diese selbst wird als eine lineare Folge von Erfindungen betrachtet. Inzwischen wird versucht, die zahlreichen filmtechnischen Erfindungen vor der Jahrhundertwende in ihrem jeweiligen „technologischen Rahmen" zu verstehen, d. h. als Resultat der Interaktion von Akteuren und sozialen Gruppen, die sich durch wirtschaftliche Interessen, kulturelle Gewohnheiten, technische Fertigkeiten, praktische Bedürfnisse etc. voneinander unterscheiden (Rossell 1998 und 1999, in Anlehnung an den niederländischen Technikhistoriker Wiebe E. Bijker). Als technisches Verfahren wie als neues Medium entsteht „der" Film in den neunziger Jahren des 19. Jhs. nicht als lineare Folge von Erfindungen, sondern in vielfaltigen Formen, die aus unterschiedlichen Auseinandersetzungen in einem sozio-kulturellen Milieu resultieren, das von der Projektionskunst der Laterna magica geprägt ist (vgl. allgemein zum frühen Kino den Beitrag von Wolfgang Mühl-Benninghaus in diesem Band).

2.

Frühe Techniken lebender Bilder

In den verschiedenen Arten von Kinematographien konvergieren diverse Branchen und Kulturtechniken zu einem neuartigen Artefakt: chemische Industrie, hochspezialisierte Werkstätten der Feinmechanik und Optik, Hersteller von photographischen Bedarfsartikeln und Photo-Ateliers, Schaustellerunternehmen, Vortragskünstler auf dem Gebiet der Projektionskunst u. a. m. Kurze Belichtungszeiten und die Verfügbarkeit des Trägermaterials Zelluloid sind

1162

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

Voraussetzung f ü r die p h o t o g r a p h i s c h e A u f n a h m e u n d Wiedergabe von Bewegungsvorgängen auf Film. Projizierte Bilder mit diversen Bewegungseffekten sind schon das ganze 19. Jh. ü b e r A t t r a k t i o n e n v o n L a t e r n a m a gica-Schauen. M i t der E n t w i c k l u n g h o c h empfindlicher E m u l s i o n e n bietet die P h o t o graphie aber erst in den siebziger J a h r e n die Möglichkeit, Bewegungen von K ö r p e r n kontinuierlich aufzuzeichnen. D a s von der chemischen Industrie hergestellte Zelluloid, das in der Korsett- u n d S c h m u c k i n d u s t r i e als Ersatzstoff f ü r Elfenbein V e r w e n d u n g findet, hält als T r ä g e r m a t e r i a l erst 1889 E i n z u g in die P h o t o g r a p h i e . A b Ende der siebziger J a h r e zerlegt die C h r o n o p h o t o g r a p h i e Bewegungsabläufe v o n Tieren u n d Menschen in einzelne Phasenbilder. Die b e k a n n t e s t e n Vertreter sind: Eadweard M u y b r i d g e , der 1878 in K a l i f o r n i e n mit einer K a m e r a b a t t e r i e Phasenbilder eines galoppierenden Pferds a u f n i m m t ; Etienne-Jules Marey, der in F r a n k r e i c h 1882 mit seinem „ p h o t o g r a p h i s c h e n G e w e h r " u. a. R e i h e n a u f n a h m e n fliegender Vögel m a c h t ; O t t o m a r Anschütz, der 1886 f ü r d a s Preußische Kriegsministerium die Bewegung v o n P f e r d u n d Reiter u n d das Verhalten fliegender G e schosse aufzeichnet. Den Physiologen M a r e y interessiert vor allem die wissenschaftliche Vermessung u n d Analyse der Bewegungsvorgänge. Die P h o t o g r a p h e n M u y b r i d g e u n d A n s c h ü t z realisieren a u c h die Wiedergabe der Bewegung: Sie m o n t i e r e n die auf G l a s p l a t t e n fixierten Phasenbilder a n a l o g zu dem seit den dreißiger J a h r e n des 19. Jhs. b e k a n n t e n L e b e n s r a d auf eine Scheibe, die zur Erzielung des s t r o b o s k o p i s c h e n Effekts bei der Betracht u n g hinter einem Sehschlitz rotiert. M u y bridge n u t z t diese A n o r d n u n g u n t e r der Bezeichnung Z o o p r a x i s k o p seit A n f a n g der achtziger J a h r e f ü r P r o j e k t i o n s v o r f ü h r u n g e n bei seinen öffentlichen Vorträgen. A n s c h ü t z k o n s t r u i e r t seinen Schnellseher, a u c h Elekt r o t a c h y s k o p g e n a n n t — ein freistehendes Bet r a c h t u n g s g e r ä t , g e b a u t v o n Siemens & H a l s k e , d a s A n f a n g der neunziger J a h r e in zahlreichen Städten E u r o p a s u n d der U S A als M ü n z a u t o m a t in Betrieb ist (vgl. Rosseil 1996).

der gezeigte Vorgang bereits n a c h 1 Vi Sekunden. D i e Speicherkapazität rotierender Scheiben ist sehr begrenzt. Die P h o t o g r a p h e n Muybridge und Anschütz verwenden für Aufn a h m e u n d Wiedergabe aus Q u a l i t ä t s g r ü n d e n ausschließlich G l a s p l a t t e n . M a r e y k o n s t r u iert 1890 eine H o c h g e s c h w i n d i g k e i t s k a m e r a , u m extrem schnelle Bewegungen mit bis zu 100 Bildern p r o S e k u n d e a u f z u n e h m e n . Diese K a m e r a lädt er mit einem 1,20 Meter langen u n d 90 m m breiten durchsichtigen Zelluloidstreifen. Als Rollfilm ersetzt dieses neuartige Trägermaterial Ende 1889 die Negativ-Papierstreifen, mit d e n e n G e o r g e E a s t m a n seine b a h n b r e c h e n d e A m a t e u r - P h o t o k a m e r a , die K o d a k , lädt. D a s feste, biegsame u n d d u r c h sichtige Zelluloid ist ein geeigneter Träger f ü r p h o t o g r a p h i s c h e E m u l s i o n e n u n d läßt sich in beliebig lange Streifen schneiden. A b H e r b s t 1892 b e n u t z e n T h o m a s A. Edison u n d sein M i t a r b e i t e r W. K . L. D i c k s o n f ü r ihre Experimente mit lebenden Bildern 35 m m breite Zelluloidstreifen, die vertikal a m Objektiv ihrer K a m e r a vorbeigezogen werden. I h r e Festlegung des F i l m f o r m a t s bleibt als 35 m m N o r m a l f i l m bis heute f ü r das K i n o gültig.

U m d e n E i n d r u c k kontinuierlicher Beweg u n g zu gewährleisten, ist f ü r die D a r s t e l l u n g lebender Bilder eine F r e q u e n z von 16 Bildern p r o S e k u n d e erforderlich. In der Regel werd e n nicht m e h r als 24 Bilder auf die Scheiben m o n t i e r t . Bei der V o r f ü h r u n g wiederholt sich

Patente für chronophotographische Aufnahm e k a m e r a s , die mit Papier- bzw. Zelluloidstreifen arbeiten, werden ab 1889 eingereicht, и. a. von Louis Aimé Augustin Le Prince, William Friese-Greene, T h o m a s Alva Edison. Zahlreiche E r f i n d e r b e m ü h e n sich bis zur

Durchsichtige biegsame Bildstreifen v o n 45 bis 50 M e t e r n L ä n g e mit 500 bis 600 gezeichneten Bewegungsphasen reizender Figuren verwendet Emile R e y n a u d bereits ab O k t o b e r 1892 f ü r sein T h é â t r e O p t i q u e . Bis Feb r u a r 1900 gibt er im Pariser Musée Grevin f ü r eine halbe Million Z u s c h a u e r 12.500 Vorstellungen: W ä h r e n d R e y n a u d die perforierten Bildstreifen v o n H a n d ü b e r Z a h n r ä d e r vor u n d zurück bewegt, reflektiert ein Spiegelkranz die Zeichentrickbilder auf die Leinw a n d , w o sie auf einem mit einer L a t e r n a m a g i c a projizierten wechselnden H i n t e r g r u n d animiert erscheinen. Begleitet von einem P i a n o mit G e s a n g , u n t e r h ä l t R e y n a u d das P u b l i k u m auf diese Weise m i t zehn bis f ü n f zehn M i n u t e n d a u e r n d e n Geschichten. D i e visuellen Erscheinungen auf der L e i n w a n d gleichen gezeichneten A n i m a t i o n s f i l m e n .

з.

Unterschiedliche Verwendungsmodelle

105a. Die Anfänge des Films

Jahrhundertwende um die photographische Aufzeichnung und Wiedergabe lebender Bilder und reichen Hunderte von Patenten für ζ. T. gänzlich verschiedene Lösungen ein (vgl. Rossell 1995). Die aus heutiger Sicht erstaunliche Vielfalt der Vorschläge beruht vor allem auf sehr verschiedenen Vorstellungen über die künftige Verwendung der technischen Neuheit, die geprägt sind vom „technologischen Rahmen", in dem die Erfinder jeweils agieren. Beispielhaft seien drei bekannte Namen herausgegriffen: Thomas A. Edison, die Gebrüder Max und Emil Skladanowsky sowie die Gebrüder Auguste und Louis Lumière. Am 9. 5. 1893 wird einer Fachöffentlichkeit im Brooklyn Institute Edisons Kinetoscope vorgestellt: Es handelt sich um einen Guckkasten zur Betrachtung von jeweils einem 50 Fuß langen Film, der im Innern als Endlosband über ein Rollensystem kontinuierlich an einer Glühlampe vorbeigezogen wird. Zur Erzeugung des stroboskopischen Effekts wird der Lichtstrahl von einer rotierenden schwarzen Scheibe 48 mal pro Sekunde unterbrochen. Durch eine Vergrößerungslinse sieht jeweils eine Person eine rund 20 Sekunden dauernde Szene, die mit einer fest installierten Kamera in Edisons Studio „Black Maria" aufgenommen ist. Edison arbeitet in seiner Firma an Erfindungen aller Art. Er will sein Geld mit technischem Gerät verdienen. Die Vermarktung des Kinetoscope orientiert er an seinen Erfahrungen mit dem Phonographen, den er ursprünglich als Diktiergerät zur Effektivierung der Bürokommunikation konzipiert hatte. Ein Geschäftserfolg wird der Phonograph jedoch erst als Unterhaltungsgerät für die Wiedergabe von Musikstücken. Analog legt Edison das Kinetoscope als Maschine zur visuellen Unterhaltung aus: Gezeigt werden Burlesken, amerikanische Varieté-Nummern und Kampfsportszenen, von Buffalo Bills WildwestShow, international bekannten Tänzerinnen, Akrobaten und Bodybuildern bis zu Boxkämpfen, Frauenringen und Hahnenkampf (vgl. Musser 1997). In zahlreichen Städten Nordamerikas und Europas eröffnen Lizenznehmer Edisons 1894 und 1895 elegant ausgestattete Kinetoscope Parlors, die mit fünf, zehn oder noch mehr Kinetoskopen bestückt sind. Die kommerzielle Auswertung des Films beginnt nicht mit Projektionen auf Leinwand, sondern mit Edisons Guckkästen, die wie Anschütz' Schnellseher teilweise als Münzautomaten ausgerüstet sind.

1163 Das auf Abwechslung beruhende Unterhaltungsgeschäft ist Edison fremd. Mit seiner fest installierten einen Kamera monopolisiert er die Versorgung seiner Kundschaft mit Filmen, kann aber mit dem Bedarf nicht Schritt halten. Noch bevor öffentliche Filmprojektionen angeboten werden, geht das Kinetoskop-Geschäft 1895 drastisch zurück — nicht zuletzt aus Mangel an Filmen. Die Gebrüder Skladanowsky geben vom 1. bis 30. 11. 1895 im Berliner Wintergarten eine Varieté-Nummer, die aus projizierten Filmaufnahmen von Akrobaten, Athleten und von Tänzen besteht. Die Skladanowskys sind renommierte Projektionskünstler, die vor großem Publikum bewegte Bilder und Überblendungseffekte mit der Laterna magica präsentieren. Zur Filmvorführung im Wintergarten-Programm dient das Bioscop, ein von ihnen selbst konstruierter Doppelbild-Projektor: Die nach Skladanowskys eigener Aussage mit acht Bildern pro Sekunde aufgenommenen Filmstreifen müssen dafür Bild für Bild zerschnitten und so zusammengeklebt werden, daß die geraden und die ungeraden Bilder jeweils eine Endlosschleife bilden. Die beiden Schleifen werden mit dem Bioscop abwechselnd projiziert. Durch eine vor den beiden Objektiven rotierende halbkreisförmige Scheibe mit Zacken wird der Ubergang von einem Bild zum nächsten jeweils weich überblendet. Das aufwendige Verfahren dient zur Vermeidung des lästigen Flimmerns, das bis in die ersten Jahre des 20. Jhs. bei Filmvorführungen oft beklagt wird. Die Gebrüder Skladanowsky entlehnen es der bewährten Uberblendungstechnik bei der Projektion von Nebelbildern mit der Laterna magica. Sie sind gewohnt, für ein anspruchsvolles Varieté-Publikum exzellente Bildqualität zu liefern. Der Gesichtspunkt der industriellen Reproduktion und Vermarktung von Filmaufnahmen liegt außerhalb ihres „technologischen Rahmens": Um Buchungen für ihre Auftritte zu bekommen, müssen sie Originalität beanspruchen. Die Gebrüder Lumière sind Photographen und Industrielle. Die Société Lumière in Lyon ist der größte Hersteller photographischer Trockenplatten auf dem Kontinent. Die Gebrüder Lumière entwickeln ein multifunktionales Gerät, das als Filmkamera, Filmprojektor und Filmkopiermaschine dient. Sie nennen es Cinématographe Lumière. Der Apparat läßt sich mit 17 Meter langen Filmbändern für eine Projektionsdauer von 50 Se-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

künden laden. Eastmans durchschlagender Erfolg mit seiner Amateur-Photokamera Kodak bot für das Design des Cinématographe Lumière ein Vorbild. Im Unterschied zu den bereits existierenden, durchweg schwerfälligen Filmkameras ist der Cinématographe aus Lyon leicht und handlich, einfach zu transportieren und zu bedienen. Louis Lumière nimmt für die ersten Demonstrationen des Geräts alltägliche Szenen und typische Amateursujets auf wie ζ. B. „Arbeiter verlassen die Fabrik", „Ankunft des Zugs", „Babys Frühstück", „Die Kartenspieler". 1895 unternehmen die Gebrüder Lumière große Anstrengungen, um Rohfilm mit ihrer eigenen hervorragenden Emulsion herstellen zu können. Da eine kritische wissenschaftliche Studie zur Firmengeschichte der Société Lumière und den über 1400 erhaltenen Filmen bisher nicht existiert, lassen sich über ihre Vermarktungsstrategie nur Vermutungen anstellen: Hauptabnehmer der Firma sind Photoamateure aus dem wohlhabenden Bürgertum. Vieles spricht dafür, daß der Cinématographe Lumière ursprünglich als Erweiterung der Produktpalette für diese Zielgruppe gedacht ist: Mit dem Kauf von Gerät und Rohfilm würden sie „lebende Porträts" ihrer Familie aufnehmen, kopieren und vorführen können. Als Filmprojektor ist der Cinématographe Lumière ein „appareil de salon". Das optimale Projektionsbild, das V/2 auf TA Meter mißt, ist nicht auf große Säle, sondern auf Heimkino ausgelegt (vgl. Rosseil 1999). Aufgrund des durchschlagenden Erfolgs der ersten kommerziellen Vorführungen beim Pariser Boulevardpublikum wird die skizzierte ursprüngliche Vermarktungsstrategie im Januar 1896 offenbar grundlegend umgestellt. Bis Frühjahr 1897 findet kein Verkauf von Geräten und Filmen statt, sondern es wird an das zahlungswillige Publikum das Recht abgetreten, die Filme in öffentlich zugänglichen Vorführsälen zu betrachten: Die für den Amateurgebrauch vorgesehenen Eigenschaften des Cinématographe Lumière erleichtern die Bedienung durch angelernte firmeneigene Operateure, die von Konzessionären beschäftigt werden. In nur wenigen Monaten kann der Cinématographe Lumière mit Vorführungen und Filmaufnahmen on location seine Premieren in zahlreichen Großstädten auf allen fünf Kontinenten absolvieren (vgl. Rittaud-Hutinet 1985).

4.

Einführung des Cinématographe Lumière in Deutschland

Dank einer vergleichsweise reichhaltigen Quellenlage läßt sich die Einführung der Filmprojektion mit dem Cinématographe Lumière im „technologischen Rahmen" der zeitgenössischen Unterhaltungsindustrie besonders gut am deutschen Beispiel darstellen (vgl. Loiperdinger 1999). Lizenznehmer ist ein international tätiger Nahrungsmittelkonzern, die Schokoladen- und Süßwarenfabrik Gebrüder Stollwerck & Co. in Köln am Rhein. Durch den weit fortgeschrittenen Vertrieb ihrer Produkte über Verkaufsautomaten ist die Firma auch im Vergnügungssektor tätig: Vertriebschef Ludwig Stollwerck gründet bereits am 20. 12. 1892 mit Georges Demeny, dem Assistenten von Marey, eine Gesellschaft mit dem Ziel, Demenys Phonoscope, das ursprünglich zur Erlernung des Lippenlesens für Taubstumme dienen sollte, zu einem Münzautomaten für die Betrachtung „lebender Porträts" zu entwickeln. 1895 eröffnet Stollwerck Automatensalons, in denen u. a. Phonographen und Kinetoskope von Edison aufgestellt sind. Am 1.3.1895 bietet Stollwerck in seinem Berliner Kinetoskop-Salon die ersten kommerziellen Filmvorführungen Deutschlands an. Das Kinetoskop-Geschäft verläuft äußerst schleppend. Um dem Mangel an abwechslungsreichen Filmprogrammen abzuhelfen, beauftragt Stollwerck den englischen Photographen Birt Acres, vom 19. bis 22. 6. 1895 in Hamburg und Kiel Filmaufnahmen von der Eröffnung des Nord-OstseeKanals zu machen. Diese deutschen Aktualitäten, darunter die ersten Filmaufnahmen von Kaiser Wilhelm II., können die Probleme des Kinetoskop-Geschäfts jedoch nicht beheben. Der Auftrag an Acres zur Konstruktion eines brauchbaren Filmprojektors erbringt kein kommerziell verwertbares Ergebnis. Ende März 1896 erwirbt Stollwerck die deutsche Lizenz zur Auswertung des Cinématographe Lumière. Apparate und Filme werden von Lyon gestellt. Ein Kapitalvorschuß ist vom Lizenznehmer nicht zu leisten. „Ich habe nie in meinem Leben eine Erfindung gesehen, mit welcher ohne Risiko und fast ohne Arbeit soviel Geld verdient wurde", notiert Ludwig Stollwerck am 16. 4. 1896. 60 Prozent der Brutto-Einnahmen gehen allerdings nach Lyon, weitere 10 Prozent müssen an Lizenzhändler in Paris abgeführt werden. Von den verbleibenden 30 Prozent sind mit jeweils 10

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105a. Die Anfänge des Films

Francs täglich die beiden Operateure zu bezahlen, welche die Société Lumière für jedes Gerät entsendet, außerdem alle weiteren Vorführkosten wie Saalmiete, Elektrizität, Zeitungsinserate. Am 20. 4. 1896 beginnt mit der deutschen Premiere des Cinématographe Lumière in Köln eine breit angelegte kommerzielle Auswertung. Gegen 50 Pfg. Eintritt wird halbstündlich ein Programm von acht bis zehn Lumière-Filmen gezeigt. Das Kalkulationsmodell zielt darauf ab, den ganzen Tag über mit vielen kurzen Vorführungen aus dem großstädtischen bürgerlichen Laufpublikum möglichst viele Zuschauer anzulocken. Stollwerck präsentiert die technische Neuheit der „lebenden Photographien" 1896 auf den Gewerbeausstellungen in Berlin, Stuttgart und Dresden sowie in eigenen Automatensalons in Hamburg, Bremen und Hannover. Im Durchschnitt erreicht jeder Cinématographe täglich mindestens etwa tausend zahlende Besucher. So macht der Kölner Schokoladenkonzern 1896 in Deutschland mehr als 1,4 Millionen Zuschauer mit der neuen Erfindung „lebender Photographien in natürlicher Größe und Bewegung" bekannt und setzt damit immerhin halb so viel um wie im Kerngeschäft mit Schokoladen. Der Cinématographe Lumière offeriert kein abendfüllendes Programm zur Erbauung oder Unterhaltung wie die Theater und Varietés, sondern eine ständige Gelegenheit für Zerstreuung en passant. Im Unterschied zu Edison und den Gebrüdern Skladanowsky nimmt Louis Lumière seine Filme nicht vor neutralem Hintergrund, sondern on location auf. Die ersten Presseberichte heben die dadurch erzielten neuen Bewegungseffekte hervor: die vortreffliche Wiedergabe des Spiels der Wellen, des Zitterns von Blättern im Wind oder des Rauchs einer Zigarre. Die häufigsten Sujets sind Städtebilder von belebten Plätzen und Straßen sowie Aktualitäten von Volksbelustigungen und öffentlichen Feiern von Staat, Verbänden, Militär (Loiperdinger 1999). Mit der ständigen Bewegung, die im Getriebe der Städte herrscht, repräsentiert der Apparat sein ästhetisches und wirtschaftliches Lebenselixier. Die Passanten, welche die kinematographischen Stadtansichten bevölkern, sind potentielle Zuschauer des Cinématographe Lumière. Im Projektionsstrahl begegnet das Publikum seinem „lebenden Porträt". Bei den Aktualitäten stechen Aufnahmen mit gekrönten Häuptern hervor. Sie bieten eine reizvolle Ergänzung zu den

Zeitungsnachrichten und den Illustrierten, die meist noch keine Photos abdrucken. D a ß sie erst geraume Zeit nach dem jeweiligen Ereignis zu sehen sind, schadet ihrer Attraktivität nicht. Das Filmprogramm des Cinématographe Lumière wird wöchentlich gewechselt. Neben den gezeigten Filmen selbst kommt es auch auf die Abwechslung der Sujets innerhalb der Programme an. So kann z. B. den Zuschauern das Gefühl vermittelt werden, in bisher nicht gekannter Weise die Schranken von Raum und Zeit zu überwinden. Für eine Viertelstunde ersetzt der Cinématographe gleichsam die Eisenbahn und nimmt das Publikum mit auf Reisen. Das Gestaltungsprinzip der Abwechslung ist dem szenischen und musikalischen Nummernprogramm des Varietés entlehnt. Wöchentlichen Programmwechsel wie beim Cinématographe Lumière kennt im Bereich der visuellen Medien nur das Kaiserpanorama, wo durchleuchtete Stereo-Diapositive zu sehen sind. Allerdings ist jede Bilderserie auf ein einziges Sujet beschränkt, meist auf Reisebilder aus einer bestimmten Gegend.

5.

Etablierung eines kinomatographischen Markts

Nicht zuletzt getrieben vom Erfolg des unverkäuflichen Cinématographe Lumière bildet sich in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern rasch ein neuer Markt heraus: Projektoren und Filme werden in Berlin schon im Sommer 1896 von mehreren Herstellern angeboten. Der später als wichtiger deutscher Filmpionier gefeierte Optiker Oskar Messter verkauft im Juni 1896 den ersten selbst hergestellten Filmprojektor. Bis zum Jahresende gehen 64 Bestellungen bei ihm ein. Sein schärfster Konkurrent Hermann O. Foersterling baut ein französisches Gerät nach, das unter dem Markennamen „Edison's Ideal" weite Verbreitung in Mitteleuropa findet. Der Textilkaufmann Philipp Wolff errichtet Deutschlands größtes Filmlager und bringt 1896/97 mehrere dreisprachige Filmverkaufskataloge heraus. Schließlich steigen 1896 auch traditionelle Berliner Photo- und Laterna magica-Firmen wie Dr. Hesekiel und Romain Talbot in das Geschäft mit Kinematographen und Filmen ein. Als Oskar Messter Anfang 1898 seinen Special-Catalog Nr. 32 herausbringt, herrscht in der neuen Sparte der Berliner Photo- und Laterna magica-In-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

dustrie lebhafter Wettbewerb (vgl. Rosseil 1997). Die Entwicklung des kinematographischen Markts verläuft anders als von Edison und Lumière erwartet. Die Filmbetrachtung in Guckkästen, wie sie Edison mit seinem Kinetoscope anbietet, wird rasch von der Projektion auf Leinwand abgelöst. Diese findet allerdings nicht privat in den bürgerlichen Salons von Photoamateuren statt, wie von Lumière ursprünglich konzipiert. Der Cinématographe Lumière triumphiert mit öffentlichen Vorführungen vor zahlendem Publikum. Abgesehen von der technischen Zuverlässigkeit des Apparats und der ästhetischen Qualität der gelieferten Filme beruht sein rascher Erfolg auf Konzessionen, für die kein Kapitalvorschuß zu leisten ist. Stattdessen wird eine hohe Lizenzabgabe auf die Einnahmen erhoben. Dadurch ist der Erfolg aber auch kurzlebig: Im Frühjahr 1897 verkauft die Société Lumière ihre Patente an Charles Pathé und bietet ihre Filme selbst zum Kauf an. Angesichts blendender Verdienstmöglichkeiten sind Photographen, Schaustellungsunternehmen und Projektionskünstler bereit, mit dem Kauf von Projektoren und Filmen in die neue Attraktion zu investieren. Wanderkinematographen erscheinen auf den großen Messen und Jahrmärkten ebenso wie in Hotels, Gaststätten und Tanzsälen in größeren und kleineren Städten ganz Europas. Die großen Varietés mieten kinematographische Vorführdienste, sodaß ab 1897 die Projektion von Aktualitäten als „optische Berichterstattung" zu einer Standardnummer ihrer Programme avanciert. So verbreiten sich Filmvorführungen von einer hie und da gezeigten technischen Neuheit rasch zu einem regelmäßigen Angebot und etablieren damit ein neues Medium. Mit Pathé Frères und Léon Gaumont in Frankreich sowie der American Mutoscope & Biograph Company und ihren Tochtergesellschaften in Europa sind bereits 1897 kapitalkräftige Film unternehmen tätig, die bis zum Ersten Weltkrieg eine führende Rolle auf dem internationalen Markt behalten. Die wenigen herausgegriffenen Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß von einer „Geburt" des Films nicht die Rede sein kann. Die Entstehung des Films ist ein längerer Prozeß auf internationaler Ebene, der keineswegs linear verläuft. Da wichtige Elemente dieses Prozesses bisher nur bruchstückhaft bekannt und z. T. noch gar nicht

erforscht sind, ist eine bündige medienwissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Anfänge des Films noch nicht möglich. 6.

Literatur

Auzel, Dominique, Emile Reynaud et l'image s'anima. Paris 1992. Braun, Marta, Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey (1830-1904). Chicago, London 1992. Castan, Joachim, Max Skladanowsky oder der Beginn einer deutschen Filmgeschichte. Stuttgart 1995. Haas, Robert Bartlett, Muybridge. Man in Motion. Berkeley, Los Angeles, London 1976. Koerber, Martin, Oskar Messter — Stationen einer Karriere. In: Oskar Messter — Filmpionier der Kaiserzeit ( = KINtop Schriften 2). Hrsg. von Martin Loiperdinger. Frankfurt a. M. 1994. Loiperdinger, Martin, Film & Schokolade. Stollwercks Geschäfte mit lebenden Bildern ( = KINtop Schriften 4). Frankfurt a. M. 1999 Mannoni, Laurent, Georges Demeny. Pionnier du cinéma. Douai 1997 Marey, Etienne-Jules, Die Chronophotographie. Berlin 1893. Reprint: Kinematograph, Nr. 2, Frankfurt a. M. 1985. Musser, Charles, The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907 ( = History of the American Cinema, Vol. 1). Berkeley, Los Angeles, London 1990. - , Edison Motion Pictures, 1890-1900. An Annotated Filmography o. O. 1997. Pinel, Vincent, Louis Lumière inventeur et cinéaste. Paris 1994. La Production cinématographique des Frères Lumière. Hrsg. von Michelle Aubert, Jean-Claude Seguin. Paris 1996. Rittaud-Hutinet, Jacques, Le Cinéma des origines. Les Frères Lumière et leurs operateurs. Seyssel 1895. Rossell, Deac, „... the new thing with the long name and the old thing with the name that isn't much shorter ..." A Chronology of Cinema 1889-1896. In: Film History, Vol. 7, No. 2, 1995. —, „Lebende Bilder". Die Chronophotographen Ottomar Anschütz und Ernst Kohlrausch. In: Wir Wunderkinder. 100 Jahre Filmproduktion in Niedersachsen. Redaktion Susanne Höbermann, Pamela Müller. Hannover 1996. —, Jenseits von Messter — die ersten Berliner Kinematographen-Anbieter. In: KINtop 6 Aktualitäten. Hrsg. von Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger. Frankfurt a. M. 1997. — , Living Pictures. The Origins of the Movies. Albany 1998.

1167

106. David Wark Griffith — , Die soziale Konstruktion früher technischer Systeme der Filmprojektion. In: KINtop 8 Film und Projektionskunst. Hrsg. von Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger. Frankfurt a. M. 1999.

Vogl-Bienek, Ludwig, Die Skladanowskys und die Nebelbilder. In: KINtop 8 Film und Projektionskunst. Hrsg. von Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger. Frankfurt a. M. 1999.

Special-Catalog No. 32 über Projections- und Aufnahme-Apparate für lebende Photographie, Films, Graphophons, Nebelbilder-Apparate, Scheinwerfer etc. der Fabrik für optisch-mechanische PräcisionsInstrumente von Ed. Messter, Berlin 1898. Reprint. Hrsg. von Martin Loiperdinger (= KINtop Schriften 3), Frankfurt a. M. 1995.

Das wandernde Bild. Der Filmpionier Guido Seeber. Hrsg. von der Stiftung Deutsche Kinemathek. Berlin (West) 1979. Zglinicki, Friedrich von, Der Weg des Films. Berlin 1956.

Martin Loiperdinger, Trier

(Deutschland)

106. David Wark Griffith 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1.

Die Entwicklung des Films vor Griffith D. W. Griffith: Die frühen Jahre Griffith bei American Biograph Griffith bei Mutual: Die Phase der großen Spielfilmproduktionen Die letzte Phase Griffith — Pionier des frühen amerikanischen Kinos Literatur

Die Entwicklung des Films vor Griffith

Nachdem die Entwicklung der Kinematographen-Technik seit Muybridges Laufbild-Experimenten des Jahres 1877 in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jhs. einen stürmischen Verlauf genommen hatte — wichtige Stadien waren die Entwicklung des Malteserkreuzes als Voraussetzung der Segmentierung der kontinuierlichen Bewegung in der KinoKamera ab 1882, die kommerzielle Nutzung des Zelluloid-Films (George Eastman 1888/ 89), Thomas Edisons (und seines Assistenten W. K. L. Dicksons) Erfindung des Kinetographen (1892), die Entwicklung des cinématographe (als Aufnahme- und Projektionseinheit) durch die Gebrüder Lumière (1895) und die entsprechende Weiterentwicklung der Projektionssysteme in Amerika durch Armat (1895) und Edison (1897) - , konnte sich um die Jahrhundertwende und in der ersten Dekade des 20. Jhs. der Film vom Jahrmarktsund Varieté-Gag zur Kunstform entwickeln. Im Jahre 1897 gründete George Méliès die Gesellschaft Star Film, Montreuil, wo er in Einheit von Produzent, Regisseur, Kameramann und auch Schauspieler bis 1913 etwa 500 Filme herstellte.

In den Anfangen des Stummfilms folgte die Filmproduktion noch strikt den Konventionen des Bühnenschauspiels: Die Kamera steht fest, mittlere Einstellungsgröße ('medium shot'), also die Bühne in Ubersichtsaufnahme; die Schauspieler betreten die Bühne von links oder rechts. Der Film besteht aus einer einzigen oder wenigen Szenen, die je in einer einzigen Kameraeinstellung durchgefilmt werden. Méliès begann mit aus einer Szene bestehenden Filmen, hatte aber schon 1899 mit L'Affaire Dreyfus den Typ des Mehr-SzenenFilm entwickelt, der in linearer Zeitabfolge einfache Geschichten erzählte. 1902 verhalf Méliès' Film Le Voyage dans la lune (Dauer: 14 Minuten, nach Jules Verne), eine Folge von 30 theatermäßig arrangierten Szenen, dem späteren Typus des Spielfilms — in Abhebung zur bis dahin vorherrschenden abgefilmten Realität — zum Durchbruch. Méliès war ab 1903 in den USA mit einer eigenen Gesellschaft vertreten und zunächst auch dort erfolgreich. Die Weiterentwicklung des neuen Genres in den USA ist aber vor allem mit dem Namen Edwin S. Porter verbunden, der ab 1900 für die Edison Gesellschaft als Regisseur und Kameramann arbeitete. Von Méliès beeinflußt — vor allem von dessen Le Voyage dans la lune — beginnt Porter ebenfalls mit aus einer Szene bestehenden Filmen (z. B. Kansas Saloon Smashers, 1901), entwickelt aber bald die auf der Montage getrennter und zeitlich unabhängiger Einstellungen basierende Schnittechnik. In The Life of an American Fireman (1903) kombiniert Porter Archivmaterial mit eigens inszenierten Szenen zu einer neun Filmsegmente umfassenden Filmerzählung von 6 Minuten Dauer,

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

die später auf 14 Filmsegmente erweitert wurde. Vorbildhaft für die spätere Entwicklung der realistischen Filmerzählung wird jedoch vor allem Porters The Great Train Robbery (1903). In diesem 14 Szenen umfassenden Film (Laufzeit: 12 Minuten) finden sich an technischen Neuerungen u. a. Parallelmontage, Rückprojektion sowie Kameraschwenks, alles Techniken, die die Statik von Méliès' Filmstil überwinden halfen.

2.

D. W. Griffith: Die frühen Jahre

David Wark Griffith wurde am 22. Januar 1875 als Sohn von Colonel Jacob Griffith in Kentucky geboren, der es während des Bürgerkrieges zu Vermögen und Ansehen gebracht hatte. Die Familie verarmte nach dem Tode des Vaters, die Mutter zog mit Kindern nach Louisville. David brach nach kurzer Zeit die high school ab, und wurde u. a. Verkäufer in der Buchhandlung von Bernard Flexner, wo er seiner Passion für das Lesen frönte und gleichzeitig seine Leidenschaft für die Schauspielerei entdeckte. Im Alter von zwanzig Jahren begann er ein unstetes Leben als Schauspieler und als Autor von BühnenMelodramen, insgesamt mit eher mäßigem Erfolg. 3.

G r i f f i t h bei A m e r i c a n B i o g r a p h

Griffiths Einstieg in die Filmwelt begann damit, daß er - aus wirtschaftlicher Not, nicht aus Begeisterung für das neue Medium Film — versuchte, ein Drama-Skript an Edwin S. Porter zu verkaufen. Zwar nahm Porter das Skript nicht, heuerte jedoch seinen Autor als Schauspieler für 5 Dollar pro Tag an. Griffiths Name ist jedoch vor allem untrennbar mit der Filmgesellschaft Biograph Company verbunden, für die er von 1908 bis 1913 arbeitet. Hier ist er erfolgreicher als bei Edison; er verkauft zunächst einige seiner 'storylines' und bekommt die Gelegenheit, als Schauspieler zu arbeiten; hier bringt er auch seine Frau Linda Arvidson als Schauspielerin unter. Mit The Adventures of Dollie erhält er die Chance, für George McCutcheon als Regisserur einzuspringen. Der Film, mit Hilfe des erfahrenen Kameramanns Arthur Marvin vollständig außerhalb des Studios ('on location') gedreht, hat am 14. Juli 1908 Premiere und ist erfolgreich. Ab dem dritten Film The Tavern Keepers Daughter arbeitet Griffith auch im Studio. 10 Filme entstehen im Juli 1908; bis

Jahresende 1908 hat er bereits 75 Filme gedreht. Im Zeitraum zwischen den Jahren 1908 und 1913 hatte er in 450 Filmen Regie geführt, die meisten kurze, eine Filmspule ('one reel'), d.h. 5—12 Minuten umfassende Filme, einige zwei Filmspulen umfassende und ein vier Spulen langer Spielfilm (Judith of Bethulia). Griffith verwendet für seine Filme überwiegend zeitgenössische Stoffe. Als grobe Genre-Klassifikation bietet sich eine Einteilung in Klassiker-Adaptationen (u. a. Shakespeare, The Taming of the Shrew, Dickens, The Cricket on the Hearth, Einflüsse von Oliver Twist und A Tale of Two Cities', George Eliot, Silas Marner, Tennyson, Browning, Tolstoi, Maupassant, vor allem aber auch Werke zeitgenössischer amerikanischer Autoren), historische Stoffe, vor allem solche der amerikanischen Geschichte (vgl. besonders The Birth of a Nation auf dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs), Westerns, Komödien (Farcen) und als quantitativ weit überwiegende Kategorie Melodramen an. 1909 führt Griffith bei 151 Filmen Regie. Im Jahre 1908 kommt Mary Pickford (Gladys Smith) zu Biograph, sie bleibt eine der wichtigsten Schauspielerinnen, bis sie 1910 von Karl Laemmles Independent Motion Picture Company abgeworben wird, der Biograph schon 1909 Florence Lawrence und Harry Salter abgeworben hatte. Griffith führt sehr bald bei Biograph ausführlichere Proben ein, um die schauspielerische Qualität zu steigern, wobei er seine schauspielerische Erfahrung einbringen und den Schauspielern überzeugend seine Vorstellungen vorspielen kann. Er arbeitet ohne Skript und verlangt den Schauspielern Überraschungseffekte ab. Dabei forciert er das Produktionstempo gewaltig und kann mit steigendem wirtschaftlichen Erfolg auch das Produktionsbudget von $ 300 auf S 500 pro Film anheben. Er bevorzugt Außenaufnahmen gegenüber den gemalten Kulissen von Studioproduktionen (Realismus). In seinem neunten Film The Tatal Hour führt er zum ersten Mal die als cross cutting bekanntgewordene Schnitt-Technik ein, das Ineinanderschneiden zweier simultan ablaufender Handlungen. Griffith entwickelt den Spielort „Cuddebackville", ländliches Amerika, für Indianerfilme und Filme über den Bürgerkrieg. In seinem Streben nach Authentizität stützt er sich auf einen Indianer als Berater. Hier in Cuddebackville werden nur Außenaufnahmen ge-

106. David Wark Griffith

dreht; Studioszenen werden später nachgedreht. Die Filme dieser Zeit sind vor allem Kostümfilme und zeitgenössische Melodramen mit spektakulären Rettungsaktionen am Ende. Dabei erlaubt die nun systematisch eingesetzte Schnittechnik des cross cutting größere Komplexität in dem noch immer fast ausschließlich verwendeten Ein-Filmspulen-Format. Im Jahre 1910 filmt Griffith zum ersten Mal, von da ab jedes Jahr in Kalifornien; im New Yorker Studio produziert er mit His Trust und Iiis Trust Fulfilled zwei aufeinander bezogene Ein-Spulen-Filme, die er jedoch noch nicht im Zwei-Spulen-Format vermarkten kann. In diesen Filmen tritt bereits die Figur des „Southern old trusted body servant" auf („black but honest"), Vorläufer von The Birth of a Nation. Unter den Filmen des Jahres 1911 ist die besonders gelungene Rettungs-Sequenz in The Lonedale Operator hervorzuheben. Enoch Arden nach Tennyson wird in zwei Teilen produziert; das Publikum erzwingt die Vorführung am Stück. Auf diese Weise entsteht der erste 'two-reeler' innerhalb des Produktionsverbunds der Motion Picture Patents Company. Wichtig für Griffiths Bildstil wird der Studiofilm Pippa Passes wegen der von Griffith noch gegen die Auffassung des Kameramanns Billy Bitzer durchgesetzten Lichteffekte. Bitzer entwickelt die Technik der Gegenlicht-Beleuchtung, für die er bekannt wird und die hernach von Griffith systematisch zu Effekten eingesetzt wird, eher zufällig. Was die technischen und dramaturgischen Mittel des Films angeht, so reklamiert Griffith in seiner Selbstanzeige im Dramatic Mirror f ü r sich die Einführung von „the large or close-up figures, distant views [...], the 'switch-back', sustained suspense, the 'fade out', and restraint in expression" (Wagenknecht/Slide 1975, 17). Die gegen Ende des Jahres 1911 erreichte Stufe der technisch-ästhetischen Entwicklung des Filmmediums bei Griffith läßt sich so zusammenfassen: In The Squaw's Love setzt Griffith erstmals zwei Kameras ein, benutzt beim Schnitt jedoch nur Material aus einer. Griffith hat das Mehrkameraverfahren erprobt und wird es zukünftig einsetzen. Zu den filmtechnischen und filmästhetischen Neuerungen gehört der Einsatz einer bewegten Kamera (vom Zug aus). Cross cutting ist zum bewährten Mittel der Strukturierung der Filmerzählung geworden. Die Großauf-

1169 nahme ('close-up') dient nun standardmäßig der Gestaltung der Klimax der Filme, sie wird nicht mehr bloß um der filmischen Neuigkeit willen und zu Schock-Effekten eingesetzt. Des weiteren beherrscht Griffith immer größere Schauspielerensembles, was wiederum Voraussetzung f ü r die folgenden großen Filme ist. Griffith hat sich also weit von der ursprünglichen Konzeption des Films als „abgefilmtes Theater" entfernt. Niver hat 13 Szenen und 12 Kamerapositionen in The Adventures of Dolly ausgemacht, im Gegensatz dazu jedoch 130 Szenen und 35 Kamerapositionen in The Girl and Her Trust (Niver 1974), eine Entwicklung, die von der sich noch an früheren Modellen orientierenden Kritik nicht durchwegs akzeptiert wird. Andererseits kann der technisch und ökonomisch gegebene Zwang zur Beschränkung auf eine oder wenige Filmspulen geradezu als Anlaß zur Entwiclung des für Griffith typischen filmdramaturgischen Stil gelten, der durch knappe Andeutung der Exposition und Konzentration auf die dramatischen Höhepunkte charakterisiert ist (Wagenknecht/Slide 1975, 20). 1922 entsteht auch der Bürgerkriegsfilm The Battie, der als Vorstudie zu The Birth of a Nation gelten kann. Im Jahre 1912 findet Mary Pickford zu Biograph zurück, ist aber nun nicht mehr die beherrschende Starschauspielerin. Mary Pickford ist Anlaß f ü r den Besuch der Schwestern Dorothy und Lillian Gish, die sogleich Rollen in Griffiths Filmen bekommen (An Unseen Enemy). Im September 1912 dreht Griffith den ersten Gangsterfilm (The Musketeers of Pig Alley), in seinem dokumentarischen Realismus stilistischer Vorläufer von Intolerance. An filmischen Experimenten ist f ü r 1912 zu verzeichnen: gefilmte Bewegung diagonal durchs Filmbild, dynamische Diagonalen, Gegenlicht, lange Einstellungen als 'establishing shots' — typisch wird eine Schnittfolge aus mittleren Einstellungsgrößen ('medium shots') und G r o ß a u f n a h m e n ('close ups'), Einf ü h r u n g der F a h r a u f n a h m e ('tracking shot'): Kameras auf Kamerawagen und auf Eisenbahnzug: The Girls and Her Trust, Wettfahrt Auto und Lokomotive: A Beast at Bay (später in Intolerance wieder verwendet). Gegen Ende 1912 hat Griffith insgesamt 423 Filme fertiggestellt. Griffiths Kameramann, der später auch mit ihm von Biograph zu Aitkens Gesellschaft mitgeht und beispielsweise The Birth of a Nation filmt, ist

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

Billy Bitzer, selbst ein Pionier des frühen Films. Mit den Bossen von Biograph, vor allem Kennedy, befindet sich Griffith Ende 1912/ Anfang 1913 in Auseinandersetzung um die Möglichkeit, lange mehrteilige Filme zu drehen. Nachdem die Gesellschaft Griffith nur sehr eingeschränkt die Erlaubnis gegeben hat, in Kalifornien two-reelers zu drehen, fühlt sich Griffith durch den acht Filmrollen umfassenden (italienischen) Film Quo Vadis zu seinem bisher größten Filmprojekt, Judith of Bethulia, eine Bearbeitung des Judith-undHolofernes Stoffes im Vier-Filmspulen-Format, herausgefordert. 3.1. Judith of Bethulia Der Film basiert auf Thomas Bailey Aldrichs Version der Geschichte der Belagerung Bethulias durch Holofernes. Judith entschließt sich, als Kurtisane verkleidet zu Holofernes zu gehen; Holofernes ist von Judith hingerissen, aber auch Judith ist von Holofernes bezaubert, den sie als edlen Menschen sieht. Sie geht durch schwere Gewissensqualen, muß sich zwischen ihrer Zuneigung zu Holofernes und ihrer Aufgabe entscheiden. Sie bleibt schließlich ihrer Mission treu: Nach einer Liebesnacht macht sie Holofernes betrunken und tötet ihn. Die assyrische Armee, kopflos ohne ihren Führer, gibt auf und flieht: Judith wird als Befreierin Bethulias gefeiert. Die Studioteile für Judith of Bethulia werden in Los Angeles gedreht; die Außenaufnahmen in Chatsworth, San Fernando Valley. Die Konstruktion der Kulissen ('sets') der Stadt Bethulia ist extrem aufwendig. Griffith verwendet eine vierteilige plot-Konstruktion, wählt eine schnelle und sehr effektive Exposition und hält ein schnelles Schnittempo in den Schlachtszenen durch. Die Produktion vermittelt ein großes öffentliches Geschehen durch die individuelle Erfahrung und die emotionale Reaktion der Hauptfigur Judith (große schauspielerische Leistung der siebzehnjähren Blanche Sweet; Funktion der Großaufnahme!). Allerdings gewinnt Griffith Judiths Motivation noch nicht aus dem Charakter der Figur, sondern gewissermaßen aus der sozialen Realität, ζ. B. aus eingeschnittenen Szenen der hungernden Frauen u. ä. Griffith überzieht die auf S 18.000 geplanten Produktionskosten um mehr als das Doppelte, was zur Auseinandersetzung mit Biograph führt. Ihm wird die Kontrolle über die Finanzen entzogen. Der Film erweist sich jedoch als großer Kinoerfolg.

3.2. Die Trennung von Biograph Etwa gleichzeitig hat Kennedy für Biograph einen Vertrag für lange Filme mit einer anderen Produktionsfirma geschlossen und versucht, Griffith auf den Kurzfilm festzulegen. Griffith erkennt, daß er sich von Biograph lösen muß, und nimmt nach einigem Herumsuchen ein Angebot von Harry E. Aitken an, der im Wettbewerb mit Carl Laemmles Universal Film sein eigenes Produktions-, Distributions· und Abspiel-Imperium Mutual gründet. Am 20. 9. 1913 wird die Trennung Griffiths von Biograph bekanntgegeben.

4.

Griffith bei Mutual: Die Phase der großen Spielfilmproduktionen

Aitkens Produktionsgesellschaft RelianceMajestic bzw. seine Vertriebsgesellschaft Mutual gibt Griffith die Gelegenheit, 4—5 Filmrollen umfassende Filme mit einem je auf S 5.000 begrenzten Budget zu drehen. Auch hier geht Griffith wieder nach Kalifornien. Die ersten Filme werden in hektischer Folge hergestellt, um Geld einzuspielen. (The Battie of the Sexes; The Escape; Home Sweet Home). Allmählich gewinnt der Plan Gestalt, Thomas Dixons Theaterstück The Clansman, die Geschichte der Heimkehr eines Soldaten der Konföderation, zu verfilmen. Das Budget für The Clansman, später in 37ie Birth of a Nation umbenannt, wird zunächst auf $40.000 festgesetzt, wobei Aitken S 20.000 nachschießen muß. Als auch dieses Geld verbraucht ist, und der Film erst zur Hälfte fertiggestellt ist, sammeln Aitken und Griffith von verschiedenen Leuten kleinere Beträge gegen Gewinnbeteiligung ein. Das Budget erreicht auf diese Weise insgesamt die Höhe von $ 110.000. 4.1. The Birth of a Nation Der Film The Birth of a Nation beginnt mit einem Prolog, der die Anfange der Sklaverei in Amerika schildert. Griffiths Botschaft: die Händler aus New England, die die ersten Sklaven nach Amerika gebracht haben, sind Vorfahren derer, die nun die Abschaffung der Sklaverei fordern. Es schließt sich ein erster Szenenblock an, in dem die Repräsentanten der beiden Familien — die Stonemans aus dem Norden und die Camerons aus dem Süden — eingeführt werden. Die Söhne beider Familien hatten sich im Internat kennengelernt. Der Besuch der Stonemans bei den Camerons auf deren

106. David Wark Griffith

Farm in South Carolina führt zu Liebesbeziehungen „über Kreuz": Phil Stoneman verliebt sich in Margaret Cameron, Ben Cameron fühlt sich aufgrund ihres Photos zu Elsie Stoneman, dargestellt von Lillian Gish, hingezogen. Zugleich wird das idyllische Leben auf einer Farm im amerikanischen Süden verherrlicht. Die Idylle findet ihr abruptes Ende im Ausbruch des Bürgerkriegs, der die nächsten Szenenblöcke des Films bestimmt. Hier finden sich die von der Kritik gefeierten Kriegsszenen (Belagerung von Petersburg, Zerstörung von Atlanta durch General Sherman), in die die persönlichen Schicksale der Angehörigen der beiden Familien eingebunden sind: Tod der jüngsten Söhne beider Familien auf dem Schlachtfeld. Ben Cameron wird verwundet und von Phil Stoneman gerettet, er wird im Krankenhaus von Elsie Stoneman gepflegt. Den Höhepunkt des ersten Teils bildet der Anschlag auf Abraham Lincoln in Ford's Theater durch John Wilkes Booth während einer Aufführung von Our American Cousin, die Phil und Elsie Stoneman besucht haben. Teil II zeigt den politischen Umschwung nach Lincolns Tod: Austin Stoneman, der Führer der „Reconstructionists", gewinnt nun die Oberhand, betreibt mit Hilfe von Silas Lynch, der Lieutenant Governor von South Carolina wird, die Entmachtung der Weißen in den Südstaaten und etabliert das Regiment der Schwarzen: die - parteiische Kamera zeigt verängstigte weiße Familien und wild feiernde, Gin trinkende Schwarze. Die Gegenbewegung gegen das „schwarze Regiment" wird von Ben Cameron angeführt, der zum Schutz des Rechts der - wie es im Untertitel heißt — „arischen" Bevölkerung den Ku Klux Klan gründet. Austin Stoneman, der sich in Lynch getäuscht hat, wird zugleich das Opfer seiner Geliebten Lydia Brown, wie Lynch Mulattin. Elsie Stoneman löst die Beziehung zu Ben Cameron, als sie von seiner Zugehörigkeit zum Klan erfährt. Das Verhältnis von Weißen und Schwarzen — der Film zeigt Brutalitäten auf beiden Seiten — wird auf der persönlichen Ebene durch die Verfolgungsszene zwischen Flora Cameron und dem Schwarzen Gus angeheizt: Flora - dargestellt von Mae Marsh, die später in Innocence die Rolle von „The Dear One" spielt — flieht vor Gus auf die Klippen und stürzt sich hinab; Ben Cameron kann sie nicht mehr retten. Gus wird durch den Klan verurteilt und gelyncht, seine Leiche wird vor die Tür des Governors gelegt. Der wiederum

1171 mobilisiert seine Leute gegen die Klansmen. Der alte Cameron wird verhaftet, aber von Phil und Margaret in eine Hütte gebracht, in der sie von Schwarzen belagert werden. Elsie Stoneman versucht, bei Lynch für Cameron einzutreten, der sie festhält und zur Ehe mit ihm zwingen will. Während weiße Klansmen wie die schwarze Soldateska gleichermaßen Greueltaten vollbringen, treiben die beiden personalen Handlungsstränge auf ihre Höhepunkte zu: Klansmen retten Elsie Stoneman aus der Gewalt Lynchs, und in einer zweiten Rettungsaktion werden die Camerons aus der Hütte befreit. Am Ende ist das schwarze Regime zusammengebrochen, die Herrschaft der Weißen im Süden wiederhergestellt, die beiden Paare finden sich zum 'happy ending'. Auch in diesem Film hält Griffith an seinem Detailrealismus fest. Bei den Schlachtszenen müssen 300—500 Statisten dirigiert werden, was im sogenannten „nucleus system" durch Aufteilung in einzelne Gruppen geschieht, die dann durch je einen erfahrenen Schauspieler angewiesen werden, wobei die Gesamtregie von einem Turm aus erfolgt. Griffith rekonstruiert in ebenso realistischer Weise den Spielort ('location') Ford's Theater, den Ort des Anschlags auf Präsident Lincoln. Schwarze werden durch schwarz geschminkte weiße Schauspieler ('blackface') dargestellt, was zusammen mit der Botschaft des Films Griffith den Vorwurf des Rassismus einträgt. Besonders hervorzuheben sind Dramaturgie, Kamera und Schnitt bei den Kriegsszenen, der Ermordung Lincolns sowie bei den Verfolgungs- und Rettungsszenen des zweiten Teils. Hier zieht Griffith gewissermaßen alle Register: Kontrast naher und weiter Einstellungen, Rückblende, Parallelmontage, extreme Variation der Einstellungsdauer bis hin zu extrem spann ungssteigernder Kürze der Einstellungen. Insgesamt beträgt die Produktionszeit für The Clansman/The Birth of a Nation 9 bzw. 12 Wochen — die Angaben schwanken hier — und der Film hat am 8. Februar 1915 in Los Angeles Premiere. Für die Premiere in New York gründet Aitken eigens eine neue Vertriebsgesellschaft, Epoch Production Company. Der Film wird ein sensationeller Kassenerfolg. Angeblich schlägt der begeisterte Thomas Dixon bei der ersten Privatvorführung am 20. Februar 1915 den neuen Titel The Birth of a Nation vor, der von da an verwendet wird. Bei der Premiere am 3. März 1915 im Liberty Theater in New York wird der Film uneingeschränkt als ästhetisch-technisches Meisterwerk anerkannt, löst aber sei-

1172

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

nes - von vielen als rassistisch eingeschätzten — Inhalts wegen harte Kontroversen aus. Griffith schneidet den Film als Reaktion auf die Publikumsrezeption mehrfach um, mildert die als rassistisch kritisierten Teile, so daß von einer authentischen Fassung nicht gesprochen werden kann und bis heute die Urfassung nicht bekannt ist. So wird ζ. B. vermutet, daß der Film in einer Frühfassung die von den „Abolutionists" vertretenen Lösung der Deportation aller Schwarzen aus Amerika vertreten hat. Die Debatte um den Inhalt von The Birth of a Nation ist bis heute nicht verstummt. Die übliche gedankliche Trennung zwischen dem inhaltlich bestimmten Rassismus-Urteil und dem auf ästhetischen Maßstäben beruhenden Lob des Films als bahnbrechendes Meisterwerk der Filmkunst befriedigt nicht. Verteidiger Griffiths führen zu seinen Gunsten an, daß die Botschaft des Film in historischer Perspektive zu sehen sei, daß er im Grunde nur die in der Gesellschaft vorherrschende Position wiedergegeben habe, daß der erste Teil bis zu Lincolns Tod nicht rassistisch sei, vielmehr die Botschaft von der Sinnlosigkeit des Krieges enthalte, hingegen der zweite dem Autor Dixon zuzuschreiben sei. Immerhin hat Griffith in einem Interview 1930 zugegeben, daß nach seiner Auffassung der Klan 'zur damaligen Zeit notwendig' gewesen sei, wie er insgesamt ein idealisiertes Bild des weißen Südens zeichnet. So mag sich der Leser/Zuschauer sein eigenes Urteil bilden, ob er sich der vielzitierten Position James Agees anschließen kann: „The Birth of a Nation is equal with Brady's photographs, Lincoln's speeches, Whitman's war poems; for all is imperfections and absurdities it is equal, in fact, to the best work that has been done in this country. And among moving pictures it is alone, not necessarily as 'the greatest' — whatever that means — but as the one great epic, tragic film. (Today, The Birth of a Nation is boycotted or shown piecemeal; too many more or less well-meaning people still accuse Griffith of having made it an anti-Negro movie. At best, this is nonsense, and at worst, it is vicious nonsense. Even if it were an anti-negro movie, a work of such quality should be shown, and shown whole. But the accusation is unjust. Griffith went to almost preposterous lengths to be fair to the Negroes as he understood them, and he understood them as a good type of Southerner does. I don't entirely agree with him; nor can I be sure that the film wouldn't cause trouble and misunderstanding, especially as advertised

and exacerbated by contemporary abolutionists; but Griffith's absolute desire to be fair, and understandable, is written all over the picture; so are degrees of understanding, honesty, and compassion far beyond the capacity of his accusers. So, of course, are the salient facts of the so-called Reconstruction years.)" (Agee, 1958, zitiert nach Brandy/ Dickstein 1978, 405). Griffith wehrt sich gegen den RassismusVorwurf, wie er vor allem von der National Association for the Advancement of Colored People erhoben wird. 1916 schreibt er deshalb die Verteidigungsschrift „The Rise and Fall of Free Speech in America", die den Tenor hat, daß das Recht auf freie Meinungsäußerung in Amerika immer gegolten habe, jetzt aber im Zusammenhang mit dem neuen Medium Film durch eine Haltung der Intoleranz abgelöst worden sei. Mit dem Stichwort Intoleranz ist zugleich Griffiths neues Filmprojekt bezeichnet. 4.2. Intolerance 1915 beginnt Griffith bei Fine Arts Pictures - das ist der neue Name von Aitkens Reliance-Majestic — mit dem Projekt The Mother and the Law, das er zu vier parallelen, aber verschränkten (parallelisierend ineinandergeschnittenen) Geschichten unter dem Titel Intolerance ausbaut, die in Babylon (Belsazars Fest), in Judäa zur Zeit Christi (Christi Leidensgeschichte), im Paris zur Zeit Charles' IX (Bartholomäusnacht 1572) und in der Gegenwart (Tire Mother and the Law) spielen. Der Prolog führt mit der als Leitmotiv der Wiege visualisierten Gedichtzeile „Out of the Cradle Endlessly Rocking" (Walt Whitman) die Botschaft der Wiederkehr des Immergleichen ein, des Kampfes zwischen den melodramatischen Polen von Haß und Intoleranz auf der einen, Liebe und Güte auf der anderen Seite. Das laufend wiederkehrende Bildmotiv der Wiege segmentiert die Handlungsphasen. Entsprechend der melodramatischen Grundstruktur sind auch die Figuren eindimensional angelegt, sie haben zum großen Teil typisierende, „sprechende" Namen („The Boy"; „Dear One"; „The Friendless One", „Mountain Girl", „Brown Eyes" usw.). Die vier Handlungsebenen sind unterschiedlich weit ausdifferenziert. Die „judäische Geschichte" umfaßt drei Episoden aus dem Leben Jesu (Hochzeit zu Kana, Jesus und die Ehebrecherin — beide nach Johannes — und die Kreuzigung). Die „französische Geschichte" verarbeitet Geschehnisse der Bartholomäusnacht und basiert auf dem Ge-

106. David Wark Griffith

gensatz der Welt der Staatsaktion (Charles IX, Katharina de Medici: Unterzeichnung der Order des Massakers an den Hugenotten) und der privaten Welt der Hugenottenfamilie (Prosper Latour, „Brown Eyes" und ihre Familie): in der Bartholomäusnacht (zugleich Hochzeitsnacht) wird die Hugenottenfamilie getötet. Die „babylonische Geschichte" (538 v. Chr.) behandelt die Belagerung Babylons durch Cyrus' Truppen, „Belsazars Fest" angesichts des abgeschlagenen Angriffs der Perser, den Verrat der Stadt durch abgefallene Priester und den - vergeblichen — Versuch des „Mountain Girl", Belsazar vor dem Verrat zu warnen. Die „moderne Geschichte" ist am weitesten entwickelt; sie spielt in einer modernen industriellen Stadt und verknüpft verschiedene Handlungsstränge: Jenkins, der Fabrikbesitzer, gründet die Jenkins Foundation, die es den „Uplifters", einer Gruppe von Moralwächterinnen, erlaubt, ihre Ziele durchzusetzen. Zwei Familien, die von „The Boy" und die von „The Dear One", stehen im Zentrum. Der Vater von „The Boy" wird während eines Streiks erschossen. „The Boy", der sich der Bande des „Musketeer of the Slums" angeschlossen hatte, bricht, als er gegen den Widerstand ihres Vaters „Dear One" geheiratet hat, mit der Bande; er wird daraufhin denunziert und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die „Uplifters" nehmen daraufhin „Dear One" (als 'moralisch unwürdiger' Mutter) ihr Kind weg. Die Handlung entwickelt sich als melodramatische Dreiecksgeschichte weiter: „Musketeer" bemüht sich um „Dear One" und verspricht, „The Boy" aus dem Gefängnis freizubekommen und ihr Kind zurückzuholen. Während „Musketeer" und „The Boy" sich in „Dear Ones" Wohnung auseinandersetzen, erschießt die eifersüchtige „The Friendless One" „Musketeer" mit der Pistole von „The Boy" durch das Fenster. „The Boy" wird als vermeintlicher Mörder verhaftet und zum Tode verurteilt. Es kommt zu einer „Rettung in letzter Minute": nachdem „The Friendless One" schließlich die Tat gestanden hat, gelingt es nach dramatischer Wettfahrt Auto gegen Zug, den Governeur zur Aufhebung des Todesurteils zu bewegen: „The Boy" wird knapp vor der Hinrichtung bewahrt. Der Film beginnt und endet — von Prolog und Epilog abgesehen — mit der Gegenwartshandlung. Die Parallelmontage ist in diesem Film funktional für die Darstellung der Parallelität der vier Geschichten eingesetzt. Beispiele: Auf die Szene, in der „Dear One" das

1173 Kind weggenommen wird, folgt die Szene „Jesus und die Kinder"; Die Gerichtsszene, in der „The Boy" zum Tode verurteilt wird, wird mit Jesu Kreuzigung parallelisiert, die Vorbereitung der Exekution verläuft parallel zur Vorbereitung der Verschwörung gegen Belsazar und das Massaker der Bartholomäusnacht. Ebenso werden die verschiedenen Rettungsversuche parallel geführt: „Mountain Girl" wird auf dem Weg zu Belsazar durch die Massen aufgehalten; parallel dazu Wettfahrt Auto — Zug. Nachdem zuvor Prosper Latour zu spät kam, um „Brown Eyes" zu retten, steht am Schluß der Fall Babylons und der Tod des „Mountain Girl", die Kreuzigung Jesu und - als einzige gelungene — die Rettung von „The Boy". Intolerance wird eine Produktion von gigantischen Ausmaßen. Zur Truppe gehören mehr als 60 feste Schauspieler, dazu mehrere hundert Statisten. Für die Stadt Babylon und ihre Türme, für Judäa und für Paris werden riesige sets errichtet: Die Mauern Babylons sind 30 feet hoch, die Türme 135 feet. Griffith dreht riskante Szenen, so etwa ein Pferdegespann und Wagen, das über die Stadtmauer fahrt. Wie immer überwacht Griffith alle Details persönlich. Erster Kameramann ist wiederum Billy Bitzer. Um raffinierte Kamerabewegungen ausführen zu können, läßt Griffith einen Kameraturm mit eingebautem Lift bauen, der auf Schienen bewegt werden kann, so daß z. B. bei Belsazars Fest die Kamera zugleich eine Fahrt und eine Aufzugsfahrt (abwärts) vollzieht. Nachtszenen werden durch Magnesiumfackeln beleuchtet. Zur Produktion dieses Films gründet Aitken eigens die Wark Producing Company. Insgesamt belaufen sich die Produktionskosten auf $1.9 Millionen. Diese Summe ist aus dem Produktionsbudget nicht aufzubringen, so daß Griffith und andere Schauspieler, darunter Lillian und Dorothy Gish ihre Gewinne aus The Birth of a Nation drangeben. Die Aufnahmen sind im Sommer 1916 beendet. Die erste geschnittene Rohfassung wird 8 Stunden lang. Solche Langfassungen lassen sich nicht unterbringen, so daß Griffith schließlich aus 200.000 Fuß Film 13.500 bzw. in der endgültigen Fassung — 11.811 Fuß verwendet. Nach der privaten Erstaufführung am 6. August 1916 in Riverside, Kalifornien hat der Film am 5. September 1916 im Liberty Theater in New York Premiere. Er erzielt vier Monate lang hohe Kasseneinnahmen, bis ab dem fünften Monat die Einnahmen drastisch zurückgehen.

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Die Kritik erkennt die filmische Meisterleistung von Griffith an: „a real wizard of lens and screen", allerdings melden sich auch kritische Stimmen, die die Zusammenhanglosigkeit der Teile, die Banalität des melodramatischen Grundmusters, ja den schlechten Geschmack mancher Szenen kritisieren. Griffith kümmert sich wie schon vorher selbst um die Publizität seines Filmes, er ist auf der Höhe seines Ruhms. In Rußland wird Intolerance vor allem für Eisenstein und Pudovkin zum Vorbild (Eisenstein 1941). 4.3. Weitere Projekte Am 17. März 1917 findet die Londoner Premiere von Intolerance statt, zu der Griffith nach London gereist ist. Im Auftrag der britischen Regierung soll Griffith einen Propagandafilm machen, der die Sache der Alliierten gegen Deutschland in positivem Licht erscheinen läßt. Der Film Hearts of the World, der ein französisches Dorf unter deutscher Besatzung zeigt, wird 1917 begonnen, aber erst nach Kriegsende fertiggestellt. Griffith fahrt zusammen mit Lillian und Dorothy Gish mehrfach nach Frankreich, um Schauplätze in der Nähe der Front auszusuchen; er beobachtet, getreu seinem Detailrealismus, Abschiedsszenen von Soldaten und ihren Angehörigen auf Londoner Bahnhöfen. Zudem bekommt er dokumentarisches Filmmaterial von Kriegsberichterstattern und kauft auch noch deutsches Filmmaterial hinzu. Im Oktober 1917 kehrt Griffith in die USA zurück, um dort den Film fertigzustellen. Insgesamt sind zwei Drittel des Films in Kalifornien gefilmt worden. Der fertige Film umfaßt 12 Rollen, er wird später auf 8 Rollen zusammengeschnitten. Dies ist der erste GriffithFilm, für den es die komplette shot list gibt, für die Wissenschaft die Basis zur Untersuchung von Griffiths Montagetechnik. Nach der Vorschau im März 1918 hat der Film am 4. April 1918 in New York Premiere. Die Kritik erkennt an, daß es Griffith gelungen ist, die Realität des Krieges glaubhaft zu vermitteln. Ebenso wird die Integration von Spielszenen und dokumentarischem Filmmaterial gelobt. Bis Ende 1918 spielt der Film einen Gewinn von S 500.000 ein.

5.

Die letzte Phase

Für Artcraft, Zukors Gesellschaft, die zu Famous Players-Lasky, später Paramount Pictures, gehört, macht Griffith noch verschie-

dene Kriegsfilme, bei denen er überschüssiges Filmmaterial aus Hearts verwendet, sowie eine Reihe von 'low budget' Filmen. Zusammen mit Charly Chaplin, Mary Pickford und Douglas Fairbanks gründet Griffith die Gesellschaft United Artists, er hat sogar noch einen weiteren Vertrag mit First National. So kommt es, daß Griffith 1919 Verträge für 10 Filme unterschrieben hat, eine Last, der er unter Wahrung akzeptabler Qualitätsmaßstäbe nicht mehr nachkommen kann. Unter den Filmen des Jahres 1919 ist aus filmästhetischer Sicht interessant The Girl Who Stayed at Home, in dem das Mittel der selektiven Schärfe verwendet wird. Schließlich ist sein größter Erfolg dieses Jahres Broken Blossoms, eine tragische Liebesgeschichte, die, von United Artists herausgebracht, am 13. Mai 1919 in New York Premiere hat. 5.1. Broken Blossoms Broken Blossoms spielt in der Slum-Welt von Limehouse, Ost-London und ist — von den wenigen Nebenfiguren abgesehen — ein melodramatisches Dreipersonenstück. Die Geschichte ist schnell zusammengefaßt: „Battling Burrows", ein Preisboxer, läßt seinen Frust an seiner Tochter Lucy aus, wiederum gespielt von Lillian Gish. Als er sie eines Tages aus nichtigem Anlaß geschlagen hat, flieht sie aus dem Haus und wird von Cheng Huan, „the Yellow Man", einem idealistischen Ladenbesitzer, gepflegt und verehrt. Als Burrows erfährt, wo sich seine Tochter aufhält, schlägt er den Laden des Chinesen zusammen und bringt seine Tochter nach Hause. Sie schließt sich ein und beteuert ihre Unschuld, er aber bricht die Tür auf und schlägt sie, bis sie tot ist. Der Chinese erschießt Burrows, trägt die tote Lucy zurück in sein Haus, wo er sich neben ihr selbst tötet. Der Film weist im Vergleich zu den großen Spielfilmproduktionen ein deutlich reduziertes Format auf: er umfaßt lediglich sechs Spulen und ist eine reine Studioproduktion, die allerdings in ihrer Machart überaus einflußreich geworden ist. Wie schon die Synopse zeigt, ist die Handlung auf wenige Ereignisse reduziert — dies entspricht bereits der Vorlage, Thomas Burkes Geschichte „The Chink and the Child" (1917). Der Film gewinnt seine enorme zeitgenössische Wirkung allein aus der Atmosphäre („a tale of tears"), der filmischen Umsetzung der Welt der Figuren — die Slum-Umgebung der Burrows im Kontrast zu der 'orientalischen' Welt des Chi-

106. David Wark Griffith

nesen — filmischer Mittel wie die Einfárbung des Filmmaterials, künstlicher Nebel, die extreme Großaufnahme, und der Figurenkontrastierung - der brutale Burrows (Donald Crisp) und der feinfühlige Chinese (Richard Barthelmess) - vor allem aber aus der schauspielerischen Leistung von Lillian Gish, deren „closet scene" berühmt geworden ist. Die Kritik zu diesem Film ist durchwegs enthusiastisch; der Einspielerfolg enorm. 5.2. Weitere Projekte Während Griffith mit einer Reihe schnell produzierter Filme seinen Vertrag mit der First National erfüllt, bereitet er die Gründung seiner eigenen Filmgesellschaft vor: er renoviert den Studiokomplex Marmaroneck. Allerdings bringen die neuen Filme kaum hinreichende Einnahmen, und Griffiths Geldnöte nehmen dramatisch zu. Noch einmal landet Griffith einen großen Einspielerfolg mit der Verfilmung von Lottie Parkers Melodrama Way Down East, das er für S 175.000 kauft und in dem Lillian Gish die Hauptrolle der „Little Eva" spielt. Der Film ist filmhistorisch interessant im Blick auf die Schneesturm-Szenen, die zu dieser Zeit nicht im Studio hergestellt werden konnten, sondern unter großer Belastung für die Schauspielerin wie das Produktionsteam wirklich im Schneesturm vor dem Studiokomplex, in Vermont und in Connecticut gedreht wurden. Way Down East hatte am 3. September 1920 im 44th Street Theater Premiere. Der Film wurde trotz eines höchst unwahrscheinlichen plot und schwacher Figurencharakterisierung als Meisterwerk der Gattung Melodrama anerkannt, wobei Lillian Gishs schauspielerische Leistung ebenso gewürdigt wird wie Griffiths Regiearbeit, besonders die Szenen in Schneesturm und Eis. Der Film hat seit The Birth of a Nation das beste Einspielergebnis. Griffiths Filmprojekt Dream Street, das wie Broken Blossoms Material von Thomas Burke verwendet und wie dieses eine poetische slum-Geschichte war, hatte am 21. April 1921 in New York Premiere. Der Film enthält die ersten Tonexperimente nach dem Kellum Verfahren, die allerdings von der Kritik nicht positiv gewürdigt werden und auch Griffith nicht befriedigten, so daß sie nach den ersten Vorführungen wieder entfernt wurden. Am 30. Juni 1920 war die D. W. Griffith, Inc. in Maryland zugelassen worden; ab 13. Juli wurden ihre Aktien an der Börse gehandelt. Das Einspielergebnis von Way Down East und Rückflüsse aus der Liquidation der

1175 Wark Producing Corporation (Intolerance) erlaubten es Griffith, trotz schwieriger Finanzlage am 6. März 1921 eine Dividende von S 1 pro Aktie auszuzahlen. Das brachte fürs erste wieder neues Geld, allerdings verschärften sich in der nächsten Zeit Griffiths finanzielle Sorgen. Schließlich brachte aber das finanzielle Desaster, das sich aus der Rechte-Situation des Weihnachten 1921 fertiggestellten Films The Two Orphans (Orphans of the Storm) entwickelte - Griffith mußte die ausländischen Rechte für S 85.000 von William Fox erwerben, zusätzlich einen deutschen Film aufkaufen, um Orphans im Ausland zeigen zu dürfen — das Ende von Griffiths Unabhängigkeit. Griffith versuchte, durch Ankündigung weiterer großer Filmprojekte die Finanzwelt bei der Stange zu halten und von der Central Union Trust Company weitere Darlehen gegen Hingabe der Rechte an den Negativen zu erhalten. Mittlerweile schuldete Griffith der Bank aber mehr als eine halbe Million Dollars. Die folgenden Filme sind überweigend weder Kassenerfolge noch werden sie von der Filmkritik anerkannt. Einen Erfolg bei der Kritik erzielte Griffith mit The White Rose, allerdings kann sich der Film nur wenige Wochen in den Kinos halten. Noch einmal versucht sich Griffith an einem Mammutprojekt: America, ein Film über die Amerikanische Revolution, das auf Griffiths Drama War beruhen sollte. Es gelingt ihm noch einmal, einen großen Kredit bei der Central Union Trust lockerzumachen. Griffith filmt im Oktober 1923 die meisten Szenen an authentischen Schauplätzen. Im Januar 1924 stellt er eine amerikanische und eine englische Fassung des Films fertig. Der Film hat am 21. Februar 1924 in New York Premiere. Die englische Fassung fällt der Zensur zum Opfer, und Griffith kann erst im September 1924 nach Auflagen hinsichtlich der Untertitel die Freigabe erwirken. Die Reaktion der Filmkritik ist gemischt wie die Mischung von großem nationalen Epos und kleinem persönlichen Melodrama, die der Film selbst darstellt. Erst nach Jahren hatte der Film seine Produktionskosten eingespielt. Ab 1924 werden nahezu alle Projekte, so eines in Italien und eines, dessen Außenaufnahmen in Berlin und der Mark Brandenburg gefilmt werden (Isn't Life Wonderful) zu Mißerfolgen. Zugleich muß Griffith zwischen seinen vertraglichen Verpflichtungen mit United Artists auf der einen und Paramount auf der anderen Seite lavieren. Selbst mit dem Film über Abraham Lincoln, der am 25. August 1930 Pre-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

miere hat und hohes Lob einheimst, vermag er es nicht, den Abwärtstrend aufzuhalten. Der letzte Film, den der fast siebenundfünfzigj ährige Griffith herausbringt und praktisch selbst finanziert, The Struggle, nach Zola, hält sich genau eine Woche im Rivoli Theater in New York (10. Dezember 1931) und fahrt vernichtende Kritiken ein. Im Dezember 1931 werden auch die letzten Geschäftsbeziehungen Griffiths zu D. W. Griffith, Inc. gelöst. 1933 verkauft Griffith seinen Anteil an United Artists und zieht sich nach Louisville, Kentucky zurück. Nach einer kurzen — und erfolglosen — dreiwöchigen Englandreise zum Zwecke eines Remake von Broken Blossoms (1935) erlangt er am 28. Februar 1936 die Scheidung von Linda Arvidson und heiratet die junge Evelyn Baldwin. Wenige Wochen später erhält er in Hollywood die 'special citation' der Academy Awards für sein innovatives Film-Lebenswerk. 1938 gibt Griffith die meisten ihm verbliebenen Materialien an das Museum of Modern Art in New York. Die erste Griffith Retrospektive am Museum of Modern Art findet 1940 statt. Die nächsten Jahre leben die Griffiths in Hollywood und Beverly Hills. Im Oktober 1947 trennt sich Evelyn von ihrem Mann. Griffith stirbt am 23. Juli 1948, mehr als 17 Jahre nachdem er seinen letzten Film gedreht hatte.

6.

Griffith — Pionier des frühen amerikanischen Kinos

Die Geschichte des frühen amerikanischen Films läßt sich auffassen als Geschichte der handelnden Personen — der Unternehmer, Regisseure, Kameraleute, Stars, sie läßt sich weiter unter ökonomischen oder medientechnischen Aspekten betrachten. Das filmische Werk D. W. Griffiths ist Ergebnis all dieser Einflußfaktoren. Griffiths Weg zum Film ist zunächst ganz von Zufälligkeiten der Biographie her bestimmt. Nirgendwo wird aber dann klarer als in dieser Geschichte, wie stark Filmproduktion vom Geld abhängig ist, von der Bereitschaft der Produktionsfirmen oder der Banken, die nötigen Mittel bereitzustellen. Griffiths Wechsel von einer Produktionsfirma zur nächsten, die Gründung seiner eigenen Firma, das wirtschaftliche Scheitern, seine Erfolge wie schließlich seine eher kläglich anmutende letzte Lebensphase sind beredtes Zeugnis dafür. Die Entwicklung des Mediums Film vom 'one-reeler' bis hin zum großen Filmepos spiegelt ebenfalls die wirt-

schaftlichen Bedingungen wider: der Kassenerfolg oder -mißerfolg bestimmte die Richtung der technisch-ästhetischen Entwicklung entscheidend mit. Die vieldiskutierte Frage, inwieweit Griffith der große technisch-ästhetische Innovator gewesen sei, wird zweitrangig gegenüber der Erkenntnis der geschilderten Interdependenzen. Die Forschung sieht inzwischen Griffith überwiegend als den, der die vorhandenen technischen Möglichkeiten in genialer Weise gebündelt hat. Mit Thompson/Bordwell: „If this book had been written several years earlier, this chapter's discussion of changing film style would probably have dealt primarily with D. W. Griffith. Griffith himself helped to create the myth that he had 'invented' virtually every important technique for film storytelling. In late 1913, just after he had left American Biograph, he ran a newspaper advertisement claiming to have craeted the close-up, intercutting, fade-outs, and restrained acting. Early historians, unable to see many films from the pre-1913 period, took him at his word, and Griffith became the 'father' of the cinema. More recent research [...] has brought many other films to light, and historians have realized that numerous filmmakers were simultaneously exploring similar techniques. Griffith's importance has come to be seen in terms of his ability to combine these techniques in daring ways [...]. Most historians now agree that Griffith's imagination, ambition, and skill made him the foremost American filmmaker of this era." (Thompson/Bordwell 1994, 51; vgl. Card 1994). In diesem Sinne bündelt der Weg einer die Welt des amerikanischen Films über eine wichtige Entwicklungsphase beherrschenden Gestalt wie Griffith immerhin die Entwicklungstendenzen und Einflußfaktoren wie in einem Brennspiegel.

7.

Literatur

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Geschichte

des

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1177 Pearson, Roberta E., Eloquent gestures. The transformation of performance style in the Griffith Biograph films. Berkeley 1992. Scheugl, Hans, Sexualität und Neurose im Film. Kinomythen von Griffith bis Warhol. München 1974. Schickel, Richard, D. W. Griffith. an American life. New York 1984. Schlemmer, Gottfried, Das frühe Filmepos: Intoleranz (Intolerance, 1916). In: Fischer Filmgeschichte. Hrsg. von Werner Faulstich/Helmut Körte. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum etablierten Medium 1895-1924. Frankfurt 1994.

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107. Die Ufa in der Weimarer Republik (1918-1933) 1.

4. 5. 6.

Das Bild der U f a in der Filmgeschichtsschreibung Zur Geschichte der Ufa bis 1933 Zum kulturellen Status der U f a in der Weimarer Republik Filmproduktion und Ästhetik Schluß Literatur

1.

D a s Bild der U f a in der

2. 3.

Filmgeschichtsschreibung Die U f a erscheint im R ü c k b l i c k als g e r a d e z u exemplarisches P h ä n o m e n der deutschen Filmgeschichte, im G u t e n wie im Schlechten. Sie steht f ü r d a s ' g o l d e n e Z e i t a l t e r des d e u t schen K i n o s ' e b e n s o wie f ü r die V e r s t r i c k u n g des F i l m s in d a s 'finsterste K a p i t e l ' d e r G e schichte D e u t s c h l a n d s . So n i m m t es n i c h t w u n d e r , w e n n viele historische D a r s t e l l u n g e n

sich zwischen zwei E x t r e m e n bewegen — einerseits d e r n o s t a l g i s c h e n V e r k l ä r u n g (z. B. Riess 1985) u n d a n d e r e r s e i t s einer ideologiekritisch a u f politische F u n k t i o n e n v e r e n g t e n W a h r n e h m u n g ( z . B . K ö r t e 1978). Bedeut e n d e F i l m e u n d Regisseure w e r d e n a u f g e r e c h n e t gegen eine historische Linie, die v o n d e r G r ü n d u n g d e r U f a a u f Initiative v o n G e n e r a l L u d e n d o r f f ü b e r die K o n t r o l l e d u r c h Alfred Hugenberg hin zur Gleichschaltung unter Goebbels führt. In neueren Untersuc h u n g e n ( K r e i m e i e r 1992 o d e r B o c k / T ö t e b e r g 1992) bildet sich d a g e g e n eine differenziertere B e t r a c h t u n g s w e i s e h e r a u s , in d e r k o m m e r zielle, künstlerische u n d ideologische F a k t o ren als Teile eines k o m p l e x e n Beziehungsgeflechts v e r s t a n d e n w e r d e n . A u c h die D o m i n a n z d e r U f a a u f d e m d e u t schen F i l m m a r k t gilt es, n u a n c i e r t z u b e t r a c h ten. Als S y n o n y m f ü r d a s K i n o in D e u t s c h l a n d

1178

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

kann man die Ufa bestenfalls nach ihrer Verstaatlichung 1942 ansehen, d.h. nach der Gründung der Ufa-Filmkunst GmbH. Diese Gesellschaft war ab diesem Zeitpunkt für die gesamte Produktion zuständig; alle anderen Filmaktivitäten blieben unter dem Dach der alten Universum-Film A G konzentriert. Bis dahin, vor allem während der Weimarer Republik, stellte die Ufa zwar die gewichtigste Produktionsgesellschaft dar, daneben existierten aber noch viele kleinere Firmen, aus deren Ateliers ζ. B. in den zwanziger Jahren viele der heute zu den 'Klassikern' des deutschen Stummfilms zählenden Werke stammten. Dies gilt vor allem für den sogenannten expressionistischen Film. Nimmt man die von Kasten (1990) zum filmischen Expressionismus im engeren Sinn gerechneten Produktionen, so stellt man fest, daß sie mit einer Ausnahme nicht von der Ufa hergestellt wurden. 'Das Cabinet des Dr. Caligari' (1920) und 'Genuine' (1920) drehte Robert Wiene für die Decla-Bioscop; Karl-Heinz Martin arbeitete für die Ilag-Film ('Von morgens bis mitternachts', 1921) und für die Neos-Film ('Das Haus zum Mond', 1921). Hans Kobes 'Torgus' (uraufgeführt als 'Brandherd', 1921) entstand für die Centaur-Film und Robert Wienes 'Raskolnikow' (1923) als LeonardiFilm der Neumann Produktion. Einzig 'Das Wachsfigurenkabinett' von Paul Leni (1924) wurde als Paul-Leni-Film der Ufa hergestellt und von der Neptun-Film herausgebracht. Auch an der Produktion anderer berühmter deutscher Stummfilme wie Friedrich Wilhelm Murnaus 'Nosferatu' (Prana-Film, 1922) war die Ufa nicht beteiligt. Die Rolle der Ufa im Kino der Weimarer Republik wird man dementsprechend relativieren müssen: Vor allem bleibt festzuhalten, daß sie keineswegs für den deutschen Film schlechthin stehen kann. Die Ufa war ein komplexer, vertikal wie horizontal integrierter Konzern, der in erster Linie gewinnorientiert arbeitete. Ästhetische Experimente waren im Rahmen ihres Produktionssystems durchaus möglich, doch die für die historiographische Einordnung des deutschen Kinos der zwanziger Jahre bedeutende stilistische Innovation des filmischen Expressionismus entstand vornehmlich außerhalb der UfaStudios. Die Konzernführung gehörte ganz ohne Zweifel dem rechten politischen Lager an; dies läßt sich aber nicht ohne weiteres für die Ufa-Filme behaupten, die einem möglichst breiten Publikum gefallen sollten. Axel Eggebrecht, der in den zwanziger Jahren als

Dramaturg für die Ufa arbeitete, verglich sie wohl zurecht mit einem Warenhaus, in dem von Kitsch bis Kunst alles zu haben war (vgl. Bock/Töteberg 1992, 14). Den Stellenwert der Ufa für die deutsche Filmgeschichte wird man dementsprechend nur unter Berücksichtigung all dieser Aspekte diskutieren können.

2.

Zur Geschichte der Ufa bis 1933

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beherrschten ausländische, vornehmlich französische Firmen den Filmmarkt im Deutschen Reich. Die spezifische Struktur des deutschen Marktes (vgl. Müller 1994) begünstigte Anbieter wie Pathé Frères, die den Betreibern von Filmtheatern komplette Programme lieferten. Nach Kriegsbeginn wurden die ausländischen Firmen teils liquidiert, teils von Deutschen weitergeführt oder übernommen (vgl. Birett/Lenk 1996). Während des Krieges machte das Deutsche Reich im Gegensatz zu den Entente-Mächten von den propagandistischen Möglichkeiten des Films kaum Gebrauch. Vor allem im neutralen Ausland beherrschte die Entente den Filmmarkt. Am 30. Januar 1917 wurde das Bild- und Filmamt (Bufa) gegründet, das zunächst der Militärischen Stelle des Außenministeriums, ab Januar 1918 dann direkt der Nachrichtenabteilung des Kriegsministeriums unterstellt war. Doch auch die Propagandawirkung dieser Initiative blieb äußerst bescheiden, weil das Bufa als Behörde nicht in der Lage war, sich mit seinen Produktionen auf die Bedürfnisse des kommerziellen Filmmarktes einzustellen. Am 4. Juli 1917 wurde das als 'LudendorffBrief' bekannt gewordene Memorandum der Obersten Heeresleitung an das Kriegsministerium versandt mit der Anregung, eine kapitalstarke Gesellschaft zu gründen. Vor allem wollte man eine Kontrolle über die dänische Nordisk, die in den neutralen Ländern stark vertreten war, auf dem Wege einer Mehrheitsbeteiligung an deren deutschen Töchtern (u.a. Oliver Film GmbH; Nordische Film GmbH) erreichen. Am 14. Februar 1918 entstand mit der finanziellen Hilfe von Industrie und Banken die Universum-Film Aktiengesellschaft, in der Produktion, Verleih und Theaterbetrieb vereinigt waren. Ihr Stammkapital betrug 25 Millionen Mark. Weder das Reich, noch die Deutsche Bank, noch die Nordisk (deren Anteile schon 1920 zurückgekauft wurden) erschienen offiziell als Aktionäre. Der Aufsichtsrat war mit Vertretern

107. Die Ufa in der Weimarer Republik (1918-1933) von Banken und Industrieunternehmen besetzt; den Vorsitz hatte Emil Georg von Stauß von der Deutschen Bank inne (vgl. die Darstellung von Behn in Bock/Töteberg 1992, 30 ff.). Neben den Tochterfirmen der Nordisk wurden für die Ufa noch der Konzern des deutschen Filmpioniers Oskar Messter und die Mehrheit an der Projektions A G 'Union' (PAGU) erworben. Dazu kamen einige kleinere Unternehmen aus allen Bereichen des Kinowesens. Damit entstand in Deutschland erstmals ein Konzern, dessen Kapitalstärke sich mit der seiner großen europäischen Konkurrenten wie Pathé messen konnte. Durch die Übernahme der DeclaBioscop 1921 hatte sich das Marktpotential der Ufa noch einmal kräftig erhöht. Kurz vorher schon hatte das Reich seine Anteile an der Ufa zurückgegeben, die somit zu einem rein privaten Konzern wurde, in dessen Aufsichtsrat verschiedene Großbanken, allen voran die Deutsche Bank, die Kontrolle innehatten. Schon die Größenordnung, in welcher sich die U f a - G r ü n d u n g bewegte, macht deutlich, daß es sich hier nicht um eine allein der Propaganda dienende Kriegsgründung handelte. Auch nach dem Friedensschluß sollte sie deutschen Interessen im Ausland dienen. Allerdings entglitt die Ufa als kommerzielles Unternehmen der Unterhaltungsindustrie schon bald der direkten militärischen Kontrolle. Ab 1921 verlor sie, wie gesehen, ihren bis dahin immerhin noch halbstaatlichen Charakter. Im Ausland, vor allem in Frankreich, sah man allerdings die deutschen Filme generell noch für einige Jahre als Propagandainstrumente. So kommentierte 1921 ein französischer Journalist den Erfolg von Ernst Lubitschs Film 'Madame Dubarry' (1919) in den USA vor allem als eine gegen Frankreich gerichtete Verzerrung der Revolution von 1789 (vgl. Sadoul 1975, 417f.). Noch 1925 beschworen die Kritiker bei der französischen Premiere des ersten Teils von Fritz Langs 'Die Nibelungen' (1924) die Gefahr einer kulturellen Bedrohung herauf: Der deutsche Film sei wie eine Armee auf dem Vormarsch. Die Besorgnis der Franzosen war insoweit verständlich, als nach der langsamen Öffnung ihres Filmmarktes nach 1925 sich das Vorkriegsverhältnis in gewisser Weise umdrehte. Nun war Frankreich ein wichtiges Absatzgebiet f ü r den deutschen Film, während Deutschland stets weniger französische Produktionen importierte. Zumindest in Europa — nicht zuletzt dank der geballten Wirtschaftsmacht der U f a — wandelte sich die

1179 deutsche Kinoindustrie von einem vor 1914 scheinbar hoffnungslosen Nachzügler zu einem der wichtigsten Filmproduzenten. Zu Beginn der zwanziger Jahre expandierte die Ufa, indem sie, wie erwähnt, den wichtigen Konkurrenten Decla-Bioscop aufkaufte und damit ihre Produktions-, Vertriebs- und Auswertungskapazitäten deutlich erweiterte, wobei vor allem die hohe Zahl der Filmtheater, welche die Ufa kontrollierte, von großer wirtschaftlicher Bedeutung war. Gleichzeitig stockte man das Stammkapital mehrmals kräftig auf. Die Inflation verbesserte anfangs sogar den Export von Filmen. Die galoppierende Geldentwertung bescherte dem Konzern jedoch letztlich vor allem Nachteile. Insgesamt ging die Ufa aus der allgemeinen Krise allerdings noch einigermaßen unbeschadet hervor. Der Versuch, durch immer aufwendigere Großproduktionen mit Hollywood international zu konkurrieren brachte die Ufa schließlich in finanzielle Schwierigkeiten, weil diese Filme die enormen Kosten nicht einspielten. Ende 1925 Schloß der Konzern eine Reihe von Vereinbarungen mit den amerikanischen Firmen Paramount und Metro-Goldwyn ab, die als 'Parufamet-Vertrag' bekannt wurden. Die Ufa erhielt ein Darlehen von über 17 Millionen Reichsmark. Gleichzeitig sollten gemeinsam deutsche Filme in den USA und amerikanische Filme in Deutschland verliehen werden. Damit öffnete die Ufa jedoch nicht nur den Hollywood-Produktionen in großem Umfang ihre Kinos und holte sich so die Konkurrenz in die eigenen Häuser, sie stand auch unter einem erhöhten Produktionszwang, da sie nun jährlich 40 Filme für den ParufametVerleih herstellen mußte. Allerdings hielten die ursprünglich auf die Dauer von 10 Jahren angelegten Vereinbarungen nicht lange. Schon 1927 ließ die neue Geschäftsleitung unter Hugenberg die Verträge revidieren; die Einführung des Tonfilms brachte dann die endgültige Auflösung. Die großen Verluste der Ufa hatten kurz vorher zur Übernahme durch den ScherlKonzern unter Leitung des Deutschnationalen Alfred Hugenberg geführt, der zusammen mit einer Reihe Industrieller das überschuldete Unternehmen auch aus 'nationalen G r ü n d e n ' sanieren wollte. Die neue, nationalkonservative Konzernführung leitete eine Reorganisation der U f a ein, die sowohl eine Modernisierung und Straffung des Gesamtbetriebs einschließlich der Verwaltung, als auch eine politische Disziplinierung beinhaltete. Allerdings machte sich dies im Bereich

1180

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

der Spielfilmproduktion weniger deutlich bemerkbar, da man hier auf die kommerziellen Interessen Rücksicht nahm. Spürbarer wurde die neue Ausrichtung eher im Bereich der Wochenschauen oder ζ. B. im Boykott sowjetischer Filme in den Ufa-Kinos. Zu den Erfolgen der neuen Konzernleitung gehörte auch die erwähnte Revision des ParufametVertrags, wodurch sich vor allem die Zahl von US-Filmen, welche die Ufa in ihren eigenen Theatern zu zeigen hatte, reduzierte. Die konsequente Umstrukturierung des Konzerns stärkte die Ufa so weit, daß sie die Weltwirtschaftskrise nicht nur unbeschadet überstand, sondern in diesen Jahren sogar noch Gewinne erwirtschaftete. Zudem verbesserte die zügige Umstellung auf den Tonfilm ihre Marktposition, da aufgrund mangelnder Synchronisationsmöglichkeiten der Anteil amerikanischer Spielfilme zunächst rückläufig war, die Ufa im europäischen Ausland hingegen an Boden gewinnen konnte. Als 1933 auch die Filmindustrie dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels unterstellt wurde, war die Ufa zwar ebenfalls in den Strudel der Weltwirtschaftskrise geraten — der Reingewinn aus 1932/33 belief sich nur auf 40000 Reichsmark —, doch sie behielt ihre Vormachtstellung in Deutschland. (Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt die ausführlichen Darstellungen in Kreimeier 1992 und Böck/Töteberg 1992).

3.

Zum kulturellen Status der Ufa in der Weimarer Republik

Auch wenn die nationalistisch-konservative Ausrichtung der Ufa-Leitung seit ihrer Gründung sicherlich ihre Stellung innerhalb der Kultur der Weimarer Republik mitbestimmte, waren die künstlerischen Ambitionen und mehr noch die kommerziellen Interessen des Unternehmens von entscheidender Bedeutung. Im Zweifelsfall gössen die Herren des Konzerns durchaus Wasser in ihren ideologischen Wein, wenn es die geschäftlichen Belange erforderten. So wurde ζ. B. unter dem nationalistischen Alfred Hugenberg im November 1927 der jüdische Produzent Erich Pommer aus den USA zurückgeholt, obwohl er kaum zwei Jahre zuvor als vorgeblich Hauptschuldiger an der finanziellen Notlage der Ufa das Unternehmen verlassen hatte. Andererseits setzte man bei der Auswertung von Fritz Langs 'Nibelungen' in Deutschland durchaus auf die nationale Karte. Wie es

heißt, legte die Drehbuchautorin Thea von Harbou am Tag der Uraufführung des Films einen Kranz am Grab Friedrichs des Großen nieder. In Frankreich dagegen wurden die 'Nibelungen' vor allem als Film für ein internationales Publikum vermarktet. Ein französischer Kritiker sah in derartigen Produktionen gar eine mögliche europäische Antwort auf die Dominanz des amerikanischen Kinos. Insgesamt ist der Rückgriff auf 'deutsche' Themen wie in 'Die Nibelungen', 'Zur Chronik von Grieshuus' (Arthur von Gerlach, 1925) oder 'Faust' (F. W. Murnau, 1926) nicht so sehr als propagandistisches Unternehmen zu verstehen (wobei im Inland durchaus auch die nationalen Empfindungen zu diesem Zweck mobilisiert wurden) sondern wohl eher als Teil einer Strategie, mit kulturell ambitionierten Produktionen Marktanteile zu erobern — zumal man in denselben Jahren und offenbar mit denselben Absichten auch eine große Zahl literarischer Stoffe ζ. B. aus Frankreich oder Skandinavien verfilmte. Der Versuch, in 'Geheimnisse einer Seele' (Georg Wilhelm Pabst, 1926) die Psychoanalyse auf der Leinwand einem breiten Publikum näher zu bringen — die bekannten Psychoanalytiker Karl Abraham und Hanns Sachs wurden bei der Produktion als Berater hinzugezogen —, läßt sich schon gar nicht mit den politischideologischen Überzeugungen der Konzernleitung in Einklang bringen. Noch 1930 erzielte die Ufa mit Josef von Sternbergs 'Der blaue Engel' einen ihrer großen Tonfilmerfolge, obwohl Heinrich Mann, der Autor der Romanvorlage 'Professor Unrat', als bekannter Radikaldemokrat zu den politischen Gegnern von Hugenberg und seinen Parteigängern zählte. Selbst in einer Zeit der immer deutlicher hervortretenden ideologischen Polarisierung räumte man den Geschäftsinteressen allen politischen Bedenken gegenüber den Vorrang ein. Überhaupt darf man den Verbreitungsgrad der Ufa-Filme in der Weimarer Republik nicht überschätzen. Einmal abgesehen von den inländischen Konkurrenten, bewegte sich ζ. B. die Zahl der amerikanischen Filmtitel, die der deutschen Zensur vorgelegt wurden, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre bis zum Aufkommen des Tonfilms um die 40 Prozent. Der Anteil deutscher Titel lag in dieser Zeit nur wenig höher (Zahlen nach Thompson 1985, 106f.), in jedem Fall aber unter 50 Prozent. Auch wenn letztlich die Anzahl der Kopien pro Film entscheidend ist, wird man wohl kaum von einer Hegemonie

107. Die Ufa in der Weimarer Republik (1918-1933) der Ufa in den deutschen Kinos der zwanziger Jahre sprechen können. Die Mehrzahl der Ufa-Produktionen gehörte ohnehin dem Gebiet der Unterhaltung an. Die historische Forschung, die sich zumeist mit den wenigen dem künstlerischen Pantheon des deutschen Stummfilms zugerechneten Werken auseinandersetzte, hat die Vielzahl der von der U f a und anderen deutschen Firmen hergestellten Unterhaltungsware, die das Hauptkontingent der Produktion darstellte, bislang noch nicht systematisch untersucht. Auch in den Jahren der Weimarer Republik lagen diese Filme weitgehend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der intellektuellen Filmkritik. Ü b e r h a u p t hat in Deutschland eigentlich bis in die jüngste Zeit eine ernsthafte — eben nicht herablassende — Auseinandersetzung mit populärkulturellen Phänomenen kaum stattgefunden. Von Anfang an war gerade das Verhältnis der deutschen 'literarischen Intelligenz' (vgl. Heller 1985) zu dem neuen Medium geprägt von einerseits oft sehr heftigen Angriffen auf 'Schundfilme' und 'die moralische Verrohung im Kino' und andererseits von überzogenen, am traditionellen ästhetischen Kanon der 'Hochkultur' orientierten Anforderungen an die künstlerisch ambitionierteren Produktionen. Das letztgenannte Problem läßt sich am Beispiel der Rezeption von F. W. Murnaus 'Faust' demonstrieren (vgl. Aumont 1989, 60ff. und Kreimeier 1992, 164ff.). Das Projekt war eindeutig als kulturelles Prestigeobjekt geplant: Die Mitarbeiter zählten zu den renommiertesten Fachleuten der Ufa; Regisseur M u r n a u hatte kurz zuvor mit 'Der letzte Mann' (1924) einen international erfolgreichen Film gedreht; mit Emil Jannings war einer der wichtigsten deutschen Schauspieler für die Rolle des Mephisto gefunden worden. Zudem verpflichtete man Gerhart Hauptmann im Nachhinein für die Zwischentitel, dessen in Knittelversen abgefaßten Texte allerdings schließlich nur in einem Begleitheft abgedruckt, das an den Kinokassen verkauft wurde. Die deutschen Filmkritiker von Bernhard von Brentano über Willy Haas bis zu Herbert Jhering maßen Murnaus 'Faust' vor allem an Goethes Dichtung, vor welcher der Film aus ihrer Sicht natürlich keinesfalls bestehen konnte. Die visuellen Qualitäten des 'Faust', die dann vor allem die französische Filmkritik in den sechziger Jahren bei der Wiederentdeckung Murnaus als 'Autor' pries, fielen für die zeitgenössischen deut-

1181 schen Kommentatoren kaum ins Gewicht angesichts des übergroßen Anspruchs, ja der Anmaßung, Goethe auf die Leinwand zu bringen. Murnaus 'Faust' war somit, zumindest in den Augen der zeitgenössischen intellektuellen Kritik, ein letztlich gescheitertes Unternehmen. Ein derartiger Blick auf das Kino engt die Wahrnehmung der Filmkultur der Weimarer Republik bis heute ein. So beschäftigte sich die Filmgeschichtsschreibung vor allem mit den zeitgenössischen Schauspielern, die auch bei der bühnenorientierten Kritik Anerkennung fanden (wie Conrad Veidt, Werner Krauß, Emil Jannings) oder mit den Stars, die international erfolgreich waren (wie Asta Nielsen, Pola Negri und Lilian Harvey, später Marlene Dietrich). Somit wurden bislang vor allem die 'Grenzgänger zwischen Theater und Kino' (Hickethier 1986) gewürdigt. Untersuchungen zu Stars wie Henny Porten (Belach 1986) oder Harry Piel (Bleckmann 1993) gehören bislang eher zu den Ausnahmen, die wohl vor allem den außergewöhnlich langen Karrieren dieser Darsteller und ihrem besonderen Stellenwert für das deutsche Kino zu verdanken sind. In einer von Joseph Garncarz (1996, 108) auf der Basis von Leserumfragen in den Zeitschriften 'Neue Illustrierte Filmwoche' (Nr. 23, 1924) und 'Deutsche Filmwoche' (Nr. 19, 1925; Nr. 19, 1926; Nr. 11,1927) erstellten Liste der zehn beliebtesten Filmschauspieler der Jahre 1923 — 1926 erscheinen Porten und Piel tatsächlich auch an jeweils erster Stelle. Auf dem zweiten Platz bei den weiblichen Stars steht Ciaire Rommer, die heute ebenso wenig bekannt ist wie Lee Parry, Xenia Desni oder Dary Holm, die neben Lil Dagover, Lya Mara, Lya de Putti, Lilian Harvey und Mady Christians auf der Liste zu finden sind. Bei den Männern folgt auf Piel an zweiter Stelle Otto Gebühr, der gegenwärtig fast nur noch im Zusammenhang mit den 'Fridericus Rex'-Filmen als Darsteller Friedrichs des Großen genannt wird. Dazu kommen neben Conradt Veidt (Platz 4) und Emil Jannings (Platz 10) noch einige vertraute Namen wie Willi Fritsch, Harry Liedtke und Paul Richter. Charles Willy Kaiser, Alphons Fryland und Ernst Hofman dagegen sind zu den heute vergessenen Publikumslieblingen jener Jahre zu zählen. Diese 'populäre Filmkultur', ohne die man die Rolle der Ufa in der Weimarer Republik im G r u n d e nicht verstehen kann, m u ß von der Filmgeschichtsschreibung allerdings noch systematisch erforscht werden (vgl. dazu auch Garncarz 1996).

1182

4.

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

Filmproduktion und Ästhetik

Im Wettbewerb mit den amerikanischen Studios war die Ufa aufgrund ihrer für europäische Verhältnisse bedeutenden finanziellen Möglichkeiten durchaus in der Lage, aufwendige Großproduktionen herzustellen, die sich zunächst auch international mit den Hollywood-Filmen messen konnten. Gleichzeitig war man darauf bedacht, sowohl von den Stoffen wie auch von der Ästhetik her ein eigenes, möglichst unverwechselbares Profil zu entwickeln. Zu der bereits erwähnten Strategie, Stoffe von hohem kulturellen Rang zu verfilmen, gehörte auch eine Produktionsstruktur, die — zumindest bei solchen ehrgeizigen Projekten — eine maximale Ausnutzung des künstlerischen Potentials gewährleisten sollte. Die Filmproduktion in Hollywood war in den zwanziger Jahren in hohem Maße arbeitsteilig organisiert. Die amerikanischen Studios funktionierten tatsächlich als Filmfabriken: Der Produktionsprozeß war in eine Reihe von Arbeitsschritten gegliedert, die von der Konzeption des Drehbuchs über die Ausstattung, die Dreharbeiten, Schnitt und Montage bis hin zur Vermarktung des fertigen Produkts von hochspezialisierten Abteilungen ausgeführt wurden. Die Herstellungsleitung innerhalb eines jeden Studios hatte jeweils der Produktionschef inne, der für alle Filme zentral verantwortlich war. Dieses 'central producer system' (vgl. Bordwell/Staiger/Thompson 1985, 128 ff.) beruhte darüber hinaus auf einer strikten Zeitplanung; die Vorgaben im Drehplan mußten dementsprechend genau befolgt werden. Es handelte sich also bereits von der Struktur her um eine völlig durchrationalisierte, industrielle Arbeitsweise. Die Ufa hingegen strebte, insoweit man sich dabei auf die vielfältigen Zeugnisse der Beteiligten stützen kann, zumindest bei den prestigeträchtigen Produktionen ein anderes Modell an. Kreimeier (1992, 123 f.) zitiert in diesem Zusammenhang das Bild der mittelalterlichen Bauhütte, das deutsche Architekten wie Walter Gropius im übrigen schon zu Beginn der zwanziger Jahre programmatisch verwendet hatten (vgl. Pehnt 1973, 33). Die Ufa-Ateliers als Bauhütte — diese Metapher beschreibt die Filmproduktion als einen kollektiven Prozeß, in den alle Mitarbeiter, vom Drehbuchautor über den Kameramann, Beleuchter, Ausstatter, Cutter und Filmarchitekten bis hin zum Regisseur eingebunden waren. Tatsächlich fällt auf, in wie vielen Berichten über Dreharbeiten von Besprechun-

gen die Rede ist, in denen verschiedene Mitarbeiter gemeinsam Lösungsvorschläge diskutierten, sich wechselseitig Anregungen gaben und neue Techniken experimentell erprobten. Künstlerische Innovationen wie die 'entfesselte Kamera' Karl Freunds in Murnaus 'Der letzte Mann' verdankten sich dieser intensiven Zusammenarbeit während der Dreharbeiten; für derartige Tüfteleien auf dem Set ließen die auf genaue Planung und rationelle Organisation setzenden Filmfabriken Hollywoods keinen Raum. Die kooperative Arbeitsweise in den Ateliers der Ufa trieb allerdings auch die Herstellungskosten der Filme in die Höhe. Zu den wichtigsten ästhetischen Zielsetzungen, die immer wieder in den verschiedensten Äußerungen deutscher Filmpraktiker und -theoretiker dieser Zeit auftauchten, gehörte die in sich geschlossene, ausdrucksintensive 'Bildwirkung'. Vor allem den Filmarchitekten kam in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle zu. In einer Sondernummer der Zeitschrift 'Gebrauchsgraphik' (Heft 6, 1924/25) zum Thema Filmarchitektur erschienen Beiträge von Albin Grau, Walter Reimann und Robert Herith, in denen sie mit Nachdruck ihre Verantwortung als 'MalerArchitekten' für die Komposition der 'künstlerischen Optik' des gesamten Films betonten (vgl. Kessler 1991). Angefangen mit den expressionistisch verzerrten Dekors in 'Das Cabinet des Dr. Caligari' oder dem gotisch-stilisierten Prag des Architekten Hans Poelzig in Paul Wegeners 'Der Golem, wie er in die Welt kam' (1920) bis hin zu den Wolkenkratzern in Langs 'Metropolis' (1926) waren die Bauten tatsächlich von entscheidender Bedeutung für die spezifische visuelle Expressivität des deutschen Kinos. Bemerkenswert und durchaus kennzeichnend für die implizite Hierarchie der künstlerischen Mittel im deutschen Film der zwanziger Jahre ist die Tatsache, daß Schnitt und Montage in den zeitgenössischen Quellen offenbar kaum Beachtung geschenkt wurde - während nahezu parallel in Theorie und Praxis sowjetischer Regisseure wie Eisenstein, Pudovkin, Kuleschov oder Vertov die Montage zur zentralen ästhetischen Kategorie avancierte. Um die Bildwirkung bis ins Detail kontrollieren zu können, arbeitete man in Deutschland fast ausschließlich im Studio. Selbst der scheinbar unberührt-ursprüngliche Wald, durch den Siegfried am Beginn der 'Nibelungen' reitet, entstand auf dem Gelände der Babelsberger Ateliers: Gipspfeiler stellten die Bäume dar, und genau gesetzte Schein-

107. Die Ufa in der Weimarer Republik (1918-1933) werfer simulierten die Wirkung des durch die Baumkronen einfallenden Sonnenlichts. In Filmen wie diesen praktizierten die Filmarchitekten der U f a die konsequente 'Stilisierung der Natur', die für den Theoretiker Béla Balázs (1924) zu den Grundbedingungen der Filmkunst überhaupt gehörte. Ziel solcher genau komponierten, 'geschlossenen Bildwirkungen' war eine Einheit von Raum, Handlung, Architektur, Spiel, Licht und Stimmung. Tendenziell sollte jedes Filmbild eine expressive Komposition erhalten, ohne daß dabei der filmische Charakter des Bildes verloren ginge. Nahezu alle heute zum K a n o n des klassischen deutschen Stummfilms gerechneten Werke sind von diesen stilistischen Vorgaben geprägt. Nicht zufällig werden von Filmkritikern und -historikern immer wieder Gemälde zum Vergleich herangezogen: Die Filmarchitekten der Weimarer Republik strebten tatsächlich danach, malerische Effekte zu erzielen. Gerade hier lagen aber auch die Grenzen dieser Filmpoetik — zumindest vom Standpunkt einer Ästhetik, welche den Film ab den vierziger Jahren als ein grundlegend dem Realismus verpflichtetes Medium verstand. Am Beispiel von Fritz Lang läßt sich dieses Zusammenspiel von ästhetischen Zielsetzungen und produktionstechnisch-ökonomischen Rahmenbedingungen illustrieren. Lang hatte bis 1920 für die Decla gearbeitet und war 1921 nach einem kurzen Intermezzo bei Joe May zur Ufa gekommen, die kurz danach mit der Decla-Bioscop fusionierte. Kurz zuvor konnte Lang noch mit 'Der müde Tod' einen internationalen Erfolg feiern. Es folgten 1922 'Dr. Mabuse, der Spieler' und 1924 'Die Nibelungen', beides sehr aufwendige Zweiteiler. Das finanzielle Desaster von 'Metropolis' führte dann jedoch dazu, daß Lang seine beiden letzten Stummfilme, 'Spione' (1928) und 'Die Frau im M o n d ' (1929) als Produktionen seiner eigenen Fritz Lang G m b H für die U f a drehte. Der Konzern wollte nur noch als Coproduzent auftreten. Allerdings kam es auch bei dieser Form der Zusammenarbeit zu einer Auseinandersetzung über die Finanzen und schließlich zum endgültigen Bruch. Seine ersten beiden Tonfilme stellte Lang für die Nero-Film Seymour Nebenzahls her. Obwohl das Verhältnis zwischen Lang und der Ufa also mit einem Zerwürfnis endete, steht dem finanziellen Fiasko die Tatsache gegenüber, daß die Stummfilme Langs, wenn auch nicht immer als künstlerische, so doch

1183 immerhin als filmtechnische Meisterleistungen gelten. Betrachtet m a n die Stablisten zu den einzelnen Produktionen, dann fallt auf, daß Lang über einen festen Kreis hochqualifizierter Mitarbeiter verfügte, die in wechselnder Besetzung bei seinen Ufa-Filmen mitwirkten: die Kameramänner Carl H o f f m a n n , Günther Rittau, Karl Freund und Fritz Arno Wagner, die Filmarchitekten Otto Hunte, Karl Vollbrecht und Erich Kettelhut und eine Reihe von Schauspielern wie Rudolf Klein-Rogge, Theodor Loos oder Bernhard Goetzke. Dazu kam noch seine Frau Thea von Harbou, die in den zwanziger Jahren zu den erfolgreichsten Drehbuchautoren zählte. Gerade in den Filmen Langs findet man zahlreiche Beispiele von spezifisch visuellen Lösungen, in denen sich Erzählfluß und Handlung der Bildwirkung deutlich unterordnen — ein Umstand, den im übrigen die zeitgenössische Filmkritik immer wieder tadelte. So sind z. B. die 'Nibelungen' vor allem durch die deutlich unterschiedenen Räume strukturiert, in denen sich die Handlung vollzieht: der unheimlich-zauberhafte Wald, in dem der Drache und die Zwerge hausen; das abstrakt-strenge höfische Worms; das barbarisch-nordische Isenland Brunhilds; das bizarre Durcheinander am wilden Hof Etzels. Diese Räume sind nicht nur die Schauplätze des Dramas: Sie erst bringen die Konflikte zwischen den handelnden Figuren zum Ausdruck und lassen sie Bild werden. Ähnliches gilt für 'Metropolis'. Die Konfrontation verschiedener Orte trägt auch hier die Erzählung: die von Wolkenkratzern geprägte Oberwelt der Reichen und die Behausungen der Armen tief unter der Erde; das Vergnügungsviertel Yoshiwara und die Maschinen in den Fabriken; die unterirdischen Katakomben, der gotische D o m , das H a u s des Ingenieurs Rotwang. Jeder dieser Räume ist bis ins kleinste Detail stilisiert, ist Handlungsort und Metapher zugleich. Die Arbeit der Filmarchitekten stellte damit in gewisser Weise sowohl Grundlage als auch Fluchtpunkt des Produktionsprozesses dar. Die Bildwirkung, die jeweils angestrebt wurde, ergab sich aus dem Zusammenspiel von Bauten, Beleuchtung und Inszenierung. Gleichzeitig mußten sie den Anforderungen von Handlung und Narration entsprechen. Die oft hochartifiziellen Welten in den Filmen Langs erforderten ein genaues Zusammenspiel der verschiedenen Mitarbeiter. Die hierzu notwendigen, zeitraubenden und intensiven Vorbereitungen schlugen sich in den Herstellungskosten nieder. Die spezifischen

1184

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

visuellen Qualitäten dieser Filme wurden somit durch ein Produktionssystem ermöglicht, das zwar eine künstlerische Alternative zum Hollywood-Kino war, sich aber als ökonomisch nicht überlebensfähig herausstellte.

5.

Schluß

Will man der Rolle der Ufa in der Weimarer Republik gerecht werden, so gilt es zunächst, ihren tatsächlichen Stellenwert in der deutschen Kinolandschaft zu berücksichtigen: Da die Ufa auch auf dem Inlandsmarkt mit den Produktionen aus Hollywood konkurrieren mußte, waren die deutschen Kinobesucher keinesfalls der kontinuierlichen Beeinflussung durch die Produkte einer deutschnational ausgerichteten Ideologiefabrik ausgesetzt. Darüber hinaus war die Ufa selbst unter Hugenberg noch ein kommerzielles, gewinnorientiertes Unternehmen, das im Zweifelsfall die ideologischen Bedenken hintanstellte. Für die politische Propaganda setzte man vor allem auf Wochenschauen und Kulturfilme. Und schließlich ist es wichtig, innerhalb der Ufa-Produktion auch die breite Masse der Unterhaltungsfilme zu untersuchen und nicht nur immer wieder die doch relativ kleine Zahl der anerkannten Werke heranzuziehen, welche zudem von der zeitgenössischen Kritik nach eher einseitigen kulturellen Maßstäben beurteilt wurden. Eine solche systematische Neubetrachtung des deutschen Kinos der Weimarer Republik und der Ufa steht bislang noch aus, sie wird allerdings auch durch die nur geringe Überlieferungsquote von Unterhaltungsfilmen der Weimarer Republik erschwert. Was die inzwischen dem filmhistorischen Kanon zugerechneten Werke betrifft, so ist deutlich, daß ihre spezifischen ästhetischen Qualitäten eng mit den Produktionsbedingungen bei der Ufa zusammenhängen. Der Herstellungsprozeß wurde nicht arbeitsteilig zergliedert sondern als kooperatives Projekt verstanden, bei dem jeder Mitarbeiter seine Fachkenntnisse einbrachte. Gegen die industrielle Produktion der Hollywood'schen Filmfabriken setzte man das Modell der eher auf handwerkliche Arbeitsweisen zurückgreifenden 'Bauhütte', das allerdings unter den Bedingungen der modernen Unterhaltungsund Kulturindustrie in dieser Form nicht auf Dauer konkurrenzfähig war. Für ihre Unterstützung mit zahlreichen Hinweisen danke ich Joseph Garncarz, Martin Loiperdinger und ganz besonders Sabine Lenk.

6.

Literatur

Aumont, Jacques, „Mehr Licht!". Zu Murnaus „Faust" (1926). In: Literaturverfilmungen. Hrsg. v. Franz-Josef Albersmeier/Volker Roloff. Frankfurt a . M . 1989, 5 9 - 7 9 . Balázs, Béla, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Wien/Leipzig 1924. Belach, Helga (Hrsg.), Henny Porten. Der erste deutsche Filmstar 1890-1960. Berlin 1986. Birett, Herbert/Sabine Lenk, Die Behandlung ausländischer Filmgesellschaften während des Ersten Weltkriegs. In: Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontexte. Hrsg. v. Michael Schaudig. München 1996, 6 1 - 7 4 . Bleckmann, Matias, Harry Piel. Ein Kino-Mythos und seine Zeit. Düsseldorf 1993. Bock, Hans-Michael/Michael Töteberg Das Ufa-Buch. Frankfurt a . M . 1992.

(Hrsg.),

Bordwell, David/Janet Staiger/Kristin Thompson, The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960. New York 1985. Garncarz, Joseph, Populäres Kino in Deutschland. Internationalisierung einer Filmkultur. Mskr. Köln 1996. Heller, Heinz-B., Literarische Intelligenz und Film. Tübingen 1985. Hickethier, Knut (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Theater und Kino. Schauspielerporträts aus dem Berlin der Zwanziger Jahre. Berlin 1986. Kasten, Jürgen, Der expressionistische Film. Münster 1990. Kessler, Frank, Les architectes-peintres du cinéma allemand muet. In: Iris 12, 1991, 4 7 - 5 4 . Rreimeier, Klaus, Die UFA-Story. München 1992. Körte, Helmut (Hrsg.), Film und Realität in der Weimarer Republik. München 1978. Müller, Corinna, Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912. Stuttgart/Weimar 1994. Pehnt, Wolfgang, Die Architektur des Expressionismus. Stuttgart 1973. Riess, Curt, Das gab's nur einmal. Die große Zeit des deutschen Films. 3 Bde. Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1985. Sadoul, Georges, Histoire générale du cinéma. Bd. 5, Paris 1975. Thompson, Kristin, Exporting Entertainment. America in the World Film Market 1907-1934. London 1985.

Frank Kessler, Utrecht

(Niederlande)

108. Der rassische Film. Lev Kuleschov, Vsevolod Pudovkin, Sergei Eisenstein

1185

108. Der russische Film. Lev Kuleschov, Vsevolod Pudovkin, Sergei Eisenstein 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Der sowjetische Revolutionsfilm Montagetheorien Dziga Vertov (Denis Kaufman) Lev Kuleschov Vsevolod Pudovkin Sergei Eisenstein Der Montagefilm an der Schwelle der dreißiger Jahre Literatur

1.

Der sowjetische Revolutionsfilm

1.1. „Das Wesen der Montage zu bestimmen, hieße das Problem des Films als solches zu lösen". Sergei Eisenstein schrieb dies 1929 (Schriften 3, 204), am Ende jener Zeit, als die Montage als die eigentliche Spezifik des Filmmediums erkannt und konsequent zum schöpferischen Moment, zum „Nerv des Films" (Eisenstein) gemacht wurde (Beller 1993). Die Montagefilme von Lev Kuleschov, Dziga Vertov, Sergei Eisenstein, Vsevolod Pudovkin, Aleksandr Dovzenko, Esther Schub, Friedrich Ermler, Grigorij Kozinzev und Lev Trauberg, die in den fünf Jahren zwischen 1924 und 1929 entstanden, sind unter dem Begriff des sowjetischen Revolutionsfilms bekannt geworden. Filme dieser jungen Regisseure zeichneten sich nicht nur durch eine neue Ästhetik der filmischen Form aus, sondern, im Vergleich zu westeuropäischen Montagefilmen, auch durch die neuen soziale Inhalte, die sie auf die Leinwand brachten. Vor allem durch die sowjetische Filmpraxis und -theorie avancierte das technische Verfahren des Films — die Montage, der Schnitt von aufgenommenen Bildern und Sequenzen — in der Mitte der zwanziger Jahre zum einheitlichen konstruktiven und ästhetischen Prinzip, dem die schauspielerische Leistung, Drehbuch, Kameraführung und Dekoration untergeordnet waren. Unter dem Begriff der 'Montage' versteht man seither meist den russischen Montagestil aus den zwanziger Jahren (Peters 1993, 33). Das hatte Konsequenzen vor allem in der Relativierung der zentralen Stellung des Filmhelden und des Schauspielers und im angestrebten Verzicht auf das Drehbuch und der Bevorzugung der Chronik und des Dokumentarfilms (besonders bei Vertov). Zu Sujets wurden die vom Standpunkt der marxistischen Klassentheorie unternommene De-

chiffrierung des Lebens, der dialektische Prozeß der Geschichte und die Geburt eines neuen Massenmenschen. Der rein erzählenden herkömmlichen Montage stellten sowjetische Filmemacher die „Montage als Eingriff, als ein analytisches Verfahren, als Unterbrechung von Zusammenhängen" (Beilenhoff 1973, 153) gegenüber. Sie machten einen Schritt von der „Ästhetik des filmischen Sehens" zu einer „Ästhetik der bildhaften Darstellung einer Ansicht über eine Erscheinung" (Eisenstein 1961, 108). Von einem Mittel zur Erzählung von Geschichten wurde der Kinematograph zum Ideenträger. Wie unterschiedlich die Positionen der wichtigsten Adepten des Montagefilms auch waren, gemeinsam war ihnen neben der Abkehr von der bloßen Kontemplativität und IIlustrativität, die sie als Ausdruck der bourgeoisen Kultur auffaßten, die Auffassung der Montage als einer spezifischen Filmsprache, wobei der Zuschauerwahrnehmung für die Entwicklung von Montagegesetzen eine entscheidende Rolle zugesprochen wurde. Die praktische Tätigkeit der linken Filmemacher ging mit der theoretischen Reflexion einher, insofern läßt sich ihr Werk nur im Rahmen des untrennbaren Systems Theorie — Film beschreiben. 1.2. Der konsequente Versuch des Filmmediums, sich als neue Kunst mit eigener Theorie und Sprache zu konstituieren, wurde von der Verneinung seiner 'Verwandtschaft' mit den 'alten Künsten' und vor allem mit Literatur und Theater begleitet. Doch die Ablehnung der kulturellen Tradition wurde zur „Methode der Beherrschung und der Aneignung dieser Tradition, mit der viele von den jungen Filmschaffenden durch ihre Erziehung und Ausbildung verbunden waren" (Margolit 1993, 168). Die Wurzel vieler Theorien der sowjetischen Avantgardekunst, wie ζ. B. der Theorie der 'lebensbauenden Kunst', der Faktenliteratur, der intellektuellen Montage und des inneren Monologs, sind in der vorrevolutionären bürgerlichen Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstreflektion (ζ. B. Sergej Solovjev und Vladimir Rosanov) zu suchen (Tsivian 1991, 326ff.). Auch die Beziehungen zwischen den Medien waren wechselseitig. Das synthetische 'Gesamtkunstwerk' Film profitierte von der inspirierenden Atmo-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

Sphäre im Moskau der zwanziger Jahre, wo sich die führenden Kräfte der künstlerischen Avantgarde versammelt hatten. Die Literaten Vladimir Majakovskij, David Burljuk, Sergej Tretjakov, Viktor Schklovskij und Ossip Brik schrieben Drehbücher und Filmkritiken und spielten in Filmen ihrer Freunde wie auch der Theaterregisseur Vsevolod Meierhold und der Filmregisseur Vsevolod Pudovkin; Aleksandr Rodcenko, Aleksandra Exter und Lev Kuleschov schufen Dekorationen, Kostüme und Filmplakate. Der Architekt Andrei Burov baute für Eisensteins Film 'Die Generallinie' eine konstruktivistische Kolchose, die die Zukunft antizipierte. Dieses dichte schöpferische Zusammensein, das Lernen voneinander, der Wille, einander im Werk möglichst unähnlich zu sein, trugen zum Durchbruch des sowjetischen Revolutionsfilms bei. 1.3. Das Leben und das Werk der sowjetischen Filmemacher der zwanziger Jahre kann man nicht außerhalb des Kontextes des revolutionären Geschehens betrachten. „Die Geschichte unseres Films paßt fast restlos in unsere eigenen Biographien" schrieb 1934 Vsevolod Pudovkin (Zit. nach Sak 1993, 80). Eisenstein ebnete sich den „Weg zur Kunst durch die Revolution und zur Revolution durch die Kunst". Im Ersten Weltkrieg und im russischen Bürgerkrieg waren ζ. B. Vertov und Kuleschov als Filmreporter, Eisenstein als Regisseur eines revolutionären Fronttheaters tätig. Durch die marxistische Theorie beeinflußt bzw. geformt, brachten sie die Methode der Kunst mit dem Gesellschaftsaufbau in Verbindung. Insofern wurden die sozialen Veränderungen in Rußland zur Bestätigung der ultimativen Absage der ganzen europäischen Avantgarde an die vertrauten Ausdrucksformen. In Ubereinstimmung mit der Konzeption einer 'lebenserbauenden Kunst' faßten die linken Filmemacher die Kunst als Mittel zur Veränderung der Welt auf (Günther 1986). Sie waren der Überzeugung, daß die Form primär, der Inhalt sekundär sei, daß neue Formen neue Inhalte produzieren würden, und daß die Richtigkeit der angewendeten Methoden das gewünschte Resultat herbeiführe (Paperny 1985). Mit und in ihren Filmen glaubten sie, einen aktiven Beitrag zur sozialen Revolution zu leisten. Für das erste verstaatlichte Filmwesen war neben dem ökonomischen auch der ideologische Faktor von Bedeutung. Die Partei der Bolschewiki und Lenin forderten einen Agita-

tionsfilm und vor allem einen Dokumentarfilm, der zum Mittel der Aufklärung und Erziehung der zurückgebliebenen analphabetischen Masse und zur Propaganda für das neue soziale System werden sollte. Auch von den Kunstschaffenden wurde der Film als ein Instrument der sozialen Aufklärung verstanden. Die Montage sahen sie als dialektische Methode der Wirklichkeitsanalyse vom Standpunkt des Marxismus. Die Filmkamera wurde nun zum „strengen Vollstrecker einer bestimmten gesellschaftlichen Aufgabe" (Poetik des Films 1974,10). Gerade diese gesellschaftliche Aufgabe, die in der Ubersetzung der Ideen der sozialen Revolution gesehen wurde, gab der innermedialen Entwicklung die Möglichkeit freier künstlerischer Entfaltung. Der Vorwurf der Propaganda und Ideologie, der den sowjetischen Filmen heute gemacht wird, ist insofern zu reduzieren, als die Grenzen zwischen Kunst, Ideologie und Propaganda unklar sind und allzuoft emotional gezogen werden. 1.4. Die 'totalen Projekte' (Grojs 1988) des bolschewistischen Staates und der künstlerischen Avantgarde strebten die Erschaffung einer neuen Welt und eines neuen Menschen, der diese bewohnen sollte, an. Dem jungen Medium Film kam die herausragende Rolle zu, diese beiden zu visualisieren, wobei der Neue Mensch durch die gezielte Einsetzung der Psychophysiologie der Wahrnehmung als der 'ideale Zuschauer' im filmischen Text eingebettet werde. Die Geburt bzw. Herstellung eines neuen Menschen, der dem Zeitgeist adäquat wäre und dessen Entwürfe seit dem Ende des 19. Jhs. konzipiert wurden, war nun endlich in Sowjetrußland zu erwarten. Der Film seinerseits war bereit, einen Homunkulus „aus dem Kameraobjekt herauszuholen" (Kleiman 1994, 162). „Ich bin Kinoglaz" — proklamierte Dziga Vertov 1923, - „ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam, ich schaffe Tausende verschiedener Menschen nach verschiedenen, vorher entworfenen Plänen und Schemata. Ich [...] schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen" (Vertov 1979, 33). Die im Sturm der Revolution aufgeweckte Volksmasse sah sich zum ersten Mal als Hauptprotagonist des filmischen Geschehens. Von allen Künsten veranschaulichte der Film ihr Werden vom Objekt zum Subjekt des geschichtlichen Prozesses am deutlichsten. Auf der Leinwand wurde ein ideelles (Ab-)Bild

108. Der rassische Film. Lev Kuleschov, Vsevolod Pudovkin, Sergei Eisenstein

von dieser Masse produziert, das bereits in den Kinosälen ins Bewußtsein der Kinobesucher eingeprägt wurde. Das wurde — zumindest theoretisch — dadurch erleichtert, daß der durch den Kinematographien und seine theoretische Reflektion hervorgebrachte vorrevolutionäre 'intelligente Zuschauer' von einem Massenzuschauer abgelöst wurde, der keine bindende Norm darstellte und keine feste Orientierung besaß (Tsivian 1991, 325). Dieses Grundmaterial schien zu einem 'idealen Rezipienten' modellierbar zu sein. Von der Art und Weise seiner Wahrnehmung hatten alle Regisseure ihre eigenen Vorstellungen, die sie ihren Montagetheorien zugrunde legten. Während Kuleschov, Pudovkin und Eisenstein ihre Filme nach dem emotionalen oder intellektuellen Effekt montierten, den sie beim vorhandenen Zuschauer erzielen wollten, meinte Vertov, einen ideellen Rezipienten durch den Film zu induzieren (Tsivian 1991, 357). Die dem Rezipienten aufgezwungene Wahrnehmungsweise wurde in den Filmtext hineinprogrammiert, wodurch der Massenzuschauer zur Komponente dieses Textes wurde (ebd.). Sich die Montagefilme anzuschauen, wurde dadurch zu einer schweren Aufgabe, so daß ihnen der Erfolg beim Durchschnittspublikum versagt blieb. 1.5. Der soziale Entwurf des Neuen Menschen, der von den gesellschaftlichen Veränderungen herrührte, ging mit den Bedürfnissen des Filmmediums einher. Der totale Montagefilm entwickelte ein Ausdruckssystem der Einwirkung auf den Zuschauer mittels der Montagetechniken ohne den dramatischen Schauspieler und forderte deshalb einen neuen Darsteller, der nicht durch das emotionale Schauspiel, sondern durch den montagegerechten Körpereinsatz wirken sollte. Der neue Filmdarsteller war nichts mehr außer „Rohmaterial für die spätere, durch die Montage geschaffene Komposition seiner Filmerscheinung" (Pudovkin 1961, 11). Im Filmbild wurde er den Gegenständen gleichgesetzt. Grigorij Kosinzev und Leonid Trauberg bildeten einen 'neuen Filmschauspieler' aus, und die Werkstatt Kuleschovs machte diesen zur perfekten Maschine für den Ausdruck der Emotionen durch die Bewegungen. Der Schauspieler wurde durch den Naturschik, durch den Filmtyp (bei Eisenstein und Dovzenko ein Laiendarsteller) ersetzt. Die Filmtypologie war keine spezielle Erfindung des Revolutionsfilms. Sie hatte ihren Vorgän-

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ger im Volkstheater der Jahrmarktschaubuden, in der comedia dell arte, im revolutionären Theater Meierholds, in Plakaten Majakovskijs und in den Gestalten der theatralisierten Feiertage der Revolution. Die russischen Montagefilme führten eine 'Enzyklopädie' der verallgemeinerten Menschentypen vom Arbeiter und Bauer bis zum Zarenbeamten und General auf, die in ihren sozialen Rollen weltweit identifizierbar waren (Kleiman 1994). 2.

M o n t a g e t h e o r i e n . F i l m als Text.

2.1. Die sowjetische Montagetheorie der zwanziger Jahre zerfallt in drei Schulen: Den kontinuierlichen Bilder- und Aktionsstrom von Kuleschov und Pudovkin, den Konflikt von zwei nebeneinanderstehenden Abschnitten bei Eisenstein und die Intervall-Montage von Dziga Vertov. Der Ausgangspunkt für alle war die Auffassung von Film als einer 'sprachlichen' Kunst, die die Rolle des Wortes nicht im 'Gesprochenen' ansiedelt, sondern auf eine andere Ebene transportiert, auf die der „inneren Rede des Zuschauers" (Eichenbaum) (Bulgakova 1993, 75). Während Kuleschov als erster die Montage als ein System ästhetischer Wirkung entdeckte, entwikkelte Pudovkin das Montageprinzip in der Filmdramaturgie und im filmischen Schauspiel. Vertov entwickelte die Montage der Chronik und des Dokumentarfilms weiter. Eisenstein deckte die dialektische Einheit der mannigfaltigen Montagearten auf. 2.2. Die sowjetische Filmtheorie untersuchte die Strukturierungsprinzipien des Filmmaterials, die sie als 'Grammatik' auffaßte, und die Prozesse der Bedeutungsbildung im Film. Den Film wurde allgemein als ein Text wahrgenommen, der mit einer Art Bildhieroglyphen geschrieben wird. Diese Auffassung leitete sich zum Teil von der Vorstellung vom Kinematographen als einem möglichen Träger einer universellen philosophischen Sprache ab, die in Rußland schon Mitte der zweiten Dekade sehr populär und 1916 im Buch von J. Linzbach, „Prinzipien der philosophischen Sprache", theoretisch ausgearbeitet wurde. Die Idee einer filmischen Weltsprache scheiterte jedoch daran, daß in der Bilderfolge die am wenigsten kompatiblen Spracheinheiten dargestellt wurden wie Wortspiele und Zitate, die das Textverständnis auch innerhalb einer Sprache erschwerten (Tsivian 1991, 327, Bulgakova 1993, 59).

1188

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

Zur Konstituierung der filmischen Sprache trugen vor allem die russische formale Schule der Literatur und ihre Adepten wie Jurij Tynjanov, Adrian Piotrovskij, Viktor Schklovskij u.a. bei (Beilenhoff 1974, 139ff.; Tsivian 1993, 42). Die sowjetische Filmpraxis der zwanziger Jahre und besonders die der Leningrader Filmfabrik, die mit der OPOJAZ (obscestvo po izuceniju poeticeskogo jazyka - Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache, die seit 1916 bis zum Ende der zwanziger Jahre bestand) eng zusammenarbeitete, war insofern im großen und ganzen von literarischen formalistischen Konzeptionen geprägt. Analog zur literarischen Sprache analysierten Formalisten die Filmstruktur als einen Denkprozess und als ein System der ästhetischen Kommunikation. Im Buch 'Poetik des Films' (1927) versuchten sie, die in der Literaturwissenschaft entwickelten theoretischen Konstrukte auf die Artikulierung des Films als einer sprachlichen Form und als Rede- und Ausdrucksystem anzuwenden. 2.3. „Nach der Montage läßt sich die Persönlichkeit eines Regisseurs beurteilen" (Pudovkin 1961, 108 f.). Und umgekehrt: Die Musikausbildung Vertovs wirkte sich ζ. B. auf den Rhythmus seiner Montage und im Versuch, den Ton durch Bild wiederzugeben, aus. Das Chemie- und Mathematikstudium Pudovkins beeinflußte seine mathematisch ausgeklügelte Montage. Eisensteins Architektur- und Ingenieurstudium spiegelte sich in der Konstruktivität seines Werks wider. Der Revolutionsfilm wird als Regisseurfilm (im Vergleich zu der in den dreißiger Jahren geförderten Kollektivarbeit) bezeichnet. Die Filme wurden jedoch, wie bei Kinoki in den festen Teams gemacht. Pudovkin arbeitete zusammen mit dem Drehbuchautor Nantan Sarchi (bis zu seinem Tod 1935), dem Kameramann Aleksandr Golovnja und Michail Doller, der die Filmtypen und Schauspieler ausfindig machte. Der Koregisseur Grigorij Aleksandrov und der Kameramann Eduard Tisse gehörten zu Eisensteins Gruppe.

3.

Dziga Vertov (Denis Arkadievic Kaufman, 2. 1. 1896 - 12.2.1954)

3.1. In den Filmen von Dziga Vertov und seiner Gruppe Kinoki (Cutterin Elisaveta Svilova, Kameramänner: Michail Kaufman, Ivan Kopalin) kommt die Verabsolutierung

der Fähigkeiten der Kamera, die dem menschlichen Auge weit überlegen ist, am deutlichsten zur Geltung. Darin wirkte sich die Maschinenfaszination der Moderne aus, die im technisch zurückgebliebenen Rußland die Formen einer Mystifizierung von Technik und ihrer Möglichkeiten annahm. Ihre Theorie der Revolutionierung des Films und der Veränderung der Welt nannten Kinoki 'Kinoglaz' [Filmauge]. In Übereinstimmung mit den von der Linken Front in Kunst (LEF) proklamierten Konzeptionen des operativen Schriftstellers, der Produktionskunst und der Faktographie sahen sie sich der Wahrheit der Fakten verpflichtet. In der Filmchronik und dem Dokumentarfilm lag für sie der Weg zur Revolutionierung des Filmmediums. Am konsequentesten von allen sowjetischen Filmemachern verfolgte Vertov die Idee der reinen Filmform, die von den Einflüssen des Theaters, der Literatur und der Malerei befreit werden sollte. Seine Theorie des 'überrumpelten Lebens' legte Vertov in seinen Manifesten ('Kinoki-Umsturz' von 1922 und anderen aus den Jahren von 1923—24) dar. Die vorausgesetzte getreue Abbildung der Realität spiegelte sich in Vertovs Methode wider: im Verzicht auf jegliche Drehbücher, Inszenierungen und Schauspieler, was in Vertovs Programmfilm 'Der Mann mit der Kamera' (1928) realisiert wurde. Doch die Praxis widersprach der Theorie. Vertovs Filme gelangten weniger zur Abbildung des 'nicht inszenierten', 'überrumpelten' Lebens — so wie es ist —, sondern zum Ausdruck seiner schöpferischen Persönlichkeit, zur Proklamation seiner sozialen und ästhetischen Ansichten. Die Montage des aufgenommenen Materials setzte seine ästhetische Organisation und somit seine Inszenierung voraus. Die Unantastbarkeit der Fakten wurde der ideologisch-ästhetischen Aufgabe geopfert. Chronik wurde zur poetischen Kinopublizistik. Vertov, der für den absoluten Film und die Reinheit der gattungsgerechten Methode plädierte und die Praxis der Spielfilmregisseure rigoros verneinte (Vertov 1967, 106), ging mit den Fakten genauso um, wie jene mit ihrem 'ausgedachten' Material. Das wurde zum Kern der Kontroverse zwischen Vertov und Eisenstein, in der sich die theoretischen Probleme der Entwicklung der Sowjetkunst allgemein widerspiegelten, und die in einer gegensätzlichen Kunstauffassung der beiden Regisseure zu suchen ist (Petric 1987, 48ff.; Lierman 1994, 26).

108. Der rassische Film. Lev Kuleschov, Vsevolod Pudovkin, Sergei Eisenstein

Der Widerspruch, der durch die falsche Definition ('Filmchronik' und 'Dokumentarfilm' statt heute gewöhnlicher 'Filmpublizistik' und des 'Autorenfilms') entstanden war, sorgte für eine theoretische Diskussion über den Spiel- und 'Nichtspielfilm', über die Unterschiede und die Grenzen der beiden Filmgenres. Diese Diskussion wurde durch Vertovs Filme 'Vorwärts, Sowjets!' und 'Der sechste Teil der Erde' (1926), sowie durch die ausschließlich aus den vorrevolutionären Wochenschauen und Chroniken montierten Filme von Esther Schub (16. 3. 1894-21. 9. 1959) 'Der Fall der Romanov-Dynastie' und 'Der große Weg' (1927) ausgelöst und 1927 in der Zeitschrift 'Neue LEF' ausgetragen. Es wurden Fragen nach der Sprachspezifik und den Methoden der beiden Filmgattungen, den Beziehungen zwischen der Montage und der Lebenswahrheit aufgeworfen. Gleichzeitig wurde nach den formal-ästhetischen Grenzen des Dokumentär- und des Spielfilms in der Auswahl des Materials und seiner Organisation und nach der Verwendung von Schauspielern und Drehbuch in Bezug auf die zeitgenössische Wirklichkeit gefragt. Im Laufe der Diskussion wurden die herkömmlichen Grenzen zwischen dem Spiel- und dem 'Nichtspielfilm' (Dokumentarfilm) aufgehoben. Das erweiterte das Spektrum des Filmmediums um neue Genres wie ζ. B. den Demonstrationfilm, die Filmpublizistik und den 'Außerspielfilm' ('Kinematograph der Begriffe') Eisensteins. Zum Stoff des Vertov-Eisenstein-Streits wurde auch Vertovs Montagetheorie der Intervalle. Die Intervalle bildeten für Vertov den Filmstoff. Er definierte sie als die „Elemente der Bewegung" und „keinesfalls die Bewegung selbst" (Vertov 1973, 9). Sie waren nicht die Bewegung im Bild, nicht die von Schnitt zu Schnitt und auch nicht die auf dem Filmstreifen, sondern die unsichtbare Bewegung zwischen den Schnitten, zwischen den Bildern, in Raum und Zeit, den „Ubergang von einer Bewegung zu der anderen" (ebd.). Zur Aufgabe der Montage wurde die rhythmische Organisation der sichtbaren und unsichtbaren Bewegungen aus ihren Elementen, den Intervallen. „Das Werk baut sich ebenso aus Sätzen wie der Satz aus Intervallen" und Filmbildern auf (ebd.). Die Auffassung des Films als ein Mechanismus für die Produktion eines idealen Rezipienten (neuen Menschen) und die Vorstellung vom Filmemacher als einem Kryptograph, der in den Bildern eine Aussage ver-

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steckt, die der Zuschauer entziffern sollte, führte jedoch dazu, daß Vertovs Filmtexte 'ungelesen' blieben oder falsch verstanden wurden. Das programmatische Film-Manifest 'Der Mann mit der Kamera' (1929) wurde zu einem so komplexen Text, daß seine intertextuellen Raffinessen nur noch auf dem Montagetisch wirklich 'lesbar' sind (Tsivian 1991, 357ff.)·

4.

Lev Yladimirovic Kuleschov (13.1.1899 -29.3.1970)

4.1. Von allen russischen Avantgarde-Filmemachern fing Lev Kuleschov als erster an, sich professionell mit dem Film zu beschäftigen. Er war 17 und studierte an der Moskauer Schule für Malerei, Architektur und Skulptur, als er 1916 für den Regisseur Evgenij Bauer in Chanzonkovs Filmstudio als Filmarchitekt angestellt wurde. Als erster versuchte Kuleschov, auf dem Weg des Experiments die Filmkunstspezifik zu erforschen. In der Zeit von 1916 bis 1919 führte er eine Reihe von Experimenten durch, um einerseits die Unbrauchbarkeit der theaterspezifischen Verbindung von Zeit, Raum und Schauspielern für das neue Medium Film zu beweisen. Sein weiteres Ziel war, den Film als eine Kunst zu begründen, die erst auf dem Schneidetisch anfängt und aus der Zusammensetzung der Bilder besteht, die nach bestimmten Gesetzen erfolgt. Seit 1917 gab er einige theoretische Schriften heraus, in denen er die Anfange seiner Montagetheorie darlegte. Kuleschov lehnte die Theaterästhetik (Stanislavskijs Konzept) und die Bedingtheit des theatralischen Stoffes, die die herkömmliche russische Filmpraxis charakterisierten, radikal ab. Er meinte, daß die Natur, die Wirklichkeit (und nicht deren Kopien, wie im Theater) der eigentliche Stoff der kinematographischen Kunst seien. Die Organisation dieses realen Stoffes durch die Montage sei der Kern der filmischen Ästhetik und die Methode der Filmkunst. Kuleschov erkannte jedoch, daß nicht nur die auf dem Zelluloid abgebildete Natur, sondern der Filmstreifen selbst das Material des Films ist. 4.2. Zu seinen klassischen Experimenten zählen die Erzeugung einer fiktiven Realität, die sog. 'schöpferische Geographie' und das Experiment mit dem Gesicht des bekannten Schauspielers Moszuchins, das als 'Kuleschoveffekt" bekannt wurde. Die 'schöpferische Geographie' entstand durch die Mon-

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tage von Bildern, die an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten aufgenommen worden waren, doch zusammengebracht eine logische Handlung zeigten, die an einem Ort stattgefunden zu haben schien. Dieses Experiment begründete die Unangemessenheit des im Theater üblichen kontinuierlichen RaumZeit-Kontinuums für den Film. Der andere Experiment bestand darin, daß ein Bild mit dem ausdruckslosen Gesicht des Schauspielers Moszuchin in Zusammenhang mit Bildern gebracht wurde, auf denen jeweils ein spielendes Kind, eine Frau im Sarg und ein leerer Suppenteller abgebildet waren. Dabei schien das Gesicht in jedem Fall eine andere Emotion auszudrücken. Aus diesem Experiment zog Kuleschov Schlüsse für sein nicht-theatralisches Schauspielkonzept und für den Primat der Montage von Bildern vor ihrem Inhalt, also für die rhythmische Montage nach Bewegungsrichtungen innerhalb des Bildes und der Sequenz. Daher rührt auch seine spätere Auffassung von Bildern als Zeichen, als 'Buchstaben', aus denen filmische 'Phrasen' entstehen (Kuleschov 1929, 44f.). Diese Auffassung des Filmbildes und der Einstellung wurde von Kuleschovs Schüler Pudovkin übernommen und von anderen - Eisenstein - in Frage gestellt. Letzterer hat erkannt, daß auch — und gerade — im Bildinhalt, den Kuleschov als formalen Montagestoff betrachtete, latent alle Bedeutungen enthalten sind, die nur im Kontext eines anderen Bildes zum Ausdruck kommen können. Er faßte folglich die Einstellung als ein „Wort" auf, weil sowohl das Wort, als auch die Einstellung die gleiche Eigenschaft besitzen, in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutungen zu offenbaren (Kleiman 1968, 103). In dieser Erkenntnis von Eisenstein liegt die eigentliche Bedeutung des „Kuleschoveffekts" für die Filmtheorie. 4.3. Kuleschov baute seine Montagetheorie darauf auf, daß die Zusammensetzung von Bildern beim Zuschauer bestimmte Reaktionen erzeugt. Wie später Pudovkin und Eisenstein machte er den Zuschauer und seine physischen und psychischen Reaktionen zum Ausgangspunkt seiner Arbeit (im Vergleich zu Vertov, der dem Zuschauer der Art seiner Wahrnehmung direkt 'vorschrieb'). Der Unterschied bestand darin, daß Eisenstein die Psyche des Zuschauers 'umzupflügen', seine Wahrnehmung zu 'desautomatisieren' versuchte, Kuleschov dagegen diesem helfen wollte, 'energiesparend' zu bestimmten Reak-

tionen zu gelangen. Bei einer 'teilnehmenden Beobachtung' in Moskauer Kinos stellte er fest, daß die Zuschauer am direktesten auf amerikanische action-Filme mit ihrem schnellen Schnitt und den vielen Nahaufnahmen reagierten. Den Erfolg der amerikanischen Filme erklärte sich Kuleschov durch die extrem ausgeprägte Bewegung, den heroischen Romantismus und durch ihre rein filmische Spezifik, die für ihn in der Abwesenheit von 'theatralem Psychologismus' bestand (Kuleschov 1987, 69). Darauf baute er sein kinematographisches System zur Erneuerung des Films auf, das er 'Amerikanismus' nannte. Die 'amerikanische Einstellung' lieferte ihm die notwendige Klarheit der Bewegungen und der Gegenstandsrepräsentation, die maximale Wirkung erzeugten. Der sogenannte 'amerikanische' Schnitt, der zehn Jahre später im Westen als 'russischer Schnitt' bekannt werden sollte (Tsivian 1993, 41), gab die Möglichkeit einer Dynamik, die in der herkömmlichen russischen Filmproduktion nicht vorhanden war. An die Montage seiner Filme stellte er die Forderung der Klarheit und Verständlichkeit. 4.4. Die im Moszuchin-Experiment beobachtete Bedingtheit der Ursache einer Emotion und ihres Ausdrucks lag Kuleschovs Schauspielerkonzept eines Naturschik zugrunde. Diese Konzeption wurde einerseits von Delsartes System der Körpersprache abgeleitet, die jedoch von deren Statik befreit war. Andererseits entwickelte sie die Biodynamik Meierholds mit ihrer Auffassung eines Schauspielerkörpers als 'Wortäquivalent' weiter. 1919 gründete Kuleschov eine Werkstatt, wo er seine Naturschiks ausbildete. In ihren öfters fast grotesken Erscheinungen (Aleksandra Chochlova, Vladimir Vogels, Boris Barnet) schienen diese nicht unbedingt mit der von Kuleschov propagierten Echtheit der abzufilmenden Natur übereinzustimmen. Ihre Natürlichkeit lag im Funktionalen ihres Erscheinungsbildes, der medien- bzw. montagegerechten Bewegung und bildete dadurch einen Gegenpol zur psychologischen Theaterdarstellung (Beilenhoff). Kuleschovs Schüler lernten, dynamisch aufgefaßte Emotionen durch „eine Summe der rhythmisch organisierten, maximal ausgeprägten Bewegungen bei einer minimalen Mimesis" (Kuleschov 1929, 116) klar auszudrücken. Die Mimik und Gestik des Schauspieler-Modells wurden bis ins kleinste Element der Bewegung zergliedert, nach dem

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jeweiligen Emotionsausdruck systematisiert und kodifiziert. Nach den Anweisungen des Regisseurs sollten die Natur schiks die nötigen Emotionsäquivalente durch exakte Bewegung zur Geltung bringen. In den Jahren zwischen 1919 und 1924, als das Filmmaterial knapp war, wurden diese Fähigkeiten in den sogenannten 'Filmen ohne Film' trainiert. Dafür wurde der Raum zwischen der statischen Kamera und der imaginären Leinwand abgegrenzt und mit einem Linienraster versehen, das senkrecht und waagerecht zur 'Leinwand' verlief. Die Schüler sollten das Gefühl für den filmischen Bildraum und die Exaktheit der Bewegungen in ihm entwickeln. Sie sollten lernen, sich vor der Kamera mediengerecht, also in Hinblick auf spätere Montage zu bewegen. Durch diese Übungen entwickelten die Schauspieler die Denkweise des Regisseurs. Deswegen war die spätere Regietätigkeit vieler seiner Schüler wie Chochlova, Obolenskij, Barnet und Pudovkin eine logische Konsequenz ihrer Ausbildung bei Kuleschov (Levako 1974, 10). Die Resultate der Werkstattarbeit wurden 1924 in der Filmkomödie 'Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki' präsentiert. Mit diesem Film parodierte Kuleschov sowohl übertriebene Vorstellungen über sowjetisches Leben als auch die amerikanischen Krimis und Thriller. Somit reflektierte er die Inhaltskomponente seines eigenen Amerikanismus. Das aketisch-mechanische, psychologismusfreie Filmkonzept erlaubte Kuleschov trotzdem einen neuen psychologischen Film zu entwickeln. Ein Beispiel dafür setzte er mit seinem Film 'Nach dem Gesetz/Dura Lex' (1926, das Drehbuch wurde nach Jack Londons 'The Unexpected' in Zusammenarbeit mit Viktor Schklovskij geschrieben). Der Stummfilm spielt in einem für das psychologische Drama prädestinierten geschlossenen Raum ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt und ist nicht „von der Emotion zur Form", sondern „von der Bewegung zur Emotion und nur dann zur Gestalt" konzipiert (Kuleschov 1935, 102). Das Filmdrama „entstand in der Bewegung und löste sich in ihr" (zit. nach Selesnjova 1972, 76). Die mechanistische Bewegungsauffassung war kein Hindernis zur Erzeugung eines inner-soul Dramas im Sinne des Panpsychologismus eines Leonid Andreev (Lavako 1974, 6). Das NaturschikKonzept wurde im Rahmen der Stummfilmästhetik entwickelt und war nur dort anwendbar, was Kuleschovs erster Tonfilm 'Horizont' (1932) bezeugen sollte. Die für die

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'Körperdeklamation' ausgebildeten Notarseli iks schienen, zur normalen Sprache gezwungen, vor der Kamera wie eingefroren zu sein (Levako 1974, 17). 4.5. Kuleschovs Filme waren unpolitisch und agitationsfrei in dem Sinne, wie es die Filme von Vertov, Pudovkin und Eisenstein waren. 'Die unglaublichen Abenteuer von Mr. West' und 'Der Todesstrahl' (1925) definierte er als „Abenteuerfilme, die im Sowjetrußland spielen, in denen starke Menschen alle Hindernisse und Feinde überwinden" (zit. nach Selesnjova 1972, 69). Am Anfang der dreißiger Jahre, als die offizielle „schöpferische Methode der sowjetischen Kunst", der Sozialistische Realismus, verkündet wurde, der die Kunst in den Dienst der herrschenden Ideologie stellte, warnte Kuleschov mit seinem zweiten Tonfilm 'Der große Trostbringer/ Rosa Tinte' (nach O'Henry, Drehbuch: Viktor Schklovskij, 1933) subversiv vor den ethischen Folgen politisch-kultureller Veränderungen. Er warf die ethische Frage nach der Verantwortung des Künstlers für die Auswirkungen seines Werkes auf Leser und Gesellschaft auf (Levako 1974, 18f.). Ab 1935 des Formalismus beschuldigt, konnte er nur noch einige Kinderfilme drehen und lehrte seit 1944 an der von ihm geleiteten ersten staatlichen Filmhochschule (VGIK), die aus seiner Werkstatt hervorgegangen war.

5.

Vsevolod Illarionovic Pudovkin (28.2.1893 - 30.6.1953)

5.1. Vsevolod Pudovkin war 27 Jahre alt, als er 1920 in Vladimir Gardins Filmschule und 1922 in Kuleschovs Werkstatt kam. Er war älter als sein Lehrer und sämtliche Mitschüler und hatte ein Studium an der PhysikalischMathematischen Fakultät der Moskauer Universität, Arbeit als Chemieingenieur und drei Jahre deutsche Gefangenschaft hinter sich. Als Schauspieler nahm er an solchen Filmen wie 'Mr. West im Lande der Bolschewiki', 'Die Mutter' (1929), 'Lebendige Leiche' (Fedor Ozep, 1929) und 'Ivan der Schreckliche' (Sergei Eisenstein, 1945) teil. Seit 1925 war er als Regisseur am Filmstudio 'Meschrabpom-Rus' tätig und dreht die Komödie 'Schachfieber' über das internationale Schachturnier in Moskau (zusammen mit Nikolaj Schpikovskij, 1925) und den Dokumentarfilm 'Mechanik des Gehirns' (1926). Den Ruhm eines Regisseurs, der die Montagekunst zu einer vollkommenen visuellen Sprache entwickelte, die sich

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

durch die ökonomische narrative Funktionalität und den Montagerhythmus auszeichnet, erlangte er durch seine Revolutionstrilogie: 'Die Mutter' (1926), 'Ende von Sankt Petersburg' (1927) und 'Der Sturm über Asien' (1928). Besondere Affinität dieser Montagefilme ermöglichte eine Synthese der ästhetischen Systeme von Literatur, Theater und Film. 5.2. Sein Montagekonzept nannte Pudovkin die 'aufbauende Montage'. Es war auf ähnlichen Prinzipien begründet wie die seines Lehrer Kuleschov. Wie dieser faßte Pudovkin eine Einstellung als das einfachste Element des Films auf. Doch war eine Einstellung für ihn nicht nur mit einem Buchstaben vergleichbar: „Was in der Sprache ein Wort ist, das ist in der Montage ein Stück aufgenommenen Films, eine Einstellung. Ein Satz entspricht der Vereinigung dieser Einstellungen" (Pudovkin 1961, 108). Die filmischen Sätze und aus diesen gebildete Phrasen und folglich der gesamte filmische Text sollten nach der klaren Logik der Handlung 'Ziegelstein für Ziegelstein' (Eisenstein) aufgebaut werden, so daß der Zuschauer das Ganze gut nachvollziehen und wahrnehmen konnte. Diese Auffassung focht Eisenstein an, indem er Pudovkins erzählenden Montage als 'Kopplung von Abschnitten' seine Idee des 'Zusammenpralls der Einstellungen' (Eisenstein 1988, 81) entgegenstellte, die Pudovkin Ende der zwanziger Jahre rezipierte, ohne sie wie Eisenstein zu verabsolutieren. Die Sprache von Pudovkins aufbauender Montage ist als ein kinematographisches Äquivalent zur epischen Erzählweise in der Literatur zu verstehen, ganz im Gegensatz zu Eisensteins intellektueller Montage, die mit einer poetischen (assoziativen) Sprache zu vergleichen wäre. Die Montage war für Pudovkin ein Mechanismus für die „zielbewußte, zwangsläufige Führung der Gedanken und Assoziationen des Zuschauers", die emotional „eine Handlung oder Gedankenfolge [auf der Basis einer planmäßigen Konzeption] veranschaulicht" (Pudovkin 1961, 74). Der Regisseur hat die Aufgabe, die vor der Kamera existierende Wirklichkeit in eine neue Realität umzuwandeln, die vom Zuschauer erfaßt werden muß (Pudovkin 1961, 88). Die Filmkamera wird mit dem idealen aufmerksamen Beobachter gleichgesetzt, der im Endeffekt mit dem von der Filmhandlung und von der Kamera 'abgeführten' Zuschauer korrelierte (ebd., 98f.).

Der ideale Beobachter sollte nach Pudovkin eines Blicks fähig sein, der die charakteristischsten, plastischsten Eigenschaften der Objekte erschließen konnte. „In dieser Fähigkeit einer klaren, überaus deutlichen Darstellung des Details liegt das Charakteristische und Besondere des Films" (ebd., 98). Praktisch war das in den präzise ausgewählten Nahaufnahmen umgesetzt, die nur das „dramatisch Wesentliche und die Höhepunkte" der Handlung beinhalteten (ebd., 101). Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wurde somit auf das Wesentlichste gelenkt, wodurch die Rezeption dessen, was der Regisseur vermitteln wollte, erleichtert wurde. Aus diesem Grund stellte Pudovkin an die Einstellungen die Forderung nicht nur der kompositioneilen, sondern auch der funktionellen Klarheit. Die gute 'Lesbarkeit' der aneinandergekoppelten Bilder, Einstellungen und Szenen sah er als Mittel zur Artikulation der Sprachfähigkeit des Zuschauers, der die Inhalte der Filmbilder als eine in ihnen materialisierte 'Sprache' der Kommunikation mit dem Regisseur wahrnehmen sollte. Die Eigenschaft des artikulierten BildWortes, die Kontinuität des Erzählens zu gewährleisten, stand für Pudovkin über der Kontinuität des durch die Montage konstruierten filmischen Raumes (Burch 1979, 77ff.; Kepley 1995, 88ff.). Dieser war nach dem allgemeinen Prinzip der aufbauenden Montage nur aus den Abschnitten zusammengesetzt, die für die dramatische Handlung funktional unentbehrlich waren. Die nicht 'spielenden' Zwischenräume wurden ausgelassen (Kepley 1995, 89ff.). Die Klarheit der Bilder und die der mathamatisch berechneten Montage verkörperte für Pudovkin jene filmische Ausdruckskraft, jene Photogenie, die er im Vergleich zu Luis Delluc nicht in den Qualitäten des 'Rohmaterials' der Wirklichkeit, sondern in der durch die Montage erzeugten Dynamik sah. Aus diesem Grund schenkte er große Aufmerksamkeit dem Rhythmus der Montage, den er als eines der wichtigsten Mittel für die Beeinflussung des Zuschauers und der Erzeugung der filmischen Zeit ansah. In den dreißiger Jahren entdeckte er für sich die rhythmische und narrative Ausdruckskraft der Zeitlupe, die er als Konzeption der 'Zeit in Großaufnahme' bezeichnet hat. 5.3. Im Gegensatz zum (nach seiner eigenen Definition) 'menschenfeindlichsten' Regisseur Eisenstein galt die Leidenschaft Pudov-

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kins dem realen Menschen, den er genauso filmen, in den er genauso 'eindringen' wollte wie Eisenstein in den Panzerkreuzer 'eingedrungen' ist (Pudovkin 1975, Bd. 2, 170). Deswegen wurde der Werdegang der menschlichen Seele, die aus der profanen Welt der Dinge zu der ideellen Welt der revolutionären Ideen emporsteigt, zum Leitmotiv seiner Filme. Es waren jedoch nicht Menschen, sondern wie bereits in Eisensteins 'Panzerkreuzer 'Potemkin' der geschichtliche Prozeß, die sozialen Ideen, die in Pudovkins Filmen 'spielten'. Menschliche Schicksale wurden zum Mittel von deren Visualisierung. Die Funktion des Schauspielers als eines 'Emotionsgenerators' wurde auch bei Pudovkin folgerichtig durch die Montage ersetzt. Dabei benutzte er zwei Möglichkeiten der Emotionsübertragung. Erstens die 'Färbung' der emotional neutralen Aufnahmen durch die emotional ausdrucksvollen im Kontext einer Montagephrase und zweitens den Montagerhythmus selbst (Sokolov 1993, 106ff.). In Pudovkins Filmen werden Menschen samt Gegenständen und Naturereignissen (ein Glas, eine Uhr, ein Sturm oder ein Eisgang) zu gleichberechtigten Bedeutungsträgern. 'Die ungleichmütige Natur' (Eisenstein), die in Griffiths Filmen zur melodramatischen Steigerung der Spannung beitrug, machte Pudovkin zur poetischen Metapher der Revolution und der idealen Zukunftswelt. So sind der mächtige Eisgang im Film 'Die Mutter' zu verstehen, der mit den Bildern einer Demonstration zusammengeschnitten ist, und der epische Sturm im 'Sturm über Asien', der alle Feinde der Revolution vom Antlitz der Erde zu fegen scheint. Die Erfindung des Tons stellte Pudovkin vor ein ästhetisches Problem: wie sollte man die übergangslose, abrupte Juxtaposition von Bildern in den Ton als zeitlich sich entwikkelndes Phänomen einbauen? In dem 1928 zusammen mit Sergei Eisenstein und Grigorij Aleksandrov veröffentlichten Manifest 'Die Perspektiven des Tonfilms' begrüßte er zwar die Neuheit, äußerte sich jedoch gegen einen synchronen und für einen kontrapunktischen, somit montageartigen Einsatz des Tons im Film.

6.

Sergei Michailovic Eisenstein ( 2 2 . 1 . 1 9 8 9 - 11.2.1948)

6.1. Das weit über die Grenzen des Filmmediums hinausgreifende Werk Sergei Eisensteins hat eine besondere Stellung in der Ge-

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schichte der Filmkunst. Dazu trugen sein enzyklopädisches Wissen in vielen Bereichen der Wissenschaft und Kunst von der Reflexforschung, Psychoanalyse, Mathematik und Logik bis zur Schauspielkunst, Literatur, Musik und Rhetorik und sein analytisches Vermögen bei. Seinen Weg zum Film bahnte sich der Sohn eines vermögenden Rigaer Architekten und der studierte Zivilingenieur durch das revolutionäre Fronttheater des Bürgerkrieges, das Theater des Proletkults und die Studios von Meierhold und Kuleschov. Er war als Schauspieler, Bühnenbildner und Theaterregisseur tätig. Sein Wechsel zum Film war eine logische Folge der ihm offenbar gewordenen Unfähigkeit des Theatermediums in der „Überwindung des Illusorischen in einer allgemeiner Zielsetzung und Hinwendung zum Materiellen" (Schriften 1, 225; Bulgakova 1988). In den zwanziger Jahren entwickelte er folgende Varianten der Filmmontage, die zu Bestandteilen der klassischen Montagetheorie geworden sind: Die (Film-)Attraktionen ('Streik', 1924), die Kollisionsmontage, bzw. die Montage der Gegensätze ('Panzerkreuzer Potemkin', 1925), die Intellektuelle Montage ('Oktober', 1927) und die Oberton-Montage ('Das Alte und das Neue/Die Generallinie', 1929). Von den anderen praktisch-theoretischen Ansätzen der Filmgeschichte unterschied sie die radikale Ablehnung der erzählenden Funktion der Montage zugunsten der blitzhaften Gedankenproduktion. 6.2. Der Auftakt zur facettenreichen Filmtheorie Eisensteins war die 'Montage der Attraktionen', die er 1923 in der Komödie von Aleksandr Ostrovskij 'Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste' (in Zusammenarbeit mit Sergei Tretjakov) verwendete. Das klassische Theaterstück wurde erbarmungslos in ein sprühendes Gemisch aus Elementen von Zirkus, Kabarett, Varieté, Guignol-Theater und Film umgewandelt. Dabei fahndete Eisenstein nach einem Mechanismus der Agitationswirkung des Theaters, nach dem kleinsten Element der Theaterkonstruktion. Diese „molekulare (d. h. konstruktive) Einheit der Wirksamkeit [...] des Theaters überhaupt" (Schriften 1, 218) nannte er Attraktion. Er definierte sie als jedes „Element [des Theaters], das den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die experimentell überprüft und mathematisch berechnet ist auf bestimmte emotionelle Erschütterungen des Aufnehmenden" (ebd.,

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217). Das eigentliche Ziel und Sinn der Montage der Attraktionen war die „Bearbeitung des Zuschauers in einer gewünschten Richtung" (Eisenstein 1988, 17). Bezüglich der 'Zuschauerbearbeitung' bestand Eisensteins Novum darin, daß er die Psychophysiologie der menschlichen Wahrnehmung [die von Pavlov und Bechterev beschriebenen unbedingten Reflexe], seinem künstlerischen System bewußt zu Grunde legte. Seinen ersten abendfüllenden Film 'Streik' baute Eisenstein auf der Montage der Filmattraktionen auf. Der bewußte Verzicht auf Intrigen-Fabel und „den von der Masse losgelösten Helden" (Schriften 2, 138), der alle Eisenstein-Filme der zwanziger Jahre ausgezeichnet hatte, brachte eine neue Filmqualität an den Tag: Die „geschlossene Handlung wurde von der Bedingtheit durch Zeit und Raum" befreit (Schriften 3, 220). Die freie, nicht sujetbezogene Parallelmontage, wie sie in der Schlußszene des Films angewendet wurde (die Gegenüberstellung von Bildern vom Schlachthof und der Niedermetzelung der Arbeiter durch die Polizei) erlaubte eine Art der Mataphererzeugung, die durch die unbewußten physiologischen Reaktionen auf das Bewußtsein des Zuschauers zielte. „Die Differenziertheit in Montage-Stücke ist dadurch bedingt, daß jedes einzelne Stück keineswegs Realität ist. Jedes Stück an sich und für sich ist aber imstande, eine gewisse Assoziation hervorzurufen. Die Anhäufung von Assoziationen erzielt dann denselben Effekt, den das real verlaufende Theater-Geschehen rein physiologisch im Zuschauer hervorruft" (Schriften 3, 222). Die „Idee, den Eindruck von Mord" wurde in diesem Fall „in freiem Anhäufen von Assoziationsstoff materialisiert" (ebd.). 6.3. Die umfassende Auffassung der Montage als einer universalen dialektischen Eigenschaft der menschlichen und außermenschlichen Natur führte Eisenstein zur Idee der Kollision als dem Grundprinzip der Montage schlechthin. „Meiner Ansicht nach ist [...] die Montage nicht ein aus aufeinanderfolgenden Stücken zusammengesetzter Gedanke, sondern ein Gedanke, der im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Stücke entsteht [...]" (Schriften 3, 205). Alle Filmebenen wurden dem Kollisionsprinzip unterworfen. Das spiegelte sich sowohl in der Auswahl der Themen wider — eine kleine Episode stand für globale geschichtliche, sozialpolitische und philosophische Zusammen-

hänge wie in den Filmen 'Streik' und 'Panzerkreuzer Potemkin' —, als auch im Aufbau auf dem Prinzip des abrupten 'Ubergangs ins scharf Entgegengesetzte' (Schriften 2, 167, 178ff.). Uber die Struktur des Films und die Montage der Einstellungen ging das Kollisionsprinzip bis in die Einstellung hinein. Die Einstellung und die Montage erwiesen sich somit als von gleicher Natur und waren gleichen Gesetzen unterworfen. Mit diesen Uberlegungen ging Eisenstein der modernen semiotischen Auffassung des Kulturaufbaus voran, die das kleinste Element eines Systems als Spiegelbild des Großen versteht. In der Kollisionsmontage wurde eine Einstellung zur 'Zelle der Montage' (Schriften 3, 233) im Vergleich zu den 'Bausteinen' ('Buchstaben' und 'Worten') Kuleschovs und Pudovkins. Der formale und der ideelle Inhalt einer Einstellung beherbergte für Eisenstein einen Konflikt, der im Kontext anderer Bilder einen Montagekonflikt, eine Kollision ergibt (Kleiman 1968, 103). Innerhalb der Einstellung unterschied er den „Konflikt graphischer Richtungen (der Linien), Konflikt der Aufnahme-Ebenen (untereinander), Konflikt der Volumen, Konflikt der Massen (der mit verschiedenen Lichtintensität gefüllen Volumen), Konflikt der Raumtiefen u. s. w. Konflikte, die nur auf einen intensivierenden Stoß warten, um auseinanderzufliegen als Paare von antagonistischen Abschnitten" (Schriften 3, 235). Eisenstein verglich „die Phalanx der Montage-Abschnitte - der „Einstellungen" — [mit] einer Serie von Explosionen im Verbrennungsmotor [...], die sich in der Dynamik der Montage steigern [...]" (ebd., 235). Die Absage an das Handlungskino erlaubte es, mittels des sichtbaren Schnitts auch eigene filmische Zeit und Raum zu erzeugen. Das Zeit- und Raumkontinuum wird bei Eisenstein „fragmentiert, um [sich] im Off zu eigenen Welten [...] zu fügen, zu emotionalen, gedanklichen 'Ausdehnungen'. [...] Anstatt Ausfluß eines unabhängigen, neutralen Realismus zu sein, wird der Bildraum zu einem montierten Feld sichtbarer 'Konflikte', aus denen Gedanken 'explodieren' [...]" (Kersting 1989, 385). Die Fähigkeit der Film-Bilder wie auch der Wörter einer menschlichen Sprache, kontextabhängig zu sein, war für Eisenstein der Ausgangspunkt für den 'intellektuellen Film'. Dieser ist weitgefaßt als eine Filmrichtung zu verstehen, innerhalb derer die „rezeptive Einstellung des Textes dem piktographischen System nachempfunden ist und in einer breiten

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futuristischen Perspektive der Verwirklichung der Idee von künstlicher internationaler Sprache gedacht wird" (Tsivian 1991, 326). Zu dieser Filmrichtung zählen ζ. B. Filme wie 'Der Mann mit der Kamera' von Dziga Vertov und 'Trümmer eines Imperiums' von Friedrich Ermler (beide 1929). Der intellektuelle Film Eisensteins basierte auf der Vorstellung von einer Film-Sprache, die „ihrer Form nach einem logischen Deduktions-Prozeß identisch ist" (Herausforderung 1989, 37). Wie japanische Hieroglyphen in Zusammenhang von zwei 'Darstellbaren' einen graphisch undarstellbaren Begriff erzeugen, faßte er die Einstellungen als 'möglichst neutrale' Zeichen auf, die zu 'bedeutungsgeladenen Kontexten und Reihen' zusammengefügt werden (Schriften 3, 227): „Ein unumgängliches Mittel bei jeder beliebigen filmischen Darstellung. Und in verdichteter und gereinigter Form — der Ausgangspunkt für den 'intellektuellen Film', für den Film, der nach größtmöglicher Lakonik in der optischen Darstellung abstrakter Begriffe sucht" (ebd.). Als Beispiele der 'intellektuellen Montage' sind folgende zu nennen: Die 'erwachenden' steinernen Löwen im 'Potemkin', die zur Metapher für 'brüllende Steine' werden, und die klassischen Beispiele aus 'Oktober', wie ζ. B. der endlose Treppenaufstieg Kerenskijs, der seine politische Impotenz entblößt, oder die Szene, die die politische Taktik der menschewistischen Fraktion durch die Montage entlarvt, wobei die Bilder eines Redners und eines Engels in ähnlicher Pose, die von Harfe und Balalaika und die eines von deren 'süßen Klängen' eingeschläferten revolutionären Soldaten zusammengeschnitten sind. Ein weiteres Beispiel ist die religionskritische Montagesequenz, die die Kornilovsche Parole „Im Namen Gottes und des Vaterlandes" vom bolschewistischen Standpunkt deskreditiert: Die Götterbilder 'degradieren' vom barocken Christus zum heidnischen Götzen. Diese Sequenz war eine primäre Umsetzung einer intellektuellen These, die Eisenstein als 'intellektuelle Attraktion' bezeichnete (ebd., 178). Die Möglichkeit, durch die Organisation des filmischen Materials eine 'Idee im Werden' darzulegen, „den ganzen Denkprozeß zu fördern und zu leiten" (Schriften 3, 224) eröffnete für Eisenstein die Perspektive auf 'den intellektuellen Kinematographen der Begriffe', der in der 'Verfilmung' des Marxschen 'Kapital' münden sollte. Der intellektuelle Film sollte eine Synthese aus emotiona-

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lem, dokumentarischem und absolutem Film werden (Schriften 3, 182ff.). „Dem Dualismus der Sphären 'Gefühl' und 'Vernunft' muß die neue Kunst Einheit gebieten. Der Wissenschaft muß ihre Sinnlichkeit zurückgegeben werden, dem intellektuellen Prozeß seine Entflammtheit und Leidenschaftlichkeit. Der abstrakte Denkprozeß ist in die Lebendigkeit praktischen Wirkens zu tauchen. Der Kastriertheit der spekulativen Formel ist die ganze Üppigkeit und der Reichtum einer lebendig wahrnehmbaren Form zurückzugeben. Formaler Eigenwilligkeit ist die Exaktheit der ideologischen Formulierung an die Seite zu stellen" (Schriften 3, 197). 6.4. Im Film 'Das Alte und das Neue' führt Eisenstein die Oberton-Montage ein. Die Idee dazu wurde durch die Aufführungen des in Moskau gastierenden Kabuki-Theaters angeregt. Alle Elemente dieses Theaters werden gleichberechtigt behandelt. Im Vergleich zur metrischen, rhythmischen und tonalen Montage, die nach den vom Zuschauer bewußt wahrgenommenen 'Dominanten' einer Einstellung (wie Bewegung, Rhythmus, Lichtverhältnisse, logischer Inhalt u. s. w.) erfolgten, wird in der Oberton-Montage eine „summarische Zusammenfassung aller Reizerreger des entsprechenden Montagestücks" angestrebt (Schriften 4, 428). Wenn der Grundton — analog zur Musik — sein „Thema führt", führen die sekundären Obertöne, durch die Montage in rhythmische Bewegung gesetzt, ihre kompositorischen Linien und tragen somit zur Gesamtkomposition der Sequenz bei. Die Rezeption wurde „aus einer melodisch emotionalen Ausschmückung in eine unmittelbar psychologische Wahrnehm barkeit" geleitet (ebd.). Die Oberton-Montage erlaubte, das Unbewußte, das Unsichtbare zu 'schneiden'. Somit wurde der Film zu einem synthetischen Aktivator menschlichen Bewußten und Unbewußten, in dem er alle visuellen, auditiven und biomotorischen Erreger der Zuschauerwahrnehmung aktivierte. 6.5. Die Einführung des Tons und der Farbe bereicherten Eisensteins Gesamtkunstwerk Film um die 'Vertikalmontage' (Bild-TonKontrapunkt, 'Alexander Newskij', 1938) und die 'chronophone Montage' (Bild-TonFarb-Kontrapunkt, 'Iwan der Schreckliche', 2. Folge, 1945). Eisensteins Auffassung des Films als eines komplexen Gebildes, die ständige Reflexion der menschlichen Wahrnehmung und seine Flexibilität in Hinsicht auf

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die eigene Theorie machten sein synthetisches Werk zum Abbild des enzyklopädischen geistigen Universums des Künstlers, so wie er die dialektische Weltordnung in jeder Einstellung seiner Filme widergespiegelt sah.

7.

Der Montagefilm an der Schwelle der dreißiger Jahre

Der sowjetische Montagefilm war ein Stummfilm. Erst das Fehlen der 'gesprochenen' Sprache ermöglichte den Gedanken, die Filmbilder dem Wort gleichzusetzen. Die Einführung des Tons schränkte die Flexibilität des Bildes ein und verhinderte das „freie raum-zeitliche, ideelle und/oder affektive Springen" auf das sich die Montage der russischen Stummfilme spezialisierte (Kersting 1989, 273). Auch der allgemeine Wahrnehmungswandel zum Kontemplativen stellte die schnelle Montage unter scharfe Kritik innerhalb der Künstlerzunft schon seit dem Höhepunkt der neuen Tendenzen in der Sowjetkunst im Jahre 1927. Die Montage als Instrument der Sinnerzeugung wurde in den Hintergrund gestellt. Die Ausrichtung der Kultur der dreißiger Jahre auf die literarische Vorlage ließ das Drehbuch zum wichtigen Bestandteil der Filmproduktion avancieren. Die Literaturverfilm ungen und historische Filme ersetzten folglich die 'Lebenswahrheit' der linken Avantgarde. Als am Anfang der dreißiger Jahre der 'lebendige Mensch' (Eisenstein), das den Sozialismus erbauende Individuum, ein Leitmotiv für die Propaganda geworden war, wurde die 'maschinelle' Auffassung des Menschen verpönt. Die Filmschauspieler eroberten sich ihren von Naturschiks und Filmtypen annektierten Platz vor der Kamera zurück. Die Entwicklung des Mediums korrellierte mit der Veränderung der an die Künste gestellten politisch-ideologischen Aufgaben. Sie wurden aufgefordert, einen ideologischen Text nach vorgeschriebenen Regeln zu transportieren. Die Epoche des sowjetischen Revolutionsfilms war somit abgeschlossen.

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

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Janina Urussowa, Tübingen

(Deutschland)

109. Warner, Fox, Tobis-Klangfilm und die Anfange des Tonfilms (zwanziger Jahre) 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Tonbilder Technische Voraussetzungen Filmindustrie Durchsetzung/Syndikatisierung Ästhetische Aspekte Literatur

1.

Tonbilder

Die Idee, im Film die Natur nicht nur visuell, sondern audiovisuell nachzuahmen, ist so alt wie die Kinematographie selbst. Von Anbeginn an gab es Bestrebungen, aufnähme- und wiedergabetechnisch eine Einheit von Bild und Ton herzustellen (vgl. Fielding 1980, 5f.). Während die Praxis der musikalischen Untermalung, der Einbeziehung von Geräuschen und Sprache durch Orchester und Erzähler von Kino zu Kino und von Vorstellung zu Vorstellung individuell verschieden war, hatte es um die Jahrhundertwende auch Versuche gegeben, Systeme zu lancieren, die aus einer „Kombination des photographischen mit dem phonographischen Apparat" bestanden (Bächlin 1945, 54). Die „primitive Vorwegnahme des im 'Nadeltonfilm' verwirklichten Verfahrens" (Mühl-Benninghaus 1995, 344) durch Thomas Alva Edison in den USA, Léon Gaumont in Frankreich und Oskar Messter in Deutschland, die sogenannte Bildtonfilme oder Tonbilder herstellten und vorführten, scheiterte jedoch primär an der technischen Unzulänglichkeit der Apparate. Das Messtersche Biophon, das 1903 im Rahmen eines Varieté-Programms vorgeführt wurde, spielte auf die Handlung abgestimmte Schallplatten. Vor allem Opern- und Operettenaufnahmen wurden eigens im Biophon-Verfahren hergestellt. Die zunehmende Spieldauer der Filme, unzufriedenstellende mechanische

Synchronvorrichtungen, die Beschallung der immer größer werdenden Kinos durch Trichtergrammophone sowie der Ausbruch des 1. Weltkrieges trugen dazu bei, daß sich das Interesse am Bildtonfilm erschöpfte (vgl. Gomery 1985, 6f., Jossé 1984, 102ff., Bächlin 1945, 54). 2.

Technische V o r a u s s e t z u n g e n

Erst nach dem 1. Weltkrieg wurde das Projekt Tonfilm wieder ernsthaft aufgegriffen. Verschiedene Erfinder und Erfindergruppen in Deutschland und den USA wandten ihre gesamte kreative und finanzielle Energie zu einem Zeitpunkt auf, als „grundsätzlich der Anlaß" fehlte, „ein neues Medium einzuführen. Sowohl in Deutschland als auch in den USA hatte man mit dem Stummfilm gute Geschäfte gemacht. Die Qualität der Darstellung hatte eine Stufe erreicht, die das Publikum zufriedenstellte" (Jossé 1984, 191). Doch in der Zwischenzeit hatte man durch bahnbrechende Erfindungen die meisten technischen Probleme der Vorkriegsversuche bewältigen können. 2.1. Verstärkertechnik (Deutschland) Insbesondere in der Verstärkertechnik hatte man große Fortschritte erzielt. In Deutschland war von Robert von Lieben bereits im Jahre 1906 eine Verstärkerröhre vorgelegt worden. Doch erst nachdem die Rechte an Liebens Patent 1912 von einem Konsortium erworben wurden, dem Siemens & Halske, AEG, Telefunken sowie Feiten & Guillaume angehörten, gelang es, „die Lieben-Röhre zu einem brauchbaren Verstärker-Instrument zu entwickeln" (Siemens 1949, 254). Siemens &

109. Warner, Fox, Tobis-Klangfilm und die Anfänge des Tonfilms (zwanziger Jahre) Halske stellte bereits vor dem 1. Weltkrieg Verstärkerröhren her, bis schließlich 1914 kurz vor Kiregsausbruch der erste leistungsfähige Tonfrequenzverstärker präsentiert werden konnte (vgl. Bratke 1937, 3). Schließlich entwickelte in den Jahren 1915/16 Walter Schottky bei Siemens & Halske die sogenannte Schutznetzröhre, die „zur Grundlage der vielseitig brauchbaren Schiimgitterröhre sowohl für den Fernsprechweitverkehr als auch für drahtlose Telefonie und damit für den künftigen R u n d f u n k " wurde (Weiher/Goetzeler 1981,69). 2.2. Elektroakustik Daneben trat die rüstungsbedingte Entwicklung von Mikrophonen und Lautsprechern für die Übertragung von Schallwellen in der Funktechnik, die d a n n Anfang der zwanziger Jahre zunächst für das entstehende Medium R u n d f u n k gefertigt und in den darauffolgenden Jahren immer weiter verbessert wurden. 2.3. Lichttonverfahren Im Oktober 1918 begann die Triergon-Erfindergruppe u m Hans Vogt, Jo Engl und Joseph Massolle mit der Arbeit, ein Tonfilmverfahren zu entwickeln. Sie stützten sich dabei nicht, wie m a n hätte erwarten können, auf die Erfahrungen, die man bereits mit den Tonbildern gemacht hatte, sondern auf eine Erfindung des deutschen Physikers Ernst Ruhmer aus dem Jahre 1901. Er hatte entdeckt, daß es möglich war, Schallwellen photographisch auf Film aufzuzeichnen. Ruhmer arbeitete mit der von Hermann Theodor Simon 1897 konstruierten „sprechenden Bogenlampe" als Lichtsteuergerät. Die dabei entstehende Sprossenschrift zeichnete sich dadurch aus, daß die Schwärzungsdichte in Abhängigkeit von der Schallamplitude verändert wurde (vgl. Jossé 1984, 137). Unabhängig von Ruhmer hatte Arthur Korn im Jahre 1903 eine Methode gefunden, Schallwellen kraft eines Oszillographen photographisch auf Film aufzuzeichnen. Ergebnis war eine Zackenschrift, bei der die Schwärzungsdichte konstant blieb, aber entsprechend der Schallamplitude in der Breite wechselte (vgl. Jossé 1984, 137). Ein erstes 'Sprechfilmverfahren' entwikkelte der Franzose Eugène Augustin Lauste, auf das ihm 1907 in England ein Patent erteilt wurde (vgl. Jossé 1984, 110—118; Beijerinck 1933, 55 f.). Doch wie bei den (Nadel-)Tonbildern war auch hier die Schwierigkeit der Verstärkung gegeben, „so dass von einer Ausbeutung auf wirtschaftlicher Basis keine Rede

1199

sein konnte" (Beijerinck 1933, 56). Die einzigen ernsthaften Entwicklungsarbeiten während des 1. Weltkrieges gingen von dem Ungarn Dénes ν. Mihály aus. Ihm gelang im Jahre 1916 mit Hilfe seines Projektophons die erste Herstellung und Vorführung eines Tonfilms, bei dem sich Bild und Ton synchron auf einem Filmband befanden (vgl. Zielinski 1989, 128; Jossé 1984, 133). 2.3.1. Triergon-Verfahren Vogt, Engl und Massolle machten es sich zur Aufgabe, sämtliche Komponenten für ein Lichttonverfahren inclusive der dazu benötigten Verstärker, Lautsprecher und Mikrophone selbst zu entwickeln. Sie konstruierten als Aufnahmeorgan ein neuartiges Mikrophon, das sogenannte Kathodophon, eine spezielle schallempfmdliche Glimmlampe, die sie Ultrafrequenzlampe nannten, eine geeignete photoelektrische Zelle als Licht-StromUmwandler für die Wiedergabe, sowie einen neuartigen trichterlosen Lautsprecher, das Statophon. Darüber hinaus entwickelten und fabrizierten die Erfinder Verstärkerröhren, deren Herstellung später an Siemens & Halske abgegeben wurde (vgl. Triergon 1924, 5ff.; Zglinicki 1956, 620f.; Beijerinck 1933, 59 ff.). Am 17. September 1922 kam es im Berliner Lichtspieltheater 'Alhambra' zur ersten deutschsprachigen Lichttonfilm-Vorführung nach dem Triergon-Verfahren. Die Premiere, an der rund 1000 Personen teilnahmen, war ein voller Erfolg (vgl. Jossé 1984, 158ff.). D o c h weder Filmgesellschaften noch andere Geldgeber zeigten Interesse an dem neuen Medium. Die Erfinder sahen sich schließlich gezwungen, ihre Erfindung mitsamt Gerätschaften und Patentbesitz im Juni 1923 an eine Schweizer Finanzgruppe zu verkaufen und agierten von jetzt an lediglich als technische Berater der Triergon A G St. Gallen (vgl. Jossé 1984, 169; Kreimeier 1992, 210f.). „Damit war Vogt, Massolle und Engel die Erfindung weitgehend entglitten, sie waren nur noch jederzeit kündbare Angestellte der durch ihre Ideen und Arbeiten entstandenen Firma" (Jossé 1984, 169). 2.3.2. Lee De Forest In den USA verlief die Entwicklung des Tonfilms nahezu parallel. Im Januar 1907 wurde Lee De Forest in den U S A das Patent auf seine Audion genannte erste elektronische Verstärkerröhre erteilt (vgl. Jossé 1984, 128; Beijerinck 1933, 58). D a r a u f b a u e n d begann er 1919 als erster, mit Lichtton zu experimen-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

tieren. Nachdem es ihm im Juli 1921 gelungen war, einen ersten Tonfilm nach eigenem Verfahren herzustellen, kam es im April 1923 zur Uraufführung dreier kurzer Tonfilmszenen nach seinem Phonofilm-Verfahren. „Since the musical accompaniment for each was «^synchronous, De Forest [...] generated little interest" (Gomery 1985, 8). Auch De Forest blieb letztendlich keine andere Wahl, als seine Firma zu veräußern. Im August 1923 kam ein Vertrag zwischen ihm, Theodore Case und Earl Sponable zustande. Doch die technisch treibenden Kräfte waren von nun an Case und Sponable. „Es ist daher irreführend und unzutreffend, wenn De Forest auch und gerade in neuesten Werken eine zentrale Rolle in der technischen Entwicklung zugeschrieben wird" (Jossé 1984, 173). 2.3.3. Vitaphone-Verfahren (Western Electric) Während in Deutschland Nadeltonverfahren nach dem 1. Weltkrieg nur noch eine untergeordnete Rolle spielten, begann die Western Electric Co. zusammen mit ihrer Stammfirma American Telephone & Telegraph Co. Anfang der zwanziger Jahre ein Verfahren zu entwickeln, nachdem man bereits 1912 die Rechte für De Forests Audion erworben hatte, zunächst um Verstärker für TelefonÜbertragungen zu bauen. „Western Electric [...] needed a better method to test sound quality, [...] concentrating on improving the disc method" (Gomery 1985, 8). 1922 lagen Mikrophone, Verstärkerröhren und Lautsprecher für Rundfunkzwecke vor, doch man erkannte, „that more lucrative markets existed in 'improved' phonographs and sound movies" (Gomery 1985, 9). Neben den Erfolgen in der Verstärkertechnik hatte man Fortschritte bei der Schallplattenaufnahme und -wiedergäbe zu verzeichnen. Die Synchronizität wurde jetzt nicht mehr durch mechanische, sondern elektromagnetische Kopplungsvorrichtungen erreicht (vgl. Jossé 1984,129). Eine erste öffentliche Vorführung des Vitaphone-Verfahrens konnte mit Erfolg im Oktober 1922 stattfinden (vgl. Jossé 1984, 182). Ende 1924 waren die Entwicklungsarbeiten zu ihren vorläufigen Abschluß gekommen. Man entschied sich dazu, für die Auswertung des Verfahrens eine eigene Firma zu gründen. Die Bell Telephone Laboratories begannen am 1. Januar 1925 mit ihrer Arbeit (vgl. Jossé 1984, 188, 209). Doch es gelang auch ihnen zunächst nicht, die Filmindustrie für das neue Tonfilm verfahren zu interessieren (vgl. Jossé 1984, 209ff.).

2.3.4. Photophone-Verfahren (General Electric) Die General Electric Co. begann in Zusammenarbeit mit ihrem Tochterunternehmen RCA etwa 1920, ein eigenes Tonfilm verfahren auf Lichttonbasis zu entwickeln. Charles A. Hoxie hatte bereits während des 1. Weltkrieges ein Gerät zur photographischen Aufnahme von Funksignalen auf Film hergestellt (vgl. Gomery 1985, 19; Jossé 1984, 137). Nach dem Krieg setzte Hoxie seine Arbeiten fort. Die Apparatur war zunächst als „marketable substitute for the phonograph" gedacht. Doch schon wenig später traf man Überlegungen für die Verwendung des PalloPhotophone in einem zu entwickelnden Tonfilmverfahren. Im November 1923 kam zu einer ersten Demonstration des Verfahrens, aber „De Forest's failure to innovate sound motion pictures proved no marked existed for Hoxie's invention" (Gomery 1985, 19). Erst nach dem Erfolg der Warner Brothers im Jahre 1926 entschloß man sich, am PhotophoneVerfahren weiterzuarbeiten.

3.

Filmindustrie

3.1. Ufa-Triergon-Sprechfilmabteilung In Deutschland wurde die Ufa angesichts der erfolgreichen Tourneen durch die Schweiz, die vom jetzigen Besitzer der Triergon AG, Dr. Curti, angeregt worden waren, auf das Verfahren der drei Erfinder aufmerksam. Am 30. Januar 1925 kam es zwischen beiden Firmen zum Abschluß eines Lizenzvertrags. Am 1. Juli begann die Ufa-Triergon-Sprechfilmabteilung ihre Arbeit. Die technische Leitung hatte man Massolle übertragen. Doch als 'Das Mädchen mit den Schwefelhölzern' unter der künstlerischen Ägide von Guido Bagier am 20. Dezember zur Uraufführung kam, konnte er „akustisch nicht im entferntesten mit den von den Erfindern selbst vorher gezeigten Filmen verglichen werden" (Schneider 1933, 210). Trotz des Mißerfolgs lief der Film noch einige Tage im Theater am Nollendorfplatz (vgl. Jossé 1984, 208). Danach begann die Ufa ihre Aktivitäten auf dem Tonfilmgebiet zu drosseln, in erster Linie aufgrund der finanziellen Situation des Filmkonzerns (vgl. Jossé 1984, 233). Es gab jedoch „keine Kündigung des Lizenzvertrages, es gab 1926 kein Desinteresse seitens der Ufa, das Projekt 'Tonfilm' wurde nicht fallengelassen und die Ufa verzichtete nicht aus freien

109. Warner, Fox, Tobis-Klangfilm und die Anfänge des Tonfilms (zwanziger Jahre) Stücken auf die Nutzung des Triergon-Systems" (Jossé 1984, 232). Erst nach der Übernahme der Ufa durch den Hugenberg-Konzern am 5. März 1927 wurde die TriergonAbteilung aufgelöst und „erst jetzt - und zu keinem früheren Zeitpunkt — 'desinteressierte' sich die U f a am Tonfilm" (Jossé 1984, 236). 3.2. Vitaphone Corporation (Warner Brothers) 1925 begannen die „noch nicht zu den wichtigen Filmkonzernen" (Jossé 1984, 213) zählenden Warner Brothers sich u m den Tonfilm zu bemühen. Die in der älteren Filmgeschichtsschreibung vertretene Auffassung, die Brüder seien kurz vor dem Konkurs gestanden (vgl. z.B. Zglinicki 1956, 613; Beijerinck 1933, 66) und hätten sich nur deshalb dem Tonfilm zugewandt, ist mittlerweile revidiert worden: „Es handelte sich bei der Firma keineswegs um einen ruinösen Konzern [...], sondern um das genaue Gegenteil eines schon fast aggresiv expandierenden Unternehmens, das zur Finanzierung seiner vielfältigen Investitionen eine gewollte, exakt kalkulierte kurzfristige Verschuldung in Kauf n a h m " (Jossé 1984, 216). Am 20. April 1926 erwarb die von den Warners frisch gegründete Vitaphone Corporation offiziell das Alleinrecht zur Nutzung des von Western Electric patentierten Verfahrens (vgl. Jossé 1984, 217). Bereits am 6. August des Jahres fand die Premiere des Spielfilms 'Don Juan' statt. „The musical accompaniment (sound-on-disc) caused no great stir because it 'simply replaced' an absent live orchestra" (Gomery 1985, 13). Dennoch wurden diese und weitere Aufführungen ein großer Erfolg (vgl. Jossé 1984, 221 ff.). Der Vertrag zwischen Western Electric und den Warner Brothers währte hingegen nicht lange. John E. Otterson, der von Western für die Betreuung aller „non-telephone inventions" eingesetzt worden war, wollte mit den Filmproduktionsfirmen direkt verhandeln. Er organisierte eine Kampagne, die die Apparate-Preise derart in die Höhe trieb, daß die Geschäftsbeziehungen zwischen beiden Firmen zum Erliegen kamen. Gleichzeitig gründete er die Electrical Research Products Inc. (ERPI). Im April 1927 zahlte ERPI den Warners eine Ablösesumme und Schloß mit ihnen das New License Agreement. „Vitaphone [...] became merely a licensee of ERPI. Warner Bros, had given up the exclusive franchise to exploit ERPI sound equipment" (Gomery 1985, 14).

1201

Mit 'Don Juan' begann in den USA die Innovationsphase des Tonfilms. Bereits Ende 1926 waren etwa 100 Lichtspieltheater mit Vitaphone-Anlagen ausgestattet. Ausschlaggebend waren vor allem ökonomische Erwägungen: es war nun möglich, die populären Vaudeville-Stars überall dort zu „erleben", wo sich Kinos für die Installierung eines Tonfilm-Equipments entschlossen hatten. „These performers would have charged more than any single theater owner could have afforded, if presented live" (Gomery 1985, 13). Den großen Durchbruch, der die gesamte Filmindustrie revolutionierte, erzielten die Warner Brothers schließlich mit dem am 6. Oktober 1927 uraufgeführten „part-talkie" 'The Jazz Singer' mit Al Jonson in der Hauptrolle (vgl. Jossé 1984, 239ff.). 3.3. Movietone-Verfahren (Fox-Case-Corporation) Auch Case und Sponable waren unterdessen nicht untätig geblieben. Im September 1925 hatten sie sich von De Forest getrennt. Ihr System hatten sie so weit entwickelt, daß dessen Einführung nichts mehr im Wege stand (vgl. Jossé 1984,173, 227). Im Mai 1926 begann der Filmindustrielle William Fox sich für die Arbeiten der beiden Forscher zu interessieren, um der Vitaphone Corporation Konkurrenz zu machen. D a die eigens hierfür gegründete Fox-Case-Corporation nicht im Besitz eigener Verstärkerpatente war, überließ er Western Electric die Auswertung des Movietone-Verfahrens (vgl. Beijerinck 1933, 67f.). Der Elektrokonzern hatte sich damit auch auf dem Lichttongebiet ein Standbein geschaffen. Darüber hinaus erwarb Fox am 5. Juli 1927 die US-Lizenz für das Triergon-Verfahren (vgl. Jossé 1984, 237fi). Im Januar 1927 kam es zur ersten Vorführung eines im Movietone-Verfahren hergestellten Spielfilms. Fox-Direktor Courtland Smith mußte jedoch einsehen, daß gegen die Überlegenheit der Warner Brothers auf dem Spielfilmsektor nicht mehr anzukommen war. Man verlegte sich auf ein Anwendungsgebiet, das die Warners noch nicht besetzt hielten: die Fox-Tonwochenschau lief am 30. April 1927 an und konnte bereits drei Wochen später mit Aufnahmen des LindberghFluges einen Sensationserfolg verbuchen (vgl. Jossé 1984, 228ff.,242f.). 3.4. R K O (General Electric) Im Mai 1928 entschieden sich die führenden Filmproduktionsfirmen aufgrund ihres Big Five Agreement (vgl. Gomery 1985, 13) für

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das Vitaphone-System, der Vorsprung von Western Electric schien kaum mehr einzuholen zu sein. General Electric gelang es dennoch, sich als letztes Unternehmen im Tonfilmgeschäft zu etablieren. Im Oktober 1928 kam es zur Gründung der Dachgesellschaft Radio-Keith-Orpheum (RKO). Sie umfaßte eine Lichtspieltheaterkette, eine Radiostation (NBC) sowie eine Filmproduktionsabteilung (Radio Pictures). Die ersten RKO-Tonfilme liefen im Frühjahr 1929 an. Ein Jahr später hatte sich das Verfahren gleichberechtigt durchgesetzt (vgl. Gomery 1985, 21 f.). 3.5. Siemens & Halske-Verfahren Anders als die Triergon-Erfindergemeinschaft, die bereits Anfang der zwanziger Jahre elektroakustische Geräte für ihr Tonfilmverfahren konstruierte, begann Siemens & Halske mit der Entwicklung von Lautsprechern, Mikrophonen und Verstärkern zunächst für die aufkommende Schallplatten- und Rundfunkindustrie. Der erste Verstärker, der unter der Leitung von Georg Gruschke zu dieser Zeit entstand, konnte als Endstufe für Rundfunkempfänger, Plattenspieler oder Mikrophone verwendet werden (vgl. Siemens 1951,98). Daneben entstanden leistungsfähige Mikrophone und elektrodynamische Großlautsprecher wie ζ. B. der Bandlautsprecher, der Blatthaller und der Riffellautsprecher. Ab 1926 begann man bei den großen deutschen Elektrokonzernen, unter Vermeidung der Triergon-Patente eigene Lichttonverfahren zu entwickeln, „nachdem die ersten Schallplattenfilme in Amerika einen ungeheuren Erfolg hatten" (Narath 1965, 108). Darüberhinaus hatte die Elektroindustrie die finanziellen Mittel, um großangelegte Forschungsarbeiten auch in verwandten Arbeitsgebieten durchzuführen. Die technische Durchführbarkeit eines synchronen Tonfilmverfahrens muß bei Siemens & Halske bereits bekannt gewesen sein, hatte man doch schon vor Jahren Verstärkerröhren für Triergon gefertigt (vgl. Beijerinck 1933, 59). Um sich einen Marktvorteil zu verschaffen, ging man bei den Konzernen folgendermaßen vor: „Die meisten Patente werden nicht etwa angemeldet, weil eine Fabrikation an Hand der Erfindung alsbald beabsichtigt ist, [...] sondern vor allem, um sich eine weitgehende Freiheit in der Ausnutzung aller Möglichkeiten einschließlich der Möglichkeit, die Konkurrenz zu behindern, unter allen Umständen zu sichern" (Gottscho 1927, 298; vgl. Gomery 1985,9).

Der Tonfilm wurde zum „Schrittmacher" der Elektroakustik (Kammerer 1961, 7), weil er höhere Anforderungen an das Zusammenwirken von „Musik und Sprache, Gesang und Geräusche[n]" stellte (ebd. 6). Auf Anregung Fritz Lüschens begann man im Zentrallaboratorium und der 1926 gegründeten Elektroakustischen Abteilung des Wernerwerks für Fernmeldetechnik in Berlin-Siemensstadt unter der Leitung von Erwin Gerlach und Dr. F. Fischer ein Verfahren zu entwickeln. Die Appratur arbeitete nach dem Amplitudenverfahren mit einem Spiegelgalvanometer als Aufzeichnungsorgan, das auf die Erfindung Korns zurückging (vgl. 2.3.). 3.6. AEG-Verfahren Auch die A E G begann 1927, sich mit dem Tonfilm zu befassen. Ausgangspunkt bildeten die Arbeiten des Leipziger Professors August Karolus über die Kerrzelle. Karolus, der im Oktober 1924 „regelrecht von Telefunken eingekauft" worden war (Zielinski 1989,135), benutzte die Kerrzelle zunächst in den Verwendungszusammenhängen Fernsehen und Bildtelegraphie, schlug dieses Strom-Licht-Wandlungsorgan dann aber auch für den Tonfilm vor. Karolus bestimmte seinen langjährigen Mitarbeiter Hans Christoph Wohlrab mit einer Dissertation über 'Ein Verfahren zur photographischen Aufzeichnung elektrischer und akustischer Vorgänge' mittels der Kerrzelle. Parallel dazu begannen im Forschungslaboratorium der AEG (Grüntaler Straße), ebenfalls auf Karolus' Anregung hin, die drei jungen Ingenieure Dr. Albert Narath, Dr. Horst Tischner und F. W. Dustmann mit der Entwicklung eines Lichttonverfahrens auf der Grundlage der Kerrzelle. Dort und ab 1. April 1928 im Forschungsinstitut der A E G in Berlin-Reinickendorf entstand unter der Leitung von Dr. Hugo Lichte eine Versuchsapparatur, „mit der Erfolg versprechende Probeaufnahmen erzielt wurden." Damit war „die technische Brauchbarkeit dieses Verfahrens" bewiesen (Hehlgans 1933, 11; vgl. Wohlrab 1976, 532f.).

4.

Durchsetzung/Syndikatisierung

4.1. Gründung der Tobis Durch die immensen Tonfilm-Erfolge jenseits des Atlantiks wurde den Vertretern der deutschen Tonfilmverfahren bewußt, „der amerikanischen Interessengruppe nur durch Zu-

109. Warner, Fox, Tobis-Klangfilm und die Anfänge des Tonfilms (zwanziger Jahre) sammenfassung aller Kräfte wirksam" entgegentreten zu können (Bächlin 1945, 60). Außerdem sollten mögliche Streitigkeiten der deutschen Patenthalter untereinander von vornherein verhindert werden. Am 18. Juli 1928 rief Generalkonsul Heinrich Brückmann, Hauptaktionär der Deutschen Tonfilm A G , im Berliner Hotel 'Kaiserhof' zur G r ü n d u n g eines Tonbild-Syndikates auf. Der Einladung Folge geleistet hatten Vertreter aller bekannten deutschen Tonfilmverfahren, der Film- sowie der Elektroindustrie. Dennoch gelang es Brückmann nicht, alle Beteiligten von seinem Konzept zu überzeugen, so daß am 30. August schließlich nur das Triergon-Verfahren, das Petersen-Poulsen-Verfahren, das Küchenmeister-Verfahren und ein neues Synchronisierungsverfahren von Oskar Messter in die Tonbildsyndikat A G , kurz Tobis, eingebracht werden konnten. Die Ufa, Siemens & Halske und A E G hatten sich nicht an der G r ü n d u n g beteiligt, in erster Linie weil die letztgenannten nicht willens waren, ihren Patentbesitz der neuen Gruppe zu überlassen. Die beiden Elektrokonzerne hatten schließlich eigene Tonfilmverfahren entwickelt und waren überzeugt, von den anderen Systemen „technisch völlig unabhängig zu sein" (Siemens 1951, 110). Insbesondere die Siemens-Verstärkerpatente gewährleisteten eine überaus starke Position gegenüber den anderen Verfahren. 4.2. G r ü n d u n g der Klangfilm G m b H Was Brückmann eigentlich hatte vermeiden wollen: A E G und Siemens & Halske entschlossen sich zur gemeinsamen G r ü n d u n g eines Konkurrenzunternehmens, um die Tonfilminteressen der beiden Konzerne zu vertreten. Die Klangfilm G m b H wurde am 8. Oktober 1928 ins Handelsregister eingetragen. Die beiden Elektroriesen waren daran zu je 45 Prozent beteiligt, 10 Prozent des Gesellschaftskapitals über 3 Millionen Reichsmark wurde von der Schallplattenfirma Polyphonwerke A G eingebracht. Bei der Wahl des Systems entschied man sich für das KerrzellenVerfahren der A E G . Die von Siemens & Halske entwickelte Anordnung wurde erst 1935 wieder aufgegriffen, als Klangfilm die Eurocord-Apparatur auf den Markt brachte und mit dem sogenannten Lichthahn „an alte Traditionen anknüpft[e]" (Hatschek 1935). Noch Anfang der siebziger Jahre befand sich Eurocord im Vertriebsprogramm der Siemens A G (vgl. Schumacher).

1203

4.3. Tobis-Klangfilm-Vertrag Es sollte nicht lange dauern, bis die beiden deutschen Tonfilmblöcke aneinandergerieten. Am 8. Februar 1929 kam es zur ersten öffentlichen Aufführung eines Tonfilm-Programms der Klangfilm G m b H , die von Tobis mit einer einstweiligen Verfügung vereitelt wurde. Die beiden Firmen erkannten, daß die gemeinsame Ausnutzung der Patente auf Dauer effektiver sein würde. Die daran anschließenden Verhandlungen führten am 13. M ä r z zur Unterzeichnung des Tobis-Klangfilm-Interessengemeinschafts-Vertrags. In den Vereinbarungen wurden in erster Linie die künftigen Betätigungsbereiche abgegrenzt: Klangfilm war von nun an für die Herstellung der Aufnahme- und Wiedergabeapparaturen sowie den Vertrieb der Wiedergabeapparaturen zuständig, während Tobis die Filmproduktion, das Lizenzgeschäft und der Vertrieb der Aufnahmeapparaturen zufiel. Aufgrund einer Ausnahmeregelung war der Tobis allerdings die Verwendung von eigenen Triergon-Aufnahmeapparaturen gestattet. Trotz eines zwischen den beiden Firmen 1935 abgeschlossenen Verschrottungsabkommens wurden diese bis 1945 in den Studios der Tobis benutzt (vgl. Bundesarchiv Akte R H 23.01/7030; Webers 1989, 609; Schumacher). Damit war über Nacht ein gesamteuropäisches Tonfilmkartell entstanden, denn die ausländische Filmproduktion und -organisation wurde einem Firmenkonsortium übertragen, das aus Ν. V. Küchenmeisters Int. Mij. voor Sprekende Films sowie der Heinrich J. Küchenmeister Kommanditgesellschaft bestand und das die Auslandsrechte f ü r das Tobis-Verfahren besaß. Im Verlauf der nächsten Monate wurden die internationalen Verflechtungen weiter ausgebaut, so daß nur ein Jahr später ein ganzes Netz von Firmen in verschiedenen Ländern Europas die Rechte der Tobis-Klangfilm-Gruppe wahrnahm, darunter Lignose Hörfilm, British Phototone, French Phototone, Klangfilm Ltd. (Great Britain), British Talking Pictures, Asfi, S. A. Films Sonori in Rom, die Compagnie Française Tobis und die Société des Films Sonores Tobis in Paris-Epinay. Die Verbindungen reichten über den englischen Schlesinger-Konzern bis hin zu General Talking Pictures in den USA (vgl. Irby 1930, 745f.; Beijerinck 1933, 90ff.). Darüber hinaus hatte das zwischen A E G und General Electric im Jahre 1922 geschlossene Abkommen, das den beiderseitigen Patentaustausch zum Inhalt hatte, beim Abschluß des TobisKlangfilm-Vertrags ein „sehr wesentliches in-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

direktes Aktivum fuer die Tobis-Gruppe" dargestellt (Bundesarchiv Akte R 109 1/996). Diese Bindung wurde weiter vertieft, als General Electric 1929 25 Prozent des AEG-Aktienkapitals übernahm (vgl. Gomery 1980, 86; Hautsch 1979, 34; Kallmann 1932, 45). 4.4. Ufa-Klangfilm-Vertrag Die Ufa hatte bis zum Frühjahr 1929 ihre abwartende und beobachtende Stellung beibehalten. Bereits vor Abschluß des TobisKlangfilm-Vertrages hatte sie zwar Klangfilm-Aufnahmeapparaturen käuflich erworben. Dennoch bestand die Gefahr, den größten deutschen Filmkonzern an amerikanische Interessengruppen zu verlieren. Da die Zeit drängte, wurden die Verhandlungen ohne Hinzuziehung der Tobis-Entscheidungsträger geführt. Ludwig Klitzsch befand sich in der günstigen Lage, „das Vorgehen der WarnerGruppe und das drohende Eindringen der Amerikaner" zum Vorteil der Ufa auszubauen, u. a. konnte er den Verzicht auf Lizenzen für die Vorführung ausländischer Filme in Ufa-Theatern durchsetzen und sich auch sonst „überall Meistbegünstigung" sichern. Der Vertrag vom 8. April 1929 rief bei der Tobis Empörung hervor. Die Klangfilm-Delegierten, Lüschen und Birnholz, rechtfertigten die besonderen Zugeständnisse an die Ufa als „Kriegskosten", die man eben nicht habe vermeiden können. Tobis-Vorstandsmitglied Auerbach bezeichnete den Vertrag als „Dolchstoß des Herrn Klitzsch", die Ufa als „halbamerikanische Firma" habe „die deutsche Filmindustrie ruiniert", eine zweifellos etwas kurzsichtige Betrachtungsweise. Sicherlich war der Vertrag eine Verletzung des Tobis-Klangfilm-Abkommens und warf erste Schatten auf die Geschäftsbeziehungen zwischen beiden Firmen. Doch Klangfilm hatte es immerhin geschafft, das „Rückgrat" der deutschen Filmindustrie für den europäischen Tonfilmblock zu gewinnen. Klitzschs Entscheidung für Klangfilm lag nicht ausschließlich „im Interesse der deutschen Industrie" (Kreimeier 1992, 214), wurde nicht nur aus „nationalen Gründen" getroffen, wie bisher in der Filmgeschichtsschreibung wiederholt behauptet wurde. Die Ufa hatte es vielmehr verstanden, die beiden konkurrierenden Interessengruppen gegeneinander auszuspielen, als dringender Handlungsbedarf bestand (Bundesarchiv Akte R 109 1/249, vgl. Schumacher). Unverzüglich begann Klangfilm damit, alle 99 Ufa-Kinos in 41 Städten, meist Erst-

aufführungstheater, mit Wiedergabeapparaturen auszustatten. Daneben begann die Ufa auf ihrem Babelsberger Filmgelände mit dem Bau eines modernen Tonfilmstudios, das in seiner architektonischen Form völlig neuartig war und als „Tonkreuz" in die Filmgeschichte einging. Die gesamte elektrische Ausstattung sowie die Installation der Aufnahmeapparaturen erfolgte durch Siemens & Halske und Klangfilm. 4.5. Auseinandersetzungen mit Western Electric Die USA waren an Europa als Absatzmarkt brennend interessiert, um die hohen Amortisierungskosten für ihre Tonfilmproduktionen einspielen zu können. Im Frühjahr 1929 begannen Western Electric und Warner Brothers sich den zeitlichen Vorteil zunutze zu machen, den sie in der Apparate- und Filmproduktion aufgrund der weit vorgelagerten Tonfilmentwicklung in den USA besaßen. So begannen die Warners im Mai 1929 eine Vitaphone-Wiedergabeapparatur im von der Ufa gemieteten Berliner Gloria-Palast einzubauen. Für die deutsche Uraufführung des Al Jolson-Films 'The Singing Fool' war der 31. Mai vorgesehen. Trotz einer einstweiligen Verfügung durch Siemens & Halske und Telefunken fand die Premiere am 3. Juni statt. Über sieben Woche konnte der Film ungestört gezeigt werden, bis es Tobis-Klangfilm am 22. Juli endlich gelang, vor dem Berliner Kammergericht ein Aufführungsverbot für Vitaphone-Filme auf Western-Apparaturen zu erzwingen. Western Electric mußte sich geschlagen geben und verlegte daraufhin ihre deutsche Vertretung ins Ausland (vgl. v. Lölhöffel 1929, 512). Die amerikanische Gruppe reagiert mit der Boykottierung des deutschen Marktes, indem sie den Verleih amerikanischer Filme unterband. Fortgesetzt wurde der Patentkrieg außerhalb Deutschlands. Besonders in England, wo die „Bereitwilligkeit zur Ausrüstung der Kinos mit Tonfilmapparaturen am weitesten vorgerückt" war, „bot sich eine gute Gelegenheit, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Tonfilmapparate-Industrie auf dem Weltmarkte zu zeigen" (Beijerinck 1933, 91 f.). Im 'Filmkurier' deutete Klangfilm-Mitarbeiter Robert Schultz (1929) vage die Praktiken an, die die Amerikaner anwendeten, um ihre Kontrahenten zu behindern: „Selbstverständlich fanden die Klangfilm-Ingenieure überall, wo sie erschienen, starke Widerstände vor, d. h. die bereits anwesenden Vertreter der [...]

109. Warner, Fox, Tobis-Klangfilm und die Anfänge des Tonfilms (zwanziger Jahre) Western versuchten alles mögliche, um die Klangfilmarbeit zu erschweren. D a ß sie sich als zuerst am Platze Erschienenen die besten Bauplätze und die am besten geeignetesten Ateliers heraussuchten, wie z. B. bei Pathé, ist zu erklären, aber man spricht in den nahestehenden Kreisen doch noch von ganz anderen Mitteln, die deutsche Konkurrenz auszuschalten." Im restlichen Europa hingegen konnte die Tobis-Klangfilm-Gruppe Erfolge auf breiter Basis verbuchen. Sie gewann von Western Electric angestrengte Patentverletzungsklagen in der Teschechoslowakei, Holland, Ungarn, Schweiz und Österreich (vgl. Gomery 1976, 56; Mühl-Benninghaus 1995, 347). 4.6. Paris Agreement Seit Juni 1929 versuchten Vertreter beider Patentblöcke, sich auf dem Verhandlungswege näherzukommen. In erster Linie wollte man die Aufteilung des Weltmarktes in Patentzonen und die „interchangeability" durchsetzen. Dieser Begriff faßte die internationalen Bemühungen zusammen, Filmformate und Apparaturen so zu vereinheitlichen, daß weltweit die Vorführung aller Tonfilme auf allen Wiedergabegeräten möglich sein würde. D o c h die Gespräche führten zunächst zu keinen nennbaren Ergebnissen. ERPI-Chef Ottersons Forderung des Alleinrechts über alle englischsprachigen Länder war für Tobis-Klangfilm unakzeptabel, und die Klangfilm-Quotenregelung, ein Lizenzschema zur Abrechung der auf KlangfilmGerät gespielten US-Filme, stieß wiederum bei Otterson auf Ablehnung (vgl. Jossé 1984, 274). Aufgrund des New License Agreements hatten die Warner Brothers „little incentive to cooperative with Western Electric" (Gomery 1980, 86). Im September 1929 führten sie erste Verhandlungen mit Tobis-Klangfilm. Im April 1930 erwarben die Warners einen 20-prozentigen Anteil an Ν. V. Küchenmeisters Int. Mij. voor Sprekende Films. Aufgrund dieser Verträge konnten sie nun wieder damit beginnen, amerikanische Filme an europäische Kinos zu verleihen (vgl. Mühl-Benninghaus 1995, 348; Gomery 1980, 85f.; Jossé 1984, 275f.). Der Boykott war durchbrochen. Z u diesem Zeitpunkt hatte sich die Haltung der führenden US-Filmkonzerne Western Electric gegenüber entscheidend geändert. Rückläufige Exportzahlen, die sich durch den Fortfall des europäischen Marktes langsam bemerkbar machten, bewirkte unter ihnen eine allmählich sich abzeichnende Opposi-

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tionshaltung gegen Otterson. D e n n durch den Boykott verloren sie „die letzte Chance, die sie noch hatten: das Tonfilmgeschäft mit ihren fremdsprachigen Filmen auszunutzen, ehe die deutsche Produktion den Markt voll befriedigen" konnte (v. Lölhöffel 1929, 512). Unter dem Druck der amerikanischen Filmindustrie sah sich Otterson gezwungen zu agieren. Am 19. Juni 1930 begannen in Paris die Verhandlungen, an denen neben Otterson und Lüschen u.a. C. J. Ross und RCA Photophone Inc., J. C. G r a h a m von der Paramount, Emil Mayer von A E G , TobisAufsichtsratsmitglied Milton Diamond, Küchenmeister und Klangfilm-Direktor Kirn teilnahmen. Erst nach einem Monat konnte eine Einigung herbeigeführt werden. Am 22. Juli wurde das (vorläufige) Paris Agreement unterzeichnet. Im wesentlichen hatte man die „interchangeability", den gegenseitigen Patentaustausch sowie die Aufteilung des Weltmarktes in drei Patentzonen vereinbart. In der Filmgeschichtsschreibung wurde das Paris Agreement wiederholt als großer Sieg des europäischen Tonfilmblocks gefeiert. Zweifellos hatte Tobis-Klangfilm ein Hauptziel erreicht, die Sicherung des europäischen Festlandes als Exclusivgebiet. Doch generell gesehen war das Agreement ein Kompromiß. Denn die USA hatten „sich Sowjetrußland als einen besonders ausbaufähigen M a r k t gesichert [...], während in den elektrotechnischen Interessengemeinschaften der Vorkriegszeit Rußland immer das ausschließliche Geschäftsgebiet der deutschen Vertragspartner gewesen war!" (Bundesarchiv Akte 61 Re 1). Außerdem zeigte sich die „Überlegenheit des amerikanischen Partners" dadurch, daß es den US-Gruppen gelungen war, sich ein großes einheitliches Sprachgebiet (USA, Kanada, Indien, Australien) zu sichern (Vorwärts Nr. 341 vom 24. 7. 1930). Wie bereits angedeutet, hatte man aber nur einen „Vorvertrag" unterzeichnet (vgl. MühlBenninghaus 1995, 349, Beijerinck 1933, 131 f.; Irby 1930, 747). „The Hollywood monopolists never formally ratified the 'Paris Agreement' " (Gomery 1980, 86), in erster Linie weil kurze Zeit später von deutscher Seite aus eine straffere Quotenregelung eingeführt wurde. In einem Brief der Tobis an R C A vom 31. 12. 1931 hieß es: „Abrechnungen erfolgen nur unvollkommen, zum Teil gar nicht, mit dem Hinweis darauf, dass die endgültige Formulierung der Verträge noch nicht vorliegt" (Bundesarchiv Akte 109 1/990). Im Februar 1932 wurde in Paris wieder eine Konferenz einberufen, ohne Erfolg. Der Vorstandsvor-

1206

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

sitzende der Klangfilm, Emil Mayer, schrieb am 2. Januar 1933: „Ich bin mir nicht darüber klar, welches Ziel die Amerikaner verfolgen, indem sie zum 'nten Mal eine europäische Konferenz vorschlagen. Die Erfahrung lehrt, daß man dabei nicht weiter kommt" (Bundesarchiv Akte 109 1/980). Erst nach sechs Jahren gelang es den Parteien, zu einer zufriedenstellenden Einigung zu gelangen. Das endgültige Paris Agreement wurde am 18. März 1936 unterzeichnet (vgl. Gomery 1980, 87f.; Schumacher, Bundesarchiv Akte R 109 1/996).

5.

Ästhetische Aspekte

Für die Entwicklung der ästhetischen Ausdrucksmittel des Films bedeutete der Tonfilm einen sehr grundlegenden Einschnitt (vgl. Carroll 1978, Prümm 1995). Ausgangs der zwanziger Jahre war die Montage zu jenem Schlüsselkonzept geworden, das in Filmtheorie und -praxis zentrale Stellung innehatte und auf die anderen Künste einwirkte. Mit dem Tonfilm drohten die Erfindungen der Montagekunst, die Dynamisierung von Raum und Kamera usw. wieder verloren zu gehen — weil die ersten all-talkies aus den USA eine Rückentwicklung zu den statischen Formen des „canned theatre" der Frühzeit andeuteten, die auf einer theaterhaften kinematographischen Illusion beruhte, nicht aber auf den Bild- und Gedankenbewegungen der Montage (vgl. Hartmann 1991). Das TonfilmManifest von Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow (1928) postulierte schon sehr früh eine Verwendung des Tons im Rahmen der Montage, eine radikale Absetzung von der puren Tonwiedergabe hin zu einer künstlerischen Inszenierung des Tons. Filme wie Pudowkins 'Desertir' (1933), aber auch Langs ' M ' oder die Tonfilme von Pabst zeigten dann, daß der Tonfilm ein eigenes künstlerisches Ausdrucksregister erforderte und sich keinesfalls in naturalistischer Tonwiedergabe erschöpfte, sondern sich vielmehr an Montagekonzeptionen anlehnte oder einen besonderen Tonrealismus ausentwickelte (vgl. Hartmann 1991; Carroll 1978).

6.

Literatur

Bächlin, Peter, Der Film als Ware. Diss. Basel 1945. Beijerinck, Frits H., Die Entwicklung der Tonfilmindustrie. Ein Beitrag zur Weltelektrovertrustung. Diss. Bern 1933.

Bratke, Wir beherrschen den Schall. 10 Jahre ElaTechnik. In: Telefunken-Kamerad, Heft 1/1937, 2-7. Cameron, Evan W. (Ed.), Sound and the Cinema. The Coming of Sound to American Film. New York 1980. Carroll, Noel, Lang, Pabst, and Sound. In: CineTracts 2, H. 1, 1978, 1 5 - 2 3 . Dibbets, Karel, Sprekende films. De komst van de geluidsfilm in Nederland 1928—1933. Amsterdam 1993. Fielding, Raymond, Lhe Lechnological Antecedents of the Coming of Sound: An Introduction. In: Sound and the Cinema, Hrsg. v. Evan W. Cameron, 3 — 23. Fischer, F./Hugo Lichte: Tonfilmaufnahme und -wiedergäbe nach dem Klangfilm-Verfahren. Leipzig 1931. Gomery, Douglas, Tri-Ergon, Tobis-Klangfilm and the Coming of Sound: In: CJ 16, 1/1976, 5 1 - 6 1 . - , Economic Struggle and Hollywood Imperialism: Europe Converts to Sound. In: Yale French Studies 60, 1980, 8 0 - 9 3 . - , The Coming of Sound: Technological Change in the American Film Industry. In: Film Sound. Theory and Practice, ed. by Elizabeth Weist/John Belton. New York 1985, 5 - 2 4 . Gottscho, Großindustrie und Patentschutz. In: Kinotechnik v. 5. 6. 1927, 298. Hartmann, Britta, Pudowskins „Desertir" als Beispiel für das Konzept der Asynchronität von Bild und Ton im frühen sowjetischen Tonfilm. In: 3. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium/ Marburg 1990. Münster 1991, 200-205. Hatschek, Paul, „Lichthahn" der neue deutsche Zackenschreiber. In: Filmkurier v. 2. 3. 1935. Hautsch, Gert, Das Imperium AEG-Telefunken. Frankfurt a . M . 1979. Hehlgans, F., Die Entwicklung des Tonfilmverfahrens der AEG. In: Jahrbuch des Forschungs-Instituts der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft. Dritter Band 1931/32. Berlin 1933, 11-16. Irby, Franklin S„ International Relations in the Sound Picture Field. In: Journal of the Society of Motion Picture Engineers, Vol. XV, Number 6 (December 1930), 739-748. Jossé, Harald, Die Entstehung des Tonfilms. Beitrag zu einer faktenorientierten Mediengeschichtsschreibung. Freiburg/München 1984. Kallmann, Alfred, Die Konzernierung in der Filmindustrie, erläutert an den Filmindustrien Deutschlands und Amerikas. Diss. Würzburg 1932. Kammerer, Ernst, 35 Jahre Elektroakustik im Tonfilm. In: Frequenz Bd. 15, Oktober 1961. Kreimeier, Klaus, Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München/Wien 1992. Lichte, Hugo/Albert Narath, Physik und Technik des Tonfilms. Leipzig 1941.

110. Der klassische Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre Lölhöffel, Erich v., Die Front im Tonfilmkampf. In: Filmtechnik v. 21. 12. 1929, 512f. Mühl-Benninghaus, Wolfgang, Die Einführung des Tonfilms in Deutschland. Zur technischen und ökonomischen Umwälzung der Filmindustrie am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Verflechtungen. In: Kommunikationsraum Europa. Hrsg. v. Lutz Erbring. Konstanz 1995, 344-354. Narath, Albert, 70 Jahre Deutsche Filmtechnik. In: Kinotechnik 5/1965, 106ff. u. 6/1965, 136ff. Prümm, Karl, Der frühe Tonfilm als intermediale Konfiguration. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1, 1995, 278-290. Schneider, Alfred, 10 Jahre deutscher Tonfilm. In: Filmtechnik v. 16. 9. 1933, 209ff. Schultz, Robert, Klangfilm auf dem Auslandsmarkt. In: Filmkurier v. 30. 9. 1929. Schumacher, Olaf, Klangfilm. Ein Beitrag zur Technik-, Firmen- und Industriegeschichte des deutschen Films. Diss. TU Berlin (in Arbeit). Siemens, Georg, Geschichte des Hauses Siemens. Bd. 2: Technik als Schicksal 1903-1922. München 1949. — , Geschichte des Hauses Siemens. Bd. 3: Die Dämonie des Staates 1922-1945. Freiburg/München 1951.

1207

Strohm, Walter, Die Umstellung der deutschen Filmwirtschaft vom Stummfilm auf den Tonfilm unter dem Einfluß des Tonfilmpatentmonopols. Diss. Freiburg i. Br. 1934. Triergon, Der sprechende Film. Nach den Erfindungen von Joseph Massolle, Hans Vogt und Dr. Jo Engl. Berlin 1924. Webers, Johannes, 100 Jahre Film, 60 Jahre Tonfilm (IV). In: Fernseh- und Kino-Technik 11/1989, 607 ff. Weiher, Sigfrid v./Herbert Goetzeler, Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847-1980. Berlin/München 1981. Weis, Elizabeth/John Beiton (Eds.), Film Sound. Theory and Practice. New York 1985. Wohlrab, Hans. Chr., Highlights of the History of Sound Recording on Film in Europe. In: SM PTE Journal, Volume 85, July 1976, 531 ff. Zglinicki, Friedrich v., Der Weg des Films. Berlin 1956. Zielinski, Siegfried, Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte. Reinbek bei Hamburg 1989. Olaf Schumacher

IHans

Jürgen

Wulff, Berlin (Deutschland)

110. Der klassische Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre 1. 2.

8.

Einleitung Übergänge: Charlie Chaplin und der Slapstick Die Höhepunkte der amerikanischen Filmkomödie (Ernst Lubitsch, Frank Capra) Der Western in den dreißiger und vierziger Jahren (John Ford) Das Studio-System und der ProducerDirector (Victor Fleming, Michael Curtiz, Howard Hawks) Der Regisseur als Auteur (Alfred Hitchcock, Orson Welles) Der Aufstieg des Zeichentrickfilms (Walt Disney) Literatur

1.

Einleitung

3. 4. 5.

6. 7.

D i e s o g e n a n n t e klassische Zeit des H o l l y w o o d - K i n o s b e g a n n m i t einer K a t a s t r o p h e . A m S c h w a r z e n F r e i t a g 1929 b r a c h in N e w Y o r k die B ö r s e z u s a m m e n u n d s t ü r z t e die U S A in eine tiefe w i r t s c h a f t l i c h e u n d p s y c h o logische Krise. A u c h die S t i m m u n g in H o l l y -

w o o d w a r a n g e s p a n n t . I m V o r j a h r h a t t e n die T o n f i l m e ' T h e J a z z Singer' u n d ' T h e Singing Fool' das E n d e der Stummfilmära angekündigt. Künstlerisch u n d technisch s t a n d e n die b e g i n n e n d e n D r e i ß i g e r so u n t e r d e m Vorzeic h e n , eine F i l m s p r a c h e z u f i n d e n , die d a s n e u e E l e m e n t in e i n e n h a r m o n i s c h e n B e z u g z u m Bild setzte.

2.

Übergänge: Charlie Chaplin und der Slapstick

F ü r die meisten Regisseure u n d Schauspieler w a r die E i n f ü h r u n g des T o n s ein S c h o c k . Auch Charlie Chaplin ( 1 8 8 9 - 1 9 7 7 ) lehnte den T o n f i l m z u n ä c h s t als u n k ü n s t l e r i s c h ab. 'City Lights' (1930) setzte so n o c h g a n z a u f die c h a r a k t e r i s t i s c h e n E l e m e n t e a u s seinen F i l m e n d e r z w a n z i g e r J a h r e , die F i g u r des k l e i n e n T r a m p s , die P a n t o m i m e , die d a s G r o teske d e r verschiedenen S i t u a t i o n e n u n t e r streicht u n d die a u f g e r e g t e S p r a c h l o s i g k e i t ,

1208

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

die den Zuschauer zum geheimen Verbündeten macht. Charlie verliebt sich darin in eine blinde Blumenverkäuferin und rettet einem Millionär das Leben, der ihm nach einer Reihe von Verwicklungen schließlich das Geld für die Operation gibt, die der Liebsten das Augenlicht wiedergewinnt. Der Ton ließ jedoch die Überzeichnung der Pantomime unwirklich und unangemessen erscheinen, und Chaplins erster Tonfilm 'Modern Times' (1936) wurde der letzte seiner Filme mit der Figur des Tramps. Als Fließbandarbeiter hat Charlie so lange denselben Handgriff auszuführen, bis er wahnsinnig wird. Auch nach seiner Heilung gerät sein Leben zur mechanischen Wiederholung. Mehrmals kommt er ins Gefängnis, flieht, um doch nur wieder verhaftet zu werden. 'Modern Times' ist oft als Chaplins sozialkritischster Film bezeichnet worden. Hatte sich in der Stummfilmzeit die Tragikomik des kleinen Tramps mit der Melone aus seinem immer wieder neuen Kampf um Würde im Angesicht einer Gesellschaft ergeben, die die einfachsten Bedürfnisse nach Liebe, Arbeit, Essen, Trinken negierte, ist hier aus dem Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens ein Überlebenskampf angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Entfremdung im Maschinenzeitalter geworden. Vor dem Hintergrund der faschistischen Bedrohung in Europa entwickelte Chaplin, der im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen immer auch politisch interessiert war, seinen wohl bekanntesten Film 'The Great Dictator' (1940). Zur gleichen Zeit wie der Diktator Hynkel an die Macht kommt, gewinnt ein jüdischer Friseur (beide gespielt von Chaplin) sein Gedächtnis wieder, das er im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Er verliebt sich in eine schöne Jüdin und kommt ins Konzentrationslager. Unterdessen verabredet Hynkel mit einem anderen Diktator eine Invasion in einem dritten Land. Es gelingt dem Friseur jedoch, als Faschist verkleidet zu entkommen, und er richtet, da man ihn mit dem Diktator verwechselt, einen flammenden Friedensappell an die Welt. Eine ähnliche pazifistische Haltung findet sich auch in Chaplins letztem Film in den USA, 'Monsieur Verdoux' (1947). Ein Heiratsschwindler und Mörder will seine neue Frau umbringen und zunächst das Gift an einer Straßenbekanntschaft ausprobieren, erbarmt sich jedoch und gibt dem Mädchen sogar Geld. Als seine Frau nach Jahren eines natürlichen Todes stirbt, begegnet er dem Mädchen wieder und stellt sich, ob seiner bösen Absichten von damals, reumütig der Poli-

zei. Obwohl er beteuert, er habe nichts anders getan als die Leute, die Kriege führten und an ihnen verdienten, wird er zum Tod verurteilt. 'Monsieur Verdoux' wurde bereits von der aufgeheizten Stimmung des Kalten Krieges überschattet. Die amerikanische Presse stellte Chaplin als Kommunistenfreund und Päderasten dar. Als er wiederholt von dem berüchtigten House of Un-American Activities Committee belästigt wird, verläßt Chaplin 1952 die USA für immer.

3.

Die Höhepunkte der amerikanischen Filmkomödie (Ernst Lubitsch, Frank Capra)

3.1. Das Leben als Unterhaltung: Ernst Lubitsch Die dreißiger Jahre waren die Blütezeit des Kinos als Freizeitunterhaltung. Bedrückt von der wirtschaftlichen Depression suchten die Menschen Ablenkung und Unterhaltung im Glanz der Stars, dem Pomp auf der Leinwand. Nichts eignete sich dazu besser als die gepflegten Gesellschaftskomödien von Ernst Lubitsch (1892-1947). Noch zu Stummfilmzeiten hatte Lubitsch, der bereits 1923 in die USA gekommen war, seinen sogenannten 'Lubitsch-Touch' entwickelt, eine Kombination aus elegantem Witz und Understatement voller erotischer Anspielungen. Um die Leichtigkeit der Inszenierung zu erhalten, drehte Lubitsch seine ersten Tonfilme 'The Love Parade' (1929) und 'Monte Carlo' (1930) stumm und synchronisierte die Dialoge nach. 'The Love Parade' handelt von dem charmanten Grafen Renard, der ob seiner Affären von seinem Posten als Militärattaché zurückberufen wird und seine Bewährungsprobe erhält, als die Königin, eine autoritäre, machtbesessene Dame ein Auge auf ihn wirft. 'Monte Carlo' war eine Verwechslungskomödie, ebenfalls im adeligen Milieu, in der dem einen Herrn seine Herzdame davonläuft, um dann von einem anderen, der sich zunächst als einfacher Friseur ausgibt, erobert zu werden. Lubitsch führte die europäische Operette mit ihrem fröhlichen Hang zur Frivolität, ihrer eleganten Beschwingtheit in den amerikanischen Film ein, wobei er die Lieder als natürlichen Bestandteil der Handlung einsetzte, der dem Film Rhythmus und Spannung gab. 1931 ließ er nach diesem Prinzip 'The Smiling Lieutenant' folgen, ein Jahr später 'One Hour With You', und 1934 als letztes seiner Musicals 'The Merry Widow'.

110. Der klassische Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre

Mit Ausnahme der beiden letzten Filme, die im Ausland beliebter waren als in den USA, wurden alle bei Kritik und Publikum begeistert aufgenommen und machten die Hauptdarsteller Maurice Chevalier und Jeanette McDonald zu internationalen Stars. Auch in seinen filmischen Lustspielen blieb Lubitsch seinem Stil treu. Allerdings wurden seine Helden nun Gauner, Diebe und lockere Damen mit anarchischen Zügen, aber perfekten Manieren, ihre Gegenspieler kleinliche, neurotische Spießer. 'Trouble in Paradise' (1932) handelt von einem Gaunerpärchen, das sich in die feine Gesellschaft von Paris hocharbeitet, 'Design for Living' (1933) entwickelt um eine selbstbewußte junge Frau eine fröhliche ménage à trois. Zugleich bewegten sich diese Komödien am Rande dessen, was der Motion Picture Production Code zuließ, die Selbstzensur der amerikanischen Filmindustrie unter Will H. Hays, die 1930 auf Drängen konservativer Kreise in Kraft gesetzt worden war und die Darstellung jeglicher Erotik auf der Leinwand drastisch einschränkte. Das amerikanische Kino sollte eine vergleichbare Kunst des raffinierten erotischen Spiels und der offen-frivolen Pointe, wie Lubitsch sie in den Filmen dieser Zeit erreichte, nicht wieder sehen. Die Innendekorationen seiner Filme in Chrom, Glas und weißem Schleiflack, entworfen vom Bauhausschüler Hans Dreiser, wurden Einrichtungsvorbilder, die Kostüme seiner Darsteller, angefertigt von namhaften Couturiers, galten als Trendsetter für die jeweilige Saison. Ab 1937 begann Lubitschs Stern jedoch zu sinken. Vor dem Hintergrund des 'zweiten New Deal' und dem Höhepunkt der Macht der Studios waren Multitalente gefragt, die in mehreren Genres arbeiteten und in der Komödie den amerikanischen Alltag aufbereiteten. 'Angel' (1937) mit Marlene Dietrich, 'Bluebeard's Eigth Wife' (1938) und auch seine Politsatire 'Ninotchka' (1939), in der Greta Garbo als gestrenge Sowjetkommissarin der Verführungskraft des Kapitalismus in Gestalt eines reichen Charmeurs erliegt, fielen bei Publikum und Kritik durch. Das Spätwerk Lubitschs ist so von einem eher desillusionierten Menschenbild geprägt. Die spielerisch-witzige Skizze von Typen der gehobenen Gesellschaft wandelte sich zur psychologischen Ausleuchtung der Abgründe der Menschen, ihrer Machtspiele und verdrängten Wünsche und Begierden. Zwar gelang es Lubitsch mit 'That Uncertain Feeling' (1941), einer sarkastisch-komischen Psychopathologie des Ehealltags, noch einmal an

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seine Komödien der Dreißiger anzuknüpfen, aber trotz wohlwollender Kritik hatten 'The Shop Around the Corner' (1940), die tragikomische Geschichte der kleinen Sehnsüchte des Personals eines Lederwarengeschäfts, und sein erster Farbfilm 'Heaven Can Wait' (1943), die Tragödie eines Mannes, der nicht alt werden kann, kommerziell nur mäßigen Erfolg. 'To Be or Not To Be' (1942) schließlich, eine bitterböse Satire um eine Theatertruppe im vom Nazi-Deutschland besetzten Polen stieß direkt auf Ablehnung. Wurden zu Lubitschs Lebzeiten vor allem seine Musicals und Filme aus den frühen Dreißigern gelobt, fand in den sechziger Jahren eine Neubewertung statt und gerade seinerzeit abgelehnte Filme wie 'To Be or Not To Be' oder 'Ninotchka' gelten heute als herausragend. 3.2. Frank Capra und die ScrewballComedy Nach Lubitsch war es vor allem Frank Capra (1897 — 1991), dessen geradlinig erzählte, launig-gefühlvolle Komödien mit ihren spritzigen Dialogen die amerikanische Filmkomödie ab der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre prägten. Thema dieser typischen 'ScrewballComedies' war in unendlichen Variationen das Zusammenfinden der Geschlechter, oftmals unter der Bedingung anfänglicher gegenseitiger Ablehnung und erheblicher Unterschiede in der sozialen Herkunft. Bereits in Capras Film 'Platinum Blonde' von 1931 deutete sich diese Formel an, als ein Reporter den erotischen Verlockungen einer reichen Blondine, gespielt vom Sex-Symbol der Zeit Jean Harlow, erliegt und darüber zunächst die viel näher liegenden, aber unscheinbareren Reize seiner hübschen Kollegin vergißt. Der Kritiker Andrew Sarris hat ScrewballKomödien „Sex-Komödien ohne Sex" genannt (Andrew 1978). Capra entwickelte die Form der Andeutung zu absoluter Meisterschaft. In seinem Film 'It Happened One Night' (1934) beispielsweise, der Geschichte einer Millionärstochter, die von ihrem Vater reich verheiratet werden soll, sich aber auf ihrer Flucht davor in einem Autobus in einen Reporter verliebt, trennt das zunächst noch widerstrebende Paar, als es zu einer unfreiwilligen Nacht zusammen gezwungen wird, den Schlafraum neckisch durch eine aufgehängte Bettdecke. Capra verdankte seine Popularität beim Publikum nicht zuletzt dem Umstand, daß er immer wieder den amerikanischen Traum in Szene setzte. Filme wie das romantische Melodram 'Forbidden' (1932) oder 'Lady

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for a Day' (1933), die Geschichte einer Apfelverkäuferin, die mit Hilfe vieler Freunde für einen Tag vorgibt, zur reichen Gesellschaft zu gehören, um die Heirat ihrer Tochter mit einem wohlhabenden Mann nicht zu gefährden, als diese ihn ihrer Mutter vorstellen will, entlarven die Arroganz der Oberschicht, indem sie dagegen die optimistische Direktheit und die Lebensweisheit des normalen Menschen ausspielen. Der dem Alltag abgeschaute Wortwitz und die Situationskomik lassen dabei deutlich Einflüsse des Broadway-Theaters erkennen, von dem die meisten Drehbücher der neuen Filmkomödie kommen. So sind 'American Madness' (1932), 'Broadway Bill' (1934) oder 'You Can't Take It With You' (1938) in ihrer Mischung aus realistischer Darstellung der kleinen Dinge des alltäglichen Lebens und Mittelklasseträumen ein Appell an das alle Schwierigkeiten überwindende Gute im Menschen und die Kraft der Verständigung. In 'Mr. Deeds Goes to Town' (1936) wird die Aufrichtigkeit des Provinzlers gegen großstädtische Schlitzohrigkeit gestellt. 'Mr. Smith Goes to Washington' (1939) schildert den Kampf eines durch Zufall zum Senator gewordenen Idealisten (gespielt von Capras bevorzugtem Schauspieler James Stewart) gegen den seelenlosen politischen Apparat der Hauptstadt. Capras Protagonisten bleiben Abbild des einfachen Mannes auf der Straße, der leiden muß, aber dessen Humor ihm die Kraft gibt, für seine Uberzeugungen zu kämpfen. In den späten dreißiger und vierziger Jahren wurde das sozialkritische Element in Capras Filmen jedoch zunehmend konservativer und düsterer. 'Meet John Doe' (1941) beschreibt die Politik als Medientrubel, der Menschlichkeit kaum noch zuläßt, und in Capras wohl bekanntesten Film 'It's a Wonderful Life' (1946) zeigt ein Engel dem lebensmüden Helden, daß dessen Heimatstädtchen ohne sein Wirken von seinem profitgierigen Gegenspieler in einen Ort der Sünde und des Kommerzes mit Bars und Spielhöllen verwandelt worden wäre. Während des Zweiten Weltkriegs verließ Capra das komödiantische Fach ganz und drehte die propagandistisch getönte Kriegs-Serie 'Why We Fight' mit Dokumentationen wie 'Prelude to War' (1942), 'Battle of Britain' (1943) oder 'War Comes to America' (1945). Nach zunächst eher zögerlicher kritischer Beachtung zeichnet sich seit den achtziger Jahren eine Neubewertung der Filme Capras ab, die vor allem ihre populärkulturelle Funktion betont.

4.

Der Western in den dreißiger und vierziger Jahren (John Ford)

4.1. Die Wiedergeburt des Genres Das Genre des Western hatte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre seinen Tiefpunkt erreicht. Technische Pionierleistungen wie die Atlantiküberquerung Charles Lindberghs 1927, die Massenproduktion von Automobilen, die Urbanisierung mit ihren sozialen Folgen und, daraus resultierend, das Bewußtsein des Eintritts in die Moderne ließen die Figur des Cowboys anachronistisch erscheinen. Zudem mußte gerade der episch erzählende Western mit seiner Dynamik des Raums und der Bewegung zu Beginn des Tonfilms auf Schwierigkeiten stoßen, da das schwerfällige technische Gerät die Aufnahme von Originalton 'on location' nicht gestattete. Trotzdem gelang es 1929 Victor Fleming (1883-1949) mit dem Film 'The Virginian', einer Adaption des Erfolgsromans von Owen Wister, das Genre neu zu beleben, indem er Dialoge gegen Actionszenen montierte und so eine neue psychologische Dramaturgie des Western entwickelte. Ein Mann (gespielt von Gary Cooper, der mit dieser Rolle zum Prototyp des wortkargen Westernhelden wurde) kommt in eine Stadt und verliert seinen Freund an eine Bande von Viehdieben. Wenig später findet er sich als Führer eines Aufgebots wieder, das die Viehdiebe stellt, und muß zusehen, wie sein ehemaliger Freund gehängt wird. Auf der Suche nach dem Mann, der seinen Freund auf Abwege gebracht hatte, wird er selbst angeschossen, jedoch von der Dorflehrerin, die ihn liebt, gesund gepflegt. Als sein Opponent ihn zum Showdown fordert, versucht sie zwar ihn zurückzuhalten, er stellt sich jedoch und erschießt den Schurken. Fleming setzte dem äußeren Konflikt des Helden den inneren entgegen und schuf so den archetypischen Konflikt des klassischen Western: Verlust der Freundschaft und Gefährdung der Liebe stehen gegen die notwendige Tat, in der der Westernheld zu sich selbst findet und in der er, um das Böse zu vernichten, selbst nicht vollständig gut bleiben kann. 4.2. Mythische Landschaften: John Ford 1939 fand der Westernfilm mit 'Stagecoach' und John Ford (1895—1973) auch seine klassische visuelle Form und seinen größten Regisseur. Anhand einer Postkutschenfahrt wird die klassische Parabel der 'Höllenfahrt' aufgegriffen, während derer die Reisenden durch

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Sandsturn, Indianerangriff und Geburt eines Babys mit ihren Schwächen und Fehlern, insbesondere ihren sozialen Vorurteilen, konfrontiert werden (mit John Wayne in einer seiner ersten Rollen bei Ford). Seine Spannung entwickelt der Film aus dem Kontrast der mikrokosmischen Enge der Postkutsche zu der Weite der Landschaft um sie herum. In großartigen Totalen feierte Ford das Monument Valley in Utah als zeitlose Landschaft, in der sich das Drama der Menschen des amerikanischen Westens abspielt. Zum ersten Mal auch wird die Kamera selbst von ihrer Statik entbunden: während der wilden Jagd des Indianerangriffs bewegt sie sich in Halbtotalen und Großaufnahmen parallel zur Kutsche mit. Ford griff diese Rolle der Landschaft 1946 in 'My Darling Clementine' wieder auf, wobei er ihre archetypische Kraft um die Mythen ergänzte, die sich an ihren Bewohnern festmachen. Gegenstand des Filmes ist die berühmte Schießerei am OK-Corral zwischen dem Earp-Clan und der ClantonFamilie am 26. Oktober 1881. In der Figur des Wyatt Earp (dargestellt von Henry Fonda) brachte Ford den zentralen Konflikt des Westernfilms, den Konflikt zwischen Gesetz und Chaos, Zivilisation und Freiheit auf eine für das Genre beispielhafte Formel, die der Legende. Die vor dem Hintergrund einer ewigen Landschaft ins Mythische überhöhte Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft zieht sich auch durch Filme wie 'Three Godfathers' (1948) oder 'Wagonmasters' (1950) und seine sogenannte KavallerieTrilogie. In 'Fort Apache' (1948) geht es um den Konflikt von militärischer Disziplin und Ehre versus individueller Kompetenz, als ein neuer Kommandant ein Fort übernimmt und gegen die aufständischen Apachen unter Cochise kämpfen muß, in 'She Wore a Yellow Ribbon' (1949) nimmt ein Captain in einer letzten Heldentat Abschied von der Armee und 'Rio Grande' (1950) schildert die Liebe eines Kavallerie-Oberstleutnants zu seinen Leuten und seiner Frau, die er nicht gesehen hat, seitdem er als Nordstaatenoffizier den Befehl erhielt, ihre Plantage niederzubrennen. Stilbildend wurden diese Filme durch ihre geradlinige Erzählweise und Kameraführung, die aus den persönlichen Leidenschaften und Sehnsüchten der Protagonisten Chiffren eines größeren Geschehens machte, das sie nicht beeinflussen können. Zugleich deuteten sich in ihnen jedoch schon erste Verlustgefühle und Trauer über eine endgültig verschwundene Zeit an, indem die Rituale

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des Westens, die in den früheren Filmen Fords die Protagonisten mit der Gemeinschaft verschmolzen hatten, zwar noch immer eine tiefe persönliche Bedeutung haben, ihre kollektive Kraft aber bereits abnimmt. Dieser nostalgisch-sentimentale Patriotismus Fords stand in Einklang mit der Grundstimmung konservativer Teile der amerikanischen Bevölkerung, die auf den Zweiten Weltkrieg und die dadurch sich anbahnenden Umwälzungen mit dem Rückzug auf scheinbar bewährte Ideale wie Familiensinn, Vaterlandsliebe und persönliche Verantwortlichkeit reagierten. Sah man Ford so zunächst vor allem unter ideologischen Gesichtspunkten als großen Simplifikator und Missionar eines urkonservativen Amerika, betont die neuere Kritik vor allem die formalen Qualitäten seiner Filme, seine Grammatik der einfachen Gesten, die oftmals dialektisch auch das Gegenteil von dem einbezieht, was geschildert wird. 4.3. Der Edelwestern 1939, im gleichen Jahr, in dem John Fords 'Stagecoach' in die Kinos kam, erschien auch 'Dodge City' von Michael Curtiz (18881962). Feierte Ford in seinen Filmen die mythische Weite der westlichen Landschaft, zelebrierten die Western von Curtiz das Spektakuläre, Einzigartige des Lebens im Westen in dynamischen Einstellungen und actiongeladenen Szenen. Das große Schaustück von 'Dodge City' ist eine Saloonschlacht, bei der ein ganzes Etablissement zu Bruch geht und der Held seine Opponenten in die Schranken weist. Pioniere errichten eine Stadt, die Banken übernehmen die Spielhöllen und der Held muß sich als town tamer bewähren. Das ist das historische Thema des Western, das Curtiz aufnimmt und neu darzustellen versucht. Mehr als Ford noch war Curtiz Studioregisseur, so daß seine Filme weniger durch eine individuelle Handschrift als vielmehr durch den Einsatz spektakulärer, werbewirksamer Elemente gekennzeichnet sind. Warner Bros., bei denen er unter Vertrag stand, wollten mit ihren Western und Stars wie Eroi Flynn und Olivia de Havilland spektakuläre, flamboyante Filme als Markenzeichen entwickeln, um so von der Konkurrenz abzustechen. Entsprechend angelegt ist auch Curtiz nächster Film 'Santa Fe Trail' (1940), der im Armeemilieu spielt und ebenfalls de Havilland und Flynn in den Hauptrollen zeigt, nur daß hier die Historie in der Gestalt des Abolitionisten John Brown den Hinter-

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grund für die effektvolle Gestaltung von unerschütterlicher Kameradschaft, alter Feindschaft und stürmischer Liebe abgibt. 'Virginia City' (1940) erzählt von Verrat, Liebe und Ehre, als in Nevada ein Goldtransport für die Armee der Südstaaten überfallen wird und ein Nordstaatenoffizier dies vereitelt. Mit den für Warner gedrehten Filmen von Curtiz erreichte der Western endgültig seine klassiche Formenvielfalt von Mythos und Poesie, Pathos und Tradition, Flamboyanz und Moral, Ironie und Sex-Appeal.

5.

Das Studiosystem und der Producer-Director (Victor Fleming, Michael Curtiz, Howard Hawks)

5.1. Gangster, Märchen und Liebe vom Fließband: Victor Fleming, Michael Curtiz, Howard Hawks Die beiden Dekaden von 1930 bis 1949 waren das 'Goldene Zeitalter' des Studiosystems. Fünf 'Große' Filmgesellschaften (Loew's, Radio-Keith-Orpheum, 20th Century-Fox, Paramount, Warner Bros.) und drei 'Kleine' (Universal, Columbia, United Artists) kontrollierten fast die gesamte Herstellung, Verbreitung und Präsentation amerikanischer Filme innerhalb und außerhalb der USA. In den Produktionszentren dieser sogenannten acht 'Majors' an der Westküste hatten sich seit den zwanziger Jahren differenzierte, fabrikartige Produktionsroutinen herausgebildet, in denen Skripterstellung, Casting, Dreharbeiten und Schnitt voneinander unabhängig und mit eigener Budgetierung abliefen. Für die Regisseure bedeutete dies eine direkte Abhängigkeit von den Produzenten und eine weitgehende Auswechselbarkeit bei den Dreharbeiten. D a ß unter diesen Bedingungen trotzdem herausragende Filme entstehen konnten, zeigt das weitere Werk von Studioregisseuren wie Victor Fleming und Michael Curtiz. Charakteristisch für das Werk von Fleming, der vor allem für M G M arbeitete, ist die Verbindung von Abenteuer und Melodram. Nach seinem Erfolg mit 'The Virginian' drehte Fleming, der sich wie seine Kollegen Jack Conway, Henry Hathaway oder John Huston vor allem als Handwerker sah, 1932 'The Wet Parade', einen Film über die Übel des Alkohols nach einem Roman von Upton Sinclair, und 'Red Dust', die Geschichte einer Dreiecksbeziehung in Französisch Indochina, in der Clark Gable und Jean Harlow die Hauptrollen spielten und der we-

sentlich zum Aufstieg beider zu den führenden Sexsymbolen ihrer Zeit beitrug. Mit Gable sollte Fleming 1933 die Liebesgeschichte 'The White Sister', 1938 'Test Pilot', 1939 'Gone With the Wind' und schließlich 'Adventure' (1945) drehen, mit Jean Harlow die Screwball-Komödie 'Bombshell' (1933) und 'Reckless' (1935). M G M warb mit der Zahl der Stars, die sie unter Vertrag hatte, und so war das Kino von Fleming ein Kino der großen Namen der klassischen Zeit Hollywoods: Gable, Harlow, William Powell, Myrna Loy, Lionel Barrymore, Lana Turner, Hedy Lamarr, Spencer Tracy, Ingrid Bergman. Typisch für die Arbeitsweise der Studios wechselte Fleming dabei von einem Genre unvermittelt ins andere. Neben den Seeabenteuern 'Treasure Island' (1934) und 'Captains Courageous' (1937) entstanden der Horrorfilm 'Dr. Jekyll and Mr. Hyde' (1941) oder die Adaption von John Steinbecks Roman 'Tortilla Flat' (1942). Auch bei der Regiearbeit selbst kam es zu abrupten Wechseln. So führte Fleming bei seinen größten Erfolgen 'The Wizard of Oz' und 'Gone With the Wind' nicht allein Regie. An 'The Wizard of Oz' (1939) hatten schon Richard Thorpe und George Cukor gearbeitet, bevor Fleming die Regie übernahm, und King Vidor stellte den Film fertig. Die berühmte Geschichte des Mädchens Dorothy, das auf der Suche nach ihrem Hund in ein verzaubertes Land kommt und dort wundersame Abenteuer und einen Kampf mit der bösen „Hexe des Ostens" zu bestehen hat, war Flemings erster Farbfilm und wird von der Kritik bis heute für seine ökonomische Erzählweise, seinen unpathetischen Farbeinsatz und die exzellente Strukturierung der Aktionsräume durch Kamerafahrten und Kranaufnahmen gelobt. Es ist eine der Ironien der Filmgeschichte, daß Fleming seinen berühmtesten Film 'Gone With the Wind' (zu dem er als Ersatz für Cukor kam und nach Spannungen mit der Hauptdarstellerin Vivien Leigh und dem Produzenten David Selznick zwischenzeitlich durch Sam Wood und ein Regieteam ersetzt wurde) selbst zunächst kommerziell als Fehlschlag einschätzte. Auch das Bürgerkriegsdrama der unglücklichen Liebe des Colonel Rhett Butler zur Südstaatenschönheit Scarlett O'Hara brillierte mit ungewöhnlichen, schwebenden Kranfahrten, die der Kamera eine omnipotent wirkende Leichtigkeit verliehen, und präzisem Einsatz der Möglichkeiten der Technicolor-Farben. Es war eine Opulenz visueller Präsentation bis hin zum Schwülsti-

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gen, wie sie Hollywood nicht wieder erreichen sollte, und die bis heute als unübertroffen gilt. Auch im Werk von Michael Curtiz für Warner Brothers sind alle Genres vertreten: Western, Gangster-, Abenteuer-, Horrorfilme und Melodramen. 1932 drehte Curtiz, der von der europäischen Filmtradition mit ihrer expressiven Lichtsetzung und Kameraführung kam, seinen ersten Gangsterfilm 'The Strange Love of Molly Lovain'. 1933 folgte '20000 Years in Sing Sing', 1937 'Kid Galahad' und 1938 'Angels With Dirty Faces', in dem ein Priester eine Jugendbande vor der Kriminalität retten will, aber erst die Angst eines von ihnen bewunderten Gangsters (gespielt von James Cagney) vor dem elektrischen Stuhl sie umstimmt. Visuell von der Helldunkelmalerei des 'Film noir' geprägt, waren diese Filme mit ihrem moralischen Unterton für ihr Genre erstaunlich melodramatisch aufgebaut. Mit 'Captain Blood' (1935), 'The Sea Hawk' (1942) und dem Technicolor-Film 'The Adventures of Robin Hood' (1938) schuf Curtiz für Warner Bros. Musterbeispiele des Mantel- und DegenFilms, die ihre Spannung visuell aus den dynamischen Bildkompositionen der ActionSzenen und den sorgfaltig kadrierten Großaufnahmen der Liebesszenen entwickelten und durch ihre prächtige Ausstattung auffielen. Gleichzeitig etablierten sie die Hauptdarsteller Errol Flynn und Olivia de Havilland als Publikumslieblinge und Leinwandtraumpaar der Zeit. Seinen größten Erfolg hatte Curtiz jedoch mit einem für sein Genre eher mittelmäßigen Spionagefilm, der zunächst als Propagandafilm gegen Nazideutschland konzipiert war: 'Casablanca' (1942/43). Der Erfolg dieses Films verdankt sich paradoxerweise nicht zuletzt den verworrenen Umständen seiner Produktion. Da die Endfassung erst während der Dreharbeiten entstand, erhielt der Film eine eigenartig schwebende Qualität, die später wesentlich zur positiven Rezeption und seinem heutigen Kultfilmstatus beitrug. 'Casablanca' kam im November 1942 in die Kinos, wurde jedoch nach wenigen Wochen wieder abgesetzt. Erst nach der Nominierung von Casablanca als Ort des britisch-amerikanischen Gipfeltreffens zwischen Churchill und Roosevelt im Frühjahr 1943 gab Warner den Film erneut in die Auswertung und dieses Mal wurde er ein Sensationserfolg. Neben den reinen Studioregisseuren gab es Regisseure, die zusätzlich Filme in eigener Produzentenverantwortung realisierten. Hier

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kann Howard Hawks (1896-1977) als typisch gelten, der 1930/32 mit 'Scarface', der soziologisch-psychologischen Studie eines Gangsters, das Genre des Gansterfilms eröffnete. Als Grundlage diente ihm eine freie Interpretation des Lebens von Al Capone, die Howard Hughes bereits 1928 bei dem Journalisten Ben Hecht den Auftrag gegeben hatte. Bahnbrechend wurde die Lichtsetzung, die die Helldunkelmalerei des 'Film noir' vorwegnahm und die Montage von Verfolgungsszenen und Bandenkämpfen, in denen asynchroner Ton und symbolische Bilder auf maximale Wirkung hin eingesetzt wurden. In dem Aufstieg und Fall des Tony Camonte fand Hawks zudem eine glaubwürdige Formel, die, vielfaltig variiert, zum Grundschema des Gansterfilms wurde. Außer 'Scarface' realisierte Hawks noch drei weitere Kriminalfilme, 'The Criminal Code' (1931), 'To Have and Have Not' (1944) nach dem Roman von Ernest Hemingway und 'The Big Sleep' (1946), wobei ihm mit Letzterem ein weiterer Klassiker gelang, dessen Ikonographie des Schattenhaften, labyrinthisch Morbiden die psychische Befindlichkeit des modernen Großstadtmenschen prägnant wiederspiegelte und den Film so eines der Vorbilder des 'Film noir' werden ließ. Die Faszination durch die aggressive Seite des Menschen zieht sich auch durch 'The Dawn Patrol' (1930), 'Today We Live' (1933), 'Barbary Coast' (1935), 'The Road to Glory' (1936) und die Kriegswerke 'Sergeant York' (1941) und 'Air Force' (1943). Gemeinsam ist diesen Filmen, daß sie von Männern handeln, die ungeachtet aller Schwierigkeiten mit höchster Professionalität ihrer Aufgabe nachgehen. Die Kritik hat oft betont, daß die Helden von Hawks sich in einem feindseligen Universum bewegen, das auf eine grundsätzliche Absurdität und Sinnleere menschlicher Existenz verweise und der die Protagonisten pure physische Aktion entgegensetzen. Rolf Thissen hat jedoch in jüngster Zeit darauf hingewiesen, daß Hawks Helden nur untergehen, wenn sie erstarrt und nicht mehr lernfahig sind und darum an gesellschaftlichen Konventionen oder ihren persönlichen Problemen scheitern (Thissen 1987). Die gleiche unsentimentale Haltung kennzeichnet auch Hawks Western. Nachdem er 1943 halbherzig an Howard Hughes 'The Outlaw' mitgewirkt hatte (ein Film, der vor allem durch die Ausbeutung der erotischen Qualitäten seiner Hauptdarstellerin Jane Russell von sich reden machte) realisierte er 1948 für United Artists 'Red Ri-

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ver', der als einer der herausragendsten Filme des Genres gilt. Um die Schilderung der Strapazen des ersten Viehtriebes über den legendären Chisholm Trail herum angelegt, thematisiert der Film in der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn (gespielt von John Wayne und Montgomery Clift) beispielhaft den komplexen psychologischen Konflikt zwischen den autokratischen Führungsfiguren der Frühzeit des Westens und dem notwendigen Prozeß ihrer Zivilisierung — der in 'Red River' auch ein Prozeß der Humanisierung ist, wenn schließlich am Schluß eine Frau den beiden Kampfhähnen die Lächerlichkeit ihres Verhaltens zeigt. Hawks natürliches Gespür für Satire und absurde Situationen machte sich in verschiedenen Komödien fest, die er für Columbia, RKO, Samuel Goldwyn und Solomon Siegels T C F drehte. Schon in 'Twentieth Century' (1934), der im Theatermilieu spielt, deutete sich dabei eine Vorliebe an, soziale und sexuelle Normen und Dogmen spielerisch zu demontieren, besonders, wenn er die weiblichen Hauptdarsteller das Heft in die Hand nehmen ließ wie Katherine Hepburn als Susan Vance in 'Bringing up Baby' (1938) oder eheliche Verwicklungen schilderte wie in 'His Girl Friday' (1940), in dem es um den Versuch eines Journalisten geht, seine erfolgreiche Frau zurückzugewinnen. Ihre Komik beziehen diese Komödien nicht zuletzt aus der Tatsache, daß es hier die Männer sind, die bloßgestellt werden. Wie in seinen Krimis und Western war das Kino des Howard Hawks auch in seinen Komödien ein Kino der Stars, von Cary Grant, Barbara Stanwyck, Gary Cooper, bis hin zu Marylin Monroe und Jane Rüssel in 'Gentlemen Prefer Blondes' (1953).

6.

Der Regisseur als Auteur (Alfred Hitchcock, Orson Welles)

6.1. Die Thriller von Alfred Hitchcock Bei aller Schwerfälligkeit war das Studiosystem immer flexibel genug, um eigenwillige Talente zu fördern, nachdem sie eine gewisse Anziehungskraft bewiesen hatten. Als der Brite Alfred Hitchcock (1899-1980) nach Los Angeles kam, ging ihm der Ruf eines detailbesessenen Thriller-Regisseurs voraus, der vor allem durch unerwartete Spannungs- und Überraschungsmomente zu fesseln wußte. Hitchcocks erster amerikanischer Film 'Rebecca' (1939), die Geschichte der jungen Mrs. de Winter, die auf dem Landsitz ihres Gatten den Schatten der Vergangenheit in Gestalt

seiner verstorbenen ersten Frau begegnet, spielt so mit dem psychologischen Motiv des Zweifels, der sich erst durch eine unerwartete Wendung auflöst. Auch in seinem zweiten Film 'Foreign Correspondent' (1940) setzte Hitchcock ein Element ein, das bereits in seinen englischen Filmen vorkam, die visuelle Umsetzung einer Bedrohung, die aus der scheinbar sicheren Normalität und Anonymität kommt. In dem Spionagethriller wird ein Mann auf einer Freitreppe erschossen und der Täter kann unerkannt unter den aufgespannten Regenschirmen der Menge verschwinden. Umgekehrt wird in 'Saboteur' (1942) ein unschuldig Verfolgter um so isolierter sein, je mehr er von Menschen umgeben ist. Nur eine Frau, die er zufällig kennengelernt hat, glaubt an ihn. In dem letzten seiner Spionagefilme 'Notorious' (1946), in dem ein amerikanischer Agent (Cary Grant) sich in die Tochter eines in den USA inhaftierten Nazi-Spions verliebt (Ingrid Bergman) und sie überredet für ihn als Informantin aus dem Haus des Nazi-Agentenführers in Rio de Janeiro zu arbeiten, dehnt Hitchcock dieses Motiv auf die gesamte Sphäre sozialer Kontakte aus. Das Verwirrspiel der Agenten ist dabei nur eine besonders groteske und gefährliche Abart der Spiele der Gesellschaft allgemein. In Hitchcocks Filmen Anfang der vierziger Jahre kann alles, was Schutz gibt, auch das Böse beherbergen, oft dargestellt als Moment der Doppelung, als Kampf von Licht und Schatten in den Seelen der Protagonisten, und im Helldunkelstil des 'Film noir' fotografiert. Der Heldin von 'Suspicion' (1941) drängt sich der schreckliche Verdacht auf, daß ihr frischangeheirateter Mann sie vergiften will, und in 'Shadow of a Doubt' (1942) kommt eine junge Frau in einer Kleinstadt zu der Überzeugung, daß ihr plötzlich aufgetauchter Onkel ein gesuchter Mörder ist. Parallel dazu hatte Hitchcock begonnen, sich für die Psychoanalyse zu interessieren. 'Spellbound' (1944), die Geschichte einer Psychoanalytikerin, die sich in einen Mordzeugen verliebt, der sich aus Schuldgefühlen zunächst mit dem Opfer identifiziert und dann selbst für den Mörder hält, versucht psychische Konflikte wie tiefsitzende Schuldgefühle mit der Sehnsucht nach Liebe zu konfrontieren und visuell umzusetzen. Das Publikum nahm Hitchcocks Filme jedoch, ganz im Gegensatz zu der späteren enthusiastischen Rezeption, gespalten auf. Als sein nächster Film 'The Paradine Case' (1948) ohne Erfolg blieb, gaben er und sein Produ-

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zent David O. Selznick sich gegenseitig die Schuld und Hitchcock gründete für seinen ersten Farbfilm 'The Rope' (1948) seine eigene Firma. Zwei Philosophie-Studenten ermorden einen Kommilitonen, verstecken die Leiche in einer Truhe, auf der dann für eine Party angerichtet wird, und führen daneben Gespräche über Mord als vollendete Kunst. Trotz des makabren Humors markierte der Film, der in einer durchgehenden Mise-enscène gedreht ist, die künstlerische Krise Hitchcocks, der Ende der vierziger Jahre nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchte. Erst zwei Jahre später sollte er mit 'Strangers on a Train' (1950), einer Adaption von Patricia Highsmiths Geschichte einer zufälligen Begegnung im Zug, aus der heraus ein Mord geplant wird, jene Mischung aus schwarzem Homor, Suspense und kalkulierter visueller Symbolik entwickeln, die seine Filme der nächsten Dekade wie 'Rear Window' (1953), 'Dial " M " for Murder' (1953), 'Vertigo' (1957), 'North by Northwest' (1958), 'Psycho' (1960) oder 'The Birds' (1962) kennzeichnete. Nachdem bis in die siebziger Jahre vor allem die Filme dieser zweiten Schaffensperiode im Zentrum des kritischen Interesses standen, ist in der Nachhut der feministischen Kritik an den misogynen Zügen Hitchcocks und der Wiederaufführung einiger lange gesperrter Filme in den achtziger Jahren ein verstärktes diskursanalytisches Interesse auch an seinen frühen amerikanischen Filmen zu beobachten. 6.2. Orson Welles Der wohl bekannteste Auteur der klassischen Zeit, so man diesen filmkritischen Begriff der fünfziger Jahre auf die davorliegenden Perioden anwenden mag, war jedoch Orson Welles (1915-1985). Als Wunderkind gefeiert, hatte sich Welles schon als Regisseur am Broadway einen Namen gemacht und zahlreiche Radiohörspiele für CBS produziert, darunter 1938 'The War of the Worlds', das eine Panik auslöste, da zahlreiche Zuhörer den Bericht von einer Marsmenscheninvasion für wahr hielten. Welles erster Film 'Citizen Kane' (1941) erreichte eine künstlerische Komplexität, wie es sie vorher noch nicht gegeben hatte. In der Geschichte vom Aufstieg und Fall des Pressezaren Charles Foster Kane werden Fragen nach der Macht der Medien und ihrer Funktion in einer demokratischen Gesellschaft aufgeworfen und mit der psychologischen Analyse der Hauptfigur verknüpft, wobei sich deren Lebensbild im

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Nachhinein aus der Verbindung von filmischem Traum, dokumentarischem Bericht und lebensgeschichtlichem Rekonstruktionsversuch ergibt. Wegweisend wurde der Film durch die Kameraarbeit und seine multiperspektivische Erzählweise, die Ellipsen, Zeitraffungen in Uberblendungssequenzen und entscheidende Szenen im Leben Kanes gegeneinanderstellt. Neben ungewöhnlichen Kameraperspektiven, die die emotionale Aussage der Szenen unterstützten, setzte Welles in 'Citizen Kane' erstmals konsequent das Mittel der 'inneren Montage' ein, indem er neuentwickelte Weitwinkelobjektive einsetzte, die durch ihre große Tiefenschärfe die Gestaltungsmöglichkeiten des Bildraums als Bedeutungsträger erweiterten. Vor allem dieser manirierte Einsatz der filmsprachlichen Mittel machte 'Citizen Kane' nach Kriegsende in Europa berühmt und führte zu seiner teilweise hymnischen kritischen Rezeption. Auch Welles nächster Film 'The Magnificent Ambersons' (1942) wies diese Opulenz der Kamerarbeit auf. Der Film stellt die Geschichte des allmählichen Zerfalls einer Landadelsfamilie, die der neuen Zeit weichen muß, an den Schicksalen von sieben Personen dar, wobei der Kommentar (gesprochen von Welles selbst und eine Neuigkeit im Tonfilm) der Filmhandlung eine eigenwillige, melancholische Nachdenklichkeit verlieh. Schon in 'Citizen Kane' hatte bei aller Kritik an der Leere und Vulgarität des Lebens der amerikanischen Oberschicht ein Bedauern über den Verlust eines vorindustriellen Lebensstils mitgeschwungen. In 'The Mangificent Ambersons' verstärkt sich diese Tendenz noch. Allerdings wies der Film Umstimmigkeiten in dramaturgischer Umsetzung und Rhythmus der Erzählung auf und ist von einer eigenartigen Ambivalenz durchzogen, da er teilweise unentschlossen zwischen der Sozialkritik der Romanvorlage, elegischer Nostalgie und intellektueller Distanziertheit hin- und herschwankt. Dies ist jedoch nur zum Teil Welles selbst anzulasten. 'Citizen Kane' war in der Auswertung in den Kinos nur mäßig erfolgreich gewesen. Mit entsprechendem Mißtrauen hatte man bei R K O Welles weitere Arbeit beobachtet und sich nach einer ungünstig verlaufenen Vorabaufführung entschlossen, Welles die Fertigstellung aus der Hand zu nehmen und den Film in einer erheblich gekürzten und veränderten Fassung in die Kinos zu bringen. Sein nächster Film 'Journey into Fear' (1943), zu dem er das Drehbuch verfaßt hatte und den er zusammen mit

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

Norman Foster realisieren sollte, wurde ebenfalls ohne seine Beteiligung fertiggestellt und der Episodenfilm 'It's All True', für den er bereits in Brasilien und Mexiko gedreht hatte, wurde ganz gestrichen. Erst 1946 kehrte Welles mit dem Film 'The Stranger' zur Regiearbeit zurück. Der Film erzählt die Geschichte eines Nazis, dem es bei Kriegsende gelingt, aus Deutschland zu fliehen und über Argentinien und Mexiko schließlich in einem kleinen Universitätsstädtchen in Connecticut unterzutauchen. Formal eher konventionell wurde 'The Stranger' der einzige von Welles Filmen, der auch kommerziell erfolgreich war. Dies gab Welles 1947 Gelegenheit 'The Lady from Shanghai' zu realisieren. Er erzählt darin das Schicksal eines jungen Mannes, der sich in die verführerische Frau eines Millionärs (gespielt von Welles damaliger Ehefrau Rita Hayworth) verliebt und ihr zuliebe ein falsches Mordgeständnis unterschreibt. Kontrapunktisch setzte Welles in dem Film die sinnliche Atmosphäre der Tropen gegen eine Handlung, die voller verwirrender Wendungen ist. Wie auch die anderen Filme von Welles bezieht 'The Lady from Shanghai' seine Dynamik aus der Spannung zwischen dem Luxuriösen, den sinnlichen Freuden des Lebens, und der gleichzeitigen Faszination durch Korruption, Zerstörung und Verfall, die hinter der glänzenden Oberfläche lauern. Berühmt geworden ist die Schlußszene in einem Spiegelkabinett, in der es zwischen dem Paar zu einer für beide tödlichen Schießerei kommt. Die Kritik hat von Welles erst relativ spät Kenntnis genommen. Nachdem infolge der einflußreichen Studie von André Bazin (Bazin 1958) zunächst die formale Qualität seiner Filme hervorgehoben wurde, gilt Welles, der in fast allen seinen Filmen die Hauptrolle übernahm, heute mit der düsteren, zynischen Atmosphäre dieser frühen Filme, die die Abgründe der menschlichen Psyche hinter der glänzenden Fassade zeigen, als einer der Wegbereiter der Filmbewegung des 'Film noir', dem er wesentliche Impulse gab, ohne selbst der Bewegung anzugehören.

7.

Der Aufstieg des Zeichentrickfilms (Walt Disney)

Als sich in Hollywood die Wende vom Stumm- zum Tonfilm anbahnte, waren es nicht die großen Regisseure wie D. W. Griffith, oder Cecil Β. DeMille, die die neue Tech-

nik begeistert aufnahmen. Als Walt Disney (1901 — 1966) von der Produktionsreife des Tons erfuhr, ließ er in höchster Eile seinen dritten Mickey Mouse-Film, den sein Zeichner Ub I werks gerade fertiggestellt hatte, vertonen. Die Kritik überschlug sich bei der Uraufführung von 'Steamboat Willie' am 18. November 1929 vor Lob. Die Idee, Glauben zu machen, daß Zeichentrickfiguren sprechen, singen, Instrumente spielen und sich nach einem musikalischen Rhythmus bewegen konnten, eine Idee, die Disney in seinem nächsten Film 'Skeleton Dance' und der sich daran anschließenden 'Silly Symphonies'-Serie ausbaute, wurde als bahnbrechend empfunden. Innerhalb weniger Jahre wurden Mickey Mouse und die von den Disney Zeichnern hinzugefügten Figuren wie Minnie Mouse, Horace Horsecollar oder Clarabelle Cow (die Figur des Enterichs Donald Duck sowie Pluto und Goofy, die schließlich Mikkey Mouse an Popularität noch übertreffen sollten, kamen erst ab 1934 dazu) zu selbstverständlichen Bestandteilen der amerikanischen Populärkultur. Mit ständigen organisatorischen und technischen Verbesserungen des Herstellungsablaufs (wie ζ. B. der Einführung des Storyboards, das einen ständigen Überblick über Dramaturgie, Stand der Planung, Entwicklung neuer Ideen gestattete) gelang es Disney, der selbst eher kreatives Zentrum der Firma als Zeichner war, seine Filme zu den künstlerisch und zeichnerisch besten Produkten der frühen dreißiger Jahre zu machen. Schon 1932 produzierte er seinen ersten farbigen Kurzfilm 'Flowers and Trees'. In den Folgefilmen wie 'Three Little Pigs' (1933), 'The Grasshopper and the Ants' (1934), 'The Tortoise and the Hare' (1935) oder 'The Band Concert' (1935) konzentrierte sich Disney neben dem Einsatz von Farbe als Stimmungsmittel vor allem auf die Verfeinerung der Bewegungen seiner Zeichentrickfiguren, um ihnen noch größere Individualität zu verleihen. Disneys durchbrechendster Erfolg kam mit der sogenannten Multiplan-Kamera, die es erlaubte, durch mehrere voneinander unabhängig bewegte Lagen von Zeichnungen auf Zelluloid zugleich hindurchzublicken und so die Illusion von Bewegung in Tiefe und Raum zu erzeugen. 1937 entstand mit dieser Technik Disneys erster abendfüllender Film 'Snow White and the Seven Dwarfs'. Die Umsetzung des Grimmschen Märchens stellte den Zeichentrickfilm qualitativ endgültig neben den Spielfilm und lockte bereits im ersten Anlauf mehr als 20

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110. Der klassische Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre

Millionen Zuschauer in die Kinos. Ein Jahr später folgte Disneys nächster abendfüllender Film, 'Pinocchio'. Disneys Bemühungen, Filmrhythmus, Musik, Bewegungen der Figuren und eine unbeschwerte Welt der Phantasie zusammenzubringen, kulminierten schließlich 1940 in dem Film 'Fantasia'. Der Film verwandelte klassische Musikstücke von Bach, Tschaikowsky, Ponchielli und Strawinsky in von Zeichentrickfiguren getanzte Darstellungen. Dramaturgie und Tempo des Films wurden dabei allein von der Dynamik der Gags, der Choreographie und der Musik bestimmt. Obwohl 'Fantasia' das gesamte technische Können und die Erzählkunst der Disney-Studios auf den Punkt brachte, fiel er bei Kritik und Publikum durch (Erst bei seiner Wiederaufführung 1962 sollte der Film Erfolg haben). Die letzten abendfüllenden Spielfilme Disneys, die trotz Krieg, Streik und anderer Probleme in die Kinos gelangten, waren 'Durnbo' (1941) und 'Barnbi' (1942). Als herausragende Sequenz gilt in 'Dumbo' 'Pink Elephants on Parade', die die Visionen des kleinen Elefanten zeigt, nachdem er ein Bekken voller Sekt leergetrunken hat, indem sie noch einmal die ganzen Gestaltungsmöglichkeiten des Zeichentrickfilms zur Wirkung kommen ließ. 'Bambi', nach der Geschichte von Felix Saiten, bestach dagegen vor allem durch seinen Naturalistismus. Die witzige Karikatur, Übertreibung oder Stilisierung, sonst Kennzeichen der Disney-Produktionen, wurde hier nur zurückhaltend eingesetzt, um Typisches zu betonen. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und die ständig steigenden Produktionskosten ließen 'Bambi' den letzten abendfüllenden Film Disneys werden und machten zunehmend auch die Produktion der Kurzfilme schwieriger (1955 wurde die Kurzfilm herstell ung eingestellt). Zwar sollte es den Disney-Studios in den fünfziger und sechziger Jahren mit Filmen wie 'Cinderella' (1950), 'Peter Pan' (1953), 'Lady and the Tramp' (1955), 'Sleeping Beauty' (1959) und '101 Dalmatians' (1961) wieder gelingen, kommerziell an die großen Erfolge der Vorkriegszeit anknüpfen, diese Filme waren ästhetisch jedoch bei weitem nicht so ambitioniert wie die Vorkriegsproduktionen.

8.

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111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni)

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111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Einleitung Die vierziger Jahre Neorealismus Roberto Rossellini Cesare Zavattini und Vittorio De Sica Luchino Visconti Nachfolger Giuseppe De Santis Michelangelo Antonioni und Federico Fellini Schluß Literatur

1.

Einleitung

Der Neorealismus im italienischen Kino kann von zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten her analysiert werden, die zwar getrennt, aber dennoch in ihrer historischen und theoretischen Entwicklung verbunden sind. Einerseits gab es einen Befreiungsprozeß von den alten Schemata des faschistischen Kinos, und allgemein von den Modellen des Glamourkinos, die sich im Laufe des Tonfilms durchgesetzt hatten; andererseits brachte dieser Befreiungsprozeß auf theoretischer Ebene neue filmsprachliche Ausdrucksweisen und Formen hervor, welche die alten und festverwurzelten Ästhetikmaßstäbe, nach denen sich das Kino — und die Filmwissenschaft — gerichtet hatten, in eine Krise führten.

2.

Die vierziger Jahre

Zur Zeit des Faschismus und während des Zweiten Weltkriegs hatte sich das Kino entlang zweier Grundlinien entwickelt: es gab das nicht-ideologische, mit Glamour erfüllte Konsumprodukt zur Unterhaltung sowie das sich auf die faschistische Ideologie berufende Produkt mit mehr oder weniger deutlichen Propagandaabsichten. Im einen wie im anderen Fall blieben die Filme weit entfernt von einer realistischen Darstellung der Tatsachen, da sie von der italienischen Gesellschaft der Zeit ein schmeichelhaftes und im wesentlichen falsches Bild wiedergaben. Gegen diese Verfälschung wandten sich, wenn auch durch die von der Zensur auferlegten Grenzen in noch unsicherer Weise, einige der jungen Intellektuellen, Schriftsteller und Regisseure, die sich auf die realistische Tradition der italienischen Literatur des ausgehenden neun-

zehnten Jahrhunderts (besonders auf den Schriftsteller Giovanni Verga) beriefen, um aus dem Kino ein Erkenntnisinstrument zu machen, und es für Beschreibung und Kommentierung der alltäglichen Realität einzusetzen, welche sich in jenem historischen Moment dramatisch darbot. Als Ergebnis dieser inhaltlichen und formalen Erneuerungsarbeit entwicktelten sie in der Tat ein neues Programm für den Film, welches sich dadurch vom alten abhob, daß es Filmateliers weitgehend ablehnte, naturgetreue Außenaufnahmen bevorzugte, häufig Laienschauspieler einsetzte und Gegenstände und Themen aufgriff, die das faschistische Kino üblicherweise vernachlässigte. Dieses neue Asthetikmodell wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer richtiggehenden nationalen 'Schule', die sich international durchsetzte. Die G r ü n d e hierfür lagen in der dramatischen Wirkung der Filme und insbesondere in der neuen, nicht mehr von der bisherigen Filmtradition abhängigen Filmsprache, welche, offen für die Einflüsse der Realität, 'im Moment eingefangen' schien — so, als ob sich die Vorgänge und Situationen direkt der Filmkamera gezeigt hätten. Diese stufenweise Revolution begann in den Anfangsjahren des Krieges mit den Kriegsfilmen von Francesco De Robertis ('Uomini sul fondo', 'Alfa Tau') und Roberto Rosellini ('La nave bianca', 'Un pilota ritorna', 'L'Uomo dalla croce'), mit einem Film von Alessandro Blasetti ('Quattro passi fra le nuvole') und einem von Vittorio D e Sica ( Ί bambini ci guardano'), aber insbesondere mit der kulturellen Auseinandersetzung von 'Cinema', einer Zeitschrift in jenen Jahren eine 'Verjüngungskampagne' des italienischen Kinos führte, indem sie sich an den Realismus Vergas und an den der französischen und sowjetischen Filme anlehnte, und die Realisierung des Films 'Ossessione' (1942) und Luchino Visconti förderte, der als programmatisches Manifest der Gruppe zu betrachten ist.

3.

Neorealismus

Aus diesen theoretischen Voraussetzungen und deren filmischen Umsetzungen heraus entstand in der Nachkriegszeit in einem vom Hunger ausgezehrten Land unter Wirtschaft-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

lieh und sozial äußerst prekären und dramatischen Bedingungen mit Schwierigkeiten aller Art das, was man später als 'Neorealismus' bezeichnet. Dieser allgemeine Begriff, welcher von Kritik und internationalen Publikum aufgegriffen wurde, trug dazu bei, die Unterschiede zwischen den jeweiligen Autoren beziehungsweise den jeweiligen Filmen zu verringern, indem er als ein für jeden Zweck brauchbare Etikett fungierte. Wenn man das neorealistische Phänomen aus historischer Sicht betrachtet, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Regisseuren auffälliger als die Ähnlichkeiten, auch wenn im Grunde ein gemeinsames Klima die verschiedenen Werke durchzieht: das moralische und materielle Klima einer Nation, welche wieder aufblühen will und keine Angst hat, die eigenen Wunden zu zeigen, sondern gerade durch Beobachtung und Zurschaustellung jener Wunden die Kraft für einen Neuanfang findet. Von diesem Blickwinkel aus sind die neorealistischen Filme auch der Spiegel eins Volkes und dessen Lebens- und Denkweise gewesen, und können deshalb von den zeitgenössischen Historikern als wichtige und signifikante Dokumente zur kritischen Rekonstruktion eines bestimmten historischen Zeitpunkts untersucht werden.

4.

R o b e r t o Rossellini

Unter den wichtigsten und bedeutendsten Filmemachern des italienischen Realismus nimmt Roberto Rossellini (1906—1977) sicherlich einen herausragenden Platz ein. Mehr noch, ihm, beziehungsweise seinen ersten, nach dem Krieg gedrehten Filmen 'Roma città aperta' und 'Paisà', verdankt man die internationale Bekanntheit der Bewegung und die Definition von Neorealismus als neuer Schule des Kinos. Es war in der Tat der Erfolg von 'Roma città aperta', der sich zuerst in Frankreich und zum Teil in Italien und dann im Rest der Welt verzeichnen ließ, welcher eine kritische Debatte über die neuen Perspektiven des realistischen Kinos, die Überwindung traditioneller Modelle, sowie über die Macht der Bildsprache eröffnete, einer Sprache, von der es schien, als zerstöre sie gerade jenes Konzept von Prunk, Pracht und 'Leinwandfiktion'. Die Filme Rossellinis waren jedoch keineswegs etwas gänzlich Neues, denn nicht wenige Erzähl- und Darstellungselemente griffen auf die Tradition zurück. Was jedoch damals und in der Folge-

zeit beeindruckte, war der bis dahin nie dagewesene Stil, jener Blick auf die Wirklichkeit, der spontan, authentisch und fern von jeder spielerischen Absicht zu sein schien. Es war, als ob die Geschichte einiger römischer Bürger, und mehr noch, die einer ganzen Stadt, unter Nazibesetzung zwischen Faschismus und 'Resistenza' auf der Leinwand in Ausdrucksweisen und Formen wieder auflebte, welche die Erzählung als solche ausschlossen und die distanzierte Beobachtung bevorzugten; als ob die Geschehnisse an und für sich schon so dramatisch wären, daß sie ihre eigene filmische Darstellung übertreffen. In diesem Sinne griff die neue Sprache Rossellinis, welche in 'Paisà' und 'Germania anno zero' noch deutlicher hervortritt, auf das Wesentliche des ursprünglichen Kinos als reiner Registrierung der Realität zurück, und sein Stil schien sich hinter der Objektivität der Aufnahme zu verbergen. Beim genaueren Hinsehen war jedoch dieses Unternehmen, das man als stilistische 'Reinigung' bezeichnen kann, das Resultat einer sowohl ethischen als auch ästhetischen Wahl, und noch vor der künstlerischen das einer moralischen Haltung, aus der heraus der Film (dessen Sprache und Technik Rossellini sehr gut kannte) das beste Instrument zur Erfassung der Wirklichkeit sein mußte. Diese Poetik Rossellinis, die an den damaligen historischen Moment gebunden und eng mit der Tragik der in seinen Filmen erzählten Geschichten verknüpft zu sein schien, bestätigte sich auf interessante Weise in den folgenden Werken, in welchen er nicht nur die Kriegs- und Nachkriegssituation aufgriff, sondern auch individuelle Fälle und Ereignisse sowie Probleme und Themen unterschiedlicher Dramatik. Diese Filme bestätigen, daß die 'Armut' seines Stils nicht aus einem Mangel an technischen oder finanziellen Mitteln oder aus der Bedenklichkeit des historischen Augenblicks resultiert, sondern aus einer bewußten Wahl der Formen. Von diesem Gesichtspunkt aus exemplarisch sind die zwischen 1949 und 1959 gedrehten Filme 'Stromboli, terra di Dio' und 'Francesco, giullare di Dio', in denen sich der Blick Rossellinis auf voneinander völlig verschiedene Wirklichkeiten legt, die aber doch hinsichtlich ihrer Grundideen von 'Armut des Geistes', 'Einfachheit des Herzens' und 'Authentizität des Lebens' vereinbar sind, bei welchen es sich im übrigen um in Zukunft ständig wiederkehrende Themen der Poetik Rossellinis handelt. Ebenfalls exemplarisch sind

111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni)

'Europa '51 'Viaggio in Italia' und der umfangreiche Dokumentarfilm 'India', die alle zwischen 1951 und 1957 gedreht wurden, also zu einem Zeitpunkt, als der Ruhm des Regisseurs geschwunden war, sein Werk aber insbesondere in Frankreich mit großem Interesse untersucht wurde, um für die jungen Regisseure der 'Nouvelle Vague' (Truffaut, Rivette, Godard etc.) ein Vorbild zu werden. Diese Theorie und Praxis des Neorealismus als Methode zur Erkenntnis und Analyse des Realen wurde von Rossellini auch im folgenden, das heißt, in den sechziger und siebziger Jahren, weiterentwickelt, und dies vor allem, wenn er das Kino zugunsten des Fernsehens verläßt. Eine Reihe von Fernsehfilmen, unter denen 'La prise de pouvoir par Louis XIV' (1966) hervorsticht, bestätigt seine strenge Ausrichtung.

5.

Cesare Zavattini und Vittorio De Sica

Eine ähnliche Haltung in Bezug auf die Notwendigkeit, das Kino als Analyse- und Dokumentationsinstrument der Realität zu nutzen, aber von anderen Aspekten her zutiefst unterschiedlich in den ideologischen Voraussetzungen und den erzielten künstlerischen Ergebnissen, läßt sich dem Werk von Cesare Zavattini (1902-1989) und Vittorio De Sica (1901 — 1974) zuschreiben, welche viele Jahre lang enge Mitarbeiter, Autoren und Regisseure einiger der bedeutendsten Werke des Neorealismus waren. Zavattini, schon in den dreißiger Jahren ein aktiver Schriftsteller, hatte sowohl am Drehbuch von 'Quattro passi fra le nuvole', als auch an dem von Ί bambini ci guardano' (welche den Neorealismus vorwegnahmen) mitgewirkt. Er hatte eine Theorie der 'Beschattung' ('pedinamento') ausgearbeitet, die alle authentischen Aspekte eines in eine bestimmte soziale Situation abgestiegenen Menschen erfassen sollte. So, als ob die Filmkamera durchs 'Schlüsselloch' jede auch noch so alltägliche oder banale Handlung beobachten könnte, um schließlich eine individuelle Geschichte zu rekonstruieren, welche dennoch das soziale Umfeld, aus dem heraus sie entstanden war, wiederspiegeln sollte. Daraus resultiert das hauptsächliche Interesse für die kleinen Vorfälle und die kleinen Menschen, die alltäglichen Geschehnisse, sowie die momentanen wirtschaftlichen und sozialen Probleme; daraus resultiert ebenfalls das Bedürfnis, das

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Umfeld kritisch zu analysieren, die damit verknüpften Fragen ans Licht zu bringen und gesellschaftliche Leiden und Funktionsstörungen anzuprangern. Unter den ersten zutreffenden Beispielen dieser Theorie der 'Beschattung', die als eine Variante des ursprünglichen Neorealismus zu betrachten ist, befindet sich 'Sciuscià' (1946), ein Film ohne Berufsschauspieler, der den Erlebnissen zweier sich selbst überlassener Jugendlicher folgt, welche in eine Besserunganstalt eingesperrt werden, und schließlich, wieder frei, vor dem Hintergrund der hoffnungslosen, elenden und zerstörten Nachkriegszeit auf ein besseres Morgen hoffen. Eine zeitlich datierte und dennoch allgemeingültige Geschichte, in der sich der Blick des Regisseurs (ein bewegter De Sica) auf die Beobachtung der Wirklichkeit ohne Vortäuschungen und Manipulationen zu beschränken scheint, auch wenn der Grundtenor einer tiefen Sozialkritik entspringt. Diese Tendenz ist noch expliziter und rigoroser in 'Ladri di biciclette' (1948), 'Umberto D' (1952) und teilweise in 'Miracolo a Milano' (1951) - wobei dieser letzte Film ganz im Ton des grotesken und märchenhaften Schauspiels gehalten ist Filme, die eine Art Trilogie der italienischen Gesellschaft der Zeit unter ausdrücklichem Bezug zur Dogmatik der Arbeitslosigkeit und zum Elend, sowie zur Not der Armen bilden. Hier tritt die ungeschminkte Beobachtung der Realität immer klarer hervor. Die Theorie der 'Beschattung' erreicht vor allem in 'Umberto D ' Ergebnisse von großem formalem Gewicht und intensiver dramatischer Wirkung; die Regie De Sicas reinigt sich von melodramatischen Schlacken. Dies sind sicherlich die wertvollsten Werke des Neorealismus von Zavattini und De Sica, der in den folgenden Jahren - von 'L'oro di Napoli' (1954) über 'Il tetto' (1956) und 'La Ciociara' (1960) bis hin zu 'Il viaggio' (1974) — fortschreitend schwächer wurde, da seine Filme immer mehr von diesen Prinzipien und ihrer Funktion als Gesellschaftsdokumente und moralische Instanz abkam.

6.

Luchino Visconti

Das Werk Luchino Viscontis (1906-1976) muß künstlerisch und kulturell weiter entfernt an den Rändern des Neorealismus in Form von Theorie und Praxis eines oft wiederholten filmischen Modells angesiedelt werden; es ist an die zufallige historische Si-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

tuation gebunden und dennoch verankert in der Idee eines prachtvolleren Kinos mit Bezug zu Literatur, Theater und Melodram. Im Unterschied zu Rossellini oder zum Paar De Sica-Zavattini hat Visconti seinen ästhetischen Diskurs oft sehr abweichend vom Bericht oder von der reinen Analyse der Alltagsrealität entwickelt. In seinen Kinofilmen und Theaterstücken hat er reichlich aus der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts geschöpft, indem er sie mit Hilfe einer kritisch genauen, mehrfachen Lektüre von innen heraus erneuerte. Seine Filme und Theaterstücke sind also insofern innovativ gewesen, als sie gewisse formale Regeln umstießen oder in die Darstellungsnormen bestimmte sprengende oder anstößige Elemente einführten, aber nicht hinsichtlich einer wirkungsvollen Sprachrevolution (wie im Fall von Rossellini). Auch wenn sein erster Film, Ossessione', reich an realistischen Motiven ist, und sich versteht als Untersuchung der menschlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Hilfe neuer, nicht rhetorischer oder traditioneller Techniken entstand, griff er de facto auf bestimmte Muster des französischen Kinos der dreißiger Jahre zurück. Insbesondere ist hier das Werk Jean Renoirs (dessen Assistent Visconti bei 'Partie de campagne' gewesen war) zu nennen. Wenn richtig ist, daß dieser Film eine völlige Neuheit für das faschistische Kino Italiens bildete, so ist es ebenfalls zutreffend, daß sich der Neorealismus in der Form, wie er sich in den darauf folgenden Jahren am Ende des Zweiten Weltkrieges zeigt, auf andere Modelle berufen, den Blick auf andere Wirklichkeiten werfen und sogar neue Formen und Darstellungsweisen hervorbringen wird. Von dieser Sichtweise aus war Viscontis Beitrag zum Neorealismus eher unbedeutend, auch wenn Kritik und Kinohistoriographie in ihm einen seiner bedeutendsten und ernsthaftesten Vertreter sahen. Er war insofern nebensächlich, als seine Interessen auch und hauptsächlich auf andere Aufführungsbereiche (insbesondere auf das Theater und die Oper) gerichtet, und sein reicher, in der Bildgestaltung und im Regierhythmus vielseitiger Stil weniger dafür geeignet schien, sofort und quasi unvermittelt, die Realität, wie sie sich täglich äußert und abläuft, zu erfassen. Dies zeigt sich vor allem in 'La terra trema' (1948), einer freien Umsetzung des Romans Ί Malavoglia' Giovanni Vergas, in welchem die Geschichte einer sizilianischen Fischerfamilie erzählt, besser gesagt als 'sacra rappresenta-

tione' dargestellt wurde. Der Film steigt in die Wirklichkeit herab — was an tatsächlich existierenden Orten, Laienschauspielern, improvisierten Dialogen und lokalem Dialekt zu erkennen ist — aber gleichzeitig wird die Realität zugunsten bestimmter Aspekte eines äußerst strengen und kaum 'neorealistischen' Stils verklärt. An der Bedeutung dieses Werks besteht kein Zweifel, 'La terra trema' ist sicherlich einer der bedeutendsten Filme innerhalb der Geschichte des italienischen Kinos, aber er bezeugt mit seiner höchstmöglichen formalen Perfektion zugleich die tiefste Entfremdung des Filmemachers von der Poetik des Neorealismus. Dasselbe gilt auch für 'Bellissima' (1951), einem Sujet Zavattinis, in welchem die markanten Aspekte seiner Theorie in einem ganz um die Person einer Frau — Anna Magnani — herum konstruierten Drama zusammengefaßt und verzerrt gegenwärtig sind, einer Frau, die eine ganz persönliche Schlacht führt und diese verliert: ein Einzelschicksal im Ton des großen Melodrams des neunzehnten Jahrhunderts. Die darauf folgenden Filme Viscontis, von 'Senso' (1954), 'Rocco e i suoi fratelli' (I960) über 'Il Gattopardo' (1963), 'La caduta degli dei' (1969), 'Morte a Venezia' (1971) und 'Ludwig' (1972) bis hin zu 'Gruppo di famiglia in un interno' (1974), haben die in den vorhergehenden Filmen gegenwärtigen Themen weiterentwickelt und vertieft, indem sie jenen melodramatischen Charakter (in der positiven und historischen Bedeutung des Begriffs) von Viscontis Stil hervorhoben, der, wie gesagt, nicht mit Theorie und Praxis des neorealistischen Kinos übereinstimmte. Daher auch die zeitliche Ausdehnung des Neorealismus, der sich über wenige Jahre, von 1945 bis in die Anfangsjahre der Fünfziger hinein erstreckte, und danach bis auf die eine oder andere verspätete Ausnahme zu Ende war. Auch Visconti hatte diese Phase nunmehr, und sogar noch deutlicher als andere Regisseure, hinter sich gelassen; sein ganzheitlicher Realismus führte ihn dazu, Themen und Probleme größerer Reichweite aufzugreifen. Auch Italien war verändert, und das Kino der fünfziger Jahre dokumentierte — in den volkstümlichen Versionen des sogenannten 'neorealismo d'appendice' ('Anhangsneorealismus': die Filme Raffaello Matarazzos) und des 'neorealismo rosa' ('rosafarbener Neorealismus': die Filme Luigi Comencinis, Dino Risis etc.) - diese gesellschaftlichen Veränderungen in Ausdrucksweisen und Formen, die sich nur noch entfernt auf den Nachkriegsneorealismus beriefen.

111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni)

7.

Nachfolger

Zum Neorealismus hatten, neben den Werken Rossellinis und De Sica—Zavatellis, auch andere Regisseure wichtige Beiträge geleistet, deren oft Kriegs- und Gesellschaftsthemen beinhaltende Filme sich ebenfalls auf die genaue Wirklichkeitsanalyse stützten und versuchten, ein wahrheitsgetreues, orientiertes Bild der Wirklichkeit zu zeichnen. Man denke nur an Werke wie 'Il bandito' (1946) und 'Senza pietà' (1948) von Alberto Lattuada, 'Fuga in Francia' (1948) von Mario Soldati, 'Sotto il sole di Roma' (1948) und 'Due soldi di speranza' (1952) von Renato Castellani, oder an 'Vivere in pace' (1946) von Luigi Zampa, Regisseure, die alle schon in den Kriegsjahren aktiv waren, und mehr oder weniger eng zu jener italienischen Schule gehörten, die als 'cinema calligrafico' definiert wurde. In die Gruppe dieser Regisseure reihte sich auch Pietro Germi (1914—1974) ein, der schon Assistent Blasettis war. Seine nur am Rande neorealistischen Kinofilme waren dennoch eng mit einer kritischen Sichtweise der menschlichen und gesellschaftlichen Realität verknüpft. Seine Interessen drehten sich hauptsächlich um aktuelle Geschehnisse und Probleme, und sein von manch spektakulärer Überzogenheit nicht gänzlich freier Stil basierte auf der aufmerksamen Beobachtung von Einzelheiten (wie man in den Filmen der sechziger und siebziger Jahre von 'Divorzio all'italiana' bis hin zu 'Alfredo, Alfredo' sah, in welchen jene genaue Beobachtung von grotesken und possenhaften Valenzen durchzogen ist). Für diese kritische Haltung hatte man herausragende Beispiele in 'Gioventù perduta' (1948), 'In nome della legge' (1949), 'Il cammino della speranza' (1950), in welchen die augenblicklichen Ereignisse, von der Wertekrise der bürgerlichen Jugend über die sizilianische Mafia bis hin zu Emigrationsproblemen, aus einer Optik gesehen und dargestellt wurden, die wir aufgrund bestimmter Mittel als neorealistisch definieren können.

8.

Giuseppe De Santis

Im Unterschied zu Germi rückte ein anderer angehender Nachkriegsregisseur, Giuseppe De Santis (1917-1997), in den Mittelpunkt der Debatte um die verschiedenen Aspekte und Charaktere eines realistischen Kinos. Er war ursprünglich Filmkritiker, Redakteur der Zeitschrift 'Cinema', ein Verfechter der Er-

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neuerung des italienischen Kinos während des Faschismus, Assistent Viscontis in 'Ossessione' und nach dem Krieg dann von Aldo Vergano für den Widerstandsfilm 'Il sole sorge ancora' (1946). Von De Santis wurde ein filmtheoretisches Modell entwickelt und in die Praxis umgesetzt, das einerseits die heikelsten und problematischsten Themen der italienischen Realität mit kritischem Geist und einer marxistischen Geschichtsanschauung anging, diese andererseits in Ausdrucksweisen und Formen darbot, die auf das klassische und amerikanische und das sowjetische Kino der großen Meister zurückgriffen. Diese Verbindung war zugleich von stilistischer Strenge und von volkstümlicher dramatischer Wirkung geprägt, und führte zu Ergebnissen von beträchtlichem Unterhaltungswert und war zugleich richtungsweisend. Schon in 'Caccia tragica' (1948) drückte sich jene problematische Sicht der Realität in einem Stil aus, welchen wir, um einen Begriff Gramscis zu verwenden, als 'national-populär' bezeichnen können. Das Thema des Films — die dramatische Situation um Kriegsheimkehrer und Banditentum auf dem Land — ist emotionsgeladen, ohne seinen Sozialaspekt zu verlieren. Die ideologische Kritik entsteht aus den Fakten, ohne mechanisch von außen aufgesetzt zu sein (auch wenn manche dramaturgische Übertreibung das Endergebnis gefährdet). In 'Riso amaro' (1949), einen Film über die Arbeit der Unkrautjäterinnen in den Piemonteser Reisfeldern, in 'Non c'è pace fra gli ulivi' (1950) über das Landleben in Süditalien, und in 'Roma ore 11' (1952) über die Bedingungen der berufstätigen Frauen in der Großstadt, erkennt man dies stärker als in den darauf folgenden Filmen, die nicht immer frei von populistischer Rhetorik sind. Die Kinofilme von De Santis fügen sich mit einer eigenen, nicht nur ästhetischen, sondern vor allem politischen und ideologischen Physiognomie in die neorealistische Bewegung ein. Ein problematisches, in seiner kritischen Situationsanalyse nahezu aggressives Kino, das Personen und Umgebungen in einer oft polemischen Perspektive umreißt, Pathos und eine psychologische und soziologische Schematisierung riskiert, aber das Verdienst einer klaren, fast didaktischen Filmsprache aufweist, welcher zugleich eine echte dramatische Spannung zugrundeliegt. Eine Filmsprache, die einen differenzierten Stil nicht verwirft, sondern seine Möglichkeiten sogar programmatisch erforscht und eine authentische Ausdrucksweise sucht, dient gerade ei-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

nem authentischen volkstümlichen Kino mit 'Haupt- und Staabszenen', 'Theatercoups' und seinem typischen Einsatz der Schauspieler und Schauspielerinnen als Modell. Mit anderen Worten: De Santis arbeitete im Zentrum der neorealistischen Bewegung mit der Intention ausdrücklicher Ablehnung von Zufälligkeit und Improvisation, zugunsten einer methodischen und gründlichen Erforschung einer Filmsprache, welche die Unmittelbarkeit der Wirklichkeitsdarstellung mit der Stilhöhe verknüpfen sollte. Die Ergebnisse waren nicht immer überzeugend, aber der Vorschlag eines „kritisch neorealistischen" Kinos ist bemerkenswert.

9.

Michelangelo Antonioni und Federico Fellini

Wenn jener erste, unmittelbar in der Nachkriegszeit, vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen und sozialen Situation entstandene Neorealismus, die sich weitgehend in typischen Formen und Ausdrucksweisen widerspiegelt, die ihn als neues Filmmodell charakterisieren, durch die beispielhaft erwähnten Filme Rossellinis, De Sicas und (mit Differenzierungen) Viscontis und anderer unbekannter Regisseure (unter ihnen an erster Stelle De Santis) charakterisiert ist, so ist von einem zweiten Neorealismus in den Filmen Michelangelo Antonionis (1912) und Federico Fellinis (1920—93) zu sprechen — wie man sieht also nicht nur in den Filmen Rossellinis der fünfziger Jahre. Die Werke Antonionis und Fellinis sind zwar einerseits aufgrund mancher stilistischer Auswahlkriterien und einiger inhaltlicher Elemente im Kielwasser jenes Innovationsmodells anzusiedeln, entfernen sich aber andererseits aufgrund anderer formaler und inhaltlicher Auswahlkriterien davon. Dadurch werden diese beiden Filmemacher in den ausgehenden fünfziger Jahren zu Bahnbrechern eines neuen Kinos, an denen sich nicht wenige junge Regisseure der frühen siebziger Jahre orientieren. Michelangelo Antonioni war Kinokritiker und in den Kriegsjahren auch Assistent von Marcel Carné gewesen: auch wenn er nicht an der Auseinandersetzung der Zeitschrift 'Cinema' um einen neuen Realismus teilgenommen hatte, so stimmte er doch jener Themen· und Stilerneuerung zu, welcher der Neorealismus seine Entstehung verdankt. Sein erster Dokumentarfilm 'Gente del Po', den er zwar 1943 begonnen, den er aber erst

1947 fertiggestellt hatte, fügt sich tatsächlich in jene Strömung ein: in ihm atmet man jene naturnahe und realistische Luft der 'Poniederung' ein, welche auch das Klima in Ossessione' bildet, der zur selben Zeit an denselben Orten gedreht worden war. Auch die darauf folgenden in der Nachkriegszeit gedrehten Dokumentarfilme passen alle mehr oder weniger in jene Atmosphäre, welche sich, obgleich hier schon eine personale Haltung bemerkbar ist, erst im ersten Spielfilm 'Cronaca di un amore' (1950) in voller Breite manifestiert. Wir sind hier weit entfernt vom ersten Neorealismus und den Kriegs- und Nachkriegsthemen. Antonioni setzt sich mit dem Umfeld des hohen lombardischen Bürgertums auseinander, erzählt mit stark individuellen Zügen eine Geschichte von Liebe und Tod. Sein Stil leidet an einem gewissen französischen Vorkriegsrealismus, zeichnet sich jedoch durch jenes Bedürfnis nach 'Wahrheit' aus, das den besten Werken des Neorealismus zu eigen war. Sein Blick heftet sich auf Personen und Umgebungen und versucht, daraus komplexe innere Motivationen entspringen zu lassen, indem er Konflikte, Leidenschaften und nicht gelöste Widersprüche ans Licht bringt. Das hieraus entstehende Bild ist perspektivisch und problematisch, worin die Neuheit des Stils Antonionis besteht, der zugleich von der Unmittelbarkeit eines Rossellini und der verfeinerten und zusammengesetzten Form eines Visconti weit entfernt ist. Dieser Stil manifestiert sich mit erweiterten Perspektiven in Ί vinti' (1952), drei Episoden über die sich in der Krise befindende Jugend, 'La signora senza camelie' (1953), einer in der Welt des Kinos angesiedelten Geschichte, und vor allem in 'Le amiche' (1955) nach einer Erzählung Cesare Paveses. Hier betont Antonioni den introspektiven Charakter seiner menschlichen und sozialen Analyse und schafft die Voraussetzungen für jene eher formale, denn inhaltliche Grenzüberschreitung des Neorealismus, welche seinem Hauptwerk zu eigen sein wird; in den sechziger und siebziger Jahren gedrehte Filme, in welchen die Untersuchung individueller Verhaltensweisen, von Gefühlskrisen, der Schwierigkeit des Zusammenlebens und der Kommunikationsfahigkeit große dramatische Wirkung erreichen wird. Hier ist, an die zwischen 1959 und 1964 gedrehte Tetralogie 'L'avventura', 'La notte', 'L'eclisse' und 'Deserto rosso', sowie an emblematische Filme wie 'Blow up' (1966), 'Zabriskie Point' (1970), 'Professione: Reporter'

111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni)

(1975) oder 'Identificazione di una donna' (1982) zu erinnern. Aber schon im Jahr 1957 setzte sich diese Tendenz mit 'Il grido' als 'Alternative' zu den Ausdrucksweisen und Formen durch, welche die erste Schaffungsphase Antonionis ausgezeichnet hatten. Die als Spiegel der Verhaltensweisen der Darsteller verstandene Landschaft, die als stilbildendes Element eingesetzten langen Einstellungen, die fortschreitende Auflösung der Erzählung zugunsten dessen, was wir 'moralische Beschreibung' von Seelenzuständen, Haltungen, Gedanken und Gefühlen nennen können: all diese Elemente zeigen die Überwindung des Neorealismus in Richtung eines immer stärker von den Bedingungen der 'Realität' befreiten Kinos. Dies gilt im Sinne einer realistischen Darstellung, die an erster Stelle den Menschen und vordergründig mehr seine innersten Probleme denn das gesellschaftliche Umfeld berücksichtigt, welches in den Filmen Antonionis zwar auch gegenwärtig ist, aber an die zweite Stelle verwiesen wird. Dieses gesellschaftliche Umfeld bildet den Hintergrund, vor welchem sich die Darsteller bewegen, wobei ihnen die Filmkamera in ihren existentiellen Wanderungen folgt. Auch Federico Fellini begann sein Schaffen wie Antonioni in den Kriegsjahren, aber sein Wirkungsbereich umfaßte das Varietétheater, das Vorprogramm, den Zeichentrickfilm, das Radio und den komischen Film, und sicherlich nicht die ideologische Auseinandersetzung um einen neuen Realismus im italienischen Kino. Dennoch führte ihn die Begegnung mit Rossellini in der Zeit von 'Roma città aperta' zu Positionen, die dem aufkommenden Neorealismus (der, wie Rossellini schrieb, auch eine volkstümliche und dialektale Tradition hatte) sehr nahestanden. Es ist nicht schwer, die Gegenwart Fellinis nicht nur in jenem berühmten Film, sondern vor allem in der Episode der Mönche in 'Paisà', in der zweiten Episode von 'L'amore' (1948) (von Fellini selbst interpretiert) und in anderen Filmen Rossellinis bis hin zu 'Europa '51' zu spüren: eine sich in manchem Hang zur Komödie und manchem phantasievollen Augenblick manifestierende Präsenz. Die Grundlage des Kinos von Fellini bildet die sich ab dem in Zusammenarbeit mit Alberto Lattuada gedrehten 'Luci del varietà' (1951) entwickelnde Tendenz, das manchmal possenhafte, manchmal phantastische, manchmal schlicht sentimentale und rückwärtsgewandte Stück zu entwickeln. Auch die Themen seiner Filme mit Personen am Rand

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der Gesellschaft, mittelmäßigem Ambiente, Situationen an der Grenze der Glaubwürdigkeit sowie den kleinen Geschichten kleiner Menschen, sind symptomatisch für das Interesse des Regisseurs an der häufig vom Kino vernachlässigten Welt an den Rändern, und nicht etwa an den großen Themen der menschlichen und gesellschaftlichen Realität, welche die besten Regisseure des Neorealismus in ihren Filmen aufgegriffen haben. Hieraus resultiert auch sein äußerst persönlicher Stil, in welchem der Darstellungsrealismus mit den eigentümlichen Situationen und dem der fehlenden Stimmigkeit der Charaktere abrechnet. Hieraus resultiert ebenfalls jene Leichtigkeit des Humors, jener vertraute, erinnernde, sentimentale, und hie und da groteske Ton, welcher den Großteil seiner Filme charakterisiert. Hieraus resultiert letztendlich auch jener zeitlose Aspekt, den seine Geschichten trotz ihrer Verwurzelung in der alltäglichen Realität einnehmen. Dieser 'Mikrorealismus' Fellinis tritt in persönlichen und originellen Ausdrucksweisen und Formen in 'Lo sceicco bianco' (1952) und in Ί vitelloni' (1953) in Erscheinung, zwei Filmen, die ein farbiges, aber nicht banales, sondern facettenreiches und vertieftes Bild einer zwar nebensächlichen, aber dennoch bedeutsamen italienischen Realität wiedergeben: jener 'kleinbürgerlichen' Realität, die sich in mittelmäßigen Verhaltensweisen manifestiert, und von der die darauffolgende 'commedia all'italiana' ausführlich handeln wird. Wir sind in der Zeit zu Beginn der fünfziger Jahre, als sich schon der 'rosafarbene Neorealismus' durchzusetzen beginnt, den Castellani mit einigen seiner Filme vorweggenommen hatte: Fellini bleibt am Rande der Bewegung, aber sein zum Teil auf Rossellini zurückgehender Neorealismus nimmt einige Züge davon auf und interpretiert sie unter bestimmten autobiographischen Gesichtspunkten. Dieser vor allem in Ί vitelloni' gegenwärtige Autobiographismus wird zum wesentlichen Bestandteil der großen Werke der Reife, ausgehend von 'La dolce vita' (1960). Und dennoch wird seine künstlerische Laufbahn mit 'La strada' (1954), dem Film, der ihm zu Weltruhm verhalf, eine radikale Überwindung des ersten Neorealismus anstreben, da er nach und nach den auf peinlich genauen Beobachtungen der wirklichen Begebenheiten beruhenden Stil zugunsten einer 'poetischeren', nuancierten, und an märchen-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

haften Einflüssen reichen Vision verläßt. Man denke an die Geschichte von Gelsomina und Zampano, Außenseiter ohne Wurzeln, zugleich primitiv, asozial und gewalttätig, welche allmählich zum symbolischen Bild einer Lebensweise werden, in der die realistische Darstellung von Umgebungen und Personen einer fast transzendentalen Daseinsvision weicht. Hieraus resultiert jene Art von 'weltlichem Mystizismus', der auch 'Il bidone' (1955) und vor allem 'Le notti di Cabiria' (1957) durchzieht, indem er Erlebnisse marginalisierter Figuren nicht etwa in von einer kritischen Sichtweise gestützten Gesellschaftbildern, sondern vielmehr in Elementen eines sowohl vibrierenden und bewegenden als auch scharfsinnigen und eindringlichen Bildergedichts umformt. Darauf fußt auch der unverwechselbare und höchst persönliche Stil, den Fellini im folgenden mit überraschenden Ergebnissen bezüglich der faszinierenden Formen und des Figureninventars herausarbeiten wird, und welcher in diesen ersten Werken schon seine grundsätzlichen Züge zeigt. Wir sind hier weit entfernt vom Neorealismus, noch weiter, als sich Antonioni davon entfernt hatte. Fellini wählt den Weg des phantasmagorischen, barocken Kinos, in welchem die Elemente der an Erinnerungen und an sein Leben geknüpften Realität zum Gegenstand einer fast traumähnlichen Darstellung werden: wie es ab 'Otto e mezzo' (1963) mit kritisch zu diskutierenden, aber dennoch faszinierenden Ergebnissen in 'Giulietta degli spiriti' (1965), 'Satyricon' (1969), 'Amarcord' (1973), 'Casanova' (1976), 'Prova d'orchestra' (1979), Έ la nave va ...' (1983), 'Ginger e Fred' (1985) und in 'La voce della luna' (1990) der Fall ist. Im übrigen hat sich die italienische Gesellschaft von den sechziger zu den achtziger Jahren hin jedoch auch stark verändert, und dem Kino gelingt es nicht mehr, sie realistisch abzubilden. Im übrigen war das neorealistische Modell in seinen allgemeinsten Ausprägungen an die historisch zufalligen Bedingungen gebunden, und in einem bestimmten historischen Zeitraum entstanden und gereift, welchen natürlich auch Fellini durchlebt hatte. Aber inzwischen hatten es die Gesamtheit der Probleme, die allgemeine Gesellschaftskrise, die Unsicherheiten der Menschen und eben Fellinis Daseinserfahrung immer mehr von den ursprünglichen Vorbildern entfernt. Sein Kino zeichnete sich durch Formen, die wenig mit Neorealistischen zu tun hatten, sondern sich diesem sogar aufgrund der Vielfalt und Erhabenheit des Stils, der Be-

sonderheit der Geschichten, des phantastischen Charakters der Personen und eines geradezu herausragenden Autobiographismus entgegensetzten.

10. Schluß Die Sichtweise, daß der Neorealismus einen Bruch mit dem — nicht ausschließlich italienischen Kino der Zeit darstellte, ist eine von der Mehrzahl der Kritiker und Historiker gemeinhin akzeptierte Position. Sie haben darin vor allem in historischer Perspektive eine grundlegende Modifikation formaler und angenommener ideologischer Vorbilder gesehen: wie solche eines sich den Schemata des traditionellen Schauspiels widersetzenden Stils (nicht in der personenbezogenen Bedeutung des Begriffs, sondern als Indikator eines kulturellen und künstlerischen Klimas). Im nationalen Bereich führte er außerdem an erster Stelle eine Reihe eng an die Aktualität gebundener Themen und Sujets mit einer darstellerischen und dramatischen Wirkung ein, die sich auch außerhalb der Grenzen Italiens durchsetzte. Unter diesem Aspekt ist er von der ausländischen Kritik auch als Bewegung von großer, nicht nur künstlerischer, sondern auch soziologischer Relevanz gesehen und untersucht worden. Im Laufe der siebziger Jahre hat dennoch eine Reihe von genauen Studien und Analysen — von denen man beim Festival vom Pesaro im Jahre 1974 eine umfassende Ubereinstimmung verzeichnete (vgl. 'Il neorealismo cinematografico italiano' a cura di Micciché 1975) — erneut die Frage des Neorealismus unter der Problemstellung einer historischen Korrektur des italienischen Films aufgegriffen, und allgemein eine neue, perspektivische, nicht ideologische Analyse der wichtigen Merkmale vorgeschlagen, welche weniger an die politische Debatte der vierziger und fünfziger Jahre anzulehnen sei. Dies ist mit dem Risiko verbunden, manchmal nicht die Gesamtheit des Phänomens zu erfassen, aber auch mit dem Vorteil, Urteil und Werte in die Diskussion zu bringen, die sich mit der Zeit herauskristallisiert hatten. Von diesem neuen Gesichtspunkt aus gilt der Neorealismus nicht mehr als revolutionäre Bewegung mit klarem Bruch zur Vergangenheit, als welche er bei seiner Entstehung erschien, und als welche er von Kritik und Filmgeschichte in den Folgejahren betrachtet wurde. Er ist statt dessen vielmehr eine Entwicklung und Erweiterung von Aus-

111. Der italienische Neorealismus (Rossellini, De Sica, De Santis, Visconti, Fellini, Antonioni) d r u c k s w e i s e n , C h a r a k t e r e n , F o r m e n u n d Inh a l t e n , die s c h o n i m italienischen K i n o w ä h r e n d d e r Zeit des F a s c h i s m u s zu e n t d e c k e n w a r e n . M i t a n d e r e n W o r t e n , er w a r die logische K o n s e q u e n z einer Folge v o n I n n o v a t i o n e n u n d T r a d i t i o n s d e n k e n d e r dreißiger u n d f r ü h e n vierziger J a h r e n . E s w a r d e r historische Z e i t p u n k t — im Italien d e r u n m i t t e l b a r e n N a c h k r i e g s z e i t — u m eine gewisse inhaltliche A u s w a h l festzusetzen o d e r u m gewisse technische und formale Lösungen aufzuerlegen. D e r wirkliche G e h a l t des P h ä n o m e n s wird aber v o m d a r a u f f o l g e n d e n K i n o in Film e n b e s t i m m t , welche o f t dieselben Regisseure des N e o r e a l i s m u s z u v o r g e d r e h t h a t t e n . U n d d e n n o c h h a t diese n e u e , kritische u n d h i s t o r i o g r a p h i s c h e Perspektive d a s I n t e r p r e t a t i o n s p r o b l e m n i c h t abgeschlossen. Sie h a t v i e l m e h r s o w o h l d e n N e o r e a l i s m u s in seiner G e s a m t h e i t , als a u c h d a s W e r k einzelner A u t o r e n w i e d e r in d e n M i t t e l p u n k t d e r F o r s c h u n g g e r ü c k t , u n d dies o f t m i t Ergebnissen, die wieder die F r a g e d e r ' N e u h e i t ' z u g u n s t e n der 'Kontinuität' vorschlugen, oder das Ges a m t b i l d erweiterten, i n d e m sie v e r s u c h t e n , f a s t d a s g e s a m t e italienische K i n o d e r zweiten H ä l f t e d e r vierziger J a h r e m i t e i n z u b e z i e h e n (vgl. ' N e o r e a l i s m o ' a c u r a di F a r a s s i n o 1989). Es sind I n t e r p r e t a t i o n e n , die m a n c h e n Zweifel w e c k e n , aber d a s Verdienst h a b e n , eine D i s k u s s i o n v o n n i c h t z u b e z w e i f e l n d e m Interesse ü b e r eines d e r b e d e u t e n d s t e n P h ä n o m e n e d e r K i n o g e s c h i c h t e n a c h d e m Zweiten Weltkrieg n e u z u e r ö f f n e n .

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Torino

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(Italien)

112. Das 'cinéma des auteurs' und die Nouvelle Vague 1.

2.

3.

4.

1.

Über die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung der Nouvelle Vague. Ein Definitionsversuch der Erneuerungsbewegung unter besonderer Berücksichtigung der Bedingungen ihrer Entstehung innerhalb der französischen Kinolandschaft der fünfziger Jahre Die Forderung nach einem 'cinéma des auteurs' (François Truffaut: Une certaine tendance du cinéma français) Die Praxis des Nouvelle Vague-Kinos in den wichtigsten Spielarten. Ein summarischer Uberblick Literatur

Uber die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung der Nouvelle Vague. Ein Definitionsversuch der Erneuerungsbewegung unter besonderer Berücksichtigung der Bedingungen ihrer Entstehung innerhalb der französischen Kinolandschaft der fünfziger Jahre

Der Begriff der Nouvelle Vague erweist sich bereits bei oberflächlicher Betrachtung als derart schillernd und von heterogenen Definitionsmerkmalen behaftet, daß kein Betrachter an der Notwendigkeit vorbeikommt, eine differenzierte Sichtung des Gegenstands vorzunehmen und sich anschließend die Frage zu stellen, unter welchen Vorbehalten eine ganzheitliche Betrachtung dieser epochalen Erneuerungsbewegung des französischen Kinos mit weitreichenden Folgen für die europäische Filmkunst überhaupt sinnvoll ist. Sieht man von der zeitlichen Festsetzung ei-

nes unübersehbaren cineastischen Aufbruchs in Frankreich, wie er aus der auffälligen Häufung von Erstlingsproduktionen in den Jahren 1958 — 61 ablesbar wird, ab, so haben alle Versuche zu einer kategorischen Subsumierung dieser einzelnen Neuerscheinungen unter dem Etikett der 'Neuen Welle' nur zu einem Zustand der Unübersichtlichkeit geführt, der sich nicht zuletzt in der signifikanten Tatsache niederschlägt, daß bis auf den heutigen Tag keine überzeugende, auf einer systematischen Differenzierung basierene Gesamtdarstellung dieses filmgeschichtlichen Phänomens vorgelegt worden ist, mit Ausnahme vielleicht des schmalen Einführungsbandes von Michel Marie (vgl. Marie 1997) einmal ab. Die meisten der bisherigen Vorschläge zu einer allgemeinen Kennzeichnung der Nouvelle Vague können deshalb so wenig überzeugen, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgehen: Entweder postulieren sie unter Verzicht auf die Ermittlung plausibler Kriterien der Vergleichbarkeit kurzerhand die Existenz einer einheitlichen Filmästhetik und schließen dann unrefiektiert bestimmte Filmemacher oder Schaffensstile willkürlich zu einer angeblich homogenen 'Gruppenbewegung' zusammen (solche Betrachtungsansätze fragen dann nicht danach, welchen Sinn es macht, so unterschiedliche Cineasten wie Jean-Luc Godard mit Claude Chabrol oder Eric Rohmer bzw. Alain Resnais mit François Truffaut und der frühen Agnès Varda in eine Reihe zu stellen — ganz zu schweigen von der Diskussion um die Gruppenzugehörigkeit von Regisseuren wie Jacques Demy, Louis Malle oder Jean-Pierre Melville); oder aber

112. Das 'cinéma des auteurs' und die Nouvelle Vague

man verfahrt umgekehrt dergestalt, daß rein autorenzentrierte und dann meist chronologische strukturierte Werkanalysen vorgelegt und in Gestalt isolierter Einzelkapitel als die Quintessenz der Nouvelle Vague-Ästhetik aufgelistet werden. Im Gegensatz zu solchen reduktionistischen 'Wesens'-Definitionen filmsprachlicher oder inhaltlich-thematischer Natur bzw. zu lose miteinander verbundenen Einzelbetrachtungen scheint es wesentlich zweckmäßiger zu sein, die Nouvelle Vague vorsichtig als virtuelles Konstrukt zu betrachten, das sich aus der Summe einer begrenzten Anzahl verschiedener Einzelkonzeptionen zusammensetzt, denen als primäre Gemeinsamkeit ein Bündel externer Schaffensmerkmale eigen ist. Konzentriert man sich auf diese Vorgabe, fällt der bereits erwähnte quantitative Sachverhalt ins Auge, der es in der Tat erlaubt, die Jahre 1958 — 61 als kapitalen Einschnitt in der französischen Filmgeschichte auszuweisen: In diesem Zeitraum stellen sich nicht weniger als 97 neue Regisseure mit Erstlingsfilmen dem Publikum vor, eine Größenordnung, die zweifellos auf eine regelrechte Wachablösung, zugleich aber auch auf das Ungenügen am etablierten Kinobetrieb schließen läßt. Daß die Nouvelle Vague von ihren Anfängen her tatsächlich als Ausdruck eines tiefgreifenden cineastischen Generationenwechsels zu verstehen ist, verdeutlicht besonders sinnfällig die Herkunft des Begriffs. Ursprünglich geht die Bezeichnung nämlich auf eine groß angelegte Fragebogenaktion zurück, die die renommierte Wochenzeitung L'Express unter Leitung der Journalistin Françoise Giroud in den Jahren 1957 und 1958 mit dem Ziel betrieb, die Mentalität der modernen französischen Jugend zu ermitteln. In diesem Kontext meint der Begriff 'Nouvelle Vague' zunächst ganz allgemein die Generation der Zwanzig- und Dreißigjährigen und ihre Denkwelt, ohne daß er damit in irgendeiner Weise eine kinematographische Bezugnahme implizieren wollte. Erst ab 1959, als die Erstlingsspielfilme von Claude Chabrol und François Truffaut dank ihrer Prämierungen in Berlin, Cannes und Locamo dem jungen französischen Film zum Durchbruch verhalfen und im Fahrwasser ihres Erfolgs eine regelrechte Schwemme von Debütanten-Filmen heraufbeschworen, wird der vom Express geprägte Begriff auf die kinematographische Benennung der Gruppe aller 'jugendlichen' Regisseure spezifiziert. Über das äußerliche Merkmal des Regie-Debüts hinaus

1229 trägt die von L'Express geprägte und dann auf die Welt des Kinos angewandte Assoziation des Generationenwechsels aber auch insofern den Gegebenheiten Rechnung, als sie eine wichtige thematische Schwerpunktsetzung erfaßt, die in diesem Kino der 'Neuen Welle' verwirklicht wird. In der Tat bringt eine ganze Reihe der neuen Autoren mit ihren Debütfilmen das Lebensgefühl junger Leute zwischen desillusionierter Bestandsaufnahme, hektischer Rauschhaftigkeit und antibürgerlichem Protest eindrucksvoll zur Darstellung. In erster Linie jedoch verweist die generationsspezifische Bedeutung des Begriffs auf den Tatbestand, daß sich die Debütanten als Vertreter einer Bewegung verstehen, die die radikale Abwehr vom etablierten Produktionssystem der Nachkriegszeit vollzieht, das unter der Bezeichnung der 'qualité française' mit Regisseuren wie Claude Autant-Lara, André Cayatte, René Clément oder Jean Delannoy monopolartig den Spielfilm-Markt beherrschte und die äußerliche Perfektion zur Norm des Filmschaffens machte. Der Protest gegen diese Tradition des französischen Nachkriegskinos artikuliert sich zunächst einmal gegenüber den etablierten Dreh- und Produktionsbedingungen. Diesbezüglich ist ein wichtiges Charakteristikum der Nouvelle ^agwe-Gruppe im beruflichen Werdegang ihrer Vertreter auszumachen: Diese schlagen den von der 'qualité française' gewissermaßen vorgeschriebenen Ausbildungsweg über die Filmhochschule (I. D. H. E. C., Institut des Hautes Études Cinemátographiques) und die anschließende Lehrzeit in der Regieassistenz aus und suchen, unbeeindruckt vom Akademismus institutionalisierter Lehrmeinungen, über die eigene 'Anschauung' von möglichst vielen Kinofilmen (mit Vorliebe amerikanischer Provenienz) und die Betätigung als Filmkritiker (hier vor allem in den von André Bazin herausgegebenen Cahiers du Cinéma) die erstbeste sich bietende Gelegenheit zu ergreifen, Regieverantwortung zu übernehmen. Für diese autodidaktische Auffassung von kinematographischer Selbstverwirklichung gilt die forsche Devise Claude Chabrols: „Tout ce qu'il faut savoir de la mise en scène s'apprend en quatre heures" (zitiert nach Clouzot 1972, 25). Die wichtigste Form der Absage an die Dreh- und Arbeitsnormen der 'qualité française' betrifft die Handhabung des Produktionsbudgets. Während sich das etablierte Erfolgskino das Namensprädikat der 'Qualität' ganz nach den Standards der 'Traum-Fabrik' Hollywood durch den perfektionierten Ein-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

satz aller verfügbaren technischen Mittel wie auch der teuersten Filmstars erworben hat, muß das neue Kino der Dilettanten notgedrungen auf strikte Ausgabenminimierung setzen — wobei sich allerdings, wie so oft unter solchen Umständen, herausstellt, daß der Zwang zur Selbstbeschränkung ein entschiedenes Plus an Kreativität hervorbringt. Bevorzugt werden Freilichtaufnahmen, mit denen die hohen Kosten für Studiomiete und Scheinwerferbenutzung reduziert werden können (was mitunter zu ungewöhnlichen, amateurhaft anmutenden Beleuchtungseffekten führt, die sich kraß von den 'geleckten' Bildern des Kommerzkinos abheben). Kleine Drehteams, zum Teil von Freunden und Familienangehörigen des Regisseurs oder sonstigen Laien gebildet, ersetzen die hochgradig arbeitsteiligen Aufnahmestäbe der konventionellen Produktion und räumen der Improvisation sowohl im technischen Bereich als auch beim Umgang mit Drehbuchvorlagen eine Schlüsselstellung ein, was im Rahmen der kommerziellen 'qualité française'-Logistik ein Unding gewesen wäre. An die Stelle von Filmstars wie Michèle Morgan, Jean Gabin oder Fernandel treten zweitrangige Interpreten oder auch Leinwand anfanger und erhalten die Chance, Hauptrollen zu spielen. Auf diese Weise haben sich spätere vedettes wie Bernadette Laffont, Jeanne Moreau, Stéphane Audran, Jean-Paul Belmondo, JeanClaude Brialy oder Jean-Pierre Léaud ihr Renommee durch das Engagement in den frühen Filmen der Nouvelle Vague erwerben können. Ein weiteres Charakteristikum der neuen, unkonventionellen Art des Filmemachens stellt die sog. 'politique des auteurs' dar. Hierunter ist die Strategie der Jungcineasten, insbesondere derjenigen Regisseure, die aus der Filmkritik der Cahiers du Cinéma hervorgegangen sind und die den 'harten Kern' der Nouvelle Vague ausmachen, zu verstehen, sich für den Durchbruch in der Publikumsgunst gegenseitig bei der Produktion und Lancierung ihrer Werke zu unterstützen. So gründet Claude Chabrol mit dem Erbe seiner Frau und den Gewinnen aus seinen Erstlingserfolgen Le beau Serge und Les cousins die Produktionsgesellschaft AJYM, die die wenig publikumswirksamen Erstlingsfilme von Jacques Rivette (Paris nous appartient) und Eric Rohmer (Le signe du lion) finanziert und ihnen 1960 bzw. 1962 zu einer — wenn auch verspäteten — Leindwandaufführung verhilft. François Truffaut überläßt Jean-Luc

Godard den Filmstoff zu A bout de souffle und überredet gemeinsam mit Chabrol kraft ihres mittlerweile erworbenen Prestiges den ahnungslosen Produzenten Georges de Beauregard angeblich in genauer Kenntnis des 'erfolgversprechenden Projekts' dazu, ihrem Freund Godard die Produktion seines ersten abendfüllenden Spielfilms zu finanzieren. Es bleibt zu beachten, daß eine Charakteristik der Nouvelle Vague nach den externen Faktoren ihres Entstehens lediglich den Zweck erfüllen kann, signifikante Differenzierungskriterien zur Ermittlung der zentralen Gruppe von Filmerneuerern aus der unüberschaubaren Menge aller Kinodebütanten der Jahre 1958—62 neben den stärker intellektuell geprägten Anstrengungen der 'Rive gauche'-Cineasten (Alain Resnais, Marguerite Duras, Agnès Varda) zu gewinnen. In dem Maße, wie den genannten Verfechtern einer solchen für damalige Verhältnisse alternativen Produktionspraxis die Etablierung im System gelang und sie in die Lage versetzt wurden, derart anstrengende Drehbedingungen zugunsten komfortablerer Verfahren hinter sich zu lassen, kann etwa ab 1963 auch bei diesen Vertretern einer neuen Generation von Filmemachern die Rückkehr zu den mehr oder weniger althergebrachten Gestaltungsformen festgestellt werden. Allein dieser produktionsästhetische Sachverhalt hat dazu geführt, daß nach der Einschätzung vieler Zeitgenossen und auch noch aus der distanzierten filmhistorischen Sicht mit dem Jahre 1963 die Nouvelle Vague an ihr Ende gekommen sei. Ganz abgesehen davon, daß ein derartiges Periodisierungsgebaren dazu tendiert, wichtige 'Nachzügler' wie Jacques Rozier (Adieu, Philippine, 1962) und Eric Rohmer (Le signe du lion, 1962) in ihrer Bedeutung zu unterschlagen, hat es insgesamt eine entschieden reduktionistische Kennzeichnung des Nouvelle Vague-YÀnoi zur Konsequenz, die hier abgelehnt wird: Die gewaltsame Einengung des Geltungszeitraums verabsolutiert die Bedeutung einer bestimmten Machart — Freiluftaufnahmen, quasi-amateurhafte Drehbedingungen/-resultate — und überschätzt ein bestimmtes thematisches Grundanliegen die Darstellung des eruptiven Jugendgefühls — als vermeintlich distinktive Merkmale der neuen Spielfilmästhetik und schraubt so die Nouvelle Vague auf den Status eines episodischen Phänomens zurück. Im Gegensatz hierzu sollte sich die Einsicht durchsetzen, daß nur die Erweiterung des Blickwinkels über die Durchbruchphase hinaus zugunsten

112. Das 'cinéma des auteurs' und die Nouvelle Vague

von Längsschnitt-Untersuchungen der Durchschlagskraft der Erneuerungsbewegung in vollem Umfang gerecht zu werden vermag. Die erwähnte Frontstellung gegen das Marktmonopol der 'qualité française' erschöpft sich nämlich nicht darin, berufsspezifisch und verfahrenstechnisch normierte Vorgaben zu verwerfen und in diesen Bereichen nach alternativen Konzepten zu suchen. Gerade im Hinblick auf die Berücksichtigung einer stärker inhaltsbezogenen Fragestellung verdient die Kritik der Jungfilmer an den mechanistischen Umsetzungspraktiken, wie sie von den Produktionsmaschinerien der 'qualité française'' bei der Verfilmung vorgegebener literarischer Stoffe angewandt werden, verstärkte Aufmerksamkeit.

2.

Die Forderung nach einem 'cinéma des auteurs' (François Truffaut: Une certaine tendance du cinéma française)

Ihren ebenso polemischen wie programmatischen Ausdruck hat die Ablehnung der eingespielten mimetischen Verfahrensweisen in François Truffauts berühmtem Cahiers du Ci«éwa-Artikel Une certaine tendance du cinéma français aus dem Jahr 1954 gefunden (vgl. Abdruck in Truffaut 1987, 192-207), mit dem der Einundzwanzigjährige zum ersten Mal auf sich aufmerksam macht, weil er mit seinen ebenso respektlosen wie treffsicheren Befunden zum Zustand des französischen Gegenwartskinos die Fachwelt vor den Kopf stößt (André Bazin, Herausgeber der Cahiers du Cinéma, zögerte offenbar längere Zeit, bevor er den brisanten Aufsatz zur Publikation freigab). Une certaine tendance kann über den dokumentarischen Wert als Zeugnis für die unbeeindruckte Forschheit, mit der eine neue, hochmotivierte Generation von Filmemachern das 'cinéma de papa' zu verdrängen suchte, hinaus als das kinematographische Manifest der Nouvelle Vague angesehen werden, das aus der radikalen Verweigerungshaltung gegenüber der Tradition den konstruktiven Ansatz für eine authentische filmische Neuorientierung entwickelt. Der Vorwurf, den Truffaut auf seine aggressive Art gegen den 'psychologischen Realismus' der 'tradition de la qualité' erhebt, bezieht sich auf die erdrückende Dominanz von Literaturverfilmungen im französischen Nachkriegskino. Der Verfasser beklagt, daß das für eine angeblich 'mediengerechte' Transformation von

1231 Sprachkunstwerken in bewegte Bilder aufgestellte Postulat der 'Werktreue' die Szenaristen (hier insbesondere die beiden Spezialisten Jean Aurenche und Pierre Bost) dazu nötige, sog. filmische 'Äquivalenzen' zu ersinnen. Zum einen kann der junge Filmkritiker dank seiner bemerkenswerten Sachkenntnis detalliert nachweisen, daß ein solches Umsetzungsverfahren scheitern muß, da kein Drehbuchverfasser eine solch genialische Flexibilität aufzubringen vermöchte, daß er der eigenständigen Inspiration der jeweiligen literarischen Vorlage und ihres Autors zumal in der ständig wechselnden Zusammenarbeit mit den jeweils ausführenden Regisseuren gerecht würde. So konstatiert Truffaut als Resultat des angewandten Aquivalenzdenkens statt der angestrebten Werktreue einen durchgängigen 'souci d'infidélité'' und darüber hinaus die ständige Nivellierung des Filmschaffens, weil alle Szenaristen aufgrund der penetranten Wiederverwendung eingespielter "Strickmuster" quasi immer wieder ein und dieselbe Geschichte erzählten. Schwerer als diese Diagnose wiegt für Truffaut die Tatsache, daß die so beliebte Verarbeitung bereits vorliegender literarischer Stoffe zu einer filmischen Version dem Drehbuch und damit Schriftstellern wie Aurenche und Bost zu einer völlig unverdienten Schlüsselstellung innerhalb des gesamten Schaffensprozesses verhelfe und ihnen als Literaten zweiter Ordnung das Recht gäbe, von diesem Status aus das Kino anmaßend zu einer Art 'Hilfskunst' zu degradieren, die lediglich die Aufgabe zu erfüllen habe, die Sache der gedruckten Literatur durch deren audiovisuelle Nachahmung zu befördern. Vor allem führt ein derartiges Schaffensverständnis dazu, daß dem Regisseur lediglich eine untergeordnete Funktion innerhalb des künstlerischen Produktionsprozesses zukommt (urheberrechtlich im juristischen Sinne gilt bis in die fünfziger Jahre übrigens tatsächlich der Verfasser des Drehbuchs als 'Autor' des betreffenden Films). Was Truffaut letztendlich am Paradigma der Literaturverfilmung mit der Degradierung des Regisseurs zum Befehlsempfänger des Drehbuchautors und Koordinator mit eingeschränkten Befugnissen beklagt, ist die Entfremdung der Beziehung zwischen Ausgangsstoff und dem eigentlichen Filmemacher. Bevor das zu verfilmende Material dem Regisseur anvertraut wird, hat es bereits einen zweistufigen Vermittlungsprozeß durchgemacht, die literarische Verarbeitung der betreffenden Welterfahrung durch eine Schrift-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

stellerpersönlichkeit und die wiederum literarisch konzipierte Verarbeitung zweiten Grades im Drehbuch des Films. Das Durchlaufen dieser Vorstufen gestattet es dem Regisseur nur noch, in seiner Eigenschaft als 'metteur en scène' das vorfmdliche Artefakt in das Medium der bewegten Bilder zu überführen. Aus seinem Vorwurf, der Drehbuchautor und mit ihm eine literarische Anmaßung gegenüber der Autonomie der filmischen Wirklichkeitsgestaltung bestimmten die filmische Praxis, leitet Truffaut, die Gegenposition für das eigene Schaffen ab. Er spricht sich klar dafür aus, endlich den Filmregisseuren als den eigentlichen 'Filmemachern' ('hommes de cinéma') die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihr Drehprojekt zu gewähren, und sieht keinerlei Veranlassung dazu, zur Auswahl und Aufarbeitung eines persönlichen Stoffs zwingendermaßen die Arbeit eines Szenaristen vor- und zwischenzuschalten. Im Idealfall nimmt der Regisseur sein Recht war, allein über den Inhalt seines Films und die Modalitäten der Ausführung in Dreharbeiten und Schnitt zu bestimmen. Noch einmal hat der Verfasser sein Programm des Autorenkinos in einem Artikel anläßlich der Filmfestspiele von Cannes 1957 auf den Punkt gebracht: „Le film de demain m'apparaît donc plus personnel encore qu'un roman, individuel et autobiographique comme une confession ou comme un journal intime. Les jeunes cinéastes s'exprimeront à la première personne et nous raconteront ce qui leur est arrivé: cela pourra être l'histoire de leur premier amour ou du plus récent, leur prise de conscience devant la politique, un récit de voyage, une maladie, leur service militaire, leur mariage, leurs dernières vacances et cela plaira presque forcément parce que ce sera vrai et neuf. [...] Le film de demain ressemblera à celui qui l'a tourné. "

(François Truffaut: Vous êtes tous témoins dans ce procès: le cinéma français crève sous les fausses légendes, zitiert nach Truffaut 1987, 223f.). Fünf Jahre nach Une certaine tendance wird es demselben François Truffaut und seinen Mitstreitern von der Nouvelle Vague vorbehalten sein, das in dem Pamphlet und seinem Nachhall von 1957 ausdrücklich eingeforderte 'cinéma d'auteurs' (man beachte den Plural) in der Kinopraxis zu verwirklichen und dafür zu sorgen, daß auch über die Grenzen Frankreichs hinaus der Begriff des 'Autorenfilms' zu einer selbstverständlichen Voraussetzung kinematographischen Schaffens wird.

Truffauts Forderung nach der uneingeschränkten Autonomie des Filmregisseurs als Autor stellt freilich kein absolutes Novum in der Filmgeschichte dar. Bereits 1948 hat Alexander Astruc in seinem Aufsatz Naissance d'une nouvelle avantgarde: la camérastylo (vgl. den Abdruck in Astruc 1992), das Prinzip des Autorenfilms sowohl im Hinblick auf die Abschaffung des Drehbuchs als obligatorischer Vermittlungsinstanz als auch mit der folgenden vielzitierten Formel verankert: „Ce qui implique, bien entendu, que le scénariste fasse lui-même ses films. Mieux, qu'il n'y ait plus de scénariste, car dans un tel cinéma cette distinction de l'auteur et du réalisateur n'a plus aucun sens. La mise en scène n'est plus un moyen d'illustrer ou de présenter une scène, mais une véritable écriture. L'auteur écrit avec sa caméra comme un écrivain écrit avec un stylo." (Astruc 1992, 327).

So liegt Astrucs Verdienst darin begründet, mitten in einer Zeit der Dominanz des Drehbuchs den ästhetischen Wert der filmischen Betätigung nicht in der Ausführung eines Diktats belletristischer Vorgaben zu sehen, sondern mit dem Bild der 'caméra-stylo' die Gleichwertigkeit von literarischer und filmtechnischer écriture zu behaupten. Dank einer solchen Vorgabe konnte François Truffaut 1954 Astrucs Überlegungen in aggressivpointierter Umschreibung aufgreifen, um dem eigenen Schaffen wie dem seiner Kollegen eine programmatische Orientierung zu geben. Bezogen auf den impliziten Vorwurf Truffauts, die Mimesis im Kino der 'qualité française' befinde sich in einem sklerotischen Zustand, laufen sowohl Astrucs 'Handschrift'Metapher als auch Truffauts Forderung nach einem „cinéma d'auteurs" darauf hinaus, in filmpraktischer Konsequenz die Beziehung zwischen Stoff und Autor zu re-vitalisieren, damit das in einem Spielfilm Verhandelte zum authentischen Ausdruck der Persönlichkeit des Regisseurs und dessen kommunikativen Anliegens, sei es in darstellungsästhetischer oder inhaltlicher Hinsicht, wird. Die von dem Kino der Nouvelle Vague praktizierte Orientierung an dem von François Truffaut postulierten Modell des 'Autorenkinos' bringt für die filmpraktische Arbeit eine in ihrer Selbstverständlichkeit wichtige Konsequenz mit sich, der dann auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rechnung zu tragen hat. Wenn im Sinne einer Wiederbelebung des Verhältnisses der Regisseure zu ihrem Inspirationsmaterial gefordert wird, daß jeder Autor sein persönli-

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ches Kino ohne Rücksicht auf Markt-, Gattungs- oder Stilzwänge zu verwirklichen hat, kann - ja darf es logischerweise ein einheitliches Erscheinungsbild der Erneuerungsbewegung, abgesehen von der Einhaltung äußerer Rahmenbedingungen, nicht mehr geben, würde doch ein solches Festhalten an Verbindlichkeiten der Aufforderung zu radikaler schöpferischer Authentizität von Grund auf zuwiderlaufen. Tatsächlich waren sich die betreffenden Cineasten dieser Implikation der 'politique des auteurs' durchaus bewußt und sind stets einhellig dem Mißverständnis entgegengetreten, daß die Solidarität während ihrer Gründerjahre gleichzeitig Ausdruck einer einheitlichen kinoästhetischen Programmatik gewesen sei. Mehr zu sein als eine Interessengemeinschaft zur Befreiung von den formalistischen Zwängen des 'qualité'-Produktionsapparats und zur Verteidigung ihres prinzipiellen Rechts auf künstlerische Selbstverwirklichung, wollten die einzelnen Vertreter also gar nicht für ihre Aktivitäten unter dem Markenzeichen der 'Nouvelle Vague' beanspruchen. Für die wissenschaftliche Betrachtung des Phänomens 'Nouvelle Vague' ergibt sich aus der Zielsetzung, einerseits werk- und autorenübergreifende Verallgemeinerungen im Rahmen eines in sich schlüssigen Erklärungsmodells vorzunehmen, und andererseits der per definitionem unaufhebbar disparaten Vielfalt von Einzelerscheinungen in diesem 'cinéma d'auteurs' Rechnung zu tragen, ein lediglich in Teilaspekten aufhebbarer Widerspruch. 3.

Die Praxis des Nouvelle

Vague-

Kinos in den wichtigsten Spielarten. Ein summarischer Uberblick Um im Rahmen dieses Abrisses, der natürlich keine erschöpfende Aufarbeitung des Nouvelle- J^gMe-Schaffens in allen Facetten zu leisten vermag, wenigstens einen Eindruck davon zu vermitteln, welche hauptsächlichen Ausprägungsformen die Umsetzung des innovatorischen Selbstverständnisses der neuen Generation von 'Autoren'-Regisseuren in die Praxis der Spielfilmproduktion hervorgebracht hat, sollen abschließend vier Kurzcharakteristiken einen halbwegs konkreten und exemplarischen Zugriff auf das Phänomen bieten. Ganz allgemein gilt für die inhaltliche Seite der Filmpraxis dasselbe, was für die produktionstechnische Seite bereits gesagt

1233 wurde: Wie unterschiedlich die einzelnen Filmemacher ihr gemeinsames Ideal der 'caméra-stylo' auch immer auf der Leinwand realisiert haben, so erweist sich doch als gemeinsamer Nenner dieser Schaffensvielfalt die Ablehnung der normierten Wirklichkeitsbildung, wie sie das Kino der 'qualité française' praktiziert. Die Regisseure der 'Neuen Welle' vollziehen, jeder auf seine spezifische Weise, den Bruch mit dem eindimensionalen Oberflächenrealismus des herkömmlichen Erzählkinos, das durch seine Stoffwahl und -behandlung sowie vermittels erfolgsbewährter Narrations- und Gestaltungsstrategien auf eingängige Publikumswirksamkeit abstellt. 3.1. Jean-Luc Godard: 'Dysnarration' als provokatives Konzept einer engagierten Filmkunst Um demgegenüber das Leitziel einer alternativen Filmästhetik inhaltlich zu erfüllen, stehen den Nouvelle Vague-Cineasten in übergeordneter Hinsicht zwei Optionen für den Umgang mit der filmischen Mimesis zur Verfügung. (I) Zum einen kann die Absage an das Überkommene dadurch besonders eindrucksvoll und zugleich provokativ in die Tat umgesetzt werden, daß die Nachahmung der Wirklichkeit, also die Illusion erlebter Realität in bewegten Bildern, als ausschlaggebendes Medienspezifikum des Kinos radikal in Frage gestellt wird. Zur generellen Kennzeichnung aller gestalterischen Maßnahmen, die eine solche Demontage des gewohnten kinematographischen Identifikationsmechanismus auf den verschiedenen Codierungsebenen bewerkstelligen, bietet sich von der François Vanoye formulierte Begriff der 'Dysnarration' an (vgl. Récit écrit-Récit filmique. Paris 1979, 199). 'Dysnarration' meint, daß für die Konstruktion filmischer Realität zwar auf den Einsatz narrativer Strukturen im Sinne einer 'Filmhandlung' zurückgegriffen wird, die Erzählkomponenten sowohl in ihrer Einzelausprägung als auch in ihrer jeweiligen Kombination so 'zweckentfremdet' eingesetzt werden, daß Diskontinuitäten und Bruchstellen die Darstellung des Leinwandgeschehens beherrschen und folglich die Illusionsbildung beeinträchtigen, wenn nicht gar verhindern. Die so gewonnene Distanz gegenüber dem Erzählten eröffnet Freiräume in der medialen Wahrnehmung, die alternative Erfahrungen durch das Kinoerlebnis hindurch vermitteln. Die cineastische Leitgestalt, die in diesem Sinn für die besonders kompromißlose Ab-

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sage an die Vorgaben der Qualitätstradition steht, ist ohne Zweifel Jean-Luc Godard (* 1930). Bereits in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm A bout de souffle (1960), der geradezu als Manifest der neuen Filmästhetik Geltung besitzt, und in der Folgezeit in mannigfaltigen inszenatorischen Variationen und thematischen Schwerpunktsetzungen hat Godard während seiner mittlerweile vierzigjährigen Drehpraxis das Konzept der Außerkraftsetzung konventioneller kinematographischer Wahrnehmungsgewohnheiten mit unbeirrbarer Konsequenz verwirklicht. Godard verfolgt das Konzept der 'Dysnarration' auf den unterschiedlichen Repräsentations- und Codierungsebenen: Bereits in handwerklicher Hinsicht ist der Regisseur bei den Dreharbeiten bestrebt, die eingeführten Gepflogenheiten des Metiers in Frage zu stellen: Die Verwendung völlig unüblichen Belichtungsmaterials (photographische Rohfilme), die Durchführung vom Kamerafilmen mit unprofessionellen Gerätschaften, der Einsatz von Reißschwenks und falschen Bildanschlüssen ('faux raccords') bzw. Achsensprüngen zwischen den einzelnen Einstellungen oder auch die Verwendung von Gegenlichtaufnahmen zum Schaden einer klaren Bildkonturierung mögen einen Eindruck davon vermitteln, wie solche vermeintlich krass dilettantischen Inszenierungsmaßnahmen in Wahrheit als Ausdrucksformen einer bilderstürmerischen Filmästhetik einzuordnen sind. Godards dekonstruktiver Impetus findet seine Fortsetzung auf der Ebene des filmischen Erzählens und der Wirklichkeitsmodellierung. Hier läßt u. a. der Einsatz von jump cuts und intradiegetischen Schrift-inserts keine Identifikation mit den abgebildeten Realitätsausschnitten aufkommen, wie ebenso Figurendarstellung und Handlungsführung ständig darum bemüht sind, das festgefügte Bild vom 'Filmhelden' und seinen standardisierten Erscheinungsweisen in genau determinierten Ereignisabläufen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in Frage zu stellen und damit die restriktive Geltung von filmischen Gattungsgesetzen und -grenzen zu hinterfragen. Godards Realisationen vermögen in den verschiedenartigen Ausprägungen der Einzelfilme zugleich zu dokumentieren, daß die ebenso konsequente wie kreative Entfaltung dysnarrativer Darstellungstechniken sich nicht im ästhetischen Selbstzweck erschöpft, sondern wichtige „SpieP'-Räume eröffnet, innerhalb derer engagierte kultur- und gesellschaftskritische, ja sogar gezielt politische Semantisierungsab-

sichten als Anliegen des Filmemachens kommunizierbar werden. (II) Auch wenn ganz unbestrittenermaßen das Spielfïlm-Œuvre J.-L. Godards als epochaler Beitrag zur Durchsetzung einer bis dato immer wieder marginalisierten Alternative kinematographischen Selbstverständnisses einzustufen ist, sollte darüber nicht dem häufig anzutreffenden Mißverständnis Vorschub geleistet werden, das darin besteht, die Godard'sche Spielart des Autorenkinos zum alleinverbindlichen Maßstab für die Innovationskapazitäten der Nouvelle Vague zu deklarieren. Nicht zu unterschätzen ist nämlich die Bedeutung einer zweiten Gruppe von Filmemachern aus dem Umkreis der Cahiers du Cinéma-Kritik, die im Gefolge des Herausgebers und Filmtheoretikers André Bazin einen anderen, auf den ersten Blick kompromißbereiteren Weg zur Ablösung der 'qualité française' -Ästhetik einschlägt. Es handelt sich um Regisseure, die sich vordergründig den Grundprinzipien des realistischen Filmerzählens verschreiben und freiwillig auf die etablierten Darstellungscodes zurückgreifen, dann aber durch die originelle Art und Weise des Umgangs mit den konventionalisierten Themen, Stoffen, Figuren und Gattungsvorgaben gleichsam 'von innen heraus' Grenzüberschreitungen wagen und zu neuen filmischen Erfahrungsweisen vorstoßen. Drei der wichtigsten dieser Regisseure seien zur Komplettierung des breiten Spektrums an Beiträgen zu einer allgemeinen Ästhetik der Nouvelle Vague vorgestellt. 3.2. Eric Rohmer: Die Unbestechlichkeit des filmischen Realismus und die Absage an die konventionellen Handlungsmuster des Spielfilms Als Hauptvertreter für die Option eines unbedingten und gerade deshalb zugleich unkonventionellen und Spielfilmrealismus in Theorie und Praxis kann Eric Rohmer (* 1922) angeführt werden (vgl. seine gesammelten filmkritischen und -ästhetischen Äußerungen in Rohmer 1989). Entgegen dem ersten Anschein ist er es, der hinsichtlich der Handhabung wirklichkeitskonstituierender Verfahren auf der Ebene von Stoffwahl und narrativer Entfaltung am deutlichsten die Normen des herkömmlichen 'Erzählkinos' unterläuft, indem er die mimetische Kategorien von 'Intrige' und 'Handlung' in einer Weise konkretisiert, die den Erwartungshorizont des Kinopublikums gegenüber Genre- und Narrationsvorgaben empfindlich durchbricht. Roh-

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mers mehrheitlich in Zyklen organisierte Filmgeschichten (Six contes moraux, Comédies et proverbes, Contes des quatre saisons) erzählen von Alltagsproblemen vordergründig vermeintlich banaler Art, nicht mehr spielfilmtypisch von Leidenschaft, Verbrechen und Tod, und sie laufen so ereignisarm wie irgend möglich ab. Verstärkt wird der trügerische Eindruck der 'Langweiligkeit' noch durch den Umstand, daß Rohmer im Unterschied zu den spärlichen Handlungselementen den Dialogpassagen eine geradezu aufreizend extensive Rolle einräumt. Zusätzlich bewirkt der Regisseur durch die ständige Verwendung von Ironiesignalen die Demontage der kinoüblichen Abenteuerlichkeit, an deren Stelle die unverstellte, nicht durch Gattungsvorgaben und Zugeständnisse an die Unterhaltungspräferenzen des Publikums beeinträchtigte Anschauung der Welt in ihrer Objektivität tritt. Damit geraten alle Werke Rohmers zur filmimmanenten Reflexion des Kinos über seinen Auftrag und seine spezifische mediale Leistungsfähigkeit, die Wahrheit der Welt und die Bedingungen ihrer Erkenntnis zur filmischen Anschauung zu bringen. Gleichzeitig modellieren Rohmers Werke immer wieder die Autonomie des Wirklichen gegenüber den engen Spielräumen menschlicher Handlungsautonomie aus: Die jeweiligen Filmprotagonisten sind nicht imstande, ihre Identitätsfindung selbst zu kontrollieren, sondern werden in ihrem Schicksal von den verborgenen Bedingungszusammenhängen der Außenwelt gesteuert, deren Überlegenheit gerade in den Filmschlüssen immer wieder auf frappierende Weise visualisiert wird. Eine derartige 'vision du monde'' bringt einerseits Konfigurationen des Scheiterns hervor, andererseits greift Rohmer aber auch im positiven Sinn auf situative Konstellationen zurück, die in Gestalt des providentiellen 'Zufalls' rettend in die menschliche Existenz eingreifen. 3.3. Claude Chabrol: Schein und Sein — die Absage an den Geltungsanspruch der filmischen Oberflächenwirklichkeit im Zeichen der Gesellschaftskritik Dort, wo Eric Rohmer die Leistungsfähigkeit der filmischen Wirklichkeitsabbildunbg zum Zentralthema seines Œuvre macht, setzt sich Claude Chabrol (* 1932) vermittels der Kamera-Anschauung kritisch mit der Geltung dieser Objektivitätsprämisse auseinander. Der Regisseur wird im Rahmen seines mittlerweile zum Monumental werk gediehenes

1235 Schaffens (bislang über 50 Spielfilme) nicht müde, durch die Wahl und Durcharbeitung seiner wesentlich konventionelleren Stoffe und Handlungsmuster hindurch zu demonstrieren, wie untauglich die Vorstellung eines verbindlich-glatten Oberflächenrealismus im Stil der 'qualité française'' ist. Chabrols Filme thematisieren in mannigfaltigen Variationen, daß Wahrheit sich gerade dort, wo sie vermeintlich am überzeugendsten zur Darstellung kommt, als scheinhaft entpuppt. Erkenntnis und Orientierung wird hier nur demjenigen zuteil, der einen grundsätzlichen Skeptizismus gegenüber der Zuverlässigkeit menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung walten läßt und die vertrauten 'Ansichten' seiner Lebenswelt vorbehaltlos hinterfragt. Kernstück dieser kritischen 'Filmphänomenologie' von Schein und Sein ist die gesellschaftliche Konditionierung der Realitätserfahrung. In Chabrols Werken erweist sich die schonungslose Infragestellung der äußerlichen Welt immer als eine solche der bürgerlichen Gesellschaft und ihres verlogenen Ordnungsanspruchs. Die Diagnose der prinzipiellen Scheinhaftigkeit gesellschaftlicher Interaktion artikuliert sich in Chabrols gelungensten Filmen in der meisterhaften Enthüllung des virulent Psychopathologischen im buchstäblichen Sinne des 'ganz normalen Wahnsinns'. 3.4. François Truffaut: Kino und Psyche — filmische Wirklichkeitsbildung als Aufarbeitung individueller und kollektiver Traumata Eine von Grund auf andere Spielart des filmischen Realismus unter dem Vorzeichen der Nouvelle Vague hat der relativ früh verstorbene Wortführer aus den Cahiers du CinémaZeiten, François Truffaut (1932—1984), praktiziert. Truffauts 21 Spielfilme sind allesamt hinsichtlich bildsprachlicher Mittel, Figurenkomposition und Handlungsstruktur so rekurrent codiert, daß sie sich bei genauerem Hinsehen als Einzelmanifestationen einer fest umrissenen filmischen 'Tiefenstruktur' zu erkennen geben. Diese alle Realisationen beherrschende semantische Tiefenstruktur hat sich konstituiert als Produkt der radikalen Subjektivität, mit der der Filmemacher die eigene, 1954 theoretisch aufgestellte Forderung nach der Revitalisierung des Verhältnisses von Stoff und Regisseur innerhalb des 'cinéma d'auteurs' nun in seiner Filmpraxis konsequent einlöst. In diesem geschlossenen Erzähluniversum besteht die Funktion der 'ca-

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XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

méra-stylo' darin, eine elementare psychische Defiziterfahrung persönlicher, jenseits davon zugleich aber auch kollektiver Natur - das Erleben von Kindheit und Sozialisierung als existentielles Trauma — bildhaft und narrativ so zu codieren, daß sie durch das Medium des Spielfilms hindurch überhaupt artikulierbar gemacht und durch die fast schon obsessive Wiederholung im Akt der filmischen Wirklichkeitsbildung dann auch bewältigt wird. Nicht zufallig weisen fast alle Filme François Truffauts eine autobiographische und zugleich autopoetische Dimension in dem Sinne auf, daß der Regisseur mit Vorliebe Protagonisten in Szene setzt, die zu allen möglichen Außerungsformen der Fiktion greifen, um ihre Probleme aufzuarbeiten und sich dadurch medial von ihnen zu befreien — eine eindringlichere Demonstration dessen, was 'Autorenkino' meint und zu leisten vermag, läßt sich kaum vorstellen. Von der heutigen Kinosituation aus rückblickend wird man behaupten können, daß die tendenziell eher als 'realistisch' einzustufende Spielart der Nouvelle Vague, wie sie hier mit den Namen von Chabrol, Rohmer und Truffaut vorgestellt worden ist (im Rahmen einer erweiterten Betrachtungsperspektive wären außerdem Regisseure wie Louis Malle und Jean-Pierre Melville zu berücksichtigen), nicht nur für die französische, sondern für die gesamteuropäische Kinokultur in stärkerem Maße eine modellstiftende Wirkung ausgeübt hat als das primär auf Illusionsdurchbrechung abhebende Konzept der Dysnarration, wie es von Jean-Luc Godard und den ebenfalls bei allgemeinerer Betrachtungsweise zu berücksichtigenden Vertretern des sog. 'cinema de la rive gauche' mit Alain Resnais, Marguerite Duras und Agnès Varda, praktiziert wird.

4.

Literatur

Astruc, Alexandre, Naissance d'une nouvelle avant-garde: la caméra-stylo. In: Ders., Du stylo à la caméra ... et de la caméra au stylo. Écrits (1942-1984). Paris: L'Archipel 1992, 324-328. Bonitzer, Pascal, Eric Rohmer. Paris 1991. Clouzot, Claire, Le cinéma français depuis la Nouvelle Vague, Paris 1972. Collet, Jean, Jean-Luc Godard, Paris 2 1974. De Baecque, Antoine/Serge Toubiana, François Truffaut. Paris 1996. Douin, Jean-Luc, Jean Luc Godard. Paris 1989. - (Hrsg.), La Nouvelle Vague 25 ans après. Paris: Cerf 1983. Gillain, Anne, François Truffaut, le secret perdu. Paris 1991. Godard, Jean-Luc, Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Paris 1985. Magny, Joël, Claude Chabrol. Paris 1987. Marie, Michel, La Nouvelle Vague. Une école artistique. Paris 1997. Monaco, James, The New Wave (Truffaut, Godard, Chabrol, Rohmer, Rivette). New York 1976. Paech, Joachim, Gesellschaftskritik und Provokation — Nouvelle Vague: Sie küßten und sie schlugen ihn (Les quatre cents coups, 1959). In: Werner Faulstich/Helmut Körte (Hrsg.), Fischer Filmgeschichte. Bd. 3: Auf der Suche nach Werten. 19451960. Frankfurt a. M. 1990, 362-385. Rohmer, Éric, Le goût de la beauté. Paris: Flammarion 1989 (Textes réunis et présentés par Jean Narboni). Truffaut, François, Le plaisir des yeux. Paris: Cahiers du Cinéma 1987 (Textes réunis et présentés par Jean Narboni und Serge Toubiana). —, Correspondance. Paris 1988.

Klaus Peter Walter, Passau

(Deutschland)

113. Der DDR-Film

1237

113. Der DDR-Film 1. 2.

7. 8. 9.

Vorbemerkung Von der DEFA-Gründung bis zur I. Filmkonferenz (1946-1952) Vom 'Neuen Kurs' bis zur 2. Filmkonferenz (1953-1958) Von der 2. Filmkonferenz zu Mauerbau und II. ZK-Plenum (1958-1965) Vom 11. ZK-Plenum zum 8. SED-Parteitag (1965-1971) Relative Freiheit und Beginn einer neuen Eiszeit (die siebziger Jahre) Die letzte Epoche (1980-1989) Das Ende (1990-1992) Literatur

1.

Vorbemerkung

3. 4. 5. 6.

Von der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende des zweiten deutschen Staates war die Filmproduktion — abgesehen vom Fernsehen — in der Deutschen Demokratischen Republik Sache der DEFA (Deutsche Film AG). Dabei ist grundsätzlich für alle kulturhistorischen Abschnitte von einer unmittelbaren Abhängigkeit ihrer Arbeit von den ideologisch-politischen Vorgaben der SED-Führung (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) auszugehen, wobei allerdings die jeweils spezifischen Rahmenbedingungen die Freiräume für das künstlerische Personal enger oder weiter steckten.

2.

Von der DEFA-Gründung bis zur 1. Filmkonferenz (1946-1952)

2.1. Im Anschluß an eine prinzipielle Verständigung deutscher Emigranten in Moskau über die Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg arbeitete ab Januar 1945 eine Kommission der Kommunistischen Partei über kulturelle und ideologische Fragen. Ihr gehörten Männer an, die im Filmwesen der D D R wichtige Rolle spielen sollten: Anton Ackermann, Paul Wandel und Sepp Schwab. Eine Woche vor Beendigung der Kampfhandlungen wurde seitens der sowjetischen Stadtkommandantur Berlin der Betrieb von Kinos erlaubt. Nur wenig später arbeiteten einige Tobis-Ateliers wieder, deren erste, für den Start in eine neue deutsche Filmproduktion strukturell und künstlerisch bedeutsame Aufgabe in der Synchronisation sowjetischer Filme bestand. Der Zentralverwaltung für Volksbildung (ZV) unterstellt, bereitete ab

Herbst 1945 ein 'Filmaktiv' unter Leitung von Hans Klering die Gründung einer Produktionsfirma vor. Am 17. November 1945 kamen knapp 40 Personen im Hotel 'Adlon' zusammen, um die programmatischen Weichen zu stellen. Es ging zügig voran: im Januar 1946 Eingliederung des Filmaktivs in die ZV; Anfang Februar Vorlage eines Spielfilmplans; Produktion von Wochenschauen und ersten Dokumentarfilmen; Drehbeginn zum Spielfilm 'Die Mörder sind unter uns' noch vor der Gründung der DEFA, die am 17. Mai 1946 feierlich begangen wurde. In seiner Ansprache betonte S. Tulpanow, der die Sowejetische Militäradministration (SMAD) vertrat, die wichtigste Aufgabe sei der Kampf um den demokratischen Aufbau Deutschlands und die Ausrottung der Reste des Nazismus und des Militarismus [...], das Ringen um die Erziehung besonders der Jugend im Sinne echter Demokratie und Humanität [...]. Nach Auflösung des Aktivs stellten seine ehemaligen Mitglieder die Leitung der DEFA. 2.2. Dies alles gab zu Hoffnungen in die künftige Entwicklung Anlaß, die zunächst durch die Qualität der ersten Filme Bestätigung erfuhren. Exemplarisch seien zwei Werke des Jahres 1946 herausgestellt: 'Die Mörder sind unter uns' (Regie: Wolfgang Staudte), ein Film, der auch international große Anerkennung fand, wirft die Frage nach dem Umgang mit Kriegsverbrechern auf. Formal knüpft er an expressionistische Traditionen an. Ganz anders, weniger düster, schildert Gerhard Lamprechts 'Irgendwo in Berlin', ein weiterer sog. 'Trümmerfilm', die Situation Jugendlicher in der zerstörten Stadt. 2.3. Der radikale Bruch mit der Vergangenheit, die mit größer werdendem zeitlichen Abstand immer stärker der historischen Analyse unter der Fragestellung „wie konnte das geschehen?" zuneigende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus prägt so wichtige Filme wie 'Ehe im Schatten' (Regie: Kurt Maetzig, 1947), 'Grube Morgenrot' (Regie: Wolfgang Schleif, 1948), 'Affaire Blum' (Regie: Erich Engel, 1948), 'Rotation' (Regie: Wolfgang Staudte, 1949), 'Die Buntkarierten' (Regie: Kurt Maetzig, 1949). Ein Film mit ausdrücklichem Bekenntnis zur sozialistischen Lebensweise kam mit Slatan Dudows

1238

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

'Unser täglich Brot' erst 1949, im Gründungsjahr der D D R , in die Kinos. Anzumerken ist, daß die Themen Nationalsozialismus und Krieg, in ζ. T. sehr bedeutenden Werken, das DEFA-Filmschaffen zu allen Zeiten beschäftigt haben. 2.4. Schon vor 1949 hatte sich eine Klimaveränderung angebahnt, deren Richtung in einer Umstrukturierung deutlich zu werden begann: Die DEFA, als deutsche Aktiengesellschaft gegründet, kurzzeitig als Gesellschaft mit beschränkter Haftung geführt, wurde am 11. November 1947 in eine sowjetisch-deutsche AG mit nach außen nicht in Erscheinung tretender sowjetischer Mehrheit umgewandelt, wobei die deutschen Aktionäre verpflichtet wurden, ihre Funktion treuhänderisch für die SED wahrzunehmen, die sich mittels mehrerer besonderer Gremien zudem die Genehmigung der Produktionsvorhaben sowie die personalpolitischen Entscheidungen vorbehielt. In der Folgezeit gab es erhebliche personelle Veränderungen an der Spitze der DEFA, deren neuer Direktor der politisch 'zuverlässige', fachlich unzulängliche Sepp Schwab wurde. 2.5. Die Umwandlung der SED Anfang 1949 zur 'Partei neuen Typs' zog die stalinistisch geprägte Umgestaltung auch des kulturellen Lebens nach sich. Offiziell wurde die Konzeption einer auf das ganze Deutschland gerichteten Kulturpolitik weiter verfolgt. „Die vulgärsoziologische Auffassung leitender Funktionäre von der gesellschaftlichen Rolle des Films wirkte sich verstärkt im Übergang zu den fünfziger Jahren aus. Die Gründerjahre der DEFA gehören dagegen zu den glücklichsten. Sie waren voller Illusionen, von denen sich immerhin nicht wenige realisieren ließen", so die ein wenig verklärende Rückschau Christiane Mückenbergers (1994, 44). Zu keiner Zeit war hingegen die Kulturpolitik der SED so stark an der Sowjetunion (SU) orientiert wie in den frühen fünfziger Jahren. 2.6. Die Begleitumstände von vier Uraufführungen des Jahres 1950 verdeutlichen die neue Situation: Während die Komödie 'Der Kahn der fröhlichen Leute' (Regie: Hans Heinrich) sich sozusagen noch im Geiste der Anfangsjahre bewegte, kam mit Gustav von Wangenheims 'Der Auftrag Höglers' ein von schlichter Schwarz-weiß-Malerei geprägter antiwestlicher Agitationsfilm in die Kinos.

Filme dieser Machart wurden auf einer Tagung eines der SED-Gremien (vgl. 2.5.), der DEFA-Kommission, im Februar 1950 gefordert, Filme, „die aktuelle politische Prozesse nicht nur schlechthin widerspiegeln, sondern im Sinne der Partei in sie eingreifen; das Kino als Propagandainstrument [...]" (Schenk, 1994, 51). Von bis dahin unerhörter Heftigkeit war die Ablehnung des von Hans Müller und Wolfgang Schleif inszenierten Films 'Bürgermeister Anna'. Ahnlich erging es Arthur Pohls 'Die Jungen von Kranichsee', der anhand einer Kinder-Abenteuergeschichte systematisch die Zielsetzungen der 'demokratischen Schulreform' vor Augen führt. Der Film ist im Oktober 1950 angelaufen. Während der Endfertigung wurde die Konzeption der Schul-Neugestaltung, bis dahin überwiegend reformpädagogisch geprägt, in Richtung auf eine 'Sowjetisierung' verändert, so daß der fertige Film politisch nicht mehr in die Landschaft paßte und 'nachgebessert' werden mußte. Beide Fälle boten Anlaß für eine Verschärfung der Zensur: Bestimmte Fachgebiete tangierende Sujets waren nun auch noch mit der jeweils zuständigen SEDAbteilung zu beraten. Filme wie 'Der Rat der Götter' (Regie: Kurt Maetzig, 1950) oder 'Familie Benthin' (Regie: Kurt Maetzig und Slatan Dudow, 1950) entsprachen hingegen den Vorstellungen der Parteispitze, doch „einigermaßen pikant ist: Keiner der prominenten Regisseure möchte sich im Vorspann zu diesem ersten großen politischen Auftragsfilm der DEFA bekennen" (Schenk, 1994, 58). 2.7. Der „Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur" und die Parteitags-Forderung, 'zeitnahe' Filme zu drehen, verstärkten den Anpassungsdruck, führten aber auch zu Irritationen, weil die Parteilinie raschen Schwankungen unterlag. Der Regisseur Richard Groschopp: „Es gab große Unsicherheiten, Irrtümer, Mißverständnisse. Wollte ein Filmemacher einen Stoff realisieren, so durchschritt er gewissermaßen einen Gang mit geheimen Klingelkontakten. Und es klingelte, wenn er in die Nähe kam von: Formalismus, Praktizismus, Opportunismus, Revisionismus, Funktionalismus, kritischem Realismus, Surrealismus, Schematismus, Bürokratismus, Psychologismus usw. [...] Die vielen Ismen löschten [...] viele schöpferische Funken" (vgl. Schenk, 1994, 64). Die Produktion sank zwischen 1950 und 1953 stän-

113. Der DDR-Film dig, weil viele Projekte gestrichen wurden. Etliche Filmschaffende gingen in den Westen. 2.8. Für den 17./18. September 1952 wurde eine Filmkonferenz einberufen, die den ersten Tiefpunkt in der Geschichte des DDR-Filmwesens markierte. Hermann Axen hielt das Hauptreferat: „Zeigen Sie in ihren Filmen [...] den demokratischen Charakter, die Volksverbundenheit unseres neuen Staatsapparates! [...] Fangen Sie diese aufgehende Sonne der sozialistischen Arbeit, des sozialistischen Bewußtseins [...] auf!" (Vgl. RülickeWeiler u. a. 1979, 127f.; Schenk, 1994, 73f.) Antiwestliche Propaganda (Hellbergs 'Das verurteilte Dorf') wurde gepriesen, Dudows 'Frauenschicksale' verdammt, weil angeblich der 'positive Held' fehle. Sepp Schwab (vgl. 2.5.) wurde Leiter des Staatlichen Filmkomitees, dem alle DEFA-Betriebe unterstellt wurden. Der Prozeß einer 'Ideologisierung nach Plan' (Jäger 1982, 25) war abgeschlossen). 2.9. Mit Wirkung vom 1. Januar 1953 wurde die D E F A aufgelöst und in eine Reihe eigenständig arbeitender Volkseigener Betriebe aufgespalten, so ζ. B. das VEB DEFA-Studio für Spielfilme (VEB = Volkseigener Betrieb). Direktor war (seit November 1952) Hans Rodenberg. Die vielfaltigen Probleme waren durch solche M a ß n a h m e n nicht in den Griff zu bekommen.

3.

Vom 'Neuen Kurs' bis zur 2. Filmkonferenz (1953-1958)

3.1. Stalins Tod hatte gravierende Neuorientierungen, auch im Bereich der Kulturpolitik, zur Folge. Der 'Neue Kurs' (Politbürobeschluß 9. Juni 1953) sollte bei Beibehaltung der sozialistischen Grundlagen die Lebensumstände in der D D R auf den wichtigsten Gebieten verbessern. Für die Kunst bedeutete dies die lockerere Anwendung des sozialistischen Realismus. Kurt Maetzig formulierte 'Zehn Thesen zum Neuen Kurs in der Filmkunst': „[...] Unsere Filmkunst m u ß [...] eine viel reichere Palette zeigen als bisher. [...] Ungehinderte freie Auseinandersetzung in Fragen der Kunst ist notwendig" (vgl. Schenk 1994, 83). 3.2. Obwohl die Bundesregierung gegen jede Kooperation mit der D E F A war, insbesondere ihre Filmbürgschaften als Druckmittel in die-

1239 sem Sinne einsetzte, gab es schon vor dem offiziellen Programm der DDR-Regierung 'Zur Verteidigung der Einheit der deutschen Kult u r ' (März 1954) in nicht geringem U m f a n g Zusammenarbeit mit westdeutschen Künstlern. Den vielfaltigen Belastungen, denen sie ausgesetzt war, hielt sie nicht immer stand, wie vor allem das gescheiterte DEFA-Projekt einer 'Buddenbrock'-Verfilmung zeigte. Die Kooperation mit Partnern anderer westlicher Länder (Frankreich, Italien u. a.) stand insgesamt unter einem günstigeren Stern. 3.3. Höhepunkt (aus der Sicht der Partei) des Filmschaffens dieser Zeit war Maetzigs monumentaler Zweiteiler 'Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse' (1954) und 'Ernst Thälmann, Führer seiner Klasse' (1955), der mit ungewöhnlichem Aufwand realisiert wurde. Ästhetisch orientiert an den Stalin-Filmen Tschiaurelis, wurde das Projekt nicht nur wegen der Bedeutung, die die zentrale Lichtgestalt — als solche auch im Film verklärt — für die SED hatte, sondern auch, weil der Stoff Gelegenheit zur Rechtfertigung eigener aktueller Politik bot, als 'vorrangige Parteiaufgabe' gesehen. Der Film hatte in der D D R enormen Erfolg, dies auch, weil sein Besuch gleichsam Pflicht für alle möglichen Kollektive wurde. Ähnliche Bedeutung hatte Martin Hellbergs 'Thomas Müntzer' (1956). Differenzierter in der Aufbereitung des Sujets (Dorfentwicklung von 1945 bis 1953) gibt sich 'Schlösser und Katen' (Regie: Kurt Maetzig, 1957), der auch die kritische Behandlung der Kollektivierung nicht scheute. 3.4. Einen ihrer künstlerischen Gipfel erreichte die D E F A mit den sog. 'Berlin-Filmen' der fünfziger Jahre, die, beeinflußt vom ital. Neorealismus, weitgehend an Originalschauplätzen gedreht, um dokumentarisch genaue Schilderung der 'Milieus' in Ost und West bemüht, den Alltag der geteilten Stadt beschreiben. Mit 'Alarm im Zirkus' (1954) begann die fruchtbare Kooperation des Regisseurs Gerhard Klein mit dem Autor Wolfgang Kohlhaase. Nachdem 1956 die west-östliche Liebesgeschichte 'Eine Berliner Romanze', gefolgt war, verdankt die D E F A (1957) diesem Team einen ihrer besten 'Gegenwartsfilme': 'Berlin—Ecke Schönhauser'. Dieser, gegen erhebliche Widerstände durchgesetzte Streifen, wobei der Vorwurf maßloser Überspitzung der negativen Aspekte im DDR-Alltag erhoben wurde, versuchte, die Ursachen des

1240

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

'Halbstarken'-Problems aufzuzeigen. Auf der 2. Filmkonferenz (vgl. 3.5.) wurde die Kritik noch verschärft: Man warf dem Film 'bürgerliche Dekadenz' vor und bemängelte ausdrücklich seine formale Nähe zum Neorealismus. Ein weiterer 'Berlin-Film' wurde mit 'Sheriff Teddy' (1957) von Heiner Carow beigesteuert, der wie G. Klein zur zweiten RegieGeneration gehört, die die Produktion der folgenden Jahre prägte und sich in auffälliger Weise Gegenwartsstoffen zuwandte. Insgesamt wurde in Fortsetzung dieser Tradition der 'Gegenwartsfilm' eine der quantitativ bedeutendsten Sparten des DDR-Spielfilmschaffens. 3.5. Als Endpunkt eines langen, von mancherlei Schwankungen begleiteten Prozesses, die ihre Ursache häufig in deutschland- und weltpolitischen Ereignissen (Nato-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland; Hallstein-Doktrin; Ungarn-Aufstand usw.) hatten, ist die 2. Filmkonferenz vom 3 . - 5 . Juli 1958 in Berlin anzusehen. Das Ende des 'Neuen Kurses' deutete sich schon in einem Gespräch zwischen dem zuständigen ZK-Sekretär und den Leitungen von DEFA und HV im Mai 1957 an, das in Zusammenhang mit dem 30. ZKPlenum (30. 1 . - 1 . 2 . 1957) und der Verhaftung mehrerer prominenter Intellektueller stand. Restriktiv-programmatische Thesen 'Für eine sozialistische deutsche Kultur' formulierte die Kulturkonferenz (Okt. 1957). Vor den ca. 500 Delegierten der Filmkonferenz stellte Alexander Abusch (stellv. Kulturminister) im Hauptreferat mit Bezug auf die Filme der letzten Jahre fest, man habe aus der auf dem 20. KPdSU-Parteitag vorgetragenen Kritik am Stalin-Kult und seinen Konsequenzen für die Kultur die falschen Schlüsse gezogen und einzelne negative Erscheinungen in unzulässiger Weise verallgemeinert. Maetzigs 'Vergeßt mir meine Traudel nicht' (1957), in dem ein Lehrer und ein Polizist der aus dem Heim entflohenen Waise helfen und es mit der Legalität nicht so genau nehmen, wurde veruteilt. Auch die 'Berlin-Filme' (vgl. 3.4.) zog man als negative Beispiele heran. 'Parteilichkeit' als künstlerisches Prinzip wurde verbindlich angemahnt. „War die erste Konferenz [...] nur einer von vielen Bausteinen einer filmkulturellen Stagnation, setzt die zweite einen verhängnisvollen Riegel vor eine nach vielen Seiten hin blühende Entwicklung. Der Juli 1958 ist ein ähnlich tragisches Datum für die DEFA wie später der Dezember 1965 mit seinem 11. Plenum" (Schenk 1994,

134). Von sowjetischer Seite wurde Konrad Wolfs 'Sonnensucher' (1958), ein packendes Dokument über die Zustände im Uranbergbau der 'Wismut', so sehr abgelehnt, daß sich das 12jährige Vorführungsverbot wohl von daher erklärt. Die Folge von Gängelungen, Verdächtigungen und Verboten war ein enormer Rückgang der Zuschauerzahlen sowie eine allgemeine Unzufriedenheit mit den DEFA-Produktionen, die nirgendwo Anschluß an das internationale Niveau, einschl. der Sowjetunion ('Die Kraniche ziehen'), fanden; es sei denn, man rechnet Frank Beyers 'Fünf Patronenhülsen' (1960), der ästhetisches Neuland betrat, unter die Spitzenleistungen der Filmkunst.

4.

Von der 2. Filmkonferenz zu Mauerbau und 11. ZK-Plenum (1959-1965)

4.1. Anfang der sechziger Jahre schufen Unbefangenheit und Experimentierfreude vieler Filmschaffender — in ständigem Ringen mit den Zensurinstanzen — eine gegenläufige Tendenz. Auf dem Weg aus der Talsohle heraus wurde zudem eine strukurelle Maßnahme bedeutsam: Die Aufteilung der DEFA in zunehmend selbständiger werdende Arbeitsgruppen, die zwischen 1959 und 1961 vorgenommen wurde und unter der Leitung des neuen Direktors Jochen Mückenberger eine 'Demokratisierungsphase wie nie zuvor' einleitete. 4.2. Der Bau der Mauer tangierte das Filmwesen zunächst kaum. Es verband sich mit ihm trotz aller Beklemmung sogar die Hoffnung, durch die Schließung der Grenze würden die Bedingungen für Kritik am DDR-Sozialismus mit dem Ziel seiner Verbesserung günstiger als früher sein. 4.3. Mit Maetzigs 'Septemberliebe' kam 1961 ein die noch offene deutsch-deutsche Grenze behandelnder Streifen, mit Kleins 'Der Fall Gleiwitz' ein angesichts der Ost-West-Spannungen aktuell erscheinender antifaschistischer Film in die Kinos. Die Mauer selbst wurde in wenigen, dem Stoff kaum angemessenen Filmen thematisiert. Erwähnenswert vielleicht 'Sonntagsfahrer' von Gerhard Klein (1963), aber auch dieser erfolglose Film vereinfachte stark. In der Folge wurde das Thema verdrängt.

1241

113. Der DDR-Film 4.4. Das gesellschaftskritische Potential etlicher Gegenwartsfilme wie 'Ach du fröhl i c h e . . . ' (Regie: Günter Reisch, 1962), 'Beschreibung eines Sommers' (Regie: Ralf Kirsten, 1962), Dudows Torso 'Christine' (1963), 'Karbid und Sauerampfer' (Regie: Frank Beyer, 1963), eine der gelungensten Komödien der DEFA, die die Teilung Deutschlands mit lässiger Leichtigkeit behandelt, 'Der geteilte Himmel' von Konrad Wolf (1964), Egon Günthers 'Lots Weib' (1965), 'Die besten Jahre' (Regie: Günther Rücker, 1965) kann gewissermaßen als 'Vorbereitung' auf die Verbotsfilme der Zeit des 11. Plenums gesehen werden. Einige von ihnen, vor allem 'Der geteilte Himmel', wurden gerügt, was aber ihre Kino-Existenz nicht bedrohte. 4.5. Die wichtigsten 'antifaschistischen' Arbeiten dieser Zeit waren Konrad Wolfs Filme 'Lissy' (1957), 'Sterne' (1959) und 'Professor Mamlock' (1961). Sehr erfolgreich waren auch einige Kriminalfilme, die sich mit Entwicklungen im Westen Deutschlands auseinandersetzten. Bedeutsam vor allem János Veiczis 'For eyes only' (1963), die Geschichte eines DDR-Agenten. 'Die Glatzkopfbande' (1963) von Richard Groschopp, später wegen seines verdächtigen Erfolges bei jungen Kinogängern zurückgezogen, befaßte sich mit Jugendkriminalität in der D D R . Opern- und Operettenfilme sowie Lustspiele, hier vor allem Ralf Kirstens 'Auf der Sonnenseite' (1962) und 'Mir nach, Canaillen!' (1964) mit dem Schauspieler Manfred Krug fanden großen Zuspruch. 4.6. Mit dem 11. ZK-Plenum ( 3 . - 5 . Dezember 1965) gewannen im Ringen um künstlerische Freiräume die Hardliner für einige, für das Image der D E F A folgenreiche, Jahre eindeutig die Oberhand. Nachdem sich die Hinwendung vor allem auch junger Regisseure zu Gegenwartsstoffen im beschriebenen Sinne immer weiter gesteigert hatte, glaubte m a n in der SED-Führung, die Notbremse ziehen zu sollen: Fast eine ganze Jahresproduktion verschwand bis zur 'Wende' im Regal. Die fertigen Filme 'Der Frühling braucht Zeit' von Günter Stahnke, 'Das Kaninchen bin ich' von Kurt Maetzig und 'Denk bloß nicht, ich heule' von Frank Vogel wurden aus dem Spielplan genommen und gaben sozusagen die Muster für die Verdammung noch in Arbeit befindlicher Projekte vor, deren Fertigstellung verhindert wurde: Die wichtigsten waren Hermann Zschoches 'Karla', Egon

Günthers 'Wenn du groß bist, lieber Adam', Gerhard Kleins 'Berlin u m die Ecke' und Ralph Kirstens 'Der verlorene Engel'. Diese wurden, mit Ausnahme von Kirstens Barlach-Film, der 1971 'bearbeitet' zur Vorführung gelangen durfte, im Herbst 1989, so gut es ging, vollendet und einem interessierten Publikum gezeigt (vgl. 7.8.). 4.7. Mit Bezug auf die Filme 'Das Kaninchen bin ich', der Mißstände in der Justiz thematisiert und 'Denk bloß nicht, ich heule', der sich gegen Heuchelei wendet, vermerkte der Bericht an das ZK-Plenum: „In einigen während der letzten Monate bei der D E F A produzierten Filmen [...] zeigen sich dem Sozialismus fremde, schädliche [...] Auffassungen. In diesen [...] Werken gibt es Tendenzen der Verabsolutierung der Widersprüche [...] D e m einzelnen stehen Kollektive und Leiter von Parteien und Staat oftmals als kalte und fremde Macht gegenüber [...]" (vgl. Richter 1994, 195). Der wohl berühmteste Verbotsfilm, Frank Beyers 'Spur der Steine', sollte im Frühsommer 1966 in die Kinos kommen. Kurz vorher wurde seine Verhinderung beschlossen. Mit gezielt herbeigeführten Eklats wurden Vorführungen gestört (vgl. Blunk/ Jungnickel u. a. 1990, 20ff.). Der Regisseur wurde, wie andere (Stahnke) auch, mit zeitweiligem Entzug seiner Arbeitsmöglichkeiten im Spielfilmbereich bestraft. Jürgen Böttcher, dessen 'Jahrgang 45' erst nach dem 11. Plenum gedreht wurde, hat nach dem Verbot nie wieder einen Spielfilm realisieren können.

5.

Vom 11. ZK-Plenum zum 8. SED-Parteitag (1965-1971)

5.1. Der absolute Tiefpunkt in der DEFAGeschichte war mit dem 11. Plenum erreicht. Nur wenige Produktionen des Jahres 1966 hatten das Desaster heil überstanden, unter ihnen der erste ('Die Söhne der großen Bärin', Regie: Josef Mach) von insgesamt 12 Indianerfilmen, die bis 1979 realisiert wurden. Sie sind insofern bemerkenswert, als sie sehr erfolgreich waren und so den Kahlschlag ein wenig kaschieren halfen. Ihr antiimperialistischer Grundtenor paßte zudem ins ideologische Konzept, ohne als langweilige Belehrung empfunden zu werden. Die wichtigsten Regisseure waren Konrad Petzold und Gottfried Kolditz. Festgelegt auf die Häuptlingsrollen, war der Schauspieler Gojko Mitic 'Star' dieser Reihe.

1242

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

5.2. Erfolgreich waren auch einige unterhaltende Genrefilme, die versuchten, „mit leichter Kost Gegenwart freundlich zu umspielen, konventionell zu verschönen", wie Günter Reischs 'Ein Lord am Alexanderplatz' (1967), 'Hochzeitsnacht im Regen' (1967) von Horst Seemann, oder „ihr in undeutliche Historie auszuweichen" (Wischnewski 1994, 217), wie etwa 'Hauptmann Florian von der Mühle' (Regie: Werner Wallroth, 1968). Hinzu kamen einige Kinderfilme, ζ. B. Konrad Petzolds 'Alfons Zitterbacke' (1966) und Heiner Carows 'Die Reise nach Sundevit' (1966), eine der hervorragenden Arbeiten auf einem Feld, auf dem die DEFA insgesamt Bemerkenswertes geleistet hat. 5.3. Die Tatsache, daß in den siebziger Jahren eine größere Zahl von Verfilmungen wichtiger Werke der deutschen Literatur sowie Filme über bedeutende Künstler entstanden, ist, obwohl auch andere Faktoren eine Rolle spielten, als Teil des 'Ausweich-Syndroms' anzusehen. Goethe-Adaptionen, 'Wahlverwandtschaften' (Regie: Siegfried Kühn, 1974) und 'Die Leiden des jungen Werthers' (1976) stehen neben 'Lotte von Weimar' (1975), der filmischen Umsetzung von Manns GoetheRoman, beide von Egon Günther. Rainer Simon drehte 1975 den deftig-anarchischen Volksbuch-Stoff 'Till Eulenspiegel', Konrad Wolf reflektierte in seinem großen 'Goya' nach Feuchtwanger das ewig aktuelle Thema des Verhältnisses von Kunst und Macht, während Egon Günther in seiner Keller-Verfilmung 'Ursula' von 1978 mit anzüglichen Anachronismen das Phänomen der dogmatischen Ideologie behandelte. Konrad Wolfs leiser Künstlerfilm 'Der nackte Mann auf dem Sportplatz' (1973), löste sich formal völlig vom Konzept des sozialistischen Realismus, ohne daß dies bemerkt wurde (vgl. Blunk 1984, 260 ff.). 5.4. Als einer der einigermaßen gelungenen Versuche, künstlerisches Niveau mit der Erfüllung offizieller Forderungen zu vereinigen, mag Kurt Maetzigs Film 'Die Fahne von Kriwoj Rog' (1967) gelten. Die 'Reehab ilitations'-Problematik der DEFA in ihrer Komplexität wurde deutlich an dem auf Rechtfertigung des Mauerbaus zielenden, aus 4 Episoden bestehenden Streifen 'Geschichten jener Nacht' (1967), an dem in der Absicht, aufgerissene Gräben zu überbrücken, auch Regisseure und Schauspieler mitwirkten, die von den Verboten unmittelbar betroffen worden

waren. Einer der bedeutendsten Filme der DEFA überhaupt, Konrad Wolfs 'Ich war neunzehn', Maßstäbe setzend an innerer Haltung und formaler Gestaltung für die filmische Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg, kam 1968 in die Lichtspielhäuser. Er gab der DEFA ein Stück ihres verlorenen Renommees zurück. Der autobiographische Film erzählt die Geschichte eines jungen deutschen Emigranten, der 1945 als Leutnant der Sowjetarmee in seine ihm unbekannte Heimat kommt, mit vielen eindrücklichen Details. Mehrere Beispiele aus dem gleichen Jahr, u. a. das Schicksal von Heiner Carows 'Die Russen kommen' sowie eine allgemein zu beobachtende Tendenz zu vorsichtiger Oberflächlichkeit in der Behandlung von Gegenwartsstoffen zeigen, daß obrigkeitliche Skepsis gegenüber der DEFA anhielt. 5.5. Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre entstand ein 'neuer Typ' von Gegenwartsfilmen, die — wie es scheint — in gleichem Maße dem Konzept eines dokumentären wie dem des sozialistischen Realismus verpflichtet waren. 'Netzwerk' (Regie: Ralf Kirsten), 'Im Spannungsfeld' (Regie: Siegfried Kühn), 'Weil ich dich liebe' (Regie: Helmut Brandis, Horst Kratzert), alle 1970, schildern einerseits Betriebsprobleme und Konflikte in Industrie und Landwirtschaft atmosphärisch durchaus glaubhaft, andererseits verklären sie etwa die Rolle der Parteisekretäre nach dem Muster des 'positiven Helden', setzen bruchslos die von der Theorie vorgegebenen Handlungsmuster (ζ. B.: Fehlverhalten/Appell/Einsicht/Verhaltensänderung) um und lösen bestimmte gesellschaftliche Konfliktlagen (Theorie—Praxis/ Tradition-Fortschritt) konsequent 'dialektisch' (vgl. Blunk 1984, 157 ff.). 5.6. Ein anderes Alltagsfilm-Konzept dieser Zeit bestand darin, 'typische' Charaktere enzelner Menschen möglichst genau zu erfassen. Diesen, wegen ihrer psychologischen Differenziertheit bemerkenswerten Arbeiten sind Filme zuzuordnen wie die von Lothar Warnecke: 'Dr. med. Sommer II' (1970) und 'Leben mit Uwe' (1974). Der Titel 'Mein lieber Robinson' weist auch Roland Gräfs ersten Spielfilm (1971) dieser Gruppe zu. 5.7. Sozialistische Botschaften stärker über die Emotionen als über die Ratio der Zuschauer zu transportieren, versuchten vor allem einige Filme von Horst Seemann: Charakteristisch die Story von 'Zeit zu leben'

1243

113. Der DDR-Film (1969): Ein alter Kommunist erfährt von seinem Freund, einem berühmten sowjetischen Herzspezialisten, daß er nur noch ein Jahr zu leben hat. Statt sich zu schonen, übernimmt er die Leitung eines heruntergewirtschafteten Großbetriebes und führt diesen zurück auf Erfolgskurs.

6.

Relative Freiheit und Beginn einer neuen Eiszeit (Die siebziger Jahre)

6.1. Nach der Entmachtung Ulbrichts setzten der 8. Parteitag ( 1 5 . - 1 9 . Juni 1971) mit Parolen wie 'schöpferisches Suchen', 'Weite und Vielfalt', 'Entdeckung und Phantasie' (vgl. Jäger 1982, 135), vor allem aber die Z K Tagung am 16./17. Dezember 1971 kulturpolitisch neue Akzente. Hoffnungen weckten insbesondere die oft zitierten, wohl bewußt vieldeutigen Worte Honeckers: „Wenn m a n von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils [...]" Hinzu kamen Äußerungen auf dem 6. Z K Plenum 1972. Die relative Liberalisierung stand in Zusammenhang mit dem beginnenden KSZE-Prozeß, der Anerkennung der D D R , der Aufnahme beider deutscher Staaten in die U N O (1973), war aber nie ohne Rückschläge. 6.2. Es gab Genre-Erfolge wie den Kriminalfilm 'Leichensache Zernick' (Regie: Helmut Nizschke, 1972) und das Lustspiel 'Der Mann, der nach der Oma kam' (Regie: Roland Oehme, 1972). Zwei Filme aber waren inhaltlich und formal von kulturpolitischer Bedeutung: Egon Günthers 'Der Dritte' (1972) formuliert, verdeckt auf einer durchgängig angelegten symbolischen zweiten Bedeutungsebene, in der über einen Zeitraum von k n a p p 20 Jahren nachgezeichneten Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau die Hoffnung auf einen 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' in der D D R nach Vorbild des 'Prager Frühlings' (vgl. Blunk 1984, 201 ff.). Der ungeheure Erfolg der 'Legende von Paul und Paula' (Regie: Heiner Carow, 1973) war wohl auch darauf zurückzuführen, daß das Publikum mit einer Fülle auf das Leben in der D D R bezogener kritischer Pointen delektiert wird. Etliche Besucher dürften bemerkt haben, daß hier die wesentlichen Kategorien des sozialistischen Realismus systema-

tisch Verwendung fanden in der Absicht, sie ironisch auf den Kopf zu stellen, so daß die eigentliche Brisanz des Films im Formalen lag (vgl. Blunk 1984, 234ff.). 6.3. Hier wurde deutlich, daß der Tod ein f ü r den Gegenwartsfilm unerwünschtes Thema war. Der G r u n d liegt darin, daß mit seiner Darstellung offenbar werden muß, wie der Marxismus-Leninismus als materialistische Weltanschauung Fragen nach dem Sinn von Schuld, Leid und Tod im menschlichen Dasein nicht einmal stellen, geschweige denn beantworten kann (vgl. Blunk 1984, 234ff.). 6.4. Die Resonanz beunruhigte die Betonköpfe. Mit dem 9. ZK-Plenum kurze Zeit später setzte eine schleichende Abkühlung ein. Es gab wieder Projektverzögerungen, auch -Verhinderungen. Trotzdem gab es „interessante Arbeiten, wach, kritisch, auf Neues aus" (Wischnewski 1994, 250). Zu den wichtigsten gehören Siegfried Kühns 'Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow' (1973), ein Film von großer humaner Kraft; 'Die Schlüssel' (Regie: Egon Günther, 1974), locker und doch von tiefem Ernst in seinem 'memento mori'-Appell; Heiner Carows 'Ikarus' (1975), der aus der Sicht eines Neunjährigen erzählt, wie schon früh Vertrauen in das Leben nachhaltig untergraben werden kann. Herausragend (mit Oscar-Nominierung) Frank Beyers Getto-Film 'Jakob der Lügner' (1974). In den späten Siebzigern waren, in einer neuen Phase relativer Offenheit, Arbeiten erfolgreich wie die turbulente Satire 'Anton der Zauberer' (Regie: Günter Reisch, 1978); die ernsten Geschichten um ein geschiedenes Paar ('Das Versteck', Regie: Frank Beyer, 1978) und um die unangepaßte Jugendliche 'Sabine Wulff' (Regie: Erwin Stranka, 1978) sowie der poetische Jugendfilm 'Sieben Sommersprossen' (Regie: Herm a n n Zschoche, 1978).

7.

Die letzte Epoche (1980-1989)

7.1. 1976 wurde Horst Pehnert Leiter der HV Film; seit 1977 war Hans Dieter Mäde Generaldirektor der DEFA, die jetzt den Rang eines Kombinats besaß. 7.2. Nachdem 'Bis daß der Tod euch scheidet' (Regie: Heiner Carow), die Tragödie einer jungen Ehe, die Gemüter erregt hatte, starteten die achtziger Jahre mit zwei künstlerischen Erfolgen: 'Solo Sunny' (Regie: Kon-

1244

XXV. Geschichte des Films und seiner Erforschung V: Filmgeschichtliche Fallstudien

rad Wolf/Wolfgang Kohlhaase, 1980) schildert die Mühen einer jungen Schlagersängerin, die gegen alle Widerstände versucht, den Anspruch auf das 'Solo' ihrer Existenz durchzusetzen. Günther Rücker und Günter Reisch erzählen wundervoll schlicht in 'Die Verlobte' (1980) die Geschichte einer großen Liebe in finsterer Zeit. Beide Filme wurden auch international stark beachtet. 7.3. Uber die DEFA-Filme der letzten Zeit schrieb in einem langen 'Leserbrief' ein Hubert Vater (ND 17. 11. 1981, 2): „Ich spüre darin zu wenig Stolz auf das, was die Arbeiterklasse und ihre Partei im Bunde mit allen Werktätigen unseres Landes an Großem vollbracht hat in den Jahrzehnten bis heute [...]" Im Zusammenhang mit diesem Signal stand die Absetzung von 'Jadup und Boel' (Regie: Rainer Simon, 1981), dessen Premiere erst nach Öffnung der D D R stattfinden sollte. 7.4. In den späten siebziger und in den achtziger Jahren sind häufig Frauen zentrale Figuren von DEFA-Filmen. Frauenemanzipation war schon immer Thema gewesen, wobei man sich früher allerdings häufig mit der dramaturgischen Umsetzung der offiziellen Formeln 'Frauenemanzipation = Emanzipation der Arbeit vom Kapital, also Klassenkampf' und 'Gleichberechtigung = Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion, also Berufstätigkeit' begnügte. Seit Günthers 'Der Dritte' (vgl. 6.2.) löste man sich von diesen schlichten Gleichungen und stellte in breiter Differenzierung die Probleme zur Diskussion, die hier von Belang sind. Weil jedoch offiziell die Frauenfrage als 'gelöst' galt, entwickelte sie sich in den Achtzigern zum 'Reizthema' (Schieber 1994, 267). Signifikant war die Auseinandersetzung um 'Das Fahrrad' (Regie: Evelyn Schmidt, 1982), einen Streifen, der zunächst hoch gelobt, dann in Grund und Boden kritisiert wurde. 7.5. Einer der bemerkenswertesten Filme der achtziger Jahre ist Hermann Zschoches 'Insel der Schwäne' (1983), der gewissermaßen ahnungsvoll die 'Wende' antizipierte, indem er mit hintergründigen Pointen — beklemmend die Stasi-Anspielungen mit der Selbstfesselung des verängstigten Bürgers — die Hohlheit des Systems vorführte und zu selbstbewußter Standhaftigkeit ermunterte (vgl. Blunk/Jungnickel u. a., 1990, 108fi). Er wurde nach kurzer Laufzeit zurückgezogen. Während sich große Inkonsequenz in der Behandlung von

Ulrich Weiß' 'Dein unbekannter Bruder' (1981) gezeigt hatten, war 'Märkische Forschungen', die bittere Satire von Roland Graf (1982) auf den parteilichen Umgang mit der Geschichte in der D D R nicht gefährdet. Die vielfältigen Stimmungsschwankungen standen natürlich auch in Zusammenhang mit den einsetzenden Veränderungen in Polen, Ungarn, vor allem aber in der SU, gegen deren Auswirkungen man die D D R abzuschütten versuchte. 7.6. Der 4. Kongreß der Film- und Fernsehschaffenden 1982 leitete eine längere, von Optimismus bei den Initiatoren, von Mißtrauen und hinhaltender Taktik bei den Leitungskadern geprägte Auseinandersetzung über Mißstände in der Nachwuchsförderung ein, die allerdings rasch im Sande verlief. Auf dem 5. Kongreß (April 1988) wurde die Forderung nach Vorführung von verbotenen Filmen erhoben und die Orientierung an Glasnost und Perestroika verlangt. Der Rücktritt des Generaldirektors Mäde ermöglichte die Aufnahme einiger jahrelang verschleppter Projekte in den Produktionsplan, unter ihnen 'Architekten' (1990) von Peter Kahane und Thomas Knauf, der die Geschichte einer Gruppe junger Baumeister erzählt, deren Entwürfe und Ideen sukzessive 'auf Null' gebracht werden. „Wie kein anderer Film vorher beschreibt [...] 'Architekten' die Hoffnungen, Sehnsüchte, Bemühungen und die Resignation der Generation der Vierzigjährigen in der D D R . [...] Die Geschichte der Architekten ist auch die Geschichte der hoffnungsvollen Regiedebütantengruppe [...]" (Schieber 1994, 305). Auch der vierten — letzten — Regiegeneration wurde, wie den anderen zuvor, im wesentlichen Mittelmaß aufgezwungen. 7.7. Nachdem Lothar Warneckes 'Einer trage des andern Last' (1987) wegen seines Aufrufs zu weltanschaulicher Toleranz bei der Bevölkerung der D D R enorme Resonanz gefunden hatte, wurde kurz vor der Wende einigen DEFA-Filmen auch außerhalb des Landes Beachtung zuteil, unten ihnen vor allem 'Treffen in Travers' (Regie: Michael Gwisdek, 1989), die Geschichte eines Revolutionärs, der am Sinn von Revolutionen zweifelt, und 'Coming out' (Regie: Heiner Carow, 1989), der in sensationeller Offenheit die Nöte von Homosexuellen in der Gesellschaft thematisiert.

1245

113. Der DDR-Film

7.8. Einige jahrelang umkämpfte, endlich realisierte Projekte kamen erst nach der Wende in die Kinos: Als Rolf Losanskys 'Abschiedsdisko' über ein dem Braunkohletagebau geopfertes sorbisches Dorf anlief, „spielen sowohl Mut als auch Kompromißbereitschaft der Filmemacher keine Rolle mehr. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist auf anderes gerichtet. Ein Schicksal, das auch weitere 'Tabu-Brecher' teilen: 'Biologie!' von Jörg Foth, einziger Umweltfilm der D E F A , 'Rückwärtslaufen k a n n ich auch' von Karl Heinz Lötz, das erste Sujet, in dem Behinderte als Hauptdarsteller vorkommen" (Schieber 1994, 321). Wirklich bedeutsam war nur noch die öffentliche Vorführung vieler 'Verbotsfilme'.

8.

Das Ende (1990-1992)

8.1. Die Geschichte der DEFA-'Abwicklung' von ihrer Umwandlung in eine G m b H , den mit der Währungsunion verbundenen Massenentlassungen, bis zur Übernahme durch die Treuhandanstalt nach der Vereinigung und zum Verkauf an den französischen Konzern C G E am 1. Juli 1992 usw. ist hier nicht im einzelnen nachzuvollziehen. 8.2. Von Egon Günthers 'Stein' vielleicht abgesehen, stellten die letzten Produktionen, meist lange vorbereitet für Zuschauer mit jetzt völlig anderen Sorgen und Interessen

aus einem Gemeinwesen, das es nicht mehr gab, ihrerseits insgesamt einen wenig belangvollen 'Abgesang' dar. Anheimgestellt sei allerdings, ob das folgende bittere Resumeé in dieser Schärfe gerechtfertigt ist: „Zu grandiosem Abschied fehlte den DEFA-Leuten, wie allen DDR-Bürgern, Kraft, Abstand und eine erstrebenswerte Lebensaussicht. [...] Die letzten DEFA-Filme [...] waren kein Durchatmen, kein zorniges Ende, kein wirbelnder Anfang, sondern ein Nachklapp auf Vergangenes, positiv ausgedrückt: eine Fortsetzung der Tradition" (Dalichow 1994, 338).

9.

Literatur

Blunk, Harry, Die DDR in ihren Spielfilmen. München 1984. —/Dirk Jungnickel u. a., Filmland DDR, Köln 1990. Film in der DDR. München, 1977. Jäger, Manfred, Kultur und Politik in der DDR. Köln, 1982. Rülicke-Weiler, Käthe, u. a., Film- und Fernsehkunst der DDR. Berlin (O) 1977. Schenk, Ralf, (Red.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. Berlin 1994 (darin zitierte Beiträge von Bärbel Dalichow, Christiane M ückenberger, Erika Richter, Elke Schieber, Klaus Wischnewski).

Harry Blunk f , Vlotho

(Deutschland)

XXYI. Technische Grundlagen der Medien III: Hörfunk 114. Die akustischen Grundlagen der Tontechnik 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einführung und Begriffsfassung Mikrophone Lautsprecher Subjektive Akustik Raum- und Bauakustik Literatur

1.

Einführung und Begriffsfassung

Das menschliche Ohr ist das Sinnesorgan, welches rund um die Uhr, also täglich 24 Stunden in Funktion ist, und das nicht über eine unbewußte oder bewußte Steuerungseinrichtung zum Verschluß der Ohren verfügt. Während der Schlafenszeit ist das Gehör auf unbewußte Wahrnehmung geschaltet und dient auch im unbewußten Wahrnehmbarkeitszustand als allumfassendes Warnorgan, das bei vermeintlich drohender Gefahr auf bewußt-wahrnehmbar umschaltet. Die Änderung von unbewußt- auf bewußt-wahrnehmbar ist in der Regel ein kontinuierlich langsam sich vollziehender und kein sprunghafter Vorgang, abhängig jedoch von der Intensität, d. h. der Lautstärke des Warnsignals. Der Mensch verfügt, wie nahezu alle Säugetiere, nicht über einen Mechanismus, der in der Lage ist die Ohren mechanisch zu verschließen, so wie die Augenklappen die Augen mechanisch verschließen. Ein mechanischer Verschluß der Ohren ist nur mit Hilfe von Fingern beider Hände oder anderer fester Gegenstände passender Größe möglich. Zwischen dem von außen auf die Ohren kommenden Schallreiz und der Wahrnehmung besteht ein mathematischer Zusammenhang, der von Weber und Fechner (1834) gefunden wurde und der die Bezeichnung Weber-Fechner'sches Gesetz trägt und das überall dort in erster Näherung gilt, wo Beziehungen zwischen Reiz und Wahrnehmung bzw. Empfindung bestehen. Es besagt, daß Reiz und Wahrnehmung in einem logarithmischen Zusammenhang stehen. Wahrnehmung = log

Reiz Reizschwelle

Dabei ist die Reizschwelle die Null- oder Nichtwahrnehmung. In der Akustik wird diese Nichtwahrnehmung die Hörschwelle genannt. Die Wahrnehmung ist in der Akustik die Lautstärke und der Reiz der Schalldruckpegel. Gilt der logarithmische Zusammenhang, dann bedeutet die Zunahme der Wahrnehmung gleich der relativen Zunahme des Reizes, also Δ Wahrnehmung =

Δ Reiz Reiz

Wie weit die menschlichen Ohren dieses Gesetz in Abhängigkeit von der Frequenz innerhalb des hörbaren Bereichs zwischen 16 Hz und 16 000 Hz und des Schalldruckpegels als Reiz zwischen 0 dB und 130 dB erfüllt, zeigen die Kurven gleicher Lautstärke für Sinushöhe im freien ebenen Schallfeld. Bei der Ermittlung dieser Kurven durch Versuchspersonen wurde jeder Ton des hörbaren Bereichs mit einem 1000 Hz-Ton definierten Schalldruckpegel verglichen und auf gleiche Lautstärkeempfindung eingestellt. Nur in einem sehr begrenzten Frequenzbereich, etwa zwischen 500 Hz und 2000 Hz, ist die Zunahme des Reizes entsprechend der gleichen Zunahme der Wahrnehmung. Andererseits haben Versuche mit Rauschen oder auch mit Klängen, die keine besonders herausragenden reinen Töne besitzen, ergeben, daß das Weber-Fechner'sche Gesetz sehr wohl gültig ist. So geben die Kurven gleicher Lautstärke bei oktavgefiltertem Rauschen im diffusen Schallfeld die Bestätigung dafür, daß die Zunahme des Reizes jeweils die gleiche Zunahme der Wahrnehmung bedeutet. Obwohl der Vergleich mit einem reinen 1000-Hz-Ton für die Lautstärkeermittlung standardisiert wurde, erfolgte der Vergleich mit einem Terzrauschen um 1000 Hz. Einer Terz um 1000 Hz entspricht eine Frequenzgruppe (siehe 4.), was die Zulässigkeit dieses Verfahrens bestätigt. Weitere Schallsignale, die sowohl für akustische Meßzwecke als auch für subjektive

114. Die akustischen Grundlagen der Tontechnik

1247

Abb. 114.1: Hörschwelle und Kurven gleicher Lautstärkepegel für Sinustöne im freien Schallfeld bei zweiohrigem Hören (nach D I N 45 630).

Untersuchungen herangezogen werden, sind in den folgenden Abbildungen einschließlich der zugehörigen Spektren dargestellt. Mit dem Weber-Fechner'schen Gesetz ist der wichtigste akustische Zusammenhang zwischen dem Schallereignis, also dem Reiz als Quelle und dem Hören als Senke hergestellt worden. Dieser Zusammenhang ist Richtschnur für die Behandlung eines akustischen Übertragungskanals und bildet die Grundlage für angewandte Ton- oder Audiotechnik. 1.1. Der elektroakustische Übertragungkanal Systeme, die mechanische Schwingungen, also Schall, in elektrische Größen überführen und umgekehrt, sind so lange nicht nützlich, wie es keine elektrischen oder mechanischen Bauelemente gibt, die in der Lage sind, elektrische Signale zu verstärken und zu transportieren. Erst um 1910 konnte durch die

Entdeckung der Verstärkerwirkung einer Glühkathodenröhre der Niederfrequenzverstärker (NF-Verstärker) entwickelt werden. Damit ist die Akustik mit ihrer Elektroakustik ein Teilgebiet der Nachrichtentechnik, deren Inhalt es ist, die Übertragung und Verarbeitung von Nachrichten vorzunehmen. Der Weg von einer Schallquelle in einem Raum über ein Mikrophon als akustischelektrischer Wandler zu einem in einem anderen Raum stehenden Lautsprecher als elektroakustischer Wandler bis hin zum Ohr eines Menschen als Empfänger des Nachrichteninhalts bzw. des Schallereignisses wird elektroakustischer Übertragungskanal genannt. Auf dem Weg von der Quelle bis zur Senke wird das originäre Schallsignal aufgrund von vorhandenen Störungen vielfältiger Art verändert. Schon eine natürliche Schallquelle in einem Raum erfahrt durch die akustischen Eigenschaften des Raumes und abhängig vom Hör- oder Aufnahmeort Veränderungen seiner qualitativen Eigenschaften. Das Signal

1248

XXVI. Technische Grundlagen der Medien III: Hörfunk

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6400

12800

25600

Frequenz / [Hz] Abb. 114.2: Kurven gleicher Lautstärke bei Oktavbandgefiltertem Rauschen im diffusen Schallfeld.

enthält Informationen über die Eigenschaften des Raumes, die von dem originären Signal nicht mehr zu trennen sind. So lassen sich an jeder Schnittstelle des Ubertragungskanals zusätzliche Informationen zum ursprünglichen Signal nachweisen. 1.2. Hörereignis und Schall Ausgehend von den Sinneswahrnehmungen Licht und Schall ist der Mensch primär ein Augenwesen. Er nimmt die Welt mit den Augen wahr, wie die Bewegung eines Flugzeuges, vorüberziehende Wolken, Menschen auf einer anderen Straßenseite, Käfer auf einer Wiese, Moleküle unter dem Mikroskop. Diese Sinneseigenschaft der optischen Wahrnehmung ist wichtig, damit sich der Mensch als Einzelwesen in dieser Welt zurechtfindet. Diese optische Sinneswahrnehmung ist jedoch

für die zwischenmenschliche Kommunikation nicht ausreichend. Die Ohren, das Gehör also, sind für die Kommunikation wichtiger als die Augen. Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, daß das Gehör der wichtigste soziale Sinn des Menschen ist. Ein Vergleich: Licht I 2 Augen I Wahrnehmung der Umwelt

Schall I 2 Ohren I ergänzende Wahrnehmung der Umwelt

Voraussetzung für Kommunikation; Kontaktknüpfung I direktionales Sehfeld

Kommunikationszwang

omnidirektionales Hörfeld (Warnorgan)

1249

114. Die akustischen Grundlagen der Tontechnik Tab. 114.1 a: Schallsignale und ihre Spektren.

Bezeichung nach D I N 1320

Zeitfunktion

Spektrum (Betrag)

1.

s(t)

S(f)

TON (reiner Ton, Sinuston) Sinusförmige Schallschwingung im Hörbereich

T=l/fo 2.

S(f)

TONGEMISCH aus Tönen beliebiger Frequenz zusammengesetzter Schall

L Im allgemeinen Fall nicht periodisch 3.

Im allgemeinen Fall nicht harmonisch

KLANG Hörschall, der aus G r u n d und Obertönen besteht

a) Einfacher Klang, harmonischer Klang Hörschall, der aus einer Reihe von Teiltönen, deren Frequenzen ganzzahlige Vielfache einer Grundfrequenz sind, besteht

S(f)

s(t)

Ν

-Lffj—«-f

f, f2 f3 fn f 2 = 2 f „ f 3 = 3 f „ f n = nf 1

periodisch

S(f)

b) Mehrfacher Klang, Klanggemisch Hörschall, der aus mehreren einfachen Klängen nach 3 a besteht

a

JliL, Im allgemeinen Fall nicht periodisch

Das Gehör zwingt zur Kommunikation. Blinde sind in der Lage, sich auf Skiern auf eine Loipe laufend zu bewegen und einem Vorläufer im Abstand zu folgen. Ein Sehender und Hörender läuft voraus und gibt den Lauftakt in der Loipe an. Der/die Blinde läuft genau im Takt des Vorläufers, weil er/ sie des Vorläufers Schritte hört. Auch Bewegungen in unterschiedlichen Richtungen folgt der/die Blinde präzise. Der Abstand der beiden Läufer bleibt durch das Festhalten an einer bestimmten Klangfarbe des Laufgeräu-

_L

Im allgemeinen Fall nicht harmonisch

sches sehr konstant, was durch das zweiohrige Hören unterstützt wird. Die Schrittlänge der beiden Läufer m u ß synchron sein. Der Vorläufer ist der Sehende des Blinden. Das auditiv Wahrgenommene, also das, was der Mensch hört, wird Hörereignis genannt. Der Mensch hört jedoch nur etwas, wenn die Ohren Kontakt zu einem Medium (gasförmig, flüssig, fest) haben, welches mechanisch schwingt und sich wellenförmig bewegt. Die Wahrnehmung des Hörereignisses ist demnach mit dem Vorhandensein von

1250

XXVI. Technische Grundlagen der Medien III: Hörfunk

Tab. 114.1 b: Schallsignale und ihre Spektren.

1.

ω

s

SCHALLIMPULS Einmaliges Schallsignal von kurzer Dauer

a) Tonimpuls Ton von kurzer Dauer (Beispiel: Zeitfunktion und Betragsspektrum eines Gaußtones)

\

S(f)

b) Knall zweiseitiger Schallimpuls, vornehmlich von großer Stärke 2.

f

RAUSCHEN Schallsignal statistischer Natur, bei dem nur ein kontinuierliches Intensitätsspektrum angegeben werden kann.

a) Weißes Rauschen Rauschen, dessen spektrale Intensitätsdichte über den interessierenden Frequenzbereich konstant ist „Intensität pro Hz Bandbreite const."

Intensitätsdichtespektrum*)

R (f)

f b) Rosa Rauschen Rauschen, dessen spektrale Intensitätsdichte umgekehrt proportional der Frequenz ist. Entsprechend ist in jeder relativ konstanten Frequenzbandbreite (ζ. B. Oktave, Terz) die gleiche Intensität enthalten.

I1(f)

f c) Bandpaß — Rauschen Rauschen in einem vorgegebenen Frequenzband (ζ. B. Terz- oder Oktavrauschen)

I1(f)

f 3.

GERÄUSCH Schallsignal, das meistens ein nicht zweckbestimmtes Schallereignis charakterisiert (ζ. B. Maschinengeräusch, Fahrzeuggeräusch, Wohngeräusch)

*) Schallintensitätsdichte R = dl/df

Schwingungen und Wellen verbunden. Dann läßt sich physikalisch definieren, daß Schall mechanische Schwingungen und Wellen eines elastischen Kontinuums sind. Dabei sind Wellen zeit- und ortsvariabel und Schwingungen nur zeitvariabel. Aus dem Wahrnehmbarkeitsbegriff „Hörereignis" und dem physika-

lischen Begriff „Schall" läßt sich akustisch definieren: „Akustik ist die Lehre von den Schallvorgängen in einem Medium und den damit verbundenen Wahrnehmungsvorgängen." Da die objektiv nachweisbaren Schwingungen auch bei Frequenzen auftreten, die

114. Die akustischen Grundlagen der Tontechnik

1251

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„ °o λ § S S. -tí '-Γ tí >- < -ö S a i a fi i s » g; s s a c¿ d) Streifenleitung auf Epoxidglasgewebe für gedruckte Leiterplatte nach Abb. 118.4. R' = 9,1 ηιΩ/cm, V = 7,2 nH/cm, C' = 0,5 pF/cm, G ' « 0 . a « 3 · 10 dB/cm für f -> oc.

Elektrische Quelle

Optischer Sender

Lichtwellenleiter

υ ¡i(t)

P,(t)

Optischer Verstärker

'

IS V

50μηι

Epoxid-

50pm

Kupfer

glasgewebe ε Γ = 4,8

Abb. 118.4: Querschnitt einer Streifenleitung auf Epoxidglasgewebe.

3.

D i e optische Informationsübertragung

3.1. Das Übertragungssystem Abb. 118.5 zeigt das Blockschaltbild zur optischen Informationsübertragung. Der optische Sender wandelt das elektrische Signal, z.B. eine Folge i ^ t ) von Stromimpulsen, in eine optisches Signal mit der Leistung Pi(t) um. pi (t) wird in den Lichtwellenleiter (LWL) eingespeist und durchläuft diesen bis zum Empfänger. Da der LWL das Signal dämpft, kann je nach Länge der Faser eine Verstärkung des optischen Signals nötig wer-

Lichtwellenleiter

υ

Optischer Empfänger

' P 2 (t)

Abb. 118.5: System zur optischen Informationsübertragung.

Elektronischer Verstärker

Elektrische Senke

118. Die leitergebundene Informationsübertragung

1327

den. Bevorzugt werden hierzu optische Verstärker eingesetzt. Der optische Empfänger wandelt schließlich das Empfangssignal mit der Leistung P2(t) in einen elektrischen Strom i D (t) um. Der nachgeschaltete elektronische Verstärker liefert den Ausgangsstrom i 2 (t). Zur Übertragung analoger Signale muß das System so entworfen werden, daß die Kurvenform von i 2 (t) bis auf eine konstante Dämpfung und Verzögerungszeit mit dem Sendesignal ij(t) möglichst gut übereinstimmt. Bei der digitalen Übertragung, wenn also i χ (t) ein binäres Signal aus „0" und „1" darstellt, entfallt die Forderung an die Erhaltung der Signalform. Das System muß so entworfen werden, daß die Häufigkeit falscher Entscheidungen von „0" und „1" (Bitfehlerwahrscheinlichkeit) beim Empfanger minimal wird. Im weiteren wird ausschließlich eine sog. Einmodenglasfaser angenommen. Auf den Unterschied zwischen Ein- und Mehrmodenglasfasern soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die wichtigsten Blöcke in Abb. 118.5 werden nachfolgend näher erläutert.

Gallium-Arsenid-Phospid In 1 _ x Ga x As y Pi_ y . Durch feste Wahl von χ und y können Laserdioden im Wellenlängenbereich von etwa 850 bis 1550 nm hergestellt werden. Dieselben Materialien sind auch für Empfangsdioden geeignet (s. Kap. 3.4.). Abb. 118.6 zeigt die statische Modulationskennlinie einer InGaAsP-Laserdiode für 1310 nm (sog. Distributed Feedback Laser, DFB). Ab einem Schwellenstrom I S c h w « 22 mA verläuft die Kennlinie fast linear. Wie ferner dargestellt ist, wird sie um den Arbeitspunkt mit dem Signalstrom i l s ( t ) moduliert. Man erhält die optische Leistung Pis(t). Sie stellt die Hüllkurve des optischen Trägers, der die Wellenlänge λ 0 besitzt, dar. Abb. 118.7 (a) zeigt das zugehörige Ersatzschaltbild. Dabei gilt

3.2. Der optische Sender Zur elektrooptischen Wandlung kommen aus praktischen Gründen nur Halbleiterbauelemente in Frage. Bei sehr schnell veränderlichen Strömen ij(t) im Bereich größer etwa 100 Mbit/s ist die Laserdiode (LD) der einfacheren lichtemittierenden Diode (LED) überlegen. Deshalb wird im weiteren nur die LD betrachtet. Ihre Wirkungsweise beruht auf der stimulierten Emission. Der Strom i 1; der die in Durchlaßrichtung gepolte LD durchfließt, bildet freie Elektronen im Leitungsband. Ein Photon der Energie h · f 0 stimuliert den Übergang eines Elektrons vom Leitungsin das Valenzband der Diode. Durch Vereinigung mit einem Loch wird ein Photon gebildet. Frequenz und Phase der entstandenen Lichtwelle stimmen mit der Welle des stimulierenden Photons überein. Es wird also kohärente optische Strahlung der Frequenz f 0 und der Wellenlänge λ 0 = c/f 0 (c Lichtgeschwindigkeit) emittiert. Die Energie des einfallenden Photons muß dabei gleich dem Bandabstand E g des Halbleitermaterials sein. Damit ist die Wellenlänge durch λ 0 = hc/E g festgelegt. Beispiel GaAs: E g = 1,43 eV liefert λ 0 = 865 nm. Um größere Wellenlängen zu erzeugen, werden Materialsysteme eingesetzt, ζ. B. das quaternäre Materialsystem Indium-

Pis = S s i R

(11)

mit i l s = i R . S s ist die statische Steilheit und R d der différentielle Widerstand der Laserdiode. Zur Informationsübertragung ist iis(t) nicht konstant. Deshalb müssen die dynamischen Eigenschaften der Laserdiode berücksichtigt werden, wie in Abb. 118.7 (b) dargestellt. C D ist die Diffusionskapazität und L eine parasitäre Induktivität. Typische Werte sind in Tab. 118.1 zusammengestellt. Für die optische Leistung gilt Gl. (11) ebenso. Allerdings ist nun i l s Φ i R . Der Zusammenhang zwischen optischer Ausgangsleistung und Signalstrom kann einfach durch die Übertragungsfunktion Hi(j®)

=

mit cqq =

PISQCO)

Iis(M

LC

(12 a) 1 -

und α»! =

+j-

RnCr

ω. (12b)

dargestellt werden. | Ηi(J27i;f) | ist in Abb. 118.8 skizziert. Typische Werte der 3dBGrenzfrequenz sind f g > 2 GHz.

Tab. 118.1 Statische Steilheit S s Differentieller Widerstand R D Sperrschicht-Kapazität C D parasitäre Induktivität L Betriebswellenlänge λ 0 Spektrale Halb wertsbreite Δλ Chirp-Faktor Modulationsfrequenz

0,1 mW/mA = 2Ω < 2pF < 2nH = 1310 nm 0,5 ... 3 nm = 200 MHz/mA 10 GHz

1328

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

Abb. 118.6: Statische Modulationskennlinie einer InGaAsP-Laserdiode für 1310nm (Philips CQ F72/D).

3.3. Der Lichtwellenleiter UiR

(b)

Abb. 118.7: Statisches (a) und dynamisches (b) Ersatzschaltbild der Laserdiode.

Ausgehend vom Material unterscheidet man Plastik- und Glasfasern. Für die digitale Übertragung mit Bitraten über etwa 100 Mbit/s und großen Entfernungen (ab ca. 3 km) kommen derzeit nur Glasfasern in Betracht. Dabei haben sich im Bereich der Telekommunikations- und Breitbandverteilnetze die Einmodenglasfasern durchgesetzt, die höchste Bitraten erlauben und im weiteren ausschließlich betrachtet werden. Abb. 118.9

lH,(2rcf)

f g > 2GHz

Hülle

Abb. 118.8: Betrag der Übertragungsfunktion nach Gin. (g ν 12 a, b) einer Laserdiode.



"M

Abb. 118.9: Aufbau eines Glasfaserkabels.

118. Die leitergebundene Informationsübertragung

1329

zeigt den mechanischen Aufbau eines Glasfaserkabels. Kern und Mantel sind konzentrisch und bestehen aus hochreinem, amorphen Si0 2 (Quarzglas). Darüber befindet sich eine Hülle aus Plastikmaterial als Armierungs- und Schutzschicht. Ein typischer Wert für die Brechzahl des Mantels ist n M = 1,500. Der Kern ist um etwa 1 Prozent optisch „dichter", d. h. die typische Brechzahl beträgt n K = 1,515. Damit kann ein einfallender Lichtstrahl durch Totalreflexion an der Grenzschicht von Kern und Mantel im Kern geführt werden. Man kann leicht zeigen, daß hierzu der Einfallswinkel γ des Lichtstrahls, zur Kernachse gemessen, nicht größer als der Akzeptanzwinkel

lag α in dB/km als Funktion der Wellenlänge für eine moderne Einmodenglasfaser. Man erkennt, daß der Dämpfungsverlauf dicht bei den gestrichelt eingetragenen Grenzkurven liegt, mit einigen, deutlichen Abweichungen. Bemerkenswert sind die beiden Dämpfungsminima um etwa 1,31 μηι und um etwa 1,55 μιη. Das absolute Minimum mit ca. 0,2 dB/km liegt bei etwa 1,55 μηι. In beiden „optischen Fenstern" werden moderne höchstbitratige sowie breitbandige, analoge optische Nachrichtensysteme betrieben. Wegen der sehr geringen Faserdämpfung hat es nun den Anschein, als ob die Übertragungsstrecke fast beliebig lang gewählt werden könnte. Dies trifft nicht zu, da noch ein zweiter Parameter, die chromatische Dispersion der Glasfaser starken Einfluß auf das übertragene Signal besitzt und berücksichtigt werden muß. Sie bewirkt eine zeitliche Verbreiterung eines gesendeten, schmalen Impulses beim Durchlaufen der Faser. Für die Impulsverbreitung gilt:

Ymax = are sin V'ni - n ^

(13) —n

=

sein darf. Dabei wird \/ηκ M A n als numerische Apertur der Faser bezeichnet. Für n M = 1,500 und n K = 1,515 beträgt y m a x = 12,3°. Typische Abmessungen von EinmodenGlasfasern sind d « 4 ... 10 μηι und D « 125 μιη. Bei Standard-Einmodenglasfasern ist d = 9 μηι. Die mittlere Leistung des optischen Signals wird beim Durchlaufen der Glasfaser gedämpft. Abb. 118.10 zeigt den Dämpfungsbe-

At ~ L · Δ λ • | D c h r |

Dabei ist L die Faserlänge, Δ λ die spektrale Halbwertsbreite des Leistungsspektrums des Lasers und D c h r der chromatische Disper-

100 50

10 _ ε ω •o

5

Iα.

1

ε ••Λ Ο

(14)

0.5

0.1 0.05

0.01 Wellenlänge (μιη) Abb. 118.10: Dämpfungsbelag moderner Einmoden-Glasfasern in Abhängigkeit von der Wellenlänge.

1330

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

sionskoeffizient der Faser. Abb. 118.11 zeigt eine Folge gesendeter und empfangener optischer Impulse. Wie zu erkennen ist, haben sich die Empfangsimpulse PE(Í) um t E — t s = At verbreitert. Nach Gl. (14) nimmt At mit steigender Faserlänge zu. Abb. 118.11 zeigt den Fall maximaler Faserlänge, denn die Empfangsimpulse sind gerade so verbreitert worden, daß sich benachbarte Impulse zu den Abtastzeitpunkten t = t 0 + nT, η = 0, ± 1, ± 2 , ... noch nicht stören. t 0 ~ L • n K /c ist

die Phasenlaufzeit in der Faser und 1/T = b die Bitrate. Läßt man die Impulsverbreiterung At = g · Τ zu (0 < g s 1), so erhält man aus Gl. (14) das Bitraten-Längenprodukt bL = g/(Al|D c h r |)

(15)

Abb. 118.12 zeigt den chromatischen Dispersionskoeffizient D c h l als Funktion der Wellenlänge für eine Standard-Einmodenglasfaser. Man erkennt, daß D c h r und nach Gl. (14) näherungsweise auch die Impulsverbreite-

gesendet:

Abb. 118.11: Optische Sendeimpulse p s (t) und optische Empfangsimpulse PE(0 nach Durchlaufen einer Glasfaser (b = 1/T Bitrate t 0 , Laufzeit der Faser).

Abb. 118.12: Chromatischer Dispersionskoeffizient D c h r als Funktion der Wellenlänge zweier Glasfasertypen.

118. Die leitergebundene Informationsübertragung

1331

rung At für λ « 1,31 μιη verschwinden. Betreibt man die Standard-Einmodenglasfaser bei etwa 1,55 μηι, so ist nach Abb. 118.12 dort mit einer relativ großen Dispersion von etwa 17 ps/(nm • km) zu rechnen. Nimmt man nach Abb. 118.11 (unten) den Fall t E = Τ und Sendeimpulse der Dauer t s ~ T/2 an, dann wird g = 0,5. Für Αλ « 2 nm und Dchr 555 17 ps/(nm · km) folgt dann aus G. (15) b · L « 15 (Gbit/s) · km. Danach können ζ. B. 2,4 Gbit/s nur über 6 km Entfernung übertragen werden, wenn das System bei einer Wellenlänge von 1,55 μηι arbeitet. Der chromatische Dispersionskoeffizient setzt sich bei einer Einmodenglasfaser aus zwei wesentlichen Komponenten zusammen:

den Übergang eines im Valenzband befindlichen Elektrons ins Leitungsband, wo es frei beweglich ist, bewirken (Paarbildung). Wie bei der Laserdiode, muß auch hier die Bedingung λ 0 = h · c/Eg erfüllt sein, wobei der Bandabstand E g materialabhängig ist. Es kommen entsprechende Materialsysteme wie bei der Laserdiode in Betracht. Während bei der einfacheren PIN-Diode der durch die Elektronen erzeugte Photostrom durch einen nachgeschalteten Verstärker verstärkt werden muß, besitzt die A P D eine interne Verstärkung mit dem Faktor M > 1. Hierzu durchlaufen die Photoelektronen im Halbleiter eine zusätzliche Strecke hoher elektrischer Feldstärke. Dadurch werden die Elektronen derart beschleunigt, daß sie durch Stoßionisation weitere Elektronen aus dem Halbleitermaterial schlagen, und der so gebildete Lawineneffekt zu einem raschen Stromanstieg führt. Abb. 118.13 zeigt die statische Modulationskennlinie einer PIN-Photodiode. Die Kennlinie ist weitgehend linear. Sie wird um den Arbeitspunkt (hier der Ursprung des Koordinatensystems) mit dem optischen Eingangssignal (Hüllkurve) p2s(t) ausgesteuert. Man erhält das Photostrim i D (t). Abb. 118.14 (a) zeigt das statische Ersatzschaltbild der Photodiode. Die Stromquelle i wird durch die

Dchr

=

D M a t + D We ii

(16)

Die Materialdispersion, gekennzeichnet durch D M a t , tritt bei allen Glasfasertypen auf. Die Ursache liegt darin, daß die Brechzahlen von Kern und Mantel einer realen Faser abhängig von der Wellenlänge sind. Der Koeffizient D W e n der Wellenleiterdispersion berücksichtigt, daß sich die optische Welle nicht nur im Kern (Brechzahl n K ), sondern zum Teil auch im Mantel (Brechzahl n M ) ausbreitet. Die Messung zeigt, daß D M a t > 0 und D We || < 0 für λ > 1.3 μιη sind. Dadurch wird die Nullstelle von D c h r erklärbar. Durch Wahl eines geeigneten Brechzahlverlaufs im Faserquerschnitt kann man sogar die Nullstelle von D C h r ( l ) beeinflussen und an die Stelle λ ~ 1,55 μιη verschieben, wo das Dämpfungsminimum der Faser autritt. Man spricht dann von einer dispersionsverschobenen Faser, wie in Abb. 118.12 dargestellt. Die dispersionsverschobene Faser gewinnt zunehmend an Bedeutung, allerdings ist sie, wegen des wesentlich kleineren Produktionsvolumens, noch deutlich teurer als die Standardfaser. Auch die Dämfung der dispersionsverschobenen Faser ist mit 0,25 dB/km etwas größer. Berücksichtigt man, daß die Gesamtkosten einer Kabeltrasse hauptsächlich durch die Verlegekosten bestimmt werden, fallen die höheren Kabelkosten kaum ins Gewicht.

InGaAsP-PIN-Photodiode für 1310nm.

3.4. Der optische Empfanger Als optische Strahlungsempfänger kommen besonders Halbleiter-Photodioden in Frage, die in Sperrichtung betrieben werden. Hauptvertreter sind die PIN- und die Lawinen-Photodioden (APD, Avalance Photo Diode). Ein in die Sperrschicht einfallendes Photon kann

: liD

ρ2S _ jv1 Î —y

r yc

nV M

SRD(f] (a)

(b)

Abb. 118.14: Statisches (a) und dynamisches (b) Ersatzschaltbild der Photodiode.

1332

X X V I I . Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

eingekoppelte optische Signalleistung p 2 S gesteuert. D a b e i gilt i = M · S E • p2S

(17)

S E ist die Steilheit. F ü r die P I N - D i o d e ist M = 1. R l ist der Eingangswiderstand eines nachfolgenden elektronischen Verstärkers, wie in Abb. 118.4 angedeutet. Es ist i = i D . A b b . 1 1 8 . 1 4 ( a ) gilt nur für konstantes oder sehr langsam veränderliches p 2 S . F ü r hochfrequente Hüllkurven p 2 s müssen die dynamischen Eigenschaften der Photodiode berücksichtigt werden, wie in A b b . 1 1 8 . 1 4 ( b ) dargestellt. D o r t ist i Φ i D . Typische Werte der Ersatzschaltung sind in Tab. 118.2 ge-

ierlich ist, sondern aus Lichtquanten besteht, tritt am Ausgang der Photodiode ein Schrotrauschen auf. Im Ersatzschaltbild Abb. 118.14 (b) ist dieser Effekt durch eine Rauschstromquelle i R D berücksichtigt. Für ihre Leistungsdichte, gemessen an 1Ω, gilt näherungsweise

SRD(f)/l Ω = e(I d + S E p~2) M 2 F m

(19)

Dabei ist e die Elementarladung und ρζ der Mittelwert der optischen Eingangsleistung p 2 (t), die auch die Signalleistung p 2 §(t) enthält. Für p 2 = 0, d. h. kein „ L i c h t " , bleibt nach Gl. (19) eine geringe, von null verschiedene Rauschleistung wirksam, denn selbst bei

Tab. 118.2 Statistische Steilheit S E Sperrschicht-Kapazität C s Basisbahnwiderstand R B Stromverstärkung M Rauschzahl F M

nannt. Aus A b b . 118.14 (b) errechnet m a n die Übertragungsfunktion H 2 (jcö) =

I D (jco)

MS,:

P2s(M

. , . ω

1 +J

(18 a)



ω„

mit der 3dB-Grenzfrequenz f* = -

1 2π

2 π ( : 5 ^ Β + RL)

(18 b)

In A b b . 118.15 ist |Η 2 (]2πΓ)| skizziert. F ü r R l = 50Ω, R B = 4 Ω, C s = 0,5 p F erhält m a n f g ~ 6 G H z . C s und R L bestimmen im wesentlichen die Grenzfrequenz. D a das empfangene optische Signale nicht kontinu-

|H7(j2*f)|

0,5 ... 0,9mA/mW < 2pF 5 ... 20 Ω < 100 (APD), 1 (PIN) 1 (PIN) M x , χ — 0,3 ... 1 (APD) χ = 0,7 für InGaAsP-APD

abgedunkelter Photodiode fließt ein Sperrstrom I d , der als D u n k e l s t r o m bezeichnet wird. Bei Dioden aus gängigen Materialsystemen liegt I d unter 10 n A und darf deshalb meist vernachlässigt werden. Abb. 118.16 zeigt das vollständige Ersatzschaltbild des optischen Empfangers. D e r elektronische Verstärker ist durch seinen komplexen Eingangswiderstand aus R l und C L sowie die Spannungsverstärkung ν gekennzeichnet. E r m u ß rauscharm dimensioniert werden. N a c h geschaltet ist ein Leistungsverstärker. In Abb. 118.16 sind auch die wesentlichen Rauschquellen eingetragen, S R D ( f ) nach G l . (19) und das thermische R a u s c h e n des Widerstands R l mit dem Leistungsdichtespektrum

Dabei sind k die B o l t z m a n n - K o n s t a n t e und die absolute Temperatur in Kelvin. Die Rauschstromquelle mit dem Leistungsdichtespektrum S v ( f ) berücksichtigt die Rauschquellen aller aktiven Bauelemente des elektrischen Verstärkers. S v ( f ) ist davon abhängig, ob Feldeffekt- oder Bipolartransistoren eingesetzt werden, sowie von deren Beschaltung. F ü r die Übertragungsfunktion läßt sich mit G l . (18a, b ) und R B « 0 leicht ableiten: H 3 (jco) =

Abb. 118.15: Betrag nach Übertragungsfunktion nach Gin. (18 a, b) einer Photodiode.

(20)

S th (f)/1 Ω = 2 k ö / R L

I2(jco) PisCira)

ν • MSeRl/R2 1+J

ω



cogl

(21a)

1333

118. Die leitergebundene Informationsübertragung

sthíf)

y f )

Sytf) U

f

)

J L elektronischer

Photodiode

Verstärker

Leistungsverstärker

Abb. 118.16: Prinzipielles Ersatzschaltbild eines optischen Empfängers mit Rauschquellen.

mit f8 g

l

= ^ = 2π

2TI(C s + C l ) R . L

(21b)

Mit Gl. (17) folgt daraus die für das Rauschen wichtige Stromübertragungsfunktion H4(jco) =

I2(jg>) = R l Ιϋω) R2

v_ ω i + j — «gl

(21c)

Da die Rauschquellen als unkorreliert angenommen werden dürfen, gilt für die gesamte Rauschleistungsdichte am Ausgang des Verstärkers SGES(f) = [SRD(D + S t h ( f ) ] I Η 4 0 2 π ί ) | 2

+ S v (f)

(22)

Für das Quadrat des Effektivwerts des gesamten Rauschstroms an 1Ω (mittlere Rauschleistung) erhält man dann mit Gin. (19), (20) und (21c) aus Gl. (22):

p

ges

1Q = / S g e s ( f ) d f = 2e(I d + S E p ¡ ) M 2 F M f g 2 4kT RT

-f g 2 + / S v ( f ) d f

(23 a)

Dabei ist f 2

®

2fsl

4(C S + C l ) R l

(23 b)

die äquivalente Bandgrenze der Schaltung aus Photodiode und Verstärker. Von den Rauschbeiträgen der Gl. (23 a) überwiegt meist der zweite Term, d. h. das thermische Rauschen des Realteils R L des Verstärkereingangswiderstands. Es nimmt unter Berücksichtigung von Gl. (23 b) für zunehmendes

R l mit l/R?, ab. Nach Gl. (21b) verringert sich dadurch allerdings auch die Grenzfrequenz f g l des Empfängers. Man muß also einen Kompromiß zwischen großer Bandbreite und geringem Rauschen schließen. Ein Optimum kann der Transimpedanz-Verstärker liefern. Es sei noch daraufhingewiesen, daß die mittlere Rauschleistung in Gl. (23 a) bei digitaler Übertragung vom Empfangssignal abhängig ist. Bei Intensitätsmodulation ist z. B. p 2 = min für eine empfangene „0" und p 2 = max für eine empfangene „1". Dies muß bei der Berechnung der Fehlerwahrscheinlichkeit in Kap. 3.6. berücksichtigt werden. Wird, wie in Abb. 118.5 dargestellt, ein optischer Verstärker auf der Übertragungsstrecke eingesetzt, so tritt ein weiterer Rauschbeitrag in Gl. (23 a) hinzu. 3.5. Der optische Faserverstärker Wie in Kap. 3.3. dargestellt, wird das optische Signal beim Durchlaufen der Glasfaser gedämpft. Zum Dämpfungsausgleich müssen Verstärker eingesetzt werden. Konventionelle Verstärker wandeln das optische Signal mit einer Photodiode in ein elektrisches um, verstärken es und erzeugen mit einer Laserdiode wiederum ein optisches Signal. Bei digitaler Übertragung werden im Elektrischen zusätzlich eine Regeneration des Abtastzeitpunkts und der Amplitude der Impulse vorgenommen. Neue Lösungen arbeiten ausschließlich im Optischen. Dadurch wird die opto-elektrische und elektro-optische Wandlung im Verstärker oder Regenerator überflüssig. Dabei gibt es zwei Verfahren, den Halbleitenverstärker, der im wesentlichen ein modifizierter Laser ist, und den optischen Faserverstärker. Letzterer hat für Wellenlängen um 1550 nm bereits eine weite Verbreitung gefunden. Dieses Kapitel konzentriert sich auf die optischen Faserverstärker. Ihre Funktionsweise

1334

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

ist in Abb. 118.17 dargestellt. Das Kernstück ist eine 10 bis 15 m lange dotierte Faser. Zur Verstärkung von optischen Signalen um Xs = 1550 nm Wellenlänge ist die Faser mit Erbium dotiert (EDFA, Erbium doped fibre amplifier). Für Wellenlängen um 1310 nm wird das Element Praseodynm zur Dotierung verwendet (PDFA, Praseodymium doped fibre amplifier). Beide Elemente gehören zur chemischen Gruppe der Seltenen Erden. Wie Abb. 118.17zeigt, wird Strahlung eines Pumplasers in die dotierte Faser eingekoppelt. Dadurch gelangen dotierte Ionen der Faser in ein höheres Energieneveau. Photonen des Signals können eine stimulierte Emission weiterer Photonen auslösen und damit eine kohärente Verstärkung der Strahlung liefern. Tab. 118.3 zeigt eine Ubersicht typischer Pa-

länge. Es wird deutlich, daß bei kleinen Signaleingangsleistungen das Verstärkungsmaximum deutlich ausgeprägt ist. Wird die Signaleingangsleistung größer, dann tritt Sättigung ein, die Verstärkung geht zurück, und der Kurvenverlauf wird flacher, d. h. die Verstärkerbandbreite nimmt zu. In Abb. 118.19 sind die entsprechenden Kurven für den PDFA dargestellt [Wannenmacher 1996]. Parameter ist die Pumpleistung. Abb. 118.20 zeigt die Verstärkung des PDFAs in Abhängigkeit von der Pumpleistung. Wesentlicher Bestandteil des Rauschens eines optischen Faserverstärkers ist das ASE-Rauschen (ASE amplified spontaneous emission). In der dotierten Faser findet nicht nur die erwünschte stimulierte, sondern auch unerwünschte spontane Emission statt. Letztere liefert Pho-

Tab. 118.3

Laseraktives Element Material der Faser Signalwellenlänge Pumpwellenlänge Pumpleistung Verstärkung Linearität Bitraten transparenz

EDFA

PDFA

Erbium Quarzglas 1550 nm 980 oder 1480 nm typ. 80 mW 0 ... 30 dB sehr hoch vorhanden

Praseodym Fluoridglas 1310 nm 1017 nm typ. 300 mW 0 ... 30 dB sehr hoch vorhanden

rameter von EDFA und PDFA. Beim PDFA sind deutlich höhere Pumpleistungen erforderlich. Die Erniedrigung der Pumpleistungen durch neue Glassorten ist ein wichtiges Forschungsziel. Der Pumplaser kann, wie in Abb. 118.17 dargestellt, auf Seiten der Signalquelle (kodirektionales Pumpen) oder auf der anderen Seite optische Strahlung einspeisen (kontradirektionales Pumpen). Bidirektionales Pumpen liegt vor, wenn auf beiden Seiten der dotierten Faser ein Pumplaser verwendet wird. Abb. 118.18 zeigt die Verstärkung eines EDFA in Abhängigkeit von der Signalwellen-

Signal λ5

Pumplicht λρ

WM

tonen, die bei ihrer Wanderung durch die dotierte Faser noch verstärkt werden, aber keine kohärente Strahlungswelle liefern und daher unerwünschtes Rauschen darstellen. Dieser Vorgang tritt sowohl beim EDFA als auch PDFA auf. In Abb. 118.21 ist für den PDFA die spektrale Leistungsdichte des ASE-Rauschens am Eingang der dotierten Faser (vorderes Bild) und an ihrem Ausgang (hinteres Bild mit Signalspitze bei etwa 1315 nm) dargestellt. Wie gezeigt werden kann, liegt die theoretische untere Grenze der Rauschzahl des Faserverstärkers bei 3 dB. Typische Werte liegen zwischen 3 und 4 dB.

DF

WM

Signal λ5

Pumplicht

Xp

Abb. 118.17: Prinzip des optischen Faserverstärkers (WM Wellenlängen-Multiplexer, D F dotierte Faser).

118. Die leitergebundene Informationsübertragung

1335

Leiterlänge

20,0 m

j

Pumpwellenlänge 980 nm i /

\

Pumpleistung:

Signaleingangsleistung:

7/ -

f7 I/

0,1 μψ

—,

1

^

1,0 μψ

\

10 μψ

\

!

ij

1500

10 mW 100 mW

!

1520

700 μψ 1 mW

vi-"'" 1

100 mW

1540 1560 Wellenlänge [nm]

1580

1600

Abb. 118.18: Verstärkung des erbiumdotierten Faserverstärkers (EDFA) in Abhängigkeit von der Signalwellenlänge. Parameter Signaleingangsleistung. Pumpleistung 100 mW.

Leiterlänge

10,5 m

Pumpwellenlänge

993 nm

Pumpleistung: Messung:

• 229 mW + 182 mW o 145 mW

Simulation:

1280

1290

1300 1310 1320 Wellenlänge [nm]

1330

1340

Abb. 118.19: Verstärkung des praseodymdotierten Faserverstärkers (PDFA) in Abhängigkeit von der Signalwellenlänge. Parameter Pumpleistung. Signaleingangsleistung — 20 dBm.

1336

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

1 / /



//

-y A /'ν/ // y'

Leiterlänge Signalwellenlänge Pumpwellenlänge

/ χ

- -

10,5 m 1315 nm 993 nm

Signaleingangsleistung 1 μψ 4 ]iW 17 μψ 67 μψ 10Q μψ

*

S Jl/ >7'

500 μψ

IO

20

50 100 200 Pumpleistung [mW]

500

1000

Abb. 118.20. Verstärkung des PDFAs als Funktion der Pumpleistung.

Leiterlänge

10,5m

Pumpwellenlänge

993 nm

Gesamtpumpleistung

214 mW

Signalleistung

67,6 μψ

Messung

1190

1270 1350 1430 Wellenlänge [nm]

1510

Abb. 118.21: Spektrale Leistungsdichte des ASE-Rauschens am Eingang der dotierten Faser (vorne) und am Ausgang (hinten) beim PDFA.

1337

118. Die leitergebundene Informationsübertragung

durch Impulsformung beim Sender und Empfänger beeinflußt werden. Je größer g desto größer ist das Bitraten-Längenprodukt und desto weniger Dispersionsreserve ist vorhanden. Nach Festlegung von g erhält man aus Gl. (15) eine zweite Lösung für L, L = L b . Für L a < L b ist die mögliche Faserlänge dämpfungsbegrenzt, für L a > L b ist sie dispersionsbegrenzt. Bei sehr hohen Bitraten liegt meist Dispersionsbegrenzung vor. Beispiel: Mit p l s = 0 dBm, p 2 S = - 3 0 dBm, gesamte D ä m p f u n g einschließlich Systemreserve 10 dB und α = 0,25 dB/km erhält m a n aus Gl. (24) L = L a ~ 80 km. In Abschnitt 3.3. wurde ζ. B. für eine StandardEinmodenfaser bei Betrieb mit λ = 1,55 μιη

3.6. Entwurf digitaler optischer Informationsübertragungssysteme Die überbrückbare Faserlänge L wird durch das verfügbare Leistungsbudget oder das Dispersionsbudget festgelegt. a) Leistungsbudget Das Leistungsbudget eines digitalen optischen Ubertragungssystems nach Abb. 118.5 umfaßt die mittlere Sendeleistung p l s , die mittlere Empfangsleistung p2Smm> die mindestens nötig ist, um eine vorgegebene Bitfehlerwahrscheinlichkeit, typisch 10"9, nicht zu überschreiten, sowie eine Reihe von D ä m p fungen des Systems und eine Systemreserve. Tab. 118.4 stellt die Größen und typischen Tab. 118.4

Stecker Spleiß Kopplung Laser-Laser und Faser-Fotodiode Faser Systemreserve Pis

Anzahl

Dämpfung

typischer Wert

Nst Nsp

a

a S t < 0,1 dB a s p < 0,1 dB a K < 3 dB (je) α ~ 0,2 ... 0,4 dB/km 3 - 6 dB 0 dBm - 3 0 dBm

St Sp »K a

α ·L aR

P2Smin

Werte zusammen. a R ist eine künstliche D ä m p f u n g , die als Systemreserve eingerechnet wird und Alterung, später eventuell nötige Spleiße u. a. berücksichtigt. Damit erhält man den Budgetansatz (alle D ä m p f u n g e n und Leistungen in dB): Pis -

P2Smin

= α • L + Nstast + NSpaSp + aK + aR - G

(24)

Gl. (24) ist eine Bestimmungsgleichung f ü r eine erste Lösung von L, L = L a . Man beachte, daß P2Smin v o n der Bitrate abhängt. G > 0 ist die Verstärkung der optischen Verstärker, falls vorhanden. b) Dispersionsbudget Das Dispersionsbudget ist durch den Faktor g (0 < g < 1) in G. (15) festgelegt, g kann

> nnn digitaler Sender

PDFA

Glasfaser

nnn PDFA

Glasfaser

Abb. 118.22: Optisches Ubertragungssystem mit PDFAs.

und 2,4 Gbit/s eine zulässige Faserlänge L b « 6 km ermittelt. Im Beispiel liegt also eine deutliche Grenze durch Dispersion vor. Weitere Daten zur Reichwerte optischer Ubertragungssysteme findet m a n in (Meinke/ Gundlach 1992, R 69ff.) und (Kao 1987). Forschungsgegenstand sind derzeit Verfahren für Bitraten oberhalb 10 Gbit/s und die Umgehung der Dispersionsbegrenzung, ζ. B. durch Dispersionskompensation und anderer Verfahren (Wedding 1992, 1298f.; Agraval 1989 und 1992). c) Einsatz von PDFAs Abb. 118.22 zeigt eine Ubertragungsstrecke, die aus η Verstärkerfeldern aufgebaut ist. Jedes Verstärkerfeld enthält eine Standard-Einmodenglasfaser gleicher Länge, wobei jeder

> PDFA

ono Glasfaser

digitaler Empfänger

1338

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

65

Verstä rkerfeldlän gen: 20 km 30 km - 35 km 40 km - 45 km 50 km 55 km 0

500

1000

1500

2000

Länge der gesamten Übertragungsstrecke

2500

3000

[km]

Abb. 118.23: Signal-Rauschabstand als Funktion der gesamten Streckenlänge.

1

1

io-2

£ I

w

4

10'6

I

•x s

-S!

ε

JS

io-8

I

^

IO-10

IO-12

0

100

200 300 400 Länge der Übertragungsstrecke

500 [km]

600

700

Abb. 118.24: Bitfehlerwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der gesamten Streckenlänge für k Verstärkerfelder.

1339

119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen

Glasfaser ein praseodymdotierter optischer Faserverstärker (PDFA) vorgeschaltet ist. Die Bitrate beträgt 2,4 Gbit/s. Der Empfanger ist so dimensioniert, daß er für eine mittlere Signaleingangsleistung p2smin = ~26 dBm eine Bitfehlerwahrscheinlichkeit von höchstens 1(T 9 besitzt. Abb. 118.23 zeigt den SignalRauschabstand am Eingang des binären Entscheiders als Funktion der gesamten Strekkenlänge (Wannenmacher 1996). Dabei wird das Rauschen nach den Abschnitten 3.4. und 3.5. berücksichtigt. In Abb. 118.24 ist die Bitfehlerwahrscheinlichkeit als Funktion der gesamten Streckenlänge für eine binäre Sendefolge dargestellt, k ist die Zahl der Verstärkerfelder. Mit k = 0 wird der Fall bezeichnet, daß keine Verstärker vorhanden sind. Die Faserdispersion wird im Diagramm nicht berücksichtigt. Sie ist allerdings sehr klein, da die Betriebswellenlänge bei etwa 1,31 μιη liegt, und die Streckenlänge also im wesentlichen dämpfungsbegrenzt ist. Man erkennt aus Abb. 118.24, daß durch Hinzunahme eines PDFA eine um etwa 60 km längere

Strecke überbrückt werden kann, ohne daß die Bitfehlerwahrscheinlichkeit über 10 9 ansteigt.

4.

Literatur

Agraval, Govind, Nonlinear Fiber Optics. Boston 1989. —, Fiber-Optic Communication Systems. New York 1992. Kao, Charles Kuen, Optical Fiber Systems: Technology, Design and Applications. New York 1987. Meinke, Gundlach, Taschenbuch der Hochfrequenztechnik. Berlin 1992. Schmid, Hans, Theorie und Technik der Nachrichtenkabel. Berlin 1976. Vielhauer, Peter, Theorie der Übertragung auf elektrischen Leitungen. Berlin 1970. Wannenmacher, Stefan, Übertragungstechnische Eigenschaften praseodym-dotierter optischer Faserverstärker. Universität Stuttgart 1996. Wedding, Bernd, New method for optical transmission beyond dispersion limit. Electronic Letters, Vol. 28, No. 14, Juli 1992, 1298-1299.

Joachim Speidel, Stuttgart

(Deutschland)

119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Einleitung Terrestrische Sendernetze Satelliten Breitbandverteil-(BVN-)Netze Internet Integrierte Rundfunkversorgung Kontribution Literatur

1.

Einleitung

Bis Anfang der achtziger Jahre - also bis zum Beginn des dualen Rundfunksystems erfolgte die Rundfunkversorgung für Hörfunk und Fernsehen ausschließlich über terrestrische Sendernetze. Die Übertragungskapazität war durch die Frequenzbereiche, die dem Dienst „Rundfunk" (Hörfunk und Fernsehen) international zur Nutzung zugewiesen waren, begrenzt. Drei bis vier UKWProgramme und drei Fernsehprogramme konnten je Bundesland bzw. Landesrundfunkanstalt flächendeckend verbreitet werden.

Erst durch die Entwicklung der Satellitentechnik mit der Empfangsmöglichkeit für jedermann durch Aufstellen kleiner Empfangsschüsseln auch für Medium-Power-Satelliten sowie durch den Ausbau der Breitbandkabelnetze (BK) durch die Deutsche Telekom A G entstanden weitere Verteilmöglichkeiten für Hörfunk- und Fernsehprogramme. Damit wurden technisch die Voraussetzungen für das duale Rundfunksystem geschaffen. An dieser Stelle werden die Entwicklung der Rundfunkversorgung (Hörfunk und Fernsehen) der vergangenen zehn Jahre dargestellt und eine Bewertung der „Ebenen der Rundfunkversorgung" — — — —

terrestrische Sendernetze Satelliten Breitband-(BK-)Kabelnetze Internet

sowie die bereits begonnene technologische Entwicklung der nächsten Jahre mit dem Einsatz der Digitaltechnik bei der Verbrei-

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XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

tung von Hörfunk und Fernsehen — dargestellt („Distribution"). Für die Kontribution, also den Programmaustausch zwischen Studios und Sendeanstalten sowie die Z u f ü h r u n g von Programmen zu Sendern, Satelliten und Kabeleinspeisepunkten, stehen heute vielfaltige Möglichkeiten der Telekommunikation (Richtfunk, Glasfaserleitungen, etc.) mit den entsprechenden Übertragungssystemen wie ζ. B. ATM zur Verfügung, auf die im Rahmen einer Übersichtsdarstellung kurz eingegangen wird.

2.

Terrestrische Sendernetze

2.1. Hörfunk Als Ergebnis der Internationalen Funkverwaltungskonferenzen 1979 und 1982/84 steht ab April 1992 auch der Frequenzbereich 104 bis 108 M H z ohne jede Einschränkung für den UKW-Hörrundfunk zur Verfügung. Insgesamt sind heute pro Bundesland sechs bis sieben weitgehend flächendeckende UKWSenderketten nutzbar. Neben den Programmen der Landesrundfunkanstalten werden dabei auch zwischen einem und drei Programmen privater Rundfunkunternehmen ausgestrahlt. Hinzu kommen zahlreiche Regional- und Lokalprogramme — ebenfalls privater Rundfunk unternehmen. Die immer dichter werdende Belegung des UKW-Frequenzspektrums hat in Verbindung mit Veränderungen bei der Modulationsaufbereitung der Programme (Kompression) dazu geführt, daß sich die früher sehr guten Empfangsbedingungen bei U K W zunehmend verschlechtert haben. Auch der Fernempfang von Programmen benachbarter Rundfunkanstalten hat sich immer mehr verschlechtert. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und privater Programmveranstalter sind daher intensiv um die Entwicklung und Einführung eines digitalen Radiosystems — Digital Audio Broadcasting (DAB) — bemüht. Generell gilt, daß sich digitale Systeme künftig nicht nur bei drahtgebundenen, sondern auch bei drahtlosen Übertragungssystemen durchsetzen werden. Bereits Anfang der achtziger Jahre unterbreitete das Institut für Rundfunktechnik (IRT), München, erste Vorschläge für eine digitale Radio-Programmausstrahlung. 1985 fand gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk ein erster Ausstrahlungsversuch mit digital modulierten Programmen statt. Auf Anregung des IRT und des Bundesministers für

Forschung und Technologie wurde 1985 ein europäisches Forschungsprojekt — das E U R E K A - P r o j e k t E U 147 - initiiert und beschlossen. Seit Ende 1993 ist das digitale Radiosystem D A B fertig entwickelt und steht zur Einführung bereit. Die bisherigen Überlegungen gingen davon aus, daß DAB das heutige UKW-System - nach einer längeren Übergangszeit mit paralleler Programmaussendung — ersetzen würde. Die Vorteile eines digitalen Radiosystems wie stets gleichbleibend guter Empfang auch mit tragbaren und mobil genutzten Geräten und die sprichwörtliche „CD-Qualität" waren für diese Überlegungen ausschlaggebend. Die Detail Überlegungen und -Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß die Verbreitung aller bisher über U K W gesendeter Programme mit ihren Versorgungsgebieten — insbesondere im regionalen und lokalen Bereich — mit D A B auf absehbare Zeit nicht realisierbar ist: Der dafür benötigte Frequenzbedarf ist wesentlich größer als das anläßlich einer Internationalen Frequenzplanungskonferenz 1995 für D A B zur Verfügung gestellte Frequenzvolumen. D A B ist in vielen Systemparametern und Randbedingungen mit U K W nicht vergleichbar. Es kann daher aus heutiger Sicht nicht ausschließlich als das Nachfolgesystem für U K W angesehen werden; es k a n n sich auch zu einem völlig neuen Rundfunksystem entwikkeln. Mit dem System D A B steht das künftige europäische Radiosystem in „CD-Qualität" zur Verfügung. Es erlaubt eine fehlerfreie Signalübertragung mit besserer Audioqualität in den System-Grunddaten wie Rauschen, Klirrfaktor, etc. als dies bisher bei U K W möglich ist. Der Übertragungskanal mit einer nutzbaren Nettodatenrate von 1,15 Mbit/s ist transparent und besteht aus einzelnen Datenpaketen von 8 kbit/s. Im Gegensatz zum UKW-Radio, bei dem für einen einwandfreien Empfang eine Richtantenne auf dem Dach Voraussetzung ist, erlaubt D A B einen einwandfreien Empfang auch mit tragbaren und mobil betriebenen Geräten (Stabantenne). Der Datenstrom kann nun beliebig aufgeteilt werden: So ist die Übertragung von hochwertigen Radio-Stereoprogrammen mit je 192 kbit/s genauso wie die eines MonoProgrammes (ζ. Β. Nachrichtensendung) mit 80 bzw. 96 kbit/s möglich. Insgesamt können auf diese Weise 6—8 Radioprogramme in einem DAB-Block 1,75 M H z ) übertragen werden.

119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen

DAB ist, wie jedes digitale Übertragungsverfahren, transparent: d. h., dem System ist es im Prinzip gleichgültig, ob die digital übertragenen Datenströme ein Radioprogramm oder eine Dateninformation — ζ. B. die eines Verkehrsinformationssystems — enthalten. DAB wird also auch eine ganz neue Art von Rundfunk — nämlich den Datenrundfunk ermöglichen. Dabei kann es sich sowohl um programmergänzende Informationen als auch um völlig vom eigentlichen Radioprogramm unabhängige Datendienste handeln. Einige Beispiele dafür sind: — Verkehrsinformations- und -leitsysteme. Damit können Navigationssysteme mit aktuellen Verkehrsdaten und mit Änderungen im Datenstand versorgt werden. — Übertragung von Grafiken, Texten und Standbildern parallel zum gesprochenen Wort im Radioprogramm. Das Radio erhält damit eine neue inhaltliche Qualität. — Verbreitung von speziellen Informationsprogrammen wie Wetter, Verkehr, etc. — Paging Systeme sowie die Übertragung von Daten an geschlossene Teilnehmergruppen (ζ. B. Börsennachrichten, Fortund Weiterbildung) - auch gegen Entgelt. Besondere Bedeutung kommt der Einführungsstrategie von DAB zu: Die Aussendung der heute über UKW abgestrahlten Programme allein dürfte kein genügend großer Anreiz für Rundfunkteilnehmer sein, sich ein neues Empfangsgerät bzw. künftig ein „Mehrnormengerät" für UKW und DAB mit einem Mehrpreis von ca. D M 600 bis D M 800 zu Beginn — später von ca. D M 300 bis DM 400 — zu kaufen. Es ist daher notwendig, über die Aussendung zusätzlicher Radioprogramme (ζ. B. Deutschlandradio, neue Programme der Landesrundfunkanstalten und privater Rundfunkunternehmen) sowie neuer Datenrundfunkdienste intensiv nachzudenken. Gerade der Bereich Datenrundfunk ist mit viel Kreativität anzugehen und die Vorteile der „Mobilität", die das kleine tragbare Radio sowie die Autoradios heute bieten, sind für die Verbreitung von Daten an die Allgemeinheit zu nutzen. Vielleicht sind eines Tages auch neue tragbare Geräte vorstellbar, die aus einem DAB-Datenempfänger und aus einem tragbaren Telefon bestehen: Zugverbindungen, Theater- und Kinoprogramme, etc., werden über DAB gesendet; der Teilnehmer kann über das Telefon als Rückkanal Bestellungen und Buchungen vor-

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nehmen. Neben dem 'Walkman' und dem 'Watchman' auch ein 'Dataman'? Die für Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland zuständigen Länder haben der geplanten Einführung von DAB bereits im Frühjahr 1993 grundsätzlich zugestimmt und diese Auffassung im Februar 1995 nochmals bekräftigt. In einem Memorandum of Understanding (MoU) zur „Einführung von Digital Audio Broadcasting (DAB) in der Bundesrepublik Deutschland" haben im Juni 1995 26 Dachorganisationen und einzelne Mitglieder der DAB-Plattform e. V. ihr Einverständnis erklärt. Dieses MoU legt darüber hinaus die Eckpunkte für die im Herbst 1995 angelaufenen DAB-Pilotprojekte (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen sowie Mitteldeutschland) und für den Start des multimedialen Rundfunksystems DAB ab der Internationalen Funkausstellung 1997 fest. 2.2. Fernsehen Die in den klassischen Fernsehbereichen III—V zur Verfügung stehenden Frequenzen werden weitgehend für die Fernsehsendernetze zur Ausstrahlung des ARD-Programms, des ZDF-Programms sowie der Dritten Fernsehprogramme der Landesrundfunkanstalten genutzt. Für die privaten Rundfunkunternehmen wie RTL, SAT 1, PRO 7, etc., stehen mit unterschiedlichen geographischen Schwerpunkten — nur Teilsenderketten zur Verfügung. Die Deutsche Telekom A G hat sich in den vergangenen 15 Jahren bemüht, insbesondere in Ballungsgebieten weitere Fernsehfrequenzen — auch kleinerer Leistung — zu ermitteln, um den privaten Rundfunkunternehmen zumindest Schwerpunktversorgungen ermöglichen zu können. Darüber hinaus gibt es in einer Reihe von Ländern die Möglichkeit, über Sender kleiner Leistung Lokalprogramme direkt oder als „Fensterprogramme" im Rahmen bundesweit (über Satellit) ausgestrahlter privater Fernsehprogramme auszusenden. Gewisse Reserven bestehen noch in dem Frequenzbereich oberhalb des Fernsehkanals 60 (Kanäle 61 bis 69), die in einigen Nachbarländern der Bundesrepublik Deutschland bereits für die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen genutzt werden. In Deutschland sind diese Frequenzen bisher militärischen Diensten zugewiesen. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie private Rundfunkunternehmen haben wiederholt die Freigabe gefordert. Einige Kanäle sind für die Einfüh-

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XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

rung des digitalen terrestrischen Fernsehens vorgesehen. Ein breiteres Fernsehbild als das heute genutzte Format (4: 3) mit einem Bild-Seitenverhältnis von 16:9 entspricht — insbesondere bei künftigen Großbild-Endgeräten (flacher Bildschirm) — besser dem menschlichen Gesichtssinn; auch der Spielfilm nutzt seit vielen Jahren ein breiteres Format, um einen lebendigeren und der Wirklichkeit etwas mehr angenäherten Eindruck des tatsächlichen Geschenens vermitteln zu können. Nachdem das künftige digitale Satellitenfernsehen (s. Abschnitt 3.2.) auch dieses breitere Bildformat 1 6 : 9 verwenden wird, ist es insbesondere für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die auch weiterhin mit ihren terrestristischen Fernsehsendern die „technische Grundversorgung" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes sicherzustellen haben, unverzichtbar, dieses breitere Bildformat auch bei der terrestrischen Fernsehversorgung mit PAL nutzen zu können. Unter Federführung des Z D F wurden dazu intensive Überlegungen angestellt; ein Systemvorschlag wurde entwickelt: PALplus. Die Vorstellung erfolgte anläßlich der Internationalen Funkausstellung 1993 in Berlin; ab Frühjahr 1994 senden A R D / Z D F , ein Teil der Dritten Fernsehprogramme und auch private Rundfunkunternehmen einzelne Programmteile in dieser neuen Norm. Bereits 1993 startete die Europäische Union (EU) ein Programm zur Förderung von Produktion und Ausstrahlung von Programmbeiträgen im neuen Bildformat 16:9. D a f ü r wurden zwischen 1993 und 1997 Mittel in Höhe von etwa 230 Mio. E C U bereitgestellt. Entsprechend der Ausschreibung wurden aus 6 europäischen Ländern insgesamt 18 Projekte mit mehr als 100000 Programmstunden angemeldet und gefördert. Aus der Bundesrepublik Deutschland beteiligten sich neben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch die privaten Rundfunkunternehmen P R O 7 und Premiere. Ahnlich wie im H ö r f u n k mit Digital Audio Broadcasting (DAB) wird sich künftig auch beim terrestrischen Fernsehen die digitale Ausstrahlung durchsetzen: Digital Video Broadcasting (DVB-T). Die Entwicklung dieses Systems ist abgeschlossen worden. So steht heute ein einführungsreifes System zur Verfügung, welches den Empfang mit Richtantenne auf dem D a c h und mit Stabantenne (tragbares Gerät) ermöglicht. Inwieweit es gelingt, das System auch für den Empfang

mit mobil betriebenen Geräten einzurichten, ist zur Zeit noch offen. Das System erlaubt pro 7 bzw. 8 M H z Datenraten bis zu 38 Mbit/ s; damit sind — in Abhängigkeit der technischen Qualität — 6 bis 10 Fernsehprogramme übertragbar. Einer raschen Einführung steht insbesondere die doch unzureichend geklärte Frage entgegen, welcher Frequenzbereich dafür zur Verfügung gestellt werden kann. Nach umfangreichen Untersuchungen des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation reicht das Frequenzvolumen der heute in Deutschland noch nicht für den Rundfunk genutzten Kanäle 61 bis 69 — unter Beachtung der internationalen Situation - allein nicht aus. Internationale Gespräche bzw. eine Planungskonferenz sollen in 1997/98 stattfinden. Andererseits zeigen neueste Überlegungen zum multimedialen Übertragungssystem DAB, daß dort unter Verwendung des Prinzips der hierarchischen Modulation in einem DABBlock mit nur 1,75 M H z Bandbreite für den Empfang mit einer Richtantenne auch ein Fernsehprogramm hoher Qualität (ca. 3,5 Mbit/s) übertragen werden kann. Das gleiche Programm würde darüber hinaus mit einer geringeren Datenrate von 1,15 Mbit/s in technisch einwandfreier Qualität für mobil betriebene Fernsehempfänger gesendet werden und auf Bildschirmen kleinerer und mittlerer G r ö ß e in guter Qualität dargestellt werden. Die Frage, ob daher für die künftige terrestrische drahtlose Rundfunkversorgung (Hörfunk, Fernsehen und Datenrundfunk) ein einheitliches Übertragungssystem — nämlich DAB — anstelle mehrerer Systeme eingesetzt werden sollte, sollte intensiv diskutiert werden.

3.

Satelliten

3.1. Hörfunk Bereits 1984 wurde in Deutschland die Entscheidung getroffen, ein System für das Digitale Satelliten-Radio (DRS) zu entwickeln und einzuführen. Anläßlich der Funkausstellung 1989 nahm der Bundesminister für Post und Telekommunikation dieses System über einen Transponder des deutschen R u n d f u n k satelliten TV SAT 2 sowie des deutschen Fernmeldesatelliten Kopernikus in Betrieb. DSR ermöglichte die Verbreitung von 16 Satelliten-Radioprogrammen (Stereo) in weiten Teilen Europas. Für etwa 100 Millionen deutschsprachiger Einwohner war damit eine

119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen

Vollversorgung bei geringstem Aufwand für den Empfang der Programme sichergestellt. Zum Empfang genügte eine Satelliten-Antennenanlage von etwa 50—60 cm Durchmesser. Der Teilnehmer benötigte zusätzlich ein neues Empfangsgerät, welches D M 300 — 600 kostete. Der Betrieb des DSR-Systems wurde 1998 wieder eingestellt. In Deutschland gab es insgesamt nur etwa 150 000 Nutzer. Anläßlich der Internationalen Funkausstellung 1993 stellte SES, die luxemburgische Betreibergesellschaft des Satellitensystems ASTRA, ihr digitales Radiosystem ASTRA Digital Radio (ADR) vor: Damit können über alle Transponder der ASTRA Satelliten 1 A bis 1 D parallel zu jedem Fernsehprogramm noch 12 Hörfunk-Stereoprogramme über ein digitales Unterträgerverfahren mit ausgestrahlt werden. Für die 4 X 16 Transponder der Satelliten ASTRA 1 A bis 1 D bedeutet dies eine Übertragungskapazität von etwa 700 Hörfunk-Stereoprogrammen. 1997 werden nach diesem Verfahren etwa 200 Radioprogramme — z. T. auch als Pay-Radio — übertragen. Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verbreiten einen Großteil ihrer Radioprogramme über dieses System, welches sich bisher unter qualitativen und betriebstechnischen Aspekten sehr bewährt hat. Der Empfang ist über eine dem Teilnehmer vorhandene Satellitenfernsehantenne möglich. Das notwendige Empfangsgerät (im Rahmen einer Stereoanlage) wird im Handel zwischen 300,— und 500,— D M angeboten. 3.2. Fernsehen Als Ergebnis einer internationalen Satellitenkonferenz 1977 begannen 1978 konkrete Überlegungen in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich zum Bau von Rundfunkanstalten für die Verbreitung von Fernseh- bzw. Hörfunkprogrammen an die Allgemeinheit: Jedermann sollte mit kleinen Empfangsspiegeln von 60 bis 90 cm Durchmesser die Programme überall im jeweiligen Land empfangen können. Der erste deutsche Rundfunksatellit TV SAT 1, dessen Start im November 1987 erfolgte, konnte eines technischen Defektes wegen nicht genutzt werden. Programmausstrahlungen waren erst über den TV SAT 2 ab September 1989 möglich. Entsprechend dem Staatsvertrag zur Neuordnung des Rundfunkwesens der Ministerpräsidenten der Bundesländer vom März 1987 wurden drei der fünf Kanäle des deutschen Rundfunksatelli-

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ten privaten Rundfunkunternehmen und je einer A R D und Z D F zugewiesen. Im Gegensatz zu Rundfunksatelliten waren früher über Fernmeldesatelliten gesendete Signale auf Grund fernmelderechtlicher Bestimmungen nicht zum Empfang durch jedermann bestimmt. Sie dienten der Nachrichtenübermittlung von einer Sendestation zu einer oder auch zu mehreren Empfangsstationen. Ende der achtziger Jahre vollzog sich auf dem Gebiet der Satellitentechnik — sowohl bei den Satelliten als auch bei den Empfangsantennenanlagen — eine rasche technische Entwicklung, die dazu führte, daß über Fernmeldesatelliten mittlerer Leistung gesendete Programme nicht mehr Empfangsspiegel von 1,5 bis 2,5 Meter, sondern nur noch von 60 bis 80 cm Durchmesser benötigten. Damit war es möglich, daß auch einzelne Fernsehteilnehmer Programme von Fernmeldesatelliten direkt empfangen konnte. Nachdem die Fernmeldeverwaltungen Mitteleuropas nach wie vor den Empfang von über Fernmeldesatelliten gesendeter Programme nur unter bestimmten Bedingungen und auf Grund von Einzelgenehmigungen zuließen, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg, im Mai 1990, daß der freie und ungehinderte Empfang aller über Satelliten gesendeter Programme als „[...] unantastbares Menschenrecht [...]" gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskommission gilt. Nach diesem Urteil umfaßt das Recht freier Meinungsäußerung auch den ungehinderten Empfang von Programmen über Satellit. Auf Grund dieser Entscheidung war klar, daß die Verbreitung von Rundfunkprogrammen über Satelliten künftig überwiegend über Fernmeldesatelliten mit ihrer größeren Kanalzahl (16 anstelle 5 bei den Rundfunksatelliten) mit den damit verbundenen geringeren Kosten erfolgen würde. So war auch dem 1988 gestarteten ASTRA 1 A — und den Nachfolgesatelliten 1 Β und 1 D — ein großer Erfolg beschert. Heute werden allein über dieses System etwa 60 Fernsehprogramme in analoger Technik abgestrahlt, die von jedermann in Europa empfangen werden können. Die Deutsche Telekom A G empfängt einen Teil dieser Programme und speist sie — entsprechend den Festlegungen der Landesmedienanstalten — in ihre BK-Netze ein. Der Siegeszug des ASTRA-Systems mit etwa 35 Millionen Satellitenempfangsantennen in Europa, davon etwa 12 Millionen in

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XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

der Bundesrepublik Deutschland (Stand 1999), hat letztlich auch A R D und Z D F dazu bewogen, ab August 1993 ihre beiden Hauptprogramme und auch fast alle 3. Fernsehprogramme sowie 3sat, ARTE, etc., über A S T R A zu senden. Immer mehr Teilnehmer ersetzen ihre herkömmlichen Fernsehantennenanlagen durch eine (auch preiswertere) Satellitenanlage für das System A S T R A . Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es mittel- bis langfristig daher lebensnotwendig, alle Programme auch über dieses System abzustrahlen. Die Entwicklung der Mikroelektronik hat dazu geführt, daß heute analoge Fernsehsignale digitalisiert, komprimiert und als kleine Bitrate transportiert werden können: Unter Einbeziehung psycho-optischer Eigenschaften des Menschen und neuesten Verfahren der Datenreduktion ist es möglich, ein Fernsehsignal (Bild, Ton und Daten) zu digitalisieren und um den Faktor 35 auf nur vier bis sechs Mbit/s (Bildformat 16:9, PAL-Qualität) zu komprimieren, ohne daß subjektiv vom Betrachter ein Qualitätsunterschied zum Original festgestellt werden kann. Gibt m a n sich mit einem geringeren Qualitätsstandard (z. B. Videorecorder-S-VHS) zufrieden, so reichen Datenströme um die 2 bis 3 Mbit/s aus. Bei Nutzung moderner Satelliten für die Datenübertragung (Telekommunikation), wie sie heute von Satellitenherstellern auf dem Weltmarkt angeboten werden, können dann für den Empfang mit stationär ausgerichteten Satellitenantennen anstelle heute eines Fernsehprogramms in PAL-Qualität künftig sechs bis acht Programme in herkömmlicher Qualität oder acht bis zwölf in S-VHS-Qualität gesendet werden. Dies bedeutet eine Verfünffachung der Übertragungskapazitäten über Satelliten zu wesentlich geringeren Ausstrahlungskosten für ein Programm gegenüber der analogen Sendetechnik. Diese technologischen Entwicklungstendenzen hin zu digital komprimierten Fernsehsystemen führten 1993 auch zu einer Reihe europäischer Aktivitäten unter Federführung der Bundesrepublik Deutschland. In einem Memorandum of Understanding (MoU) verpflichteten sich Vertreter von Satelliten- und Netzbetreibern, Geräteherstellern, Rundfunkanstalten und Programmunternehmen sowie Verwaltungen im Rahmen eines offenen Forums, gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, um ein digitales europäisches Fernsehen zu entwickeln und ab 1996 einzu-

führen. Etwa 170 Partner aus Europa arbeiteten daran mit. SES hat 1993 die Entscheidung f ü r den Start weiterer Satelliten für das System A S T R A bekanntgegeben: Gemeinsam mit den Satelliten 1 E und 1 F, die 1995 bzw. 1996 gestartet wurden, wird der siebte Satellit 1 G 1997 die Ubertragungsmöglichkeit für etwa 60 Digitalprogramme bieten. Die digitale Satellitennorm - und auch die für die Weiterverbreitung in Kabelanlagen — wurde zwischenzeitlich beim Europäischen Normierungsinstitut ETSI genormt. Eine Fülle von Programmen wird bereits nach dieser N o r m gesendet. Mit der Entwicklung des digitalen Satellitenfernsehens werden zwei Tendenzen deutlich: — Der Trend vom „Vollprogramm" hin zum interest-spezifischen Programm (Spartenprogramm) und zum Abonnentenfernsehen (Pay-TV und Pay-per-view). - Die Tendenz zur künftigen Schwerpunktversorgung mit R u n d f u n k p r o g r a m m e n über Satellit (und Kabel), da terrestrisch in Folge des eingeschränkten Frequenzvolumens immer nur eine geringe Anzahl von Programmen gesendet werden kann.

4.

Breitbandverteil-(BVN-)Netze

BVN-Netze waren bisher Bestandteil der Fernmeldeinfrastruktur der Deutschen Telekom A G . Diese hat ihr Ziel, neben den Netzen f ü r die Individualkommunikation auch ein bundesweites Breitbandverteilnetz für H ö r f u n k und Fernsehen zu errichten und zu betreiben, seit Anfang der achtziger Jahre konsequent verfolgt. Die Entscheidung des damaligen Bundespostministers, Dr. Christian Schwarz-Schilling, sofort nach Übernahme seines Amtes 1982 die Verkabelung großflächig zu beginnen, führte innerhalb von nur 15 Jahren von etwa 300 000 Kabelanschlüssen im Bundesgebiet zu einem Bestand von 19 Mio. (1999) angeschlossenen und insgesamt etwas über 25 Mio. anschließbaren Haushalten. Dieser — überwiegend unter medienpolitischen Aspekten forcierte — Ausbau der BK-Netze war die Grundlage für die rasche Entwicklung des dualen Rundfunksystems in der Bundesrepublik Deutschland. Ohne die große Zahl der an die BVN-Netze angeschlossenen Teilnehmer hätten private Rundfunkunternehmen auch heute noch nicht das Zuschauerpotential, um ihre Programme über Werbung zu finanzieren.

119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen

Die Vorteile der Breitbandverteilanlagen liegen in der großen Übertragungskapazität: Mit heute 30 analog und künftig zusätzlich etwa 140 digital nutzbaren Kanälen für Fernsehprogramme und einer etwa gleich großen Zahl von Kanälen für Hörfunkprogramme bietet das Kupfer-Koaxial-Kabel nach wie vor die technisch und wirtschaftlich beste Lösung. Allerdings sind die bisher von der Deutschen Telekom A G dafür erhobenen Tarife bei weitem nicht kostendeckend. Der jährliche Betriebsverlust liegt nach wie vor zwischen 1 und 1,5 Milliarden DM pro Jahr. Die BVN-Netze der Deutschen Telekom A G sind heute mit etwa 30 analogen Fernsehprogrammen belegt und bieten im Frequenzbereich bis 300 M H z keinerlei Kapazitätsreserven. Die Deutsche Telekom A G hat bereits vor Jahren den Frequenzbereich von 301—450 MHz für die Verbreitung weiterer Programme ausgebaut. Heute werden darin drei analoge Fernsehprogramme verbreitet. In den 15 verbleibenden HF-Kanälen (je 8 MHz-Bandbreite) werden heute digitale TVProgramme über 15 digitale Satelliten-Datenpakete mit je 38 Mbit/s, was etwa der Kapazität von 6—8 Fernsehprogrammen entspricht, übertragen. Die Landesmedienanstalten forderten seit langer Zeit, diese Kapazität für die Übertragung weiterer analoger Fernsehprogramme zu nutzen, währenddessen die Deutsche Telekom A G nur noch digitale Fernsehprogramme verbreiten will, um die Kapazität des Bereiches 300-450 MHz optimal zu nutzen. Ende 1996 war dieser Bereich für die Verbreitung digitaler Programmpakete ausgerüstet worden. 1999/2000 verkauft die Deutsche Telekom A G Teil-Netze (auf Ebene der Länder) an Dritte. In Zukunft ist daher mit einem raschen weiteren Ausbau der Übertragungskapazität zu rechnen — bis zu 862 MHz. Die BVN-Netze sollen auch mit Rückkanaltechnik versehen werden, sodaß sie nicht nur für die herkömmliche Programmverbreitung sondern auch für Abrufdienste (Pay-perview) und schnelle Internetzugänge nutzbar sein sollen.

5.

WWW (Internet)

Die Entwicklung der Übertragungstechnik für die Individualkommunikation in den klassischen Fernmeldenetzen hat in den vergangenen Jahren zu einer Revolution geführt: Im W W W (Internet) wurden nicht mehr vom

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Teilnehmer feste Verbindungen aufgebaut, sondern die Nachrichten nur mit einer Zieladresse versehen. Sie 'wandern' dann in einem Rechner-Netzwerk auf ganz unterschiedlichen Wegen zum Empfänger. WWW (Internet) bietet ganz individuelle Übertragungs- und Datenkomprimierungsverfahren. So können heute Hörfunkprogramme (bzw. einzelne Programmteile) digital in sehr guter Qualität (MPEG 3) über den PC gemacht bzw. empfangen werden. Mit dem weiteren Ausbau der WWW-(InternetVerbindungen (größere Übertragungsrate) wird es in absehbarer Zeit auch möglich sein, TV-Programme in guter Qualität zu übertragen. WWW (Internet) eröffnet also für den individuellen Programmablauf und für die weltweite Verbreitung von Programmen den Rundfunk-Veranstaltern und den Teilnehmern künftig völlig neue Möglichkeiten.

6.

Integrierte Rundfunkversorgung

Grundsätzlich gibt es also vier Möglichkeiten, Programme an die Rundfunkteilnehmer zu verbreiten: — — — —

Terrestrische Sendernetze Satelliten Breitbandverteilanlagen. Internet (WWW)

Die terrestrischen Sendernetze für Hörfunk und Fernsehen haben durch die Entwicklung des Satellitenrundfunks und den Ausbau der Kabelnetze ihre frühere Bedeutung teilweise verloren. Zwar ist es nach wie vor nur über die terrestrische drahtlose Rundfunkversorgung möglich, alle Rundfunkteilnehmer — auch im Sinne einer technischen Grundversorgung — zu erreichen, andererseits ist über die heute vorhandenen analogen terrestrischen Sendernetze die flächendeckende Verbreitung von nur etwa 6—7 Radioprogrammen (UKW) und nur 4—5 Fernsehprogrammen möglich. Im Gegensatz dazu sind mit einer Satellitenempfangsanlage etwa 30 deutschsprachige Fernsehprogramme und 100 Radioprogramme empfangbar; die Übertragungskapazität im Kabel wird unter Einbeziehung der digitalen Verteiltechnik ein ähnliches Volumen bieten. Nach einer Untersuchung von Booz, Allen & Hamilton sinkt der Anteil der Fernsehhaushalte, die nur die terrestrisch ausgestrahlen Fernsehprogramme empfangen, auf

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XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

etwa 6 Prozent im Jahr 2005. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Es m u ß daher grundsätzlich die Frage gestellt werden, ob flächendeckende analoge Fernsehsendernetze unter frequenzökonomischer und betriebswirtschaftlicher Sicht für eine derart eingeschränkte Nutzung überhaupt noch weiter betrieben werden sollten. Die enorm hohen Kosten für die terrestrische Verbreitung von Fernsehprogrammen über das analoge Fernsehsystem werden dann in einem immer krasseren Widerspruch zu der Zahl dieses Systems noch nutzender Teilnehmergeräte stehen. Im Jahr 2000 wird die Verbreitung des Z D F - P r o g r a m m s über das terrestrische Fernsehsendernetz etwa ζ. B. allein 180 Mio. D M per anno kosten. Die Kosten für die Verbreitung des 1. Fernsehprogramms A R D und für die Dritten Programme der Landesrundfunkanstalten liegen zusammen bei über 400 Mio. D M per anno. Die Frage des künftigen Fortbestandes der terrestrischen analogen Fernsehsendernetze m u ß daher bereits heute aus betriebswirtschaftlichen, frequenzökonomischen und medienpolitischen Gesichtspunkten heraus angesprochen und diskutiert werden. Es ist eine Strategie zu entwickeln, wie die terrestrische Verbreitung von Fernsehprogrammen — an stationär und portabel, auch an mobil betriebene Empfänger — durch eine Umstellung auf ein wesentlich preiswerteres und frequenzökonomischeres digitales Ubertragungsverfahren möglichst schnell angegangen und umgesetzt werden kann. In der „Initiative Digitaler R u n d f u n k " der Bundesregierung werden dazu seit 1998 intensive Überlegungen für die Umstellung der heute analog betriebenen TV-Sondernetze auf die digitale Technik (DVG-T) angestellt. Mit dem System DAB als dienstintegrierendem Multimedia-System steht auch für die Verbreitung von Fernsehprogrammen in bester Qualität ein ausgereiftes und für den Empfang mit mobilen Geräten besonders gut geeignetes Übertragungssystem zur Verfügung. Die nahezu vollständige Verbreitung aller regionalen und nationalen Fernsehprogramme über Satellit und deren Weiterverbreitung in den Breitbandverteilnetzen der Deutschen Telekom A G führen zu der Fragestellung, wo künftig der Schwerpunkt bzw. die Priorität bei der „Rundfunkversorgung" — zumindest für den Fernsehrundfunk — liegen soll. Weder die R u n d f u n k - noch die Mediengesetze enthalten eine ausdrückliche Bestimmung darüber, mit welchen technischen Mit-

teln die Rundfunkversorgung durchzuführen ist und ab welchem Verbreitungsgrad der Versorgungsauftrag als erfüllt angesehen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Grundversorgung ausgeführt, daß der öffentlichrechtliche R u n d f u n k zur Sicherstellung derselben über eine Übertragungstechnik verfügen muß, mit der die gesamte Bevölkerung zu erreichen ist (Urteile vom 04. 11. 1986 und 24. 3. 1987). In beiden Urteilen ist ausgeführt worden, daß diese flächendeckende Versorgung bis auf weiteres über terrestrische Frequenzen erfolgen müsse. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in anderen Urteilen und in anderem Zusammenhang immer den dynamischen Charakter der Rundfunkfreiheit und der Grundversorgung betont. Die Rundfunkversorgung k a n n also nicht auf einen Stand einer bestimmten Technik (drahtlos terrestrisch) eingefroren werden. Stellt sich heraus, daß eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung auch mit den Versorgungsmitteln Satellit und Kabel unter Zuhilfenahme terrestrischer Frequenzen für lokale bzw. regionale Programme sichergestellt werden kann, wird die Summierung verschiedener Übertragungswege zu einem neuen Verständnis der Rundfunkversorgung (Fernsehen) führen müssen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht — Grundversorgung m u ß die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung ermöglichen — kann zur Erfüllung dieser Verpflichtung auch die Satellitenverbreitung herangezogen werden, wenn der Erwerb entsprechender Empfangsanlagen jedermann mit zumutbaren Kosten möglich ist. Dies ist heute der Fall. Insofern trifft auch die in einzelnen Mediengesetzen vorgenommene Differenzierung zwischen ortsüblich drahtlos terrestrisch empfangbaren und über Satelliten „herangeführten" Rundfunkprogrammen nicht mehr zu. Terretristische Sendernetze werden dagegen weiterhin für die Verbreitung von Lokal- und Regionalprogrammen, die über Satelliten kostengünstig nicht möglich ist, sowie für den mobilen Empfang unverzichtbar sein. Ein weiteres Argument spricht dafür, künftig die Satellitentechnik als Basis der Rundfunkversorgung (Fernsehen) zu betrachten: Weitere bzw. neu veranstaltete Programme können nur über Satellit flächendeckend und sofort nach Sendebeginn von jedermann empfangen werden; der Ausbau der Sendernetze bzw. die Einspeisung von Satellitenprogrammen erfolgt - wenn überhaupt —

119. Distributions- und Kontributionssysteme für Hörfunk und Fernsehen

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immer mit einer großen zeitlichen Verzögerung. Nur der Satellit garantiert immer die „schnellste" und vollständig flächendeckende Versorgung, insbesondere auch im digitalen Zeitalter. Breitbandverteilnetze sind immer nur als Ergänzung der drahtlosen Rundfunkversorgung über Satellit und terrestrische Sendernetze zu sehen, nachdem es zu keiner flächendeckenden Verkabelung des Bundesgebietes kommen wird. Der drahtlosen Rundfunkversorgung ist daher auch weiterhin absoluter Vorrang gegenüber einer Verbreitung von Programmen über Kabelanlagen zu geben. Darüber hinaus legen die Landesmedienanstalten fest, welche Programme verbreitet werden dürfen; der Auswahlmöglichkeit des Teilnehmers — gegenüber dem freien Satellitenempfang — wird damit Grenzen gezogen. Die Technik des WWW (Internet) ermöglicht künftig die weltweite live-Übertragung von Radio- u. Fernsehprogrammen — auch außerhalb des eigentlichen Versorgungsgebietes der entspr. Rundfunkanstalt. Darüber hinaus können aus den Archiven einzeln gesendete Beiträge abgerufen werden. Somit bieten Rundfunkanstalten auch interessante Datenbanken zu allen relevanten Themen — in Form des originalen Hörfunk- bzw. Fernsehbeitrages an.

Nutzern selbst vorgenommen werden können. Für die Übertragung eines Fernsehprogrammes werden 34 Mbit/s und 155 Mbit/s — je nach Qualität der zu übertragenden Sendung — verwendet. Übertragungen nach dem ATM-System erfolgen über Vermittlungssysteme, wobei die zu übertragenden Daten in einzelne kleine Pakete aufgeteilt werden, die dann erst beim Empfänger wieder zu einem einheitlichen Gesamtdatenstrom zusammengesetzt werden. Im Jahr 1996 fanden erste Versuche im ATM-Weitverkehrsnetz der Deutschen Telekom A G gemeinsam mit N D R , ORB und Z D F statt. Dabei hat sich herausgestellt, daß die Übertragung von einzelnen Fernsehbeiträgen — ζ. B. im Rahmen einer Schnittbearbeitung — problemlos möglich ist. Wird hingegen die Live-Überspielung eines Beitrages gefordert, ist das System ATM wegen seiner prinzipiellen Strukturen und der damit auch verbundenen Zeitverzögerung — aber auch aus Kostengründen — nicht sonderlich gut geeignet. Die A R D hat sich Anfang 2000 entschieden, ein integriertes Datenübertragungssystem für Fernsehen, Hörfunk, Datendienste und die allgemeine Kommunikation (System „Hybnet") bei der Deutschen Telekom AG in Auftrag zu geben.

7.

8.

Kontribution

Künftig werden für die Kontribution, also den Programmaustausch zwischen Studios und Sendeanstalten sowie für die Zuführung von Programmen bei Sendern, Satelliten und Kabeleinspeisepunkten, nahezu ausschließlich digitale Übertragungssysteme in Frage kommen. Dabei ist zwischen zwei Systemen zu unterscheiden: — SDH (Synchronous Digital Hierarchy) — ATM (Asynchronous Transfer Mode) SDH-Systeme mit unterschiedlich breiten digitalen Datenströmen (ζ. B. 2 Mbit/s, 34 Mbit/s, 155 Mbit/s, 622 Mbit/s, etc.) werden immer dort eingesetzt, wo die Disposition über die einzelnen Datenströme, die in einem SDH-System übertragen werden, von den

Literatur

Müller-Römer, Frank, Rundfunkversorgung (Hörfunk und Fernsehen). In: IH H F 1996/97. — , DAB — Teil eines künftigen Multimedia-Systems für den mobilen Empfang. In: Fernseh- und Kinotechnik, 50. Jahrgang, Nr. 10/1996. — , Entwicklungslinien digitaler Rundfunksysteme (Hörfunk und Fernsehen) und neuer Rundfunkdienste. In: RTM 38, 1994. - , Die Umstellung des analogen terrestrischen Fernsehsystems auf ein digitales Übertragungssystem. In: infosat 4 und 5, 1997. - , Drathlose terrestrische Datenübertragung an mobile Empfänger, Berlin 1998. — , Zur Einführung von DVB-T. In: Fernseh- und Kinotechnik (FKT) 4/1999. S. 190 ff.

Frank Müller-Römer, Neubiberg ( Deutschland)

1348

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

120. Zusatzdienste in Rundfunk und Fernsehen 1. 2. 3. 4. 5.

Einleitung Randbedingungen für Zusatzdienste Bestehende Zusatzdienste Sind weitere Zusatzdienste für Analogsysteme möglich und sinnvoll? Literatur

1.

Einleitung

Der heutige UKW-Rundfunk wurde 1949 als Regeldienst eingeführt, in Hamburg einen Tag später beginnend als in München. Schnell breitete sich dieser neue Sound mit dem Namen „Welle der Freude" aus. Die Empfanger wurden (anfangs) teilweise noch in Eigenarbeit erstellt, dann aber schnell und vielfaltig von allen Herstellern in Deutschland angeboten. Die Frequenzen für die ständig wachsende Zahl von Rundfunksendern wurden 1952 in Stockholm in einem ersten Frequenzplan für Europa festgelegt. Zur Planung mußten die technischen Parameter zugrundegelegt werden, die sich natürlich nach den Gegebenheiten des technischen Gesamtsystems vom Sender bis zum Empfänger zu richten hatten. Es sei daran erinnert, daß in der damaligen Zeit Halbleiter nur als Gleichrichter benutzt wurden und daß Transistoren oder gar integrierte Schaltungen noch nicht erfunden waren. So kamen bei der Systemauslegung nur einfache, wirtschaftlich realisierbare Schaltungen mit möglichst wenig Bauelementen wie Röhren, Kondensatoren, Widerständen und Spulen in Frage. Natürlich konnte man damals auch schon steilere Filterkurven und Verstärker mit besserer Linearität entwickeln, dies erforderte aber relativ viele Komponenten und wäre damit für den Konsumbereich zu teuer gekommen. Ahnliches war im Fernsehbereich zu beobachten. Erste Ausstrahlungen fanden 1952 beim Nordwestdeutschen Rundfunk in Berlin und Langenberg statt. Der Fernsehstandard war 1951 von einer Expertengruppe im CCIR (Gerber-Expertenkommission) formuliet worden. Bei der Festlegung der Signalparameter mußte insbesondere Rücksicht auf die Möglichkeiten der Strahlablenkung im Empfanger genommen werden. Um diese nicht beliebig aufwendig werden zu lassen, wurden beträchtliche zeitliche Zwischenräume zwischen den Bildzeilen und insbesondere zwischen den Halbbildern, die sogenannten Austastlücken, vorgesehen. Alle diese Signale und

Signalkonfigurationen waren notwendig und zunächst hinreichend. Dennoch entstand im Laufe der Jahre der Bedarf für verschiedene Zusatzinformationsdienste im Hörfunk und Fernsehen. Was den Hörfunk betrifft, so wurde zunächst das Monosignal durch ein Stereosignal ergänzt, später das Autofahrer-Rundfunkinformationssystem (ARI) eingeführt und 1988 das Radio-Daten-System (RDS). Auch heute steht die Einführung weiterer Zusatzinformationssysteme immer wieder zur Diskussion. Beim Fernsehen werden seit langem die für das Bildsignal nicht benutzten Signalzeilen für verschiedene, erst nur interne, später auch öffentliche Dienste benutzt. Dies begann in den sechziger Jahren mit den Prüfzeilen für Meßzwecke; 1972 kam die Datenzeile hinzu, (die seit 1985 zusätzlich für das VPS-System benutzt wird). 1979 wurde der in Großbritannien entwickelte Videotextdienst auch bei A R D und Z D F eingeführt. Im Lauf der Jahre wurden immer mehr Austastlückenzeilen für diese diversen Zwecke verfügbar, weil inzwischen nur noch fortschrittlichere Empfängergenerationen in Betrieb sind, deren Funktionsfähigkeit hierdurch nicht beeinträchtigt wird. Heute beobachten wir eine rasante Weiterentwicklung der Online-Dienste, die auch zu einer Verbindung mit den Fernsehdiensten führen wird. Wenn dann letztendlich alle Dienste digital sein werden, ist es nicht mehr nötig, aber auch nicht mehr möglich, neue Dienste ohne oder fast ohne Beeinträchtigung der Hauptdienste einzuführen.

2.

Randbedingungen für Zusatzdienste

Für alle Weiterentwicklungen bestehender Systeme durch Ausnutzung „brachliegender" Signalteile — seien es Spektren oder Zeitintervalle — gelten einige Grundsätze, die den weiteren Erläuterungen vorangestellt werden sollen. Wie schon ausgeführt, ist die Systemauslegung so zu wählen, daß sich mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand Massenprodukte herstellen lassen. Auch für Zusatzdienste gilt der Grundsatz: — Aufwand am Sender ist gerechtfertigt, wenn dadurch die große Zahl der Empfänger preiswerter werden kann.

120. Zusatzdienste in Rundfunk und Fernsehen

Eine andere wichtige Forderung lautet: — Zusatzsignale dürfen das Hauptsignal (fast) nicht beeinträchtigen (Es sind also nur geringfügige Qualitätseinbußen beim Audio- bzw. Videosignal zulässig.) Da sich die zusätzlichen Dienste in bestehende Sendernetzplanungen einfügen müssen, gilt der weitere Grundsatz: — Die Frequenzplanungsparameter nicht verändert werden.

dürfen

Die entsprechenden Vorschriften werden jeweils weltweit vor Einführung neuer Systeme in den entsprechenden Gremien der ITU beraten und verabschiedet. Ganz generell kann gefordert werden, daß das Versorgungsgebiet für neue Dienste nicht kleiner, aber auch nicht beliebig viel größer sein darf als das Versorgungsgebiet des Hauptdienstes. Alle Signalergänzungen zur Einführung neuer Dienste, sowohl im Audio- als auch im Videosignal, wurden in der Vergangenheit unter konsequenter Beachtung dieser Grundsätze erfolgreich durchgeführt.

3.

Bestehende Zusatzdienste

3.1. FM-Rundfunk Schon bald nach Einführung der UKWÜbertragung fingen die Schallplattenproduzenten an, von der Monoaufzeichnung zur Stereotechnik überzugehen. Da der Gewinn so überzeugend war, wurde auch für das FMRadio nach einer Möglichkeit gesucht, hier stereophon zu übertragen. Dabei war natürlich Kompatibilität zu fordern, das heißt, Monoempfänger durften durch die zusätzlichen Signalanteile nicht gestört werden, sie sollten also weiterhin ein vollwertiges Monosignal empfangen und wiedergeben. Hierzu mußte das zweikanalige Audiosignal für die Stereoübertragung schon zur Zuführung zum Modulator in ein Monosignal und in ein Stereo- oder Seitensignal überführt werden. Für das Monosignal konnte das Basisband wie bisher kompatibel genutzt werden, während das Stereosignal verkoppelt in das entsprechende Multiplexsignal eingefügt wird. Das resultierende Signal mußte dabei frequenzplanungskompatibel bleiben. Es wurde ein Pilotton hinzugefügt und die verdoppelte Pilotfrequenz diente als Träger für ein 2-SeitenBand-Signal im Multiplex.

1349 Um den Planungsvorgaben zu entsprechen, durfte natürlich der Spitzenhub des Gesamtignals bei der FM-Modulation nicht überschritten werden. Bei den gewählten Basisbandbreiten blieb dann noch das Spektrum für weitere Signale zwischen 53 und 75 kHz frei. Man einigte sich darauf, daß im Interesse von qualitativ hochwertiger Versorgung der Anteil für diese zusätzlichen Signale 10 Prozent des Gesamthubes nicht überschreiten durfte. In den Vereinigten Staaten wurde dieser Schmalbandkanal für Sonderbeschallungsübertragungen benutzt und ist dort unter dem Namen SCA (Subsidiary Communication Authorisation) bekannt. In Europa zeigte sich jedoch mit dem allmählichen Erwachen der Digitaltechnik ein Bedarf für digitale Signale, sei es als zusätzliche Hilfssignale für Bedienung und Nutzung des Hauptsignals, oder auch für die Übertragung unabhängiger Datendienste. Hierfür ließen sich weitere Unterträger einfügen, entweder in analoger oder in digitaler Modulation. Eine Zwischenstufe stellt das ARI-System dar, das ein voll analoges Verfahren ist, jedoch nur „digitale" Zustände überträgt, nämlich die Verkehrsdurchsagekennung und einen Code für sechs Verkehrsfunkbereiche. Erst das Radio-Daten-System (RDS) stellte den Übergang zur digitalen Technik her, wobei dem ARI-Hilfsträger bei 57 kHz ( 3 x 1 9 kHz) ein 2-Seiten-Band-Signal mit einer Zweiphasenmodulation aufgeprägt und danach der Träger unterdrückt wird. Das resultierende Multiplexsignal zeigt Abb. 120.1. Das gesamte FM-modulierte Signal darf einen Hub von ± 75 kHz auf keinen Fall überschreiten. Mit dem in Europa und Amerika genormten Radio-Daten-System (RDS) können Zusatzinformationen in begrenztem Umfang übertragen werden (etwa 730 Informationsbit bzw. 91 8-Bit-Zeichen pro Sekunde). Die Übertragung erfolgt je nach Informationsart in verschiedenen Gruppen. Die Gruppen werden etwa 11 mal pro Sekunde ausgesendet. Jede Gruppe erhält eine Senderkennung, die Verkehrsfunkkennung und die Programmart. Andere wichtige Informationen in R D S sind der Programmname, Verkehrsdurchsagekennung, Listen von Frequenzen, auf denen dasselbe Programm in anderen Gebieten zu empfangen ist, Informationen über andere Programme und codierte Verkehrsinformationen.

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

0

10

20

Frequenz I kHz

Abb. 120.1: FM-Multiplexsignal

Damit kann dem Rundfunkhörer angezeigt werden, welches Programm gerade empfangen wird, und der mobile Empfanger kann dieses Programm überall innerhalb des Sendegebietes ohne Mithilfe des Hörers „verfolgen". Sogar ein Umschalten auf ein anderes Programm ist ohne merkliche Verzögerung möglich. So ist es ζ. B. nicht mehr erforderlich, Verkehrsfunksender einzustellen, u m die Durchsagen zu erhalten. Der Empfänger kann bei Verkehrsdurchsagen automatisch auf den Sender umschalten, in dem die Durchsage erfolgt. Nach deren Ende wird auf das zuvor gehörte Programm zurückgeschaltet. Die Übertragung codierter Verkehrsinformationen erfordert keine Unterbrechung der Programmaussendung mehr. Sie ermöglicht es dem Teilnehmer sogar, das Programm weiter zu verfolgen und die Durchsagen erst bei Bedarf in (fast) beliebiger Sprache abzufragen. R D S bietet als weitere Möglichkeiten eine Musik/Sprache-Kennung, Informationen über technische Parameter der Aussendung (Mono, Stereo, Kunstkopfstereo, komprimiert) und eine Programmbeitragskennung (ähnlich VPS) sowie Radiotext, Zeitsignale, transparente Daten, rundfunkinterne Informationen, Personenrufe und Notfallwarnungen. Daneben ermöglichen Verknüpfungsinformationen die Zusammenschaltung beliebiger Sender oder Sendernetze zu Programmketten. Die Einrichtung eines offenen

Datenkanals erlaubt - im Rahmen der verfügbaren Übertragungskapazität - eine nahezu unbegrenzte Erweiterung des Systems auf neue Informationsarten, und zwar ohne Änderung der Norm. Die Vielzahl der Möglichkeiten und die oben angedeutete Begrenzung der Übertragungskapazität zeigen deutlich, daß nicht alles in jeder Senderkette realisierbar ist. Erst eine geschickte Auswahl aus dem Paket macht R D S für den Teilnehmer zu einer nützlichen Ergänzung des FM-Hörfunks. Zwar ist mit dem Hinzufügen zusätzlicher Signalteile eine geringfügige Qualitätsverschlechterung des Hauptsignals verbunden, doch ist es in der Vergangenheit durch eine geschickte Wahl der Sender- und Empfängerfilter immer gelungen, die Störungen zu minimieren. Vorschläge weiterentwickelter Modulationsverfahren für Zusatzsignal-Anwendungen liegen bereits auf dem Tisch. Ob sie jedoch für den öffentlichen Bereich eingeführt werden können, ist z. Zt. noch offen. Die Einführung digitaler Modulationsund Übertragungsverfahren f ü r den H ö r f u n k ermöglicht eine dem jeweiligen Bedarf anpaßbare Kapazität für programmbegleitende, aber auch für programmfremde Zusatzinformationen. Nicht nur, daß alle Applikationen des Radio-Daten-Systems realisiert werden, es können darüber hinaus noch weitaus umfangreichere Datendienste wie ζ. B. eine Programmzeitung oder sogar elektronische Pro-

120. Zusatzdienste in Rundfunk und Fernsehen

1351

grammführer implementiert werden. Durch eine variable Aufteilung der Übertragungskapazitäten zwischen Programm- und Datenkanälen ist der Bereich der Möglichkeiten nahezu unabsehbar. 3.2. Fernsehen Wie schon ausgeführt, mußte die Fernsehnorm bei ihrer Einführung der damaligen Analogschaltungstechnologie, insbesondere bezüglich der Strahlablenkung im Fernsehempfanger, angepaßt werden. Dadurch entstanden zeitliche Lücken im Fernsehsignal, die sogenannten Austastlücken für die Horizontal· und die Vertikalablenkung. Das gesamte Austastsignal zeigt Abb. 120.2. Die zeitlichen Bereiche des Videosignals, die als Austastlücke „brachliegen" würden, können weitgehend für andere Signale genutzt werden, ohne daß die Funktion der Fernsehempfanger beeinträchtigt wird, insbesondere, wenn sie mit modernen integrierten Schaltkreisen arbeiten. Man hat vielfältige Verfahren entwickelt, in denen Austastlücken im Bereich des Synchronimpulses, aber insbesondere in der vertikalen Austastlücke, Signale zu übertragen. Zunächst einmal wurden einige Fernsehzeilen der vertikalen Austastlücke für Prüfzwecke benutzt. Später wurde die Datenzeile eingefügt — beides Signale für betriebsinterne Anwendungen. Für diese Datenzeile - genauer gesagt für das Datenzeilenpaar 16/329 - kam BiphaseModulation zum Einsatz, deren Taktrate exakt auf das genormte Video-Spektrum zugeschnitten wurde. Bei einer Bitrate von 2,5 Mbit/s ist so eine gut fehlergeschützte Übertragung von 2400 bit/s je Zeile möglich, wobei die Übertragungssicherheit deutlichen Vorrang vor der Übertragungskapazität hat.

Ursprünglicher Zweck dieser zunächst ausschließlich „betriebsinternen" Datenzeilen war die Identifikation der Signalherkunft sowie die Übertragung von Meßwerten, Meldeund Steuersignalen, wie ζ. B. der Mehrkanalton-Statusinformation, welche den Sendern angibt, ob die augenblickliche Tonmodulation in Mono, Stereo oder Zweiton erfolgt, und die Modulationsgeräte entsprechend steuert. Seit 1985 werden vier bis dahin freigebliebene Bytes der Datenzeile 16 für das VideoProgramm-System VPS [1] benutzt und zwar zur Übertragung der die Recorder zeitgerecht steuernden Istwert-Labels. Gleichzeitig mit dem Start eines Programmbeitrags wird in der Datenzeile 16 seines Videosignals das ihn kennzeichnende Istwert-Label ausgegeben und exakt bis zum Beitragsende beibehalten, was die beitragsgesteuerte Aufzeichnung im Video-Heimrecorder ermöglicht. (Auch wenn ein Beitrag aufgezeichnet werden soll, der verspätet beginnt oder überzieht oder sogar zeitgleich durch einen völlig anderen ersetzt wird, bringt ein VPS-gesteuerter Recorder nichts Unerwünschtes und - falls nicht wegen einer Programmänderung entfallen — exakt das Gewünschte aufs Band.) Viele Gründe, die größtenteils auch heute noch gelten, sprachen 1985 dagegen, anstelle der Datenzeile für die VPS-Labelübertragung den Videotextdienst zu benutzen (mittels einer Pseudo-Reihenadresse, d. h. einer graphisch nicht darstellbaren Tafel). Ein 1997 bei ETSI europaweit standardisiertes System „Programme Delivery Control" (PDC [2] macht inzwischen von dieser Möglichkeit Gebrauch, beinhaltet aber als Option auch das „Zeile 16 - VPS", wie es in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingeführt ist. Angesichts der schon 1985 vorliegenden Knappheit an Austastlücken-Zeilenpositio-

Bild

622

ηπππΓυυυυυΓ

623

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625

U —

3

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17

18

19

Bereich der Vertikalaustastung Synchronimpulse

Abb. 120.2: Vertikal-Austastlücke.

1352

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

nen für Videotext war es keine Vergeudung von Übertragungskapazität, für VPS die Datenzeile 16 mitzuverwenden, denn ihre anderweitige, betriebsinterne Teilnutzung war und ist unumgänglich und insbesondere mit der Deutschen Telekom (seinerzeit Bundespost) zwingend vereinbart. Seit Mitte der siebziger Jahre ist der in Großbritannien entwickelte Fernsehtext bekannt. Hierfür werden ebenfalls Zeilen der vertikalen Austastlücke benutzt und mit NRZ-modulierten (Non Return to Zero) Signalen beaufschlagt. Die Datenrate beträgt 40 Zeichen/Zeile, das entspricht bei 25 Halbbildern X 40 Zeichen einer gesamten Zeichenzahl von 1000 Zeichen/s. Stehen mehrere Fernsehzeilen zur Verfügung, so erhöht sich die Bruttokapazität entsprechend. Die „momentane" Datenrate innerhalb des kurzen Zeitblockes ist mit 6,9375 Mbit/s sehr hoch und im genormten Videoband spektral nicht voll übertragbar. 1994, 30 Jahre nach seiner ersten Normung, entstand unter einer gemischten Arbeitsgruppe aus Industrie ( E A C E M ) und den Rundfunkanstalten (IRT und EBU) eine erste technische Spezifikation für die Erweiterung des Fernsehtextes in Richtung höherer Qualitätsstufen. Mit Testausstrahlungen wurde bereits 1995 begonnen, inzwischen sind bereits ca. 1 Million Fernsehgeräte mit Teletext-Dekodern in Betrieb, die den verbesserten Level 2,5 darstellen können. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß neben erweiterten Sprachzeichensätzen auch 24 weitere Farben zu den bisher verwendeten 8 hinzugekommen sind. 16 davon sind aus einer Menge von 4096 Farben frei wählbar und stehen dem Redakteur zur freien Gestaltung zur Verfügung. Interessant ist auch die Darstellung von einfachen DRCS-Grafikzeichen, die allerdings auf 2 Farben beschränkt sind. Dies sind Zeichen, die aus einem Pixelmuster von 10 X 10 Punkten aufgebaut sind und erst zum Zeichengenerator des Empfangers übertragen werden müssen. Eine weitere grafische Möglichkeit ist die Verwendung verbesserter feiner Blockmosaik-Elemente, die im Zeichengenerator des Level-2,5-Dekoders bereits enthalten sind und so helfen, Übertragungszeit einzusparen. Als kompatible Übertragungsmöglichkeit werden freie Zeilen und Seiten im Fernsehtextformat benützt, die bisher noch keine Verwendung fanden. Durch Aussendung die-

ser Zeilen und Seiten in Lücken des bisherigen Fernsehtext-Zyklus gelingt es, die zusätzlich benötigte Übertragungskapazität deutlich unter 10 Prozent der Gesamtkapazität zu halten. Schließlich noch ein interessanter Gesichtspunkt: Auch das im Jahr 1967 eingeführte Farbfernsehen war eigentlich „nur" ein zur Gerber-Schwarzweiß-Norm passend ausgeklügelter „Zusatzdienst", der trotz seiner Komplexität die hierfür eingangs erwähnten Randbedingungen sehr gut erfüllte. Das Zusatzsignal für die Farbinformation ließ sich dabei in regelmäßige spektrale Lücken des Schwarzweiß-Videosignals, welche durch dessen zeilenweise Abtastung entstehen, geschickt „hineinkämmen", während der Farbburst für die Farbträgersynchronisation noch leicht in einem Teil der horizontalen Austastlücke Platz fand. Schon seinerzeit war der kompatible Schwarzweißempfang nur mit sehr geringer Störung verbunden, während bei heutiger Schaltungstechnik sich Helligkeits- und Farbsignale nahezu beeinflussungsfrei voneinander trennen lassen. Seit der Einführung von F M - R u n d f u n k und Fernsehen wurde immer wieder versucht und erfolgreich praktiziert, zusätzliche Signalanteile zu übertragen, insbesondere durch Nutzung zuvor „brachliegender" Bereiche. Abschließend soll betrachtet werden, ob gegebenenfalls noch weitere Ressourcen für Zusatzsignale zur Verfügung stehen.

4.

Sind weitere Zusatzdienste für Analogsysteme möglich und sinnvoll?

Mit zunehmender Weiterentwicklung effizienter Modulations- und Codierverfahren könnte man noch weitere, bei den bekannten Übertragungsverfahren nicht oder nur k a u m benutzte Zeit- bzw. Spektralanteile eines Tonoder Bildsignals wirtschaftlich nutzen. Die Kompatibilitätsforderung schränkt zwar die Möglichkeiten wieder ein wenig ein, jedoch sprechen eigentlich andere Gründe dagegen, weitere Systeme auf breiter Basis einzuführen. Entsprechend einer Studie des europäischen Frequenzbüros E R O sollen sowohl F M - T o n r u n d f u n k als auch analoger Fernsehrundfunk spätestens im Jahr 2020 abgeschaltet und durch frequenzeffizientere Digitalverfahren ersetzt werden. Für den Fernsehrund-

1353

121. Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen

funk könnte dies in manchen Ländern schon viel früher geschehen, da dort bisher analog genutzte Kanäle für die Einführung des digitalen Fernsehens relativ bald freigeräumt werden müssen. Bedenkt man ferner, daß von der Entwicklung über die Standardisierung bis hin zur Einführung selbst bei Subsystemen 3 - 5 Jahre vergehen, und daß 5 Jahre nach Einführung die normale positive Marktdurchdringung erst 10 Prozent beträgt und daß 30 Prozent erst nach 10 Jahren erreicht werden, so verbietet sich eigentlich die Suche nach neuen, analogen Zusatzsystemen für die Allgemeinheit. Sinnvoll konzipieren ließen sich allenfalls Dienste für geschlossene Gruppen mit ganz speziellen Produktinteressen, Systeme also, die nur mit wenigen Sendern und einer begrenzten Anzahl von Empfängern auskommen. Für alle weitergehenden Anwendungen sollten die neuen digitalen Verfahren DAB und DVB benutzt werden, bei denen von vornherein begleitende oder eigenständige Datendienste vorgesehen sind.

5.

Literatur

Norm ETS 300 799, 9.97, Digital Audio Broadcasting (DAB); Distribution interfaces; Ensemble Transport Interface (ETI). Norm EN 301 234, 1.98, Digital Audio Broadcasting (DAB); Multimedia Object Transfer (MOT) protocol. Norm ETS 300 468, 1.97, Digital Video Broadcasting (DVB); Specification for Service Information (SI) in DVB systems. Norm ETS 300 472, 1.96, Digital Video Broadcasting (DVB); Specification for conveying ITU-R System Β Teletext in DVB bitstreams. Norm ETS 300 473, 12.94, Digital Video Broadcasting (DVB); DVB Satellite Master Antenna Television (SMATV) distribution systems. Norm ETS 300 743, 9.97, Digital Video Broadcasting (DVB); Subtitling systems. Norm ETS 300 744, 397, Digital Video Broadcasting (DVB); Framing structure, channel coding and modulation for digital terrestrial television. Norm ETS 300 748, 10.96, Digital Video Broadcasting (DVB); Framing structure, channel coding and modulation for MVDS at 10 GHz and above. Norm ETS 300 749, 4.97, Digital Video Broadcasting (DVB); Framing structure, channel coding and modulation for M M D S systems below 10 GHz.

IRT Video-Programm-System (VPS), Richtlinie 8R2. Hrsg. v. Institut für Rundfunktechnik GmbH, Juni 1998, Nr. 3. München 1998.

Norm ETS 300 800, 1.98, Digital Video Broadcasting (DVB); Interaction channel for Cable TV distribution systems (CATV).

Norm ETSI E N 300 231, Television Systems; Specification of the domestic video Programme Delivery Control (PDC) system.

Norm ETS 300 801, 8.97; Digital Video Broadcasting (DVB); Interaction channel through Public Switched Telecommunications Network (PSTN)/ Integrated Services Digital Networks.

Norm D I N E N 50 067, Spezifikation des RadioDaten-Systems (RDS) für U K W Rundfunk im Frequenzbereich 87,5 bis 108,0 MHz. Norm ETS 300 401, 5.97, Radio broadcasting systems; Digital Audio Broadcasting (DAB) to mobile, portable and fixed receivers.

Norms ETS 300 802, 11.97, Digital Video Broadcasting (DVB); Network-independent protocols for DVB interactive services.

Henning Wilkens, München

(Deutschland)

121. Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen 1. 2. 3. 4. 5.

Fernsehempfang Fernseh- und Tonrundfunk im Kabel Rundrundfunk-Empfang Empfangsantennen Literatur

1.

Fernsehempfang

Bei derzeit ca. 50 Millionen TV-Geräten in Deutschland wird es den Fernsehempfang mit konventionellen PAL-Empfängern noch einige Jahre geben. Die Zahl der digitalen

Empfangsgeräte wird mit Beginn des neuen Jahrhunderts stark ansteigen, wenn die digitalen Programme flächendeckend über alle drei Ubertragungsmedien terrestrisch, Kabel und Satellit zur Verfügung stehen. Störungsfreier Fernsehempfang wird dann nicht mehr nur stationär mit guten Empfangseinrichtungen, sondern durch die wirkungsvolle COFDM-Modulations-Techniken auch in portablen Geräten mit einfachen Einbauantennen und sogar im Auto, Bus oder Bahn möglich sein.

1354

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung 1.2. Die Fernsehsysteme

1.1. Die Frequenzbereiche für den Rundfunk- und Fernsehempfang Die Frequenzbereiche f ü r den analogen und digitalen Fernsehrundfunk reichen von 30 M H z bis hin zum noch nicht erschlossenen Frequenzbereich u m 40 GHz, der für hochauflösende HDTV-Fernseh-Programme über Satelliten vorgesehen ist. Bei der Programmverteilung in Kabelanlagen wird nahezu der gesamte Frequenzbereich von ca. 30 M H z bis 2000 M H z f ü r das Fernsehen und den Tonrundfunk genutzt werden. Die folgende Tabelle zeigt die Frequenzbereiche, die in Deutschland dem Fernsehempfang zugewiesen sind. Die meisten Frequenzbereiche werden sowohl analog, als auch digital genutzt. Das Modulations-Verfahren für das analoge terrestrische PAL-Fernsehen und auf Kabel ist die Restseitenband-Modulation (RSB). Über Satellit wird für PAL-Programme die Frequenzmodulation (FM) verwendet. Bei digitaler Übertragung über Satelliten wurde die gegen Rauschen unempfindliche Quadratur-Modulation (QPSK) in Europa als Standard definiert. Die digitale terrestrische Fernsehausstrahlung wird mit der robusten Vielträgermodulation COFDM durchgeführt. Im Kabel wird in großen Kabelnetzen die frequenzbandeffektive Quadratur-Modulation 64-QAM eingesetzt. Das Band I im VHF-Frequenzbereich zwischen 47 und 68 M H z wird etwa ab dem Jahr 2005 in Europa für den Fernseh-Rundfunk nicht mehr genutzt. Tab. 121.1: Fernsehfreqeunzbereiche. Frequenz

TV-Programm

Mod.

47-68 MHz

PAL analog

RSB

174-230 MHz

PAL analog DVB-T digital

RSB Terr. COFDM

470-862 MHz

PAL analog DVB-T digital

RSB Terr. COFDM

10-12 GHz

PAL analog DVB-C digital

FM QPSK

Sat.

20/40 GHz

HDTV digital

HDTV

Sat.

115-862 MHz

PAL analog DVB-C digital

RSB 64 QAM

Kabel

960-2000 MHz

SAT/PAL analog FM DVB-S digital QPSK

Terr.

Kabel

Analoge Fernsehsysteme: Bei der Bild- und Farbsignal-Codierung gibt es drei Standards; das in Deutschland entwickelte PAL-System, das französische SECAM-System und das amerikanische NTSCSystem. Das PAL-System liefert bei Fehlern auf der Übertragungsstrecke vom Sender zum Empfanger nahezu unverfälschte Farbsignale, da durch den Wechsel der Phase des Farbträgers pro Halbbild, bei der Kombination der Farbe zum Vollbild die farbverfälschenden Phasenfehler kompensiert werden. Die drei Systeme PAL, S E C A M und N T S C werden weltweit in unterschiedlichen Kanalbandbreiten bei 6, 7 oder 8 M H z betrieben.

Tab. 121.2: Analoge Farbfernsehstandards. System

Kanal

FarbträgerModulation

PAL

7/8 MHz

Amplitude ± Phase

SECAM

8 MHz

Frequenz

NTSC

6 MHz

Amplitude Phase

Auch beim Fernsehton gibt es mit den Modulations-Verfahren F M , A M , und dem digitalem N I C A M drei unterschiedliche Übertragungsstandards. Aus den verschiedenen Bildund Tonsystemen und den unterschiedlichen Kanalrastern kombinieren sich weltweit mehr als zwanzig verschiedene Fernseh-Übertragungs-Standards, allein zehn in Europa. Bei der analogen Satellitenübertragung im 11 und 12 GHz-Band wird in den etwa 30 M H z breiten Kanälen das Bildsignal in Frequenzmodulation übertragen. Die Tonsignale sind entweder digital oder als F M als Unterträger moduliert. Mit weiteren Unterträgern oberhalb des Bildspektrums können zusätzlich noch eine Reihe von Rundfunkprogrammen, ζ. B. nach dem System Astra Digital Radio A D R übertragen werden. Die folgende Tabelle zeigt die wichtigsten Parameter des in Deutschland und vielen Ländern Europas standardisierten PALFarbfernsehsystems (ITU-Fernsehsystem Β und G).

1355

121. Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen Tab. 121.3: Die Parameter des Fernseh-Übertragungsstandards in Deutschland. Parameter

System

RF-Kanalbreite

7 MHz (VHF) 8 MHz (UHF)

Farb-/Videocodierung

PAL-System

Videobandbreite

5 MHz

Bildmodulation

Restseitenband

Mod.-Polarität

Negativ

Restträger/Bild

12 Prozent

Tonträgerfrequenz (2 Tonträger)

+ 5,5 MHz + 5,75 MHz

Tonmodulation

FM

FM-Tonhub

± 50 KHz

Preemphase

50 μβ

Schaltträger Mono-Stereo-2 Progr.

55 KHz

Digitale Fernsehsysteme: In Europa hat man sich im Basisband für die Video- und Ton-Signale auf den Weltstandard MPEG-2 festgelegt. Der einheitliche europäische Standard DVB (Digital Video Broadcasting) entstand in enger Zusammenarbeit zwischen allen relevanten Gruppierungen der Industrie, der Programmanbieter, der Betreiber von Sender- und Kabel-Netzen, Forschungs-Instituten und Telekom-Unternehmen. Ein einheitlicher DVB-Standard hat den Vorteil, daß die Zahl der digitalen Übertragungs-Standards in Europa auf drei reduziert werden konnten. Es gibt den DVB-T-Standard für digitale terrestrische Programme, den DVB-C-Standard für Kabel und den DVB-S-Standard für die digitale SatellitenÜbertragung. Vorerst sind für den digitalen Empfang noch drei verschiedene Empfangerteile erforderlich. Einheitlich für alle drei DVB-Empfänger ist die MPEG-2-Video- und Toncodierung. Das bedeutet, daß nach dem Demodulator alle Teile in den verschiedenen digitalen Empfängern nahezu identisch sind. Durch sehr wirkungsvolle Datenreduktionstechniken konnte die Datenrate für das unkomprimierte Bild von ca. 166 Mbit/s für ein gutes PAL-Bild, auf etwa 8 Mbit/s, d. h. um

den Faktor 20 reduziert werden. Ähnliche Datenreduktionen konnten auch für den Ton durch das in Deutschland entwickelte MUSICAM-Verfahren erreicht werden. Die erforderlichen ca. 1,4 Mbit/s für einen unkomprimierten Stereokanal in CD-Qualität werden mit M U S I C A M auf etwa 200 Kbit/s reduziert. Im MPEG-2-Standard sind die Kompressions- und Codier-Algorithmen festgelegt. Die weltweite Verwendung von MPEG2 führt zu hohen Stückzahlen bei der Produktion und damit zu einer erheblichen Reduktion der Kosten bei der Fertigung von Decodern für den Heimempfänger. Die Parameter der drei Übertragungs-Standards DVB-T, DVB-C und DVB-S wurden an das jeweilige Übertragungsmedium optimal angepaßt. Bei der terrestrischen Übertragung wird auf 2000 oder 8000 C O F D M Einzelträgern der etwa 20 Mbit/s große Datenstrom codiert. Die COFDM-Modulation ist sehr unempfindlich gegen Reflexions- und Rauschstörungen. Durch Variation des Fehlerschutzes kann die DVB-Übertragung selbst dann sichergestellt werden, wenn die in den Kanal fallenden Störsignale in gleicher Größe wie das Nutzsignal sind. Höherer Fehlerschutz bedeuten allerdings auch niedrigere Datenkapazität. Statt vier digitaler Programme in einem Kanal könnten dann nur noch zwei übertragen werden. Eine ähnliche Optimierung kann auch für DVB-S über Satelliten erreicht werden. Die extrem niedrigen Empfangspegel vom Satelliten können durch die gegen Rauschen unempfindliche QPSKModulation störungsfrei demoduliert werden. Das Kabelsystem DVB-C ist wegen der sehr niedrigen Störsignale im Kabel auf möglichst hohe Bitraten getrimmt, etwa 40 Mbit/ s sind im 8-MHz-Kabelkanal möglich.

Tab. 121.4: Digitale Fernsehsysteme in Europa. Übertragungsmedium

Typ

Mod.

Kapazität

Terrestrisch

DVB-T

COFDM

20 Mbit/s

Satellit

DVB-S

QPSK

30 Mbit/s

Kabel

DVB-C

64QAM

40 Mbit/s

Die Zahl der Programme, die in einem digitalen Fernsehkanal übertragen werden hängt von den Qualitäts-Anforderungen, vom Pro-

1356

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

grammtyp, von der Nettobitrate des Kanals und diese von der Robustheit und vom eingestellten Fehlerschutz des DVB-Signals ab. Gute Live-Programme oder Sport benötigen 6 — 8 Mbit/s. Die meisten Filme kommen mit 3 — 5 Mbit/s aus. HDTV-Programme erfordern mindestens 20 Mbit/s. In einem terrestrischen Kanal mit 7 oder 8 M H z Bandbreite können anstelle eines analogen Programms 3—4 digitale Programme mit annähernd PAL-Qualität übertragen werden. Im 8 MHz Kabelkanal oder über einen Satellitenkanal sind 5 — 7 digitale Programme möglich. 1.3. Aufbaueines Fernsehempfängers Das Blockschaltbild zeigt den prinzipiellen Aufbau eines Fernsehempfängers. Die im Bild gezeigten Funktionsblöcke sind für den digitalen und analogen Fernseh-Empfanger sehr ähnlich. Tuner

ZF-Filter

Bild-/Ton

RF-Filter

Demodulator

Verarbeitung

Abb. 121.1: Funktionsblöcke des TV-Empfängers.

Im Tuner, der Eingangsstufe des Empfängers, wird der im Tuner integrierte Oszillator so abgestimmt, daß alle Empfangskanäle auf dieselbe Zwischenfrequenz (ZF) bei 36 MHz umgesetzt werden. Dadurch sind die Funktionsblöcke hinter dem Tuner unabhängig von der Frequenz des empfangenen Signals. Das RF-Filter am Tunereingang wird ebenfalls auf den Empfangskanal abgestimmt und verhindert, daß weiter ab liegende unerwünschte Fersehsignale oder Signale von anderen Funkdiensten in den ZF-Teil des Empfangers gelangen und zu Störungen führen. So liegen beim Kabelempfang bis zu 40 Fernsehkanäle gleichzeitig am Eingang des Empfangers. Im ZF-Filter des Empfangers wird das Empfangssignal so geformt (Nyquistund roll-off-Filterung), daß eine fehlerfreie Demodulation erfolgen kann. Außerdem werden die besonders kritischen unerwünschten Signalanteile aus dem unmittelbar benachbarten oberen und unteren Empfangskanälen noch einmal zusätzlich gedämpft. Die Bandbreite des ZF-Filters beträgt bei analogen und digitalen terrestrischen Kabel-Empfangern 7 oder 8 MHz, beim digitalen und analogen Satelliten-Empfang ist die Bandbreite ca. 30 MHz.

Abhänig vom Modulationstyp des empfangenen Signals enthält die ZF-Stufe einen Demodulator für — Restseitenband-AM, bei PAL-Empfang — FM, bei PAL-Empfang über Satelliten — C O F D M , bei digitalem terrestrischem Empfang — QPSK, bei digitalem Satelliten-Empfang — 64 QAM, bei digitalem Kabelempfang. Die Bild- und Ton-Verarbeitungsstufe für den analogen Empfänger besteht aus einem PALDecoder und zwei FM-Ton-Demodulatoren und dem Stereorecorder für stereophone und mehrsprachige Tonprogramme. Die Tonmodulation erfolgt nach dem sogenannten Intercarrierton-Prinzip, bei dem Bild- und Tonsignale in den ersten ZF-Stufen gemeinsam verstärkt werden. Das führt neben der Kosteneinsparung zu einer von der Empfänger-Abstimmung unabhängigen guten Tonqualität. Bei der Dekodierung des PAL-Bildes werden durch verbesserte Techniken, wie Kammfilterdekodierung u. ä. die typischen PAL-Störungen, Cross-Color oder Cross-Luminanz, d. h. Übersprechen von der Farbe in die Helligkeit und umgekehrt deutlich reduziert. Beim digitalen Empfanger wird das Bildsignal und der Ton im MPEG-Decoder aus dem digitalen Multiplexsignal erzeugt. Die Zusammenschaltung der verschiedenen Geräte, wie TV-Empfänger, Set-Top-Box, Videorecorder, CD-Spieler u. ä. erfolgt über den für Europa einheitlich genormen Scartanschluß. Beim Empfangskonzept der Zukunft wird das empfangene RF-Signal bereits am Empfängereingang einer analog-digital Wandlung zugeführt. Die weitere Signalverarbeitung, wie Filterung, Demodulation, Bild- und Tondecodierung erfolgt in einem leistungsstarken Prozessor per Software.

Digitales RF-Filter

AD-Wandler SoftwareDemodulator

Bild-/Ton Verarbeitung

Micro-Prozessor

Abb. 121.2: Funktionsblöcke des zukünftigen TVEmpfängers.

Ein solcher digitaler MultiStandard-Empfänger erkennt den Modulationstyp des empfangenen analogen oder digitalen Signals und holt sich aus dem Speicher das passende Demodulations- und Decodier-Programm. Bei

121. Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen

Normänderungen oder bei der Einführung neuer Systeme kann die erforderliche Programmänderungen per Software-Download in den Empfanger eingelesen werden. 1.4. Digitale Multimedia-Empfanger Der TV-Empfänger im digitalen Zeitalter wird zum interaktiven Multimedia-Terminal mit dem neben Fernsehen viele andere Dienste, wie Bildtelefon, Internet, Email, Homebanking, interaktive Spiele und ähnliches abgewickelt werden können. Der Empfang und die Auswahl von weit über hundert angebotenen Fernsehprogrammen ist nur dann möglich, wenn mit Hilfe der programmbegleitenden Datendienste der Bedienungskomfort verbessert und die Programmauswahl beim Teilnehmer vereinfacht wird. Aus den mitgesendeten Serviceinformationen (SI) werden dem Zuschauer voreingestellte ProgrammBouquets, wie Sport, Film u. ä. in Form einer elektronischen Programmzeitung (EPG) angeboten. Der Teilnehmer kann sich auch selbst sein eigenes Bouquets zusammenstellen, so daß nach dem Einschalten des Geräts als erste Information eine auf den Kunden zugeschnittene Angebotsseite erscheint. Neben den Free-TV-Programmen wird es eine Vielzahl von Pay-TV-Programmen geben, für die der Teilnehmer gesondert bezahlen muß. Die Digitalisierung bringt für den Anbieter und Kunden von Pay-TV-Programmen erhebliche technische Verbesserungen und zusätzliche Sicherheiten gegen unbefugte Nutzung der Dienste. Die Bezahlung erfolgt über eine Chipkarte, auf der dem Teilnehmer ein bestimmter Kredit gutgeschrieben wurde oder über den interaktiven Telefon- oder Kabel-Rückkanal. Die erste Generation der Multimedia-Empfänger sind als Beistellgerät (Set-Top-Box) konzipiert. Mit der Stabilisierung des digitalen Standards für Verschlüsselung (Conditional Access, CA) und für die automatische Programmierung (Application Programming Interphase, API) wird es bald Konzepte geben, bei denen alle erforderlichen Funktionsblöcke, wie bisher im normalen Fernsehempfanger integriert sind. Die Standardisierung der Schnittstellen und der Hardwarekomponenten führt weiter dazu, daß systemneutrale Empfänger und Set-Top-Boxen angeboten werden, die unabhängig vom verwendeten Verschlüsselungs- oder API-System sind. CA-Module verschiedener Anbieter können in Mehrfachsteckplätzen untergebracht oder bei nur einem Steckplatz ausgewechselt werden. Über Modem oder API kann die Betriebssoftware des Decoders gela-

1357 den oder auf neuesten Stand gebracht werden. Es können spezielle Anwender-Programme geladen werden, ζ. B. Videtextdecoder, interaktive Spiele oder Programme für andere Anwendungen, die entweder ständig im Speicher des Empfängers bleiben oder nur befristet genutzt und dann wieder gelöscht werden. Bei der ersten Inbetriebnahme des dititalen Empfängers wird die erforderliche Installations-Software, wenn sie sich noch nicht im Speicher befindet, per Modem oder direkt vom Sender über den Programmverteilweg geladen. Anschließend werden in einem Scanvorgang alle empfangbaren Programme und Kanäle identifiziert und in die Frequenzlisten und in die elektronische Programmzeitung eingetragen.

Abb. 121.3: Offene Architektur der Decoder-Box.

Die Standardisierung der europaweit einheitlichen CA-Schnittstelle (Common Interface CI) und die erwähnte offene Architektur der digitalen Empfänger gewährleistet, daß unterschiedliche Dienste und Verschlüsselungssysteme von allen Empfängern decodiert werden können. 1.5. Verbesserte Fernsehsysteme von 16:9 PALplus bis H D T V Mit wachsender Displaygröße des Fernsehempfangers mit Bildschirmdiagonalen, die bei über einem Meter liegen werden, sind Verbesserungen im Bereich der Schärfe, des Formats und der Flimmerfreiheit unumgänglich. Neben großformatigen ProjektionsEmpfängern gibt es erste Flachbildschirme hoher Auflösung in Plasmatechnik. Bereits bei der analogen Bildübertragung wurde mit PALplus ein System eingeführt, das dem Teilnehmer neben dem neuen 16:9-Format, höhere Schärfe und verbesserte Farbwiedergabe bietet. Bei PALplus wird die Zusatzinforma-

1358

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

tion zur Erzeugung des 16:9-Formats und zur Verbesserung des Bildes im unsichtbaren Bereich der Letterbox-Zeilen am oberen und unteren Bildrand übertragen. Andere analoge Systemvarianten für verbesserte Bildwiedergabe sind, D2-MAC, M U S E , H D M A C , SECAMplus, Enhanced N T S C usw. Digitale Fernsehsysteme bieten flexible Möglichkeiten durch geeignete Wahl des Codiermodus in einem Kanal entweder viele Programme mit reduzierter Qualität oder nur ein oder zwei Programme mit verbesserter Empfangsqualität bis hin zu H D T V zu übertragen. In den USA ist mit dem ATSC-Verfahren ein weiterer terrestrischer digitaler Übertragungsstandard auf der Basis von M P E G - 2 eingeführt worden. Bei der Übertragung wird ein digitales Restseitenband-Verfahren verwendet. Während in Europa vorrangiges Ziel bei der Einführung des Digitalfernsehens die Erhöhung der Programmzahlen war, ζ. T. unter Inkaufnahme reduzierter Bildqualität, wird es mit ATSC in den USA die ersten digitalterrestrischen HDTV-Übertragungen geben. Die elektronische Programmzeitung und andere Datendienste erfordern vermehrt die Darstellung von gut lesbaren Textseiten auf dem Bildschirm. Für viele Anforderungen reicht hier die 625-Zeilenauflösung nicht mehr aus, die fast doppelt so hohe Auflösung von H D T V ist ein Schritt zur Lösung des Problems. Durch die wirkungsvollen Kompressionstechniken beim Ton können mit relativ niedrigen Bitraten bis zu fünf Tonkanäle zum Teilnehmer übertragen werden und dort zu einer naturgetreuen Raumklangwiedergabe (Surround Sound) kombiniert werden. Die Verbesserungen beim programmbegleitenden Text reichen von neuen graphischen Elementen über bessere Bildschärfe bis zu Bewegungsanimationen und deutlich verkürzten Wartezeiten für neu angewählte Textseiten. Die 3D-Darstellung von Fernsehbildern mit polarisierten Brillen ist bereits praktisch erprobt. Es gibt auch erste Vorschläge für einen Übertragungsstandard. Verbesserte SDDarstellung sind mit holographischen Systemen erreichbar. Die Entwicklung solcher Systeme ist noch nicht abgeschlossen.

2.

Fernseh- und Tonrundfunk im Kabel

Die Mehrzahl der Teilnehmer empfangt die R u n d f u n k p r o g r a m m e über Kabel, die Zahl der Kabelteilnehmer wächst ständig; in eini-

gen europäischen Ländern liegt sie schon heute im Bereich um 90 Prozent. In modernen Kabelanlagen wird der gesamte Frequenzbereich bis ca. 900 M H z für die Kabelverteilung genutzt, darunter sind auch Frequenzbereiche, die im drahtlosen Funkbereich nicht dem Rundfunk zugewiesen sind. Mit entsprechenden Maßnahmen, wie Schirmung der Kabel, Begrenzung der Pegelwerte, verbesserte Ein- und Abstrahl-Störfestigkeit der Empfänger u. ä. kann sichergestellt werden, daß es zu keinen Störungen der TV-Programme im Kabel kommt, und umgekehrt, daß drahtlose Funkdienste durch die Kabelprogramme nicht gestört werden. Vorrangig erfolgt die Einspeisung der Programme in der Kopfstelle der Kabelanlage über Satelliten, dazu kommen die terrestrischen Programme, sowie die direkte Einspeisung lokaler und regionaler Programme. Die analogen Fernseh-Programme werden transparent, d. h. mit gleicher Modulation und Bandbreite wie das drahtlos empfangene Signal zum Teilnehmer geführt. Bei digitalen Signalen erfolgt in der Regel eine Umcodierung und Remodulation des Programmpakets. Zusätzlich dazu m u ß eine sehr aufwendige Anpassung der verschiedenen SI-Tabellen (service information table) durchgeführt, besonders wenn die empfangenen Programmund Multiplexpakete in der Kopfstelle f ü r die Kabelverteilung geändert werden müssen. In kleineren Kabelanlagen kann mit der transparenten Übertragung von digitalen Programmen, durch einfache Frequenzumsetzung die teuere Remodulation vermieden werden. Außerdem können die gleichen Empfänger wie beim drahtlosen Empfang verwendet werden. Die analogen FM-Satelliten-Signale werden in großen Anlagen in 7- oder 8-MHzPAL-Signale oder in DVB-C-Signale umgewandelt. In kleinen Anlagen und beim Individual-Empfang werden die 30 M H z breiten Satellitensignale ohne Änderung zum Teilnehmer geführt. Die Z u f ü h r u n g erfolgt im SAT-TF-Bereich zwischen 900 und 2100 M H z . Der technische Aufwand pro Teilnehmer-Anschluß ist bei der Sat-ZF-Verteilung beträchtlich. Sollen alle interessanen Programme bis zum Empfanger geführt werden, dann sind wegen der unterschiedlichen Position der Satelliten und wegen der unterschiedlichen Polarität der Signale bis zu vier parallele Koaxialkabel erforderlich. Digitale DVB-Programe werden in großen Anlagen an der Kopfstelle in die 64 Q A M Kabelnorm DVB-C umgewandelt.

1359

121. Empfangstechniken für H ö r f u n k und Fernsehen Tab. 121.5: Kabelfrequenzbereiche. Frequenz

Programm Kanalbreite

Modulation

30-75 MHz

Rückkanäle

Digital

87,5-108 MHz

UKWRundfunk

FM

110-300 MHz (VHF)

Fernsehen (7 MHz)

PAL analog

300-450 MHz (Hyperband)

Fernsehen (8 MHz)

PAL analog DVB-C

470-862 MHz (UHF)

Fernsehen (8 MHz)

PAL analog DVB-C

960-2050 MHz (SAT-ZF)

Fernsehen (30 M Hz)

SAT analog DVB-S

Bis 300 MHz können etwa 30 analoge TVKanäle mit 7 MHz-Bandbreite übertragen werden. Im Hyperband von 300 bis 450 M H z sind etwa 18 digitale DVB-C-Kanäle mit 8 MHz-Bandbreite möglich. Bei modernen Anlagen kommen weitere 4 0 - 5 0 analoge oder digitale TV-Kanäle im UHF-Bereich dazu. Der Pegel an der Kabel-Anschlußdose des Empfangers beträgt für PAL-Signale ca. 70 dBμV, für DVB-C und FM-Tonsignale ca. 60 dB|iV. Zusätzlich zu den in der Tabelle aufgeführten Kabelsignalen wird es auch die transparente Weiterleitung von terrestrisch empfangenen DVB-T oder DAB-Signalen in COFDM-Modulation geben.

Moderne Hausverteilanlagen werden daher in Sternstruktur aufgebaut. Die Signale werden von einem zentralen Knotenpunkt sternförmig an die Teilnehmer verteilt. Damit kann aus der Vielzahl der empfangbaren Programme dem Teilnehmer eine individuelle Teilmenge zugeführt werden. Es wird in Zukunft nicht mehr möglich sein, allen Teilnehmern alle Programme über einen Kabelanschluß zu liefern. Die Sternverteilung führt weiter zur Verbesserung der Empfangsqualität und zu höherer Sicherheit bei der interaktiven Rückkanalnutzung. Die optische Verteilung von Rundfunk-Programmen wird derzeit vorrangig für die Programmzuführung zu den Verteilzentren genutzt. Von dort werden die Signale zum Teilnehmer wieder über Koaxialkabel verteilt. In zunehmendem Maße wird es jedoch auch die optische Verteilung direkt bis zum Teilnehmeranschluß (fibre-to-home) geben. Neben der Verteilung von Rundfunkprogrammen werden über die gleiche optische Faser auch alle anderen Dienste, wie Telefon, Internet, Sicherheitsdienste einschließlich Rückkanal abgewickelt. Es existieren Planungen, in einem DVB-CKanal die gesamten 40 Mbit/s ausschließlich für Tonrundfunkdienste zu verwenden. Ein solcher Kanal könnte dann bis zu 200 Stereoprogramme einschließlich der den Tonkanälen zugeordneten Datenkanäle übertragen. 3.

Tonrundfunk-Empfang

Neben den konventionellen analogen Rundfunkdiensten Lang-, Mittel-, Kurzwelle und dem UKW-Radio werden zunehmen digitale Rundfunksignale nach der DAB-Norm ausgestrahlt. Auch in den A M-Tonrundfunkbereichen ist mittelfristig mit einer Ablösung durch verbesserte und robuste digitale Modulations-Verfahren zu rechnen. Tab. 121.6: Frequenzbereiche im Tonrundfunk.

Abb. 121.4: Baumstruktur und Sternstruktur von H aus verteilanlagen.

Die Mehrzahl der vorhandenen Kabelanlagen ist noch in Baumstruktur aufgebaut, d. h. von einem Kabelstamm im Haus werden die einzelnen Wohnungen über Abzweigungen oder per Durchschleif-Filter mit Programmsignalen versorgt. Die Anlagen in Baumstruktur sind störanfällig, da bei unsachgemäßer Installation eines Teilnehmers die gesamte Anlage gestört werden kann.

Frequenz

Ton-Programm

Mod.

1 5 0 - 3 5 0 kHz

Langwelle

AM

510-1605 MHz

Mittelwelle

AM

6 - 2 7 MHz

Kurzwelle

AM

87,5-108 MHz

UKW-Rundfunk

FM

174-230 MHz

DAB Rundfunk

COFDM

1452-1492 M H z

DAB Rundfunk

COFDM

Neben der terrestrischen Ausstrahlung wird es auch Tonrundfunk über Satelliten geben.

1360

XXVII. Technische Grundlagen der Medien IV: Die Übertragung

3.1. Tonrundfunk im Kurz-, Mittel- und Langwellenbereich Der klassische AM-Rundfunkempfänger ist als Überlagerungsempfänger gebaut, die verwendete Zwischenfrequenz ist 470 kHz. Die Audiobandbreite liegt zwischen 2 und 4 kHz. Wegen der hohen Pegelschwankung und Störpegel im AM-Bereich werden die Empfanger für gutes Großsignalverhalten und hohe Selektion entwickelt. Erste Versuche im Kurzwellenbereich zeigen, daß anstelle oder auch gleichzeitig mit dem AM-Tonsignal ein digitales Hörfunkprogramm und begrenzte digitale Datendienste bei verbesserten Empfangseigenschaften ausgestrahlt werden können. Die Wellen-Ausbreitung besonders im Mittelwellenbereich aber auch bei Kurzwelle ist stark von der Tageszeit abhängig. Bei Dunkelheit werden durch die Raumwellenausbreitung große Versorgungsentfernungen erreicht, die Bodenwellenausbreitung sorgt am Tag für gute Versorgung in Sendernähe. 3.2. FM-Tonrundfunkempfanger Auch der UKW-FM-Empfänger nach dem Überlagerungsprinzip.

arbeitet

Tuner

ZF-Filter Begrenzerstufe

Stereo-Decoder

RF-Filter

FM-Demodulator

Tonstufen

Abb. 121.5: Funktionsblöcke des UKW-Empfängers.

Der UKW-Tuner enthält das RF-Filter und den Oszillator, es folgen die 10,7-MHz-ZFStufe, die ZF-Begrenzerstufe, der F M - D e m o dulator, der Stereodecoder und die Audiostufen. Für stereophone Programme wird auf einen Hilfsträger bei 38 kHz die Stereo-Information (Links minus Rechts) gesendet. Der Hauptkanal überträgt das Summenbzw. Monosignal (Links plus Rechts). Die Audiobandbreite bei UKW-Empfang beträgt 15 kHz. Mit dem Radiodatensystem RDS, einem Datenkanal im unhörbaren Bereich des FM-Multiplexsignals, können über die UKW-Sender eine Vielzahl von zusätzlichen Diensten, wie Programm- und Verkehrsinformationen, Senderkennungen, Abstimmhilfen oder Radiotext angeboten werden. Die Ausgabe der Informationen kann in akustischer Form oder optisch über ein Display erfolgen. Im Kabel werden die F M - H ö r f u n k p r o gramme ebenfalls im Bereich zwischen 87.5 und 108 M H z übertragen. Bis zu 40 verschiedene UKW-Tonprogramme werden in der

Kabelkopfstelle aufbereitet dicht gepackt und in hoher Qualität zum Teilnehmer verteilt. Interessante Programme aus dem Bereich des AM-Tonrundfunks werden in m o n o p h o n e FM-Signale gewandelt. 3.3. Digitaler Tonrundfunk D A B Das digitale System D A B (Digital Audio Broadcasting) ist speziell für den Rundfunkempfang im mobilen oder portablen Bereich entwickelt worden. D A B ist ein sehr robustes Verfahren und erlaubt selbst bei ungünstigen Empfangsbedingungen störungsfreien Empfang. Im ca. 1,5 M H z breiten R F - K a n a l können Nettobitraten um l , 2 M b i t / s übertragen werden. Das entspricht etwa 5 Stereoprogrammen in CD-Qualität und weitere zusätzliche Kapazitäten für Datendienste. Die Datenkapazität kann flexibel zwischen Audioprogrammen und anderen Datendiensten aufgeteilt werden. So ist z. B. mit D A B die Übertragung eines digitalen TV-Programms mit einer Videokapazität von 1 Mbit/s in eingeschränkter Qualität möglich. Neben den programmbegleitenden Diensten können auch andere programmunabhängige Dienste verschlüsselt oder unverschlüsselt abgewikkelt werden. Bei D A B wird die robuste und gegen Reflexionen und Rauschen unempfindliche C O F D M - M o d u l a t i o n verwendet. Während ein UKW-Programm einen Abstand zum störenden Rauschen von ca. 50 dB benötigt, ist bei D A B guter Empfang unter 20 dB möglich, d. h. die Leistung des störenden Rauschens kann 1000 X größer als bei F M sein. Abhängig vom Übertragungsmedium, Satellit oder terrestrisch und vom erforderlichen Fehlerschutz können vier verschiedene DAB-Übertragungsmodis eingestellt werden. Untersuchungen zeigen, daß auch über Satelliten mobiler Empfang im P K M mit digitalen Verfahren ähnlich DAB möglich ist, eine interessante Variante besonders f ü r die Entwicklungsländer mit wenig ausgebauten terrestrischen Sendernetzen. 4.

Empfangsantennen

Die Art der Empfangsantenne ist abhängig vom Frequenzbereich und davon, ob es sich um stationären portablen oder mobilen Empfang handelt. Die klassische Fernsehantenne für den stationären Empfang von 47 bis 1000 M H z ist der Mehrelemente-Yagi. Die Antenne wird zum Sender ausgerichtet. Bei schwierigen Empfangslagen kann durch die größere Elementezahl der Antenne bis zu 20 Direktoren und Reflektoren ein hoher Anten-

1361

121. Empfangstechniken für Hörfunk und Fernsehen

nengewinn und damit höherer Empfangspegel am Fußpunkt der Antenne erzielt werden. Außerdem kann mit wachsender Zahl der Elemente die Empfangskeule so schmal gemacht werden, daß unerwünschte störende Signale aus anderen Empfangsrichtungen ausgeblendet werden können. Die Stabantennen oder Mini-Yagis bei portablen PAL-Geräten erlauben nur mäßige Empfangsqualität. Deutlich besserer portabler Fernsehempfang ist beim digitalen Empfänger mit der COFDM-Modulation zu erreichen. Selbst mobiler Empfang im Auto, Bus oder Bahn ist mit C O F D M möglich. Die bei PAL-Empfang sehr störenden Reflexionen liefern bei digitalen COFDM-Signalen einen positiven Beitrag zum Empfangssignal. Für digitale Programme ist guter mobiler und portabler Empfang besonders im VHF-Bereich und im unteren UHF-Bereich möglich. Eine deutliche Verbesserung des Empfangs ist mit verbesserten Antennensystemen nach dem Diversity-Prinzip erreichbar. Dabei werden zwei Antennen an verschiedenen Stellen des Fahrzeugs oder des portablen Geräts angebracht und das jeweils bessere oder die Summe der Empfangssignale wird ausgewertet. Die Standardantenne für den Empfang von TV-Programmen über Satelliten ist die Parabolantenne mit ca. 60 cm Durchmesser. Der Öffnungswinkel der Empfangskeule von Parabolantennen liegt bei ca. 3 Grad. Dadurch haben diese Antennen einen sehr hohen Antennen-Gewinn von 34 dB. Bei ungünstigen Empfangslagen werden auch Antennen mit größeren Durchmessern, bis zu zwei Meter verwendet. Die Antennen für den stationären UKWEmpfang sind Kreuzdipole oder Yagis. Im portablen Bereich und im PKW werden vorwiegend Stabantennen verwendet. Die Antennen für den Lang-, Mittel-, Kurzwellenbereich sind Stabantennen mit Rundstrahl-Charakteristik oder im Empfanger eingebaute Ferritantennen. Sehr selten geworden ist die Verwendung der vorteilhaften Hochantennen.

Ebner, Andreas, PALplus-Übertragung von 16:9Bildern. In: Fernseh- und Kinotechnik 1992, Nr. 11. Ellis, Richard, The Architects Publishing Partnership. The PALplus Story: a european collaboratine projekt. Macclesfield 1997. ETSI, ETS 300 412. Digital broadcasting system for television, sound and data services, framing structure, channel coding and modulation for 11/ 12 GHz satellite services. 1994. ETSI, ETS 300 429. Digital broadcasting system for television, sound and data services, framing structure, channel coding and modulation for cable systems. 1994. ETSI, ETS 300 744. Digital broadcasting system for television, sound and data services, framing structure, channel coding and modulation for terrestrial services. 1996. ETSI, ETS 300 401. Radio broadcasting systems, Digital Audio Broadcasting (DAB) to mobile, portable and fixed receivers. 1995. Felsenberg, Alexander, Die Einführung des hochauflösenden Fernsehens: Technik, Wirtschaft, Produktion. Kottgeisering 1990. FTZ-Richtlinie 1R8-15. Bedingungen und Empfehlungen für den Betrieb von BK-RundfunkEmpfangsanlagen. Darmstadt 1985. ITU, Rep. 468. Characteristic of television systems. Genf 1998. Liesenkötter, Bernhard (Hrsg.), 12 GHz Satellitenempfang. TV-Direktempfang für Praktiker. Heidelberg 1986. Mäusl, Rudolf, Digitale Modulations-Verfahren. Heidelberg 3 1991. Meinke, Hans-Heinrich/Friedrich-Wilhelm Gundlach (Begr.), Taschenbuch der Hochfrequenztechnik, Grundlagen, Komponenten, Systeme. Berlin 5 1992. Hörrundfunk 5: Vorträge der NTG-Fachtagung am 5 . - 7 . März 1980 in München. Berlin 1980. Reimers, Ulrich, Digitale Fernsehtechnik: Datenkompression und Übertragung für DVB. Berlin 2 1997. Schneeberger, Günther, Datendienste mit DAB. In: Schriftenreihe DAB-Plattform. 1996. Schröder, Hartmut, HDTV-Empfänger-Architekturen. In: Fernseh- und Kinotechnik 1993, 166—

5.

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Siegfried Dinsel, München

(Deutschland)

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik 122. Von der Edisonwalze zur CD 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Anfänge Edisons Walzen Siegeszug der Schallplatte Das magnetische Speicherverfahren Digitale Zukunft Literatur

1.

Die Anfänge

„Phantasie ist wichtiger als Wissen". Dieses Zitat Albert Einsteins charakterisiert äußerst treffend die Figuren in der bewegten Geschichte der Schallaufzeichnung, natürlich verbunden mit den durch diese Entwicklung hervorgebrachten Apparaten zur Wiedergewinnung der akustischen Ereignisse. Und mit dieser Phantasie ausgestattet, haben zahlreiche Tüftler und Erfinder, und nicht zuletzt Schriftsteller, schon seit alters her die Problematik des Aufhebens, des Konservierens von Schall durchdacht. Was lag näher, Schall in Schachteln oder Dosen einzusperren oder in eisiger Kälte einzufrieren. In Gottfried August Bürgers Lügengeschichten „Die wunderbaren Reisen des Freiherrn von Münchhausen" (1786) ertönt in einem Posthorn gefrorener Schall erst wieder nach dem Aufschmelzen hinter dem warmen Ofen. Den ersten Schritt in eine andere Richtung tat Thomas Young, ein englischer Physiker und Arzt, der die Schwingungen einer Stimmgabel mittels Schreibstift auf Papier aufzeichnete. 1809 konnte er seinen „Kymograph" vorstellen. Den Höhepunkt der lediglich aufzeichnenden Maschinen, die akustische Wiedergabe war noch nicht möglich, erreichte Eduard Leon Scott mit seinem 1855 konstruierten „Phon-Autograph". Über ein TrichterMembran-Schreibnadel-System konnten die Schallschwingungen auf einen berußten Pappzylinder geschrieben werden. Die Konstruktion eignete sich vorzüglich zu schallanalytischen Studien. Etwa 20 Jahre später erfand der französische Schriftsteller Charles Cros das „Paléophone", eine Maschine, die

zur Rekonstruktion der Aufzeichnungen imstande gewesen wäre. Sein am 30. April 1877 an der Pariser „Academie des Sciences" eingereichter Vorschlag blieb bis zur Veröffentlichung am 3. Dezember 1877 eine theoretische Konstruktion auf dem Papier und wurde nie in die Tat umgesetzt. 2.

E d i s o n s Walzen

Nicht nur in Europa, auch in Amerika arbeiteten Erfinder an der Lösung des Problems der Schallspeicherung, so auch Thomas Alva Edison, der im Vorfeld seiner Erfindung des „Phonographen" bereits mehrere Patente zu ähnlichen Apparaten einreichte und erhielt; am 3. Februar 1877 auf seinen „Telegraph Recorder and Repeater", der Morsezeichen auf einer paraffinierten Pappscheibe aufzeichnete und wiedergab, oder in seinem am 24. April 1877 eingereichten Patent, das phonographen- und plattenspielerähnliche Geräte zeigte. Edisons Tagebucheintrag vom 18. Juli 1877 verzeichnet die Mitteilung über ein Experiment, bei dem in paraffingetränkten Papier Schallschwingungen eingraviert wurden. Am 6. Dezember 1877 konnte Edison seinen „Zinnfolien-Phonographen" in Menlopark, unweit von New York, das erste Mal in Betrieb setzen und seine eigene, aufgezeichnete Stimme vernehmen. Über ein Trichter-Membran-System, versehen mit einer Schreibnadel, erhielt die um die Aufzeichnungstrommel gelegte Zinnfolie eine reproduzierbare Tiefenschrift (Hill and Dale). Alexander Graham Bell, Chichester Α. Bell und Charles Sumner Tainter griffen Edisons Ideen auf und entwickelten den wachsbeschichteten Pappzylinder als Aufnahmemedium anstelle der Zinnfolie. Das von den Erfindern 1881 erstmals vorgestellte „Phonograph-Graphophon" war für Walzen gebaut mit etwa vier Minuten Spieldauer, einer für damalige Verhältnisse einmaligen Leistung.

122. Von der Edisonwalze zur CD Weitere Entwicklungen folgten. Gegenstand der Patentschrift vom 27. Juni 1885 war ein Plattenschreiber und -spieler mit einer wachsüberzogenen Pappscheibe als Aufnahmemedium. Als besonders beachtenswert m u ß die Tatsache gewertet werden, daß mit dieser Konstruktion von innen nach außen mit konstanter Geschwindigkeit in der Plattenrille geschnitten und abgetastet wurde, eine technische Feinheit, die später als Systemparameter bei der CD-Herstellung Eingang fand. Inzwischen hatte Edison, angeregt durch die Konkurrenz von Bell und Tainter, seinen Phonographen entscheidend verbessert. Die Arbeiten am „Improved Phonograph", ein Modell, das die Grundlage f ü r seine weiteren Walzengeräte blieb, konnten am 17. Juni 1888 abgeschlossen werden. Aufgezeichnet wurde nun auf einer Weichwachswalze, die aufgrund ihrer Wandstärke mehrmals abgedreht und neu bespielt werden konnte. Auf der 1889 in Paris stattfindenden Weltausstellung wurde der Phonograph und sein inzwischen populär gewordener Erfinder enthusiastisch gefeiert. Der Startschuß für eine weltweit anlaufende Phonographenindustrie war gegeben. Durch die steigende Nachfrage des interessierten Publikums nach bespielten Walzen stellte sich nun das Problem der Vervielfältigung in großen Serien. Die anfangs eingesetzte panthographische Methode, die Tiefenschrift des Masterzylinders wurde hierbei über ein Hebelsystem auf die Leerwalze übertragen, konnte 1889 durch die elegantere Lösung von Dr. F. Schulze-Berge und C. Wurth abgelöst werden. Ausgehend von dem galvanisch erzeugten Kupfernegativ der Wachswalze erhielt m a n Duplikate aus einer speziell für diesen Prozeß geschaffenen Hartwachsmischung, die erst ab 1902 Serienreife erlangte. Die bis zum Oktober 1908 vertriebene „gould moulded"-Walze, bis dahin ausschließlich als zwei-Minuten-Version im Handel, wurde nun durch die neue, aus einer härteren und widerstandsfähigeren Wachsmischung bestehende 4-Minuten-„Amberol"Walze abgelöst. Der Höhepunkt Edisonscher Walzenentwicklung war aber die ab 1912 angebotene „Blue Amberol", eine intensiv blaue Zelluloidwalze mit für diese Zeit hervorragenden Eigenschaften in der Klangwiedergabe. Bis zum Ende der 20er Jahre wurden Walzen gefertigt und vertrieben, dann aber verdrängte der inzwischen grandios angewachsene Schallplattenmarkt jene walzenförmigen Tonträger, die Ausgangspunkt einer weltweiten Industrie darstellten.

1363

3.

Siegeszug der Schallplatte

Die Frage, wer eigentlich Schallplatte und Schallplattenspieler erfunden habe, ist nicht leicht zu beantworten. War es Charles Cros, der 1877 seine „Schallplatte" samt fotogalvanoplastischer Reproduktionsmethode als schriftlich niedergelegte Idee vorstellte, oder doch Edison, der in seiner Patentschrift Nr. 1644 vom April 1878 Schallplatten und Schallplattenspieler vorwies, oder waren es Bell und Tainter, die 1884 ihre wachsüberzogene Pappschallplatte schneiden und abspielen konnten? In dieser Aufzählung ist ein weiterer Name zu nennen, der dem neuen plattenförmigen Trägermedium den entscheidenden Startimpuls gab: Emile Berliner. Durch die Veröffentlichungen der Bell-Tainterschen Schallplatten und -walzen angeregt, startete Berliner in seinem Washingtoner Labor eigene Versuchsreihen und konnte am 26. September 1887 sein „Verfahren und Apparat für das Registrieren und Wiederhervorbringen von Tönen" auf plattenförmigen Träger anmelden. Im Gegensatz zu Edison, der ausschließlich die Tiefenschrift als Aufzeichnungsprinzip f ü r seine Walzen einsetzte, schrieb Berliner seine Schallplatten immer in Seitenschrift. Mit „ G r a m m o p h o n " und ersten fotogalvanoplastisch hergestellten Schallplatten versetzte er die Teilnehmer des Experimentalvortrags im Franklin-Institut in Philadelphia am 16. Mai 1888 in Erstaunen. Weniger die Tatsache der Aufzeichnung und Wiedergabe von Tönen auf einem Trägermedium überrascht an dieser Stelle als vielmehr die revolutionären Möglichkeiten einer schnellen und exakten Vervielfältigung von plattenförmigen Tonträgern. In der folgenden Zeit experimentierte Berliner mit geätzten Zinkschallplatten. Der Durchbruch erfolgte erst mit der Herstellung eines von der Masterplatte galvanisch erhaltenen Kupfernegatives, das als Preßwerkzeug, als Matrize zur Duplizierung diente. Ein geeignetes Preßmaterial mußte gefunden werden. So bot sich Hartgummi an, eine bei Hitze plastisch verformbare Masse. Ab 1895 wurden Hartgummiplatten im Handel verkauft. Schließlich kam Berliner auf die Idee, Schellack als preßfähiges Material einzusetzen. Die Schellackplatte, bestehend aus fein gemahlenem Baryt, Schiefermehl, Baumwollflock, R u ß und Schellack, wurde ab 1897 vertrieben und blieb viele Jahrzehnte „Star" der Tonträger. Erst Ende der fünfziger Jahre wurde der Verkauf eingestellt.

1364

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

War bei der Plattengröße noch keine Normung zu erkennen, so mußte doch für die Umdrehungsgeschwindigkeit ein Wert gefunden werden, der den internationalen Plattenvertrieb ermöglichte. Aufgrund der Netzfrequenz der öffentlichen Stromversorgung und den verfügbaren Elektromotoren mit entsprechendem Getriebe kam man in Amerika wie in Europa auf etwa 78 Umdrehungen pro Minute. Eine Sensation bereicherte 1904 die Schallplattenwelt. Auf der Frühjahrsmesse in Leipzig stellte die kleine Firma Odeon die erste doppelseitig bespielte Schellackplatte vor. Bis zur Mitte der zwanziger Jahre wurde über Trichter aufgenommen, ein, abgesehen von den Antrieben der Plattenmaschinen, auf rein akustischer Energie basierender Schneidevorgang. Erst nach der Entwicklung der Verstärkerröhre durch Robert von Lieben und Lee de Forest im Jahre 1906 und der beginnenden Verstärkertechnik bahnte sich eine Umorientierung in der Schallaufzeichnung an. Vorgezeichnet war der Weg einer elektrischen Schallplattenaufnahme mit Mikrofon, Verstärker und elektromagnetischem Schneidstichel, der den qualitativen Sprung von der akustischen (Ubertragungsbereich ca. 200 bis 2000 Hertz) zur elektromagnetischen Aufzeichnung (Übertragungsbereich 50 bis 5 000 Hertz) besonders deutlich werden ließ. Gestützt auf die Arbeiten von Maxfield und Harrison und deren Entwicklungen in den Labors der Western Electric, stellten mit dem Jahr 1925 praktisch alle bedeutenden Schallplattenfirmen ihre Aufnahmemethode um. Parallel hierzu verlief die Entwicklung des eletrodynamischen Konuslautsprechers im Jahre 1925 sowie die Erfindung des elektromagnetischen Tonabnehmers 1927 durch Edward Kellogg und Chester Rice von der General Electric Company. Die rapide fortschreitende Verstärkertechnik bot inzwischen die Möglichkeit, verfahrensspezifische Entzerrungen vorzunehmen und damit den Plattenschnitt einschließlich der Wiedergabe wesentlich zu verbessern. 1943 führte diese Maßnahme in Deutschland zu einer ersten Normung (DIN 6151) für 78er Platten. Der Wunsch, längere Programme auf dem Medium Schallplatte zu speichern, konnte nur durch enger nebeneinander liegende Schallrillen, der Vergrößerung des Plattendurchmessers sowie der Herabsetzung der Umdrehungszahl realisiert werden und führte zu zahlreichen Entwicklungen. Die erste ge-

brauchsfähige Langspielplatte, die „Edison Record 40 Minute" mit 20 Minuten Spielzeit je Seite, war das grandiose Ergebnis einer von Edison ab 1910 widerwillig betriebenen Plattenentwicklung. In der Zeit der Plattentonfilme, Mitte der zwanziger Jahre, setzte man auf die Plattentgröße von 40 cm Durchmesser und die Verringerung der Umdrehungsgeschwindigkeit auf 33,33 UPS. Der Mann, der schließlich die heute bekannte „Long Playing Record" oder „LP" aus der Taufe hob, war Dr. Peter Goldmark, ab 1945 Leiter einer kleinen Forschungsgruppe der CBS in England. Sein Ziel, die Entwicklung einer Schallplatte mit 45 Minuten Programmdauer, erreichte er durch eine Plattengröße von 30 cm, der Verwendung der Umdrehungsgeschwindigkeit von 33,33 UPS und der Einführung einer wesentlich feineren Rillenarchitektur unter der Bezeichnung „Microgroove". Aus diesen Gründen mußte, um einen ausreichenden Signal-Rausch-Abstand zu erreichen, Polyvinylchlorid (PVC) als Preßmaterial herangezogen werden. Gegen Ende der vierziger Jahre erlangte die LP in Amerika ihre Einführung, ab 1951 begann auch in Deutschland die Verdrängung der Schellackplatte durch die Kunststoff-LP.

4.

Das magnetische Speicherverfahren

Mit den Kenntnissen über den Elektromagnetismus war, neben den Entwicklungen zum Nadeltonverfahren, die Grundlage zu einem neuen Weg der Schallspeicherung gefunden. Ausgehend von der Entdeckung der elektromagnetischen Wirkung durch Hans Christian 0rsted im April 1820 und deren Verstärkung mittels einer stromdurchflossenen Spule durch J. S. Schweigger, den Forschungen von Sir Humphry Davy zur dauerhaften Magnetisierbarkeit von Stahl durch ein Magnetfeld und schließlich der Entdekkung der magnetischen Induktion am 29. August 1831 von Michael Faraday, waren die grundlegenden Voraussetzungen gegeben, Informationen, hier im Sinne von Schallereignissen, in ein magnetisierbares Medium zu schreiben und wieder auszulesen. Zahlreiche Erfindungen schlossen sich an, so beispielsweise das Patent von Charles Sumner Tainter vom 29. August 1885 zur magnetischen Tonschrift in Form einer Eisenprofilspur oder das am 6. März 1888 Wilhelm Hedick erteilte Patent der „[...] Vorrichtung zum Aufzeich-

122. Von der Edisonwalze zur CD nen akustischer und elektrischer Wellen mittels Gas- oder Staubstrahlen [...]". Besonders beachtenswert sind, in der Frühzeit der Magnetspeichertechnik, die Erfindungen und Entwicklungen des amerikanischen Ingenieurs Oberlin Smith. Seine ab 1878 in Theorie und Praxis entwickelte magnetische Schallaufzeichnung beschrieb bereits die wesentlichen Elemente der erst viele Jahrzehnte später gebauten Magnetaufzeichnungsgeräte. Mit den Entwicklungen von Valdemar Poulsen und dem am 10. Dezember 1898 eingereichten Patent entstand mit dem Bau des „Telegraphons" ein erstes funktionierendes und sehr werbewirksam vorgestelltes Gerät mit Stahldraht als Aufzeichnungsmedium. Auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 gab der österreichische Kaiser persönlich seine Anerkennung zum Ausdruck und sprach in den Apparat. Kurze Zeit später entstanden ein von Poulsen gefertigtes Stahlbandgerät und eine Maschine zur magnetischen Aufzeichnung auf einer Stahlplatte. Trotz großer Beachtung und Bewunderung der vorgestellten funktionsfähigen Geräte konnte unter den gegebenen Umständen, man denke nur an die bescheidenen Möglichkeiten des Tonschnitts von Stahldrähten und -bändern und die noch nicht entwickelte Röhrenverstärkertechnik, eine gegenüber der Schallplatte konkurrierende Verbreitung nicht erzielt werden. Erst Dr. Curt Stille und Lois Blattner belebten die Szene mit verbesserten Stahldraht- und Stahlbandgeräten. 1929 führte Blattner in seinen Studios bei London der Fachpresse Tonfilme vor, dessen Synchronton einer von Stille gebauten Maschine, dem „Blattnerphone", entstammte. Den Durchbruch schaffte allerdings ein Außenseiter des Metiers: Fritz Pfleumer. Der Fachmann aus der Papierbranche, damit beschäftigt, metallpulverbeschichtetes Papier für Zigarettenmundstücke herzustellen, war ein engagierter Radiobastler und feinsinniger Erfinder. Am 31. Januar 1928 meldete er sein Patent an und führte der Fachwelt nicht nur sein mit Stahlpulver beschichtetes papierenes Schallband vor, sondern auch das von ihm gebaute Bandgerät. K n a p p drei Jahre später folgte ein Zusatzpatent, das auch andere magnetisierbare Stoffe, er dachte an diverse magnetische Oxide, als Bandbeschichtung vorsah. Damit gab Pfleumer den entscheidenden Anstoß zur Geräte- und Bandentwicklung bei der A E G in Berlin und der IG-Farben (später BASF) in Ludwigshafen. Im

1365 Rahmen dieser intensiven Forschungen bei der A E G erfand Eduard Schüller eines der elementarsten Bauteile des Magnetbandgerätes, den zu einem Ring geformten Hör- und Sprechkopf mit Luftspalt (Patent vom 24. Dezember 1933), wodurch die Bandgeschwindigkeit erheblich reduziert werden konnte. Für die Funkausstellung in Berlin 1935 wurde ein erstes Gerät, das „Magnetophon K l " , mit Dreimotorenlaufwerk und 6,5 m m breitem Tonband gefertigt. Neue Entwicklungen des Tonbandes bei der BASF, die Eisen- bzw. Magnetitbeschichtungen der Tonbänder wurden durch die Forschungen von Fr. Mathias vom magnetisierbaren γ-Eisenoxid abgelöst, ermöglichten eine weitere Herabsetzung der Bandgeschwindigkeit ohne merklichen Verlust im oberen Frequenzbereich. Für den professionellen Anwenderkreis wurde das magnetische Aufzeichnungsverfahren erst mit der serienreifen Entwicklung der Hochfrequenzvormagnetisierung interessant, die eine Aufzeichnungsdynamik von 60—65 dB ermöglichte. Den entscheidenden Anstoß für die Nutzung dieses Verfahrens gaben im Jahre 1940 Dr. Hans-Joachim von Braunmühl und Dr. Walter Weber aus dem Bereich des deutschen Rundfunks, obwohl bereits vorher der Effekt in mehreren Patenten beschrieben aber nicht zur technischen Reife geführt wurde. Der ab dem Jahre 1963 weltweit eingeführten Philips-Kassette, der „Compact-Cassette" oder auch „Musicassette" (MC), waren bereits diverse Kassettenformen und Geräte vorausgegangen; dennoch setzte sich dieser Kassettentyp bis zum heutigen Tag durch.

5.

Digitale Z u k u n f t

Schon lange vor der Entdeckung der Elektrizität wurden digitale Signale zur Übertragung von Informationen herangezogen. Die Methode mit „0" oder „1" Nachrichten zu übermitteln, fand beispielsweise in den Feuerzeichen amerikanischer Indianer oder den Trommelsignalen afrikanischer Eingeborener ihre Anwendung. Die Verabredung eines bestimmten Codes mit dem ferner Partner war Voraussetzung für die Entschlüsselung der gesendeten Zeichen. In der Anwendung für diverse Telegraphencodes legte N . Nyquist 1924 die Grundlage zur Informationstheorie. Den sinnvollen Einsatz digitaler Signale für den Audiobereich fand m a n allerdings erst nach den theo-

1366

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

retischen und praktischen Vorarbeiten zur Puls-Code-Modulation (PCM), die 1938 von Reeves erfunden wurde. Mit diesem Verfahren konnten analoge Audiosignale in einen digitalen Zeichencode gewandelt werden. Doch erst nach der Erfindung des Transistors, 1948 durch J. Bardeen und W. H. Brattain, und natürlich durch die Entwicklungen der Mikroprozesstechnik gewann die P C M gegenüber anderen Modulationsverfahren an Bedeutung. Die bisher gefundenen Grundlagen einer digitalen Darstellung von Audioereignissen waren nun Ausgangspunkt zu der von der Firma Philips, Eindhoven, entwickelten digitalen Schallplatte Compact-Disc (CD), die erstmals am 7. März 1979 vor Fachjournalisten demonstriert wurde. Nach der öffentlichen Vorstellung auf der Berliner Funkausstellung 1981 war für Ende 1982 die Markteinführung dieses neuen und phantastischen Mediums vorgesehen und damit be-

gann, vorerst zögerlich aber unaufhaltsam, der Niedergang der analogen Schallplattenproduktion. Die über viele Jahrzehnte geliebte schwarze Platte erhielt silbrige Konkurrenz.

6.

Literatur

Hartmann, Karl-Theo, Das CD-ROM Handbuch. München 1994. 50 Jahre Stereomagnetbandtechnik, Die Entwicklung der Audio-Technologie in Berlin und USA von den Anfangen bis 1943. Hrsg. v. Heinz H. K. Thiele 1993. Pohlmann, Ken, Compact Disc Handbuch. München 1994. Sutauer, Hans, Schallplatte und Tonband. Leipzig 1954.

Hans Schubert, Frankfurt a. M. ( Deutschland)

123. Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung 1. 2. 3.

Allgemeines Wichtige Entwicklungsstufen der Geräte und Anlagen zur Audiotechnologie Literatur

1.

Allgemeines

Das Zusammenwirken vieler Entwicklungsschritte in der Tontechnik und parallel dazu in der Sendetechnik bis zu einem ausreichend hohen technischen Stand ermöglichte die Einführung des Allgemein-Rundfunks 1923. Dies zeigt sich sowohl bei der Gerätetechnik als auch der Verfahrensseite von Aufnahme und Wiedergabe und führte damit zu sich ständig verändernden Produktionsmethoden. Zunächst waren diese weitgehend von der Schallplattentechnik übernommen worden; sie wurden rasch von der ständigen Weiterentwicklung der Technik, speziell der Elektrotechnik/Schwachstromtechnik und der Akustik (Raum- und Bauakustik, Elektro- und Psychoakustik) beeinflußt, woraus sich die eigenen Gebiete der Aufzeichnungs- (Speicher-)technik und Tonstudiotechnik entwikkelten, die man für den Hörbereich auch allgemeiner im Begriff Audiotechnologie zusammenfaßt. Seit etwa 1980 kommt als neues Systemmerkmal die schrittweise Ablösung

der Analogtechnik durch die Digitaltechnik für das Tonsignal und für die Steuerung der Gerätefunktionen hinzu. Ebenso wie das Programm im Rundfunk, werden auch die Produktionsmethoden stark von der gesellschaftlichen Entwicklung und den sich damit ebenfalls entwickelnden Hörerwartungen und Hörgewohnheiten beeinflußt. Diese waren und sind für den Erfolg und die Akzeptanz neuer Aufnahme- und Wiedergabeverfahren (u. a. Erweiterung des Frequenzbereiches bis 15 kHz bei U K W gegenüber 4,5 kHz bei Mittelwelle; Zwei- und Mehrkanal-Stereofonie) ausschlaggebend, dem Rundfunk kam daher lange Zeit die Führungsrolle bei der Weiterentwicklung des gesamten Gebietes Audiotechnologie zu. Diese Funktion tritt mehr und mehr zurück, seitdem die Industrie auch für die Heimpraxis preiswürdige Geräte mit der Studioqualität ebenbürtigen Parametern bereitstellen kann, und der Hörer nicht mehr von der Rundfunkübertragung als bisher einziger hochwertiger Programmquelle abhängig ist. Andererseits wird zunehmend die Aufnahmetätigkeit für Musik im Rundfunk von den Studios der Schallplattenfirmen und privater Einrichtungen verdrängt.

123. Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung

Die von 1923 bis 1945 einheitliche Entwicklung der Rundfunk-Studiotechnik verzweigte sich nach dem Kriege durch den unterschiedlichen Wiederaufbau in den vier Besatzungszonen und setzte sich mit der Trennung in den föderativen Rundfunk in der BRD (politisch zur Erfüllung der Wünsche unterschiedlicher Regionen und Meinungsgruppen begründet) und den zentral geleiteten im Osten Deutschlands fort. Die dabei erfolgte Zersplitterung der Technik analog den Regionalrundfunkanstalten hat mitunter die Entwicklung und Einführung einheitlicher Techniken und Technologien sowie Reglements auch erschwert, obwohl die Forschungsinstitutionen für die Rundfunk- (und Fernseh-)technik in beiden Teilen Deutschlands, Institut für Rundfunktechnik (IRT) — zunächst in Hamburg bzw. Nürnberg, nunmehr in München — und das Rundfunk- und Fernsehtechnische Zentralamt der Deutschen Post (nunmehr teilweise TZ der Deutschen Telekom), Berlin-Adlershof, um Vereinheitlichung der Geräte- und Anlagentechnik und der entsprechenden Pflichtenhefte bemüht waren. Von Beginn an wurden beim Rundfunk hohe technische Qualitätsmaßstäbe angestrebt, in der Erkenntnis, daß die Ausstrahlung sowie die Speicherung — im Rundfunkarchiv zur Dokumentation und später bei der Schallplatte - die zur jeweiligen Zeit möglichen besten Qualitätsparameter erfüllen sollte, auch wenn immer nur eine Minderheit der Hörer entsprechende optimale Möglichkeiten der Wiedergabe besitzen kann. Es führte dies auch zum Ansporn der Industrie, so gute und preiswerte Empfangs- und Wiedergabegeräte wie möglich zu schaffen, die später sich in mehrere Qualitätsstufen, je nach den Ansprüchen, entwickelten. Dabei entstand der Begriff der „Studioqualität" als Kennzeichnung der höchstmöglichen Tonqualität, wie er auch von den im Rundfunk und bei der Schallplatte auftretenden Künstlern anerkannt wurde. Der Rundfunk in Deutschland, vor allem nach 1945, konnte mit seinem Qualitätsstand auch internationale Standards beeinflussen und vorantreiben. Die Entwicklung der Halbleiter und moderne Fertigungstechnologie machten nach und nach den Abstand zur Heimtechnik kleiner; zum Zeitpunkt der Einführung der Digitaltechnik konnte eine Zeit lang sogar die gleiche Aufzeichnungsqualität im Studio und im Heim erzielt werden. Heutzutage stellen im wesentlichen die unterschiedlichen raum-

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akustischen Bedingungen und die weiterhin noch schwächste Stelle der Ubertragungskette, der Lautsprecher, Hemmnisse dar, die gegenwärtig einen bestimmten Qualitätsabstand zur Heimwiedergabe nicht überwinden lassen.

2.

Wichtige Entwicklungsstufen der Geräte und Anlagen zur Audiotechnologie

Die wichtigsten Elemente hierbei sind Mikrofone für die Aufnahme von Musik und Wort, die Speichermedien sowie Kontrollautsprecher. 2.1. Telefon, Mikrofon Der 26. Oktober 1861 gilt als Geburtstag des Fernsprechers, an dem der Erfinder Philipp Reis anläßlich eines Experimentalvortrages in Frankfurt/Main sein Modell präsentierte. Das Telefon ist als erste Erfindung auf dem Gebiet des Tons mit hoher Bedeutung anzusehen. Die Zeit war jedoch dafür noch nicht reif; es wurde daher zuerst in den USA kommerziell von Alexander Graham Bell (1876) realisiert, zusammen mit Edisons Idee des Kohlekörnermikrofons (1877), basierend auf dem variablen elektrischen Widerstand von Kohlegranulaten unter Druck und den Verbesserungen durch Emil Berliner aus Hannover. In Deutschland begann die Einführung eines öffentlichen Fernsprechnetzes in Berlin am 26. 10. 77 (Müller-Fischer 1959). Werner von Siemens (1877, D R P 2355) konnte das Kohlemikrofon bald weiter verbessern durch die richtungsweisende Lösung eines Mikrofons mit Kegelmembran nach dem Tauchspulprinzip. Hier liegt bereits das Grundprinzip des dynamischen Lautsprechers vor, seinerzeit wegen des Fehlens von Verstärkern noch nicht erkannt bzw. genutzt. Adér und Puskas (1881) führten die erste zweikanalige Telefonübertragung aus der Pariser Oper mit von Adér eigens entwickelten Kohlestäbchenmikrofonen durch und entdeckten dabei das Grundprinzip der Zweikanal-Sterofonie. Die Unzulänglichkeiten der Kohlekörnermikrofone für Gesang und Musik führten um 1920 zur Idee des Bändchenmikrofons nach dem elektrodynamischen Prinzip durch E. Gerlach und Schottky: Ein Bändchen aus gewelltem Aluminium von etwa 50 mm Länge und 4 mm Breite stellt die Membran und gleichzeitig den elektrischen Leiter in einem

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Magnetfeld dar. 1931 wurde es von Harry F. Olson in den USA zu einer praktikablen kommerziellen Version weiterentwickelt und fand dort besonders wegen seiner günstigen Frequenz- und Richtcharakteristik (40 Hz bis 8 kHz) breite Anwendung bei Radiosendungen und Filmaufzeichnungen. Das erste Kondensatormikrofon wurde 1917 von E. C. Wente (Bell Laboratories) entwickelt; es bewährte sich in den USA jedoch erst um 1932 beim Film, dann genügend klein und mit einem Frequenzgang bis 10 kHz ausgeführt. 1923 entwickelte Hans Riegger (Siemens, Berlin) ein HochfrequenzKondensatormikrofon mit einem für damalige Verhältnisse ausgezeichnetem Frequenzgang von 50 bis 8 000 Hz; zur Sprachverstärkung und Musikübertragung wurde es 1925 bei der Einweihung des deutschen Museums in München erfolgreich eingesetzt. Das beim Rundfunk in Deutschland in den Anfangsjahren meist benutzte Reisz-Mikrofon war eine Entwicklung von Georg Neumann, 1925, damals ein Mitarbeiter von Reisz. Er regte in einem Marmorblock Kohlegrieß über eine dünne Gummimembran an, so daß das Mikrofon nicht mehr von Eigenresonanzen der bisherigen Blechgehäuse abhängig war und einen Frequenzbereich von ca. 100 bis 6 000 Hz besaß, was für die Rundfunkanwendung damals als sehr gut eingeschätzt wurde. Georg Neumann gründete ein eigenes Unternehmen und experimentierte auf der Suche nach Mikrofonen höherer Qualität mit selbstgegossenen und vergoldeten hauchdünnen Kunststoffmembranen in Kondensatorschaltungen — es enstand das CMV3, das erste Neumann-Kondensatormikrofon, ein Druckmikrofon. Ihm folgte die dann in Serie hergestellte legendäre Mikrofonkapsel M l — 2 (1927). 1932 kam die ebenfalls berühmt gewordene Kapsel für ein Druckgradientenmikrofon M 1 hinzu; aufgrund des erzielten Frequenzganges, wie sie auch heutige Mikrofone besitzen, wird sie immer noch, nach über sechzig Jahren, weiter hergestellt und verwendet (ζ. B. in den Mikrofonen U 47 und M 49 (Weiß 1963). Auf diesem Grundprinzip, nunmehr in moderner Halbleitertechnik, sind heute die vielfaltigsten Typen von Kondensatormikrofonen führender Hersteller mit unterschiedlicher Richtcharakteristik (Kugel, Niere, Acht) international im Einsatz. Neben den Anwendungen in Einzelausführung sind sie auch in kompakt kombinierter Form für ZweikanalStereofonie üblich: als sog. Koinzidenz-

mikrofone für Intensitäts-Stereofonie oder in distanzierter Anordnung (20 cm bis 2 m Abstand) für Laufzeit-Stereofonie. 1973 wurde das Kunstkopfmikrofon für kopfbezogene Stereofonie und um 1991 das weitgehend die Pegel- und Laufzeitdifferenzen an den Ohren nachbildende Äquivalenz-Stereomikrofon (Kugelflächenmikrofon) entwickelt. Moderne Studio-Mikrofone besitzen (seit der Einführung des UKW-Rundfunks, 1951) auch die für die Digitaltechnik gültigen stetigen Amplituden· und Phasen-Frequenzgänge sowie hohe Störabstände, die den raumakustischen Eigenschaften der Studios und der nachfolgenden Tonregieanlage angepaßt sind (Steinke 1996). Darüber hinaus werden außerdem häufig dynamische Mikrofone nach dem o. a. Tauchspulprinzip (nach Werner von Siemens) eingesetzt, die keine Speisespannungen erfordern. Heutige Ausführungen basieren meist auf Entwicklungen von Eugen Beyer (1939), der zuerst ein Druckmikrofon M 19, mit domförmig gewölbter Aluminiummembran und linearem Frequenzgang herausbrachte, nachdem er bereits 1937 das hervorragende Meßtelefon DT 48 entwickelt hatte (Weiß 1993). 2.2. Lautsprecher Nach den ersten Ideen von Werner von Siemens, eine von Elektromagneten angetriebene Membran zur Tonerzeugung zu benutzen, gab es weiterführende Vorschläge von Curtis und Redding (Boston, 1877) für Schwingspulenwandler; doch erst 1915 wurde das erste praxisgerechte System von Pridham und Jensen (Magnavox, USA) entworfen. Auf elektrostatischem Prinzip (analog einem Kondesatormikrofon) basierten die ersten Tonfilmlautsprecher in Deutschland durch die sog. Triergon-Gruppe (Engl, Massolle, Vogt 1922), die gleichzeitig auch das Lichttonverfahren einführte und nach und nach das bis dahin übliche simultane Nadeltonverfahren im Film ablöste. Elektrostatische Lautsprecher benötigen zur Abstrahlung tiefer Frequenzen große Membranflächen, werden aber dennoch auch heute von einigen Herstellern für Studioeinsatz zur Abhörkontrolle angeboten. Bei Kopfhörern ermöglicht das elektrostatische Prinzip Spitzenqualität und dient zur Referenzwiedergabe. 1922 wurden auch Bändchenlautsprecher, die funktionelle Umkehr des o. a. Bändchenmikrofons, von Schottky und Gerlach vorgestellt. In Verbindung mit einem Exponentialtrichter konnten sie sich

123. Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung

mehrere Jahre bei der Beschallung von Großveranstaltungen behaupten. Das elektromagnetische Prinzip wurde lange Jahre im sog. „Freischwinger", einer konisch geformten Hartpapiermembran mit hochohmiger Spule und Hufeisenmagneten, direkt im Anodenstromkreis der Endröhre eines Empfängers eingefügt, verwendet. Bereits 1924 wurde von Riegger (S & H, Berlin) der erste, elektrodynamisch nach dem Tauchspulprinzip angetriebene Lautsprecher mit großflächiger Kolbenmembran entwickelt und ebenfalls zur Einweihung des Deutschen Museums in München eingesetzt, in der Form des „Blatthallers" auch für weitere Großveranstaltungen. Die Untersuchungen von C. W. Rice und E. W. Kellogg (Gen. Elee., USA) führten in den dreißiger Jahren zu anspruchsvollen Schwingspul-Tonsystemen für Filmtheater, wie sie auf dieser Basis heute noch bezüglich Frequenzgang und minimaler Verzerrungen gültig sind. Neue Antriebssysteme für Hochleistungs-Lautsprecher wurden ebenfalls in dieser Zeit mit der Erfindung des Druckkammer-Prinzips in den Bell-Laboratorien möglich, wie es in der Beschallungstechnik, insbesondere bei hohen Frequenzen, bisher nicht besser lösbar ist. In Deutschland wurden ab 1931 in Kinos Kombinationen aus Tieftontrichter- und zwei Hornlautsprechern üblich. Der hohe Wirkungsgrad des verwendeten ExponentialTrichterlautsprechers ermöglichte hohe Leistungen bei tiefen Frequenzen (Schildbach 1993). Da im Rundfunk die Beurteilung der Tonqualität bei Aufnahme und Sendung durch hochwertige Kontroilautsprecher eine entscheidende Komponente darstellt, bemühte man sich bereits in den Anfangsjahren des Rundfunks um die Entwicklung eines einheitlichen Regielautsprechers (Studio-Monitorlautsprecher), um an allen Produktions- und Wiedergabeorten gleichartige Qualitätsbeurteilungen zu ermöglichen und Qualitätssprünge zu vermeiden. Begonnen wurde mit der Kombination von Einzelsystemen verschiedener Frequenzbereiche, z. B. in großen „Abhörschranklautsprechern" mit Rundfun kbezeichnungen 0 3 a , 0 8 usw. Hierbei kann jedoch mitunter der Eindruck eines wandernden Klangbildes entstehen, auch reichte anfangs die Hochtonleistung nicht aus. 1951 wurde daher von der Zentraltechnik des N W D R als Einheitslautsprecher der sog. Kugelstrahler entwickelt, der sämtliche Frequenzen bis 15 kHz nach allen Richtun-

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gen abstrahlte (Rindfleisch 1985), was aber dem gerichteten Konuslautsprecher gegenüber (also beim Hörer und in den Schallplattenstudios) und in Abhängigkeit von den Eigenschaften des Wiedergaberaumes zu Fehlurteilen bei Monofonie und Stereofonie führte und Anfang der sechziger Jahre wieder aufgegeben wurde. Inzwischen hatte allerdings die Empfängerindustrie diese Lösung unter der Bezeichnung „ 3 D " übernommen, was sich aber für die Stereofonie im Heim nicht bewähren konnte. Umgehen kann man alle diese Nachteile mittels konzentrischer Anordnung der Einzelsysteme. Erste Lösungen gaben Tannoy in den USA und Eckmiller, Berlin, (um 1940), an (System Ol 5a), bei denen mittels Frequenzweichen und einem gemeinsamen Magnetsystem (mit ineinander gebauten Teilsystemen für den tiefen und den oberen Frequenzbereich) ein Gesamtbereich von 40 Hz ... 12 kHz sehr gleichmäßig wiedergegeben wurde. Der Eckmiller-KoaxialLautsprecher Ol 5a fand auch noch lange nach 1945 im (deutschen) Rundfunk erfolgreich Verwendung. Im Osten Deutschlands wurden nach diesem Prinzip seit 1953 beim Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) und Schallplatte einheitliche Regielautsprecher mit Koaxialsystemen (Z130, Ζ 131, O 731) entwickelt und eingesetzt. Auch heutzutage wird dieses Koaxialprinzip von einigen dafür prädestinierten Herstellern in weiterentwickelter und besser angepaßter Form als „Studio-Referenz-Monitorlautsprecher" für Studio- und Heimzwecke angeboten. Da sie hinsichtlich ihrer Klangqualität kaum zu übertreffen sind und sich bei aufwendigen Tests der Rundfunkanstalten an der Spitze behaupten (z.B. MEG/ R L 9 0 1 u.a.), werden sie zunehmend bei deutschen und ausländischen Rundfunkanstalten eingesetzt und lösen großenteils die vielen unterschiedlichen Typen von StudioMonitoren ab, die infolge der unterschiedlichen Auffassungen einzelner Funkhäuser gegenüber einer einheitlichen technischen Konzeption beim Hörfunk bisher eingesetzt waren. 2.3. Von der Vakuumröhre zum Verstärker der Tonregieeinrichtung Die Zusammenfassung von Verstärkern, Regelgliedern zur Einstellung und Mischung der Mikrofon- und anderer Tonsignale, sog. Pegelstellern, Bearbeitungs- und Aussteuerungskontrollgeräten wird in der Studiotechnik als Tonregieeinrichtung oder Tonstudio-

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einrichtung bzw. Tonmischpult bezeichnet. In den vierziger Jahren in den Tonstudios von Rundfunk- und Schallplatte entstanden, wurden Tonmischpulte mit zunehmender Integration immer kleiner und kompakter, konnten gleichzeitig aber durch die zunehmenden Anforderungen und größere Anzahl zu mischender Quellen komplexer und mit umfangreicheren Funktionen ausgestattet werden. Die erste Generation enthielt noch Röhrentechnik; die spätere Halbleitertechnik der zweiten Generation Toneinrichtungen senkte Erwärmung, Strom- und Platzbedarf. Grundideen zur Entstehung der Vakuumröhre sind wiederum Edison (1883) zuzuschreiben; die Klärung des „Edisoneffekts" erfolgte durch O. W. Richardson (1901), wonach in einer evakuierten Röhre aus glühenden Metallen Elektronen austreten, die von einer positiv geladenen Elektrode, Anode genannt, angezogen werden und somit Stromfluß erzeugen. Auf dieser Basis schlug 1904 J. A. Fleming die Röhre als Detektor für Radiowellen sowie A. Wehnelt die Beschichtung von Glühfaden mit Barium o. ä. vor. L. de Forest (1907) versah die Zweielektrodenröhre von Fleming mit einer Zwischenelektrode — er erfand das Audion. Lieben war es 1906 gelungen, den Röhrenstrom mit einem äußerem magnetischen Feld zu steuern; er entdeckte ferner die elektrostatische Beeinflussung des Röhrenstroms durch ein Gitter zwischen Kathode und Anode (1910), was 1912 zum Lieben-Einrohr-Verstärker und ab 1914 zur ersten fertigungsreifen Verstärkerröhre EVN 94 führte. O. Meißner verwendete bereits 1913 die Röhre zur Schwingungserzeugung für Radiowellen. In weiteren Schritten 1924 (Schottky: Schirmgitter) und 1926 (Teilegen: Bremsgitter) entstand die Pentode als Standardform der hochverstärkenden Vakuumröhre (Krause 1993). Die Rundfunksendetechnik, aber auch die Tonfilmtechnik stimulierte die Entwicklung weiter. Die spätere Miniaturisierung (1939/40, Röhrenserie RV 12P2000 u. ff.) ermöglichte dabei auch Einsatz im UKWBereich. Die Umstellung der 220 V-Gleichstromnetze auf Wechselspannung erfolgte in Deutschland ab 1925, was zur Entwicklung von Umformen und Gleichrichterröhren für hohe Anodenspannung führte (Herder 1993). Danach nahm die Entwicklung von Verstärkern einen rasanten Verlauf. Zuerst in den Funkhäusern zentral aufgestellt, wurden sie später direkt den Regieräumen zugeordnet (Verstärkerserien V 20, später V 40), bzw. bereits für mobile Übertragungsanlagen ein-

gesetzt (legendär wurde hier der Übertragungsverstärker V 35). Die Mitte der fünfziger Jahre einsetzende Miniaturisierung und verbesserter konstruktiver und elektrischer Aufbau führte zu den sog. Kassettenverstärkern, die direkt in das Tonmischpult (sowohl in der Mischfeldebene als auch in den PultUnter- und Seitenteilen) sowie in Zusatzgestellen (Trickmischpulten usw.) eingesetzt werden konnten, wie u. a. das umfassend ausgebaute V 70-System bei den westdeutschen Rundfunkanstalten. In Ostdeutschland entstanden parallel dazu die V 200-Serien, später dann mit Halbleitern das umfassende V 700-Bausteinsystem und in den achtziger Jahren das digital gesteuerte System 2000 für automatisierbare Tonanlagen der 3. Generation. Einheitliches Prinzip war, die geringen Mikrofonpegel durch Vor-, Zwischen- (Gruppen·) und Hauptverstärker auf den Betriebspegel zu bringen; die Vor- und Gruppen- bzw. Hauptsteller zur Dosierung der Mikrofonsignale usw. waren dazwischen angeordnet. Damit konnten umfangreiche Anlagen mit 18 bis 40 Mikrofonkanälen und zugehörigen Stell- und Bearbeitungselementen aufgebaut werden, um sich der einsetzenden Mehrkanal-Aufnahmetechnik und Polymikrofonie (für Monofonie und Zweikanal-Stereofonie) anzupassen. Vielfältige Bearbeitungsgeräte, wie Filter/Entzerrer, Kompressoren, Richtungsregler und -mischer, Verzögerungs- und Verhallungseinrichtungen u. ä., erlaubten eine umfassende klangästhetisch dosierte Mischung der Mikrofone auch der umfangreichen Klangkörper sowie Wortszenen (Hörspiel, Feature). Infolge ihrer sehr hochqualitativen Ausführungen sind sie teilweise noch heute in Betrieb (Hermann 1994; (9) Hoeg/ Steinke 1984; s. a. dortige Lit. Verz.). Schrittweise werden seit einiger Zeit rein digitale Tonregieanlagen der 4. Generation eingesetzt. Mit Rücksicht auf nachfolgende Aufzeichnungs- und Übertragungs- und Sendeeinrichtungen erfolgt die Aussteuerung jedes Programmbeitrages auf den zugelassenen Maximalpegel (in der BRD +6dBu = 1.55 V); dabei müssen die Anlagen übersteuerungsfest bis ca. + 18...22 dBu sein (im Digitalbereich + 18dBFS). Eine lautheitsgerechte Anpassung des Programms ist damit noch nicht möglich — ein Grundproblem des Rundfunks seit 1923. Die kompakt aufgebauten Anlagen können mobil, in Schnellreportagewagen sowie in großen Übertragungswagen für Hörfunk· und Fernsehveranstaltungen eingesetzt werden.

123. Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung

2.4.

Die Tonsignalspeicherung — vom Edison-Phonographen zur Compact Disc 2.4.1. Nadelton Nadeltontechnik ist der Oberbegriff für Tonsignalspeicherverfahren, die die irreversible Aufzeichnung unmittelbar in der Oberfläche von vorwiegend scheibenförmigen Trägern in Rillen enthalten. Bei der Wiedergabe erfolgt die Abtastung des bewegten Trägers in der Regel durch eine in mechanischem Kontakt mit der Rille stehende Nadel. Am bekanntesten wurde die Schallplatte, die inzwischen nach 100-jähriger Geschichte von der digitalen Compact Disc abgelöst wurde. Beide Formate wurden für Rundfunkprogramme unverzichtbar, da die originalen („live") Sprach- und Musikbeiträge einen immer geringer werdenden Programmteil ausmachen. D a der vorwiegend irreversible Charakter eine wiederholbare Aufzeichnungsmöglichkeit und Bearbeitung der aufgezeichneten Signale ausschließt, hatte für den Rundfunk das ab 1936 verfügbare Magnetbandverfahren die größere Bedeutung erlangt. Dieses wird erst Ende der neunziger Jahre durch digitale optische Träger, auch für Wiederaufzeichnung und ergänzt durch Magnet-Plattenspieler weitgehend verdrängt. Zu den bemerkenswertesten Schritte der Geschichte der Nadeltonaufzeichnung ist zu zitieren: Am 18. Juli 1877 notierte Edison über die am Tage geleistete Arbeit — eine Entdeckung mit ungewöhnlicher Tragweite: „Habe soeben mit einer Membran experimentiert, die mit einer Stichelspitze versehen ist und gegen ein rasch vorbeiziehendes Wachspapier gehalten wird. Die Sprachschwingungen werden hübsch eingraviert, und es besteht kein Zweifel darüber, daß ich imstande sein werde, die menschliche Stimme in vollkommener Weise zu konservieren und zu beliebiger Zeit automatisch zu reproduzieren" (Haas 1959). Edison's Schweizer Werkmeister John Kruesi realisierte die klassische Anordnung des ersten Phonographen mit Tiefenschrift (offizielles Datum ist der 12. August 1877, Patenterteilung erfolgte am 19. 02. 1878). Doch einige Zeit nach dem anfanglichen Riesenerfolg des Phonographen wurde Edison der Rang durch den Hannoveraner Emil Berliner abgelaufen: In Kenntnis einer Entdeckung des Franzosen Léon Scott (1859), der zuerst die Schallwellen einer menschlichen Stimme als Linien auf einer mit Ruß geschwärzten Glasplatte festhielt, entschied sich Berliner statt der Walze

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für eine flache Scheibe aus Zink, die mit 70 Umdrehungen pro Minute gedreht wurde. Die Aufnahme erfolgte nunmehr in Seitenschrift auf einem Wachsfilm; nach Entfernung der vom Stichel herausgeschnittenen Wachsstreifen wurde die Aufzeichnung eingeätzt — wiederholbar, kopierbar. Präsentiert am 16. Mai 1888 in Philadelphia, hatte diese Idee zunächst keinen Erfolg, da das gleichmäßige Handkurbeln mühsam war und die Platte nur eine Minute Spielzeit besaß. Edison konnte mit einer weiteren Patentanmeldung vom 16. Juni 1988 für seine 3-Minuten Walzen durch einen Elektromotor einen gleichmäßigen Lauf sichern. Beide Gerätelösungen erzielten in der weiteren Zeit zunehmende Beachtung und wurden in Europa nach 1884 von den Gebrüdern Pathé, Paris, verbreitet. Der Zylinder hielt die Nadel in konstanter Geschwindigkeit, die Platte dagegen erhöhte die Geschwindigkeit stetig; aber sie hatte eben den erheblichen Vorteil der Massenproduktion. Edison verlor wegen der Weiterentwicklung der Glühlampe das Interesse an der Vermarktung des Phonographen. Berliner wiederum ließ ab 1896 ein 3-Minuten-Uhrwerk in das „Grammaphon" einbauen und der eigentliche Siegeszug begann. Im Phonographenmuseum in Stein a. Rhein, Schweiz, findet sich neben einem der ersten 3 Laborgeräte von Edison auch die (funktionsfähige) Entwicklungsgeschichte des Grammafons und dabei auch eine bisher unbeachtete Lösung von Pathé von 1910: Eine Schallplatte wird von zwei Schalldosen, bereits mit Diamant und mit zwei großen Trichtern, abgetastet: Am Anfang haben diese ca. 6 cm Abstand, der sich später vergrößert. Damit ergibt sich bei der von innen nach außen verlaufenden Aufzeichnung (wie anfangs üblich) eine zunehmende Verzögerung des Primärsignals, die ein größeres Klangvolumen bewirkt, bis zu einem Echoeffekt. Eine Entdekkung, die damit 15 Jahre vor der bisher ersten Information durch Küchenmeister über einen derartigen — und daher auch nach diesem benannten Effekt — liegt: Die Geburt der Pseudo-Stereofonie, wie sie immer wieder in vielen Varianten und auch andere Anwendungen genutzt wird. Erst 1953 wurde von Haas das Phänomen des nach ihm benannten Haaseffekt vollständig geklärt. Die weitere Entwicklungsgeschichte der Schallplatte wird ab 1923 durch den Rundfunk stark gefördert (Güttinger 1941). Die Verwendung von Synchronmotoren (Sja) mit 78 U/min. für Folien- und Wachsschneidgeräte und schweren motorischen Präzisions-

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Abspielgeräten (PAG), für Studio- und mobilen Einsatz, auch Doppelanlagen für kontinuierliche Aufzeichnungen, sowie zunächst magnetische Tonabnehmer nach Patenten des Amerikaners Kellogg usw., sicherten dem Rundfunk ab etwa 1926 die notwendige Programmkapazität. Bis dahin lebte man von Originalprogrammen oder stellte das Grammophon mit seinem Trichter vor das Kohlemikrofon. Der damals erreichte Frequenzgang wird bei Wachsaufnahmen mit 40 Hz bis 6 kHz angegeben; unter 250 Hz wurde der beim Schnitt bedingte Tiefenabfall durch eine elektrische Entzerrung ausgeglichen (eine Norm dafür gab es erst 1943). Bei direkter Wachswiedergabe wurde ein Störabstand von 52 dB erreicht; bei gepreßten Schwarzplatten dagegen lediglich 35 bis 40 dB, bei Tonfolien (Decelith ohne Trägermaterial) 42 dB (Effektivwert, ohne gehörrichtige Bewertung). Mit Bezug des Funkhauses Berlin-Masurenallee (1931) wurden ausreichend Wachsmaschinen (R 20 von G. Neumann) aufgestellt, die bis etwa 1948 in Betrieb waren. Wachsplatten waren ca. 3 cm dick; bei einer Aufnahmekapazität von ca. 4,5 min. wogen sie etwa 4 kg. Vor der Aufnahme wurden sie in speziellen Wärmeschränken gelagert; die Schallplattenfirmen benutzten sogar geheizte Stichel. Bespielte, aber nicht mehr benötigte Wachse wurden blank abgedreht. Das Auflagegewicht der dann dynamischen Abtaster (R 5, G. Neumann) betrug ca. 30 Gramm, später wurde der legendäre Telefunken-Tonabnehmer TO 1001 mit Saphir-Dauernadel und geringerem Auflagedruck (ca. 25 g) eingesetzt. Die Zahl der Abspielungen war auf etwa 10 begrenzt. Es war daher nicht verwunderlich, daß der Rundfunk auch nach anderen Aufzeichnungsmethoden Ausschau hielt, bis 1936 das Magnetbandverfahren in das Funkhaus (Berlin) einziehen konnte. Eine Idee der dreißiger Jahre von Dr. Schieber, Berlin, zur Verbesserung der Qualität Musterplatten auf Polyvinylchloridbasis herzustellen, fand allerdings keine Beachtung: Die Platten waren fast unzerbrechlich und hatten ein geringeres Grundrauschen als die Schellackplatten; aber sie waren etwas teurer. Erst als die gleiche Idee 1948 durch Goldmark bei Columbia in Form der modernen Langspielplatte (Mikrorillen und 20 min Spieldauer) präsentiert wurde, setzte sich PVC kommerziell durch. Daneben wurden auch die Aufzeichnungs- und Wiedergabemittel für die Schallplatte verbessert (Bergtold

1954; Homuth 1984; Hinz 1993), so daß wieder Rundfunksendungen damit bestritten werden konnten. Darüber hinaus gelang es auch auf der Basis des Patents des Engländers Blumlein (1931) mittels kombinierter Tiefen- und Seitenschrift zwei korrelierte Stereo-Informationen in der Platte zu speichern — die kommerzielle Einführung erfolgte ab 1956; doch erst August 1963 konnte der dann in Berlin (gleichzeitig in beiden Teilen) beginnende Stereo-Rundfunk auch diese Platten- bzw. Stereo-Bandaufnahmen zur Sendung bringen. Die Suche nach Erweiterung des Störabstandes, der Speicherdichte und des Frequenzbereiches zur Aufzeichnung von Videosignalen, nach Vereinfachung der Handhabung usw. führte zunächst zur Entwicklung von Dichtspeicherplatten mit Druckabtastung (Dickopp, Klemp et al., 1970), auch zu Videoplatten mit kapazitiver Abtastung (Selectavision, 1975). Durchsetzen konnte sich aber nur die optische Abtastung mit Lasern nach dem Reflexionsprinzip (1972). Bei der Audiotechnik dauerte es dann nach Überwindung der Anfangskrankheiten der Digitaltechnik bis 1979, dann konnte der Prototyp der Compact Disc (CD), 12 cm 0 , von Philips/Sony vorgestellt werden. Marktreif 1982 eingeführt, hat die CD dann innerhalb von ca. 15 Jahren nahezu völlig nach über 100jähriger Tradition die historische Schallplatte abgelöst. Bei der CD erfolgt die Speicherung der Signalinformation als binär strukturierter Code. Die bei der Digitalisierung des Audiosignals erhaltene Folge von 1/0-Impulsen wird auf einer 1,2 mm dicken Kunststoffscheibe in Form einer spiralig von innen nach außen laufenden Spur in mikroskopisch kleinen Vertiefungen, den sogenannten Pits (0,12 μιη tief; 0,6 μιη breit, Länge zwischen 0,9 und 3,3 μιη) gespeichert. Diese Seite ist mit einem Schutzlack versiegelt. Auf der Rückseite ist die Platte mit einem lichtreflektierenden Aluminiumspiegel beschichtet. Ein Laser liest die gespeicherten Informationen von unten durch den transparenten Träger hindurch. Je nach dem, ob der Laserstrahl von einem Pit oder direkt von der Spiegeloberfläche reflektiert wird, benötigt das zurücklaufende Lichtbündel unterschiedliche Laufzeiten, die als Intensitätsmodulation von einem Fotodetektor in ein äquivalentes elektrisches Signal umgesetzt werden (Zander 1987). Die Laufzeit der CD beträgt ca.

123. Produktionsmethoden im Wandel der technischen Entwicklung

74 min. für zweikanalige Stereosignale. In Verbindung mit 16-bit-Abtastrate und Abtastfrequenz 44,1 kHz erreicht man einen Störabstand von ca. 84 dB (gehörrichtig bewertet); Frequenzgang 20 Hz bis 20 kHz. Damit war anfangs die Qualität im Rundfunk und im Heim gleichwertig. Inzwischen ist die professionelle Qualität in der Studiotechnik im Rundfunk durch den Einsatz von 20-bitbzw. 24-bit-Wandlern (in der Regie- und Magnetband-Speichertechnik) um mehrere Größenordnungen gesteigert worden und erlaubt damit beliebige Nach- und Bearbeitungsprozesse und Langzeit-Archivierung. Vorteilhaft bei der optischen Speicherung auf CD ist die berührungsfreie und zerstörungsfreie Abtastung, der sofortige Zugriff zu jeder gewünschten Programmsequenz sowie die einfache Handhabung. 1995/96 konnte die Speicherkapazität der optischen Träger durch Mehrschichtanordnungen, Einsatz von Lasern im Rotbereich (635 nm Wellenlänge), verbesserte optische Systeme usw. zu einer hochdichten Version bis zu 4,7 Gbyte Fassungsvermögen gesteigert werden, so daß datenreduzierte Videound Audiosignale mit längerer Laufzeit (für Spielfilmdauer mit ca. 135 min.) möglich sind (Digital Versatile Disc = DVD). Inzwischen sind Speichermengen bis 18 Gbyte realisierbar. Für die reine Audioseite ist eine DVDAudio mit linearer PCM-Aufzeichnung, 6- bis 8-kanalig, in Vorbereitung, so daß damit Speicherung von Mehrkanal-SurroundSound (Formate 3/2 und 5/2/1) ohne Datenreduktion möglich wird (max. Datenstrom ca. 6,4 MBit/s). 2.4.2. Magnetton Bei der magnetischen Tonsignalaufzeichnung wird die Zeitabhängigkeit der Amplitude des aufzuzeichnenden Signals durch eine Wegabhängigkeit der Magnetisierungsstärke ersetzt. Aufzeichnungsträger ist ein magnetisierbarer Körper, z. B. Magnetscheibe, Magnetdraht, Magnetband, Magnetkarte usw. 1878 hatte Oberlin Smith als erster eine präzise Vorstellung zur Nutzung des Elektromagnetismus für die Tonaufzeichnung formuliert, kurz nachdem er Edisons Phonographen kennengelernt und damit experimentiert hatte, konnte aber kein funktionsfähiges Modell für sein Konzept entwickeln. Seine Ideen über eine Veränderung des „magnetischen" Profils eines Trägers, d. h. „Aufzeichnung durch trägheits- wie massefreie Zustandsänderung des Magnetflusses längs des Trägers durch ein Magnetfeld" (mittels Ma-

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gnetisierungsspule, später wurde der 'Tonkopf' daraus), zuvor in Memoranden und Patentanmeldung hinterlegt, wurden erst 1888 veröffentlicht. Als Träger stellte er sich in Baumwollfaden eingewobene Stahldrahtstücke vor (Engel 1990). Offensichtlich unabhängig davon baute 1898 der Däne Valdemar Poulsen ein erstes funktionsfähiges Magnettongerät auf, mit Stahldrahtträger von 1 mm 0 , der bei 100 m Länge eine Laufdauer von 50s ermöglichte, das er 1900 auf der Pariser Weltausstellung vorstellte - das „Telegraphon". Eine erste Verwertung dieser Idee erfolgte in Berlin (Mix & Genest), wobei als Träger ein dünnes, 3 mm breites Stahlband benutzt wurde, das eine Spieldauer von ca. 18 min. erlaubte. Für eine umfassende Nutzung fehlten seinerzeit noch die erforderlichen Verstärkereinrichtungen, auch in den USA scheiterte die erwartete kommerzielle Verwertung, obwohl dort bereits 1920 der Vorteil einer HF-Vormagnetisierung von Carlson und Carpenter erkannt, jedoch nicht genutzt wurde. C. Stille konnte 1921 nach langem Vorlauf erreichen, daß die Vox A G in Berlin (in dem ersten Berliner Funkhaus) neben der Schallplattenfertigung auch mit der Produktion von Diktiergeräten auf Magnettonbasis begann. 1929 entwickelte Stille dann ein Magnetfilmgerät mit 6 mm breitem perforiertem Stahlband. Nach diesen Ideen folgten Draht-Diktiergeräte Ende der zwanziger Jahre (bei den Firmen Schuchardt sowie Lorenz in Berlin) bis etwa 1939, darunter auch für Sprach- und Musikaufnahmen für den schweizer und deutschen Rundfunk. Die entscheidende Idee kam von F. Pfleumer in Dresden, der am 31. 1. 1928 das Patent für ein Magnetbandgerät erhielt, dem „Lautschriftträger". Kurz davor gab es zwar ähnliche Ideen, die aber nicht praxiswirksam wurden (Nasarischwily, Berlin und O'Neill, USA). 1932 war die Pfleumer'sche Lösung so weit ausgereift, daß sie von der A E G in Berlin-Oberschöneweide übernommen und in die Fertigung übergeleitet wurde, nachdem die IG Farben in Ludwigshafen die Entwicklung von Magnetbändern gestartet hatte. Wegen häufiger Bandrisse infolge nur eines verwendeten Bandmotors wurde der 1934 fertiggestellte Prototyp (bereits mit Ringköpfen von E. Schüller) erst nach Weiterentwicklung mit 3 Motoren 1935 auf der Berliner Funkausstellung gezeigt — dann aber als große Sensation. Zunächst für Sprachaufnahmen vorgesehen, begann die Fertigung (Modell Κ 2) 1936. Auch ein erstes federwerkgetriebenes Laufwerk für Reportagezwecke entstand zu

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dieser Zeit. Der erfolgreiche Start führte 1938 zum Einsatz des nachfolgenden Κ 4-Gerätes in den Rundfunkstudios. Inzwischen waren Frequenzgang und Störabstand aufgrund der weiterentwickelten, 6,5 mm breiten Magnetbänder mit Eisenoxyd (Fe 2 0 3 ) verbessert worden und es entstanden auch handlichere batteriegetriebene Koffergeräte (R 23) als Tornisterausführung. Nicht verwunderlich, daß das Militär sich dieser Entwicklung bemächtigte und im Krieg als „Tonschreiber Dora" einsetzte. Eine „Berta"-Ausführung enthielt bereits einen drehbaren Hörkopf mit 4 Magnetkopfsystemen, so daß die Wiedergabezeit ohne Tonhöhenänderung verlängert oder verkürzt werden konnte. Infolge der bis dahin verwendeten Gleichstrom-Vormagnetisierung nach Poulsen waren der Störabstand auf 40 dB und der Frequenzgang bis 5 kHz beschränkt; der Klirrfaktor erreichte ca. 10 Prozent. Durch die nochmalige, aber unabhängige Erfindung der HF-Vormagnetisierung durch W. Weber mit H. J. v. Braunmühl im Berliner Funkhaus, 1940, wurde ein Qualitätssprung auf 60 dB Störabstand (unbewertet) und Senkung des Klirrfaktors auf ca. 2 Prozent möglich. Nach einer Vorführung 1941 übernahm auch Telefunken das HF„Magnetophon"; beim Film wurde es ab 1943 eingesetzt. In jenem Jahr wurde auch eine Stereo-Ausführung hergestellt, da der Rundfunk bereits mit Stereoaufnahmen experimentierte. In den Jahren 1943/44 konnten etwa 250 bis 300 Zweikanal-Stereo-Aufzeichnungen in Berlin und Bayreuth produziert werden (Dr. H. Schiesser, Dr. L. Heck und H. Krüger; mit einem Frequenzgang bis 10 kHz). Nach der Besetzung des Berliner Funkhauses durch die russische Armee (1945) wurden diese Tonbänder in Moskauer Staatsarchive verbracht (etwa 1947/48); dort wurden 1991 durch einen Musikredakteur des SFB drei Bänder aufgefunden und zurückgebracht. Zwei weitere Aufzeichnungen hatte Toningenieur H. Krüger aufbewahrt; somit sind insgesamt nur fünf Aufnahmen aus dieser Zeit erhalten. Drei davon wurden vom SFB und der AES 1993, anläßlich des 50. Jahrestages von Stereo-Tonbandaufnahmen und der 94. AES-Convention in Berlin, als CD herausgegeben. 1943 entstand ein weiteres Reportagegerät R 26 mit 18 cm/s Bandgeschwindigkeit; bei den Studiogeräten betrug sie 77 cm/s (Thiele 1993). Die Weiterentwicklung konnte erst nach 1945 wieder aufgenommen werden — nach schwierigen Anfangsjahren begann dann der Siegeszug der Magnettontechnik und die wei-

tere Qualitätssteigerung, zunächst in einkanaligen Ausführungen, dann ab 1960 auch zweikanalig. Ende der sechziger Jahre wurden dann mit 2-Zoll-breiten Magnetbändern vier- und achtspurige Ausführungen für die Effektmusikproduktion fortgesetzt, die bis 16 bzw. 32 Spuren üblich wurde, aber schon Anfang der achtziger Jahre durch Digitalmagnetbandgeräte ergänzt wurden. Die noch heute üblichen Bandgeschwindigkeiten bei den Analoggeräten, inzwischen auf Zollbasis, sind 76,2 cm/s bis herab zu 4,76 cm/s (bei Kassettengeräten). Um die Störabstände der analogen Magnetbandgeräte (max. ca. 65 dB) zu erhöhen, wurden seit 1966 Systeme zur Rauschverminderung eingesetzt. Durch geeignete Kompression bei der Aufzeichnung und Expansion bei der Wiedergabe lassen sich bis ca. 20 dB Gewinn erzielen, insbesondere mit den Kompandersystemen nach Dolby (Dolby A im Studio, Dolby Β und C bei Reportage-Kassettengeräten) oder Telcom/ANT. In den achtziger Jahren begannen die Schallplattenbetriebe, digitale Magnetbandgeräte zur Aufzeichnung von Videosignalen (im Fernsehjargon mit „MAZ" bezeichnet), auch für die Tonaufzeichnung zu nutzen. Audiosignale reagieren empfindlicher auf Staub, Kratzer u. a. und benötigen andere Fehlersysteme; es wurden daher spezifische Entwicklungen begonnen. Da bereits für Videosehsignale mit kurzer Wellenlänge eine höhere Relativgeschwindigkeit zwischen Band und Kopf erforderlich wurde und dafür rotierende Kopfsysteme Verwendung fanden, übernahm man diese Lösung zunächst auch für transportable Geräte für Reportagezwecke (R-DAT), was noch heute bei einfachen Studiogeräten und Heimgeräten üblich ist (Zander 1987; Maruhn 1984). Später gelang es auch, Geräte mit stationären Köpfen (S-DAT) und üblicher Bandgeschwindigkeit (ζ. B. 38,1 cm/s) zu entwickeln, wobei für die Signalinformation und zum besseren Fehlerschutz durch höhere Redundanz eine spezielle Mehrspurtechnik (das sog. DASH-Format) notwendig wurde. Vorteilhaft bei der digitalen Magnetbandtechnik, die sich heute gegenüber der analogen in vielen Bereichen des Rundfunks durchgesetzt hat, ist die hohe Frequenzlinearität, der optimale Störabstand entsprechend den eingesetzten A/D-D/AWandlern, geringste nichtlineare Verzerrungen, die Unempfmdlichkeit des Bandes gegenüber Kopiereffekt und Gleichlaufschwankungen usw. Für die Editierung sind allerdings - aus der Erfahrung mit dem PC abge-

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124. Vom Kristalldetektor zum Superhet

leitete — spezielle Hard-Disc-Schnitteinrichtungen erforderlich, die durch zunehmende Speicherkapazität sogar als Mehrspurgeräte einsetzbar sind (Zander 1993). Damit hat gleichermaßen die generelle Ablösung des Magnetbandes durch Hard-Disc-Systeme und optische Speicher (DVD-R) zur Speicherung großer Datenmengen begonnen. 3.

Literatur

Bergtold, Fritz, München 1954.

Moderne

Schallplattentechnik.

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Gerhard Steinke, Berlin

(Deutschland)

124. Vom Kristalldetektor zum Superhet Beim Beginn der regelmäßigen Ausstrahlung von Rundfunksendungen in Deutschland am 29. Oktober 1923 aus dem Vox-Haus in Berlin war kein einziger Rundfunkteilnehmer bei der Deutschen Reichspost angemeldet. Erst wenige Tage vor dem improvisierten Sendestart waren entsprechende Bestimmungen zur Regelung des Funkverkehrs erlassen worden, die sich wegen der kurzen Frist noch nicht hatten auswirken können. Doch es gab natürlich bereits Radiohörer, die — aus Kostengründen — vorwiegend selbst bastelten, und es gab — in bescheidenen Anfängen — schon eine Radioindustrie und einen Radiohandel, die die Bastler mit dem notwendigen Zubehör versorgten. Denn immerhin waren auch

schon vor dem 29. Oktober 1923 im Deutschen Reich Rundfunksendungen zu empfangen gewesen - beispielsweise aus dem europäischen Ausland, aus Großbritannien, Frankreich und der Schweiz. Am 20. September 1923 erteilte die Deutsche Reichspost der Reichstelegraphenverwaltung den Auftrag, aus Laboratoriumsbeständen einen Sender nebst Studio im Dachgeschoß des Vox-Hauses einzubauen. Eine Verfügung des Reichspostministers regelte am 24. Oktober 1923 die Errichtung und den Betrieb von Empfangsanlagen. Aus Angst vor Mißbrauch von Rundfunkgeräten durch ihre Besitzer sollte eine Genehmigung zur Inbetriebnahme nur für solche Geräte erteilt

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werden, die von der Reichstelegraphenverwaltung geprüft und mit dem Stempel 'RTV' versehen waren. Nur mit amtlicher Erlaubnis durften Produktion und Vertrieb von Radiogeräten durch Industrie und Handel erfolgen. Das Selbstbasteln war verboten und zur Inbetriebnahme eines Geräts mußte beim zuständigen Postamt eine Genehmigung beantragt werden. Doch trotz dieser Restriktionen breitete sich der Rundfunk — nach einer anfanglichen Stagnationsphase — überraschend schnell in Deutschland aus. Nach dem Sendestart ohne zahlende Hörer gab es Ende November erst 467 und am Ende des Jahres 1 580 Teilnehmer, was bei einer Jahresgebühr von — inflationsbereinigt — RM 60,— nicht verwunderlich war. Trotz des Verbots aber wurde weiterhin gebastelt und das Gebot, in Betrieb genommene Empfangsanlagen anzumelden, mißachtet. Erst weitere gesetzliche Maßnahmen schufen die Grundlage für den Durchbruch. Die am 8. März 1924 vom Reichspräsidenten erlassene 'Verordnung zum Schutze des Funkverkehrs' hielt an den Zulassungsvorschriften fest und drohte darüber hinaus Schwarzhörern Gefängnisstrafen an. Sie ermöglichte aber den bisher illegalen Hörern, binnen vier Wochen ihre Empfangsanlagen legalisieren zu lassen. In einer Verfügung vom 14. Mai 1924 lockerte die Reichspost das bisherige Verbot des Selbstbaus von Empfangsgerät: Der Bastler mußte nur noch seine funktechnische Vorbildung vor einem Ausschuß in einer Prüfung unter Beweis stellen. Am gleichen Tag reduzierte die Fernmeldeverwaltung rückwirkend ab 1. April 1924 die Rundfunkgebühr auf monatlich R M 2, —. Im September 1925 schließlich fielen alle bisherigen einschränkenden Maßnahmen, so daß Industrie und Handel fortan auf einem liberalisierten Markt tätig sein konnten und die Bastler sich keiner Prüfung mehr unterziehen mußten. Die Verkündigung einer Amnestie und die Gebührensenkung im Mai 1924 hatten einen raschen Anstieg der Teilnehmerzahl zur Folge. Lag die Zunahme im März 1924 nur bei etwas mehr als 2 500 und im Mai bei knapp 11 000 Teilnehmern, so konnte im Juni eine Steigerung von mehr als 70 000 verzeichnet werden. Im Juli wurde die 100000. und im Oktober die 300000. Anmeldung registriert. Ende 1924 hatten bereits über eine halbe Million Deutsche ihr Radiogerät angemeldet und bis Ende des folgenden Jahres verdoppelte sich deren Zahl auf über eine Million. Eine weitere Verdoppelung auf mehr als zwei Millionen Rundfunkteilnehmer war

Ende 1927 zu registrieren. Rundfunk-Kommissar Hans Bredow zog Anfang 1928 Bilanz. Es werde schwer fallen, „in der Entwicklung der Verkehrsgeschichte ein Beispiel mit nur annähernd demselben Entwicklungsgang zu finden". Über vier Millionen lautete die Zahl Ende 1932, was einem Potential von zehn bis elf Millionen Radiohörern entsprach, wie die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft errechnete, bzw. ein Sättigungsgrad von — bezogen auf die privaten Haushalte — rund 23 Prozent. Zwischen 350000 und 630 000 pro Jahr betrugen die Zuwachszahlen im ersten Rundfunkjahrzehnt in Deutschland; sie schwächten sich vor allem in den Jahren der Weltwirtschaftskrise seit 1929 ab. Mit rund 2 800 verurteilten Schwarzhörern wurde 1927 die höchste Zahl erreicht, in den übrigen Jahren lag sie knapp unter jeweils 1000. Geldstrafen bis zu 3 0 0 , - RM und Gefängnisstrafen bis zu zehn Tagen wurden verhängt und die Empfangsgeräte zugunsten von Blindenheimen bzw. zugunsten des Landes eingezogen, in dem das Urteil ergangen war. Der enorme Zuwachs an Teilnehmerzahlen war allerdings nicht allein auf die Freigabe des Handels und des Empfangs zurückzuführen. Auch die Vermehrung der Rundfunksender und damit die Verbesserung der Empfangsbedingungen trugen ihren Teil dazu bei. Hinzu kam eine Ausweitung der Programmangebote, die das in den zwanziger Jahren neue Medium zunehmend attraktiver erschienen ließ. Nach 1933 ging die Expansion der Rundfunkverbreitung ungebrochen weiter, ja er beschleunigte sich in bisher nicht bekanntem Ausmaß: Zuwachsraten von mehr als einer Million neu angemeldeter Rundfunkteilnehmer wurden zur Regel. Anfang 1939 wurde die Zehn-Millionen-Marke überschritten, 1943 mit 16 Millionen registrierten Rundfunkteilnehmern die Höchstzahl für das (Groß-)Deutsche Reich erreicht. Damit stand in jedem zweiten Haushalt ein Radiogerät. Seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre waren zwar kaum noch neue Sender in Betrieb gegangen — die entscheidende Expansion hatte es zwischen 1929 und 1934 gegeben, als die Gesamtleistung aller Sender von 75 kW auf 930 kW bzw. pro Sender von 2,8 kW auf 38,8 kW anstieg - , doch der Volksempfänger sorgte ab 1933 für eine Verdoppelung der durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten im Vergleich zu den Jahren davor. Dieses preisgünstige Empfangsgerät nahm nicht, wie zuvor befürchtet, den bisherigen teueren Geräten die Käufer weg, son-

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125. Kunstkopf-Stereophonie

dern führte dem Rundfunk überproportional neue Interessenten zu. In diesem Zusammenhang wurde von einem Zusatzgeschäft für Industrie und Handel gesprochen. In den Anfangsjahren konzentrierte sich die Radiogemeinde hauptsächlich in den großen Städten, in denen zunächst Rundfunksender — wenn auch erst mit einer schwachen Senderleistung — errichtet worden waren: Außer in Berlin gingen Sender in Leipzig, München, Frankfurt am Main, Hamburg, Stuttgart, Breslau, Königsberg und Münster/Westfalen in Betrieb. Auch Nebensender — 1924 beispielsweise in Nürnberg, Bremen, Kassel und Dresden in Betrieb gegangen — erschlossen dem Rundfunk weitere Interessenten. Die Jahre 1924 und 1925 beherrschte als Empfangsgerät der Detektor, die jeweils etwa zur Hälfte gebastelt bzw. gekauft wurden. Hauptgrund für den Selbstbau waren die Kosten für die Anschaffung eines fabrikmäßig hergestellten Geräts, das außerdem noch nicht einmal qualitativ mit den sorgfaltiger hergestellten Geräten der Bastler mithalten konnte. Außerdem setzte der Zusammenbau der Einzelteile anhand der Schaltpläne kaum technisches Wissen voraus. 1924 kostete ein Detektorempfänger einschließlich zweier Kopfhörer zwischen 25,— und 30,— RM, für ein industriell gefertigtes Röhrengerät mußte etwa das zehnfache aufgewendet werden. In den Jahren danach aber sanken wegen des Anlaufens der Serienproduktion die Preise: So wurden Einröhrengeräte schon für 130,— RM angeboten. In den sogenannten Detektorkreisen — fünf bis zehn Kilometer im Umkreis um die einzelnen Sender konnten 1927 zwar nur knapp 1,4

Prozent der Boden fläche des Deutschen Reiches mit Rundfunksendungen versorgt, in denen aber immerhin mehr als 31 Prozent der Einwohnerschaft lebte. Ab 1926 setzte sich der Röhren-Empfänger immer mehr durch, der bereits einen Anteil von 75 Prozent der neu angemeldeten Geräte erreichte, wovon ein knappes Fünftel aber immer noch auf die Bastler entfiel. Der Detektorapparat war schließlich 1930 vollständig verdrängt - der Superhet hatte sich durchgesetzt.

Literatur Führer, Karl Christian, Wirtschaftsgeschichte des Rundfunks in der Weimarer Republik. Potsdam 1997. Goebel, Gerhart, Der Deutsche Rundfunk bis zum Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplans. In: Archiv für das Post- und Fernmeldewesen Jg. 2, 1950, 6, 353-454. Lenk, Carsten, Die Erscheinung des Rundfunks. Einführung und Nutzung eines neuen Mediums. Opladen 1997. Leonhard, Joachim-Felix (Hrsg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik. 2 Bde. München 1997. Schultheis, Stefan Karl, Die Diffusion und Adoption von Hörfunk- und Fernsehempfangsgeräten im Bereich der privaten Haushalte. Diss. Frankfurt a. M. 1992. Vollmann, Heinz, Rechtlich-wirtschaftlich-soziologische Grundlagen der deutschen Rundfunkentwicklung. Eine umfassende Darstellung aller die Rundfunkeinheit betreffenden Probleme in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Borna 1936.

Ansgar Diller, Frankfurt a. M.

(Deutschland)

125. Kunstkopf-Stereophonie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Einleitung Geschichte der Kunstköpfe Erste Anwendung im Rundfunk Mängel der ersten Kunstkopfgeneration Verbesserung der Kunstkopftechnik Kompatible Kopfhörer- und Lautsprecherwiedergabe Schlußbetrachtung Literatur

1.

Einleitung

Seit der Erfindung der Tonaufzeichnung auf Schallplatte und Magnetband und der Über-

tragung durch den Rundfunk gab es immer das Bemühen eine möglichst naturgetreue Übermittlung von Klangbildern zu erzielen. Das heißt, auch der Hörer in seinem Wohnzimmer sollte den gleichen Klangeindruck haben, wie wenn er im Konzertsaal oder im Aufnahmestudio anwesend wäre. Der Rundfunk hat in dieser Hinsicht mehrere Entwicklungsstufen durchlaufen. Zunächst wurden die Rundfunkempfangsgeräte ständig verbessert, um eine „HiFi" Klangwiedergabe zu bieten. Dies lohnte besonders nachdem 1949 die Frequenzmodulation im neu erschlossenen

1378

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

UKW-Band eingeführt wurde. Einen wichtigen Schritt in Richtung Raumklang löste die Schallplattenindustrie aus, welche Ende der fünfziger Jahre begonnen hatte Stereoplatten auf den Markt zu bringen. Der Rundfunk wollte seinen Hörern die gleiche Qualität bieten und realisierte eine zweikanalige Übertragung ab 1963 mit dem als europäische Norm empfohlenen Pilottonverfahren. Immerhin bot die Zweikanal-Stereophonie eine Richtungsinformation zwischen den im Wohnzimmer aufgestellten beiden Lautsprechern. Die für einen natürlichen Raumklang notwendige oben/unten-Ortung fehlte allerdings. Dennoch wirkte die zweikanalige Stereophonie gewissermaßen transparenter als die Monodarbietung. Ende der sechziger Jahre kam man vornehmlich in Japan und in den USA auf den Gedanken die Zahl der Übertragungskanäle für die Stereophonie auf vier zu erweitern. Mit diesem 'Quadrophonie' genannten Verfahren sollte die Hörsamkeit eines Aufnahmeraums besser aufgenommen, gespeichert und übertragen werden. Es wurde ein 'Neues Hörvergnügen' und die 'Rundum-Musik' propagiert. Mit erheblichem Aufwand an weltweiten Forschungen und Investitionen ging man daran, die Quadrophonie bekannt zu machen. Für die hochfrequenztechnische Übertragung der vier Kanäle wurde ein neuer Standard erarbeitet. Genau zu dieser Zeit wurde man bei den Rundfunkanstalten der A R D auf die Kunstkopftechnik aufmerksam. Diese bisher nur in der wissenschaftlichen Akustik bekannte Technik war in der Lage, ein komplettes Abbild aller Richtungs- und Entfernungsinformationen sowie aller weiteren Eigenschaften des Schallfeldes zu liefern. Zwar ist es mit dem Quadrophonie-Verfahren möglich, Schallquellen aus der gesamten Horizontalebene mehr oder weniger genau zu übertragen; jedoch reichen 4 Lautsprecher und 4 Übertragungskanäle bei weitem nicht aus um ζ. B. das Schallfeld an einem Platz im Konzertsaal originalgetreu wiederzugeben. Mit dem Kunstkopf-Verfahren erreicht man mit wesentlich geringerem Aufwand eine nahezu perfekte Übereinstimmung zwischen den Hörereignissen im Aufnahmeraum und der Wiedergabe über Kopfhörer. Die Grundidee der Kunstkopf-Aufnahmetechnik ist es, in einem dem menschlichen Kopf nachgebildeten Modell die Trommelfelle durch zwei Mikrofone zu ersetzen. Schallwellen, die auf das künstliche Modell treffen, werden wie beim Menschen am nachgebildeten Kopf und

an den Ohrmuscheln gebeugt und reflektiert. Sie durchlaufen dann die gleiche Übertragungskette auf dem Weg durch das Außenohr und den Ohrkanal, wie wenn sie einen natürlichen Hörer erreichen. Da der Mensch mit seinen beiden Ohren die Klangfarbe, die Richtungen (links, rechts, vorn, hinten, oben, unten) und Entfernungen (wenige Zentimeter und bis zu 100 m oder mehr) erfassen kann, sollte der Kunstkopf bei der Reproduktion der Ohrsignale über Kopfhörer die gleichen Hörereignisse liefern.

2.

Geschichte der Kunstköpfe

Kunstköpfe waren in der wissenschaftlichen Forschung schon längere Zeit in Gebrauch. Sie waren als Hilfsmittel für akustische Messungen entwickelt worden. Sie wurden eingesetzt um das Richtungshörvermögen des menschlichen Ohres in der horizontalen Ebene und vor allem in der Scheitelebene zu untersuchen. Später wurden mit den Kunstköpfen auch komplexe Messungen durchgeführt. So wurden mit ihnen ζ. B. charakteristische Eigenschaften von Konzertsälen verglichen und analysiert. Die Nachbildung des menschlichen Kopfes hat im Englischen die Bezeichnung artificial head, dummy head oder manikin. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich für die binaurale (auf zwei Ohren bezogene Technik) die Bezeichnung Kunstkopftechnik oder kopfbezogene Technik durchgesetzt. Die kopfbezogene Aufnahme und Wiedergabe ist eine Alternative zu den raumbezogenen Verfahren, in denen die Schallsignale mit einem oder mehreren Mikrofonen aufgenommen und über verschiedene Lautsprecheranordnungen abgespielt werden (Abb. 125.1). Prinzipiell muß man unterscheiden zwischen einer kopfbezogenen Aufnahme und einer Wiedergabe über Kopfhörer oder über Lautsprecher, sowie einer raumbezogenen Aufnahme und einer Wiedergabe über Lautsprecher oder Kopfhörer (Abb. 125.2). Die raumbezogenen Verfahren finden nach wie vor weite Anwendung und werden immer wieder verfeinert. Die Quadrophonie konnte sich zwar nicht durchsetzen, aber Verfahren wie Dolby-Stereo und Dolby-Surround werden heute viel diskutiert und auch angewendet z. B. im Fernsehen, beim Film. Allerdings ist mit ihnen ein „true-to-original play-back" im Sinne einer authentischen Wiedergabe einer Klangsituation von Natur aus nicht zu realisieren.

1379

125. Kunstkopf-Stereophonie

-^ι ζ

λk

0

0

Ä

A

Monophonie

Ρ



- o Raumbezogene IntensitätsStereophonie

Raumbezogene LaufzeitStereophonie

Kopfbezogene Stereophonie

Abb. 125.1: Systematik räum- und kopfbezogener Übertragungsverfahren.

Γ*7 Lautsprecherwiedergabe

Abb. 125.2: Zur Kompatibilität zwischen Aufnahme- und Wiedergabeseite.

Der Gedanke, welcher der Kunstkopf-Stereophonie zu Grande liegt, hat eine lange Geschichte. Schon 1886 sind in den Bell Laboratorien Experimente mit einem künstlichen Kopf durchgeführt worden. Weitere Versuche zur Erforschung des Richtungshörens mit einem „man sized dummy" sind von Anfang der dreißiger Jahre aus den USA bekannt (Firestone 1930). 1939 entwickelte man in den niederländischen Philips Laboratorien einen Kunstkopf (Boer de 1939/1940), um Schwerhörigen eine Unterstützung zu geben. Er sollte auch eine „plastische" Klangwiedergabe verwirklichen und er ist auch für elektroakustische Übertragungen genutzt worden. In der Literatur tauchen in den folgenden Jahren immer wieder Beschreibungen

von Experimenten mit künstlichen Köpfen auf. Allerdings führten alle diese Modelle nie zu einem brauchbaren elektroakustischen Aufnahme-System. Das lag einmal daran, daß die Kenntnisse des menschlichen Hörmechanismus unvollkommener als heute waren. Zum anderen gab es auch noch nicht die Gerätetechnik für eine hohe Übertragungsgüte. Für die weitere Entwicklung der kopfbezogenen Stereophonie ist jedoch eine hohe Übertragungsgüte eine wichtige Voraussetzung. In der raumakustischen Forschung kam man in den sechziger Jahren zu der Erkenntnis, daß die akustische Eignung eines Konzertsaales oder Theaters für Sprach- und Musikdarbietungen nur durch vergleichende Gütebeurteilungen zu gewinnen war. Diese Beurteilungen waren jedoch ziemlich unsicher, da zwischen den Vergleichen häufig lange Zeiten lagen und auch die Stücke und Interpreten nur in seltenen Fällen die gleichen waren. Man suchte daher nach einem Mittel, die Höreindrücke, die ein Zuhörer an einem bestimmten Platz empfindet, zu speichern um sie später beliebig reproduzieren zu können. Diesem wissenschaftlichen Thema widmeten sich im gleichen Zeitraum zwei Gruppen von Wissenschaftlern, die am III. Physikalischen Institut der Universität Göttingen und am Heinrich-Hertz-Institut in Berlin. Die Ergebnisse dieser Forschungen lagen etwa zur gleichen Zeit vor und empfahlen die Verwendung von Kunstköpfen für die raumakustische Forschung (Abb. 125.3 und 125.4).

1380

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

als Modell KU 80 gebaut wurde. In der Zwischenzeit wurde dieses System mehrmals verbessert. 1975 wurde auf der Basis der Arbeiten von Burkhard und Sachs in den USA der K E M A R Kunstkopf entwickelt. Er fand besonders Anwendung bei der Messung und Entwicklung von Hörhilfen. Die Firma Brüel & Kjaer stellte 1985 ebenfalls einen Kunstkopf auf den geometrischen Daten von Burkhard und Sachs her: den Head and Torso Simulator (HATS).

3.

tingen.

1969 gelang es Kürer, Plenge und Wilkens in Berlin, aufbauend auf Erfahrungen, die man mit Kopfmodellen in Göttingen und Berlin gemacht hatte, einen Kunstkopf zu entwickeln, bei dem keine Im-Kopf-Lokalisation auftrat, bei dem Vorn-Hinten-Unterscheidung möglich war, der die Entfernung und den Halligkeitseindruck korrekt wiedergab und eine gute Ubereinstimmung mit dem Originalschallfeld zeigte. Die Maße dieses Kunstkopfes führten zum ersten professionell verwendeten Kunstkopfmodell, das von der Firma Georg Neumann

Erste Anwendung im R u n d f u n k

Das Labormodell des Berliner Kunstkopfes wurde auch den dortigen Rundfunkanstalten vorgestellt. Die räumliche Wiedergabe von Probeaufnahmen mit diesem Modell übertraf zunächst alle bisherigen Erfahrungen mit der Realisierung eines Raumklanges. Auch die Qualität erster Aufnahmen mit dem Kunstkopf im Studio beeindruckte derartig, daß RIAS-Berlin sich entschloß ihn für die Produktion des Science-Fiction-Hörspiels „Demolition" zu verwenden. Das Stück bot die Gelegenheit die besonderen Eigenschaften des neu gefundenen Aufnahmemediums zu demonstrieren: realistische Dialogsituationen, original Außenatmosphäre, Traumfiktionen, wechselnde Einspielungen in mono, stereo und kopfbezogener Technik, original Musikaufnahmen mit dem Kunstkopf sowie selektives Hören gleichzeitiger Schallquellen. Anläßlich der Funkausstellung 1973 in Berlin wurde dieses Hörspiel erstmals gesendet und somit einem größeren Publikum präsentiert. Dabei wurde in Kauf genommen, daß der Hörer die Sendung mit Kopfhörern verfolgen mußte, um den Raumklang vollständig erleben zu können. Anfanglich erwies sich dies auch nicht als Hemmschuh, da Kopfhörer mit hervorragender Wiedergabequalität am Markt erhältlich waren. Auf die Dauer war allerdings die Benutzung von Kopfhörern eine Zumutung und ein Rückschritt im Komfort. Die kompatible Wiedergabe einer Kunstkopfaufnahme über Lautsprecher wurde jedoch auch schon 1973 überdacht. Allerdings konnte man dem Hörer vorerst nur Lautsprecheranordnungen vorschlagen, welche in einem begrenzten Abhörgebiet das unerwünschte Ubersprechen kompensierten (Burkhard/Sachs 1975). Ein Nachteil dieser einfachen Lösung war jedoch das Fehlen einer präzisen Ortbarkeit von Schallquellen. Ganz ohne Vorkehrungen erwies sich die

1381

125. Kunstkopf-Stereophonie

Wiedergabe von kopfbezogenen Aufnahmen über Lautsprecher als unakzeptabel. Die ersten Sendungen in Kunstkopf-Stereophonie hatten ein ungewöhnlich großes Hörerecho. Hörer, welche die ersten Sendungen über Kopfhörer verfolgten, empfanden praktisch ein Erlebnis wie in einem Konzertsaal oder einem Schauspielhaus, weil sie die Richtung und Entfernung des Orchesters oder der Bühne und das spezielle Klangbild des Originalraumes erkannten. Es war eine Zeit, in welcher viele Experimente mit dem neuen Aufnahme-System gemacht wurden. Der Kunstkopf wurde in Konzerte gestellt, und zwar nicht nur zur Aufnahme Symphonischer Orchester, sondern auch zu PopGruppen und Jazz-Veranstaltungen. Er wurde vor Theaterbühnen aufgebaut, er nahm am Straßenrand den Großstadtlärm auf oder in der stillen Natur den Vogelgesang. Eine erstaunlich hohe Hörerresonanz hatten die mit dem Kunstkopf aufgenommenen Hörspiele. Ab 1974 führten praktisch alle Rundfunkanstalten der A R D zunächst Testsendungen durch und produzierten dann bis etwa 1980 dutzende von Hörspielen, welche von der Hörergemeinde sehr geschätzt wurden. Auch der österreichische Rundfunk beteiligte sich an der neuartigen Aufnahmetechnik. Ab 1976 widmete sich auch der Rundfunk der D D R intensiv dem Thema Kunstkopf. Dort wurden sogar noch Ende der achtziger Jahre Hörspiele mit dem dann verbesserten Kunstkopf Modell KU 81 hergestellt. Ein zweites Anwendungsgebiet für den Kunstkopf im Rundfunkbetrieb ist die Musikaufnahme. Jedoch die Musikabteilungen der Rundfunkanstalten verhielten sich gegenüber dem Kunstkopf als Aufnahme-Mikrofon reserviert. Die Schallplattenindustrie zeigte noch weniger Interesse. Es ist sicher reizvoll mit dem Kunstkopf in den Konzertsaal „hineinzuhören". Mit der einfachen Platzierung des Kunstkopfes auf einen Zuhörersessel ist wohl eine realistische Aufnahme an dieser Stelle möglich, aber sicherlich keine allgemein zufriedenstellende Konzertaufnahme. Das bedeutete, daß zahlreiche Versuche notwendig waren um in einem Aufnahmeraum den Platz für den Kunstkopf zu finden, von dem er sowohl ein harmonisches Klangbild als auch eine volle Raumauflösung übertragen konnte. Der Trend in der professionellen Musikaufnahme ging gerade in die entgegengesetzte Richtung. Es wurde eine

Vielzahl von Mikrofonen nahe an den einzelnen Instrumenten eines Orchesters aufgestellt um die Raumakustik zunächst möglichst auszuschalten. Durch Zumischen von künstlichem Hall erzeugte man ein Klangbild von extremer Unmittelbarkeit. Doch dieses Klangbild mußte keineswegs mit der wirklichen Aufführung identisch sein. Diese Methode der Polymikrofonie bot als Nebenprodukt noch die Gelegenheit kleine Unvollkommenheiten der Musiker zu korrigieren. Das Medium der unter diesen Verhältnissen geschaffenen Musik ist der Tonträger. Da der größte Anteil der im Rundfunk benötigten Musik jedoch so hergestellt wird, bleibt für Kunstkopfeinsätze nur der Bereich der Konzertsaalmusik. Die Kunstkopf-Stereophonie war nicht erdacht und vorgestellt worden als Konkurrenz zur Quadrophonie, welche sich 1973/74 auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung befand. Auf der Funkausstellung 1973 zeigte schließlich jeder große Hersteller quadrophone Geräte, wie Verstärker, vierspurige Tonbandgeräte oder breitbandige Schallplatten. Dennoch entfachte eine Diskussion, ob die Kunstkopf-Stereophonie eine Alternative zur Quadrophonie darstelle und wie sinnvoll der Einsatz der Kunstkopftechnik im Rundfunk sei.

4.

Mängel der ersten Kunstkopfgeneration

Doch nach der ersten Begeisterung für den durch die kopfbezogene Stereophonie gebotenen Raumklang tauchten auch kritische Stimmen auf, da die neue Aufnahmetechnik noch Mängel hatte und verbesserungsbedürftig war. Auch die Wünsche nach Kompatibilität des Übertragungssystems mit vorhandenen Lautsprechern konnten wie schon erwähnt nicht erfüllt werden. Vermehrt wurde von einer erheblichen Zahl von Hörern folgendes beklagt: — die Vorne-Ortung war bei einer Wiedergabe mit Kopfhörern in vielen Fällen nicht möglich, oder die Schallquellen wurden unter einem scheinbaren Erhebungswinkel empfunden. — bei Schallplatten in der Medianebene empfanden die Hörer den Ort nahe am Kopf oder im Kopf. — Schallquellen, die sich schräg oder genau vor dem Kunstkopf befanden, wurden sehr häufig hinter dem Kopf geortet.

1382

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

— der Kunstkopf besaß ein zu hohes Eigenrauschen und hatte Mängel bei der Hochtonwiedergabe. — bei einer Wiedergabe über Lautsprecher traten Klangfarben-Verfälschungen auf. Man versuchte Erklärungen zu finden, weshalb die Fehlortungen und die Klang-Verfälschungen eintraten. Man wußte wohl, daß Kopf und Ohrmuscheln die Eingangssignale, je nach Frequenz und Einfallsrichtung des Schalls, beeinflussen. Wie die Eigenart und die Verschiedenheit dieser Signale beim Hören vom Gehirn entschlüsselt werden, ist jedoch in allen Einzelheiten nicht bekannt. Es wurde auch diskutiert, ob das menschliche Gehirn in der Lage sei, sich an die Übertragungsfehler zu gewöhnen, das heißt, ob mit der Zeit ein neuer Lernprozeß einsetzt die fehlerhaften Codierungen zu erkennen. Man kam zu diesem Schluß, da einige Menschen die Fehler weniger wahrnahmen als andere. Die mangelhafte Vorneortung wurde damit erklärt, daß ein Kunstkopf bei der Aufnahme voll fixiert ist, der menschliche Kopf aber in der Lage ist, kleine Bewegungen auszuführen um das Ortungsvermögen zu unterstützen. Eine Schwierigkeit bei der Kopfhörerwiedergabe ist zudem die, daß eine Schallquelle in der vorderen Hemisphäre bei einer Linksdrehung des Kopfes nicht nach rechts auswandert wie beim natürlichen Hören und eine rechte Schallquelle nicht nach links. Wenn dieses Auswandern, an das wir von Kindheit an gewöhnt sind, fehlt, wird eine Schallquelle, die sich vorne in der Mitte oder in ihrer Nähe befindet, falsch lokalisiert, und zwar meistens hinten. Die Ursachen der angeführten Mängel wurden jedoch auch im verwendeten Kunstkopfmodell und in den verwendeten Kopfhörern vermutet.

5.

Verbesserungen der Kunstkopftechnik

Es setzten nun an verschiedenen Stellen in Deutschland und auch im Ausland intensive Forschungen ein um die vorhandenen Unklarheiten zu ergründen. Besondere Themen waren dabei die Mikrofontypen und deren Anordnung im Kunstkopf. Weiterhin sollte die Messung und genaue Nachbildung der Trommelfellimpedanz nähere Aufschlüsse geben. Die komplizierten Querschnittsänderungen des Ohrkanals mußten mit berücksichtigt werden. Ganz besonders widmete man sich

jedoch der Bestimmung der Außenohrübertragungsfunktion. Bevor eine Schallquelle das Trommelfell erreicht, wird sie hauptsächlich durch die Form der Ohrmuschel spektral gefiltert. Man kann sich diesen Vorgang vorstellen als eine frequenzabhängige Amplitudenveränderung infolge unterschiedlicher Zeitverzögerungen. Unter jedem Schalleinfallswinkel sieht diese Filterung anders aus. Die im Ohrkanal gemessene Amplitude des Schalldruckes wird Außenohrübertragungsfunktion (englisch: head related transferfunction HRTF) genannt. Wie ein „akustischer Daumenabdruck" verändert diese Funktion das Amplituden- und Phasenspektrum eines Eingangssignals (Abb. 125.5). Die Technik der Messung der H R T F war zunächst zeitraubend und ungenau. Mit Hilfe von Computerauswertungen konnte man sie dann so perfektionieren, daß man sie routinemäßig bei zahlreichen Testpersonen durchführen konnte. Jeder Mensch hat seine ihm eigene HRTF, wobei linkes und rechtes Ohr durchaus unterschiedlich sein können. Die Unterschiede von Mensch zu Mensch sind allerdings erheblich (Abb. 125.6) Dadurch war es nötig, Mittelungen vorzunehmen, um zu typischen H R T F zu gelangen. Die Meßergebnisse erwiesen sich jedoch als so komplex, daß man mit linearen Mittelungsmethoden Gefahr läuft, wichtige Feinstrukturen zu verdecken. Daher wurden sogenannte Strukturmittelungsverfahren vorgeschlagen, die nur Mittelungen bei ähnlichen Kurven vornehmen, ohne ausgeprägte Spitzen oder Täler zu beseitigen. Schon im Jahre 1975 konnte das erste Mal demonstriert werden, daß eine fehlerfreie und authentische Wiedergabe von Schallereignissen im Grundsatz möglich ist. Mit Sondenmikrofonen wurden die Ohrsignale im Ohrkanal von Testpersonen gemessen. Dadurch umging man die Schwierigkeit, einen menschlichen Kopf einschließlich Ohrmuschel und Gehörgang geometrisch genau nachzubilden. Diese Ohrsignale wurden so entzerrt, daß zwischen Außenohr und Kopfhörer keine linearen Verzerrungen auftraten. Dann wurden diese Ohrsignale über Kopfhörer den gleichen Personen zugespielt, welche nun tatsächlich in der Lage waren, die Schallrichtungen genau zu orten und die originale Klangsituation zu empfinden. Bei diesen Experimenten wurde auch herausgefunden, daß die Ohrübertragungs-Charakteristik gewisser Versuchspersonen zu besseren und genaueren Hörempfin-

125 . Kunstkopf-Stereophonie

-So0

-

Ί.βο' lOk

Abb. 125.5: H R T F des linken Ohres bei verschiedenen Azimutwinkeln. Messungen 3 X wiederholt.

1383

düngen bei der Mehrheit der Hörer führte als die Aufnahmesignale anderer Versuchspersonen. Diese Tatsache bestärkte die Schlußfolgerung, daß Kunstkopf-Systeme, wenn sie befriedigende Richtungs-Lokalisation auf der Seite der Hörer erzielen sollen, dieser typischen Versuchsperson in Bezug auf Kopfgeometrie und akustischer Charakteristik entsprechen müssen. Zudem gewann man die Erkenntnis, daß eine exakte Reproduktion der Ohrsignale es auch erforderlich macht, das Gesamtsystem (Kunstkopf — Übertragung — Kopfhörer) aufeinander abzustimmen. Es mußten also nicht nur der Kunstkopf, sondern auch die Kopfhörer auf den Außenohren des Zuhörers geeignet entzerrt werden. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wurde am Institut für elektrische Nachrichtentechnik der T H Aachen 1981 ein neuer Kunstkopf vorgestellt, welcher außer einer genau ausgearbeiteten Kopfform auch Schultern und Rumpf besaß. Er konnte eine bessere Richtungs-Lokalisation vorweisen, als vorher möglich gewesen war. Eine besondere Verbesserung wurde auch in Bezug auf das Problem der Vorn-hintenVerwechslung der Hörer erreicht. Danach wurde auch ein Nachfolgemodell des Neumann-Kopfes erarbeitet, der K U 81 i. In Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Rundfunktechnik, München, und dem Institut für Allgemeine Elektrotechnik und Akustik an der Universität Bochum gelang es die Ubertragungseigenschaften des Neumann-Kopfes zu verbessern. In Hinblick auf den Rundfunkbetrieb sollte dieses Ziel nicht nur für Kopfhörer-, sondern auch für Lautsprecherwiedergabe erreicht werden. Eine wichtige Erkenntnis war dabei, daß die Richtcharakteristik des Ohres offenbar nicht von den Eigenschaften des Ohrkanals und nicht von der Impedanz des Trommelfells abhängig ist. Dagegen erwies sich die genaue Nachbildung der Ohrmuschel und ihre Lage am Kopf als besonders wichtig. Durch Messung der H R T F an Versuchspersonen nach Pegel und Gruppenlaufzeit gelang es eine typische Versuchsperson herauszufinden. Diese typische Versuchsperson besaß Meßdaten, welche von allen anderen Versuchspersonen am geringsten abwichen. Von der typischen Versuchsperson wurde ein Abguß der Ohrmuscheln hergestellt und für den verbesserten Kunstkopf verwendet. Es existierten damit 1981 in Deutschland mit dem Aachener Kunstkopf (IENT) und dem Neumann-Kopf KU 81 i zwei nach dem neuesten Erkenntnisstand entwickelte Aufnahme-Systeme. Ein

1384

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

200

1k

(Hz)

10k

200

1k

(Hz)

10k

200

1k

(Hz)

10k

Abb. 125.6: Individuelle HRTFs von 40 Testpersonen.

Vergleich beider Systeme zeigte eine ziemliche Ubereinstimmung der Abbildungseigenschaften. Dabei war der Aachener Kopf mehr für die akustische Meßtechnik konzipiert und besaß auch Schultern und einen Rumpfansatz. Die Entwicklung des Neumann-Kopfes zielte mehr auf die Anwendung im Tonstudiobereich.

6.

Kompatible Kopfhörer- und Lautsprecherwiedergabe

Auch nach dem Erscheinen der verbesserten kommerziellen Kunstkopfsysteme war kein ausgeprägter Wunsch bei Rundfunk und Schallplattenindustrie zu bemerken, sie häufiger zu verwenden. Ein vorrangiger Grund war wohl, daß Signale, die mit den bisher üblichen professionellen Kunstköpfen aufgenommen wurden, sich nicht unmittelbar für die Wiedergabe über Lautsprecher eigneten. Ohne besondere Vorkehrungen über Lautsprecher abgespielt, ergeben Kunstkopfsignale unnatürliche Klangfarben. Es waren zwar Verfahren bekannt, mit Kompensationsfiltern Kunstkopfsignale für die Lautsprecherwiedergabe aufzubereiten. Diese funktionierten jedoch nur dann einwandfrei, wenn der Wiedergaberaum stark schallabsorbierende Wände hatte und der Zuhörer seinen Kopf ruhig an einer festgelegten Abhörposition hielt. Erst 1981 ist ein Lösungsweg

für das Problem angegeben worden. Dazu wurde der Entzerrer zwischen Aufnahmeund Wiedergabeseite aufgeteilt (Abb. 125.7). Zudem wurde die üblicherweise bei Kopfhörern benutzte Freifeldentzerrung als ungeeignet erachtet. Die Übertragungsfunktion bei Freifeldentzerrung entspricht derjenigen eines typischen Außenohres bei Beschallung im freien Schallfeld genau von vorn und aus größerer Entfernung. Eine Freifeldentzerrung paßt jedoch nur für eine Schallrichtung und ihr Übertragungsmaß für die anderen Richtungen ist abweichend. Stattdessen wählte man eine Diffusfeldentzerrung wie sie auch bei Studiomikrofonen für die Intensitätsstereophonie angewendet wird. Diffusfeldentzerrt bedeutet, daß die über alle Schalleinfallsrichtungen gemittelte Übertragungsfunktion gleich eins ist. Umfangreiche Hörversu-

Wiedergabeseite

Aufnahmeseite

"B. -Η λ 1 +1 / Kunstköpf mit Aufnahmemikrcfomn

Kopfhörerentzsrrer

Mikrofonentzerrer

j ' natürlicher Kopf mit aufgesetzten Kopfhörern

Abb. 125.7: Aufteilung der Ubertragungsfunktion in einen Aufnahme- und einen Wiedergabeteil.

1385

125. Kunstkopf-Stereophonie

che mit diffusfeldentzerrten Kunstkopfsignalen bestätigten folgendes: bei Wiedergabe über Standard-Stereo-Lautsprecheranordnungen ergeben sich Hörereignisse mit weitgehend originalgetreuer Klangfarbe. Die räumliche Verteilung stellt sich wie in der üblichen Intensitätsstereophonie dar. Die Hörereignisse erscheinen zwischen den Lautsprechern. Will man die Signale eines diffusfeldentzerrten Kunstkopfsystems originalgetreu abhören, muß man geeignet entzerrte Kopfhörer verwenden. Hier bietet sich einmal eine standardisierte Diffusfeldentzerrung an oder eine auf den individuellen Zuhörer abgestimmte Entzerrung. Sie erfordert allerdings eine Messung der Ohren des Zuhörers mit und ohne Kopfhörer und die Nachbildung eines passenden Filters. Auf alle Fälle hat sich die Aufteilung der Entzerrung in ein dem Aufnahmemikrofon zugeordnetes Filter und eine Entzerrung für den Kopfhörer als großer Vorteil erwiesen.

7.

Schlußbetrachtung

Als die Kunstkopf-Stereophonie 1973 beim Hörrundfunk eingesetzt wurde, begeisterte sie unmittelbar eine breite Zuhörerschaft. Der Hörer fühlte sich durch die räumliche Darbietung in das Geschehen miteinbezogen. Hörfunksendungen, insbesondere Hörspiele und realistische Feature, welche dem neuen Aufnahmesystem angepaßt waren, verstärkten die hohe Erwartungshaltung der Hörer. In Wirklichkeit befand sich die neue Kunstkopf-Stereophonie noch in den Kinderschuhen. Erkannte Mängel konnten nicht umgehend beseitigt werden. Schließlich waren noch mehrere Jahre Forschungstätigkeit erforderlich, um die komplizierten Vorgänge beim räumlichen Hören zu verstehen. Einige Mechanismen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Erst nach 8 Jahren gelang es verbesserte und für die Studiotechnik brauchbare Kunstköpfe zu bauen. Da war jedoch das ganz große Interesse beim Rundfunk und erst recht bei der Schallplattenindustrie erlahmt. Die neue Gerätegeneration kommt jetzt wieder bei Meßaufgaben zum Einsatz, ζ. B.: vergleichende Beurteilung der Hörsamkeit von Räumen und Konzertsälen, Beurteilung von elektroakustischen Ubertragungsanlagen in Räumen oder auch in Fahrzeugen, Messung der Sprachverständlichkeit, Dokumentation und Beurteilung der Belästigung durch Lärm in der Industrie, am Arbeitsplatz und im Ver-

kehr. Die Ausgangssignale der Kunstköpfe finden nun aber auch ganz neue Anwendungen. Auf der Basis der Kenntnisse der Außenohrübertragungsfunktion und der Möglichkeit sie mathematisch zu erfassen, konnte man auch Schallfelder in einem Computer simulieren und sie dann mit digitalen Signalprozessoren weiter verarbeiten. Hier schließt sich dann ein neues weites Feld von Anwendungen an. Stichwortartig seien die Themen 3-D-Simulation, Virtual Reality (Audioübertragung einer Scheinwelt), Auralisation (Hörbarmachung ζ. B. einer Raumakustik) und Multimedia genannt.

8.

Literatur

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1386

XXVIII. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung I: Technik

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Dieter Stahl, Berlin

(Deutschland)

XXIX. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik 126. Die internationale Sendertechnik vor 1945 1. 2.

5.

Einleitung Die Anfänge der Sendertechnik, Telegraphieverkehr, Wirtschaftsrundfunk U n t e r h a l t u n g s r u n d f u n k . Mittelwellensender Langwellen-, Kurzwellen-, UKW-, f a h r b a r e Sender, Störsender Literatur

1.

Einleitung

3. 4.

Die Bezeichnung „Sender" wird heute falschlich für Funkhäuser und Rundfunkanstalten benutzt. Tatsächlich besteht aber eine Rundfunk-Sendestelle aus 2 völlig getrennten Teilen. Im Funkhaus befinden sich die Aufnahmeräume (Studios) mit den ausübenden Künstlern vor den Mikrophonen sowie die Tonträger- und Verstärkeranlagen, der sogenannte „niederfrequente" Teil. Hier werden die Darbietungen aufgenommen und dann auf dem Leitungswege dem eigentlichen „Sender" zugeführt. Seine Aufgabe ist es, die hochfrequente Trägerwelle zu erzeugen, d. h. den ihm vom Kraftwerk zugeführten Speisestrom in hochfrequenten Wechselstrom von der Frequenz, die der gewünschten auszustrahlenden Wellenlänge entspricht, umzuwandeln, ihm die über die Leitung kommende Darbietung aufzuprägen oder wie der Fachausdruck lautet, sie damit zu „modulieren", auf die hohe Leistung zu verstärken und dann der Antenne zur Ausstrahlung zuzuführen. Die Funkhäuser befinden sich meistens in verkehrstechnisch günstiger Lage innerhalb der Stadt, während der Sender an einem strahlungstechnisch günstigen, oft weiter entfernten Standort aufgestellt ist. Für die im Zeitraum dieses Berichtes behandelten, auf Mitteloder Langwelle arbeitenden Sender musste das Gelände für die Antennenanlage genügend gross, völlig eben, frei von den die Ausbreitung störenden hohen Gebäuden, Bäumen und Überlandleitungen sein und für gute Erdungsverhältnisse einen hohen Grundwasser-

stand aufweisen. Diese eigentlichen „Senderanlagen" behandelt die nachfolgende Arbeit. Uber ihre geschichtliche Entwicklung wird ein Uberblick gegeben. Nach einer kurzen Darstellung, wie es von den ersten Funksendern für drahtlose Télégraphié zu der Grundlage für die Entstehung des Rundfunks, dem Röhrensender, kam, werden die einzelnen Entwicklungsphasen von den Anfangen des Rundfunks mit Sendern kleiner Leistung bis zu den heutigen Grossrundfunksendern im Zeitraum 1923 bis 1945 am Beispiel der Sender in Deutschland behandelt.

2.

Anfänge der Sendertechnik, Telegraphieverkehr, Wirtschaftsrundfunk

Kürzeste elektromagnetische Wellen waren es, mit denen Heinrich Hertz seine klassischen Versuche (1888) durchführte. Der schottische Physiker James Clerk Maxwell war im Jahre 1873 auf mathematischem Wege zu dem Schluss gekommen, dass das Licht eine elektromagnetische Wellenbewegung sei. Angeregt durch seinen Lehrer Hermann von Helmholtz gelang Heinrich Hertz der experimentelle Beweis. Im Brennpunkt eines Hohlspiegels erzeugte er durch einen Funken elektromagnetische Wellen mit einer Wellenlänge in der Größenordnung von Zentimeter und konnte damit alle vom Licht her bekannten Erscheinungen wie Bündelung durch Linsen, Brechung durch Prismen, Reflexion und Interferenz nachweisen. Aber bedingt durch die Technik der ersten Sender dauerte es rund ein Vierteljahrhundert, bis man auf dem Umweg über Langwellen, Längstwellen und Mittelwellen wieder zur Kurzwelle und Ultrakurzwelle zurückfand. 2.1. Gedämpfte Schwingungen Bald nach Bekannt werden der Hertz'schen Versuche begann der Italiener Guglielmo

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X X I X . Geschichte des H ö r f u n k s und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik

Marconi (1895), die elektromagnetischen Wellen der Nachrichtentechnik nutzbar zu machen. Die Erzeugung der Schwingungen bewirkte er durch einen elektrischen Funken zwischen 2 Kugeln. D a diese „Funkenstrecke" unmittelbar zwischen Antenne und Erde lag, bestimmte die Länge der Antenne die Frequenz bzw. Wellenlänge und die Wellen waren sehr stark gedämpft. Nun hatte Marconi rein empirisch gefunden, dass mit der Höhe, also der Länge der Antenne, die Reichweite steigt und so kam man damit zwangsläufig zu immer längeren Wellen. Eine wesentliche Verbesserung machte Ferdinand Braun (1898), indem er die Erzeugung der Wellen in einen aus Spule und Kondensator bestehenden „geschlossenen" Schwingungskreis legte, mit dem der „offene', der abstrahlende Antennenkreis, induktiv gekoppelt war. Die zweite Verbesserung, eine Verringerung der Dämpfung, erreichte Max Wien (1907) dadurch, dass er durch Unterteilung und Kühlung der Funkenstrecke für rasche Entionisierung sorgte und so ein nutzloses Zurückschwingen der Energie aus dem offenen in den geschlossenen Kreis verhinderte. Diese „Löschfunkensender" beherrschten über 10 Jahre die Sendertechnik. 1918 erreichte die Grossfunkstelle Nauen mit einem solchen Sender von 100 kW Leistung den Antipodenpunkt in Neuseeland, 20000 km Entfernung, eine Weltsensation. Damit glaubte man, in der Entwicklung der Funktechnik einen Abschluss erreicht zu haben. Und jetzt passierte dasselbe, was wir in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Transistor erlebt haben: die Röhre kam auf und warf alle bisherigen Ansichten um. 2.2. Ungedämpfte Schwingungen Sehr früh versuchte man, Hochfrequenz als ungedämpfte Schwingung zu erzeugen. Zunächst lehnte man sich an die Starkstromtechnik an. Die ersten Versuche wurden an 3 Stellen gemacht, von E. F. W. Alexanderson und R. A. Fessenden in den USA (1904), von der Firma Telefunken und der Firma Lorenz (Rudolf Goldschmidt) in Deutschland. Der Rotor der Maschine bestand nur aus einem grossen Zahnrad, der Stator enthielt auf seinem Umfang abwechselnd eine Spule, die mit konstantem Gleichstrom ein Magnetfeld erzeugte und einer zweiten Spule. Drehte sich der Rotor, wechselten zwischen beiden Spulen ständig Zahn und Zahnlücke, wodurch eine starke Schwankung des Flusses auftrat, die in der zweiten Spule einen Induktionsstrom erzeugte. Anschliessend erfolgte eine

Frequenzvervielfachung, indem man den Wechselstrom in übersättigten Eisenwandlern stark verzerrte und die gewünschte Oberwelle aussiebte. In der Grosstation Nauen liefen noch bis 1945 zwei solche Sender mit 400 kW für den Überseeverkehr. Ein zweiter Weg waren die Lichtbogensender. Bereits im Jahre 1900 hatte William Duddel ein Verfahren zur Erzeugung ungedämpfter Schwingungen mit Hilfe eines Gleichstrom-Kohle-Lichtbogens beschrieben. Während bei einem normalen Ohm'sehen Widerstand die Spannung an seinen Enden mit größer werdendem Strom steigt, sinkt sie bei einem Lichtbogen, da mit ansteigendem Strom die Erhitzung und damit die Ionisierung grösser, der Innenwiderstand also kleiner wird. Liegt ein solcher „negativer" Widerstand in Serie zu dem positiven Verlustwiderstand eines Kreises, so kann man die Gesamtdämpfung auf Null bringen und damit Schwingungen konstant erzeugen. Während der Lichtbogen nach Duddel nur im niederfrequenten Tonbereich arbeitete, gelang es dem Dänen Valdemar Poulsen (1906), ihn auch für Hochfrequenz brauchbar zu machen, in dem er die Geschwindigkeit, mit welcher der Lichtbogen erlosch und dann wieder zünden konnte, dadurch erhöhte, dass er ihn in einem schnell entionisierenden Gas brennen liess und durch ein starkes Magnetfeld ausblies. Auch diese Sender mit Leistungen von 1 bis 50 kW waren fast 20 Jahre lang sehr verbreitet, in Deutschland z. B. die mit kleiner Leistung bei der Marine, die mit höherer Leistung auch in Grosstationen wie Königs Wusterhausen. 2.3. Drahtlose Telephonie Sowohl mit Maschinensendern wie auch mit Lichtbogensendern wurden auch Telefonieversuche gemacht. Man kann sagen, dass die drahtlose Telefonie ebenso alt ist, wie die Erzeugung ungedämpfter Schwingungen. Schon 1906 gelang Fessenden in USA eine Sprachübertragung mit seiner Hochfrequenz-Maschine über 18 km Entfernung und im Dezember gleichen Jahres überbrückte Telefunken die Strecke vom Laboratorium in Berlin nach Nauen in Telefonie mit einem Lichtbogensender kleinster Leistung. 1912/13 machte Telefunken den Versuch mit einer Hochfrequenz-Maschine von etwa 11 kW Maschinenleistung mit einer Reichweite bis fast an die Küste von Nordamerika. Die eigentliche Entwicklung der drahtlosen Telefonie und der Durchbruch zu höheren Frequenzen blieb jedoch der Elektronen-

126. Die internationale Sendertechnik vor 1945

röhre vorbehalten. Die wichtigsten Schritte in der Röhrenentwicklung waren das von Robert von Lieben 1910 angegebene Steuergitter zwischen Anode und Kathode, verbessert nach 1912 durch Lee de Forest (USA), und die von dem Amerikaner Irving Langmuir erkannte Notwendigkeit des Hochvakuums (USA, 1913). Für die Anwendung der Röhre in der Sendertechnik entscheidend war die Erfindung der Rückkoppelung zur Schwingungserzeugung durch Alexander Meissner (1913), bei der durch Rückführung eines Bruchteils der im Anodenkreis verstärkten Leistung auf das Gitter die Schwingung ständig wieder angeregt wird. In Deutschland fiel die Einführung der Elektronenröhre in die Zeit des ersten Weltkrieges, wo aus kriegsbedingten Gründen wegen der Möglichkeit, leicht zu verschlüsseln, nur für Télégraphié Interesse bestand. Als daher nach Kriegsende die Deutsche Reichspost die Funkanlagen zivilen Diensten nutzbar machen wollte, lagen über drahtlose Telefonie keine Erfahrungen vor, so dass zunächst einmal zur Entlastung der Kabelleitungen eine Anzahl grösserer Städte durch ein Reichsfunknetz verbunden und zweitens ein telegraphischer Wirtschaftsrundfunk zur Verbreitung von Wirtschaftsnachrichten an private Bezieher geschaffen wurde. Die auf den Postämtern empfangenen Nachrichten erhielten die Abonnenten durch Eilboten zugestellt. Unabhängig davon fanden insbesondere auf der Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen umfangreiche Versuche mit drahtloser Telefonie statt, so dass dieses Netz 1922 auf Telefonie umgestellt werden konnte. Die Empfangsgeräte vermietete die Post so wie heute noch die Telefonapparate. Im Rahmen der Versuche sendete die Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen Weihnachten 1920 und Ostern 1921 kleine Konzerte und übertrug am 8. Juni 1921 aus der Berliner Staatsoper unter den Linden die Oper „Madame Butterfly". Diese Versuche liefen über einen 4-kW-Lichtbogensender. In den folgenden Jahren veranstaltete das Personal der Funkstelle aus eigener Initiative regelmässige Sonntagskonzerte. 3.

Unterhaltungsrundfunk. Mittelwellensender

Der Gedanke, die Funktechnik auch zu Unterhaltungszwecken zu verwenden, war in Amerika, England und Frankreich schon sehr früh vorhanden, während in Deutschland zunächst organisatorische Schwierigkei-

1389 ten bestanden. Reichsinnenministerium und Reichswehr wehrten sich gegen den Gedanken, Funkempfänger in Privathand zu geben. Bei der Post waren die Meinungen geteilt; die Gruppe um Hans Bredow, der sich als damaliger Staatssekretär im Reichspostministerium sehr für die Einführung des Rundfunks einsetzte, befürwortete ihn, während einige Juristen Bedenken wegen des Telegraphengeheimnisses hatten. Als dann im Sommer 1923 nach längerem Gespräch zwischen Bredow und Reichspräsident Ebert die Bedenken ausgeräumt waren, kam eine neue Schwierigkeit, die Inflation. In dieser Zeit wirtschaftlicher Unsicherheit sollte der Rundfunk entstehen. Die Post entschloss sich daher, die gesamte Technik, Senderanlagen und anfangs auch noch die Studiotechnik, in eigene Regie zu nehmen, die Programmgestaltung aber Privatgesellschaften zu übertragen. Um eine ausreichende Versorgung des ganzen Reichsgebietes zu erreichen, Hess man den ursprünglichen Plan eines zentralen Senders fallen und teilte das Reich in 9 Bezirke ein, womit auch regionale Belange gesichert waren. Als Wellenbereich wählte man die damals noch nicht genutzten Mittelwellen unterhalb der internationalen Seefunkwelle, als Senderleistung hielt man 1,5 kW Röhrenleistung für ausreichend, was nach unserer heutigen Rechenweise 0,25 kW Telefonieleistung entspricht. Die Modulation war damals ausschliesslich Amplitudenmodulation, d. h. im Rhythmus der Sprache oder Musik änderte sich die Stärke („Amplitude") der Schwingung. 3.1. Erste Bauperiode 1923/24 Am 29. Oktober 1923, abends 8 Uhr, begann der „Unterhaltungs-Rundfunk", wie er im Gegensatz zum Wirtschafts-Rundfunk genannt wurde, im „Vox-Haus" in Berlin, zunächst mit einem Eigenbausender der Post. Am 19. September 1923 hatte die Abteilung IV des damaligen „Telegraphentechnischen Reichsamtes" (Postdirektor Weichart) den Auftrag erhalten, binnen 14 Tagen aus laboratoriumsmässigen Mitteln einen Rundfunksender für Berlin zusammenzustellen mit dem für die damalige Zeit typischen Zusatz, „Kosten dürfen nicht entstehen". Der Sender wurde am 1. Oktober fertig und konnte bereits am nächsten Tag im Dachgeschoss des „Vox-Hauses" aufgestellt werden. Er war in Schalttafelform gebaut, einstufig, d. h. die Leistungsröhre erzeugte gleichzeitig die Schwingung. Zur Modulation, d. h. zur Änderung der Trägerschwingung im Rhythmus

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der Sprache oder Musik, konnte aus patentrechtlichen Gründen nur die in Amerika übliche Modulationsmethode („Parallel-RöhrenModulation") benutzt werden. Da es hierfür am deutschen Markt keine geeigneten Röhren gab, musste man hierfür eine normale Senderöhre benutzen. Sie erforderte eine hohe Vorverstärkung, die sich mit damaligen Mitteln nicht klangrein durchführen liess. Da für die Anodenspannung keine Hochspannungsmaschine zur Verfügung stand, erzeugte man sie durch Gleichrichtung des Wechselstromes einer vorhandenen 1000-Perioden-Maschine. Der Sender besass daher einen 2-kHz-Dauerton. Er wurde deshalb bereits am 28. Dezember 1923 durch einen laboratoriumsmässigen, offen auf einem Tisch aufgebauten Sender der Firma Telefunken ersetzt. Da für die Anodenspannung jetzt geeignete Gleichstrom-Hochspannungsmaschinen zur Verfügung standen, der beim ersten Sender bemängelte störende Trillerton also fortfiel, und zur Modulation Telefunken eine nur geringe Leistung erfordernde und sehr sauber arbeitende Methode („Gittergleichstrom-Modulation") entwickelt hatten, war auch die Klangreinheit gut. Im Jahre 1924 folgten nun die anderen 8 Standorte, Leipzig, München, Frankfurt, Hamburg, Breslau, Königsberg, Stuttgart, Münster als Sitz der betreffenden Sendegesellschaft. Die Sender dieser ersten Bauperiode arbeiteten einstufig selbsterregt, die Leistungsröhre erzeugt also gleichzeitig die Schwingung. Ihre Telefonieleistung betrug 0,25 kW. Sie standen der grösseren Hörerdichte und der Verwendung einfacher Empfanger wegen im Stadtkern in vorhandenen Gebäuden. Der damals langen Lieferzeiten wegen war etwa die Hälfte von ihnen provisorisch offen auf einem Tisch aufgebaut. Als Antennen dienten zwei- oder mehrdrähtige TAntennen zwischen auf dem Dach stehenden Rohrmasten oder vorhandenen geeigneten Stützpunkten. 3.2. Zweite Bauperiode ab 1925 Der rasche Anstieg der Hörerzahl ermöglichte es der Post, ab 1925 Sender von 6facher Leistung mit bis zu 100 m Stahlgitter-, vereinzelt auch Holztürmen als Antennenträger am Stadtrand aufzustellen und so auch eine bessere Versorgung des Umlandes zu ermöglichen. Die inzwischen dichter gewordene Belegung des Frequenzbereiches stellte auch höhere Anforderungen, die Frequenz konstant zu halten, um nicht durch Schwankungen die frequenzbenachbarten Sender zu stören. Da-

her arbeiteten diese Sender jetzt zweistufig. Eine Röhre erzeugte als erste Stufe die Schwingungen, 6 parallel geschaltete Röhren in der zweiten Stufe übernahmen nur die Verstärkung. Hier erfolgte auch die Modulation. Damit ergab sich neben der höheren Frequenzkonstanz auch ein besserer Wirkungsgrad der Senderröhren als reine Leistungsstufe. Zur Versorgung von Gebieten zwischen den Sendern, die von diesen nicht erreicht wurden, den sogenannten „Versorgungslükken", erhielten weitere Orte kleinere Sender, die denen der ersten Baustufe glichen. Der Vollständigkeit halber sollten noch 2 Sender erwähnt werden, die man als Aussenseiter bezeichnen kann. Die guten Erfahrungen, die man mit Maschinensendern auf Längstwellen gemacht hatte, führten in den zwanziger Jahren dazu, das Verfahren der maschinellen Erzeugung einer Schwingung mit nachfolgender Frequenzvervielfachung auch zur Erzeugung von Mittelwellen zu versuchen. Trotz ungünstiger Erfahrungen, die mit einem Muster kleiner Leistung bei Versuchen in Berlin gemacht wurden, ging 1926 ein solcher Sender im Rahmen der 2. Bauperiode in München in Betrieb. Dabei zeigte sich allerdings, dass man die Schwierigkeiten in diesem Wellenbereich doch unterschätzt hatte. Geringste mechanische Vibrationen führten nach der Frequenzvervielfachung zu Frequenzschwankungen, die sich in den Empfangern als Trillerton bemerkbar machten. Der Sender musste zunächst durch einen Röhrensender ersetzt werden und konnte erst 2 Jahre später nach Umbau zur Zufriedenheit den Betrieb wieder übernehmen. Ein zweiter derartiger Sender kam 1930 als einer der beiden Reservesender in Berlin-Witzleben hinzu, weitere sind nicht mehr gebaut worden. Mit Freigabe des Rheinlandes durch die Besatzungsmacht Frankreich ergab sich 1926 die Notwendigkeit, hier einen Sender zu errichten, der nach Möglichkeit das ganze Gebiet abdeckt. In Langenberg/Rhld. kam daher ein Sender zum Einsatz, der mit 15 kW Telefonieleistung zu seiner Zeit stärkste Sender in Europa. Diese Leistung entsprach einer Röhrenleistung von 60 kW. Die Endstufe des 3-stufigen Senders enthielt daher 3 parallel geschaltete Röhren zu je 20 kW. Während bei den bisherigen Sendern die Anodenwärme der Röhre durch Raumstrahlung abgeführt werden konnte, war bei Röhren dieser Leistung Wasserkühlung erforderlich. Zum Betrieb dieses Senders gehörte dementsprechend auch eine umfangreiche Rückkühlanlage. Die Abführung der hohen Röhren-Ver-

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lustwärme erfolgte über Rückkühlanlagen nach dem Zweikreissystem. Ein Reinwasserkreis mit destilliertem Wasser umspülte die Anoden und gab die Wärme dann an einen Rohwasserkreis mit enthärtetem Leitungswasser ab, dieser wiederum über einen Kühlturm (Kaminkühler) an die Aussenluft. Das Wasser musste dabei die Röhre so rasch durchlaufen, dass es nicht zur Verdampfung kam. Sonst hätte sich auf Grund des Leidenfrost'schen Phänomens auf der Anodenoberfläche eine Dampfschicht gebildet, die weiterem Wasser die Berührung mit der Anode verwehrt und als schlechter Wärmeleiter eine Wärmeabfuhr verhindert hätte. Dies ist insofern bedauerlich, als nach physikalischem Gesetz, um Wasser von 100 °C in Dampf von 100 °C zu verwandeln, noch eine erhebliche Wärmemenge zugeführt werden muss, die dann von der Anode abgezogen würde. Erst nach dem 2. Weltkrieg gelang es, eine Konstruktion zu finden, bei der diese Dampfschicht laufend zerrissen wird („Siedekühlung"). Dies hat nicht nur zur Folge, dass die Kühlanlagen heute wesentlich kleiner sind, sondern dass auch Röhren erheblich höherer Leistung gebaut werden können und Typen für 500 kW Dauerbetrieb bei 1 M W kurzzeitiger Spitze zur Verfügung stehen. Die schon damals beginnende Frequenzknappheit im Mittelwellenbereich führte dazu, Lückenfüllsender gleichen Programms auch auf gleicher Frequenz zu betreiben. Um die durch Überlagerung ihrer Trägerwellen entstehenden Verwirrungsgebiete klein zu halten und Interferenzstörungen zu vermeiden, mussten die Sender synchronisiert laufen. Dies geschah anfanglich über einen von einem „Muttersender" über Kabel gegebenen Steuerton. Bei dem ältesten, 1929 erprobten Verfahren erzeugte ein Grundfrequenz-Generator einen 2-kHz-Steuerton, der über Kabel allen Sendern des Netzes zugeführt und nach Frequenzvervielfachung bis auf den Betrag der Sendefrequenz gebracht, die Sender steuerte. Da jedoch schon bei kürzester Unterbrechung der Steuerleitung der Sender infolge fehlenden Steuertons ausfiel, ging man 1933 zu dem sogenannten „System der direkten Steuerung" über, bei dem ein von einer Stimmgabel beim Hauptsender erzeugter Steuerton bei jedem Sender des Netzes eine sekundäre Stimmgabel erregte, die nach entsprechender Frequenzvervielfachung dann den Sender steuerte. Dank ihrer grossen Masse (2,5 kg) schwang die Gabel auch bei kurzen Leitungsunterbrechungen weiter. Dieses System war jahrelang in Gebrauch.

1391 Mit der Entwicklung hochkonstanter Steuerquarze konnte man 1937 auf ein „System der indirekten Steuerung", „Unabhängiges leitungsgesteuertes System" übergehen, bei dem die einzelnen Sender unabhängig voneinander quarzgesteuert liefen und nur vom „Muttersender" korrigiert wurden. Hierzu teilte man anfänglich dessen Steuerfrequenz bis auf etwa 2 kHz und führte sie über Kabel den anderen Sendern zu, wo sie, dort wieder vervielfacht, zur Korrektur der örtlichen Frequenz dienten. 3.3. Dritte Bauperiode 1930 Das starke Anwachsen der Leistung im Ausland veranlasste die Deutsche Reichspost, auch in Deutschland Sender wesentlich höherer Leistung einzusetzen. Geplant war zunächst ein flächendeckendes Grossendernetz mit Telefonieleistungen von 60 kW und kleineren Lückenfüllsendern. Der erste derartige Sender ging für Stuttgart in Mühlacker in Betrieb. 60 kW Telefonieleistung erforderten bei der damals benutzten Gitterspannungsmodulation etwa 360 kW Trägerleistung. Als stärkste Röhre stand im Jahre 1930 nur die 20kW-Röhre zur Verfügung. So erhielt der Sender in der Endstufe 18 derartige Röhren in Parallelschaltung. Auch der im selben Jahr in Betrieb genommene Sender Heilsberg (Ostpreussen) besass eine derartige Endstufe. Um hohe Frequenzgenauigkeit zu gewährleisten, erfolgte die Steuerung der Sender durch in Thermostaten befindliche, hochkonstante Quarze. Der Ubergang von dieser geringen Steuerleistung auf die hohe Ausgangsleistung erfolgte in Mühlacker in 7, in Heilsberg in 8 Stufen. Ein Jahr später war die Röhrenentwicklung dann bereits so weit fortgeschritten, dass die 1931 in Langenberg (Rhld) und 1932 in Breslau und München eingesetzten Sender bereits mit je 2 Röhren in der Endstufe auskamen. Unter dem Druck der weiteren Leistungssteigerungen des Auslandes entschloss sich die Post, die Leistung des geplanten Grossendernetzes noch vor Beendigung des ganzen Bauprogramms auf 100 kW zu erhöhen. In den Jahren 1933 bis 1935 wurden daher die bereits in Betrieb befindlichen Sender Breslau, Heilsberg, Langenberg, München, Mühlacker umgebaut. Der Sender Leipzig hatte als einzige Ausnahme bereits 1932 die doppelte Leistung von 120 kW erhalten. Die letzten beiden Sender, Berlin-Tegel (1933) und Hamburg (1934) erhielten dann von vornherein 100 kW. Hierfür standen jetzt auch neue Hochleistungsröhren für 300 kW zur Verfügung.

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Diese mannshohen Röhren besassen erstmalig als Senderöhren indirekte Heizung, konnten also ohne die bisher notwendigen Maschinenumformer direkt über Transformatoren mit Wechselstrom geheizt werden. Ihre Kathode bestand aus einem Niob-Hohlzylinder, in dessen Inneren sich die Wolfram-Heizfaden befanden. Die 100-kW-Sender hatten 7 Stufen und arbeiteten wie auch die Sender der zweiten Baustufe mit Gitterspannungsmodulation, die hier in der 5. Stufe erfolgte. Die von Telefunken gelieferten Sender besassen offene Bauweise, bei der alle Teile der Leistungsstufen hinter einer schützenden Glaswand frei zugänglich im Raum standen, die von Lorenz gelieferten Einzelschränke je Stufe. Bedienung und Überwachung erfolgte in beiden Fällen von einem vor dem Sender stehenden zentralen Pult. An die Stelle der bisher üblichen Hochspannungsmaschinen zur Erzeugung der Anodenspannung traten jetzt gittergesteuerte Quecksilberdampf-Gleichrichter von 12 kV. Die Gittersteuerung ermöglichte eine stufenlose Regelung und automatische Abschaltung sowie selbsttätiges Wiedereinschalten nach 0,5 ... 1 Sekunde bei Röhrenüberschlägen oder dgl. Die Antennen waren zunächst herkömmliche Drahtantennen zwischen freistehenden Türmen, die jedoch, um das Strahlungsfeld nicht durch grössere Metallmassen zu stören, vom Sendergebäude abgesetzt standen. Die Verbindung zum Senderhaus geschah anfangs über Freileitungen, später über Erdkabel. Nun zeigte sich aber eine Erscheinung, die bei den kleinen Sendern ihrer geringen Reichweite wegen nicht auftreten konnte. Die Antenne strahlt einmal längs des Erdbodens die Bodenwelle, aber auch unter beliebigen Winkeln nach oben. Diese Raumwellen sind am Tage für die Versorgung auf der Erde verloren. Nach Eintritt der Dunkelheit finden aber in Höhen von einigen 100 km, an der „Ionosphäre", Reflexionen statt und die Raumwellen gelangen in Entfernung von rund 80 km und mehr fast verlustfrei zur Erde zurück. Da in dieser Entfernung bei den Grossendern die Bodenwelle noch eine für den Empfang ausreichende Feldstärke besass, traten hier nach Eintritt der Dunkelheit durch Interferenzen zwischen Bodenwelle und erster reflektierter Raumwelle starke Schwunderscheinungen auf („Nahschwund"). Zur Vergrösserung des Versorgungsbereiches bis an die Grenze der noch brauchbaren Bodenfeldstärke musste man daher die Steil-

strahlung der Sendeantenne zwischen 50° und 70° unterdrücken. Dies war mit einer Zusatzstrahlung möglich, die sich durch Reflexion der Antennenstrahlung am Erdboden gewinnen liess, wenn man den Schwerpunkt der Antenne um mehr als % Wellenlänge über den Erdboden legte. Telefunken benutzte dazu einen in einem Holzturm hängenden senkrechten Draht von etwa Wellenlänge mit Spitzenkapazität in Form eines Ringes von etwa 10 m Durchmesser als Halbwellenantenne mit hochgezogenem Stromknoten, Lorenz einen „Höhendipol", d. h. einen senkrechten Dipol in einer Höhe, die zur Wellenlänge in einem bestimmten Verhältnis steht. Dadurch liess sich die Schwundgrenze von 80 auf 110 km, d. h. um 37 Prozent hinausschieben, was einer Vergrösserung der versorgten Fläche auf fast das Doppelte entsprach. Gleichzeitig trat durch die Bündelung in der Vertikalebene eine Erhöhung der Bodenfeldstärke um etwa 22 bis 26 Prozent ein. Leider ist dies Verfahren heute nutzlos, da die Reichweite eines Senders durch den Störabstand zu seinem Kanal-Mitbenutzer bestimmt wird. 3.4. Vierte Bauperiode ab 1939 Alle diese neu errichteten Grossender waren Festfrequenzsender, d. h. ein Frequenzwechsel erforderte längere Umbauzeit. Jetzt aber hatte die Staatsführung schon vor dem Kriege im Hinblick auf einen etwaigen Atherkrieg verlangt, dass alle Sender in kürzester Zeit (10 ... 20 Minuten) auf jede Frequenz des Mittelwellenbereiches umstellbar sein müssten. Die Deutsche Reichspost stellte daher von 1939 an als 4. Bauperiode in den vorhandenen Gebäuden einen zweiten, als „Umbausender" bezeichneten Sender auf. Diese Sender wiesen eine Reihe wichtiger technischer Neuerungen auf. Sie arbeiteten nicht mehr mit der bis dahin üblichen Gittermodulation, sondern mit Anodenspannungs-BModulation. Die modulierende Wechselspannung wird nicht mehr der Gitter-, sondern der Anodenspannung aufgedrückt; die Telefonieleistung entspricht jetzt der Röhrenleistung, was wesentlich kleinere Röhren in der Endstufe erfordert. Die hohe notwendige Modulationsleistung liefert ein Gegentaktverstärker („Modulator"), der zur Leistungsersparnis im B-Betrieb, d. h. mit nur geringem Ruhestrom läuft. Die Sender besassen jetzt nur noch 4 Stufen, ihre Ansteuerung konnte wahlweise von einem eigenen Oszillator oder über einen Gleichwellenvorsatz erfolgen. Ihre Betriebsspannungen lieferten

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126. Die internationale Sendertechnik vor 1945

nicht mehr Maschinen, sondern ruhende Gleichrichter. Telefunken baute die Sender auch wieder in offener Form, während Lorenz eine halboffene wählte, bei der sich die Bauelemente zwar offen sichtbar nebeneinander, aber in einem gemeinsamen Gestell zusammengefasst befanden. Mit Rücksicht auf den zu überstreichenden Frequenzbereich musste auch die Antenne durchstimmbar sein. Man wählte eine Dreiecks-Flächenantenne, bestehend aus drei 3fach-T-Antennen zwischen 3 je 50 m hohen Rundstahlmasten in Form eines gleichseitigen Dreiecks. Die Abstimmelemente befanden sich in einem Koppelwagen in der Mitte des Dreiecks, die Verbindung zwischen Sendergebäude und abgesetzt stehender Antenne erfolgte durch Kabel. Der erste Einsatz dieser Sender bestand darin, dass sie nach Ausbruch des Krieges mit Eintritt der Dunkelheit in einem Grossgleichwellennetz zusammengeschaltet den gesamten Betrieb übernehmen mussten, um eine Orientierung gegnerischer Flugzeuge nach Rundfunksendern zu verhindern. Nachdem man erkannt hatte, dass die Orientierung nach anderen Methoden erfolgte, wurde das Netz aufgegeben. Soweit die Sender von den Kriegsereignissen verschont blieben, dienten sie als Reserve und übernahmen wegen ihrer hohen Wirtschaftlichkeit schliesslich den gesamten Betrieb, bis sie durch die heutigen modernen Sender mit leistungsfähigeren Röhren und energiesparenden neuen Modulationsverfahren (Pulsdauer-Anodenspannungsmodulation, Dynamikgesteuerte Amplitudenmodulation) abgelöst wurden.

4.

Langwellen-, Kurzwellen-, U K W - , f a h r b a r e Sender, Störsender.

4.1. Langwellensender Neben der Errichtung dieses Mittelwellensendernetzes lief der Bau überregionaler Langwellensender sowie der Kurzwellensender für Auslands- und Überseefunk. Der guten Ausbreitungsverhältnisse der Langwelle wegen versuchten die führenden Rundfunkländer von Anfang an, hier wenigstens eine Frequenz für einen überregionalen, repräsentativen Sender zu erhalten. In Deutschland wurde bereits ab 1924 hierfür ein stärkerer Sender der Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen eingesetzt, der unter der Bezeichnung „Deutschlandsender" tagsüber ein Bildungsprogramm der „Deutschen Welle", abends das

Programm einer der regionalen Rundfunkgesellschaften übernahm. Abgesehen von der Dimensionierung der Abstimmittel unerschieden sich die hier und die ab 1927 in der ebenfalls zur Hauptfunkstelle gehörenden Station Zeesen stehenden Sender nicht von denen der 2. und 3. Bauperiode. Im Mai 1939 nahm die Deutsche Reichspost dann in Herzberg an der Schwarzen Elster, einem in Bezug auf das Reichsgebiet zentraler gelegenen Standort, als Deutschlandsender einen Sender in Betrieb, der nach Art und Leistung damals etwas Aussergewöhnliches darstellte. Der von Telefunken gelieferte Sender entsprach in seinem Aufbau dem der Mittelwellensender der 3. Bauperiode. Seine Vorstufen befanden sich in einem Gestell, die Endstufen standen frei im Raum. Dieser 8stufige Sender besass aber 3 parallel geschaltete Endstufengruppen zu je 165 kW, also insgesamt 500 kW Telefonieleistung. Auch er arbeitete mit Anodenspannungs-BModulation. Seine Antenne bestand aus einem 325 m hohen, selbststrahlenden, abgespannten Eisengittermast, damals dem höchsten Antennenmast Europas. Als Dachkapazität trug er eine Blechlinse von 25 m Durchmesser. Im April 1945 wurde die Anlage durch Bombentreffer teilweise zerstört und dann abgebaut. 4.2. Kurzwellensender Auf Grund der guten Ergebnisse, welche die Grossfunkstelle Nauen im kommerziellen Betrieb mit kurzen Wellen erzielte, begann die Deutsche Bundespost bereits 1926 mit der Ausstrahlung von Rundfunksendungen über einen kleinen 250-W-Sender der Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen auf 52 m Wellenlänge. Die Versuche erstreckten sich etwa über 1 Jahr. Im August 1929 konnte dann der Kurzwellen-Rundfunk mit einem 5-kW-Sender auf dem zur Hauptfunkstelle gehörenden Gelände in Zeesen offiziell eröffnet werden. Anlässlich der Olympischen Spiele im Jahre 1936 erfolgte ein grosszügiger Ausbau dieser Station. Zwei neu errichtete Häuser erhielten je 4 Sender mit der für Kurzwellensender damals ungewöhnlich hohen Leistung von 40 ... 50 kW. Sie wiesen eine Reihe von Besonderheiten auf. Die Sender besassen 7 Stufen. In der Steuerstufe konnten sie wahlweise auf Eigenerregung oder auf 10 Quarze für vorgegebene Frequenzen umgeschaltet werden. Dann folgten 2 Verdoppler- und 2 Verstärkerstufen für Wellenlängen grösser als 30 m. Bei Wellen

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unter 30 m wurde die 2. Verstärkerstufe in einen Verdoppler verwandelt, indem man die Röhren gitterseitig im Gegentakt, anodenseitig parallel geschaltet betrieb. Jede der beiden parallel geschalteten Endstufen besass eine eigene Treiberstufe und war mit 4 für Kurzwelle geeigneten, wassergekühlten SendeTrioden Typ RS 257, je 2 parallel und in Gegentakt, bestückt. Die Modulation erfolgte als Anodenspannungs-B-Modulation. Da im Gegensatz zu Mittel- und Langwellen die bei Kurzwelle zu wählende Frequenz zeitabhängig ist, hatte man für raschen Wellenwechsel die Abstimmittel der Endstufen, um Zeit für die Umstellung zu gewinnen, doppelt vorgesehen. Entsprechend der gewünschten Strahlrichtung und der von Tagesund Jahreszeit abhängigen Wellenlänge erhielt die Station 30 Richtantennen, Dipolwände (Tannenbaum Antennen) mit Reflektoren zu je 4 ... 8 horizontal polarisierten Dipolen übereinander und 4 nebeneinander zwischen freistehenden Stahlgittertürmen von 70 ... 100 m Höhe. Die starke Zunahme des Kurzwellenverkehrs erforderte den Bau weiterer Stationen in München-Ismaning, Oebisfelde und Elmshorn, die neben ihren kommerziellen Aufgaben auch für Rundfunk eingesetzt waren. Der gesamte Kurzwellen-Rundfunkdienst war aber nicht für das Inland gedacht, sondern zur Versorgung der Hörer im Ausland und für den internationalen Programmaustausch. 4.3. UKW-Sender Im Jahre 1932 nahm die Deutsche Reichspost am Standort des Senders Berlin-Witzleben einen UKW-Sender für Fernsehversuche in Betrieb, der zunächst ein 90-Zeilen-Bild, ab Ende 1933 ein 180-Zeilen-Bild übertrug. Nach Aufstellung eines zweiten Senders als Tonsender begann am 1.1. 1935 ein regelmässiger Fernseh-Programmbetrieb. In den fernseh-freien Zeiten übernahm der Sender das Berliner Mittelwellen-Programm für Ausbreitungsbeobachtungen in einer Grosstadt. Diese Sender waren in ihrem ganzen Konzept nur verkleinerte Mittelwellensender mit konzentrierten Elementen wie Spulen und Kondensatoren. Auch als Röhren, 2 Stück parallel in der Endstufe bei 16 kW Oberstrich- und 6 kW Telefonieleistung, liefen die bei Kurzwellen verwendeten Typen. Die Wellenlänge betrug 7 m. Sowohl Bild- wie auch Tonsender arbeiteten mit Amplitudenmodulation. Als Antenne waren auf der Spitze des Funkturmes je ein gegen ein aus Stäben gebildetes

Gegengewicht arbeitender senkrechter Stab von V* Wellenlänge für den Bildsender und für den Tonsender vorgesehen. Weichen gab es damals noch nicht. An einem allgemeinen Einsatz von UKWHörfunksendern war überhaupt nicht gedacht, einmal weil ein einwandfrei funktionierendes Mittelwellennetz zur Verfügung stand und dann wohl auch, weil Versuche in Amerika bei den Hörern wenig Anklang gefunden hatten. Dort hatte man das Mittelwellenprogramm auch über UKW in Amplitudenmodulation übertragen. Die Anreize, die nach dem Kriege in Deutschland zum raschen Durchbruch von U K W verholfen hatten, grössere Störfreiheit durch Frequenzmodulation sowie ein 2. Programm, entfielen. 4.4. Fahrbare Sender Die Ubersicht wäre unvollständig, wenn nicht auch die fahrbaren Sender genannt würden. Ursprünglich nur als Reserve bei Störungen oder Umbauten der stationären Sender gedacht, spielten sie zwischen 1939 und 1945 als Soldatensender für die Truppenbetreuung eine grosse Rolle. Eine Reihe von ihnen, die die Kriegsereignisse unbeschädigt überstanden hatten, waren nach Kriegsende, stationär aufgebaut, als normale Rundfunksender in Betrieb. Die Deutsche Reichspost hatte ab 1934 zunächst 4 Mittelwellen- und 1 Langwellensender zu je 20 kW beschafft. Da diese Ausführung sich für manche Einsätze als zu schwer erwies, ging man ab 1940 auf eine leichte Bauart über, die dann auch die Truppenbetreuung übernahm. Auch diese Sender, 10 für Mittelwelle und 2 für Langwelle, besassen je 20 kW Ausgangsleistung. Sie bestanden aus einem 2stufigen Steuervorsatz und dem 3stufigen Hauptsender und arbeiteten mit Anodenspannungs-B-Modulation. Als Antenne diente ein 50 m hoher Rundstahl-Kurbelmast. Ein fahrbarer Senderzug umfasste etwa 14 Gerätewagen, dazu noch Hilfsfahrzeuge wie Personenwagen. Nach dem Kriege wurden die der schweren Ausführung in Herford, Etzhorn, Aachen und in Norddeich Radio, die der leichten in Langenberg, Etzhorn, Frankfurt a. M., HofRias, München Ismaning und Berlin-Rias eingesetzt. Der Langwellensender „Martha" wurde zum Einsatz in Hannover-Hemmingen auf Mittelwelle umgebaut und dann für den Deutschlandfunk in Mainflingen wieder auf Langwelle zurückgebaut. Ausserdem stand noch ein in einem Eisenbahnwagen als „Schwerstes Funkfeuer" eingebauter 100-

127. Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung

1395

kW-Sender zur Verfügung, der dann von 1947 bis 1967 als Rundfunksender Frankfurt/ M. Heiligenstock lief.

später wobbelte man den Träger geringfügig, was vom Hörer nicht bemerkt wurde, das Störverfahren aber unterband.

4.5. Störsender

5.

Störsender spielten während des Krieges zur Bekämpfung gegnerischer Propaganda eine grosse Rolle. Da hierbei eine bisher nicht geübte Technik zum Einsatz kam, soll sie hier beschrieben werden. Die einfachste Art, auch nach dem Kriege auf Kurzwelle noch angewendet, war ein auf gleicher Welle laufender, mit Trillerton modulierter oder in der Frequenz gewobbelter Sender („Jamming"). Eine technisch interessantere Art bestand im Einsprechen mit „geborgtem" Träger. Hierbei wurde der zu störende Sender empfangen, sein Träger ausgesiebt und zur Synchronisation eines sehr starken nur auf Seitenbändern laufenden Senders benutzt. So konnten ζ. B. in Nachrichten „Kommentare" eingesprochen werden. Zur Abhilfe mussten zunächst als Notlösung die Sprecher pausenlos reden,

Literatur

Beckmann, Bruno, Die Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen. Leipzig 2 1948. Brunswig, Heinrich / Eberhard Klump / Dietrich Schwarze, Großsender Mühlacker — zur Technikund Rundfunkgeschichte Süddeutscher Rundfunk. Stuttgart 1980. Goebel, Gerhard, Der Deutsche Rundfunk bis zum Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplans. Bonn 1950. Hermann, Siegfried / Wolf Kahle / Joachim Kniestedt, Der Deutsche Rundfunk, Faszination einer technischen Entwicklung. Heidelberg 1994. Kniestedt, Joachim, Heinrich Hertz — die Entdekkung der elektromagnetischen Wellen vor 100 Jahren. Bonn 1989. Rindfleisch, Hans, Technik im Rundfunk. Norderstedt 1985.

Heinrich Brunswig, Darmstadt

(Deutschland)

127. Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Gesetzlicher Auftrag der Deutschen Welle Programmumfang Hörfunk Programmumfang Fernsehen Technische Realisierung und Bedeutung der Kurzwelle Sendernetz der Deutschen Welle Relaisstation Kigali/Ruanda Relaisstation Sines/Portugal Relaisstation Antigua/Karibik Relaisstation Trincomalee/Sri Lanka Angemietete Sendestationen „Satelliten-Relaisstationen" im Orbit Zukunftsaussichten für Relaisstationen Literatur

Zusammenfassung: Informationen über weite Entfernungen zu transportieren erfordert für den Übermittler Zwischenstationen, auf denen er neue Kräfte sammeln kann. Das war schon lange vor Entdeckung der elektromagnetischen Wellen zur Rundfunkübertragung so und ist heute im Zeitalter moderner Satellitentechnik nicht anders. Der internationale Rundfunk benötigt zur Übertragung seines Signals über lange Strecken vom Funkhaus zum Hörer Verstärker, sogenannte Relaissta-

tionen. Am Beispiel der Deutschen Welle wird der Wandel von einem Kurzwellensender mit ausschließllichen Sendestandorten in Deutschland zu einem modernen, weltweit über Relaisstationen, Satelliten und dem Internet agierenden Auslandssender dargestellt.

1.

Gesetzlicher Auftrag der Deutschen Welle

Die Deutsche Welle begann ihre ersten Sendungen in deutscher Sprache am 3. Mai 1953. In dem „Vertrag über die Errichtung eines gemeinsamen Kurzwellenprogramms der deutschen Rundfunkanstalten" vereinbarten die in der A R D zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, in in der A R D zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, im Kurzwellenbereich für außereuropäische Länder unter dem Namen „Deutsche Welle" ein „gemeinschaftliches Programm auszustrahlen, das den Hörern im Ausland ein Bild vom heutigen Deutschland liefert".

1396

XXIX. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik

Es sollte dann noch über sieben Jahre dauern, bis dieser Vertrag durch ein Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts vom Bundespräsidenten ausgefertigt und am 2. Dezember 1960 verkündet wird. Es trat am 16. Dezember 1960 in Kraft und regelt die Aufgabe der Deutschen Welle: „Den Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland zu vermitteln und die deutsche Auffassung zu wichtigen Fragen des nationalen und internationalen Geschehens zu erläutern". Seitdem ist die D W eine beim Innenministerium geführte Anstalt des öffentlichen Rechts, die von zwei Aufsichtsgremien mit Vertretern der Bundesregierung und gesellschaftlich relevanter Kreise kontrolliert wird: dem Rundfunkrat für Programmfragen und dem Verwaltungsrat für Geschäftsfragen. Kurz nach dem Regierungswechsel Ende 1998 wechselte die Zuständigkeit für die Deutsche Welle zum Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und Medien beim Bundeskanzler. Seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ist die DW der einzige Auslandssender Deutschlands und hat vom Deutschlandlandfunk alle Fremdsprachenprogramme und

vom ehemaligen RIAS das Fernsehen übernommen. Vom damaligen DDR-Auslandsrundfunk „Radio Berlin International (RBI)" wurden Mitarbeiter bei der D W integriert und einige Sendekapazitäten übernommen. Das Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts hat durch Anpassungen vom 30. 4. 1990 und 20. 12. 1993 diesen Veränderungen Rechnungen getragen und trat am 1. Januar 1998 in seiner jetzigen Fassung in Kraft. 2.

Programmumfang Hörfunk

Begonnen wurde 1953 mit täglich drei Stunden Programm in deutscher Sprache, ausgestrahlt in fünf verschiedene Senderichtungen. Bereits ein halbes Jahr später wurden erste fremdsprachige Nachrichtenprogramme in Englisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch ausgestrahlt und damit die Entwicklung zu einem Auslandssender mit 38 Fremdsprachen und einem weltweit empfangbaren deutschen Programm eingeleitet (Stand 1997). Insgesamt wurden 1997 über zwei Millionen Sendeminuten produziert und über Mittel- und Kurzwellensender, Satelliten und zum Teil im Internet (www.dwelle.de) in die Zielgebiete transportiert.

Tab. 127.1: Deutsche Welle Fremdsprachen-Programme Radio.

ZIELGEBIET

SPRACHEN

Beginn (UTC)

Ende (UTC)

NORDAMERIKA SÜDASIEN NORDAMERIKA ZENTRAL- und OSTAFRIKA NORDAMERIKA WESTAFRIKA AUSTRALIEN/NEUSEELAND ZENTRAL- und OSTAFRIKA WESTAFRIKA ZENTRAL- und OSTAFRIKA SÜDASIEN WESTAFRIKA EUROPA AUSTRALIEN/NEUSEELAND AFRIKA SÜDOSTASIEN JAPAN CHINA CHINA INDONESIEN INDONESIEN INDONESIEN SÜDASIEN

ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH ENGLISCH JAPANISCH CHINESISCH CHINESISCH INDONESISCH INDONESISCH INDONESISCH BENGALI

0100 0200 0300 0400 0500 0600 0900 0900 1100 1600 1600 1900 2000 2100 2100 2300 1230 1000 1330 1100 1400 2200 0100

0150 0250 0350 0450 0550 0650 0950 0950 1150 1650 1645 1950 2050 2150 2150 2350 1300 1050 1355 1125 1425 2250 0150

127. Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung

1397

Tab. 127.1: (Fortsetzung).

ZIELGEBIET

SPRACHEN

Beginn (UTC)

Ende (UTC)

SÜDASIEN SÜDASIEN AFGHANISTAN AFGHANISTAN AFGHANISTAN AFGHANISTAN NAHOST NAHOST NAHOST AFRIKA AFRIKA AFRIKA AFRIKA WESTAFRIKA WESTAFRIKA WESTAFRIKA AFRIKA AFRIKA AFRIKA AFRIKA SÜDAMERIKA SÜDAMERIKA SÜDAMERIKA SÜDAMERIKA SÜDAMERIKA GUS GUS GUS UKRAINE POLEN POLEN POLEN RUMÄNIEN RUMÄNIEN RUMÄNIEN BULGARIEN BULGARIEN UNGARN ALBANIEN ALBANIEN ALBANIEN ALBANIEN ALBANIEN SÜDOSTEUROPA SÜDOSTEUROPA SÜDOSTEUROPA SÜDOSTEUROP SÜDOSTEUROPA SÜDOSTEUROPA SÜDOSTEUROPA MAZEDONIEN SÜDOSTEUROPA SÜDOSTEUROPA TÜRKEI TÜRKEI

URDU HINDI DARI PASCHTU PASCHTU DARI PERSISCH PERSISCH ARABISCH FRANZÖSISCH FRANZÖSISCH PORTUGIESISCH PORTUGIESISCH HAUSSA HAUSSA HAUSSA KISUAHELI KISUAHELI KISUAHELI AMHARISCH SPANISCH SPANISCH SPANISCH BRASILIANISCH BRASILIANISCH RUSSISCH RUSSISCH RUSSISCH UKRAINISCH POLNISCH POLNISCH POLNISCH RUMÄNISCH RUMÄNISCH RUMÄNISCH BULGARISCH BULGARISCH UNGARISCH ALBANISCH ALBANISCH ALBANISCH ALBANISCH ALBANISCH KROATISCH SERBISCH SERBISCH BOSNISCH SERBISCH BOSNISCH KROATISCH MAZEDONISCH SERBISCH SERBISCH TÜRKISCH TÜRKISCH

1430 1515 0900 0915 1330 1355 1000 1800 1300 1200 1700 0500 2000 0700 1300 1800 0300 1000 1500 1400 0200 1100 2300 1000 2230 0000 0400 1600 0530 1300 1730 2130 0930 1630 2000 1030 1700 1230 0650 1200 1600 1830 2115 1800 0930 1030 0700 0715 1300 1330 1400 1430 2100 0600 1700

1515 1600 0915 0930 1355 1420 1050 1850 1600 1300 1800 0515 2050 0730 1350 1900 0400 1050 1600 1450 0250 1130 0050 1040 2255 0100 0500 2200 0600 1330 1800 2200 1030 1700 2100 1150 1800 1300 0700 1230 1630 1845 2130 1830 0945 1100 0715 0730 1330 1400 1430 1530 2115 0650 1750

1398

X X I X . Geschichte des H ö r f u n k s und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik

Im weltweiten Vergleich internationaler Rundfunkanstalten belegte die D W bis zum Ende des kalten Krieges den fünften, heute den siebten Platz, wenn die Anzahl der verfügbaren Sender verglichen wird. Beim Vergleich der Ausstrahlung über Satelliten liegt sie an erster Stelle aller internationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und bietet neben dem Fernsehprogramm auch immer die für das jeweilige Versorgungsgebiet relevanten Hörfunkprogramme an. Zur Erfüllung ihres Versorgungsauftrages mußte die DW gewaltige Anstrengungen im technischen Bereich unternehmen, um das Programm über Tausende von Kilometern in

3.

Programmumfang Fernsehen

Die Deutsche Welle sendet seit Januar 1999 ein Informationsprogramm von 24 Stunden pro Tag in Deutsch (12Std.), Englisch (12 Std.) und Spanisch für Amerika (2 Std.). Das deutsche und englische Programm werden im stündlichen Wechsel gesendet und beginnen immer mit einer halbstündigen Nachrichtensendung. Nach Amerika wird eine Stunde des deutschen Programms um 21:00 UTC und eine Stunde des englischen Programms um 02:00 UTC durch das spanische Programm ersetzt. Die Ausstrahlung erfolgt über die folgenden Satelliten:

EUROPA:

EUTELSAT H O T B I R D 5

13° Ost

11,163 GHz

vertikal

AFRIKA:

INTELSAT 707

1 ° West

3,9115 GHz

zirkulär

ASIEN:

Asia Sat 2

100,5° Ost

4,00 GHz

horizontal

AMERIKA:

INTELSAT-K PAS-5

21,5° 58 0 West

11,735 GHz 4,00 GHz

horizontal horizontal

NORDAMERIKA:

GE-1

103° West

4,140 GHz

vertikal

guter Qualität anbringen zu können. Ein Haupthindernis war dabei die Überbelegung der Kurzwellenfrequenzen und in den Zeiten des kalten Krieges auch noch gezieltes Stören, sogenanntes Jamming im Zielgebiet. Der trotzdem über Jahrzehnte gewonnene Hörerstamm und die große Flut von jährlich bis zu 500 000 Hörerbriefen sind auch auf die technischen Erfolge der Ausstrahlung zurückzuführen.

Die Fernsehprogramme werden auf den Satelliten EUTELSAT H O T B I R D 5, INTELSAT 5, INTELSAT-K und GE-1 in analoger Technik und auf den anderen Satelliten bereits digital nach dem DVB-MPEG 2 Standard in der im Zielgebiet herrschenden Fernsehnorm ausgestrahlt. Für Europa ist parallel zur analogen auch eine digitale Ausstrahlung noch in 1999 vorgesehen. Ob analog oder digital, auf allen Satellitenkanälen werden auch immer die entsprechenden Hörfunkprogramme für die jeweiligen Zielgebiete über Ton unterträger oder als digitale Kanäle mit ausgestrahlt.

4.

WS

Abb. 127.1: Auslandsdienste im Vergleich, 1990.

Stand

Technische Realisierung und Bedeutung der Kurzwelle

Die Übertragung von Programmen über große Entfernungen ist nur mit geeigneten elektromagnetischen Wellen auf den sogenannten Trägerfrequenzen möglich. Erste ernst zu nehmende Versuche gab es bereits Ende des 19. Jhs., die 1916 von dem Italiener Marconi durch gerichtete Kurzwellenausstrahlungen vertieft wurden. Er stellte fest, daß bei richtiger Frequenzwahl und geeigneten Antennen der Beugungseinfluß der Iono-

127. Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten Hörfunkversorgung

GE-1

INTELSAT Κ

ASTRA 1A/1B

103° W analog TV

21.5°W analog TV

19.2° E analog/digital Radio

PAS-5

HOTBIRD 5

INTELSAT 707

ASIASAT 2

103e W digital TV

13°E analog/digital TV

1°W digital TV

100.5° E digital TV

1399

INTELSAT Κ INTELSAT 707

ASIASAT 2

Deutsche Welle- Satellitenversorgung weltweit Abb. 127.2: Deutsche Welle-Satellitenversorgung weltweit.

• analog

DW-Transponder auf GE-1, Intelsat Κ . _ . 1 Fernsehprogramm

Tonunterträger für Heim, ,= , . . . empfang und Rebroadcasting

• • Ξ ^ Η IJlillU

Bandbreite in MHz

• analog/digital

DW-Transponder auf Hotbird V

1 analoges Fernsehprogramm + Tonunterträger

Iii

dig. Fernsehprogramm + dig. Tonkanäle DW

Bandbreite in MHz

digital



DW-Transponder auf Asiasat 2 5 Fernsehprogramme

DW



TV5

RAI

28 Tonkanäle + Daten TVE

MCM Bitrate in Mbit/s

Abb. 127.3: Deutsche Welle Satelliten-Transpondernutzung.



1400

X X I X . Geschichte des H ö r f u n k s und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik

Sphäre genutzt werden kann, große Entfernungen zu überbrücken. Das auf der Erdoberfläche einfallende Signal wird dort erneut reflektiert und wieder in die Ionosphäre zurückgestrahlt. So können durch mehrere Hops, wie diese Sprungentfernungen auch genannt werden, Strecken bis zu 12000 km und mehr in Sprüngen von 2000 bis 4000 km überbrückt werden. Heute sind die physikalischen Phänomene der Wellenausbreitung im Kurzwellenbereich sehr gut erforscht, und die dabei gewonnenen und umgesetzten Erkenntnisse haben zu guter Hörbarkeit geführt, wenn keine Interferenzen durch Uberbelegung oder absichtliche Störungen entstehen. Bereits Anfang der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts gab es die ersten Rundfunksendungen über Kurzwelle, in Deutschland erst seit dem 26. August 1929. Insgesamt erlebte die Kurzwelle den größten Aufschwung durch weltpolitische Entwicklungen. Die Möglichkeit, über große Entfernungen Informationen zu verbreiten, also in Ländern, in denen die sendende Anstalt keine Rundfunksouveränität besitzt, war nicht nur in Friedens- sondern hauptsächlich auch in Kriegszeiten ein treibendes Element. So war neben der Information die Verbreitung von Propaganda für die Entwicklung des Kurzwellenrundfunks ausschlaggebend. Eine ganz besondere Rolle spielte in den Jahren des kalten Krieges der Einsatz von Störsendern des Ostblocks, der zu immer höheren Leistungen und neuen Standorten für Sendestationen führte. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Ätherkrieges ist die Bedeutung des Kurzwellenrundfunks zurückgegangen, hat aber für Hörer in Entwicklungsländern und Ländern mit kontrolliertem Medienzugang noch

Abb. 127.4: Kurzwellen-Raumwellenausbreitung durch Reflexion an Ionosphärenschichten.

einen hohen Informationswert. Der Auslandsrundfunk als bisheriger Hauptnutzer der Kurzwelle weicht vermehrt auf Satelliten und Wiederausstrahlung im Zielgebiet selbst aus. Erst wenn es gelingt, die technische Qualität der analogen Ausstrahlung über Kurzwelle durch die Digitalisierung so zu verbessern, daß eine vergleichbare Akzeptanz wie über andere digitale Ausstrahlungstechniken bei den Hörern erreicht wird, könnte die Kurzwelle eine Renaissance erleben. Das 1998 gegründete weltweite Konsortium „DIGITAL R A D I O M O N D I A L E (DRM)" hat sich die Entwicklung eines digitalen Sendestandards für die AM-Frequenzbereiche unterhalb 30 M H z zum Ziel gesetzt. Gemeinsam mit der „INTERNATIONAL TELEC O M M U N I C A T I O N U N I O N (ITU)" soll bereits im Jahre 2000 die Standardisierung eingeleitet werden. Schon ein Jahr später werden digitale Sendungen begonnen und erste Empfänger am Markt verfügbar sein. Relaisstationen werden ihre Bedeutung behalten und weltweit einen guten Empfang gewährleisten. Eine vergleichbare großflächige Versorgung wird zwar auch von Satelliten erreicht, aber nicht für den mobilen Empfang und den Empfang in Gebäuden. Diesen gewährt über große Entfernungen und für große Zielgebiete ausschließlich nur die Kurzwelle.

5.

Sendernetz der Deutschen Welle

5.1. Sendernetz in Deutschland Als die DW 1953 begann, die ersten Programme auszustrahlen, stand dafür nur ein 20 kW-Kurzwellensender im norddeutschen Osterloog zur Verfügung. Trotz der geringen Sendeleistung konnten die Programme in den Zielgebieten Fernost, Afrika, Nahost sowie Süd- und Nordamerika gut gehört werden. Das änderte sich durch ein politisch bedingtes „Wettrüsten" im Kurzwellenbereich. Sendeleistungen wurden erhöht und die knappen Frequenzressourcen durch immer mehr Sender teilweise mehrfach belegt. Die D W sah sich zur Teilnahme an diesem Wettlauf gezwungen und baute 1960 die Station Jülich bei Köln mit anfangs fünf und später zehn Stunden mit je 100 kW Leistung. 1972 folgte die damals größte und modernste Sendestation Wertachtal bei München und mit heute dreizehn Sendern von je 500 kW Leistung. Nach der deutsch-deutschen Wiedervereini-

127. Das Sendernetz der Deutschen Welle, Realisierung einer weltweiten H ö r f u n k v e r s o r g u n g

gung wurden die RBI-Sendestationen Leipzig, Königs Wusterhausen und Nauen übernommen. Davon wild heute nur noch die Station Nauen betrieben. Alle DW-Sendestationen in Deutschland gehören der Deutschen Telekom AG und werden im Auftrag der D W geplant und betrieben. Anfangs 1997 hat die D W die Nutzung der Station Jülich aufgegeben. Entscheidend dafür war das rückläufige Interesse am Kurzwellenrundfunk sowie ein Überangebot auf dem Weltmarkt an Hochleistungssendern, hauptsächlich in den ehemaligen Ostblockländern. Als teilweiser Ersatz wurden deswegen die alten Anlagen in Nauen durch vier moderne 500 kW Sender mit Drehstandsantennen ersetzt. Damit verfügt die D W über zwei räumlich weit auseinander liegende Standorte in Deutschland, was für die unterschiedlichen Ausbreitungswege vom nördlichen bzw. südlichen Sendestandort nach Australien/Neuseeland und dem Westen Nordamerikas die Nutzung unterschiedlicher Frequenzbänder ermöglicht. 5.2. Relaissendernetz Schon sehr früh hat die DW die Notwendigkeit erkannt, mit den Sendern in die Nähe der Zielgebiete zu gehen und deswegen seit Anfang der sechziger Jahre mit dem Ausbau eines weltweiten Relaisnetzes begonnen. Relaisstationen haben im Prinzip die Aufgabe, schwach empfangbare Signale aufzunehmen, technisch zu verbessern und verstärkt wieder

1401

auszustrahlen. Dabei erfolgte anfangs die Übernahme aus der Kurzwellensendung selbst oder es wurden Überspielkanäle im sogenannten Einseitenbandverfahren angemietet. Mitte der achtziger Jahre wurden Satellitenkanäle angemietet, die Empfangsantennen von l i m Durchmesser erforderten. Anfang der neunziger Jahre konnte dann auf die heute gebräuchliche Satellitentechnik mit wesentlich kleineren Antennen gewechselt werden. Dadurch konnten die zu jeder Relaisstation gehörenden Empfangsstationen aufgegeben werden. Die gewonnenen Vorteile durch den Einsatz von Relaisstationen sind vielfaltig und haben zur Verbesserung der Hörbarkeit ganz wesentlich beigetragen. Ideal wäre die Lage der Sendestationen zu den Zielgebieten in sogenannten Einhopp-Verbindungen, d. h. zwischen 2000 bis 4000 km Entfernung, was sich aber aus verschiedenen Gründen nicht realisieren läßt. (vgl. Abb. 127.7) Einige Auslandsdienste, ganz besonders erfolgreich war hier der BBC Weltservice, haben dieses Ziel nahezu erreicht und damit eine sehr gute Hörbarkeit fast auf der ganzen Welt realisiert. Zum Teil bauen sie noch aus, wohingegen die DW ihre Relaisstation Malta aus verschiedenen Gründen aufgab. Neben dem sehr viel stärkeren Signal von einer Relaisstation ergeben sich aber noch Frequenzvorteile, weil über die kürzeren Entfernungen andere Frequenzen als aus dem weiter entfernten Deutschland eingesetzt werden kön-

D: Wertachtal 13x500 kW Nauen 4x 500 kW Sines: 3x 250 kW Antigua: 2x 250 kW Trincomalee: 3x 250 kW lx 600 kW MW Kigali: 4x 250 kW

Abb. 127.5: Sendernetz der Deutschen Welle.

1402

XXIX. Geschichte des Hörfunks und seiner Erforschung II: Übertragungstechnik

V Empfangsstation

Sendestation

DW- Relaisstationsprinzip

ν

/ KurzwellenEmpfangsstation: anfangs bemannt, später fernbedient von Sendestation

Ca. 20 km Luftlinie

Kabel oder Richtfunk

Sendestation: anfangs rein manuell, später teilautomatisiert

DW- Relaisstation mit abgesetzter Kurzwellen- Empfangsstation bis ca. 1986 Satellitenempfang auf der Sendestation: anfangs INTELSATStandard Β ( 0 ca. 11 m), später Tonunterträger von DW- Satellitentranspondern ( 0 ca. 5 m)

/ 2 spielen vor allem bei der Informationsübertragung eine große Rolle, siehe hierzu auch die Abschnitte 5.1. und 6.3. Abb. 139.5 zeigt den Vergleich zwischen binär codierten Digitalsignalen (Abb. a und c) und quaternär codierten Digitalsignalen (Abb. b und d). Das binäre NRZ-Signal in Abb. 139.5a verwendet zwei Symbole, nämlich Impuls (A) und Nichtimpuls (O). Das quaternäre NRZSignal in Abb. 139.5c verwendet vier Symbole, nämlich die Impulse der Höhen, a, b, c, d. Entsprechend verwendet das binäre 2PSK-Signal zwei Sinus-Ausschnitt-Symbole mit den Phasenlagen 0° und 180°. Das quaternäre 4-PSK-Signal verwendet entsprechend vier Sinus-Ausschnitt-Symbole mit den Phasenlagen 0°, 90°, 180°, 270°. Wie in Abb. 139.5 unmittelbar zu erkennen ist, können jedem der vier Symbole eines quaternären Signals je zwei Bits (sogenannte Dibits) zugeordnet werden, während jedem Symbol eines binären Signals nur je ein Bit zugeordnet werden kann. Die in Abb. 139.5 getroffenen Zuordnungen (die umkehrbar eindeutig sind) gibt Tab. 139.1 wieder. Die senkrechten Striche | ergänzen dabei lediglich das tabellarische Raster und haben ansonsten keine Bedeung. Aus Abb. 139.5 geht ferner hervor, daß beim quaternär codierten Digitalsignal die Symboldauer Ts doppelt so lang sein darf wie beim binär codierten Digitalsignal, wenn mit beiden Signalen die gleiche Anzahl von Bits je Zeiteinheit übertragen werden soll.

Tab. 139.1 Dibits

0 10

ο 11

1 I 0

1 1 1

binäres NRZ-Symbol

0 1 0

0 I A

A 1 0

A 1 A

a

b

c

d

quaternäres NRZ-Symbol binäres 2-PSK-Symbol quaternäres 4-PSK-Symbol

0° 1 o° 0°

0 ° I 180° 90°

180° 1 0° 180°

180° 1 180°

270°

1526

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

1

0

1

1

0

1

0

0

Abb. 139.5: Binär ( M = 2) und quaternär ( M = 4) codierte Digitalsignale. a. Unipolares binäres NRZ-Signal, Symboldauer Ts — TB b. Unipolares quaternäres NRZ-Signal, Symboldauer Ts — 2TB c. 2-PSK-Signal, Symboldauer Ts = TB d. 4-PSK-Signal, Symboldauer Ts = 2TB

Werden hingegen die Symboldauern beim binären Digitalsignal und beim quarternären Digitalsignal gleich groß gewählt, dann werden mit dem quaternären Signal doppelt so viele Bits pro Zeiteinheit übertragen wie mit dem binären Signal. Man unterscheidet daher bei der Signalübertragung zwischen Symbolrate RS und Bitrate R,¡. Die Symbolrate ist definiert als Rs =

1

Symbole pro Sekunde

Tg

(Gl. 1)

Die Bitrate des M-ären Digitalsignals ist gegeben durch ld M

RB = — ^ '

= RS\ÀM

( G l . 2)

ν

Hierbei bezeichnet ld ( ) den Logarithmus zur Basis 2. Es ist z. B. ld 2 = 1, denn 21 = 2 ld 4 = 2, denn 2 2 = 4 ld 8 = 3, denn 2 3 = 8 usw.

Für M =2 ist R,j = RS, für M = 4 ist RB = 2 RS usw. Ist M keine ganzzahlige Zweierpotenz, z.B. M = 3, dann gibt es keine einfache Zuordnung von Symbolen zu Bits. 4.3. Codewörter, Ubertragungsverfahren und einige wichtige Codes Nachfolgend sei zunächst auf die eingangs gemachte Aussage zurückgekommen, daß sich mit binären Digitalsignalen, wie sie Abb. 139.4 zeigt, beliebige Zahlenfolgen und Texte codieren lassen. Weil nach Abschnitt 3.2. auch gesprochene Sprache, akustische Schalle, Bilder usw. sich durch Zahlenfolgen ausdrücken lassen, bedeutet das, daß binäre Digitalsignale zur Beschreibung und Darstellung der gesamten informationellen Welt ausreichen. Zur näheren Erläuterung werden jetzt Kombinationen von jeweils m Bits betrachtet, wobei m eine ganze Zahl ist. Solche Kombinationen werden als m-stellige binäre Codewörter bezeichnet. Die Anzahl Ν ver-

139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik

schiedener Codewörter, die sich mit m Bits bilden lassen, beträgt Ν = 2m

(Gl. 3)

Wie mit den Tabellen 139.2a und b illustriert wird, heißt das, daß ζ. B. mit m = 2 Bit sich Ν = 4 verschiedene Codewörter (CW) und mit m = 3 Bit sich Ν = 8 verschiedene Codewörter bilden lassen. Tab. 139.2: Zur Bildung binärer Codewörter.

a. aus m = 2 Bits 0 0 1 1

0 1 0 1

1. 2. 3. 4.

CW CW CW CW

b. aus m = 3 Bits 0 0 0 0 1 1 1 1

00 01 10 11 00 01 10 11

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

CW CW CW CW CW CW CW CW

Mit wachsender Stellenzahl m wächst die Anzahl der möglichen Codewörter rasch an. m = 5 Stellen ergeben Ν = 32 Codewörter und erlauben bereits die Codierung sämtlicher Buchstaben des lateinischen Alphabets nebst einiger Zusatzbuchstaben, z.B. 01001 = A, 10100 = Β usw. Für die Zwecke der Datenübertragung ist international der sogenannte ISO-7-Bit-Code vereinbart worden (ISO = International Standard Organization). Mit 7 Bit lassen sich 128 verschiedene Kombinationen bilden, was ausreicht zur Codierung aller lateinischer Buchstaben in Groß- und Kleinschreibung, aller Dezimalziffern von 0 bis 9, aller gebräuchlichen Satzzeichen und vieler Steuerzeichen wie Beginn der Übertragung, Zeilenwechsel, Ende der Übertragung usw. Bei diesem Code bedeuten beispielsweise 1101011 = k, 0111000 = 8, 0111111=?, 000100 = Ende der Übertragung. Die einzelnen Bits eines Codeworts können entweder seriell, d. h. zeitlich hintereinander auf derselben Leitung, übertragen werden oder parallel, d. h. gleichzeitig auf verschiedenen Leitungen (ζ. B. auf 7 Leitungen beim 7-Bit-Code). Bei der seriellen Übertragung müssen besondere Vorkehrungen getroffen werden, damit an der empfangenden Stelle klar ist, nach welchem Bit ein Codewort endet und das nächste Codewort beDezimalzahl Position

1527

ginnt. Ein Fehler bei der Wortgrenze verfälscht die gesamte übertragene Information. Bei der parallelen Übertragung gibt es dieses Problem nicht. Die leitungsaufwendige parallele Übertragung ist bei geringen Entfernungen üblich, etwa bei der Verbindung von Personal-Computer und Tastatur. Ein solches Leitungsbündel aus vielen parallelen Leitungen im Computer wird übrigens als Bus bezeichnet. Bei großen Entfernungen ist hingegen aus Aufwandsgründen die serielle Übertragung üblich. Zur sicheren Bestimmung der Wortgrenzen beim Empfang gibt es vielfaltige Möglichkeiten, (1) angefangen bei einer präzisen Synchronisation des Sendebeginns und genauem Abzählen der Bits (2) über das Einfügen spezieller nur der Synchronisation dienender Codewörter in regelmäßigen zeitlichen Abständen (3) bis zur Einfügung einer kurzen Pause zwischen jedem einzelnen Codewort. Der ISO-7-Bit-Code ist für die besonderen Bedürfnisse der Datenfernübertragung definiert worden. Für andere Zwecke, ζ. B. für den Analog-Digital-Umsetzer (ADU) ist er jedoch unnötig aufwendig. Ein A D U gibt die digitalen Zahlenwerte normalerweise nicht als Dezimalzahlen aus sondern als Dualzahlen oder in Form des sogenannten GrayCodes. Das ist effizienter und der in Abschnitt 3.3. geschilderten Verfahrensweise, die auf Verdoppelungen und Additionen beruht, auch angepaßter. Wenn in Sonderfallen (wie beim digitalen Voltmeter) dennoch eine Dezimalzifferanzeige gewünscht wird, dann besorgt das ein nachgeschalteter Codewandler. Dualzahlen werden genauso gebildet wie Dezimalzahlen. Der Unterschied liegt darin, daß Dezimalziffern 10 verschiedene Ziffern verwenden, nämlich die Ziffern 0, 1, 2, ..., 8, 9, während die Dualzahlen nur zwei Ziffern verwenden, nämlich 0 und 1. Die Beispiele in Tabelle 139.2 liefern, wenn man sie von oben nach unten liest, aufsteigende Dualzahlen. In Tabelle b sind das die Zahlen von null bis sieben. Bei mehrstelligen Dezimalzahlen und bei mehrstelligen Dualzahlen kennzeichnet die Position einer Ziffer ihre Wertigkeit. So bedeutet bei Dezimalzahlen das folgende Beispiel: 7 3 0 3 = 7 · 103 + 3 · 102 + 0 · 101 + 3 · 10° 3 2 10

1528

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

im Detail. Beide, eine Bandbreite und ein Spektrum, haben einen engen Bezug zu Sinusschwingungen, insbesondere zu deren Frequenzen. Eine in Abhängigkeit von der Zeit t sinusförmig verlaufende elektrische Spannung u{t)

Die 7 an der Position 3 bedeutet 7000, die 3 an der Position 2 bedeutet 300, die 0 an der Position 1 bedeutet 00, die 3 an der Position 0 bedeutet 3. Entsprechend bedeutet bei Dualzahlen das folgende Beispiel: Dualzahl Position

1 0 1 1 0 = 1 · 2 4 + 0 · 2 3 + 1 · 2 2 + 1 · 2 1 + 0 · 2° 4 3 2 1 0 = dezimal 1 6 + 0 + 4 + 2 + 0 = 22

Die Ziffer a¡ an der Stelle i bedeutet a¡ • 2'. Viele Analog-Digital-Umsetzer liefern die digitalen Zahlenwerte in Form von Dualzahlen, man sagt auch im Dualzahlencode. Der Dualzahlencode hat den Nachteil, daß bei Verfälschung nur einer Binärstelle ein großer Fehler auftreten kann. Wird beispielsweise bei der Dualzahl 0 1 1 = 3 die linke Ziffer falsch gelesen, dann ergibt sich 1 1 1 = 7 , also ein Fehler der Größe 4. Diesen Nachteil vermeidet der Gray-Code, der dadurch gekennzeichnet ist, daß aufeinanderfolgende Codewörter sich in jeweils nur einer einzigen Stelle unterscheiden, siehe Tab. 139.3.

5.

wird für jedes t mathematisch beschrieben durch die Formel u(t) = U sin (oí + φ)

(Gl. 4)

Ihr Verlauf ist in Abb. 139.6 für ein begrenztes Intervall dargestellt. Der vollständige Verlauf erstreckt sich von t = — oc bis t = Eine Sinusschwingung wird gekennzeichnet durch ihre Amplitude U (das ist der Maximalwert der Schwingung), durch ihren Nullphasenwinkel φ (der die Entfernung einer Nulldurchgangsstelle vom Zeitursprung t = 0 beschreibt) und insbesondere durch ihre Frequenz / oder durch ihre Kreisfrequenz ω oder durch ihre Periodendauer T. Zwischen den drei letztgenannten Größen, die alle die gleiche Eigenschaft kennzeichnen, besteht die feste Beziehung

Bandbreite und Spektrum

Bandbreiten sind makroskopische Kenngrößen von Signalen und Übertragungssystemen. Spektren beschreiben Signale und das Verhalten von Ubertragungssystemen mehr

Tab. 139.3: Vergleich von Dezimalzahlen, Dualzahlen und Gray-Code.

Dezimalzahlencode Stellenwertigkeit 101 10° 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5

Dualzahlencode Stellenwertigkeit 2 3 2 2 2> 2° 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 d3

0 0 0 0 1 1 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1 d2

0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 dl

0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 do

Gray-Code vierstelliger Binärcode 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 g3

0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 0 0 0 0 g2

0 0 1 1 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1 0 0 gl

0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 g0

1529

139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik

Ist die Periodendauer Τ lang, dann ist die Frequenz / niedrig. Ist die Periodendauer Τ kurz, dann ist die Frequenz / h o c h . Die Einheit der Frequenz ist ein 1 Hertz = 1 Hz = 1/Sekunde. 5.1. Übertragungsbandbreite und übertragbare Symbolrate Der Schalldruckverlauf eines reinen akustischen Tons ist ebenfalls sinusförmig. Solche reinen Töne werden näherungsweise von einer Flöte erzeugt. Das menschliche Ohr ist nicht für Töne jeder Frequenz gleich empfindlich. Der tiefste vom Ohr wahrgenommene Ton hat eine Frequenz von etwa 16 Hz, der höchste eine Frequenz von etwa 20 000 Hz = 20 kHz. Das Ohr ist am empfindlichsten im Bereich von etwa 600 Hz bis 6 kHz. Man sagt dazu, daß die Bandbreite für den empfindlichen Bereich des Ohrs sich von 600 Hz bis 6 kHz erstreckt und daß die Bandbreite für den gesamten Wahrnehmungsbereich des Ohrs sich von 20 Hz bis 20 kHz erstreckt. Unter Bandbreite Β versteht man in der Signaltheorie stets den Frequenzbereich zwischen einer unteren Grenzfrequenz /„ und einer oberen Grenzfrequenz f0. Es gilt B=fo-fu

(Gl. 6)

Auch bei Übertragungssystemen ist die Bandbreite eine wichtige Kenngröße. Eine gewöhnliche Leitung aus zwei verdrillten Drähten und einer Länge von 1 km beispielsweise gestattet die Übertragung von Wechselspannungen im Bereich von 0 Hz (das ist Gleichspannung) bis etwa 50 kHz. Ihre Übertragungsbandbreite beträgt also Bü = 50 kHz. Wesentlich höher ist die Übertragungsbandbreite eines gleichlangen Koaxialkabels. Sie erstreckt sich von 0 Hz bis etwa 200 M H z = 200 · 106 Hz. Eine einfache Dipol-Antenne für den UKW-Rundfunkbereich strahlt Schwingungen ab, deren Freqenzen etwa im Bereich von /„ = 90 M H z bis f0 = 110 M H z

liegen. Die ungefähre Übertragungsbandbreite beträgt hier B a ~ 20 MHz. Bei vielen Übertragungssystemen ist (wie bei den menschlichen Sinnesorganen) die Bandbreite nicht sehr scharf begrenzt, weil die Übertragungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Frequenz nicht abrupt aufhört, sondern allmählich d. h. schleichend abnimmt. Dennoch liefert die Übertragungsbandbreite bereits eine wichtige Aussage über die Übertragbarkeit nicht nur von sinusförmigen Signalen, sondern auch von anders geformten Signalen, insbesondere auch von Digitalsignalen wie sie in Abb. 139.5 gezeigt werden. Ein grundlegendes, auf Küpfmüller und Nyquist zurückgehendes Gesetz besagt, daß zur Übertragung eines Digitalsignals der Symbolrate Rs (d. h. eines Signals mit Rs Symbolen pro Sekunde) eine Mindest-Übertragungsbandbreite von =

(Gl. 6)

notwendig und auch gerade noch ausreichend ist. Bei Einhaltung von Gleichung (Gl. 6) ist das Digitalsignal am Ausgang des Übertragungssystems zwar verzerrt, trotz der Verzerrungen lassen sich aber die Höhen der übertragenen Symbole aus dem verzerrten Signal exakt bestimmen, so daß kein Informationsverlust stattfindet. Ist die Übertragungsbandbreite jedoch geringer als die halbe Symbolrate, dann tritt ein unwiederbringbarer Informationsverlust ein. Für die erforderliche Übertragungsbandbreite gilt also Bu s — "

IT

s

(Gl. 7) '

K

Dieses Gesetz gilt unabhängig von der Form des Datensymbols. Für eine Rate von beispielsweise 1000 Symbolen pro Sekunde braucht man also mindestens 500 Hz an Übertragungsbandbreite. Wichtig ist jedoch

1530

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

dabei, daß bei Basisbandsignalen gemäß Abb. 139.4a und b sich die Übertragungsbandbreite von fu = 0 Hz bis f0 = Ba Hz erstreckt. Bei modulierten Digitalsignalen gemäß Abb. 139.5c und d muß sich jedoch die Übertragungsbandbreite von fu= fT - 1/(27χ) bis f0= fT+ 1/(2T s ) erstrecken. Hierbei ist fT die Trägerfrequenz, d. h. die Frequenz des auf Ts begrenzten Sinus-Ausschnitts. Aus den obigen Angaben folgt zwar f0 — fu = MTS, also die doppelte Bandbreite. Trotzdem ist Gleichung (Gl. 6) im Durchschnitt richtig, weil sich mittels modulierter Signale im gleichen Frequenzband zwei völlig voneinander unabhängige Datenströme gleicher Rate übertragen lassen, was bei Basisband-Digitalsignalen nicht möglich ist. Nähere Einzelheiten hierzu bringt Abschnitt 6.3. Die dort vorgestellten QAM-Digitalsignale setzen sich aus zwei völlig unabhängigen Teilsignalen zusammen, von denen das erste eine Kosinusschwingung veränderlicher Amplitude und das zweite eine gleichfrequente Sinusschwingung veränderlicher Amplitude ist. 5.2. Spektren Wie eingangs dieses Abschnitts gesagt wurde, haben nicht nur Übertragungssysteme, sondern auch Signale eine Bandbreite, nämlich die Signalbandbreite Bs. Das hängt damit zusammen, daß ein Signal sich aus lauter Komponenten, den Frequenzkomponenten, zusammensetzt. Jede Frequenzkomponente wird dabei durch einen von der Frequenz abhängigen Funktionswert ausgedrückt. Den über der Frequenzachse aufgetragenen Verlauf der Funktionswerte nennt man Spektrum. Abb. 139.7 zeigt zwei Beispiele für Signalspektren. Für ein gegebenes Signal v(/) läßt sich das zugehörige Spektrum mit Hilfe der sogenannten Fourier-Transformation berechnen (Rupprecht 1993). Das Spektrum läßt sich aber auch mit einem Frequenzanalysator

meßtechnisch bestimmen. Physikalisch ist zwar eine Frequenz nie negativ, dennoch ist für die mathematische Beschreibung die Verwendung auch negativer Frequenzen höchst praktisch. Ein Sprachsignal zum Beispiel hat ein Spektrum, das (abhängig von der Stimmlage) einen Frequenzbereich von etwa 80 Hz bis 8000 Hz überdeckt. Die Spektren von Musiksignalen erstrecken sich von nahezu 0 Hz bis zu etwa 18 000 Hz. Für die drahtlose Übertragung solcher Signale, beispielsweise beim Hörrundfunk, müssen ihre Spektren beim Sender in eine höhere Frequenzlage verschoben werden, was durch Modulation geschieht, um von Antennen abgestrahlt werden zu können. Im Empfänger werden diese Spektren dann wieder in ihre ursprüngliche Lage zurück verschoben, was durch Demodulation geschieht. Die originalen Sprach- und Musiksignale sowie alle Signale, deren Spektren im Bereich niedriger Frequenzen liegen, nennt man Basisbandsignale. Die Signale mit Spektren im Bereich ausschließlich hoher Frequenzen, die beispielsweise (aber nicht nur) durch Modulation von Basisbandsignalen erzeugt werden, nennt man modulierte Signale. Das System des drahtlosen Hörrundfunks beruht darauf, daß die Spektren der verschiedenen Programme und Sender nach jeweiliger Modulation auf der Frequenzachse bei höheren Frequenzen (ζ. B. im Mittelwellenbereich 525 kHz—1605 kHz) möglichst überlappungsfrei nebeneinander liegen. Die Senderauswahl im Empfanger besteht darin, daß mittels eines abstimmbaren Filters das Spektrum des gewünschten Senders herausgefiltert wird und anschließend durch Demodulation ins Basisband zurücktransponiert wird. Wegen der endlichen von null verschiedenen Bandbreite des modulierten Signals lassen sich also nicht beliebig viele Sender (ζ. B. im Mittelwellenbereich) unterbringen. An dieser Stelle seien noch einige Ausführungen über den Funktionswert gemacht,

Bs ¡

/« = 0

fo=Bs

f

a. Abb. 139.7: Beispiele für Signalspektren. a. Spektrum eines Basisband-Signals b. Spektrum eines modulierten Signals

o b.

fu

-ν, I

fi

fo

f

1531

139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik

dessen Verlauf das Spektrum beschreibt. Hierbei ist zu sagen, daß es verschiedene Fourier-Spektren ein und desselben Signals gibt, die aber (sofern sie existieren) alle die gleiche Bandbreite haben. Man unterscheidet bei kontinuierlich verlaufenden Spektren, wie sie Abb. 139.8 zeigt, zwischen Amplitudenspektren, Phasenspektren. Energiedichtespektren und Leistungsdichtespektren. Zum Amplitudendich tespektrum: Der Funktionswert des Amplitudendichtespektrums eines zeitlichen Spannungsverlaufs u{t) hat die Dimension Spannung pro Frequenz (= Spannungsdichte). Filtert man an der Stelle / mit einem ersten Filter aus dem Spektrum den schmalen Bereich der Breite Äf heraus, siehe Abb. 139.8, und mit einem zweiten Filter an der gleichen Stelle / den Bereich der halben Breite Aß2 heraus, dann zeigt das zweite Filter an seinem Ausgang eine Spannung, die halb so groß ist wie die Spannung am Ausgang des ersten Filters der Breite Δf. Der angezeigte Spannungswert (Maximalspannung) ist stets proportional zur Fläche (im Bild schraffiert gezeichnet) des herausgefilterten Teilspektrums. Über den zeitlichen Verlauf des ausgefilterten Spannungsanteils läßt sich sagen, daß er immer mehr die Form einer Sinusschwingung gemäß Abb. 139.6 annimmt, je schmaler Δ f gewählt wird. Gleichzeitig nimmt aber auch die Amplitude dieser sinusähnlichen Teilspannung in dem Maß ab, wie Afkleiner wird. Eine reine zeitliche Sinusschwingung, wie sie Abb. 139.6 zeigt, hat nur bei einer einzigen Frequenz eine Frequenzkomponente. Diese ließe sich mit einem Filter beliebig schmaler Breite A f - > 0 herausfiltern. Damit das Produkt Spannungsdichte mal Frequenzbreite Δ f endlich bleibt, muß die Spannungsdichte einer reinen Sinusschwingung unendlich hoch sein. Man sagt, daß das Amplitudenspektrum einer Sinusschwingung der Frequenz fs bei der Frequenz/, einen Dirac-Impuls hat. Das ist ein Impuls mit verschwindend kleiner Breite, aber mit einer endlichen Fläche.

Zu sonstigen Spektren: Filtert man aus einem Amplitudenspektrum Teilspektren an verschiedenen Frequenzen / mit Filtern sehr schmaler Durchlaßbreite Δ f heraus, dann haben die an den Filterausgängen auftretenden quasi-Sinusschwingungen bestimmte Nullphasen (vgl. Abb. 139.6) bezogen auf den Zeitursprung t = 0. Die Abhängigkeit dieser Nullphasen von der Frequenz / b i l d e t das Phasenspektrum. In entsprechender Weise ergeben sich das Energiedichtespektrum und das Leistungsdichtespektrum, wenn man am Filterausgang die entsprechende Teil-Energie bzw. die entsprechende zeitlich gemittelte Teil-Leistung mißt. So viel zu den Spektren. Im weiteren sollen hier nur noch Basisbandsignale interessieren, bei denen die Bandbreite Bs näherungsweise mit ihrer oberen Grenzfrequenz f0 übereinstimmt. Das ist bei den meisten Analogsignalen von Audiound Video-Quellen (und von anderen Quellen) der Fall. 5.3. Das Abtasttheorem Für eine Analog-Digital-Umsetzung werden von den zu wandelnden Analogsignalen die Funktionswerte (mit endlicher Stellenzahl) im Abstand ΤΛ (Abtastabstand) benötigt, vgl. Abb. 139.2. Das Abtasttheorem liefert diesbezüglich folgende Aussage: Tastet man ein Signal s(t) der Signalbandbreite Bs im zeitlichen Abstand TA ab, dann läßt sich aus den Abtastwerten s(vTA); υ = 0, ± 1, ± 2, ± 3; ... das Signal s(t) fehlerfrei interpolieren, sofern der Abtastabstand

beträgt. Das Abtasttheorem setzt voraus, daß das Signal eine von null verschiedene endliche Signalbandbreite Bs besitzt. Bei einem Signal der Bandbreite Bs = 1000 Hz sind also die Abtastwerte (Zahlenwerte) im Abstand TA < (1/2000) sek zu wählen. ; , 4f :

I ,

—L. .

Γ "

2ÍÉ

w

fi

f

Abb. 139.8: Zum Funktionswert eines Dichte-Spektrums.

1532

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

Aus diesen Abtastwerten gelingt eine fehlerfreie Rekonstruktion von s(t), indem jedem Abtastwert zunächst ein kurzer Impuls (ζ. B. Rechteckimpuls) von der Höhe des Abtastwerts zugeordnet wird. Wird diese Folge von Abtastwertimpulsen mit dem Abstand TA durch ein Tiefpaßfilter geschickt, welches die Frequenzkomponenten von null bis zur Grenzfrequenz Bs ungehindert passieren läßt, aber alle Frequenzkomponenten oberhalb Bs vollständig wegsperrt, dann erscheint am Tiefpaß-Ausgang ein Signal, das bis auf einen konstanten Proportionalitätsfaktor identisch ist mit dem ursprünglichen Signal s(t).

Wenn Abtastwerte aufgrund endlich vieler Stellen bei der Zahlenangabe nicht genau mit den wahren Funktionswerten von s(t) übereinstimmen (siehe die kleinen Kreise in Abb. 139.2b), dann gelingt die Rekonstruktion nur bis auf einen entsprechend kleinen Fehler, der sich bei Audio-Signalen durch ein überlagertes Rauschen bemerkbar machen kann. Diesen Fehler bezeichnet man deshalb auch als Quantisierungsrauschen. Das Quantisierungsrauschen läßt sich aber durch eine entsprechend hoch gewählte Stellenzahl bei den Abtastwerten unter jede beliebig klein vorgebbare Schranke drücken. Als Beispiel werde nun die Analog-DigitalUmsetzung eines Sprachsignals betrachtet. Ein Sprachsignal in guter Fernsprechqualität besitzt eine Bandbreite (obere Grenzfrequenz) von Β s = 4 kHz. Gemäß Abtasttheorem (Gl. 8) genügt ein Abtastabstand TA

=

1

1

1

2B
Bs

bzw.

Bamin = Bs.

(Gl. 12)

Wird das analoge Signal der Bandbreite Bs in ein binäres digitales Signal mit in Bit langen Codewörtern gewandelt, dann wird für die Übertragung dieses Digitalsignals ein Übertragungssystem mit einer Übertragungsbandbreite von Βa > ni ß v

bzw.

Bf,

=

mBv

(Gl. 13)

erforderlich, wenn kein Verlust an Bits eintreten soll. Die Beziehung (Gl. 13) setzt voraus, daß im maximal zulässigen Abstand ΤΛ = BSI2 abgetastet wurde. Wird beispielsweise ein analoges Sprachsignal der Signalbandbreite Bs = 4 kHz in ein digitales Signal gewandelt, bei dem die Zahlen- oder Abtastwerte durch 8-Bit-Codewörter ausgedrückt werden, dann wird zur Übertragung dieses digitalen Signals mindestens die 8-fache Übertragungsbandbreite 8 mal 4 kHz = 32 kHz benötigt. Da Übertragungsbandbreite eine kostbare und meist beschränkte Ressource darstellt, ist deren Erhöhung nachteilig. Diesen Nachteilen steht aber ein immenser Gewinn an Störfestigkeit gegenüber, was durch Abb. 139.9 verdeutlicht wird. Da die transportierte Information nur in den Binärwerten 0 und 1 steckt, können starke überlagerte Störungen zugelassen werden. Das Problem, ob zum Abfragezeitpunkt eine 0 oder eine 1 empfangen wird, wird durch eine Schwellenentscheidung gelöst. Liegt der Summenwert von Signal plus Störung oberhalb der Schwelle, dann wird auf binär 1 entschieden, anderenfalls auf binär 0. In Abb. 139.9 wird nur an der mit (f) bezeichneten Stelle ein Bit falsch entschieden. Die digitale Darstellung und Übertragung von ursprünglich analogen Signalen ist durch folgende Situation gekennzeichnet. Durch die Analog-Digital-Umsetzung (ADU) wird auf Grund der Zahlenangaben mit endlich vielen Stellen, vergleiche hierzu Abb. 139.2, ein

1533

139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik

- 7 s -

(f)

Abb. 139.9: Zur Störfestigkeit binärer Digitalsignale. Die vertikalen Pfeile kennzeichnen die Abfragezeitpunkte im Symbolabstand Ts. Nur an der Stelle (f) tritt ein Bitfehler auf.

Quantisierungsfehler produziert. Diesen Quantisierungsfehler kann man aber durch Aufwenden entsprechend vielstelliger Zahlen oder Codewörter beliebig klein machen. Das gelingt in der Regel auch praktisch, weil diese Umsetzung noch vor der Übertragung in quasi ungestörter Umgebung stattfindet. Die Störungen werden erst während der Übertragung über große räumliche Entfernungen eingekoppelt. Gegen diese Störungen ist das digitale Signal aber sehr gefeit im Unterschied zum analogen Signal. Die Verfälschungen beim empfängerseitig mit DigitalAnalog-Umsetzer (DAU) rückgewandelten Analogsignal setzen sich aus dem sendeseitig produzierten Quantisierungsfehler und den auf Grund von Störungen entstandenen Bitfehlern zusammen. Beide Fehlereinflüsse lassen sich durch technische Maßnahmen nahezu beliebig klein halten. Nicht nur die Fehlereinflüsse, auch Bandbreite läßt sich durch entwurfstechnische Maßnahmen beeinflussen, wie nachfolgend gezeigt wird. 6.1. Austauschbarkeit von Bandbreite und Störabstand Die Symbolrate und damit die nach Gleichung (Gl. 6) erforderliche Übertragungsbandbreite Ba lassen sich halbieren, ohne daß dabei zugleich auch die Bitrate (also der Info rmationsfluß) halbiert wird, indem anstelle binärer Symbole quaternäre Symbole der doppelten Symboldauer verwendet werden. Mit Abb. 139.10 werden diese Zusammenhänge noch einmal erläutert. Jedes quaternäre Symbol repräsentiert zwei Bits (ein Dibit). Die in Abb. 139.10 benutzte Zuordnung ist dieselbe wie in Abb. 139.5 bzw. Tab. 139.1. Wie in Abb. 139.10 zugleich verdeutlicht, wird der mit quaternären Symbolen erzielte Vorteil der Halbierung der Übertragungs-

zulässige Störungen — o -

b. 0

ñ

c,

Abb. 139.10: Zulässige Störungen bei einem quaternären NRZ-Signal (a) und einem binären N R Z Signal (b) gleicher Bitrate und gleichem Signalhub d=\.

handbreite (auf Grund der doppelten Symboldauer) erkauft durch eine starke Reduzierung der zulässigen Störamplituden, wenn das binäre und das quaternäre Digitalsignal den gleichen Signalhub H = d = 1 haben. In realen technischen Systemen ist der maximal zulässige Signalhub durch die Aussteuergrenzen von Übertragungseinrichtungen festgelegt. Werden statt binärer Symbole okternäre (achtwertige) Symbole verwendet, dann reduziert sich gegenüber dem binären Fall die erforderliche Übertragungsbandbreite bei gleicher Bitrate auf ein Drittel, weil mit jedem okternären Symbol 3 Bit transportiert werden. Dann müssen die zulässigen Störungen aber noch erheblich kleiner sein. Bei Wahl Märer Symbole nähert man sich mit wachsendem M immer mehr der unteren Grenze Bs für die erforderliche Mindestübertragungsbandbreite Bümill. Dabei ist Bs die Signalbandbreite des Analogsignals. Gleichzeitig wächst aber die Forderung an Störfreiheit immens an. Als Maß für die Störfreiheit wird üblicherweise der Signalstörabstand ν verwendet. Darunter versteht man das Verhältnis von

1534

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

mittlerer Signalleistung Ps zu mittlerer Störleistung PN ν = ^ "n

(Gl. 14)

Ein fundamentales Ergebnis der mathematischen Informationstheorie besagt, daß die Kanalkapazität C eines Informationskanals oder Übertragungswegs gegeben ist durch die Beziehung C=5,:,ld(l

(Gl. 15)

Hierbei kennzeichnen C = /? /(max die maximale Bitrate, die der Kanal übertragen kann, und ld (...) den Logarithmus zur Basis 2. Es ist also z. B. ld 2 = 1, ld 4 = 2, ld 8 = 3 usw. Nach (Gl. 15) sind Ubertragungsbandbreite Ba und Signalstörabstand PslP\ austauschbar, denn es gilt ζ. B.

(Gl. 16) Bei Verdopplung der Ubertragungsbandbreite darf der Signalstörabstand auf dem Kanal kleiner (schlechter) sein, bei Vervierfachung der Übertragungsbandbreite schon sehr viel kleiner. Daß Übertragungsbandbreite und Störabstand im Prinzip austauschbar sind, war schon vor Entstehen der Informationstheorie bekannt. Aber erst die Informationstheorie lieferte den genaueren mathematischen Zusammenhang mit Gleichung (Gl. 15). Von der Austauschbarkeit war auch bei der Einführung des UKW-Hörrundfunks Gebrauch gemacht worden. Mit der dort verwendeten Frequenzmodulation F M wird die beanspruchte Übertragungsbandbreite um etwa den Faktor 10 vergrößert gegenüber dem Fall der Amplitudenmodulation AM beim Mittelwellenrundfunk. Das Resultat ist eine deutlich bessere Wiedergabequalität bei F M . Die mit F M erreichte Qualitätssteigerung ist aber noch weit entfernt von dem, was die Beziehung (Gl. 15) ermöglicht. Wesentlich günstiger ist da die digitale Übertragung. Bei ihr erreicht der Qualitätsgewinn asymptotisch das informationstheoretische Maximum. 6.2. Erhöhung der Störsicherheit durch Kanalcodierung Mit Hilfe der Kanalcodierung läßt sich die mittels digitaler Signale übertragene Infor-

mation (Nutzinformation) beliebig gut gegen Bitfehler schützen, welche auf Grund von Störungen bei der Übertragung auftreten (Steinbuch Rupprecht 1982). Das Prinzip dieses Schutzes besteht darin, daß auf der Sendeseite den informationstragenden Nutzbits noch redundante Bits hinzugefügt werden. Diese redundanten Bits dienen dazu, Bitfehler zu erkennen und sogar zu korrigieren. Nähere Einzelheiten werden anhand der Beispiele in Tab. 139.4 erläutert. Gezeigt werden Codes mit vier informationstragenden Binärstellen xu x2, X3, χ4. Mit diesen vier Stellen lassen sich die 16 verschiedenen Codewörter l . C W bis 16.CW bilden. Wenn beim ungeschützten Code, dessen Codewörter aus nur den informationstragenden Stellen bestehen, ein Bit eines Codeworts verfälscht wird, dann entsteht ein neues zugelassenes Codewort. Wird ζ. B. beim 3. CW 0010 die Stelle x 2 = 0 in x 2 = 1 verfälscht, dann entsteht das 7.CW 0110. Der IF-prüfbare Code entsteht aus dem ungeschützten Code dadurch, daß jedem Codewort des ungeschützten Codes ein Prüfbit y, in der Weise zugefügt wird, daß sich eine geradzahlige Anzahl von Einsen ergibt. Wird jetzt z.B. beim 3.CW 00101 die Stelle x2 = 0 in x2 = 1 verfälscht, dann entsteht mit 01101 ein Codewort mit einer ungeraden Anzahl (hier drei) von Einsen. Dieses Codewort ist aber nicht zugelassen. Damit wird erkannt, daß das Codewort falsch ist. Der Code ist also ein Fehler prüfbar. Da aber nicht bekannt ist, welches Bit falsch ist, kann der Fehler nicht korrigiert werden. Der gezeigte lF-korrigierbare Code gestattet nicht nur die Erkennung von Fehlern, sondern sogar die Korrektur eines Bitfehlers im Codewort. Wird ζ. B. wieder beim 3. CW die Stelle A2 = 0 in x2 = 1 verfälscht, dann entsteht die Bitkombination 0110111, die nicht zugelassen ist. Vergleicht man diese nicht zugelassene Bitkombination mit allen 16 zugelassenen Codewörtern, dann stellt man fest, daß sich die Bitkombination vom 3. CW nur in einer einzigen Stelle, nämlich in der Stelle x2 unterscheidet, während sie sich von allen übrigen Codewörtern in mindestens zwei oder mehr Stellen unterscheidet. Die Korrektur erfolgt damit mit der Entscheidung für das 3. CW. Wie man sich überzeugen kann, unterscheiden sich dank dreier Prüfstellen y1, y2, y3 sämtliche Codewörter des lF-prüfbaren Codes in mindestens drei Binärstellen. Wird also eine Binärstelle verfälscht, dann unterscheidet sich die so ent-

1535

139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik Tab. 139.4

ungeschützter Code X\

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

cw CW CW CW CW CW CW CW CW CW CW CW CW CW CW CW

0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1

0 0 0 0 1 1 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1

0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1

lF-prüfbarer Code

x4

Χι

0

0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1

1

0 1

0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1

0 0 0 0 1 1 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1

standene Bitkombination vom richtigen Codewort in nur einer Stelle, von allen anderen hingegen in zwei oder mehr Stellen. Es gibt eine sehr umfangreiche Theorie der störsicheren Kanalcodierung (Bossert 1992). Die hier kurz skizzierten Codes gehören zur Klasse der Block-Codes. Daneben gibt es noch die Klasse der Faltungscodes, bei denen eine klare Unterscheidung zwischen informationstragenden Bits und Prüfbits nicht möglich ist, die aber eine große Rolle u. a. beim Mobilfunk und bei der störsicheren Speicherung von Informationen auf Compact Discs spielen. 6.3. Bandbreiteffiziente komplexe modulierte Digitalsignale Eine Kosinusschwingung der Amplitude C und beliebigem Nullphasenwinkel φ läßt sich zusammensetzen durch Überlagerung einer Kosinusschwingung der Amplitude A und einer gleichfrequenten Sinusschwingung der Amplitude B. Es ist also Ccos(coi + φ) = A cos co? + Β sin co? (Gl. 17) Hierbei gelten C = \ A 2 + B2 tancp

(Gl. 18) (Gl. 19)

Die Zusammenhänge der Beziehung (Gl. 18) und (Gl. 19) sind in Abb. 139.11a graphisch veranschaulicht. Der eingezeichnete kleine

0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1

x4



Χι

0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1

0 1 1 0 1 0 0 1 1 0 0 1 0 1 1 0

0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1

lF-korrigierbarer Code x4 X2 X3 y 1 yi 0 0 0 0 1 1 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1

0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1

0 1

0 1

0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1

0 0 1 1 1 1 0 0 1 1 0 0 0 0 1 1

0 1 1 0 0 1 1 0 1 0 0 1 1 0 0 1

J3 0 1 1 0 1 0 0 1 0 1 1 0 1 0 0 1

Kreis repräsentiert die Schwingung C cos (cut + φ). Die Amplitude Centspricht der Strecke vom Koordinatenursprung bis zum Kreis. C ist mit A und Β über den Satz von Pythagoras verknüpft. Der Nullphasenwinkel φ ist gleich dem Winkel zwischen der Verbindungslinie Ursprung-Kreis und der Horizontalen. Abb. 139.11b zeigt 4 kleine Kreise, die je eine phasenverschobene Kosinusschwingung repräsentieren. Die vier Kosinusschwingungen haben die Nullphasenwinkel 45°, 135_°, 225 315 0 und alle die gleiche Amplitude V ' 2 . Betrachtet man von diesen vier Kosinusschwingungen jeweils nur einen zeitlichen Ausschnitt der Symboldauer Ts, dann repräsentieren die vier kleinen Kreise die vier Symbole eines 4-PSK-Digitalsignals. Der einzige Unterschied zum 4-PSK-Signal in Abb. 139.5d besteht darin, daß dort die vier Nullphasen die Werte 0°, 90°, 180°, 270° besitzen, was aber lediglich eine feste Verschiebung auf der Zeitachse t um 45°/ω bedeutet. Durch Wahl von A = + 1 oder A = — 1 und von Β = + 1 oder Β = — 1 läßt sich mit Gleichung (Gl. 17) jede der vier Nullphasen 45°, 135°, 225°, 315° erzeugen. Jede dieser vier Nullphasen repräsentiert ein Dibit (2 Bits). In Abb. 139.11c sind 16 kleine Kreise eingezeichnet, die wieder je einer Kosinusschwingung entsprechen, oder, wenn man nur einen zeitlichen Ausschnitt der Symboldauer Ts betrachtet, die 16 verschiedene Symbole eines modulierten Digitalsignals darstellen. Jedes der 16 Symbole stellt einen Konsinus-

1536

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

o

o 3

o

o

1

-1

cos

o a.

1 -1

-3

-1 o

o

o

o

o

o

o

o

1

3

0

b.

C.

Abb. 139.11: Zur Bildung von QAM-Digitalsignalen. a. Darstellung der Kosinusschwingung C cos (ωί + φ) b. 4-PSK-Signal c. 16-QAM-Signal

Ausschnitt dar, wobei die Amplitude des Kosinus durch die Länge der Verbindungslinie zwischen Kreis und Koordinatenursprung gegeben ist und die Nullphase durch den Winkel zwischen der Verbindungslinie und der Horizontalen. Wie man sieht, gibt es 3 verschiedene Amplitudenwerte und 12 verschiedene Nullphasen. Man bezeichnet das zugehörige Digitalsignal als 16-QAM-Signal. Solche 16-QAM-Signale werden beim digitalen Richtfunk verwendet. Jedes seiner 16 möglichen Symbole repräsentiert 4 Bit, denn 2 4 = 16. Bei gleicher Symboldauer Ts wird mit dem 16-QAM-Signal die doppelte Informationsmenge übertragen wie mit dem 4-PSKSignal. Die technische Erzeugung des 16QAM-Signals erfolgt mit zwei quaternären NRZ-Basisbandsignalen der Impulshöhe + 3, + 1 , —1, - 3 . Das eine quaternäre Basisbandsignal wird mit einer Kosinusschwingung, das andere mit einer Sinusschwingung multipliziert. Es wird dabei unterstellt, daß die Symboldauer Ts ein ganzzahliges Vielfaches der Periodendauer Τ der Kosinus- bzw. Sinusschwingung beträgt. Das digitale Fernsehen verwendet ein 64QAM-Signal, dem ein Gitter aus 64 kleinen Kreisen entspricht. Diese kleinen Kreise werden von den Koordinaten + 7, + 5, + 3, + 1, — 1, - 3, - 5, - 7 gebildet. Jeder dieser kleinen Kreise repräsentiert ein Symbol, das 6 Bit transportiert, weil 2 6 = 64. Über die Beziehung (Gl. 17) lassen sich modulierte Digitalsignale mit beliebig vielen unterscheidbaren Symbolen konstruieren. Je mehr Symbole verwendet werden, desto höher ist die damit übertragbare Bitrate bei gleicher Symboldauer bzw. Ubertragungsbandbreite (Kammeyer 1996).

7.

Informationsverarbeitung

Während die Informationsverarbeitung über große Entfernungen mit M-ären Digitalsignalen erfolgt, bei denen M je nach Art des Übertragungsweges relativ groß sein kann, ζ. Β. M = 64, erfolgt die Informationsverarbeitung heute ausschließlich mit binären Digitalsignalen ( M = 2). Bei der Übertragung wählt man M relativ groß, um kostbare Übertragungsbandbreite einzusparen. Nur im Fall starker Störungen wird man M klein wählen, wodurch auf Kosten der benötigten Übertragungsbandbreite die Störfestigkeit rasch zunimmt, wie in Abschnitt 6.1. gezeigt wurde. Richtfunksysteme verwenden oft M = 1 6 , Mobilfunksysteme oft M = 4, die digitale Fernsehübertragung in Kabeln teilweise M = 64. Bei der Informationsverarbeitung spielt die Bandbreite nur eine untergeordnete Rolle, weil die örtliche Verarbeitung von Information keine ausgedehnten Übertragungswege benötigt. Verarbeitet werden unipolare binäre R Z und NRZ-Signale gemäß Abb. 139.4, weil diese für mikroelektronische Halbleiterschaltkreise am günstigsten sind, vergleiche Abschnitt 2.4. Die Übertragung von Codewörtern zwischen den einzelnen Funktionseinheiten einer Rechenanlage (Computer, Prozessor) erfolgt einfachheitshalber parallel; vergleiche Abschnitt 4.3. Nachfolgend werden einige wichtige Aufgaben und prinzipielle Verfahrensweisen der Informationsverarbeitung vorgestellt. 7.1. Quellencodierung Eine für die Informationsübertragung sehr wichtige Aufgabe der Informationsverarbei-

139. Digitalisierung als Grundlage der elektronischen Informationstechnik

tung ist die Quellencodierung von Signalen (Jayant, Noll 1984). Die Fortschritte bei der Quellencodierung sind eines der wichtigsten Kennzeichen für die Fortschritte bei technischen Kommunikationssystemen. Das Ziel der Quellencodierung besteht darin, die interessierende Information eines primären Signals, ζ. B. eines Sprachsignals, mit einer möglichst geringen Bitrate R B zu übertragen. Wie in Abschnitt 5.3. ausgeführt wurde, liefert die übliche Analog-Digital-Umwandlung eines Sprachsignals in Fernsprechqualität eine Bitrate in Höhe R,¡ = 64 000 bit/sek. Verglichen mit dieser Rate ist der tatsächliche informationstheoretisch ermittelte Informationsfluß sehr gering, was sich mit der folgenden groben Abschätzung belegen läßt. Wird ein mit Buchstaben gedruckter Text in normaler Sprechgeschwindigkeit vorgelesen, dann entspricht das einem Ablesen von etwa 10 Buchstaben pro Sekunde. Wenn sich jeder Text durch etwa 32 Buchstaben (inklusive Pausen und Betonungen) ausdrücken läßt, dann ergibt das bei der gesprochenen Sprache einen Informationsfluß von etwa 50 bit/sek., weil sich jeder der 32 Buchstaben durch 5 bit ausdrücken läßt (vgl. Abschnitt 4.3.). Diese Riesendiskrepanz zwischen 64000 bit/sek und den 50 bit/sek, die eine akustische Schreibmaschine aufzeichnen würde, beruht darauf, daß die analogen akustischen Schallwellen wie auch das daraus mit einem ADU gewonnene Digitalsignal große Anteile enthalten, die im Sinne der Informationstheorie keine Nutzinformation enthalten, d. h. redundant sind ähnlich wie das auch die Prüfbits von fehlergeschützten Codes in Abschnitt 6.3. sind. In der Tat ist das akustische Sprachsignal recht fehlerresistent. Man kann es stark verzerren, ohne daß dabei die Verständlichkeit besonders leidet. Die Aufgabe der Quellencodierung besteht darin, bei den zu übertragenden Signalen möglichst viel Redundanz zu entfernen, um möglichst nur die informationstragenden Anteile zu übertragen. Eine effiziente Quellencodierung gelingt bei einem Digitalsignal viel besser als bei einem Analogsignal, weil für die Verarbeitung des Digitalsignals leistungsfähige Prozessoren (oder Rechner) zur Verfügung stehen. Beim derzeitigen GSM-Mobilfunk werden Quellencodierer verwendet, mit welchen die Bitrate bei Sprache auf 13 000 bit/sek und teilweise schon auf 6500 bit/sek abgesenkt

1537

wird. Neuere Forschungsergebnisse haben aufgezeigt, wie bei Sprache die Rate bis auf 1000 bit/sek abgesenkt werden kann und wie aus diesem niederratigen Bitstrom wieder natürlich klingende Sprache zurückgewonnen werden kann. Der Signalverarbeitungsaufwand dafür ist mit vielen Mflops (Mega floating point operations per secound = Millionen Gleitkomma-Operationen pro Sekunde) aber noch immens. Für die Quellencodierung von Bewegtbildsignalen stehen heute bereits derart leistungsfähige Verfahren zur Verfügung, daß innerhalb der gleichen Ubertragungsbandbreite, die für die Übertragung eines analogen Fernsehbildsignals benötigt wird, acht digitale Fernsehbildsignale übertragen werden können. 7.2. Weitere wichtige Anwendungen der digitalen Signalverarbeitung Ein großes Anwendungsfeld der digitalen Signalverarbeitung ist das der digitalen Filter (Lacroix 1996). Filter werden benötigt z.B. zur Bandbegrenzung von Spektren (vergleiche Abschnitt 5.2.) oder zur Herausfilterung gewünschter Spektralbereiche aus einem breiten Gesamtspektrum. Jeder Rundfunkempfänger besitzt ein Filter, mit dessen Hilfe man das Spektrum desjenigen Senders ausfiltert, den man empfangen will. Ein digitales Filter funktioniert im Prinzip so, daß das Gesamtsignal, aus dessen Gesamtspektrum ein gewisses Teilspektrum ausgefiltert werden soll, zunächst mit einem Analog-Digital-Umsetzer digital gewandelt wird. Die Folge der digitalen Codewörter wird dann in einen digitalen Prozessor eingespeist, der aus der Folge der eingespeisten Codewörter eine passende Folge anderer Codewörter berechnet, die nach anschließender Digital-Analog-Umsetzung ein Signal liefern, welches das herauszufilternde Teilspektrum besitzt. Weitere Aufgaben der digitalen Signalverarbeitung bestehen in der Analyse gegebener Signale zum Zweck der Erkennung bestimmter Merkmale. Im Prinzip lassen sich beliebig viele unterschiedliche Aufgaben nennen. 7.3. Zur technischen Realisierung Bei der technischen Realisierung von digitaler Informationsverarbeitung unterscheidet man zwei große Bereiche, die Hardware und die Software (Wendt 1989). Die Hardware wird gebildet von elektronischen Schaltungen, mit deren Hilfe die Bits

1538

XXXIII. Technische Grundlagen der Medien V: Elektronische Informationsverarbeitung

digitaler Signale gespeichert und zwischen verschiedenen Speichern in gewünschter Weise hin und hertransportiert werden können und mit denen Bits, die in verschiedenen Speichern abgelegt sind, miteinander logisch verknüpft werden können. Es gibt drei logische Grundverknüpfungen, mit denen sich jede denkbare Umwandlung digitaler Codewörter und damit jede gewünschte digitale Informationsverarbeitung durchführen läßt. Diese Grundverknüpfungen sind die Konjunktion (Und-Verknüpfung), die Disjunktion (Oder-Verknüpfung) und die Negation. Alle drei Grundverknüpfungen lassen sich mit elektronischen Schaltungen in relativ einfacher Weise verwirklichen. Man nennt diese Schaltungen logische Schaltungen. Mit logischen Schaltungen und Speichern lassen sich Addierer, Multiplizierer, Vergleicher, Tore und dergleichen, kurz ganze Prozessoren zusammensetzen, die dann alle zusammen die Hardware eines informationsverarbeitenden Systems ergeben. Alles Weitere ist dann Gegenstand der Software. Bei der Software unterscheidet man mehrere Ebenen. Die unterste Ebene ist die Ebene der Mikroprogrammierung. Ein Mikroprogramm legt fest, wie bestimmte mehrschrittige Verknüpfungen, ζ. B. die Addition oder die Multiplikation zweier Dualzahlen, durchgeführt werden. Ein Mikroprogramm ist fest an die Hardware gekoppelt. Auch können einzelne Mikroprogramm befehle durch festverdrahte Hardware ersetzt werden. Die nächst höhere Ebene ist die Ebene der Maschinensprache. Befehle der Maschinensprache sind dadurch gekennzeichnet, daß in jedem Befehl mindestens zwei Teile unterschieden werden können, nämlich der sogenannte Operationsteil (die-

ser enthält Anweisungen wie Addieren, Kopieren, Löschen, Verschieben und dergleichen) und der Adreßteil (der festlegt, wo das Operationsergebnis abzulegen ist oder von wo die Operanden herzuholen sind). Die Informationsverarbeitung mit einem modernen Prozessor-Baustein, wie ihn jeder Personalcomputer enthält, wird mittels Maschinensprache durchgeführt. Der Benutzer eines Computers kommt aber weder mit dem Mikroprogramm noch mit dem Maschinenprogramm in Berührung. Er verwendet eine der zahlreichen benutzerfreundlichen höheren Programmiersprachen, deren Befehle und Programme im Computer dann in das Maschinenprogramm übersetzt werden, welches seinerseits den Prozessor steuert.

8.

Literatur

Bossert, M., Kanalcodierung. Stuttgart 1992. Jayant, N. S., P. Noll, Digital Coding of Waveforms. Prentice-Hall, Inc. Englewood Cliffs, NJ 1984. Kammeyer, D., Nachrichtenübertragung. gart 2 1996.

Stutt-

Lacroix, Α., Digitale Filter. 4. Aufl. München/ Wien 1996. Rupprecht, W., Signale und Ubertragungssysteme. Berlin/Heidelberg/New York 1993. Steinbuch, K., W. Rupprecht, Nachrichtentechnik. Band II. Berlin/Heidelberg/New York 3 1982. Walke, B., Datenkommunikation. Heidelberg 1987. Wendt, S., Nichtphysikalische Grundlagen der Informationstechnik. Berlin/Heidelberg/New York 1989.

Werner Rupprecht,

Kaiserslautern ( Deutschland)

XXXIV. Geschichte des Fernsehens 140. Geschichte des Fernsehens 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Frühgeschichte Fernsehen im Zweiten Weltkrieg Auf dem Wege zum Massenmedium Organisationsformen Das duale Fernsehsystem Programmgeschichte Deregulierung Konzentration Literatur

1.

Frühgeschichte

Die Vor- und Frühgeschichte des Fernsehens ist im wesentlichen Geschichte der Fernsehtechnik. Einer der Väter des Fernsehens, Professor Walter Bruch (1908-1990), Erfinder des PAL-Farbfernsehsystems, schrieb dazu in seinen Erinnerungen: „Für das Programm hatten wir uns nie interessiert. Wir kümmerten uns nur um die Qualität der Bildübertragung". Zur Entwicklung der technischen Voraussetzungen des Fernsehens haben Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. Pioniere aus den Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Russland beigetragen. Jahrzehntelang war diese Entwicklung beherrscht von der Auseinandersetzung zwischen zwei Schulen, die sich an Erfindungen deutscher Wissenschaftler orientierten, an Paul Nipkows (1860-1940) Verfahren eines „elektrischen Teleskops" (Abtasten eines Bildes, Zerlegung in Punkte und Wiederzusammensetzung mit rotierenden Lochscheiben) und an Karl Ferdinand Brauns (1850—1918) Methode der Umwandlung von Licht in transportable elektrische Energie mit Hilfe der 'Braunschen Röhre'. Das erste wirklich funktionierende Fernsehgerät, ein 'Bildschreiber', war 1906 von Max Dieckmann (1882—1960), Assistent von Professor Braun, vorgestellt worden. Die Nipkow-Scheibe, am 6. Januar 1884 patentiert, wurde bis 1938 verwendet. Dann hatte die Braun-Schule endgültig gesiegt. Der Begriff 'Fernsehen' wurde durch E. Liesegangs Buch 'Beiträge zum

elektrischen Fernsehen' 1891 eingeführt. Die Institutions- und Programmgeschichte beginnt mit der Ausstrahlung von Fernsehprogrammen als Dienst für die Öffentlichkeit. Der erste regelmässige Fernseh-Programmbetrieb der Welt begann am 22. März 1935 in Deutschland mit Ausstrahlungen des Fernsehsenders 'Paul Nipkow', Berlin. Auch in Frankreich brachte das Jahr 1935 die Geburtsstunde des Fernsehens. Am 2. November 1936 eröffnete die British Broadcasting Corporation (BBC) ihren regelmässigen Fernsehprogrammdienst. Der Programmdienst in den Vereinigten Staaten wurde am 30. April 1939 aufgenommen, im Rahmen der New Yorker Weltmesse von der National Broadcasting Company (NBC), einer Tochter der Radio Corporation of America (RCA). Sechs Monate vor Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg wurde 1941 der erste kommerzielle amerikanische Fernsehsender lizensiert. Erster Höhepunkt der Fernsehprogrammgeschichte war die Übertragung der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin durch den Fernsehsender 'Paul Nipkow'. Angekündigt wurden in der Eröffnungssendung am 1. August 1936 „direktes Übertragen der wichtigsten Kampfphasen von den Olympischen Kampfstätten und in Abwechslung Darbietungen erster deutscher Künstler mit Tonfilmen der Filmindustrie und des aktuellen Bilddienstes des Fernsehsenders 'Paul Nipkow', Berlin". Für die Weltausstellung 1937 in Paris entwickelte der französische Ingenieur René Barthélémy ein Fernsehsystem mit 455 Zeilen. Deutschland führte 1938 eine Norm von 441 Zeilen ein. Deutschland präsentierte auf der Pariser Ausstellung eine 'Gegensehanlage', ein Fernsehtelephon. Weit von der Vorstellung eines Massenmediums entfernt, waren die regelmäßigen Fernsehausstrahlungen in den ersten Jahren Programm ohne Publikum. Die Übertragungen von den Olympischen Spielen 1936 konnten in 27 Fernsehstuben der deutschen Reichspost in Berlin und Potsdam empfan-

1540

XXIV. Geschichte des Fernsehens

gen werden; das bedeutete etwa 1000 Zuschauer. Es gab 50 Geräte für individuelle Nutzung in Ministerien und bei der Industrie. Bei der Eröffnung am 30. April 1939 in New York waren in der Stadt und auf dem Ausstellungsgelände 150 Empfangsgeräte vorhanden. Das Fernsehen der BBC, das bis 1962 bei 405 Zeilen blieb, erreichte bis zum Zweiten Weltkrieg immerhin regelmäßig etwa 20 000 Zuschauer, mehr als das Fernsehen in den Vereinigten Staaten. Auf der Berliner Funkausstellung 1939 wurde der deutsche Fernseh-Einheitsempfänger vorgeführt. Er sollte 1940 für 650 Reichsmark in den Handel kommen (1935 waren noch 1800 Reichsmark für einen Empfänger veranschlagt worden). Von den geplanten 10000 Empfängern der ersten Serie wurden nur 50 tatsächlich fertiggestellt.

2.

Fernsehen im Zweiten Weltkrieg

Bei Kriegsausbruch am 1. September 1939 verfügte die britische Regierung die Einstellung des Sendebetriebs des BBC-Fernsehens. Die amerikanische Regierung verbot 1942 die Produktion von zivilen Fernsehempfangern. Von den inzwischen entstandenen drei grossen amerikanischen Fernseh-Networks — American Broadcasting Company (ABC), Columbia Broadcasting System (CBS) und National Broadcasting Company (NBC) — unterbrachen CBS und NBC ihre Fernsehtätigkeit bis 1944. In Deutschland war das Fernsehen während des Krieges im wesentlichen für die Unterhaltung verwundeter Soldaten in Berliner Lazaretten bestimmt. Am 23. November 1943 wurde der Berliner Fernsehsender durch alliierte Bomben zerstört. Das Programm wurde bis Ende 1944 über Kabel in die Lazarette geleitet. Im besetzten Paris begann am 7. Mai 1943 unter deutscher Leitung ein Fernsehprogramm aus einem Studio in dem ehemaligen Tanzpalast 'Magic City Dancing', unter Mitwirkung französischer Künstler, teilweise in französischer Sprache. Der auf dem Eiffelturm befindliche Sender strahlte täglich etwa vier Stunden Fernsehprogramm aus. Das Pariser Programm galt als Modell für ein europäisches Nachkriegsfernsehen unter deutschem Einfluss. Empfangen wurde das Programm auf etwa 200 Geräten in Lazaretten in Paris und Umgebung, in einem Fernsehtheater und auf mehreren hundert privaten Geräten. Der Sender reichte ungefähr 70 Kilometer weit.

An der britischen Kanalküste konnte das Programm mit Spezialantennen empfangen werden. Die britischen Militärbehörden erhofften sich davon Erkenntnisse über die Wirkung britischer Luftangriffe auf Paris sowie über die Stimmung in Deutschland wie in Frankreich. Die letzte Sendung wurde am 16. August 1944, kurz vor der Befreiung von Paris, ausgestrahlt. Studio und Sender wurden den Alliierten unbeschädigt übergeben. Sofort nach dem Abzug der Deutschen nahm der Sender seinen Betrieb wieder auf. In der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, in der die deutschen Raketenwaffen entwickelt und erprobt wurden, war eine Fernsehverbindung zwischen dem Startplatz der Raketen und einem weiter entfernten Beobachtungsstand eingerichtet worden. Ein Projekt, Fernsehkameras in deutsche Gleitbomben einzubauen und die Bomben mit einem Zielgerät zu lenken, kam über das Versuchsstadium nicht hinaus.

3.

Auf dem Wege zum Massenmedium

In den Vereinigten Staaten entschied die Federal Communications Commission (FCC) 1941, dass das amerikanische Fernsehen mit 525 Zeilen und 30 Bildern pro Sekunde arbeiten solle. Das gilt auch noch heute. Nach dem Ende des Krieges gab die FCC dreizehn Ultrakurzwellenfrequenzen für das Fernsehen frei, mit der Folge, daß binnen kurzem 400 Sendestationen entstanden, die einander empfindlich störten. Daraufhin fror die FCC den status quo bis 1952 ein und vergab danach Sendelizenzen nach einem Generalplan. Damit war der Weg frei zur Entwicklung des Fernsehens zu einem Massenmedium. Die Vereinigten Staaten waren das erste Land, in dem diese Entwicklung stattfand. 1953 waren dort bereits 20 Millionen Fernsehgeräte in Betrieb. Ein Empfanger war schon für 170 Dollar zu haben. In Europa kam die durch den Krieg unterbrochene Fernsehentwicklung langsam wieder in Gang. In Deutschland hatten die Besatzungsmächte unmittelbar nach Kriegsende jegliches Fernsehen verboten. In der Anordnung der britischen Militärregierung vom 1. Januar 1948 über die Gründung des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) heisst es: „Die Rundfunksendungen sollen in Sprache und Musik (später, sobald technisch möglich, auch im Bilde) Unterhaltung, Bildung, Belehrung und Nachrichten vermitteln". Am 13. August 1948 beschloss der Ver-

1541

140. Geschichte des Fernsehens

waltungsrat des N W D R mit britischer Genehmigung, einen Fernsehversuchsbetrieb aufzubauen. Von 1950 bis 1952 strahlte der N W D R in Hamburg und Berlin dreimal wöchentlich meist für zwei Stunden ein Versuchsprogramm aus. Die tägliche Ausstrahlung und damit das offizielle Fernsehprogramm begann am 25. Dezember 1952. Der 1. Januar 1954 war der Starttag des 'Deutschen Fernsehens', eines Gemeinschaftsprogramms der in der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten der westdeutschen Länder. In Grossbritannien wurden die Fernsehsendungen der BBC am 7. Juni 1946 wieder aufgenommen. Das grösste Fernsehereignis der unmittelbaren Nachkriegszeit, das von der BBC in die ganze Welt übertragen wurde, war die Krönung der Königin Elisabeth II. am 2. Juni 1953. Auf dem europäischen Kontinent konnte die Übertragung auf 70000 Fernsehgeräten in Frankreich, je etwa 5000 in Deutschland und Holland und 700 in Dänemark verfolgt werden. Dabei waren die unterschiedlichen Fernsehnormen in den europäischen Ländern zu berücksichtigen. Großbritannien hatte sich 1938 auf 405 Zeilen festgelegt, in Frankreich hatte ein Regierungsdekret vom 20. November 1948 819 Zeilen vorgeschrieben. In Deutschland galt die 625-Zeilen-Norm. 1952 hatten sich auf Schweizer Initiative acht westund nordeuropäische Staaten — ausser Grossbritannien und Frankreich — auf 625 Zeilen bei 25 Bildern pro Sekunde verständigt. Bei Programmübernahmen und -austausch waren Anpassungsmassnahmen erforderlich. Auch die Einführung des Farbfernsehens war durch Auseinandersetzungen über die Norm geprägt. Seit 1953 wurde in den Vereinigten Staaten für Farbfernsehsendungen das NTSC-System verwendet, benannt nach dem National Television System Committee. Es führte bei ungünstigen Übertragungsbedingungen zu Farbverfälschungen auf den Empfängern. Das von Henri de France geschaffene französische System SECAM (Séquence à Mémoire) hatte Schwächen im Studiobereich. Das in Deutschland von Walter Bruch erfundene PAL-Farbfernsehsystem (Phase Alternation Line) galt als das qualitativ beste. Die Entscheidungen der einzelnen Länder über das einzuführende System waren teilweise politisch geprägt, auch durch außenpolitische

Rücksichtnahmen oder Zweckbündnisse. Großbritannien, die Bundesrepublik Deutschland, die skandinavischen Staaten, Irland, Holland, Österreich und die Schweiz entschieden sich für das PAL-System; nach längerem Zögern und zur Vermeidung einer Regierungskrise tat dies auch Italien. Frankreich hielt an SECAM fest. Auf Intervention von Präsident de Gaulle entschied sich die Sowjetunion ebenfalls für SECAM. Ihr folgten die anderen Länder des Ostblocks einschliesslich der D D R , während China PAL übernahm. 1978 hatten sich 48 Staaten für PAL, 33 für NTSC und 27 für SECAM entschieden. Am 25. August 1967 eröffnete Bundeskanzler Willy Brandt auf der Berliner Funkausstellung symbolisch durch Knopfdruck das Farbfernsehen in Deutschland. 1968 strahlten die öffentlichrechtlichen deutschen Fernsehprogramme etwa 17 Prozent ihrer Sendungen in Farbe aus; 1973 waren es bereits 90 Prozent. In Asien fand der Start des Fernsehens später statt als in den Vereinigten Staaten und Europa. Im Mai 1958 begann mit Ausstrahlungen des Senders Peking das Fernsehen in der Volksrepublik China. Im Dezember 1972 gab es in jeder chinesischen Provinz — ausser in Tibet — mindestens eine Fernsehstation. Zu dieser Zeit gehörte Taiwan, wo das Fernsehen 1962 eingeführt wurde, schon zu den Ländern mit der größten Fernsehdichte (260 Geräte auf 1000 Personen). Indiens Fernsehen begann am 15. September 1959 mit einem Versuchsprogramm aus Neu-Delhi als Teil eines UNESCO-Projekts; ein allgemeines Fernsehprogramm besteht seit 1965. Die japanische, als 'Public Corporation' organisierte Rundfunkgesellschaft Nippon Hoso Kyokai (NHK) eröffnete ihren Fernsehdienst im Februar 1953, unmittelbar gefolgt von der privaten Fernsehgesellschaft Nikon Television (NTV).

4.

Organisationsformen

Weltweit bildeten sich drei Organisationsformen des Fernsehens, wie auch des Hörfunks, heraus: öffentlich-rechtlich, staatlich und privatrechtlich-kommerziell. Prinzipiell wird das staatliche Fernsehen aus dem Staatshaushalt finanziert, das öffentlich-rechtliche aus Gebühren, die von jedem gezahlt werden, der ein Fernsehgerät zum Empfang bereithält, und das privat-rechtlich-kommerzielle durch Werbung oder als Bezahlfernsehen (Pay-TV) im Abonnement oder Einzelbezug (Pay-per-

1542 view). Es gibt eine ganze Reihe von Mischformen und von Finanzierung aus mehreren Quellen. Die öffentlich-rechtliche Version orientierte sich in Europa und in Ländern des britischen Commonwealth in erster Linie an dem Modell der British Broadcasting Corporation (BBC). Unter staatlicher Kontrolle, in der Programmgestaltung praktisch unabhängig, allein aus Gebühren finanziert, repräsentiert sie exemplarisch die Idee von Rundfunk im Dienste der Öffentlichkeit (Public Service). Ihren öffentlich-rechtlichen Charakter hat die BBC seit 1927; vorher war sie privatwirtschaftlich organisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich von der britischen Besatzungszone aus, wo eine deutsche Rundfunkorganisation nach dem Vorbild der BBC geschaffen worden war, der im Aufbau befindliche Rundfunk in Westdeutschland weitgehend an diesem Modell. Zu den in der A R D zusammengeschlossenen öffentlich-rechtlichen Anstalten auf der Basis einzelner Länder war durch Staatsvertrag aller Länder vom 6. Juni 1961 das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) hinzugetreten. A R D und Z D F wurden und werden, anders als die BBC, durch Gebühren und Werbeeinnahmen finanziert. Der Anteil der Werbeeinnahmen am Gesamteinkommen betrug zunächst beim Z D F etwa 40 Prozent, bei der A R D etwa 20 Prozent; er ging nach der Einführung konkurrierenden privatrechtlichen, aus Werbung finanzierten Fernsehens massiv zurück. Staatliches Fernsehen gab und gibt es in einigen europäischen Ländern, in Asien und generell in Afrika. In den kommunistisch regierten Staaten hatte das Fernsehen, wie alle Medien, den Zielen der Partei zu dienen und wurde von ihr unmittelbar beherrscht. So unterstand das Fernsehen in der D D R , das nach einem Versuchsstadium vom 3. Januar 1956 an sendete, bis kurz vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems dem Staatlichen Komitee für Fernsehen beim Ministerrat der DDR; entsprechend war der D D R - H ö r f u n k dem Staatlichen Komitee für Rundfunk unterstellt. Beide Komitees waren an das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrats und an das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gebunden. Das entsprach den Prinzipien des kommunistischen „demokratischen Zentralismus" und der Führungsrolle der SED als der Staatspartei. Heinz Adameck, bis 1989 Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen, charakterisierte 1962 die Rolle des

XXIV. Geschichte des Fernsehens

Fernsehens in der D D R wie folgt: „Das Fernsehen ist eines der bedeutendsten Mittel zur Verwirklichung der Politik von Partei und Regierung. Seine Grundaufgabe besteht darin, bei der geistigen Formung des Menschen der sozialistischen Gesellschaft mitzuhelfen". In der Volksrepublik China gehört das Fernsehen auch heute noch in den Hoheitsbereich des Staates und ist den Organen der Öffentlichkeitsarbeit der Kommunistischen Partei verantwortlich. Seine Aufgabe ist es, „das Volk aufzuklären, zu erziehen und zur Solidarität aufzurufen". Das klassische Modell des privatwirtschaftlich-kommerziellen Fernsehens ist das der Vereinigten Staaten, des ersten Landes, in dem das Fernsehen zum Massenmedium wurde. Die Vereinigten Staaten sind der wichtigste Exporteur von Fernsehprogrammen und haben sich weltweit als beispielgebend in Programm, Technik und Organisation des Fernsehens erwiesen. Auch die Messung des Programmerfolgs nach Einschaltquoten (Ratings) ist amerikanischen Ursprungs. Von den Vereinigten Staaten aus hat sich das kommerzielle Fernsehen international ausgebreitet, sich als Konkurrent der anderen Modelle etabliert, ihre Monopolstellung in vielen Ländern gebrochen und sie in ihrer Akzeptanz und Wirkung reduziert.

5.

D a s duale Fernsehsystem

Die Koexistenz von privatrechtlich-kommerziellem und staatlichem bzw. öffentlich-rechtlichem Fernsehen wird als duales System bezeichnet. 5.1. Vereinigten Staaten In bescheidener Ausprägung besteht ein duales System auch in den Vereinigten Staaten. Nach dem Generalplan von 1952 wurden in allen Landesteilen Sendekanäle auch nichtkommerziellem Educational TV zugewiesen. Als erste nichtkommerzielle Station nahm die der Universität Houston (Texas) 1953 ihre Tätigkeit auf. 1967 schlossen sich die nichtkommerziellen Stationen zu einem Network zusammen, dem Public Broadcasting System (PBS). Eine Corporation for Public Broadcasting (PBC) ist für die finanziellen Belange zuständig. Finanziert werden die nichtkommerziellen Stationen von Gemeinden, Universitäten, Stiftungen, durch Spenden von Privatleuten und Industrieunternehmen (eine Zeit lang vor allem durch Zuwendungen von Ölgesellschaften), durch Zuschüsse des Bun-

140. Geschichte des Fernsehens

des und einzelner Staaten, durch Beiträge von Vereinsmitgliedern und durch Sponsoring. Eine auch nur annähernde Wettbewerb sgleichheit mit den kommerziellen Veranstaltern besteht nicht. Durch Kürzungen der staatlichen Zuschüsse sind die PBS-Stationen immer wieder in ihrer Existenz bedroht. 5.2. Großbritannien In Großbritannien wurde das Rundfunk- und damit auch das Fernsehmonopol der BBC durch die Einführung eines Systems aufgehoben, das als „das am stärksten öffentlich gezähmte privatwirtschaftliche Rundfunksystem" gilt. Das 1954 eingeführte Independent Television (ITV) wird allein durch Werbung finanziert, während die BBC ihre Finanzmittel allein aus Rundfunkgebühren erhält. Wie die BBC ist ITV „Public Service" mit einem ähnlichen Programmauftrag (Information, Bildung, Unterhaltung) und mit ähnlichen Kontrollorganen. In den ersten Jahrzehnten der britischen Form des dualen Systems waren die inhaltlichen Kontrollen der Aufsichtsorgane bei ITV sogar strikter und umfassender als bei der BBC. ITV hat sich, besonders auf dem Gebiet der Information und der Fernsehspiele, als Qualitätsfernsehen etabliert. Der 1982 gegründete werbefinanzierte Channel 4 bietet auch experimentelle Sendungen und Programme für Minderheiten. 5.3. Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland scheiterte ein Versuch des Bundeskanzlers Adenauer, ein 'Freies Fernsehen' als privatrechtliche Gesellschaft unter staatlicher Kontrolle, praktisch als Regierungsfernsehen, einzuführen, an dem ersten Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1961. Das Gericht war von sozialdemokratisch geführten Bundesländern angerufen worden. Es bestätigte die Zuständigkeit der Bundesländer für den Rundfunk, also auch für das Fernsehen, und schloss staatliches Fernsehen grundsätzlich aus. Durch Staatsvertrag aller Bundesländer wurde das öffentlich-rechtliche Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) eingeführt, das am 1. April 1963 seinen bundesweiten Programm betrieb von Mainz aus aufnahm. Fernsehkonkurrenz in der Bundesrepublik Deutschland beschränkte sich danach zunächst auf den journalistischen Wettbewerb zwischen dem Z D F einerseits und der A R D andererseits mit ih-

1543 rem bundesweiten Fernseh-Gemeinschaftsprogramm sowie den sich seit 1964 etablierenden regionalen Dritten Programmen. Wirtschaftliche Erwartungen, die Erweiterung der technischen Verbreitungsmöglichkeiten sowie Unzufriedenheit mit dem inhaltlichen Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, insbesondere Kritik an angeblich nicht genügender Erfüllung des Ausgewogenheitsgebots, waren 1984 maßgebend für die Einführung privatrechtlich-kommerziellen Fernsehens, das politisch vor allem von der Christlich-Demokratischen Union und der Freien Demokratischen Partei gefordert und gefördert wurde. Aus dem Kabelpilotprojekt Ludwigshafen, einem von vier solcher Projekte, ging der Privatsender SAT. 1 hervor, an dessen Gründung Zeitungsverleger maßgeblich beteiligt waren. Er begann seine Sendungen am 1. Januar 1984, erreichte aber anfangs nur 3000 Kabelhaushalte in Ludwigshafen. Einen Tag später nahm der Privatsender RTLplus aus Luxemburg seine Fernsehsendungen für Deutschland auf. Er war zu Beginn terretristisch im Saarland sowie in Teilen von Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen für 300 000 Haushalte empfangbar. Anteilseigner waren bei Sendebeginn die Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion (CLT) mit 60 Prozent und die zum Bertelsmann-Konzern gehörende U f a Film und Fernseh GmbH mit 40 Prozent. RTLplus (später nannte sich der Sender RTL) zog zu Silvester 1987 nach Köln um und wurde damit vom ausländischen zum deutschen Fernsehveranstalter. Seit Dezember 1992 ist RTL meistens Marktführer im deutschen Fernsehprogrammangebot, das inzwischen durch eine ganze Reihe weiterer privater Fernsehveranstalter (mit Vollprogrammen und Spartenprogrammen) ergänzt wurde. Das Verhältnis zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Programmanbietern im dualen System wird in Deutschland wesentlich bestimmt durch die kontinuierliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Rundfunkangelegenheiten (bis 1997 acht Grundsatzentscheidungen). Das Gericht stellte fest, der Staat sei von Verfassungs wegen verpflichtet, in der dualen Ordnung des Rundfunks die „unerlässliche Grundversorgung" zu gewährleisten. Diese Aufgabe falle dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu. Unter Grundversorgung, die keine Mindestversorgung sei, seien Programme zu verstehen, „die umfassend und in der vollen Breite des klassischen Rundauftrags informieren". Zum

1544 „klassischen Rundfunkauftrag" gehöre auch die „kulturelle Verantwortung" des Rundfunks. Zur Erfüllung dieses Auftrags sah das Gericht eine Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als erforderlich an. So weit und so lange der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Grundversorgungsaufgabe ohne Einbuße erfülle, sei es gerechtfertigt, „an die Breite des Programmangebots und die Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt im privaten Rundfunk nicht gleich hohe Anforderungen zu stellen wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk". Die Freiheit des privatrechtlich-kommerziellen Rundfunks, sich mit seinen Programmen im Werbeinteresse überwiegend an hohen Einschaltquoten zu orientieren, hängt damit von der Existenz und der korrekten Aufgabenerfüllung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ab. Für das Fernsehen ist dies von besonderer Bedeutung. Die privaten Veranstalter bestreiten eine solche „Akzessorietät" des kommerziellen Angebots. Sie sehen sich in der Lage, technisch und inhaltlich Grundversorgung zu erbringen, und leiten daraus unter anderem die Forderung ab, Werbung sei den öffentlich-rechtlichen Veranstaltern nicht mehr zu gestatten und müsse allein den privatrechtlichen zu Gute kommen. Programme anzubieten, die tatsächlich Grundversorgungscharakter haben, unterliegt jedoch der - legitimerweise jederzeit korrigierbaren oder widerrufbaren — unternehmerischen Entscheidung des privaten Veranstalters. Er kann, anders als der öffentliche-rechtliche Rundfunk, zum Erbringen von Grundversorgung nicht verpflichtet werden. Eine entsprechende Verpflichtung wäre ein unerlaubter Eingriff in seine unternehmerische Freiheit. 5.4. Italien Von politischer Brisanz war die Entwicklung des privatrechtlich-kommerziellen Fernsehens in Italien, das dort nahezu völlig in den Händen des Unternehmers Silvio Berlusconi ist. Das italienische Verfassungsgericht hatte am 10. Juli 1974 das staatliche Rundfunkmonopol für die Radiotelevisione Italiana (RAI) bestätigt, und zwar mit Hinweis auf die hohen Kosten und die Begrenztheit der Frequenzen für privaten Rundfunk. Das Gericht entschied, das staatliche Monopol sei jedoch nur für nationale Netze zu rechtfertigen, nicht für die Ausstrahlung lokaler Hörfunkund Fernsehprogramme. In der Folge wurde eine ausserordentliche Vielzahl privater Fernsehsender auf lokaler Ebene gegründet. Fak-

XXIV. Geschichte des Fernsehens

tisch entstanden private nationale Networks, jedoch mit lokaler Abspielung der Programme. Demzufolge blieb das privatrechtliche Fernsehen in Italien jahrelang ohne nationale Nachrichtensendungen. Die RAI hatte 1961 ein zweites und 1979 ein drittes landesweites nationales Fernsehprogramm eingeführt. Das damals in Italien bestehende Parteiensystem ordnete den ersten Kanal der Christlich-Demokratischen Partei, den zweiten der Sozialistischen Partei und den dritten der Kommunistischen Partei (der späteren Partei der Demokratischen Linken) zu. Offiziell war die inhaltliche Orientierung der Programme von ihrer Parteinähe nicht beeinflusst. Der Unternehmer Silvio Berlusconi setzte als erstes faktisches privates nationales Network in den achtziger Jahren Canale Cinque von Mailand aus in Gang. 1982 erwarb er Italia Uno und 1984 Retequattro von italienischen Zeitungsverlegern. Die NetworkStruktur des italienischen privaten Fernsehens wurde 1990 legalisiert. Zu diesem Zeitpunkt war ein Duopol zwischen RAI und Berlusconi entstanden. Daneben besteht eine Vielzahl von privaten Lokalsendern, die sich durch Werbung und durch Teleshopping finanzieren. Berlusconis Imperium umfasst neben den drei werbefinanzierten nationalen Fernseh-Vollprogrammen 65 Prozent des Fernsehwerbemarkts, 39 Prozent des Gesamtwerbemarkts, 25 Prozent des Zeitschriftenmarkts, 30 Prozent des Buchmarkts und (über seinen Bruder) zwei Tageszeitungen. Berlusconi verdankt das Entstehen dieses Imperiums, nicht zuletzt was den Fernsehbereich angeht, politischer Protektion, vornehmlich durch die Sozialistische Partei, deren Chef, der Berlusconi-Gönner Bettino Craxi, zeitweiliger Ministerpräsident, nach dem Zusammenbruch des alten italienischen Parteiensystems nach Tunesien ins Exil ging. Berlusconi gründete seine eigene politische Partei, die Forza Italia, und war 1994 sieben Monate Regierungschef. Ihm wurde vorgeworfen, zur Erlangung und Sicherung seiner Macht die von ihm kontrollierten Medien, insbesondere das private Fernsehen, instrumentalisiert zu haben. Das Ergebnis einer Volksabstimmung im Juli 1995 sicherte ihm seine drei Kanäle gegen die Absicht, gesetzlich nur zwei Kanäle für einen privaten Inhaber zuzulassen. 5.5. Frankreich Berlusconi war beteiligt an dem privaten französischen Fernsehkanal La Cinq, der von

140. Geschichte des Fernsehens

1986 bis 1992 sendete und dann sein Programm einstellte, weil er sich wirtschaftlich nicht halten konnte. Er hatte sich nach einem weit verbreiteten Eindruck auch mit einem anspruchsvollen Informationsprogramm finanziell übernommen. Auf dem fünften französischen terretristischen Kanal senden seit 1992 abends ab 19.00 Uhr der durch eine deutsch-französische Initiative gegründete öffentlich-rechtliche europäische Kulturkanal ARTE (Association Rélative à la Télévision Européenne) und tagsüber bis 19.00 Uhr der 1994 ins Leben gerufene staatliche Bildungssender La Cinquième. La Sept/ARTE, der französische Partner ARTEs, hervorgegangen aus dem rein französischen Kulturkanal La Sept, sollte im Jahre 2000 in eine alle staatlichen französischen Sender umfassende Holding einbezogen werden. Dies unterblieb mit Rücksicht auf den deutsch-französischen zwischenstaatlichen Vertrag vom 30. April 1991, der die Unabhängigkeit ARTEs einschliesslich seiner nationalen „Pole" vom Staat vorsieht. Der französische Fernsehsender T F 1, ein direkter Nachfahre des ersten französischen Fernsehprogramms aus dem Jahre 1935, wurde 1986 privatisiert; er ist heute Marktführer. Weitere landesweite private Fernsehkanäle sind der Pay-TV-Sender Canal Plus, der erste kommerzielle Fernsehsender Frankreichs (seit 1984), der sich durch ein grosses Spielfilmangebot auszeichnet, und M 6 (früher TV 6, seit 1986), ein Vollprogramm mit musikalischem Schwerpunkt. Daneben gibt es eine Reihe privater Spartenprogramme, die über Kabel und Satellit verbreitet werden, sowie lokale private Fernsehprogramme in Ballungsräumen und in den überseeischen Gebieten. Von den sieben französischen terretristischen landesweiten Fernsehprogrammen sind vier öffentlich-rechtlich: France 2, ein „Programm für alle Bürger", France 3, ein Vollprogramm mit regionalem Schwerpunkt, La Cinquième und ARTE. Frankreich ist das einzige europäische Land, in dem nach Einführung des dualen Systems ein kommerzielles nationales Programm seine Tätigkeit einstellen musste und zwei öffentlich-rechtliche landesweit verbreitete Fernsehprogramme neu entstanden.

6.

Programmgeschichte

Das erste Fernsehprogramm der Welt, das am 22. März 1935 in Berlin ausgestrahlt wurde, begann nach einer Ansprache des

1545 Reichssendeleiters Hadamovsky mit einem Zusammenschnitt von Filmaufnahmen nationalsozialistischer Grosskundgebungen aus den Jahren 1933 und 1934 mit dem Titel „Der Führer spricht". Im Texrt hiess es: „Nun ist die Stunde gekommen, in der wir beginnen wollen, mit dem nationalsozialistischen Fernsehrundfunk Ihr Bild, mein Führer, tief und unverlöschlich in alle deutschen Herzen zu pflanzen". Angeboten wurden ferner ein Bericht „Mit dem Kreuzer Königsberg in See" sowie ein Trickfilm „Vorsicht! Es brennt!". Live war zunächst nur die Ansage. Erste Ansagerin war die Schauspielerin Ursula Patzschke. Da es für ihre Funktion noch keine Planstelle gab, wurde sie als „Facharbeiterin" angestellt mit der Maßgabe, in der ansagefreien Zeit als Filmkleberin im Fernsehlaboratorium tätig zu sein. Zu einem erheblichen Teil bestand das Programmangebot des neuesten Mediums aus Leistungen eines älteren, nämlich aus Spielfilmen. Mit Rücksicht auf die Kinos wurden im deutschen Fernsehprogramm zunächst nur solche Filme eingesetzt, deren Uraufführung „hinreichend weit" zurücklag. Während der gesamten Programmgeschichte des Fernsehens blieben Kino-Spielfilme ein wesentlicher Bestandteil der Programme. 1998 gab es im deutschen Fernsehen 21 492 Sendetermine für abendfüllende Spielfilme, davon 15 668 bei den privatrechlichen und 5 824 bei den öffentlich-rechtlichen Veranstaltern. Strenge Bestimmungen für die Ausstrahlung von Spielfilmen im Fernsehen gibt es zum Schutz der Lichtspieltheater in Frankreich. So dürfen an bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten Spielfilme nicht im Fernsehen gezeigt werden. Eigene Programmformate entwickelte das Fernsehen in Europa mit originären Fernsehspielen, die allmählich Theateraufzeichnungen und Literaturverfilmungen ablösten, und mit Dokumentarfilmen, die später zugunsten kürzerer Dokumentationen zurücktraten. Im Bereich der Fernsehspiele sind besonders die Leistungen der BBC, von ITV und der deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten anerkannt. Nicht wenige Formate in der FernsehUnterhaltung und bei Sendungen mit Spielhandlung wurden und werden weltweit aus den Vereinigten Staaten übernommen. Das gilt besonders für die Soap Operas, regelmässige, meist täglich ausgestrahlte Fortsetzungssendungen mit einer leichten Spielhandlung. Der Name stammt aus den frühen Zeiten des amerikanischen Radios. Als Soap Operas wur-

1546 den Beiträge bezeichnet, die am Nachmittag als Rahmenprogramme für Waschmittelwerbung einem vorwiegend aus Hausfrauen bestehenden Publikum angeboten wurden. Ausserhalb der Vereinigten Staaten sind Brasilien und Mexiko herausragende Produzenten von 'Seifenopern' (Telenovelas). Ebenfalls amerikanischen Ursprungs sind Situation Comedies, Spielhandlungen mit einer stark auf 'Gags' abgestellten Situationskomik, Talkshows und Sendungen mit Gewinnspielen, zum Beispiel das weltweit verbreitete "Wheel of Fortune' ('Glücksrad'). Amerikanische Dramatic Series waren und sind zum Teil weiterhin internationale Erfolge. Der jahrelang laufenden Serie 'Dallas' war unter allen Ländern, in denen sie ausgestrahlt wurde, allein in Japan die Akzeptanz versagt. Das Fernsehen auf dem europäischen Kontinent lebte und lebt programmlich vor allem in der Unterhaltung zu einem nicht unerheblichen Teil von der Imitation beziehungsweise der nationalen Adaptierung amerikanischer Modelle, von der allmählich verschwindenden Grossen Show mit Auftrittstreppe bis zur Sitcom. Aber auch britische und holländische Formate werden übernommen. So orientiert sich die wöchentlich ausgestrahlte langlaufende deutsche Serie 'Lindenstraße' (seit 1985) an dem britischen Vorbild 'Coronation Street'. Britische Humorsendungen werden meist unadaptiert von anderen Ländern übernommen. Sie gewinnen regelmässig die ersten Preise für Unterhaltungssendungen beim alljährlichen Festival der 'Goldenen Rose' in Montreux, so wie britische Fernsehspiele stets die besten Chancen haben, den 'Prix Italia' zu gewinnen. Britische Humorsendungen werden offensichtlich wegen ihrer Respektlosigkeit gegenüber Establishment und Traditionen und wegen 'schwarzen Humors' geschätzt. Nachahmungen, die dem britischen Original nahekommen, gelingen am ehesten den Unterhaltungsexperten der skandinavischen Fernsehstationen. Mit der Einführung privatrechtlichen Fernsehens nahm die Zahl der Serien mit Spielhandlung in allen Programmen erheblich zu, auch in den öffentlich-rechtlichen. Während die privatrechtlichen Veranstalter zu Beginn ihrer Sendeaktivität, aus Kostengründen und wegen der schnellen Verfügbarkeit, ganz überwiegend in den Vereinigten Staaten eingekauftes Material ausstrahlten, zeichnete sich zu Beginn der neunziger Jahre in ganz Europa im Bereich der Serien ein Vordringen nationaler Produktionen

XXIV. Geschichte des Fernsehens

ab. Amerikanische Kinospielfilme haben in den europäischen Fernsehprogrammen ihre grosse Attraktivität behalten. Bei den Serien mit Spielhandlung wurden nach den Anfangsjahren auch in den Programmen der privaten Veranstalter nationale Produktionen vom Publikum bevorzugt. Die privatrechtlichen Veranstalter haben in ihrer Programmplanung diesen Wünschen des Publikums entsprochen. Zwischen den beiden Säulen des dualen Fernsehsystems ist ein heftiger Kampf um Autoren, Regisseure und Schauspieler für Serienproduktionen entbrannt. Von Anfang an hatte die Tatsache, dass sich nach Einführung des dualen Systems privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Veranstalter in Konkurrenz für die Rechte an den attraktivsten Fernsehprogrammen, nämlich Spielfilme und Sport, interessierten, zu ausserordentlichen Verteuerungen geführt. So kosteten die Fernseh-Europa-Rechte für die Olympischen Sommerspiele 1968 eine Million Dollar und 1996 240 Millionen Dollar. Die Europäische Rundfunkunion, der Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Veranstalter, zahlte für die Europa-Rechte an den Olympischen Spielen von 2000 bis 2008 1,442 Milliarden Dollar, der Unternehmer Leo Kirch wendete nach Pressemeldungen für die Weltrechte an den Fussball-Weltmeisterschaften 2002 und 2006 3,5 Milliarden Schweizer Franken auf. Bei den Einkäufen der A R D von Spielfilmrechten stiegen die Preise von 180000 bis 670000 DM pro Film im Jahre 1990 auf 210000 bis 2,3 Millionen DM pro Film im Jahre 1993. Es ist damit zu rechnen, dass bei der grossen Vermehrung der Verbreitungsmöglichkeiten durch die digitale Technik erneut, wie in den Anfangsjahren des privatrechtlichen Fernsehens, amerikanische Kaufprogramme in den Vordergrund treten werden, weil allein amerikanische Produzenten und Rechteinhaber die benötigten Programm-Mengen kurzfristig bereitstellen können. Kirch, der das erste deutsche digitale Fernsehprogramm, D F 1, am 28. Juli 1996 als Pay-TV startete, hat mit fast sämtlichen amerikanischen Produktionsstudios für hohe Milliardenbeträge längerfristige Outputdeals geschlossen, das heisst, Verträge mit der Verpflichtung zur Abnahme der gesamten Produktion des Vertragspartners für ein bestimmtes Sendegebiet und mit der Verpflichtung zur Abgabe exklusiv an den Erwerber. Die Massierung amerikanischer Produktionen führte zu Versuchen, nationale Fernsehproduktionen rechtlich zu schützen. Die Di-

1547

140. Geschichte des Fernsehens

rektive des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft 'Fernsehen ohne Grenzen' vom 3. Oktober 1989 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten tragen im Rahmen des praktisch Durchführbaren und mit angemessenen Mitteln dafür Sorge, dass die Fernsehveranstalter den Hauptteil ihrer Sendezeit, die nicht aus Nachrichten, Sportberichten, Spielshows oder Werbe- und Videotextleistungen besteht, der Sendung von europäischen Werken [...] vorbehalten." Ein Beschluss des Ministerrats der Gemeinschaft vom 4. Oktober 1989 bezeichnete die Bestimmung als politische und nicht rechtliche Verpflichtung. Gleichwohl rügte das deutsche Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Bundesländer, die ihre Kulturhoheit durch die Direktive beeinträchtigt sahen, die Bonner Bundesregierung, weil sie eine Quotenregelung nicht gänzlich abgelehnt habe. Frankreich versuchte, eine rechtlich bindende Wirkung der Quotenregelung durchzusetzen, und wurde dabei durch einen Mehrheitsbeschluss des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 1996 unterstützt, konnte aber lediglich erreichen, dass in der Neufassung der Direktive von 1997 die Quotenregelung nicht, wie Großbritannien und Deutschland es wünschten, gänzlich gestrichen, sondern daß sie in der alten Fassung mit der alten geminderten Geltungskraft — bestehen blieb. Nach einem Bericht der Kommission der Europäischen Union erfüllten im Jahre 1994 91 von 148 europäischen Sendern die Quotenauflage. In Deutschland waren die Erfüllungsprozente: A R D 90 Prozent, Z D F 79 Prozent, RTL 56 Prozent, SAT.l 47,1 Prozent, ProSieben 43,2 Prozent. Die Kommission zeigte sich mit dem Ergebnis „im allgemeinen zufrieden". Die Direktive gestattet den Mitgliedstaaten strengere Vorschriften für ihren nationalen Bereich. So ist das Fernsehen in Frankreich verpflichtet, mindestens 40 Prozent seines Programmangebots mit Produktionen französischen Ursprungs und mindestens 60 Prozent mit Produktionen europäischen Ursprungs (einschließlich der französischen) zu bestücken. Diese Quoten gelten auch für die Hauptsendezeit zwischen 18.00 und 23.00 Uhr. Auf Grund eines italienischen Gesetzes vom Januar 1996 muss die RAI 20 Prozent ihres Einkommens aus Gebühren in italienische und europäische Produktionen investieren. Die kommerziellen Stationen müssen im Bereich der Spielhandlungen 30 Prozent ihrer Werbeeinnahmen für den Erwerb von ita-

lienischen und europäischen Produktionen aufwenden. Der Rundfunkstaatsvertrag der deutschen Bundesländer enthält lediglich eine Sollvorschrift. Danach sollen die Fernsehveranstalter (öffentlich-rechtliche wie privatrechtliche) „den Hauptteil ihrer insgesamt für Spielfilme, Fernsehspiele, Serien, Dokumentarsendungen und vergleichbare Produktionen vorgesehenen Sendezeit europäischen Werken entsprechend dem europäischen Recht vorbehalten". Fernsehvollprogramme sollen „einen wesentlichen Anteil an Eigenproduktionen sowie Auftrags- und Gemeinschaftsproduktionen aus dem deutschsprachigen und europäischen Raum enthalten". Das gleiche gilt für Fernsehspartenprogramme, „soweit dies nach ihren inhaltlichen Schwerpunkten möglich ist". Anders als Frankreich, Italien und Deutschland sieht sich Kanada einem massiven, in den dicht besiedelten Teilen des Landes gut empfangbaren kommerziellen Fernsehangebot in der gleichen Sprache aus einem Nachbarland, nämlich aus den Vereinigten Staaten, ausgesetzt. Die kanadischen Quotenvorschriften (60 Prozent der kanadischen Programme müssen kanadischen Ursprungs sein) haben unter diesen Umständen lediglich den Charakter einer letzten Rückzugsposition zugunsten nationaler Produktionen.

7.

Deregulierung

Die Herstellung von Konkurrenz oder von vermehrter Konkurrenz zwischen Fernsehprogrammen (sowohl zwischen öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen wie zwischen den privatrechtlichen) ist eine Folge rechtlicher Deregulierung. Der Deregulierungsschub im Bereich des Fernsehens in den meisten wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern der Welt ging von den Vereinigten Staaten aus. Deregulierung hatte dabei zum Ziel, die audiovisuellen Märkte für kommerzielle Konkurrenz zu öffnen oder weiter zu öffnen, dabei aber Marktmißbrauch infolge von übermäßiger wirtschaftlicher Konzentration zu verhindern. Ein weiteres Deregulierungsziel in einigen Ländern war, die Bildung international wettbewerbsfähiger grosser Medienunternehmen im nationalen wirtschaftlichen Interesse zu ermöglichen. In Europa war dabei die Absicht maßgebend, eine europäische Selbstbehauptung gegenüber der übermächtigen amerikanischen Konkurrenz zustande zu bringen.

1548 Das Interesse der Vereinigten Staaten an der Deregulierung der ausseramerikanischen Märkte war wiederum bedingt durch die amerikanische Position des hauptsächlichen Exporteurs von Spielfilmen und Fernsehproduktionen. Das weitgehend deregulierte Amerika importiert nur etwa 1 Prozent der in seinem Fernsehen gezeigten Produktionen aus dem Ausland. Hauptimporteure sind dabei die nichtkommerziellen und fremdsprachige Stationen. Materiell ist Deregulierung nicht Verzicht auf jegliche Regulierung, sondern Regulierung zugunsten der Kräfte des Marktes, das heisst praktisch zugunsten derjenigen Kräfte, die sich auf dem Markt am wirksamsten behaupten, sofern sie sich im Rahmen der geltenden Vorschriften gegen Machtmißbrauch halten. Die amerikanische Federal Communications Commission (FCC), nach dem Federal Communications Act von 1934 zuständig für die Regulierung des Rundfunkbereichs und des gesamten Kommunikationssektors, ist formal mit umfangreichen Eingriffs- und Sanktionsrechten ausgestattet, verfolgt aber weitgehend eine Politik des Gewährenlassens. Der Vorsitzende der FCC, Mark Fowler, erklärte 1982, die Kommission solle sich auf die Fähigkeit der Rundfunkveranstalter verlassen, die Bedürfnisse ihres Publikums nach den normalen Mechanismen des Marktes zu bestimmen. Er empfahl, dass die Rundfunkveranstalter in der Erfüllung ihrer Aufgabe sich an den Kräften des Marktes statt an Regierungsdirektiven orientieren sollten. Der Deregulierung fiel 1987 die Fairness-Doktrin zum Opfer, nach der die F C C von den Sendern verlangen konnte, politisch relevante Themen in ganzer Breite und dem tatsächlichen Meinungsbild entsprechend zu behandeln. Das Verbot der Verbindung zwischen Programmproduzenten (Hollywood) und Programmtransporteuren wurde 1995 aufgehoben. Als erster profitierte davon Rupert Murdoch, dessen Fox-Network mit seinem Hollywood-Studio Twentieth Century Fox zusammenarbeiten durfte. Eine weitere Deregulierung brachte der Telecommunications Act, den Präsident Clinton am 8. Februar 1996 unterschrieb. Er schaffte Restriktionen von Crossownership ab (gleichzeitiges Eigentum an Presse- und audiovisuellen Unternehmen) und setzte die Grenze, oberhalb deren bei landesweit sendenden Fernsehunternehmen eine unzuträgliche Machtkonzentration anzunehmen ist, auf einen Marktanteil von 35 Prozent fest. Freilich war der Telecommu-

XXIV. Geschichte des Fernsehens

nications Act nicht von einer so weitgehenden Laisser-Faire-Attitude geprägt, wie sie von der Kongressmehrheit der Republikaner zunächst gewünscht worden war. Die FCC wurde nicht, wie von Teilen der Republikanischen Partei gefordert, aufgelöst, sondern mit der Umsetzung des Gesetzes beauftragt. Im Bereich des Universal Service, das heißt der Entscheidung, welche Telekommunikationsmöglichkeiten allen Bürgern zugänglich und für alle erschwinglich sein sollen, war im Telecommunications Act sogar eine Tendenz zu detaillierterer Regelung (Reregulation) erkennbar. Zuvor hatte es eine teilweise Reregulation im Kabelfernsehen gegeben, nachdem kommerzielle Kabelgesellschaften örtliche Monopolstellungen dazu mißbraucht hatten, überhöhte Gebühren zu verlangen. Eine Überlegung auf Seiten der protestantischen Kirchen in den Vereinigten Staaten, gerichtlich feststellen zu lassen, dass die gesetzliche Aufgabe der F C C in Regulierung und nicht in Deregulierung bestehe, war frühzeitig aufgegeben worden. In Europa besteht keine effektive Kontrolle nationaler oder europäischer Behörden im Bereich der Verfügung über Direct-Broadcasting-Satelliten vom Typ ASTRA und EUTELSAT. Dies hat unter anderem die Vormachtstellung des luxemburgischen Satellitenbetreibers Société Européenne des Satellites (SES), der die ASTRA-Kanäle zu vergeben hat, begründen helfen. Die Einführung privatrechtlichen Fernsehens in Deutschland - ein Akt der Deregulierung insofern, als dadurch die alleinige Existenz des öffentlichrechtlichen Fernsehens beseitigt wurde — hatte die Errichtung einer Reihe von neuen Regelungsinstanzen zur Folge. So sind für die Lizensierung und die Kontrolle der kommerziellen Rundfunkveranstalter nach Länderrecht 15 regionale Landesmedienanstalten in den 16 Bundesländern zuständig (Berlin und Brandenburg haben eine gemeinsame Landesmedienanstalt). Zur Sicherung der Meinungsvielfalt dient die durch den Dritten Rundfunkänderungsstaatsvertrag von 1997 geschaffene Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), ein Sachverständigengremium, das für die Prüfung der einschlägigen Fragen (insbesondere Zulassung, Beteiligungsverhältnisse) zuständig ist. Die Mitglieder der K E K werden von den Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer ein vernehmlich berufen. Die privatrechtlichen Rundfunkveranstalter halten die Landesmedienanstalten, die aus

1549

140. Geschichte des Fernsehens

einem kleinen Anteil an der allgemeinen Rundfunkgebühr finanziert werden, für überflüssig und für die Verhinderung unzuträglicher Machtkonzentration im Medienbereich das allgemeine Kartellrecht für ausreichend. Der Dritte Rundfunkänderungsstaatsvertrag von 1997 erleichterte die Bestimmungen über Konzentration beim privatrechtlichen Fernsehen. Ein Unternehmen darf jetzt in der Bundesrepublik Deutschland eine unbegrenzte Anzahl von Fernsehprogrammen veranstalten, es sei denn, es erlangt dadurch eine vorherrschende Meinungsmacht. Dies wird vermutet, wenn die einem Unternehmen zurechenbaren Programme im Durchschnitt eines Jahres einen Zuschaueranteil von 30 Prozent erreichen. Wird die Vermutung nicht widerlegt, so darf das Unternehmen keine weiteren Programme veranstalten oder erwerben. Die KEK hat die Aufgabe, dem Unternehmen, das eine vorherrschende Meinungsmacht erlangt hat, Maßnahmen zu deren Reduzierung vorzuschlagen. Erreicht ein privatrechtlicher Fernsehveranstalter mit einem Vollprogramm oder einem Spartenprogramm mit Schwerpunkt Information im Jahresdurchschnitt einen Zuschaueranteil von 10 Prozent, so muss er Sendezeit für unabhängig Dritte zur Verfügung stellen. Über diese Dritten einigt sich die zuständige Landesmedienanstalt mit dem Unternehmen; bei Nichteinigung entscheidet sie. In den meisten europäischen Ländern sind die Autoritäten für Telekommunikation und für Rundfunk getrennt. Die italienische Regierung Prodi schlug 1996 eine an dem Modell der amerikanischen F C C orientierte gemeinsame Behörde vor, die für die Lizensierung und Kontrolle von Rundfunkveranstaltern ebenso zuständig sein soll wie für die von Unternehmen der Telekommunikation. Diese Zusammenfassung der Kontrollfunktion (Convergence) wird von ihren Befürwortern als dem digitalen Zeitalter allein angemessen empfunden, während Kritiker, insbesondere aus dem Bereich der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, betonen, nur ein eigenes und separates Rundfunkrecht werde den künftigen inhaltlichen Erfordernissen des Rundfunks, nicht zuletzt des Fernsehens, gerecht. Aus amerikanischer Sicht verstehen sich regulierende Instanzen für das Fernsehen in Europa zu sehr als hoheitliche Aufsicht, während der moderne Regulator mehr ein unparteiischer Schiedsrichter (Referee) zu sein habe. In dieser Funktion wird auch die künftige Aufgabe der FCC gesehen.

8.

Konzentration

Während die Genfer internationale Funkverwaltungskonferenz von 1977 Satelliten noch als Instrumente zur nationalen Rundfunkversorgung verstanden hatte, dienen sie heute dem grenzüberschreitenden, transnationalen, ja weltweiten Transport von Fernseh- und Hörfunkprogrammen. Zusammen mit der technischen Möglichkeit der ausserordentlichen Vermehrung von Programmangeboten durch die digitale Kompression markieren sie einen neuen Abschnitt insbesondere der Fernsehgeschichte. Er hat einen neuen Typ von Fernsehveranstalter hervorgebracht, der sich durch Größe, Leistungskraft und Vielfalt der Felder seines Engagements für den verschärften Wettbewerb auf den internationalen Märkten rüstet. Die technische Entwicklung und die sich daraus ergebenden Marktbedingungen führten zu starker Konzentration im Fernsehgeschäft, und zwar insbesondere zu vertikaler Konzentration, bei der das Produkt von der Produktion bis zur Verteilung unter der Kontrolle eines Unternehmens bleibt. Beispiele dafür sind in den Vereinigten Staaten Time Warner, der nach Umsatz größte Medienkonzern der Welt, SoftwareProduzent und Verbreiter durch das Kabelprogramm Home Box Offixe (HBO), sowie Rupert Murdoch, Inhaber der Produktionsgesellschaft Twentieth Century Fox, der Programmgesellschaft Fox Broadcasting und zugleich des TV Guide der grössten amerikanischen Programmzeitschrift. Ein herausragendes europäisches Beispiel ist der Münchner Unternehmer Leo Kirch, Fernsehproduzent und Europas größter Fernsehrechtehändler, Betreiber des ersten deutschen digitalen PayTV, Mehrheits-Teilhaber an dem kommerziellen Fernsehsender SAT.l und am SpringerVerlag, der HörZu, die größte deutsche Programmzeitschrift, herausbringt. Zu den Produkten des Springer-Verlages gehört auch die Bild-Zeitung, das auflagenstärkste deutsche Boulevardblatt. Die herausragendsten Firmenzusammenschlüsse mit dem Ziel der Macht- und Leistungskonzentration für das digitale Fernsehzeitalter waren in den Vereinigten Staaten: Walt Disney (Film- und Fernsehproduktion, Musik, Bücher, Freizeitparks und Hotels) mit Capital Cities/ABC, Betreiber des Networks ABC, das im Fernsehbereich 225 angeschlossene Stationen mit Programmen versorgt und zehn eigene Stationen unterhält, die zusammen etwa 25 Prozent der amerikanischen Haushalte erreichen. Time

1550 Warner, umsatzstärkstes Medienunternehmen der Welt (mit HBO, dem weltweit erfolgreichsten Pay-TV-Unternehmen, 30 Zeitschriftentiteln, darunter 'Time' und 'Fortune', und mit Warner Music Group, führender Musikproduzent), mit Turner Broadcasting (der weltweite Nachrichtensender Cable News Network - CNN - , TBS Superstation, Cartoon Network und das Filmarchiv von Metro Goldwyn Meyer/United Artists). Im Januar 2000 kündigte der weltgrösste Internet· Anbieter America Online (AOL), die Absicht an, mit Time Warner zu fusionieren und in dem neuen Konzern die Mehrheit zu übernehmen. Westinghouse (Elektro- und Nukleartechnik) mit CBS (zuverlässigster Nachrichtensender unter den Networks). Diese Konglomerate, finanziert durch Bankkredite, sind nicht nur dazu bestimmt, sondern auch darauf angewiesen, weltweit zu expandieren. Ihr besonderes Interesse gilt den europäischen Fernsehmärkten und hier vor allem dem deutschen, der sich durch hohes Werbeaufkommen, hohe Preise für Fernsehrechte und keine Einschränkungen für Fernsehaktivitäten von Ausländern auszeichnet. An europäischen Versuchen, durch Zusammenschlüsse oder Allianzen mit- oder gegenzuhalten, sind zu erwähnen: die Fusion der Ufa, Fernsehtochter des international operierenden deutschen Medienkonzerns Bertelsmann (Buchverlage, Buchclubs, Zeitschriften, Zeitungen, Musik, Fernseh- und Radiobeteiligungen) mit der Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffudion (CLT). In den Zusammenschluss mit der Ufa brachte CLT ein: elf Fernsehprogramme in Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien, Großbritannien und Luxemburg, Radiostationen, Zeitschriften, Produktionsgesellschaften in elf Ländern und sieben Transponder auf den ASTRA-Satelliten 1 E bis G. Das Übereinkommen zwischen Ufa und CLT wurde am 5. Juli 1996 in Luxemburg unterzeichnet, am Abend des Tages, an dem sich die deutschen Länder-Ministerpräsidenten darauf verständigt hatten, künftig 100 Prozentiges Eigentum an deutschen Fernsehunternehmen mit einer Obergrenze von 30 Prozent Marktanteil zuzulassen. Vorher hatte in Deutschland die Regel gegolten, dass kein Fernsehveranstalter mehr als 49,4 Prozent Anteile an einem bundesweit verbreiteten Vollprogramm oder einem Spartenprogramm mit Schwerpunkt Information haben durfte. Das fusionierte Unternehmen hätte diesen Anteil bei RTL, dem Marktführer im deutschen Fernsehen, bei

XXIV. Geschichte des Fernsehens

weitem überschritten. CLT/Ufa sieht sich als die grösste audiovisuelle Gruppe in Europa, verfügt aber nicht in gleichem Umfange über Fernsehrechte wie Kirch. Um sich kostengünstige Fernsehproduktionen zu sichern, fusionierte CLT/Ufa mit der britischen Produktionsfirma Pearson, unter dem Namen RTL Group. Bei Kirchs digitalem Pay-TVProgramm D F 1 erwies es sich als schwierig, die anvisierten Teilnehmerzahlen rasch zu erreichen. CLT/Ufa zog sich — bis auf einen fünfprozentigen Anteil an Kirchs Unternehmen — aus dem deutschen Pay-TV zurück, da sich das Haus Bertelsmann auf die Verbindung von Fernsehen und Internet konzentrieren will. Rupert Murdoch übernahm einen 24prozentigen Anteil an Kirchs Pay-TV-Gesellschaft, die den Abonnementssender Premiere World betreibt, hervorgegangen aus dem ersten deutschen Pay-TV-Sender Premiere und DF1. Murdoch, geborener Australier, der die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, um in den Vereinigten Staaten Fernsehstationen erwerben zu können, betrachtet sich als den Prototyp eines Weltbürgers im Kommunikationszeitalter. Während Kirch und Berlusconi, trotz einiger Auslandsbeteiligungen, als Fernsehveranstalter im wesentlichen auf dem heimischen deutschen beziehungsweise italienischen Markt agieren und sich Bertelsmanns Fernseh-Engagement bisher auf Deutschland konzentriert (in Frankreich lässt die Ufa der CLT den Vortritt), operiert Murdoch ohne jede nationale Bindung oder Präferenz weltweit in allen wichtigen Medienbereichen. Ihm gehören mehr als 150 Zeitungen in der ganzen Welt, darunter die New York Post, die Londoner Times und 70 Prozent der Zeitungsauflage in Australien, im Fernsehbereich die Fox Broadcasting Company in den Vereinigten Staaten, 45 Prozent des britischen Pay-TV-Satellitenprogramms British Sky Broadcasting (BSkyB) und Star-TV, das grösste werbefinanzierte Satellitenprogramm in Asien. Seine Expansionspläne richten sich auf China, Japan und Lateinamerika. Um mit der Volksrepublik China ins Geschäft zu kommen, übernahm er nicht mehr den BBC World Service of StarTV, nachdem die chinesischen Behörden Anstoss an einer BBC-Dokumentation über Mao Tsetung genommen hatten. China hatte sich auch irritiert gezeigt über Murdochs Bemerkung, mehrsprachige Satellitennachrichten ermöglichten es den informationshungrigen Bürgern in geschlossenen Gesellschaften, das staatlich kontrollierte Fernsehen zu um-

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gehen. Sein anfängliches Prinzip, Globalisierung und Modernisierung im Fernsehen hätten naturnotwendig die Amerikanisierung der Inhalte zur Folge, hat Murdoch nicht durchgehalten, sondern durch die Verhaltensregel ersetzt „think global, act local". Star-TV setzt seit 1994 konsequent auf Lokalisierung, das heißt auf Programmangebote für die verschiedenen asiatischen Empfangsländer, die jeweils den nationalen Interessen des Publikums gerecht zu werden versuchen. Asien mit seiner ausserordentlich positiven Wirtschaftsentwicklung, mit dem Entstehen einer gebildeten und kaufkräftigen Mittelschicht gilt neben Europa und vielleicht in absehbarer Zeit auch vor Europa als vielversprechender Zukunftsmarkt für das Fernsehen. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass weitgehend deregulierten Medienmärkten in Japan, Taiwan und den Philippinen streng staatlich regulierte Märkte in Singapur, Malaysia und China gegenüberstehen. In diesen Ländern ist der Direktempfang ausländischer Satellitenprogramme verboten. In Malaysia gibt es seit 1984 neben dem staatlichen Fernsehen Radio Television Malaysia (RTM) einen privaten nationalen Fernsehsender TV 3, in dessen Eigentümergesellschaft jedoch die führende malaysische Regierungspartei und die nationalen Zeitungsverlage eine große Rolle spielen. Vorgesehen ist ein nationales Satellitenprogramm mit Empfangsschüsseln, die nur auf dieses ausgerichtet sind. Die Bewohner der malaysischen Provinzen Sabah und Sarawak auf Borneo können ausländische Satellitenprogramme illegal empfangen. Ähnlich wie Malaysia stellt sich China den künftigen nationalen Satellitenempfang vor, den die offizielle Pekinger Zeitung China Daily wie folgt beschrieb: „Zu Beginn des nächsten Jahrhunderts werden Programme (für China) von einem Satelliten ausgestrahlt werden, von einer Bodenstation empfangen und durch ein Kabelsystem weitergeleitet werden". Der Gegensatz zwischen strenger staatlicher Regulierung des Fernsehens und einer sich immer mehr liberalisierenden Wirtschaft

wird jedoch auch in den betreffenden Ländern Asiens zunehmen und zu Änderungen führen. Iran, wo Satellitenschüsseln seit dem April 1995 verboten sind, bietet den Fernsehzuschauern als Ersatz im nationalen Fernsehen mehr ausländische Filme, Sportübertragungen, Spielshows und weniger Koranlesungen.

9.

Literatur

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Dietrich Schwarzkopf, Starnberg ( Deutschland)

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XXIV. Geschichte des Fernsehens

141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland 1. 2. 3. 4. 5.

Definition und Zuordnung Entstehung Der Weg zum Dualen System Schlußbemerkung Literatur

1.

Definition und Zuordnung

Medienorganisationsrecht wird i.f. als die Summne der für die Gründung und den Betrieb von Medien unternehmen konstitutiven Rechte und Pflichten verstanden. Dabei gehören zu den Medien alle Unternehmen, die gedruckte oder unter Verwendung elektronischer und filmischer Techniken hergestellte, zur Veröffentlichung bestimmte, Erzeugnisse verbreiten. In der Regel sind dies Verlage (für Wort-, Ton- u. Bilderzeugnisse), Nachrichtenagenturen, Film- u. Videohersteller, Rundfunk (Hör- u. Fernsehfunk-)Veranstalter, sowie die Träger der sog. Neuen Medien. Für die Gründung und den Betrieb von Medienunternehmen gilt — mit Ausnahme der Rundfunkveranstalter und der ggf. als rundfunkähnlich anzusehenden Neuen Medien, für die eigene rundfunkspezifische öffentlichrechtliche (ö.-r.) Regelungen geschaffen wurden —, in Deutschland privates Recht. Für die Rundfunkveranstalter richtet sich das zur Anwendung kommende Recht danach, ob sie ö.-r. oder privatrechtlich errichtet sind. Die ö.-r. Landesrundfunkanstalten BR, HR, ORB, RB, SFB, SR und WDR gründen auf Landesgesetzen, bzw., soweit es sich um Mehrländeranstalten, wie M D R , N D R , SWR, Z D F und das aus DLF, DS Kultur und RIAS Berlin 1994 hervorgegangene Deutschlandradio als Körperschaft öffentlichen Rechts handelt, auf Staatsverträgen der jeweils beteiligten Länder (Herrmann 1994, 231 ff.; A R D Jahrbuch 1994 und 1997, Dokumente). Sie unterliegen extern, d. h. neben der anstaltsautonomen Kontrolle durch die den Anstalten zugehörenden Aufsichtsgremien, der eingeschränkten Staatsaufsicht (Rechtsaufsicht) der jeweiligen Länder. Für die privatrechtlichen Rundfunkunternehmen, die als GmbHs oder AGs (sh. i.e., Jahrbuch der Landesmedienanstalten 1995/ 96 - A L M 1996) errichtet sind, gilt neben dem privaten Recht ihrer Gründung öffentliches (Gesetzes-)Recht, das ihre Zulassung

wie auch die Sicherung der Meinungsvielfalt in ihren Programmen regelt. Die rechtlichen Voraussetzungen ihrer Zulassung sowie die Kontrolle der Innehaltung der ihnen aufgegebenen gesetzlichen Pflichten und Beschränkungen liegen bei den nach Landesrecht eigens errichteten Landesmedienanstalten (sh. i.e. Jahrbuch A L M 1996). Für ö.-r. wie für private Rundfunk unternehmen gilt darüber hinaus der (inzwischen dritte) Rundfunkstaatsvertrag (RStV), der Länder von 1997. Unter den Neuen Medien gibt es solche, bei denen die Frage der Zugehörigkeit zum Rundfunk bisher nicht abschließend geklärt ist. (Unter dem Begriff der Neuen Medien wird übrigens — vordergründig und bewußt — der Eindruck vermittelt, diese stellten inhaltliche und technische Innovationen dar, während es sich überwiegend um technische Varianten bekannter und eingeführter Medien handelt). Während ζ. B. Videotext und Pay-TV nach übereinstimmender Auffassung dem Rundfunk zugehören, ist dies ζ. B. bei Pay per view oder Video on demand als Erscheinungsformen der Individualkommunikation umstritten. Diese Neuen Medien bleiben bei der nachfolgenden Darstellung weitgehend außer Betracht, da sie im Falle der Zugehörigkeit zum Rundfunk — auch evtl. als rundfunkähnliche Kommunikationsdienste — den Rundfunkorganisationsregeln, anderenfalls als privatrechtliche Medienunternehmen dem Privatrecht unterfallen. Den kompetenz- und grundrechtlichen Themenbereich sprechen die Neuen Medien insoweit an, als sie (Bethge 1989, 79) der konkurrierenden Regelungskompetenz zwischen Bund und Ländern gem. Art. 72 der Verfassung unterfallen und von daher deren „prinzipielle verfassungsrechtliche Direktionskraft" auslösen. Zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 des Grundgesetzes (GG) müssen in jedem Fall alle für den Rundfunk einschließlich der rundfunkähnlichen Kommunikationsdienste wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber selbst getroffen werden 0Gesetzesvorbehalt, vgl. BVerfG E 73, 158f.). Dabei müssen die Informationsfreiheit des Rezipienten, die institutionelle Freiheit des Veranstalters vom Staat wie von einseitiger gesellschaftlicher Macht, sowie die Rechte derjenigen, die in den Sendungen 'zu Wort'

141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland

kommen, zum normativ geregelten Ausgleich gebracht werden. Dieser Gesetzesvorbehalt ist insoweit Parlamentsvorbehalt, als er die Entscheidung und Regelung durch den Gesetzgeber erforderlich macht. Das bundesdeutsche Medienorganisationsrecht für den Rundfunk, einschl. der dem Rundfunk zugehörenden Neuen — rundfunkähnlichen — Medien, ist von seiner Entstehung und Bindung her Verfassungsrecht. Es dient der Gewährleistung der Rundfunkfreiheit als Teil der demokratiekonstitutiven Kommunikationsfreiheit und gründet im Art. 5, Abs. 1, GG, das sowohl als Individualrecht („[...] seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten"; Satz 1) wie als institutionell wirkende Freiheit („Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet", Satz 2) verbürgt ist. Zusätzlich ist in Satz 3 festgelegt: „Eine Zensur findet nicht statt". Die organisationsrechtliche Gewährleistung der Rundfunkfreiheit fallt gem. Art. 30 und 70 G G in die alleinige Zuständigkeit der Länder. Nur ihnen steht, nachdem bereits frühzeitig geklärt war, daß der Rundfunk in Deutschland zu den staatlichen Aufgaben gehört (BVerfG E 12, 205, 244), die entsprechende Gesetzgebungskompetenz zu. Die einzig derzeit bestehende Ausnahme stellt die Deutsche Welle (DW) dar, die gem. Art. 73,1 G G in die Zuständigkeit des Bundes in auswärtigen Angelegenheiten fallt und auf Bundesgesetz (BGBL, vom 29. 11. 1960) gründet. Dem Bund verbleibt nurmehr gem. Art. 73 Nr. 7 G G die (ausschließliche) Gesetzgebung über „das Postwesen und die Telekommunikation" in ausschließlich dienender Funktion, wie dies das Bundesverfassungsgericht bereits 1961 (BVerfG E 12, 227) ermittelt und festgelegt hat. Zur Klarstellung/Ergänzung: Neben dem Medienorganisationsrecht gibt es Rechte und Rechtsgebiete, die für den Betrieb eines jeden Medien Unternehmens — und damit auch für den Rundfunk — von spezifischer Bedeutung sind, so die vielfältig entwikkelten Urheber-, Persönlichkeits- u. Leistungsschutzrechte incl. der sog. verwandten Schutzrechte. Diese Rechte haben jedoch keine organisationswirksame Bedeutung im o. e. Sinne, sondern sind, funktionsbezogen, auf die Medienerzeugnisse, deren Herstellung, Verbreitung, Vervielfältigung und Bear-

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beitung, mithin auf die Software der Medienunternehmen, gerichtet. Sie finden folglich in dieser auf die Organisation der Medien gerichteten Darstellung keine Berücksichtigung. Gleichermaßen bleiben außer Betracht die innerorganisatorisch (mit-)wirkenden Regelungen aus Personal-, Betriebsverfassungsu. Tarifvertragsrecht, sowie die der „inneren Pressefreiheit" dienenden Redakteursstatute, da auch diese dem k o n s t i t u t i v wirkenden Medienorganisationsrecht im engeren Sinne nicht zugerechnet werden können. Für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse und des Films hat der Bund nach Art. 75 Nr. 2 G G das Recht, entspr. den Regeln der konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 72 G G Rahmenvorschriften zu erlassen. Er hat von diesem Recht bisher keinen Gebrauch gemacht, so daß die gesamte Regelungskompetenz — jedenfalls bis dato — uneingeschränkt bei den Ländern liegt.

2.

Entstehung

2.1. Der Rundfunk in der Weimarer- und NS-Zeit Die Weimarer Reichsverfassung war auf die Entstehung und die Entwicklung des Rundfunks als Massenkommunikationsmittel nicht eingerichtet. Der Art. 118 der 'Verfassung des Deutschen Reiches' enthielt nur das Recht, wonach jeder Deutsche „seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei" äußern könne sowie die Bestimmung, daß eine Zensur nicht stattfinde. Eine aus der Verfassungsgewährleistung sich anbietende Ableitung als Zwecku. Standortbestimmung des Rundfunks und seiner sich ggf. daraus ergebenden Organisation ist gestaltungswirksam während der Dauer der Weimarer Republik nicht unternommen worden. Die Geschichte der elektronischen Massenkommunikation beginnt in Deutschland mit einer Radio-Sendung der Berliner Radio Stunde AG am 29. 10. 1923, ihre Rechtsgeschichte — im weitgehend ungesicherten rechtlichen Raum — mit der wenige Tage zuvor erlassenen Verfügung Nr. 185 des Reichspostministeriums unter dem Titel 'Einführung eines Unterhaltungsrundfunks in Deutschland' (NA-Blatt des RPM, Nr. 117 v. 24. 10. 1923). Während die technische und organisationspolitische Entwicklung des Rundfunks bei der Deutschen Reichspost lag, war es die Aufgabe der ersten regionalen Programmge-

1554 sellschaften (des privaten Rechts), deren Gründung von der Deutschen Reichspost initiiert worden war, Radioprogramme herzustellen, die mittels posteigener Anlagen aufgenommen und auch ausgestrahlt wurden. Die weitere Entwicklung zeigt, daß trotz der Mitwirkung privater Kräfte wie ζ. B. der Elektroindustrie und auch der Programmgesellschaften die staatliche Steuerung (zunächst über die Reichspost, später auch über das Reichsinnenministerium) durch umfassende Einflußmaßnahme und Kontrolle an Gewicht zunahm und damit die Entwicklung und den Charakter dieses neuen Mediums maßgeblich bestimmte. Rundfunk wurde damit fortwirkend, insbesondere seit dessen (Neu-)Ordnung 1925/26, zur (öffentlichen) Aufgabe des Staates (BVerfG E 12, 244ff.). Die Politik der Deutschen Reichspost war von Anfang an darauf gerichtet, dieses sehr bald als wichtig erkannte Instrument der Massenkommunikation selbst in der Hand zu behalten und es auch rechtlich bei sich zu monopolisieren, zumal sie weitgehend die technischen Vorarbeiten geleistet hatte und sich den Rundfunk als Teil der Fernmeldetechnik ihrer Kompetenz zurechnete. Allein ihre eigene finanzielle Schwäche hat die Reichspost daran gehindert, den Rundfunk selbst zu betreiben. Abgesehen von konkurrierenden Plänen des Reichsinnenministeriums war also dies die maßgebende Ursache für die durch die Post initiierte Entwicklung privater Programmgesellschaften. Auch entwickelte sich die als fernmeldetechnische Lizenzgebühr 1924 eingeführte Rundfunkgebühr von R M 2,— pro Teilnehmer und Monat erst allmählich, d. h. mit dem Anstieg der Teilnehmer über die Millionengrenze (1925/ 26), zu einer nennenswerten Einnahmequelle. Die rechtliche Beziehung zwischen Reichspost und Programmgesellschaften wurde in der Folge der 1925 gegründeten Reichsrundfunkgesellschaft (RRGmbH) erstmals im März 1926 einheitlich und umfassend geregelt. Es geschah dies im Wege eines Kompromisses zwischen dem Reich und Ländern, die kraft ihrer Kulturhoheit die Regelungskompetenz über den Rundfunk für sich beanspruchten. Nach den Bedingungen dieses Kompromisses war die Beschaffung der RundfunkDarbietungen Aufgabe der Programmgesellschaften, die bei der Gestaltung des Nachrichten· u. Vortragsdienstes an besondere Richtlinien gebunden waren. Zur Überwachung der Sendungen in politischer Hinsicht

XXIV. Geschichte des Fernsehens

wurde für jede Programmgesellschaft ein Überwachungsausschuß eingesetzt, dessen Mitglieder teils vom Reich, teils von den zuständigen Landesregierungen bestimmt wurden. Für kulturelle Fragen des Programms wurde ein Beirat bestellt, dessen Mitglieder von der zuständigen Landesregierung im Benehmen mit dem Reichsinnenministerium berufen wurden. Die Programmgesellschaften waren — vorerst mit Ausnahme der bayerischen — ab 1926 in der RRGmbH zusammengeschlossen, die alle wichtigen wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Aufgaben zentral erledigte. Im gleichen Jahr wurden 51 v. H. der Geschäftsanteile der Reichsrundfunkgesellschaft auf die Reichspost übertragen. Damit beherrschte die Reichspost auch die einzelnen Programmgesellschaften. Die Interessen der Reichspost gegenüber der Reichsrundfunkgesellschaft wurden ab Juni 1926 durch einen Rundfunkkommissar wahrgenommen. Im Jahr 1932 wurde mit der zweiten Neuordnung die Organisation des Rundfunks weitgehend umgestaltet und in Richtung auf einen 'Staatsrundfunk' fortentwickelt. „Die Grundsätze der Reform ergaben sich aus den 'Leitsätzen zur Neuregelung des Rundfunks ...', die wiederum das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Reich und Ländern war. Die noch in privater Hand befindlichen Anteile an der R R G wurden auf Reich und Länder übertragen, der Aufgabenbereich der RRGmbH erweitert und die Einwirkungsmöglichkeiten von Reich und Ländern [...] verstärkt" (BVerfG E 12, 209; sowie Fessmann 1973, 82; Lerg 1980, 486ff.). „Diese zweite Rundfunkreform von 1932 hatte das Medium so zugerichtet, daß ein neuer Minister im März 1933 nicht einmal besonders herzhaft zugreifen mußte; es wurde ihm als Morgengabe vom Reichsminister des Innern — vielleicht ein wenig ramponiert — feierlich überreicht" (Lerg 1980, 524). Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Rundfunk sogleich Teil des Staatsapparates, wenn es auch formal bei der Privatrechtsfigur der RRGmbH verblieb. Die Anteile der Länder wurden sämtlich auf das Reich übertragen. Unter der alles beherrschenden Regie des NS-Reichsministers für „Volksaufklärung und Propaganda" geriet er einschl. der technischen Seite, die bei der Reichspost verblieb, vollständig zum Instrument der inneren und der auswärtigen Politik des dritten Reiches und teilte mit den meisten staatlichen und

141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland

halbstaatlichen Unternehmen bis zu dessen Zusammenbruch im Mai 1945 das Schicksal nationalsozialistischer „Gleichschaltung". (Auch für Presse und Film, deren Organisationsform sich von Anbeginn ihrer Entstehung traditionell nach Privatrecht richtete, änderte sich formal nichts, wenngleich das Reich sehr bald nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 seinen bestimmenden, z.T. rechtlich abgesicherten, Einfluß zur Geltung brachte, so daß auch hier ebenso wie für den Rundfunk, das Verfassungsrecht der freien Meinungsäußerung wie das des Verbots der Zensur praktisch nicht mehr existierte). Resümee: Der Rundfunk der Weimarer Zeit war und blieb in seiner funktionalen wie organisatorischen Spezialität verfassungsrechtlich ungeklärt. Ungewiß blieb gleichfalls, wie weit das von der Reichspost umfassend in Anspruch genommene Fernmelderecht gegenüber der Kompetenz, die die Länder aus ihrer Kulturhoheit für sich beanspruchten, reichte. Die 1926 gefundenen Kompromisse waren rein pragmatisch. Trotz privater Beteiligung bis 1932 und der privatrechtlichen Organisationsform der Programmgesellschaften und auch der R R G m b H wurde der Rundfunk von Anbeginn als staatliche Aufgabe verstanden, deren Steuerung zunehmend vom Reich her erfolgte und damit als Großdeutscher Rundfunk ganz auf die unmittelbare und zentral angelegte Beherrschung und Indienststellung durch das NS-Regime ab 1933 zulief, in der er bis zum Zusammenbruch des 3. Reiches 1945 verblieb. Weder in der Weimarer Republik, noch erst recht unter der nat. soz. Herrschaft, hatte der Rundfunk eine seiner Bedeutung entsprechende organisationsrechtliche Ausstattung. Diese wurde erstmals nach dem Zusammenbruch, 1945, geschaffen. 2.2. Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg „Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wurde der Betrieb von Rundfunkanlagen durch deutsche Stellen zunächst verboten. Die beschlagnahmten Einrichtungen und Anlagen wurden von den Besatzungsmächten betrieben, die den Rundfunk nach und nach wieder in deutsche Hand gaben" (BVerfG E 12, 205, 210). Die R R G m b H wurde aufgelöst und ging in die Liquidation. Die weitere Entwicklung verlief in den drei westlichen Besatzungszonen und den sich alsbald neubildenden Ländern der BRD weitgehend

1555

konform und gänzlich anders als in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und danach der DDR. Während nach der anfänglichen Indienststellung der Sender für die Zwecke der Besatzung die westlichen Allierten das Ziel verfolgten, jeglichen staatlichen Einfluß auf den Rundfunk auszuschalten, wurde in der sowjetischen Besatzungszone bereits Ende 1945 durch die Unterstellung des „Deutschen Demokratischen Rundfunks" unter die „Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung" eben dieser staatliche Einfluß (erneut) institutionalisiert. Nach Gründung der D D R im Oktober 1949 wurde im August 1952 das „staatliche Rundfunkkomitee" (GBL, D D R , 733) gegründet, dessen Mitglieder vom Ministerrat der D D R berufen und abberufen werden (Herrmann 1994, 68/94). Es entstand demzufolge auch kein Raum für die Bildung und Entwicklung eines eigenen Rundfunkorganisationsrechtes. Dies ergab sich erst mit dem Machtwechsel in der D D R im Herbst 1989 und der deutschen Vereinigung im Jahr darauf. Demgegenüber wurde im Westen Deutschlands - im Anschluß an die Übergangszeit unter alliiertem Recht — durch Gesetze resp. Staatsverträge der neu geschaffenen Länder die Basis für die Entwicklung eines erstmals unabhängigen, freiheitlichen Rundfunksystems gelegt. Die durch die (westdeutschen) Länder neu geschaffenen ö.-r. Rundfunkanstalten wurden mit dem Recht der Selbstverwaltung ausgestattet und unterlagen nur in einem eng umrissenen Umfang staatlicher Rechtsaufsicht. Die Sicherung ihrer Unabhängigkeit vom Staat (Staatsferne) und von einseitiger gesellschaftlicher Macht sowie die Verpflichtung zur politischen Neutralität dienten, ebenso wie die Bestimmungen über ihre Organisation und Wirtschaftsführung, allein dem Ziel, ein nur der Allgemeinheit verpflichtetes Programm zu verbreiten. Um den Rundfunk von der Post unabhängig zu machen, hatten bereits die westlichen Besatzungsmächte den Rundfunkanstalten das gesamte Vermögen der Reichspost übereignet. Sie wurden damit Eigentümer aller Studio- und Sendeeinrichtungen. So entstand erst nach dem zweiten Weltkrieg — wenn auch zunächst allein in den westdeutschen Ländern — ein am Verfassungsprinzip der Unabhängigkeit orientiertes Rundfunkorganisationsrecht, das diesen Ausdruck verdient. Dies betrifft sowohl den öf-

1556 fentlich-rechtlichen, wie, seit 1986, den privaten Rundfunk, und zwar seit der Vereinigung 1990 einheitlich im gesamten Bundesgebiet. Konkret entstanden nach Ablauf der Übergangszeit in 1991 (Einigungsvertrag vom 31. 08. 1991, BGBL II, 885) in den fünf neuen Bundesländern die Anstalten ORB in und für Brandenburg und M DR in und für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dem SFB wurde die Rundfunkversorgung für ganz Berlin übertragen, MecklenburgVorpommern trat dem NDR-Staatsvertrag bei (Herrmann 1994, 231/232). Während in der Weimarer Republik (und aus einsichtigen Gründen weder unter dem NS-Regime noch auch in der D D R ) die Meinungsverschiedenheiten über die Regelungskompetenzen für den Rundfunk nicht zur rechtlichen Klärung gelangten, änderte sich dies nach seiner öffentlich-rechtlichen Neubegründung in der BRD. Doch trat erst Anfang 1961, also 12 Jahre nach Gründung der BRD, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seiner für das Rundfunkorganisationsrecht fundamentalen, ersten, Entscheidung, dem sog. Fernsehurteil auf den Plan (BVerfG E 12,205 ff.). Diese Entscheidung bestätigte — bei zugleich richtungsweisender Bedeutung —, was zuvor über die Landesgesetzgeber, und zwar unter Aufnahme und Fortführung der in den ersten Nachkriegsjahren von den Alliierten gelegten Grundlagen, geschaffen worden war. Danach leitet sich das Medienorganisationsrecht für den Rundfunk aus dem Prinzip einer Institutionalisierung der Gewährleistung der Rundfunkfreiheit ab. Diese Institutionalisierung von Rundfunkfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner o. g. Entscheidung mit der „Medium- und Faktorfunktion" des Rundfunks für die öffentliche Meinungsbildung in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft beschrieben. Desweiteren fordere Art. 5 GG, der neben dem individuellen Recht der freien Meinungsäußerung die Freiheit der Berichterstattung durch einen Rundfunk gewährleistet, „Gesetze, durch die die Veranstalter von Rundfunkdarbietungen so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Worte kommen können [Binnenpluralität], und die für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich machen, die ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten" (BVerfG E 12,206). Der Rundfunk in Deutschland darf - ö.-r. wie auch privat - nur auf gesetzlicher

XXIV. Geschichte des Fernsehens

Grundlage veranstaltet werden (Gesetzesvorbehalt). Zuständig sind allein die Bundesländer. Dem Bund verbleiben mithin über seine post- und fernmelderechtliche Kompetenz (in der Bindung an die den Ländern anvertraute Rundfunkfreiheit!) sowie über seine Zuständigkeiten in auswärtigen Angelegenheiten (derzeit die Deutsche Welle) hinaus keinerlei Gestaltungsrechte. Schließlich erinnert das BVerfG im Hinblick auf das Vorgehen und den Stil des Umgangs der Bundesregierung gegenüber den Ländern bei der Bemühung um einen sachgerechten kompetenziellen Interessenausgleich an das allseits geltende Verfassungsgebot des bundesfreundlichen Verhaltens, und spricht damit das für den Umgang der Länder mit dem Bund, vice versa, sowie der Länder untereinander allgemein geltende Prinzip des kooperativen Föderalismus an. Dieses zu Recht als Magna Charta des Deutschen Rundfunks bezeichnete Urteil beendete die bis dahin über mehr als ein Jahrzehnt währende Phase organisationsrechtlicher Unsicherheiten, die die Entwicklung der elektronischen Massenkommunikation nach dem Ende des Krieges zunächst begleitet hatten. Zugleich sicherte das BVerfG — ergänzt durch die Entscheidungen der folgenden Jahre und Jahrzehnte — für einen Zeitraum von 25 Jahren den organisationsrechtlichen Status quo des ö.-r. Rundfunks, der institutionell allein dem Gemeinwohl der demokratisch verfaßten Gesellschaft verpflichtet ist. Diese Sicherung gilt bis heute (und bis auf weiteres), d. h. auch im Dualen System ab 1986 und erfaßt ab dann in spezifischer Weise auch den privatrechtlich organisierten Rundfunk. In seiner „für das Staatsganze schlechthin konstituierenden" Funktion (BVerfG E 43, 130) nahm und nimmt der öffentlichrechtliche Rundfunk dabei als „Medium" und darüber hinaus als „eminenter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung" (BVerfG E 12, 260) bis zum heutigen Tag, sowie fortwirkend, an der Demokratieentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland teil. Nach den Erfahrungen mit dem Mißbrauch staatlicher Macht, besonders in den zwölf Jahren des NS-Regimes, aber auch schon in den Jahren davor, also ab 1926 der Rundfunk zum Staatsrundfunk wurde, fand dieses Gebot der Unabhängigkeit bei seinem Neuaufbau nach 1945 seinen idealtypisch institutionalisierten Ausdruck in der unter der alleinigen Kontrolle aller maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte stehenden Anstalt des

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öffentlichen Rechts in Verbindung mit einer über die Rundfunkgebühr organisierte, weitgehend unabhängige, Finanzierung. Den nach Art. 30 und Art. 70 G G organisationsrechtlich allein zuständigen Ländern stand bei deren Staatskanzleien —, nurmehr eine eingeschränkte Rechtsaufsicht zu, den Landesparlamenten das Recht und die Pflicht, durch angemessene Rundfunkgebührenfestsetzung die gesetzlich zugewiesene Aufgabenerfüllung der Anstalten, d. h. ihren Grundversorgungsauftrag zu sichern (BVerfG E 31, 314 und E 30, 88). Der ö.-r. R u n d f u n k entfaltete im H ö r f u n k wie im Fernsehen, nach dessen bundesweiter Einführung 1954, ein außerordentlich schnell anwachsendes, qualitativ orientiertes Programmangebot. Der auf gesellschaftlichen Diskurs gerichtete publizistisch-kritische Arbeitsansatz einzelner ö.-r. R u n d f u n k p r o g r a m m e wurde, wie die fünfziger Jahre mehr und mehr deutlich machten, vielen, besonders der bürgerlichen Mitte zuzurechnenden Kräften und Organisationen sehr bald ein Ärgernis. Schon die vom Staat unabhängige Positionierung des Rundfunks — noch dazu in der Regelungsbefugnis der Länder — war aus der Sicht vieler Politiker problematisch, „verstand sich der R u n d f u n k doch traditionell als staatliche Einrichtung [...]. Die Sender gehörten der Reichspost [...]. Die Gebühren wurden von der Post festgesetzt und eingezogen. [...] So verstand man den Rundfunk in der Tradition von Weimar" (Bausch 1980, 9/10). Hinzu trat die nicht minder traditionelle Vorstellung weiter politischer Kreise, die sich vom Primat zentralistischer Regelungskompetenz nur schwer trennen wollten. Für sie war der föderalistische Aufbau der Bundesrepublik ohnehin so etwas wie ein nationaler und organisatorischer Rückschritt, mindestens aber ein Hindernis für Übersichtlichkeit, Ordnung und Effektivität. Aus dieser Sicht weist der alsbald einsetzende politische Kampf um den föderalistisch angelegten R u n d f u n k durchaus dogmatische Züge auf, die auch am ordnungspolitischen Gegensatzpaar „Zentralität und Dezentralität" deutlich werden. Sehr bald machten sich zudem wirtschaftliche Interessen bemerkbar, die den Rundf u n k — möglichst in eigener Regie — als Träger der Werbung dem Wirtschaftsmarkt zuweisen wollten. Die zeitlich begrenzte Ausstrahlung von Werbesendungen - interessant war hier besonders das Fernsehen, das ab

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Mitte der fünfziger Jahre werktäglich außer Sonntags, sowie vor Beginn des Abendprogramms u m 20 Uhr, Wirtschaftswerbung in eigenen, vom allg. Programm abgesetzten Blöcken, ausstrahlte — bot hier nicht nur keinen Ersatz, sondern blockierte geradezu die Bemühungen zur Entwicklung eigener, der Wirtschaft zugeordneter Rundfunkunternehmen. Fernsehen wurde mit regelmäßigen Sendungen ab Februar 1952 zunächst im Sendebereich des N W D R (der Länder Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und West-Berlin) und ab 01.01. 1954 auf der Basis des am 27.03. 1953 abgeschlossenen Fernsehvertrages der von den Anstalten 1950 gegründeten A R D (ARD-Satzung v. 9./10. 06. 1950 i. d. F. v. 7. 06. 1962; A R D - J a h r b u c h 1970, 308; letzte Fassung in A R D - J a h r b u c h 1992) ausgestrahlt. Der Abschluß dieses Fernsehvertrages hatte dabei deutlich den Zweck, der Verabschiedung des von Abgeordneten der Regierungskoalition unter Bundeskanzler Adenauer angestrebten Bundesrundfunkgesetzes zuvorzukommen (Bausch 1980; Montag 1978, 77). Danach sollte eine Anstalt des öffentlichen Rechts auf Bundesebene gegründet werden, die den „Deutschen Gemeinschaftsr u n d f u n k " und den „Deutschen Fernsehr u n d f u n k " betreiben und gemeinsame Aufgaben wahrnehmen sollte (BVerfG E 12, 205 ff.). Aufgrund des Widerstandes der Länder, die das Rundfunkorganisationsrecht nach der Verfassung f ü r sich beanspruchten, kam es in der Folge zu Bund/Länderverhandlungen, die 1955 in einem Staatsvertragsentwurf einmündeten. Über diesen Vertrag konnte jedoch eine Einigung nicht erzielt werden. In den weiteren Verhandlungen legte die Bundesregierung eine deutlich härtere Gangart an den Tag, indem sie, ohne die Vorstellungen der Länder zu berücksichtigen, 1958 eine eigene bundesgesetzliche Regelung ansteuerte, deren Erörterung mit den Ländern wiederum zu keinem Ergebnis führte. 1959 beschloß die Bundesregierung einen Gesetzentwurf, der die Errichtung einer öffentlichen Anstalt „Deutschland-Fernsehen" vorsah. Dieser Entwurf wurde entgegen dem Einspruch des Bundesrates dem Bundestag zugeleitet. Noch einmal kam es zu Gesprächen zwischen Bund und Ländern, die jedoch an der obstinaten Haltung der Bundesregierung scheiterten. Die Ungeduld speziell des Bundeskanzlers Adenauer fand schließlich ihren

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XXIV. Geschichte des Fernsehens

Ausdruck in der einseitigen Gründung der Deutsches Fernsehen GmbH, an der sich die Länder jedoch nicht beteiligten. Damit waren die Möglichkeiten weiterer Verständigung ausgeschöpft, „das Tischtuch zwischen Bund und Ländern [...] zerschnitten" (Bausch 1980, 420). Im Spätsommer 1960 reichten die Länder Hamburg und Hessen gegen diese Gründung der Deutsches Fernsehen GmbH Klage beim BVerfG ein, der sich die Länder Bremen und Niedersachsen alsbald anschlossen. Die Entscheidung des BVerfG vom 28.02. 1961 erklärte das Vorgehen der Bundesregierung für verfassungswidrig (BVerfG E 12, 205), da der Bund durch die Gründung der Deutschland-FernsehenG m b H gegen Art. 30 G G (Zuständigkeit der Länder) und gegen Art. 5 G G (Staatsferne) (BVerfG E 12, 205/207) sowie gegen den Verfassungsgrundsatz bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen habe. Der Rumpfgesetzentwurf betr. die Errichtung nurmehr der beiden ö.-r. Hörfunkanstalten D L F (seit 1994 Deutschlandradio) und D W passierte den Bundestag (BGBL 1960/Nr. 61) und führte im Herbst 1961 zu deren Errichtung. Das Z D F nahm am 01. 04. 1963 in der Organisation einer eigenen, noch 1961 von allen Bundesländern durch Staatsvertrag errichteten Anstalt des öffentlichen Rechts (letztgültige Fassung unter Art. 3 des (zweiten) Staatsvertrages über den Rundfunk im vereinten Deutschland; Media Perspektiven, Dok. lila 1991,105) seine Sendungen auf.

3.

Der Weg zum Dualen System

3.1. Vorgeschichte und Grundlagen Die vom BVerfG mit seiner Entscheidung vom 28. 02. 1961 herbeigeführte Klärung befestigte das ö.-r. Rundfunksystem als den zunächst alleinigen Rundfunkveranstalter in der Bundesrepublik Deutschland und mit ihr die „publizistische Gewaltenteilung" zwischen elektronischen und gedruckten Medien. Die bis zur Zulassung privatwirtschaftlichen Rundfunks im Jahre 1986 zurückgelegte Strecke war nicht nur durch einen kontinuierlichen Ausbau der Programme sowie durch bedeutende Entwicklungen auf dem Gebiet der Übertragungstechnik (Kabel und Satellit), sondern auch durch weitere wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts markiert. Als Ansatzpunkt, der alsbald nach dem Fernsehurteil aus dem Jahre 1961 erneut einsetzenden Bemühungen, das „Monopol" des

öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu brechen, kann der Hinweis im Fernsehurteil selbst gelten, wonach der Rundfunk auch dann öffentliche Aufgabe sei, wenn er sich dabei privatrechtlicher Formen bediene (BVerfG E 12, 246). Die treibenden Kräfte waren (erneut) die Zeitungsverleger, die, diesmal im Saarland, mit verschiedenen Initiativen Konzessionen zur Veranstaltung von Fernsehen anstrebten. Gleichzeitig zielte ein kleiner Kreis führender Abgeordneter des Saarländischen Landtages aus allen Fraktionen auf eine entsprechende gesetzliche Regelung, die der eigens ins Leben gerufenen Neuen-Fernseh-AG zu einer FS-Veranstalterlizenz verhelfen sollte. In einem Parforce-Ritt wurde in drei Lesungen, sämtlich am 07. 06. 1967, das neue Gesetz verabschiedet. Am 16. 06. 1967 bereits stellte die Neue-Fernseh-AG den Konzessionsantrag. An der Vorgesellschaft übernahmen treuhänderisch prominente Mitglieder des Landtages aus C D U und F D P sowie andere gewichtige Persönlichkeiten und Gruppen, unter ihnen der Direktor von Europa 1, sowie ein Direktor der Röchling-Bank, die Gesellschaftsanteile. In der Neue-Fernseh-AG, alsbald umbenannt in Freie Rundfunk AG fFRAG) schlossen sich nahezu alle Antragsgruppen zusammen. Sie gab den Namen für das spätere FRAG-Urteil des BVerfG vom 16.06. 1981, das unter Fortschreibung des Fernsehurteils von 1961 große Teile des Gesetzes vom 07. 06. 1967 für verfassungswidrig und daher nichtig erklärte und zu folgenden Feststellungen gelangte: „Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G G fordert für die Veranstalter privater Rundfunksendungen eine gesetzliche Regelung, in der Vorkehrungen zur Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks zu treffen sind. Diese Notwendigkeit besteht auch dann, wenn die durch Knappheit der Sendefrequenzen und den hohen finanziellen Aufwand bedingte Sondersituation im Zuge der modernen Entwicklung entfallt [...]. Im Rahmen des zugrundegelegten Ordnungsmodells hat der Gesetzgeber sicherzustellen, daß das Gesamtangebot der inländischen Programme der bestehenden Meinungsvielfalt im wesentlichen entspricht. Ferner hat er Leitgrundsätze verbindlich zu machen, die ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten. Er muß eine begrenzte Staatsaufsicht vorsehen, den Zugang zur Veranstaltung privater Rundfunksendungen regeln und, solange dieser nicht jedem Bewerber eröffnet werden kann, Auswahlregelungen treffen" (BVerfG E 57, 295).

141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland

Auf der Basis dieser Bindung (auch) eines privaten Rundfunks an die staatliche Gewährleistung der Rundfunkfreiheit entschied das BVerfG folgerichtig: „Im Vordergrund der Rundfunkfreiheit stehen nicht die subjektiven Individualrechte der Interessenten, sondern das objektive Verfassungsgut, eben die Institution Rundfunk als Konstituenz des demokratischen Verfassungsstaates. Zwar ist auch Privatfunk zulässig, aber nicht in Konsequenz der Erfüllung subjektiver materieller Grundrechte, sondern als organisationsrechtliche Modalität der Realisierung des Verfassungsguts Rundfunk" (Bethge 1989, 110) in ihrer Besonderheit einer „dienenden Freiheit" (BVerfG E 57, 295, 320). Es müsse also Gewähr dafür geboten werden, „daß der Rundfunk nicht nur einer Richtung oder einem insbesondere unternehmerischen Interesse der Trägerschaft dienstbar gemacht wird" (BVerfG E 57, 295, 330). Seit und mit der Zulassung privater Rundfunk- i. f. vornehmlich Fernsehveranstalter im Jahr 1986 (ALM 1995/96) hat der ö.-r. Rundfunk an Bedeutung und Gewicht noch zugenommen. Erst seine Stabilität und Leistungskraft geben der nunmehr entstandenen Gemengelage divergierender Unternehmensziele und Verhaltensweisen die notwendige Balance; erst sein klassischer, auf die Kommunikation in der Demokratiegesellschaft gerichteter Programmauftrag vermag die strukturellen Schwächen der privaten Veranstalter auszugleichen, und damit das Duale System zu legitimieren. Zur organisationsrechtlichen Befestigung des ö.-r. Rundfunks hatte in seinem sog. Mehrwertsteuerurteil das BVerfG (BVerfG E 31, 314) bereits am 27. 07. 1971 beigetragen (BVerfG E 73, 118). Mit dieser Entscheidung erklärt es den Versuch des Bundes, die Rundfunkgebühren der Umsatzsteuer zu unterwerfen, als mit der Verfassung für nicht vereinbar. Die Rundfunkanstalten, so das Gericht im ersten Leitsatz, „erfüllen eine integrierende Funktion für das Staatsganze. Ihre Tätigkeit ist nicht gewerblicher oder beruflicher Art". Abermals verwehrte mit dieser Entscheidung das BVerfG dem Bund — diesmal über die Steuergesetzgebung —, Einfluß auf den Rundfunk zu nehmen. Die für das Bereithalten des Rundfunkempfangsgeräts zu zahlende Gebühr ist, so das Gericht, „nicht Gegenleistung für eine Leistung, sondern das von den Ländern eingeführte Mittel zur Finanzierung der Gesamtveranstaltung" (BVerfG E 31, 314, 330).

1559

Maßstabsetzend für die Bedingung der ersten Zulassung privatwirtschaftlicher Rundfunkveranstalter im Jahr 1986 ist nach dem FRAG-Urteil des BVerf.Gerichts besonders das sog. Niedersachsen-Urteil vom 04. 11. 1986 (BVerfG E 83, 118). Mit diesem Urteil macht das BVerf.Gericht deutlich, daß die (erstmals so bezeichnete) Grundversorgung Sache der öffentlich-rechtlichen Anstalten sei, „weil ihre terrestrischen Programme nahezu die gesamte Bevölkerung erreichen und sie nicht in gleicher Weise wie private Veranstalter auf hohe Einschaltquoten angewiesen, mithin zu einem inhaltlich umfassenden Programmangebot in der Lage sind". Wie Bethge (1989, 116 ff.) zutreffend sagt, sei mit dieser Klärung zugleich der ö.-r. Rundfunk aus seiner nahezu 30 Jahre währenden Defensive gegen den „freien Rundfunkmarkt" befreit worden. Mit dieser Gewichtung des ö.-r. Rundfunks, der „nicht selten als künstliche Notlösung und bloße Behelfskonstruktion" denunziert worden sei, hätten sich nunmehr die „medienrechtlichen- und medienpolitischen Fronten verkehrt". Ob allerdings diese Kennzeichnung aus der Sphäre der Rechtstheorie der Verfassungswirklichkeit, wie sie sich in dem seit 1986 bestehenden Dualen System ergeben hat, standhält, wird inzwischen teilweise bezweifelt. Hat doch der ö.-r. Rundfunk, im Hörfunk wie im Fernsehen, in seinem konkreten Programmverhalten vielfaltig die ProgrammPhilosophie" der auf Gewinnerwirtschaftung gerichteten Unternehmensziele der privaten Programmveranstalter übernommen, indem er seinen auf Information und Integration gerichteten qualitativ definierten Programmauftrag zu Gunsten einer quantitativ ausgerichteten Reichweitenerzielung seiner Programme umorientiert hat. Bis hinein in eine organisationsrechtliche Dimension kann diese Entwicklung dann geraten, wenn über dieses dem Privatveranstalter angenäherte Programmverhalten die mit dem „klassischen" Programmauftrag des ö.-r. Rundfunks festgemachte Rundfunkgebühr in ihrer Legitimation ausgehöhlt würde. Bedenkt man zudem, daß die Kompetenz der Länder für den Rundfunk auch darin gründet, daß der Rundfunk der Kultur („auch ein kulturelles Phänomen", BVerfG E 12, 205/225) und damit der Kulturhoheit der Länder zugehört, könnte mit den auf Reichweiten, gleich Marktwettbewerb, sich neuerdings ausrichtenden Programmzielen des ö.-r. Rundfunks auch diese Kompetenz in Zweifel geraten.

1560 Dies zumal, wenn der privatrechtliche Rundfunk seinerseits den landesmedienrechtlichen Regeln aus dem Ruder läuft und damit die „Gesamtheit Rundfunk" im Dualen System als Wirtschaftsunternehmen in die Sphäre der konkurrierenden Gesetzgebung von Ländern u n d Bund (Art. 74, 11 und 16. GG) gerät (v. Seil 1982, 479ff.)! Vorerst scheint diese, vornehmlich dem Rundfunkgebührenrecht drohende Gefahr dadurch abgewendet, daß trotz der vorerwähnten Indikation das BVerfG in seiner Entscheidung vom 22.02. 1994 (BVerfG E 30, 88) u. a. das Rundfunkgebührenrecht erneut bestätigt (und dem politischen Imponderabil der für die Gebührenfestsetzung zuständigen Landesparlamente durch Zuweisung objektiver Kriterien bei der Handhabung dieses Machtinstruments Auflagen und damit Grenzen gesetzt) hat. Dieser Entscheidung lag der Vorlagebeschluß des BayV G H zugrunde, in dem unter anderem die Frage zur Klärung anstand, ob es mit der grundgesetzlichen Rundfunkfreiheit vereinbar sei, wenn die Rundfunkgebühr - wie bis dato — durch die Länderparlamente, sprich den Staat, festgesetzt werde. 3.2. Staats Verträge 1987 kommt es zum Abschluß des ersten Staatsvertrages der (alten) Bundesländer „über die Neuordnung des Rundfunkwesens" (RStV 1, Media Perspektiven/Dok. 1987) und damit zur ersten ländergesetzlichen Grundlage für das seit 1986 bestehende Duale System. Er wurde am 01.01. 1992 durch den (2.) „Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland" ersetzt (RStV 2, Media Perspektiven/Dok. III.a 1991). Mit diesem Staatsvertrag haben die 16 Bundesländer dem dualen Rundfunksystem eine allgemeine und umfassende Rahmenordnung gegeben, den Rundfunkbegriff i. S. der BVerfG-Rechtsprechung festgelegt sowie den Fernsehvertrag der A R D und den ZDF-Staatsvertrag reformiert und die Bestimmungen über das Rundfunkgebührenwesen und die Rundfunkfinanzierung neu gefaßt. Insbesondere schreibt der Rundfunkstaatsvertrag von 1991 bei gleichzeitiger Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dessen Grundversorgungsauftrag im Dualen System die Regelung für private Rundfunkveranstalter fort, die erstmals im Staatsvertrag von 1987 Ausdruck gefunden hatte. Dazu gehört maßgeblich die Pflicht zur „Vielfalt der Meinung im wesent-

XXIV. Geschichte des Fernsehens

lichen" für jedes der Programme, „solange nicht mindestens drei in der Bundesrepublik Deutschland veranstaltete Fernsehvollprogramme von verschiedenen Veranstaltern bundesweit verbreitet werden, die jeweils von mehr als der Hälfte der Teilnehmer empfangen werden können" (RStVa § 20). Der dritte Rundfunk(änderungs)staatsvertrag (RStV 3, Media Perspektiven/Dok. I 1996) ist 1997 in Kraft getreten. Für den ö.-r. Rundfunk wird dabei das Verfahren der Gebührenfestsetzung zur Sicherung seines Bestandes und seiner Weiterentwicklung dahin konsolidiert, daß bei der Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs durch die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, KEF (die bereits 1975 im Auftrag der Ministerpräsidenten eingesetzt worden war), „ein hoher Grad an Objektivierbarkeit erreicht werden soll". Dies hatte das BVerfG in seinem 1994 ergangenen Gebührenurteil konkret vorgegeben, und weiterführend festgelegt, daß der so ermittelte Finanzbedarf „nur aus Gründen unterschritten werden" darf, „die vor der Rundfunkfreiheit Bestand haben". Die Ministerpräsidenten wie auch besonders die Landesparlamente müssen Abweichungen vom Ergebnis der KEF-Bedarfsermittlung begründen. In Ergänzung des ö.-r. Programmauftrages soll damit der Sicherung der vornehmlich beim ö.-r. Rundfunk liegenden Grundversorgung und damit der erst durch diese Sicherung gewährleisteten Balance im Dualen System auch künftig Rechnung getragen werden. Für den privaten Rundfunk gilt, wie für den ö.-r. Rundfunk, die „verfassungsmässige Ordnung". Mit dem sog. NRW-Urteil vom 05. 02. 1991 (BVerfG E 83, 238) hatte zwar das Bundesverfassungsgericht noch einmal seine Linie, insbesondere im Hinblick auf die ungeschmälerte Gewährleistung der Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten bestätigt. Es bezieht jedoch übergreifend die privaten Rundfunkveranstalter in die Gesamtverantwortung gegenüber dem Grundrecht des Bürgers auf freie Meinungsbildung ein. Dies bedeutet, daß der Gesetzgeber einen organisationsrechtlichen Gestaltungsspielraum hat, der es ihm ermöglicht, auch privaten Rundfunkveranstaltern besondere Anforderungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt aufzuerlegen. Auch Kooperationsmöglichkeiten, so das BVerfG, für den öffentlich-rechtlichen und den privaten Rundfunk seien danach möglich. Der Gesetz-

141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland

geber sei in der dualen Rundfunkordnung nicht verpflichtet, öffentlich-rechtliche und private Veranstaltungen strikt voneinander zu trennen. Praktisch Gebrauch gemacht wurde von dieser Möglichkeit bei der Radio NRW GmbH, bei der mit 24,9 Prozent der W D R (§ 6,4 L R F G NW) mit der Pressefunk NRW und der UFA-Film- und Fernseh G m b H (ALM Jahrbuch 1996) zusammenwirkt. Entsprechend nimmt auch der 3. Rundfunkstaatsvertrag, wie bereits seine Vorgänger, die privaten Rundfunkveranstalter in Pflicht. Ihre „Rundfunkvollprogramme sollen zur Darstellung der Vielfalt im deutschsprachigen und europäischen Raum mit einem angemessenen Anteil an Information, Kultur und Bildung beitragen" (RStV 3a, § 41). Dabei müssen „die bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen ... in den Vollprogrammen zu Wort kommen; Auffassungen von Minderheiten sind zu berücksichtigen" (RStV 3a, § 25). Insoweit wiederholt der neue (dritte) Staatsvertrag im wesentlichen die programmlichen Gebote des (zweiten) Staatsvertrages (und verlangt zu deren Stärkung, wie bisher, sog. Fensterprogramme). Organisationsrechtlich zielt der (dritte) RStV dagegen in eine gänzlich neue Richtung. Diese (jetzt angestrebte) Neuregelung geht ersichtlich von der zwischenzeitlich gewonnenen Erfahrung aus, daß nicht nur die den privaten Fernsehveranstaltern zugewiesenen programmlichen Gebote der Meinungsvielfalt n i c h t greifen, sondern daß auch deren Sicherung über das Modell der Außenpluralität auf dem Markt (durch eine Mehrzahl voneinander unabhängiger Veranstalter, also qua Konzentrationsbegrenzung), und zwar konkret nach den bis dato geltenden Beschränkungen der gesellschaftsrechtlichen Beteiligungsmöglichkeiten (RStV 2, 1991) n i c h t ausreicht. Er entwickelt zur Sicherung der Außenpluralität ein neuartiges Regelungskonzept. An die Stelle der (bis dato) auf Konzentration zielender, organisatorisch orientierten gesellschaftsrechtlichen Beteiligungsbeschränkungen setzt er nunmehr in gänzlicher instrumenteller Umorientierung auf das Kriterium des Zuschaueranteils, mit dessen Anwendung die Entstehung vorherrschender Meinungsmacht wirksamer als bisher gesteuert werden soll. So wird auch die bis dato bestehende Beschränkung hinsichtlich der Anzahl der bisher von e i n e m Veranstalter zulässiger Weise verbreiteten Programme, wie sie im 2. RStV festgelegt wa-

1561

ren, ausgehoben („Ein Unternehmen darf ... im Fernsehen eine unbegrenzte Anzahl von Programmen veranstalten", RStV 3, 1996a, §26(1)). An die Stelle dieser beiden Beschränkungstatbestände tritt das Modell der Einschränkbarkeit von (Zuschauer-)Marktanteilen. Zu ihrer Steuerung arbeitet der Staatsvertrag mit der Vorstellung, daß vorherrschende Meinungsmacht vorliege, wenn die „einem Unternehmen zurechenbaren Programme (es sind dies solche, die es selbst veranstaltet oder die von einem anderen Unternehmen veranstaltet werden, an dem es mit mehr als 25 Prozent beteiligt ist, d.V.) im Durchschnitt eines Jahres einen Zuschaueranteil von 30 v. H." erreichen. Des weiteren sieht der RStV (RStV 3, 1996, § 26 (5)) vor, daß, wenn ein Veranstalter im Durchschnitt eines Jahres einen Zuschaueranteil von 10 v. H. erreicht hat, bereits eine Entwicklung hin auf vorherrschende Meinungsmacht in Betracht gezogen werden müsse. In beiden Fällen sieht der Staatsvertrag Maßnahmen zur Meinungsmachtverminderung vor. Sie reichen im „30 Prozentfall" von der Aufgabe von Beteiligungen bis zur Verminderung der Marktposition auf unterschiedlichen Wegen, „bis keine vorherrschende Meinungsmacht mehr gegeben ist". Im „10 Prozentfall" hat der „Veranstalter mit einem Vollprogramm oder einem Spartenprogramm mit Schwerpunkt Information ... Sendezeit für unabhängige Dritte" in Gestalt von Fensterprogrammen (sh. insoweit bereits § 20 des 2. RStV, d. V.) einzuräumen", die „unter Wahrung der Programmautonomie des Hauptveranstalters einen zusätzlichen Beitrag zur Vielfalt in dessen Programm, insbesondere in den Bereichen Kultur, Bildung und Information leisten" sollen (RStV 3, 1996, §§26, 31). Die Aufsicht im Rahmen der Sicherung der Meinungsvielfalt im Bereich des privaten Rundfunks liegt bei den — seit Mitte der achtziger Jahre nach und nach gebildeten — Landesmedienanstalten. Diese haben, wie die Rundfunkanstalten, das Recht der Selbstverwaltung und stehen in gleicher Weise unter dem Verfassungsgebot der Unabhängigkeit aus Art. 5 GG. Sie finanzieren sich aus einem Anteil an der Rundfunkgebühr und sind insoweit, wie die Rundfunkanstalten selbst, frei von staatlicher Beherrschung. Ihnen obliegt es, vor und nach der Zulassung privater Veranstalter die Einhaltung der geltenden Bestimmungen zu prüfen und die jeweils not-

1562

XXIV. Geschichte des Fernsehens

wendigen Entscheidungen zu treffen. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben werden gebildet: die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), die die den Unternehmen jeweils zurechenbaren Zuschaueranteile ermittelt, sowie die Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten (KDLM), die im Zusammenwirken mit der KEK die abschließende Beurteilung von Fragestellungen der Sicherung von MeinungsVielfalt im Zusammenhang mit der bundesweiten Veranstaltung von Fernsehprogrammen (RStV 3, 1996, §§ 35ff.) vornehmen.

4.

Schlußbemerkung

Die medienpolitische Entwicklung und Diskussion der neunziger Jahre wird durch eine Reihe gewichtiger Fragestellungen markiert, von denen drei als für die weitere Entwicklung vorrangig einzuschätzen sind: (1) Wird das Duale System sich festigen und Bestand haben? (2) Wie wird sich die im Hinblick auf die Neuen Medien partiell offene Definition des Rundfunkbcgi'iffs entwickeln? (3) Wird es gelingen, die privatwirtschaftlichen Tendenzen zur Konzentration und Meinungsmachtbeherrschung auf den ineinandergreifenden Märkten der Programmbeschaffung, Programm Veranstaltung und Netzbetreiberschaft zu stoppen? Wird insbesondere die Neutralität der Übertragungstechniken gewahrt bleiben? Zu (1) Die Beantwortung dieser Frage hängt von mehreren Faktoren ab: wird der ö.-r. Rundfunk den ihm primär und schwergewichtig zugewiesenen Kommunikations- und Grundversorgungsauftrag auch künftig erfüllen oder wird er in seinem Programmverhalten zunehmend die - auf Gewinnerzielung gerichteten — Unternehmensziele der Privatveranstalter übernehmen und damit das Duale System debalancieren? Sodann: bleibt der ö.-r. Programmauftrag und mit ihm das System des ö.-r. Rundfunks insgesamt — angesichts zumal der Einnahmerückgänge im Bereich der Werbung - auf Dauer in seinem status quo finanziell gesichert? Wäre ggf. mit dem Ergebnis substantieller Kostenersparnis z. B. eine zahlenmäßige Reduzierung der 11 Landesrundfunkanstal-

ten, wie sie von einzelnen Ländern immer wieder gefordert wird, mit dem Vielfaltsgebot der föderalen Struktur verträglich und, wenn ja, geboten? Wird sich auch in dieser gegenüber dem Demokratieprinzip des öffentlichen Diskurses wie der Kultur eminent wichtigen Fragestellung die immer dominanter werdende ökonomische Kategorie einschließlich der Tendenz zur Zentralisierung durchsetzen? Schließlich, mit beidem zusammenhängend: kann die derzeitige Mischfmanzierung des ö.-r. Systems aus Gebühren, Werbung und Sponsoring dahin „bereinigt" und zugleich entlastet werden, daß die Finanzierungsmöglichkeiten aus Werbung und Sponsoring aufgegeben werden? Könnte auf diese Weise die Pflicht der Länderparlamente, zumal nach dem Urteil des BVerfG vom 22. 02. 1994 (BVerfG E 14), zur ausgleichenden und dauerhaft gesicherten Finanzierung (allein) über die Gebühr politisch gefestigt werden? Zu (2) Die Beantwortung dieser Frage richtet sich konkret, aber nicht nur, auf diejenigen Neuen Medien, die an den Grenzen des Rundfunks in seiner klassischen Definition siedeln. Während die Ein- und Zuordnung beispielsweise beim Videotext als dem R u n d f u n k zugehörig und dem Bildschirmtext als dem Rundfunk nicht zugehörig entschieden ist, ist dies bei der rundfunkähnlichen Kommunikation, wie z. B. den Text-, Ton- und Bewegtbilddiensten auf Abruf oder per Zugriff zum Teil offen. Aber auch der Verlust an journalistischer Unabhängigkeit durch die Uberwindung der publizistischen Gewaltenteilung - in Presse einerseits und elektronische Medien andererseits — wäre nach bald 15-jähriger Erfahrung mit dem privatwirtschaftlichen Rundfunk im Dualen System in die kritische Betrachtung und Bewertung einzubeziehen. Die Tatsache, daß bedeutende Zeitungsverlage Fernsehen veranstalten, verstärkt nicht nur die Gefahr des Machtmißbrauchs zum Zweck einseitiger Einflußnahme auf die öffentliche Meinung, sie schränkt auch den kritischen Zugang zum Medium selbst dadurch ein, daß in Folge eigener unternehmerischer Interessen (als Rundfunkveranstalter) die Presse den Bürger journalistisch im Stich zu lassen droht, ja ihn in einem am wirtschaftlichen Rundfunk-Erfolg orientierten Sinne auf ihr Medium „einstimmt". Sodann hat sich die EU zur weiteren Einflußebene entwickelt, indem sie weitreichende Kompetenzen in den Bereichen Telekommu-

141. Die Entwicklung des Organisationsrechts der elektronischen Medien in Deutschland

nikation und Rundfunk beansprucht, die unterschiedslos in Gesetzesvorhaben der EUKommission einfließen (vgl. Demmer 1995). Dabei ist die Konfrontation und Unverträglichkeit der EU-Kompetenzen (und deren Definition der Ausstrahlung von Rundfunksendungen als wirtschaftlich determinierte Dienstleistungen i. S. der Art. 59ff. EGV) mit den „Eckwerten" des deutschen Rundfunkverfassungsrechts von vermutlich weitergreifender organisationsrechtlicher Bedeutung, wie zuletzt aus dem sog. Maastricht-Urteil (BVerfG E 17) vom 12. 10. 1993 entnommen werden kann, auch wenn das BVerfG der EU-Gesetzgebung die Pflicht zur Orientierung am Prinzip begrenzter Einzelzuständigkeit (Subsidiarität) noch einmal deutlich gemacht hat (vgl. Dörr 1994, 8ff.). Zu (3) Hier richtet sich die medienorganisationsrechtliche Frage vordringlich an die Konsistenz des sog. Konsortialprinzips, das durch geschickte Taktiken und Praktiken auf dem Markt ständig der Gefahr der Umgehung ausgesetzt ist. Für die Klärung dieses Konfliktes wird aber auch die europäische Medienrechtsentwicklung von zunehmender Bedeutung sein. Die Entscheidung des BVerfG (über den Antrag der bayerischen Staatsregierung gegen den der EG-Rundfunkrichtlinie vom 03. 10. 1989 zustimmenden Beschluß der Bundesregierung vom 22. 03. 1995; BVerfG E 14) hat zwar das Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens im Kontext des kooperativen Föderalismus noch einmal bestärkt. Angesichts der insgesamt auf Deregulierung angelegten Tendenz der europäischen Rundfunkpolitik dürfte dieser Entscheidung gleichwohl keine, und schon gar nicht eine kompetenziell klärende, Wirkung beigemessen werden. Dabei tritt durch erweiterte Ubertragungsmöglichkeiten bei gleichzeitig kompetenziellen Unklarheiten das Problem der Beherrschung der Übertragungswege seit Mitte der neunziger Jahre erneut — analog der Konstellation bei Einführung des Rundfunks zu Beginn der zwanziger Jahre - in den Vordergrund. Durch Formierung von Netzträgerschaften könnte sich so die „dienende Funktion" der sendetechnischen Übermittlung von Signalen, wie sie im Fernsehurteil von 1961 vom BVerfG (BVerfG E 12, 227) klärend festgelegt worden war, in eine beherrschende Funktion verwandeln und damit die traditionell inhaltlich determinierte Programmfreiheit

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technisch/ökonomisch majorisieren. Mit der Herauslösung der Telekom aus der staatlichen Hoheit (Postreform von 1994) erhält bei gleichzeitiger Deregulierung dieser Paradigmenwechsel zusätzlichen Schub. Auch angesichts fortschreitender Deregulierung auf dem privaten Rundfunk-, speziell Fernsehmarkt ist das Medienorganisationsrecht als konstitutiv (mit-) tragendes Element der Entwicklung der elektronischen Massenkommunikation vielfältig gefordert und wird so für die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinungsbildung in Deutschland ( wie für Europa) unvermindert von Bedeutung bleiben und sich bewähren müssen. 5.

Literatur

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Friedrich-Wilhelm

von Seil, Morsbach ( Deutschland)

XXXV. Mediengegenwart I: Buch und Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- und Bibliothekswesen 142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitung Die Erfindung der Letter Fotosatz und Offsetdruck Das Papier Der Buchbinder Literatur

1.

Einleitung

Die Informationsübermittlung ist uns schon aus der jüngeren Altsteinzeit bekannt. Höhlenbewohner informierten ihre Mitstreiter durch Felsbilder auf den Wänden ihrer Behausungen. Die Fortentwicklung über Zeichen auf gegerbten Fellen bis zur Erfindung des Papiers und der Handschrift dauerte Jahrtausende. Von Gutenbergs Erfindung bis zum Einsatz der ersten vollautomatischen Rollenoffsetmaschine lagen noch etwa 450 Jahre. Die Entwicklung der digitalen Techniken der heutigen Informationsgesellschaft benötigte noch ganze dreißig Jahre. Doch beginnen wir ersteinmal mit dem Anfang der „industriellen Buchproduktion".

2.

Die Erfindung der Letter

Die Erfindung der beweglichen Letter leitete die erste große Rationalisierungsepoche ein, die eine weite Verbreitung von Wissen und Information möglich machte. Dem Mainzer Patrizier Johannes Gensfleisch, genannt „Gutenberg", gelang es Mitte des 15. Jhs., mit Hilfe von selbstangefertigten Bleilettern und einer hölzernen Presse, das erste gedruckte Werk herzustellen. Die Buchstaben wurden von dem gelernten Goldschmied und Edelsteinschleifer aus einem Stahlblock erhaben herausgearbeitet. Dieser Stempel, genannt Patrize, wurde in ein Kupferblöckchen geschlagen, wodurch eine vertiefte Form entstand, die Matrize. Diese Matrize wurde in ein Handgießinstrument eingespannt und mit einer heißen Bleilegie-

rung aufgefüllt. So entstanden beliebig viele gleichmäßige Abgüsse, die Lettern. Die einzelne Letter wurde im Winkelhaken erst zu Worten, dann zu Zeilen zusammengestellt und diese in Spalten untereinandergefügt, bis eine komplette Seite entstand. War eine Seite gesetzt und korrigiert, wurde sie in eine Druckpresse eingespannt und gleichmäßig mit Hilfe eines Lederballens mit Druckfarbe eingefärbt. Das zu bedruckende Papier wurde unter den Drucktiegel geschoben und mit einem Hebel wurde über eine Spindel Druck auf die Bleiform und das daraufliegende Papier ausgeübt. Die 'gedruckte' Seite wurde zum Trocknen aufgehängt und danach wurden sämtliche gedruckten Seiten mit Nadel und Faden zu einem Buchblock vernäht und in einen Ledereinband eingesetzt. Wurden vor Gutenberg's Erfindung noch alle Niederschriften mühsam von Hand geschrieben, waren nun schon „größere Auflagen" in recht kurzer Zeit verfügbar. 2.1. Buchdruck Bis zum Ende des 18. Jhs. blieb das Verfahren des Setzens mit der beweglichen Bleiletter und des Druckens mit Hilfe der hölzernen Presse fast unverändert. Die Industrialisierung zu Beginn des 19. Jhs. leitete umwälzende technische Veränderungen im Bereich der Herstellung von Druckerzeugnissen ein. Während sich an der Satztechnik vorerst nichts Wesentliches änderte, wechselten die Druckverfahren in rascher Folge: dem Buchdruck (Hochdruck) folgte die Zylinderschnellpresse („Fläche gegen Fläche"), dann „Zylinder gegen Fläche", wo das auf dem Druckzylinder fixierte Papier über den im Formbett befestigten und eingefärbten Satz geführt wurde. Es folgte die Doppelschnellpresse, die Schön- und Widerdruck (Vorderund Rückseite eines Papierbogens wurde gleichzeitig bedruckt) ermöglichte und bald die erste Rotationsmaschine, in der Druckzy-

142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung

linder und Druckform rund („Zylinder gegen Zylinder") waren und damit eine hohe Geschwindigkeit ermöglichten. Dieses Verfahren wird auch heute noch (Hochdruck, Flachdruck, Tiefdruck) angewandt. 2.2. Ά Line of Types', Linotype-Verfahren Im Satzbereich entwickelte man verschiedene Systeme, um den Satz zu beschleunigen. Es wurden Maschinen gebaut, die einzelne Buchstabenvorlagen (Matrizen) in Buchstabenkanälen aufbewahrten, und bei Betätigung einer Tastatur (ähnlich der der Schreibmaschine) den jeweiligen Buchstaben freigaben und über einen Kanal in die entstehende Zeile fallen ließen. Die zusammengefügte Zeile wurde gelesen, falls nötig von Hand korrigiert, fest ausgeschlossen und mit heißem Blei ausgegossen. Heraus kam eine in sich geschlossene Zeile ('a line of types' = Lino type-Verfahren), die mit den Folgezeilen zu einer Buchseite zusammengefügt wurde. Die nicht mehr benötigten Matrizen wurden durch eine bestimmte Zahlenkombination automatisch in den jeweiligen Buchstabenkanal an ihren angestammten Platz im Magazin zurückgeleitet. Während beim Linotype-Satz das Hinzufügen oder Entfernen einzelner Wörter immer den Neusatz nicht nur der kompletten Zeile sondern des gesamten Satzes bis zum Ende des Absatzes bedeutete, ermöglichte der Einzelbuchstabensatz (Monotype-Verfahren) den Austausch fehlerhafter Buchstaben. 2.3. Das erste typographische System Während zu Beginn dieser Satztechnik noch keine Normierung der Schriftgrößen und des Blindmaterials (Wort- und Zeilenzwischenräume, Absätze usw.) möglich war und die Setzer ihre Buchstaben selbst gössen, wurde Ende des 18. Jhs. durch Fournier und Didot, beides französische Schriftsetzer, mit Erfolg eine Vereinheitlichung der Schriftgrößen eingeführt und somit ein typographisches System geschaffen. Das auf dem Meter basierende Punktsystem (1 Punkt = 0,376 mm) bestimmt noch heute die Bezeichnung im Hand- und Maschinensatz. Im modernen Fotosatz und am PC spielt es eine untergeordnete Rolle.

3.

Fotosatz und Offsetdruck

In den fünfziger Jahren erfolgte die Trennung des Gießapparates und des Tasters. Die Texterfassung wurde jetzt auf Standard-Schreib-

1565

maschinentastaturen durchgeführt, die einen Lochstreifen erzeugten. Der Lochstreifen enthielt Trennungen und alle Maschinenkommandos, die dann die Gießapparatur steuerten. Diese Art des Setzens brachte eine sehr viel höhere Erfassungs- und Gießleistung. Es folgte die Endlos-Texterfassung auf Lochstreifen, und ein Satzrechner (Computer) übernahm nach Vorgaben die Steuerung der Schriftgrößen, der Satzbreite usw. Die Silbentrennung wurde von Silbentrennprogrammen vorgenommen. Der nun entstandene zweite Lochstreifen steuerte die Satzmaschine. Bild- und Fotomaterial wurde gleichzeitig in einer Litho-Anstalt bearbeitet und in dafür freigeschlagenen Flächen der Bogenmontage von Hand einmontiert. Parallel dazu wurden auch im Druck Möglichkeiten gesucht, höhere Auflagen in kürzerer Zeit zu produzieren. Erfüllt wurden diese Anforderungen im Offsetdruck (lithographischer Druck). Die Vorzüge des Offsetdrucks gegenüber dem Hochdruck waren die preiswertere Erstellung der Druckform, der Wegfall zeitraubender Zurichtzeiten und die höhere Maschinengeschwindigkeit. D a die Offset-Druckplatte jedoch in einem fotomechanischem Verfahren hergestellt wird, benötigt man von jeder Druckvorlage einen Film. Daher wäre der Offsetdruck ohne den Fotosatz wohl kaum durchsetzbar gewesen, und umgekehrt, denn beide ergänzen sich auf hervorragende Weise: der Fotosatz liefert einzelne Seitenfilme, diese werden in der Montage auf Folien zu Bogenmontagen aufgebaut (Abb. 142.1). Auf die Druckplatte, eine AluminiumPlatte mit einer chemischen Beschichtung, wird die Bogenmontage plan aufgelegt und starkes UV-Licht durchdringt dann die ungeschwärzten Teile der Montage. In einem chemischen Bad werden die unbelichteten Teile ausgeschwemmt. Die flexible Aluminiumplatte wird nun auf einen Druckzylinder gespannt und eingefärbt. Auf einem gegenläufigen Zylinder mit einem Gummituch wird die Druckfarbe aufgenommen, um sie auf dem durchlaufenden Papier aufzutragen. Diese neuen Bedingungen bewirkten daher eine weitgehende Ablösung des Bleisatzes durch den Fotosatz. Die ersten Fotosatzmaschinen arbeiteten noch nach dem Linotype-Prinzip, wobei die mit Hilfe der Matrizen entstandenen Zeilen nicht gegossen, sondern über ein Glasnegativ hindurch auf das Fotomaterial belichtet wurden.

1566

X X X V . M e d i e n g e g e n w a r t I: Buch u. B r o s c h ü r e I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

Positivfilm mit Text (seitenglatt)

Positivfilm mit Text u. Abbildung (seitenglatt)

Positivfilm mit Text Abb. z. Einmontieren

Reprokamera

Druckplatte

A b b . 142.1: Konventionelle D r u c k p l a t t e n h e r s t e l l u n g .

142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung

Ende der fünfziger Jahre konnten so bereits 28 000 Zeichen in der Stunde belichtet werden. Zehn Jahre später lag die stündliche Belichtungsleistung bereits bei 1,5 Millionen Zeichen und mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung und der Erfindung von Mikroprozessoren in den folgenden Jahrzehnten wurden schließlich ideale Voraussetzungen für die rationelle und kostengünstige Anwendung des Fotosatzes geschaffen. 3.1. Technologie Fotosatz Unter dem Begriff Fotosatz sind alle Methoden der fotomechanischen oder fotoelektronischen Erzeugung von reproduzierfähigen Vorlagen für die Druckformherstellung zu verstehen. (1) Die erste Generation von Fotosetzmaschinen entstand durch Umkonstruktion von Bleisetzmaschinen. Im Bleisatz verwendete Einzelmatrizen wurden in sogenannte Filmmatrizen umgewandelt. Das einzelne Zeichennegativ wurde dabei beim Belichtungsvorgang durchleuchtet und auf das Fotomaterial übertragen. Statt der ursprünglichen Gießeinrichtung hatten die Maschinen jetzt eine Belichtungseinrichtung. (2) Die zweite Generation bestand aus Geräten und Maschinen mit fotomechanischen bzw. fotoelektronischen Konstruktionselementen. Scheiben oder Platten aus Glas oder dimensionsstabilem Kunststoff waren die Schriftbildträger. Die Schriftscheiben konnten die angesteuerten Zeichen in kurzer Zeit in die Belichtungspositionen bringen, wogegen die Schriftplatten durch Verstellvorgänge im optischen System angesteuert wurden. (3) In der dritten und bis vor wenigen Jahren noch überwiegend angewandten Generation folgten die digitalelektronischen CRT- („Cathode Ray Tube" = Kathodenstrahlröhre) und Lasersetzanlagen. Ein durch sie erzeugter feiner Lichtstrahl schreibt den Buchstaben Linie für Linie auf das Fotomaterial. Hier sind die Zeichen nicht mehr als Materie vorhanden, sie werden durch Impulse programmiert. Die Fotosetzmaschinen waren längst (anstelle der früheren Lochbänder oder Magnetbänder) mit Floppy-Disks (flexiblen Magnetspeicherplatten) ausgestattet, die einen direkten Zugriff auf die gespeicherten Daten ermöglichte. Mit ständig steigenden Speicherkapazitäten erfüllten Disketten alle Anforderungen nach einem billigen, schnellen und problemlosen Massenspeicher. Bei allen hier genannten Verfahren wird der belichtete Film oder das Fotopapier für die

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spätere Weiterverarbeitung in einer Maschine automatisch entwickelt, fixiert, gewässert und getrocknet. (4) Längst praxiserprobt und überwiegend im Einsatz ist inzwischen die gemeinsame Verarbeitung von Text, Bild und Grafik in einem einzigen System, dem Macintosh unter verschiedenen Benutzeroberflächen. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, komplette, druckfertige, seitenglatte Schlußfilme herzustellen, die anschließend auf die Offsetplatte kopiert werden. Die früher aufwendigen Arbeitsgänge, in der die Kombinationen dieser drei Komponenten manuell hergestellt wurden, entfallen in diesem Verfahren. Meist werden die Daten bereits vom Autor auf einem einfachen PC mit einem üblichen Textverarbeitungsprogramm (Word, Word Perfect, Apple usw.) erfaßt, bearbeitet (elektronischer Ganzseitenumbruch am Bildschirm) und als PostScript-Datei in das Satzsystem des Satzbetriebes zur Laserbelichtung eingegeben. 3.2. Druckvorstufe Einen weiteren Schritt zur Rationalisierung stellen die neuesten Verfahren in der Druckvorstufe dar. Der Datenträger (Disketten, Cartridges, MOD), der eine geschlossene Datei enthält, wird für das ausgeschlossene Belichten berechnet. Dabei werden Einzelelemente auf ihre Vollständigkeit und Gestaltungsparameter hin überprüft. Fehlein stell ungen wie falsche oder fehlende Schriften, Bilder im falschen Datenformat werden erkannt. Die ausgeschossene Belichtung auf Film (CTF = Computer-to-Film, Abb. 142.2) ermöglicht die anschließende Herstellung einer Lichtpause, die vom Kunden auf Fehlerfreiheit hin überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden kann. Ein weiterer Schritt ist das CTP-Verfahren (Computer-to-Plate, Abb. 142.3), das die über eine direkte Datenverbindung (ISDN) oder per Datenträger vom Verlag gelieferten Daten, ohne den Zwischenschritt des Filmträgers, ausgeschossen direkt auf die Druckplatte transportiert. Hier ist bislang lediglich vor Plattenherstellung ein sogenannter Plott (Tintenstrahlausdruck in Bogenformat) als Korrekturabzug möglich. Danach auszuführende Korrekturen mußten vorerst anhand der komplett zurückgeschickten Datei vom Grafiker oder dem Verlag vorgenommen werden. Erst eine neu eingeführte Technik

1568

X X X V . M e d i e n g e g e n w a r t I: Buch u. B r o s c h ü r e I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

ISDN-Modem

PostScript-Dateien / ¡¡ Disketten Cartridges

MOD

Elektronische Bogenmontage

Laserbelichter

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142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung

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Abb. 142.3: Computer to Plate.

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

('One Vision') erlaubt inzwischen die Korrektur innerhalb der (geschlossenen) PostScriptDatei auch in der Druckerei, soweit sie nicht umbruchverändernd ist. Die elektronisch belichtete Platte verkürzt durch ihre Genauigkeit die Maschinenrüstzeiten auf der Basis der in der Vorstufe definierten Parameter. Bei Mehrfarbigkeit werden die fertig aufgebauten und farbseparierten Seiten zur Direktplattenherstellung übertragen. Farbdichte und -qualität werden in der Druckmaschine, wie auch im bislang üblichen Vorstufenverfahren, über ein computergesteuertes, densitrometrisches Meßinstrument überprüft und gegebenenfalls von Hand nachgestellt. Zwar kann man noch nicht in allen Drukkereien ganz auf die manuelle Bogenmontage verzichten, doch ist die elektronische Bogenmontage (CTP) inzwischen in den meisten Druckereien im Einsatz: es entfallen die kleinen Ungenauigkeiten der Handmontage, es gibt praktisch keine Abdeckarbeiten, die durch Filmkanten und Hohlkopien hervorgerufen werden, da keine Einzelelemente sondern eine elektronisch erstellte Ganzform die Grundlage für die Plattenkopie ist, die Produktionszeit wird verkürzt. Der Digitaldruck ('Printing on DemandVerfahren'; 'Druck auf Abruf') ist die Verbindung zweier Basistechnologien der EDVTechnik im weitesten Sinne und der Drucktechnologie. Sie schließt die Druckmaschine direkt an den Computer an. Im Einzelblattdruck (Laserkopierverfahren) werden die Dateien direkt ohne Korrekturgang auf Papier ausgedruckt. Die Druckqualität (Auflösung 600 dpi; im CTF/CTP-Verfahren = 2540 dpi) entspricht der eines leistungsstarken Fotokopierers. Die in der Maschine integrierte Thermoklebebindung ermöglicht, bei einem Umfang bis zu 700 Seiten und einer Auflage bis zu 1000 Exemplaren die Ausgabe von fertigen Broschüren. Höhere Umfänge und größere Anforderungen an die buchbinderische Qualität erfordern z. Zt. noch eine externe Weiterverarbeitung. U m die Kleinauflage, „Books On Demand" (BOD), bewerben sich zur Zeit zwei völlig grundverschiedene Varianten: die digitale Kopie, bei der das Druckbild bei jedem Druck einzeln aufgebaut und danach wieder zerstört wird, und die digitale Vervielfältigung, bei der eine Druckform (Master) erstellt wird, von der dann eine bestimmte Anzahl gleicher Drucke hergestellt werden muß.

Die digitale Kopie setzt verschiedene Techniken bei der Erzeugung des Druckbildes ein, als klassische Fotokopie optisch, als Laserkopie mittels Laserstrahl (LED-Technologie). Durch den fortlaufenden Neuaufbau des Druckbildes der Buchseiten ist eine gigantische Rechnerleistung erforderlich. D a f ü r kann die Kopie auf das Zusammentragen der gedruckten Bögen verzichten, im Auslauf der Maschine entstehen fertige Buchinnenteile; jedes einzelne Buch wird von Anfang bis Ende neu gefertigt. Somit ist diese Technik geeignet, Kleinstauflagen (ein einziges Buch bis zu 700 Exemplaren) nach Bedarf anzufertigen. Für die digitale Vervielfältigung ist die Rechnerleistung geringer, da sie nur einmal, nämlich zur Druckformherstellung gebraucht wird. Aufgrund ihrer Druckformabhängigkeit kann dieses Verfahren allerdings nicht auf das Zusammentragen der Druckbögen verzichten. Einzelbuch-Anfertigungen sind nicht mehr möglich. Beide Verfahren unterscheiden sich gravierend bei der Erzeugung des Druckbildes auf dem Papier. Die Kopie verwendet in allen ihren Ausprägungen puderartigen, „magnetischen" Toner, der von der Bildtrommel an den zu druckenden Stellen angezogen wird, dann oberflächlich auf den Druckbogen übertragen und unter hoher Temperatur in einer Fixierstation „verbacken" wird. Dabei dient in verschiedensten Formen Silikon als Trennmittel. Die digitale Verfielfältigung verwendet dagegen eine pastös-flüssige Farbe aus Ol, Pigment und Wasser als Transportmittel in das Papier. Während der Toner bei der Kopie auf der Oberfläche des Papiers haften bleibt, dringt die Farbe bei der digitalen Vervielfältigung tief in das Papier hinein und verbindet sich quasi unlösbar mit ihm. Trotz einer Druckgeschwindigkeit von ca. 8000 Druck/h ist die Farbe sofort nach dem Druck trocken und benötigt keinen gesonderten Fixiervorgang. Ein entscheidender Vorteil bei diesem Druckprozeß, vor allem für die Weiterverarbeitung zum Buch, ist die Tatsache, daß die „natürliche" Feuchtigkeit im Papier erhalten bleibt; das Papier bleibt kalt und wird nicht beschädigt. Es kann ganz normales Papier verwendet werden, das auch sonst im Offsetdruck eingesetzt wird. Der größte Nachteil der Kopie ist die Verwendung des technisch nur schwer beherrschbaren Toners, der nicht immer wischfest ist und ein sehr hohes Maß an Wartung der Ge-

142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung

rate erfordert. Bei nicht kontinuierlich gewarteten Geräten sinkt die Qualität des Druckes, aber auch die Haltbarkeit drastisch ab. Die Entwicklung im BOD-Bereich (auch P O D = Printing On Demand) ist rasant: während Druck- und Bindeergebnisse noch vor zwei Jahren für viele Verlage den Einsatz dieser neuen Technologie außer Frage stellten, wird heute in großen und kleinen Häusern ernsthaft über eine Umstellung nachgedacht. Riskant hohe Auflagen, steigende Lager· und Verwaltungskosten der Bücherberge, das immer kürzere „Verfallsdatum" vieler gedruckter Werke erzwingen ein Umdenken. Die Verwendung medienneutraler Daten ermöglicht die Mehrfachnutzung im Offsetund Digitaldruck, auf CD-ROM und im Internet. Ein Umstieg von Erst- oder Nachauflagen über 1000 Exemplaren im Offsetdruck zu Nachauflagen im niedrigeren Auflagenbereich, Probeexemplaren, Testauflagen u. ä. im Digitaldruck ist schnell und ohne zusätzlichen Kostenaufwand und ohne Qualitätsverlust möglich. Der vorerst höhere Preis eines im Digitaldruck hergestellten Einzeltitels rechnet sich, sobald Lagerhaltungskosten und Makulatur der liegengebliebenen und nicht mehr aktuellen Auflage in Abzug gebracht werden. Die Geschwindigkeit in der Herstellung garantiert „den immer lieferbaren Titel". Die stetig wachsende Papierauswahl, die Verbesserung der buchbinderischen Verarbeitung — in weniger als sechs Monaten wird die Hardcoverproduktion in guter Qualität auf dem Markt sein — wird den Wechsel vom Offsetin den Digitaldruck für zahlreiche Printmedien beschleunigen. Noch ist es ratsam, Inhalte nur im einfarbigen Bereich digital zu drucken. Doch der untadelige mehrfarbige Druck der heute schon im Digitalverfahren hergestellten Broschurumschläge zeigt, daß auch diese Entwicklung nur eine Frage von kurzer Zeit sein wird.

4.

D a s Papier

Zur Herstellung des Papierbreies wurden früher hauptsächlich textile Rohstoffe wie Lumpen (Hadern) aufbereitet. Sie lieferten bis weit in das 18. Jh. hinein das Rohmaterial für Papier. Seit der Entdeckung des Holzschliffs und der Zellulose, ein Jahrhundert später, dienten Laub- und Nadelhölzer als die wichtigsten Faserrohstoffe der Papierindustrie. In

1571

der herkömmlichen Papierproduktion müssen zunächst im mechanischen Fabrikationsvorgang die Holzstämme nach der Entrindung und Zerkleinerung in der Schleiferei zu kleinsten Fasern zerrieben werden. Je nach angestrebter Papierqualität kann ein Teil Zellstoff dazugemischt werden. Der im mechanischen Verfahren hergestellte Holzschliff ist der Grundstoff für die holzhaltigen Papiere minderer Qualität. Für die holzfreien Papiere höherer Qualität wird der Zellstoff auf chemischem Wege gewonnen. Auch hier werden die Baumstämme zunächst geschält und zerkleinert. Die Hackspäne werden im Zellstoffkocher im Sulfit- oder Sulfatverfahren, welches die bindenden Bestandteile aus Harzen herauslöst, weiterverarbeitet. Nach Entwässerung und Bleichung ist der Zellstoff fertig. Obwohl auch hier das Holz alleiniger Lieferant für den Zellstoff ist, spricht man von 'holzfreiem' Papier, da keine verholzten Fasern (Holzschliff), sondern pflanzliche Zellwände, die im Holz mit Lignin und anderen Bestandteilen der Zellwände verbunden sind, gelöst und weiterverarbeitet werden. Zusätze für Füllstoffe (Kaolin), Leime, Farbstoffe bzw. optische Aufheller sorgen für die Verbesserung der Papierqualität. Die in beiden Verfahren beschriebene Herstellung der Stoffe nennt man „Halbzeug". Dieses wird mit viel Wasser aufgeschwemmt, d. h. zu einem dünnen Brei verrührt. Nach mehrmaliger Reinigung und Mahlung des Faserbreies werden die Hilfsstoffe zugegeben. Durch nochmalige Verdünnung mit Wasser enthält der Faserbrei die richtige Konsistenz zur Weiterverarbeitung auf der Papiermaschine. Er wird nun als „Ganzzeug" bezeichnet. Die Langsiebmaschine, Ende des 18. Jhs. erfunden, ist eine Papiermaschine, in der die Siebpartie aus einem umlaufenden Metalloder Kunststoffsieb besteht. Das Ganzzeug wird mit Düsen auf das Sieb gesprüht, wobei ein Wasseranteil von etwa 20 Prozent sofort durch das Gewebe nach unten abfließt. Das Papiersieb wird seitlich leicht geschüttelt, um sowohl den Papierbrei gleichmäßig zu verteilen, als auch um eine gute Verfilzung der Papierfasern zu erreichen. Am Ende der Siebpartie nimmt eine dicke Filzwalze die noch feuchte Papierbahn ab und dreht sie durch die Naßpressenpartie. Hier verliert das Papier nochmals etwa 30 Prozent seines ursprünglichen Wassergehalts. Preß- und Trockenpartie sind die letzten Stationen, um das restliche Wasser zu entziehen, damit 'maschinenglat-

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

tes' Papier entsteht. Ein wichtiger Faktor für die spätere Weiterverarbeitung ist die Laufrichtung der Papierfasern. Die Fasern ordnen sich während des Durchlaufs in der Papiermaschine parallel zur Laufrichtung des Siebes. Bei Druck und Bindung von Büchern muß unbedingt auf die richtige Lage der Papierfasern geachtet werden: die Bogen müssen so bedruckt werden, daß die Laufrichtung und der Rückenfalz (Bund) parallel verlaufen. Verwendet man Papier in der falschen Laufrichtung, wellt es sich beim Leimen bzw. Heften des Buches und die Seiten lassen sich schlecht aufschlagen. Im 'Kalandar', einem System übereinanderliegender, meist beheizter Hartpapier- und Stahlgußwalzen wird das Papier schlangenförmig hindurchgeführt und auf diese Weise 'satiniert'. Es entsteht ein seidiger Oberflächenglanz, der den Druck feiner Raster begünstigt. Weitere Veredelung ist durch 'Streichen' des Papiers zu erzielen. In einer dazu ausgestatteten Maschine wird eine weiße Streichpaste aus Kaolin und Bindemitteln aufgetragen. Bei diesem Vorgang wird die noch relativ rauhe Oberfläche des Papiers aufgefüllt und geschlossen. Der letzte Durchlauf im Trockenzylinder gibt dem Papier noch einen zusätzlichen Glanzeffekt. Die einzelnen Papiersorten werden nach Herstellungsverfahren, Stoffzusammensetzung, Verwendungszweck, Oberflächenbeschaffenheit, Gewicht pro qm, Format, Volumen, Leimung und Färbung unterschieden. 4.1. Die Weiterverarbeitung Das Papier muß vor und nach dem Durchlaufen der Druckmaschine zugeschnitten werden; zunächst einmal, um auf das entsprechende Maschinenformat gebracht zu werden. Da der Papierbogen nicht bis zum Rand bedruckt werden kann - der „Greifer", der diesen durch die Maschine transportiert, braucht einige Millimeter zum Festhalten — wird in der Regel im Rohformat gedruckt. Bei Mehrfarbenarbeiten wird mitunter ein Farbmeß- und Kontrollstreifen mitgedruckt, der anschließend abgeschnitten werden muß. Zu den unzähligen Möglichkeiten, ein gedrucktes Produkt weiterzuverarbeiten, gehören neben Schneiden, Falzen und Zusammentragen ζ. B. Draht- und Fadenheften, Klebebinden, Stanzen, Rillen, Lochen, Perforieren, Prägen sowie Lackieren und Folienbeschichten.

5.

Der Buchbinder

Die Buchbinderei ist die letzte Station auf dem Wege zum fertigen Buch. Während früher die buchbinderischen Arbeiten weitgehend von Hand durchgeführt wurden (Falzen, Heften, Einbandfertigung), ist die Arbeit des Buchbinders heute weitgehend technisiert. Sie ist leicht zu verstehen, weil ein Arbeitsgang nach dem anderen konsequent und sichtbar das Buch zu seiner endgültigen Gestalt führt. Entsprechend lassen sich die einzelnen Schritte leicht beschreiben, auch wenn es sich um eine Vielzahl mechanischer Abläufe handelt, die ineinandergreifen und in ihrer rationellsten Form auf einer einzigen Bindestraße ausgeführt werden. Neben den schon oben genannten Möglichkeiten, ein gedrucktes Produkt weiterzuverarbeiten, gibt es grundsätzlich zwei Arten, die Blätter eines Buches oder einer Broschüre „zusammenzuhalten", zu binden: die Fadenheftung und die Klebebindung. Der Faden hält den gefalzten Bogen durch eine oder mehrere Heftnähte zusammen, während der Kleber eine Leimschicht bildet, in der die innere Kante jeder Seite eingebettet liegt. Bei beiden Verfahren ist der erste Schritt das Falzen und Zusammentragen der Bogen. Dafür hat der Drucker die Seiten nach einem bestimmten Schema angeordnet (ausgeschossen). Je nach Format des Buches und Druckmaschinen- und Bogenformat sind diese mit mehreren Seiten belegt (am häufigsten sind acht, sechzehn oder zweiunddreißig-seitige Druckbogen). Diese entsprechend ausgeschossenen Bogen werden von der Druckerei im Stapel flach liegend (piano) angeliefert und zunächst (in Lagen) gefalzt. Von den gestapelten Lagen trägt die Maschine je eines für ein Exemplar zusammen und legt sie in der richtigen Reihenfolge übereinander. Bei der Fadenheftung läuft nun ein Baumwollzwirn oder Nylonfaden über mehrere Nadeln, die durch die Rücken der aneinanderliegenden, gefalzten Bogen stechen und sie vernähen. Nach dem Beschnitt (vorne, oben und unten) des zusammengedrückten Buchblocks hält der Faden die Bogenteile am Rücken zusammen. Die Klebebindung, die in den fünfziger Jahren aufkam, wurde bis Mitte der siebziger Jahre hauptsächlich bei Taschenbüchern und Broschüren (Paperbacks) angewandt. Die zusammengetragenen Bogen werden am Rükken aufgeschnitten und aufgerauht, damit das Papier noch besser in der Klebstoff-

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142. Die Technik der modernen Buch- und Broschürenherstellung

Schicht haftet. Nun wird der Kleber aufgetragen und zur Verstärkung des Blockrückens (vor allem bei gebundenen Büchern) oft auch noch ein festgewebter Streifen Stoff oder Gaze aufgebracht. Seit der Entwicklung perfekterer Dispersionskleber kommt die Klebebindung auch bei umfangreicheren und teuren Büchern zum Einsatz. Bei der Broschüre wird anschließend der Buchumschlag umgelegt, geklebt und der gesamte Buchblock von drei Seiten beschnitten. Beim gebundenen Buch (Deckenband) folgen vorerst weitere Arbeitsgänge zur Festigung des Buchrückens: beim ersten, dem Rückenrunden, läuft der Buchblock durch zwei Walzen, die seinen Rücken leicht aufwölben; entsprechend ist der Block an seiner Vorderkante nach innen gewölbt. Beim zweiten Arbeitsgang, dem Falzabpressen, werden die ersten und letzten Lagen hochgedrückt, so daß der Buchblock Schultern bekommt, die sich später gegen die beiden Buchdeckel abstützen können. Ehe der Buchblock nun in den Einband eingehängt wird, muß er noch mit einem Streifen Stoff hinterklebt werden, s. o. Dieser Stoffstreifen steht über die beiden Seiten des Buchblockes hinaus und bildet später die Verbindung zum Einbanddeckel. Zur optischen Verschönerung kann der Buchrücken mit einem farbigen Stoffstreifen (Kapitalband) versehen werden. In der früheren Handfertigung hatte das Kapitalband die zusätzliche Aufgabe, die Stabilität des Buches zu fördern, heute hat es keine buchbinderische Funktion mehr. Nun liegt der Buchblock zum Einhängen in die Decke bereit. Diese hat die Aufgabe, den Buchblock zu schützen und ihm Stabilität zu verleihen. Darüber hinaus verleiht sie dem Buch sein Gesicht (Pappeinband, Leineneinband, Ledereinband usw.) und bietet Platz für Angaben über das Buch, ζ. B. Verfassername und Titel. Die Buchdecke besteht aus vier Teilen: den beiden Deckeln für Vorder- und Rückseite, der etwas dünneren Rückeinlage und dem Einbandmaterial. Fest verbunden wird die fertige Decke mit dem Buchblock einmal mit dem überlappenden Rückenstoffstreifen und dann mit einem festeren Vorsatzpapier, das am Buchblock mit Leim versehen wird und sich mit den beiden Deckeln verbindet. Anschließend gelangen die Bücher in die hydraulische Presse. Dort bleiben sie so lange

unter Druck, bis die Vorsatzblätter völlig trocken sind und die Deckel sich nicht mehr verziehen und werfen können. Hat das Buch einen Schutzumschlag, so wird dieser jetzt (manuell oder maschinell) umgelegt. Am Ende werden die Bücher transportfähig gemacht, entweder einzeln in Papier eingepackt oder in eine durchsichtige Plastikfolie eingeschweißt und auf Paletten gepackt.

6.

Literatur

Aull, Manfred, Lehrbuch und Arbeitsbuch Druck. Technologie für Drucker. Itzehoe 4 1991. Blana, Hubert, Die Herstellung. München 6 1999. DP-System, Andernach 1999. Dußler, Sepp/Fritz Rolling, Moderne Satzherstellung. Itzehoe 1985. Greenfeld, Howard, Bücher wachsen nicht auf Bäumen. München 1979. Kay, Bernhard, Grundlagen der elektronischen Datenverarbeitung in der Satztechnik und für satznahe Verfahren. Aarau 1980. KBA-Planet AG, Lehrfilme. Würzburg 1995. Körperth, Hugo, Das Papier und seine Anwendungen. Köln 1975. Laufer, Bernhard, Basiswissen S a t z - D r u c k - P a pier. Das Fachwissen des Buchhändlers. Düsseldorf 3 1994. Mittelhaus, Michael, Wege zu neuen Märkten und Chancen für die Zukunft. In: Dialog 1/97, 61 — 70. Mössner, Gustav, Die täglichen Buchbindearbeiten. Hannover 2 1986. Mohn Offset-Ratgeber. Frankfurt a. M. 1990. Nicolay, Klaus P, Erhöhte Qualität und Durchsatz. In: Desktop Dialog, 4/97, 16-18. Simoneit, Manfred, Fotosatz und Computertechnik. Itzehoe 1994. Stiebner, Erhardt/Heribert Zahn/Wilfried Meusburger, Drucktechnik heute. Ein Leitfaden. München 2 1985. Trobas, Karl, ABC des Papier. Graz 1982. Wagenbrett, Gerhard, Lehrbuch für den Buchbinder. Band I und II. Itzehoe 1985. Walenski, Wolfgang, Einführung in den Offsetdruck. Itzehoe 1991. Die Abbildungen 1—3 wurden von WB-Druck, Rieden, zur Verfügung gestellt. Stand der Bearbeitung: Juni 2000

Renate Stefan, Berlin

(Deutschland)

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

143. Bibliotheken — gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung 1. 2. 3.

12.

Einführung Die traditionelle Rolle der Bibliothek Die Erwerbung gedruckter Literatur und anderer Medien Erschließen Bereitstellen Bewahren Exkurs zur Wiedervereinigung Deutschlands Die EDV-Entwicklung bis zum Internet Die Rolle von Wissenschaftlern, Verlegern und Bibliotheken im Zeitalter der digitalen Information Auf dem Weg zur digitalen Bibliothek Die Bibliothek der Zukunft: eine multifunktionale Einrichtung im Netz virtueller Fachinformation Literatur

1.

Einführung

4. 5. 6. 7. 8. 9.

10. 11.

Die Situation der Bibliotheken war wahrscheinlich im Grundsätzlichen noch nie so unklar und umstritten wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Der Meinung, Bibliotheken seien im Zeitalter des Internet nicht mehr nötig, steht die Einschätzung gegenüber, daß ohne Bibliotheken und Bibliothekare weder Uberblick noch Dauerhaftigkeit im Zeitalter digitaler Information möglich sind. Will man die Bibliotheken nicht gleich abschaffen, so erschienen sie aber manchem eher unerwünscht — Verlegern teurer Zeitschriften ζ. B., die lieber jeden Aufsatz direkt an die Endnutzer vermarkten möchten; wenn es Bibliotheken geben muß, dann sollen sie wie Agenturen für die Verleger die Bereitstellung der elektronischen Daten übernehmen — gegen Bezahlung durch den Endnutzer natürlich. Überhaupt ist manchem der Charakter einer öffentlichen Einrichtung suspekt, die Steuergelder dazu verwendet, Literatur zu erwerben, die sie dann kostenfrei den Benutzern zur Verfügung stellt. Dies erscheint als unlauterer Wettbewerb der öffentlichen Hand gegen die Absatzmöglichkeiten der Verleger. Auch in der öffentlichen Verwaltung gibt es den Trend, daß an die Stelle der Versorgung durch den Staat (die nur durch hohe Steuereinnahmen gewährleistet werden kann) die Zahlung der Dienstleistungen durch Kunden bei konkurrierenden Einnrichtungen treten soll: Bibliotheken sollen verdienen, statt zu kosten, outsourcen statt selber zu machen. Zum schlanken Staat gehört sozusagen die

schlanke Bibliothek. Bleibt nur anzumerken, daß für die oft totgesagte Bibliothek mehr und größere Gebäude gebaut werden, als in vielen Perioden vorher: Bei den europäischen Nationalbibliotheken von Frankfurt über Kopenhagen, London und Paris ζ. B. entsteht ein Neubau nach dem anderen — und die Zahl ließe sich leicht um viele National- und Hochschulbibliotheken erweitern. Neue Konzepte zeichnen sich bei den Universitäts- und Staatsbibliotheken für die hybride multifunktionale Bibliothek ab, die Gedrucktes und Digitales anbietet, selbständiger Forschung und von und mit der Bibliothek organisierter Unterrichtung gleichermaßen dient. Die gegenwärtige Situation scheint unklar, und doch zeichnen sich bei etwas systematischerer Betrachtung einige klare Tendenzen ab.

2.

Die traditionelle Rolle der Bibliothek

Im Zeitalter gedruckter Literatur war die Rolle der Bibliothek eindeutig bestimmt: durch Auswahl und Erwerb von Literatur wurde ein Bestand geschaffen, der über Kataloge erschlossen und zur Nutzung vor Ort (in Lesebereichen) oder zur Ausleihe nach Hause für eine bestimmte Frist (in der Regel vier Wochen) bereitgestellt wurde. In den deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken wurde das erstmals in Göttingen im 18. Jh. entwikkelte Konzept der wissenschaftlichen Forschungs- und Gebrauchsbibliothek im Laufe des 19. Jhs. durch professionelle Bibliothekare systematisch ausgebaut. Die sich schon damals abzeichnende Unmöglichkeit, die gesamte wissenschaftlich relevante Literatur an einer Bibliothek bereitzustellen, führte zunächst in Preußen, dann in ganz Deutschland zum Aufbau eines Fernleihdienstes. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg (und dem Verlust des Zettelmanuskriptes des Deutschen Gesamtkataloges) über regionale Zentralkataloge geleitet. Der Verbundkatalog (VK), der alle maschinenlesbaren Daten der deutschen Bibliotheken zusammenführt, sowie insbesondere die Zeitschriftendatenbank ermöglichen inzwischen einen überregionalen Zugriff auf Bestandsdaten. Die Lieferung von Monographien im Fernleihverkehr erfolgt noch heute normaler-

143. Bibliotheken - gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung

weise als physische Einheit; ältere Literatur wird aber in der Regel nur als Mikrofiche bereitgestellt; bei Zeitschriftenaufsätzen hat sich zunächst aus praktischen Gründen der Kopienversand durchgesetzt. Er ist schneller und preiswerter als der Versand ganzer Zeitschriftenbände, die zunehmend präsent gehalten werden, um eine Zugriffsgarantie zu erreichen. Für die wissenschaftliche Literatur ist damit die Position der Bibliothek klar definiert: mindestens mittelfristig (nämlich wenn ein Werk beim Verlag nicht mehr lieferbar ist) nimmt sie in der Kette zwischen Autor und Nutzer die entscheidende Mittlerposition ein. Dabei ist der wissenschaftliche Benutzer in der Regel auf seine Bibliothek vor Ort angewiesen, um gedruckte Literatur zu erhalten, auch wenn er sie zur Fernleihe benutzt. Nur in Ausnahmefallen haben Bibliotheken auch Verteilerfunktionen für Literatur übernommen. Das gilt ζ. B. für die wissenschaftlichen Bibliotheken, die als Akademiebibliotheken den internationalen Tausch der Akademieschriften übernommen haben. Generell ist bei deutschen Universitätsbibliotheken der Dissertationentausch für nicht in Verlagen erschienene vervielfältigte Doktorarbeiten üblich, der aus der Pflicht des Autors abgeleitet ist, für eine ausreichende Verbreitung seiner wissenschaftlichen Arbeit Sorge zu tragen. Soweit eine Verlagspublikation nicht erfolgt, treten die Bibliotheken hier subsidiär als Vermittler ein.

3.

Die Erwerbung gedruckter Literatur und anderer Medien

Der Kauf von Monographien und Fortsetzungswerken oder das Abonnement von Zeitschriften führen zum Besitz der Bibliothek an den erworbenen Werken. Nach dem Erschöpfungsgrundsatz hat die Bibliothek als Käufer das Recht, das Werk in jeder von ihr vorgesehenen Weise zu nutzen und weiterzugeben. Die Einführung eines Verleihrechtes aufgrund einer europäischen Direktive schränkte dieses zwar ein; durch das Schaffen eines entsprechenden Ausnahmerechtes für Bibliotheken (das den Mitgliedsstaaten - im Gegensatz zur deutschen Regelung - eine vergütungsfreie Ausleihe freistellt) wurde dieser de facto-Zustand nicht geändert. Auch für das Kopierrecht wurden Ausnahmerechte unterschiedlicher Art geschaffen. In Deutschland besteht das Recht auf eine Kopie zum

1575

privaten Gebrauch, aus dem sich die Kopiermöglichkeiten der Bibliotheken für ihre Nutzer ableiten. Traditionell wird der Kauf von Monographien, Zeitschriften, Reihen und Fortsetzungswerken unterschieden. Für den Etat ist entscheidend, ein wie hoher Prozentsatz für den Kauf von Zeitschriften und festabonnierten Reihen sowie Fortsetzungswerken festliegt. Der Betrag für den 'freien' Kauf von Monographien ist davon abhängig. Prozentual ist in den letzten Jahren der Anteil des Kaufs wissenschaftlicher Monographien am Etat gesunken. Verbunden mit den (auflageabhängigen) Preissteigerungen auf dem Monographienmarkt hat dies über ein Jahrzehnt betrachtet teilweise zu drastischen Reduzierungen beim Monographienetat geführt. Diese Entwicklung ist insbesondere durch den exorbitanten Preisanstieg bei Zeitschriften entstanden, der nur teilweise durch die Verminderung des Absatzes erklärt werden kann. Wenigen internationalen Verlagen ist es besonders im Bereich Naturwissenschaften, Technik und Medizin (Science, Technology, Medicine, STM) gelungen, Zeitschriften von hohem Ansehen bei sich zu konzentrieren und in dieser quasi-Monopolsituation weit überproportionale Preissteigerungen durchzusetzen. Da die Bibliotheken wegen der hohen Nutzungserwartung diese Titel nicht abbestellen (können), mußte der Kauf „kleinerer" Zeitschriften, insbesondere aber der Monographienkauf reduziert werden. Diese Erwerbungskrise wurde in den letzten Jahren durch die finanzielle Schwäche der öffentlichen Haushalte weiter verstärkt; die jährlichen Berichte von Griebel/Tscharntke zeigen zwar, daß es in den meisten Fällen immer wieder gelungen ist, durch Sondermittel massive Einbrüche in Deutschland zu vermeiden. Aber die notwendigen Etatzuwächse sind inzwischen ausgeblieben; sogar ein Absinken der nominalen Beträge ist teilweise feststellbar. Fällt dieses mit sekundären Preissteigerungen zusammen, wie das in den letzten Jahren insbesondere durch die ungünstige Wechselkursentwicklung DM/Dollar und DM/Pfund der Fall war, entstehen kritische Situationen, die auch drastische Abbestellungen im Zeitschriftensektor notwendig machen. Der festliegende Anteil der Mittel darf auch deshalb nicht zu hoch werden, weil Haushaltssperren und -kürzungen sonst nicht einmal mehr durch das Einfrieren der Monographienetats aufgefangen werden können.

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

Die Finanzkrise der wissenschaftlichen Bibliotheken wird durch die international steigende Zahl wissenschaftlich relevanter Publikationen verstärkt. Außerdem stellen neue Medien — Mikroformen, in kleinerem Umfang AV-Medien, insbesondere aber auch CD-ROM-Publikationen — zusätzliche Anforderungen an die Bibliotheksetats. Daß aus der Erwerbungskrise bisher (noch) keine Versorgungskrise geworden ist, hängt damit zusammen, daß durch das Netz der überregionalen Literaturversorgung in Deutschland mit zentralen Fachbibliotheken und den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sondersammelgebietsbibliotheken die Erwerbung auch der speziellen Literatur praktisch flächendeckend gesichert ist. Das derzeitig gültige Urheberrecht erlaubt die Nutzung dieser Materialien auch zur Fernleihe bzw. Kopienlieferung. Daß Gefahren für die überregionale Informationsversorgung bestehen, zeigt die CDROM-Entwicklung, bei der oft Lizenzen von den Verlagen gegeben werden, die allein eine lokale Nutzung ermöglichen.

inhaltsdienste (on-line-contents) werden in der Regel von Fremdanbietern (Swets-scan, IBZ) bezogen und auf Verbund- oder lokaler Ebene mit Beständen verknüpft angeboten. Einzelne Bibliotheken ergänzen derartige Servicedienste durch eigene on-line-contentsErstellung für spezielle Sondersammelgebiete (SSG-S-on-line-contents Projekt der SUB Göttingen). Die Verknüpfung von Fachinformationsdatenbanken mit den lokalen oder regionalen Beständen ist erleichtert, seitdem über die Ζ 39.50 Schnittstelle Katalog- und Dokumentationsdaten ohne großen zusätzlichen Programmieraufwand miteinander verknüpft werden können. Sie erleichtert auch die Recherche über mehrere Verbundsysteme und die Zeitschriftendatenbank. Ansätze zur automatisierten Sacherschließung haben sich in der praktischen Anwendung noch nicht durchsetzen können, weil der Voraufwand für die Einrichtung der entsprechenden Hilfsmittel (Wörterbücher, Konkordanzen usw.) erheblich ist und die Leistungsfähigkeit einer Einzelbibliothek in der Regel übersteigt.

4.

5.

Erschließen

Der Alphabetische Katalog hat sich als Hauptinstrument der formalen Erschließung in Bibliotheken durchgesetzt. Demgegenüber spielen Sachkataloge eine geringere Rolle. Als Regelwerk werden in Deutschland die R A K (Regeln für die Alphabetische Katalogisierung) allgemein eingesetzt; die Schlagwortkatalogisierung erfolgt (meist in Auswahl) weitgehend nach den RSWK (Regeln für die Schlagwortkatalogisierung). Nach diesen Regeln werden die deutschen Titel in der Nationalbibliographie der Deutschen Bibliothek angezeigt. Die Katalogisierung erfolgt in regionalen Verbünden. Die Verbundsysteme bieten integriert oder getrennt auch die Titelaufnahmen der großen Nationalbibliotheken an, so daß der Katalogisierungsaufwand der einzelnen Bibliothek etwa bei höchstens 25 Prozent der neuen Titel liegt. Nur in wenigen Verbünden — insbesondere in Niedersachsen und zunehmend im gesamten Gemeinsamen Bibliotheksverbund (GBV) - wird die Verbunddatenbank auch konsequent zur Fernleihbestellung durch Endbenutzer eingesetzt. Zunehmend werden die Kataloge selbständiger Schriften durch die Erschließung unselbständiger Literatur ergänzt. Zeitschriften-

Bereitstellen

Die klassischen Formen der Bereitstellung zur Benutzung in der Bibliothek oder zur Ausleihe nach Hause bilden noch immer das Rückgrat der Literaturbereitstellung in Bibliotheken. Dabei sind die frei zugänglichen Bestände in den letzten Jahrzehnten wesentlich erweitert worden. An den neuen Universitäten hat man in der Regel den gesamten Bestand frei zugänglich in systematischer Ordnung aufgestellt. Allerdings haben sich teilweise Engpässe bei der Bewirtschaftung der riesigen Freihandflächen ergeben, die insbesondere in den Randzeiten (abends, an Wochenenden) in Campusuniversitäten oft nur geringfägig genutzt wurden. Deshalb haben sich Mischlösungen wie bei Neubauten für alte Bibliotheken (ζ. B. in Freiburg/Br. und Göttingen) oder durch Umbau eines alten Gebäudes (ζ. B. Heidelberg) besser bewährt, bei denen umfangreiche Präsenzbestände durch den Zugang zu Magazinen mit den neuen Beständen der letzten Jahrzehnte ergänzt werden. Die nachträgliche Öffnung eines gesamten unterirdischen Magazingeschosses in der SUB Göttingen hat aber deutlich gemacht, daß die Kopie bzw. die Einsicht in das Werk vor Ausleihe einen wesentlichen Anteil der

143. Bibliotheken - gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung

Nutzung ausmachen: Die Zahl der Ausleihen konnte damit sogar geringfügig reduziert werden. Neben der Freihandaufstellung sind es die automatisierten Ausleihsysteme, die eine wesentliche Verbesserung der Literaturnutzung gebracht haben. Die Möglichkeit, Bücher online (auch von zu Hause aus) zu bestellen, ausgeliehene Literatur vorzumerken und sein Konto einzusehen sowie selbständig Leihfristen zu verlängern, haben die Nutzbarkeit und die Nutzung der Bibliotheken wesentlich erhöht. Insbesondere kann (wenn ausreichende Mittel zur Verfügung stehen) die Lehrbuchsammlung aufgrund der Ausleihund Vormerkstatistiken gezielt mit der vielgefragten Studienliteratur in Mehrfachexemplaren ausgestattet werden. Zusätzliche Attraktivität gewinnen die Bibliotheken durch die on-line-Fernleihbestellmöglichkeiten durch die Benutzer selbst, wie sie im GBV für die gesamte Literatur möglich ist; JASON bietet entsprechende Bestellmöglichkeiten für Zeitschriften in NordrheinWestfalen. Von der on-line-Fernleihe ist es nur ein kleiner Schritt zur on-line-Direktlieferung an Benutzer. Sie wurde zunächst in Deutschland konventionell und auch elektronisch bei der TIB Hannover in größerem Umfang eingesetzt. Demgegenüber spielten Direktlieferservices bei Regionalbibliotheken oder auch Sondersammelgebietsbibliotheken eine geringe Rolle, bis hier durch das Projekt SSGS zunächst für ausgewählte Sondersammelgebietsbibliotheken spezifische Anstrengungen zur Einführung gemacht wurden. Dabei zeigt sich, daß in den Geisteswissenschaften erhebliche Vorbehalte gegen derartige kostenpflichtige Sonderdienstleistungen bestehen. Im großen Stil werden Direktlieferdienste durch SUBITO eingeführt. Es ist eine Gemeinschaftsaktion deutscher Bibliotheken und Verbundsysteme unter Federführung des Deutschen Bibliotheksinstituts (DBI), die u. a. feste Lieferzeiten (72 Stunden) und einheitliche Gebühren vorsieht. Das DBI hat schon vorher auf die Zeitschriftendatenbank (ZDB) gestützt den Direktlieferservice DBIlink eingeführt, der aber in der Regel von Firmen und wissenschaftlichen Einrichtungen im Bereich Naturwissenschaften und Medizin in Anspruch genommen wurde. Ist SUBITO zunächst auf den Zeitschriftenbereich und eine begrenzte Zahl von Bibliotheken beschränkt, so bietet der Direktlieferdienst GBV-direkt schon jetzt die Direktlieferung

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auch von Monographien in größerem Umfang an. Wesentliche Neuerung des Service ist darüber hinaus, daß neben dem Kopienversand die Lieferung als Fax und die elektronische Versendung temporär gescannter Materialien (als TIFF-Dateien) angeboten werden. (Übrigens ist die elektronische Lieferung preislich besonders günstig.) Doch wird darauf noch weiter eingegangen.

6.

Bewahren

Grundsätzlich archivieren wissenschaftliche Bibliotheken ihren Bestand. Im Zuge der Diskussionen um den Magazinbedarf hat der Wissenschaftsrat die Empfehlung gegeben, selten genutzte Literatur auszusondern und nur einmal in einer definierten Archivbibliothek zu bewahren. Dies ist vor allem für Zeitschriftenbestände, bei denen der Arbeitsaufwand relativ gering ist, auf Länderebene teilweise begonnen worden (ζ. B. Bochumer Bücherspeicher). Weniger der Zwang zum Ausscheiden als Schwierigkeiten des Bewahrens haben sich als aktuelles Problem schwer lösbarer Tragweite erwiesen. Große Teile der Literatur des 19. und 20. Jhs. sind im Bestand gefährdet, weil sie auf säurehaltigem Papier gedruckt sind, das mit der Zeit zerfallt. Hohe Anteile der Bestände sind schon jetzt nur noch eingeschränkt nutzbar, weil das brüchige Papier bei Nutzung zerstört wird oder sich leicht aus dem Einband löst. Verfilmungsprogramme (wie sie für die Zeitungen im Rahmen eines DFG-Förderprogramm s erfolgreich durchgeführt wurden) sind in nur zu geringem Umfang möglich. Immerhin ist es gelungen, im European Register of Microform Masters (EROMM) ein internationales Register zu schaffen, das — im Austausch mit den USA — unnötige Doppel verfilm ungen vermeiden hilft. Möglicherweise kann in Zukunft auch die Retrodigitalisierung einen Beitrag zur Bestandssicherung leisten. Erfreulicherweise ist die Papierproblematik durch Umstellung der Papierproduktion auf alkalische Prozesse (nicht ohne massiven bibliothekarischen Druck) für die deutsche Buchproduktion im letzten Jahrzehnt weitgehend gelöst worden. Die dauerhafte Sicherung der deutschen und deutschsprachigen Literatur erfolgt durch Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt/M. und Leipzig. Um dem geisteswissenschaftlichen Forschungsbedarf zu entsprechen, hat auf Anregung von Bern-

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

hard Fabian die Volkswagenstiftung für 5 Jahre eine Anfangsfmanzierung von insgesamt 25 Millionen für die Sammlung Deutscher Drucke 1450-1912 gegeben, mit denen die segmentierte Nationalbibliothek (15./ 16. Jh.: BSB München; 17. Jh.: HAB Wolfenbüttel; 18. Jh.: SUB Göttingen; 1800-1870: StUB Frankfurt a.M.; 1871-1912: Staatsbibliothek zu Berlin) aufgebaut wird. Unter Beteiligung der D D B haben sich die genannten Bibliotheken in der Arbeitsgemeinschaft Sammlung Deutscher Drucke zusammengeschlossen.

7.

Exkurs zur Wiedervereinigung Deutschlands

Für die heutige Entwicklung des Bibliothekswesens in Deutschland ist die Wiedervereinigung von entscheidender Bedeutung. In vielem brachte sie eine Bewährungsprobe für das alte organisatorische Instrumentarium. Im Bibliothekswesen bestand sie z. B. die gemeinsame HBFG-Förderung von Bund und Ländern glänzend: die Universitätsbibliotheken der neuen Länder werden in gewisser Weise wie Bibliotheken neuer Universitäten behandlet und erhalten Aufbaumittel für die Erwerbung eines Grundbestandes, die ihnen vergleichsweise hohe Literaturetats für über ein Jahrzehnt garantieren. Das hat sie in wenigen Jahren in ähnlicher Weise besonders leistungsfähig gemacht, wie das derzeit bei den Bibliotheken der neu gegründeten Universitäten der Fall ist. Der Aufbau der Bestände schreitet in den neuen Bundesländern schnell voran — etwas langsamer geht es bei der Erneuerung bzw. dem Neubau der Gebäude. Mehr als ein Jahrzehnt wird es dauern, bis die Bauten stehen, die für die wachsenden Büchermengen und die zahlreicher werdenden Studenten benötigt werden. Einen Neubeginn brachte das Zusammenwachsen von Ost und West bei den Bibliotheksverbünden. Zum Glück verzichtete man auf den Aufbau neuer regionaler EDV-Systeme. Statt dessen schlossen sich einzelne Länder mit bestehenden Verbünden zusammen; daraus aber entstand eine Bewegung, bei der auch schon bestehende Verbünde sich vereinigten. So umfaßt der GBV (Gemeinsamer Bibliotheksverbund) genannte Göttinger Verbund jetzt die Länder Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. Doch auch bei anderen Ver-

bünden trägt man sich mit Fusionsgedanken (Baden-Württemberg und Bayern z. B.). Vieles ist in Bewegung geraten, auch beim Softwareeinsatz, bei dem Niedersachsen, Die Deutsche Bibliothek und Hessen das niederländische System PICA einsetzen, dessen Nutzung auch bei den französischen Universitäten eingeführt wird. PICA wird damit zu einem europäischen System. Die übrigen deutschen Verbünde haben sich auf die gemeinsame Entwicklung eines neuen deutschen Systems geeinigt — auch ein Vorgehen, das noch vor wenigen Jahren niemand für möglich gehalten hätte, das aber nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte.

8.

Die ED Y-Entwicklung bis zum Internet

In Bibliotheken wie bei der Literaturproduktion und -Verarbeitung hat der EDV-Einsatz zunächst eine scheinbar evolutionäre Entwicklung eingeleitet. Die Bibliotheken konnten mit ihren Ausleihsystemen die lokale Nutzung optimieren, mit den Verbundsystemen die Katalogisierung der steigenden Literaturflut bewältigen und die Arbeitsteilung bei der Bereitstellung verbessern (und damit eine Versorgungskrise vermeiden). Die Verlage nahmen gern die elektronischen Verbesserungen der Literaturproduktion (mit fallenden Druckkosten) oder von den Autoren selbst am PC erstellte ausgedruckte Manuskripte entgegen und konnten so ihre Produktivität erhöhen und mit immer preiswerteren Kleinauflagen die Absatzkrise unterlaufen. Grundlage einer revolutionären Entwicklung aber war die Verknüpfung der PCs im Netz. Sie ermöglicht die Verbreitung von Texten (und inzwischen auch von Bildern und Tönen) direkt vom Produzenten zum Empfänger ohne eine papierene Zwischenstufe. Mit der Entwicklung des Internet sind damit in den letzten fünf Jahren die Voraussetzungen für die weltweite Publikation im Netz entstanden. Informationsverbreitung mit digitalen Medien erscheint vielen als die ideale Form der Bereitstellung von Literatur und Medien aller Art. Das ist verständlich. Denn letztlich verspricht die digitale Revolution die Realisierung eines Menschheitstraums: die Uberwindung von Raum und Zeit bei der Information. Denn es spielt im Prinzip keine Rolle mehr, wo im Netz sich eine Information be-

143. Bibliotheken - gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung

findet. Man kann von überall her darauf zugreifen; die Übermittlung erfolgt sofort und ohne Zeitverzug. 9.

D i e Rolle v o n W i s s e n s c h a f t l e r n , Verlegern u n d Bibliotheken i m Zeitalter der digitalen I n f o r m a t i o n

Es scheint, als ob die Speicherung einer Information an einer Stelle im Internet genügt, um den Rest der Welt sofort und für immer zu versorgen — ein Traum für den Wissenschaftler und scheinbar ein Alptraum für Verleger und Bibliothekare. Andererseits erweist sich das Internet als chaotisch, unsicher und vielfach unzuverlässig: Es ist deshalb nicht leicht, qualitativ wertvolle Publikationen im Internet kenntlich zu machen, sie in ihrer Integrität zu sichern und dauerhaft zugänglich zu machen. Andererseits entstehen im Internet neue Informationswelten, die es zu gestalten gilt. Hier ist nicht nur der Multimediaaspekt zu berücksichtigen. Entscheidend ist, daß im Internet Publikationen verlinkt werden können. Hypertextstrukturen verändern die Dimension wissenschaftlicher Informationsbereitstellung: ein neuer Darstellungsraum wissenschaftlicher Erkenntnis entsteht, in dem mehrdimensionale Recherchen möglich werden, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können, je nachdem, welchen Weg man verfolgt. Praktische Aspekte sind ζ. B. die verstärkte Teamarbeit bei geisteswissenschaftlichen Gemeinschaftswerken wie wissenschaftlichen Editionen, die schon im Entstehungsprozeß weltweit allgemein zugänglich gemacht werden können. Texte können mit Kommentaren ergänzt, wissenschaftliche Diskussionen zusätzlich festgehalten werden. So können Forschungsprozesse verfolgt und — bei entsprechender Speicherung — dauerhaft festgehalten werden. Im Idealfall kann die Forschung selbst sozusagen sofort zum Bibliotheksmaterial werden. Die neuen Möglichkeiten, letztlich virtuelle, eventuell weltweit verteilte Datenbanken weltweit zu bestimmten Themen entstehen zu lassen, ist eine Herausforderung für Verleger und Bibliothekare. Sie bringt aber auch die Wissenschaftler in neuer Weise ins Spiel: nicht ohne Grund beschäftigen sich Fachgesellschaften mehr als je zuvor mit Problemen des wissenschaftlichen Publizierens. Dabei ist zunächst der Impetus gegeben, die Etatkrise der wissenschaftlichen Publikation

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zu überwinden. Viele wollen vor allem die scheinbar unsinnige Situation überwinden, daß Wissenschaftler Texte in elektronischer Form produzieren, die sie dann gedruckt für teures Geld sozusagen wiederkaufen (oder von Bibliotheken als Kopien erhalten), um sie — im Fall des Zitierens — erneut elektronisch eingeben zu müssen. Demgegenüber erscheint der Arbeitsplatz ohne Medienbruch attraktiv, der neben dem Arbeiten an Texten auch das Nutzen von anderer Software ermöglicht. In der Tendenz ist hier ein Ansatz erkennbar, bei dem sich mancher Wissenschaftler ohne Verleger und Bibliothekare allein organisieren möchte. Doch auch die Verleger treten mit neuem Alleinvertretungsanspruch auf. War es in der Vergangenheit vielleicht nötig, physische Einheiten an Zwischenträger zu verteilen, um sie dauerhaft zugänglich zu machen, so scheint dies im Zeitalter der internationalen Vernetzung und kostengünstiger Speichermedien nicht mehr nötig: der Verlag speichert seine Zeitschriften, sprich Dokumente, sie werden mit einem Digital Object Identifier (DOI) ausgestattet und können weltweit (gegen entsprechende Bezahlung) zugänglich gemacht werden. Das exklusive Recht zur Kommunikation in Netzen, wie es in WlPO-CopyrightTreaty vom Dezember 1996 festgehalten ist, schafft die rechtlichen Voraussetzungen dafür, hier die notwendigen Einkünfte zu erreichen. Allerdings ist diese Rechnung möglicherweise ohne den Wirt, Wissenschaftler und Bibliotheken, gemacht. Der Wissenschaftler möchte (muß) seine Literatur verlinkt zugänglich erhalten, ohne dabei auf die Kosten der Einzelnutzung sehen zu müssen; die Bibliothek kann bei Zahlung pro Nutzung in unbekannter Höhe ihre Finanzsituation nicht mehr kalkulieren. Aber auch der Verlag wird auf die Vorauszahlungen der Bibliotheken für Abonnements nur ungern verzichten wollen — bieten sie ihm doch eine praktisch risikolose Vorfinanzierung seiner Publikationen. Verlage versuchen deshalb bei elektronischen Publikationen (oder kombiniert gedruckt/ elektronischen Veröffentlichungen) längerfristige Dauerverträge abzuschließen, die Abbestellungen weitgehend ausschließen sollen. Dabei wird aber der Nutzerkreis in der Regel eng auf eine Universität oder ein Consortium von Bibliotheken eingeschränkt — ein Äquivalent zur früheren Fernleihe sucht man auszuschließen.

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

Es erscheint unwahrscheinlich, daß sich das System der Einzelzahlung pro Aufsatz (Dokument) durchsetzt. Einzelne Verlage haben schon festgestellt, daß sie nur Nutzungschancen für ihre elektronischen Produkte haben, wenn sie in Gesamtangebote von Bibliotheken eingebunden sind. Fragmentation rechtlich abgesicherter Verlagsreviere ist das Gegenteil der Verlinkung, die das Internet zum Vorteil wissenschaftlicher Arbeit ermöglicht. Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Verlagen und Bibliotheken ist letztlich deshalb das Gebot der Stunde, wenn man kreative Lösungen für die neue digitale Informations- und Publikationswelt erreichen will. Es gilt, die Vorteile der neuen Entwicklungen für alle Beteiligten zu optimieren. Praktische Kooperation ζ. B. im Förderbereich Global Info des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wird dafür von besonderer Wichtigkeit sein.

10. Auf dem Weg zur digitalen Bibliothek Tendenzen der Entwicklung zur digitalen Bibliothek waren schon bei der Darstellung der traditionellen Aufgaben und Dienstleistungen der Bibliothek erkennbar. Sie gewinnen im Lichte der Gesamtentwicklung neue Konturen. Das Ziel, in systematischer Sammlung wissenschaftliche und wissenschaftlich relevante Literatur aller Zeiten, Völker und Sprachen dauerhaft zugänglich zu machen, war nur dem Ansatz nach in einer Einzelbibliothek realisierbar — und bei der Expansion der Wissenschaft wie des wissenschaftlich relevanten Materials je länger desto weniger erreichbar. Die Welt des Internet ermöglicht im Prinzip, die Sammlungen aller Bibliotheken als eine virtuelle Bibliothek anzusehen und damit den Traum des Wissenschaftlers von der modernen Forschungsbibliothek besser zu realisieren als je zuvor. Allerdings bedarf es dazu sehr viel mehr der Standardisierung und der Schaffung stabiler Verhältnisse als je zuvor. Sie allen Widerständen zum Trotz in der instabilen Welt des Internet zu schaffen, ist die große Herausforderung an die Bibliothekare der Gegenwart und der nächsten Zukunft. 10.1. Erwerbung Wie beim CD-ROM-Bezug teilweise schon festgestellt, besteht die Tendenz, den Zugriff zur Literatur zu lizensieren, nicht mehr ein

festes Produkt dauerhaft zu verkaufen. Bibliotheken müssen diesem Trend in gewissem Umfang entgegentreten, ζ. B. dadurch, daß sie bei Abbruch eines Abonnements mindestens weiterhin den Zugriff auf das bis dahin finanzierte Material sich langfristig sichern. Dabei ist wichtig, daß Bibliotheken die Bereitstellung der Materialien nach eigenen Standards und von ihnen kontrollierter Software durchführen. Die Tools eines Herstellers können es mit sich bringen, daß er rigoros die Nutzungsmöglichkeiten nach seinen eigenen Vorstellungen kontrolliert (was ζ. B. schon jetzt bei CD-ROM-Servern einzelner Hersteller der Fall ist). Die Tendenz zur Kontrolle wird auch durch die neuen Urheberrechtsabkommen unterstützt, in der die Entwicklung von Software zur (illegalen) Umgehung von Schutzmechanismen strafbar gemacht wird. Der Trend zur Lizensierung statt zum Kauf macht den Bezug von Literatur zu einer rechtlich höchst komplizierten Aktivität, die weltweit agierende Verleger zu ihrem Vorteil zu nutzen suchen. Eine internationale Vereinheitlichung der Rechtssituation ist deshalb dringend erforderlich. Teil der Erwerbungsaktivitäten der Bibliotheken ist aber heute zunehmend auch der Zusammenschluß zu Konsortien für den gemeinsamen Abschluß von Lizenzen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene. In der International Coalition of Library Consortia (ICOLC) haben sich inzwischen Bilbiothekskonsortien international zusammengeschlossen, um Mindestforderungen ζ. B. für Preisgestaltung und Nutzungsrechte gemeinsam besser durchsetzen zu können. Dabei spielt auch eine Rolle, ob eine dauerhafte bibliothekarische Speicherung gesichert werden kann. Als neue Aufgabe wächst den Bibliotheken zu, auch freie Materialien des Internet zugänglich zu machen. Dies geschieht oft dadurch, daß ein Link von Webseiten der Bibliotheken den gezielten Zugriff durch den Benutzer ermöglicht. Besser ist es natürlich, auch hier die dauerhafte Zugänglichkeit der Materialien bibliothekarisch durch Speicherung vor Ort zu lösen. Auch hier ist Absprache sinnvoll, weil es nicht notwendig und möglich ist, alles überall zu speichern. In Fortsetzung des überregionalen Erwerbungsprogramms der zentralen Fach- und Sondersammelgebietsbibliotheken werden deshalb mit Unterstützung der D F G zunächst in ausgewählten Fachgebieten digitale Forschungsbibliotheken aufgebaut. Dabei ist auch eine internationale Zusammenarbeit mit klar ver-

143. Bibliotheken - gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung

teilten Aufgaben notwendig, wie sie ζ. B. im German Demonstration Project unter Göttinger Federführung mit den USA im Entstehen ist. Zur Entwicklung der verteilten digitalen Forschungsbibliothek gehört auch das Gewinnen von bisher nur gedruckt vorliegenden Materialien für die digitale Welt. Die Retrodigitalisierung hat international mit der Bereitstellung von digitalisierten Bilddateien der jeweiligen gedruckten Seiten begonnen. Dabei wird insbesondere in den DFG-geförderten Projekten angestrebt, daß die gescannten Materialien mindestens über volltexterfaßte Inhaltsverzeichnisse und Register erschlossen werden, um den großen Vorteil der digitalen Bereitstellung durch verbesserte Zugriffe zu nutzen. Die wirklichen Vorteile der leichten Recherchier- und Zitierbarkeit ergeben sich natürlich nur bei Volltextdigitalisierung. Als Zwischenform wird von J-stor ein Verfahren eingesetzt, bei dem die mit OCR-Programmen erfaßten Texte im Hintergrund zur Recherche bereitgestellt werden. Als Suchergebnis aber erhält man jeweils die betreffende gedruckte Seite der bei J-stor digitalisierten Zeitschriften. Ahnlich wie bei Mikroformen versucht man in Europa im Projekt DIEPER mindestens ein vollständiges Verzeichnis der europäischen digitalisierten Zeitschriften zu erhalten; außerdem sollen auch hier Mittel erprobt werden, den virtuellen Zugriff auf Inhaltsverzeichnisse und Register sowie auf längere Sicht auf die Volltexte zu erreichen. In noch weitergehenden Projekten wird versucht, Texte im SGML-Standard zu erfassen, um sie dauerhaft in beliebiger Form wieder ausgeben zu können. Hier sind einige Textzentren (z. B. an der University of Virginia) entstanden; aber auch Verleger wie Chadwyck-Healey stellen inzwischen umfangreiche Textcorpora zur Verfügung, die schrittweise auch auf die Sekundärliteratur ergänzt und zu Datenbanken ausgebaut werden. Die Tendenz, daß Bibliotheken in zunehmendem Maße verlinkte Datenbanken in ihre Serviceleistungen integrieren müssen, ist hier deutlich erkennbar. War es in der Vergangenheit eine Aufgabe der Bibliotheken, Dissertationen zu verbreiten, die nicht in Verlagen erschienen, so bietet sich heute an, statt des weltweiten Versands gedruckter Exemplare die Materialien im Internet zur Verfügung zu stellen. Dies wird pragmatisch bereits an vielen Universitäten realisiert. Unter Federführung deutscher Fachgesellschaften wird ein DFG-Projekt

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durchgeführt, bei dem die gesamte Abwicklung des Promotionsverfahrens digital erfolgen soll. Dabei sollen von den Doktoranden auch definierte Metadaten zu ihren Arbeiten verlangt werden. Unterstützung der Internetpublikation der eigenen Universität wird zunehmend zu einer Aufgabe der Bibliothek, will man erreichen, daß die im Internet verbreiteten Texte in standardisierter Form erscheinen und dauerhaft gesichert werden. Dazu ist eine engere Kooperation mit den Fachbereichen, aber auch den Rechenzentren der Universitäten erforderlich. 10.2. Erschließung Will man die riesigen Massen wissenschaftlich relevanter Materialien des Internet zugänglich machen, bedarf es neuer Instrumente der Erschließung. Mit Suchmaschinen unterschiedlicher Art (z. B. Indexmaschinen) werden kommerziell betriebene Zugriffshilfen im Internet angeboten, die aber nur von eingeschränktem Nutzen sind. Bibliothekarische Zielvorstellung ist, alle Materialien mit möglichst hoher Präzision zugänglich zu machen, also Gedrucktes ebenso wie C D - R O M oder Internetmaterialien. Entwicklungen wie PICARTA ermöglichen Zugriffe innerhalb unterschiedlicher Dateien; im Karlsruher virtuellen Katalog (KVK) werden die deutschen Verbundkataloge und weitere große Bibliothekskataloge durch eine Suchmaschine erschlossen; das BIEBLIS-System bietet im Prinzip Zugriff auf unterschiedliche Materialien. Entscheidend für die Verbesserung der Zugriffsmöglichkeiten auf Internetmaterialien wird es sein, daß standardisierte Metadaten über Suchmaschinen abgefragt werden können. Im Rahmen der Dublin-Core-Initiative wird in einer internationalen Gruppe die gemeinsame Entwicklung von Quasi-Standards für Materialien unterschiedlicher Sachgebiete (einschließlich etwa Museumsmaterialien) vorangetrieben. Von bibliothekarischer Seite werden z. B. in Deutschland in einem Gemeinschaftsprojekt von BSB, DDB und SUB Göttingen unter Federführung des DBI die internationale Entwicklung verfolgt und mit eigenen Vorschlägen — z. T. in Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften - beeinflußt. Dabei werden neben Publikationen auch fachlich relevante Hosts über Metadaten beschrieben (SSG-FI-Projekt der SUB Göttingen). Entscheidend wird es sein, die Literaturproduzenten zu bewegen, ihre Publikatio-

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

nen selbst mindestens mit miminalen, aber standardisierten Metadaten zu versehen, um sie maschinell erschließen und — bei entsprechendem Wert der Arbeit — sie evtl. später bibliothekarisch leicht verbessern zu können. Wie kompliziert dabei die gegenseitige Nutzung von Daten ist, zeigt das Projekt REUSE, das amerikanische und deutsche Daten detailliert für diesen Zweck untersucht hat. Dabei wird deutlich, daß letztlich die konsequente Anwendung von Regeln die entscheidende Voraussetzung für die gegenseitige Nutzung ist, auch wenn die Regelungen selbst verschieden bleiben. Intellektuelle Vorarbeit ist auch Voraussetzung für die automatisierte Sacherschließung, die durch Systeme wie OSIRIS unter Einsatz moderner linguistischer Methoden verbessert werden. Dabei ist überall erkennbar, daß der Trend insgesamt weg von der Zusammenführung großer Datenmengen in gemeinsamen Katalogen hin zur Recherche in verschiedenen Dateien mit möglichst standardisierten Daten geht. 10.3. Bereitstellung Ist schon in Liefersystemen wie SUBITO zu erkennen, daß viele Tendenzen zur speziellen Bereitstellung von Einzeldokumenten mit elektronischer Bestell- und Liefermöglichkeit bestehen, so wird dies wahrscheinlich die bevorzugte Form für die elektronische Volltextbereitstellung. Die Wahrscheinlichkeit, daß man ganze Zeitschriften oder gar Monographien am Bildschirm durchliest, ist gering, auch wenn sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Prognosen über die Benutzerreaktion auf qualitativ bessere Bildschirme machen lassen. Derzeit gilt, was ein Nutzer als Quintessenz des Projektes T U L I P formulierte: „reading at the screen is work, reading a book is fun." Deshalb wird die Bereitstellung in gedruckter Form sicher nicht verschwinden. Aber sie wird in zunehmendem Maße vom Nutzer selbst oder evtl. dezentral in Kleinauflagen erfolgen. Bücher können in Zukunft mehr und mehr zu individuellen Produkten werden, die von der Zusammenstellung bis in die Typographie hinein den Vorstellungen des Nutzers entsprechend gestaltet sind. Ein Miteinander der Bereitstellung digitaler Information am Schirm wie in gedruckter Form ist auch wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse im Rahmen von Forschung und Studium wahrscheinlich. Will man sich einen Uberblick über neue Entwicklungen evtl.

auch außerhalb des eigenen Fachgebietes machen, wird der Naturwissenschaftler weiterhin Zeitschriften wie „Science" selbst durchblättern wollen. Sucht er dagegen gezielt Materialien zu einer bestimmten Thematik, wird er danach recherchieren und eine Auswahl in (aus)gedruckter Form zu intensiver Beschäftigung zur Verfügung haben wollen. Der Student im Examen dagegen wird teilweise auf Lehrprogramme zurückgreifen wollen, mindestens in den Geisteswissenschaften aber, wo sehr individuelle Spezialgebiete geprüft werden, gedruckte oder kopierte Exemplare der wichtigsten Literatur nutzen wollen. Es wird aber auch Informationsmaterialien und Texte geben, die man zur Weiterbearbeitung nicht in gedruckter, sondern in elektronischer Form haben möchte. Es gibt viele Ausgabemöglichkeiten in der hybriden Publikationswelt, und ein und derselbe Nutzer wird zu verschiedenen Zeiten die gleichen Materialien gedruckt oder elektronisch verlangen. Dabei hat zweifellos die Einrichtung die besten Chancen, für die Bereitstellung durch Nutzer herangezogen zu werden, die den einfachsten Zugriff bei flexibelster Bereitstellung bieten kann. One-stop-shop heißt deshalb das Zauberwort, mit dem Verlage und Bibliotheken ihre Serviceleistungen anbieten. Von der Recherche führt der Weg sofort zur Bereitstellung. Wer diesen Service perfekt anbietet, macht „das Geschäft". Deshalb versuchen Großverlage (aber auch große Softwarehäuser) nicht nur relevante Zeitschriften, sondern auch Informations- und Datenbanken in ihre Hand zu bekommen. Daß davon auch Gefahren für die Informationsfreiheit ausgehen könnten, ist der Öffentlichkeit (vor allem auch in den USA) bewußt geworden, als in Zusammenhang mit der Diskussion um den Elsevier-Kluwer-Zusammenschluß allgemeiner bekannt wurde, daß auch die umfassenden Datenbanken von Lexis-Nexis in der Hand von Elsevier sind. Bereitstellung von Literatur und Information wird im Zeitalter des Internet zu einer globalen Aktivität. Das führt nicht nur zu einer möglichen Konkurrenz Verlage — Bibliotheken, sondern auch zu einem potentiell weltweiten Wettstreit der Bibliotheken untereinander (die aber andererseits wegen des ungeheuren Anwachsens der Informationsmenge mehr denn je auf Kooperation angewiesen sind). Lösungen in der scheinbar ausweglosen Situation scheinen sich in zwei Richtungen zu entwickeln:

143. Bibliotheken - gegenwärtige Situation und Tendenzen der Entwicklung

(1) Im gedruckten Bereich ist es so, daß Bibliotheken — Bücher befristet verleihen, nicht dauerhaft verschenken — oder Kopien zum privaten Gebrauch erstellen, für die Urheberrechtsabgaben gezahlt werden. Auch im digitalen Umfeld müßte es gelingen, zwischen befristeter Nutzung und längerfristigem Besitz zu unterscheiden, um den Nutzer entweder mit einer Schutzgebühr (wie jetzt im Kopienbereich) oder dem vollen Kaufpreis zu belasten. Hierfür müßten technische Lösungen gesucht werden. (2) Bei Zeitschriften vor allem im STM-Bereich ist die intensive Nutzung auf wenige Jahre beschränkt. Deshalb werden Verleger in dieser Zeitspanne besonderen Wert darauf legen, möglichst umfassend an der Einzelnutzung beteiligt zu werden. Nach 3 - 5 Jahren (und in den Geisteswissenschaften sofort) ändert sich die Situation, weshalb viele Verlage nach diesem Zeitraum auch bereit sind, ihre Volltexte ζ. B. über J-Stor zugänglich zu machen. (3) Im Bereich der Retrodigitalisierung müßte eine Einigung zwischen Bibliotheken und Verlagen leicht möglich sein. Die Investition von Bibliotheken in die Digitalisierung erhöht die Nutzung der älteren Literatur und führt damit für Verleger (wie Autoren) zu höheren Urheberrechtsabgaben, die relativ leicht individuell abgerechnet werden können. So ergeben sich Vorteile für alle Beteiligten: bessere Bereitstellung für den Nutzer bei höheren Einkünften für die Rechteinhaber. Gelingt es, für die genannten Teilbereiche zu Lösungen zu kommen, müßte es möglich sein, schrittweise die derzeitige Verkrampfung zwischen Verlagen und Bibliotheken aufzulösen. Dabei wird es sicher unterschiedliche Lösungsansätze geben. Mit einiger Sicherheit aber kann man voraussagen, daß die Verlage den größten Erfolg haben werden, die den Zugriff auf ihre Verlagswerke für den Wissenschaftler erleichtern. Die Chance der Bibliotheken besteht darin, sich als die effizientesten Verwalter auch der Verlagsmaterialien zu erweisen. 10.4. Bewahren Das Internet als dauernd sich änderndes Netz mit schnell wechselnden technischen Randbedingungen und den unterschiedlichsten Mög-

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lichkeiten der Verlinkung ist in seiner Dynamik das Gegenteil eines stabilen Mediums. Die relevanten Materialien des Internet dauerhaft zu bewahren, ist auch deshalb eine fast unlösbare Aufgabe. Trotzdem muß sie durch Bibliotheken angegangen werden, um der Forschung in Gegenwart und Zukunft dienen zu können. Da dauerhafte digitale Speichermedien derzeit nicht vorhanden sind, werden sich die Bibliotheken auf komplexe Migrationsprozesse einrichten müssen, bei denen mindestens (wie bei der Mikroform im Verhältnis zum Buch) die Inhalte gesichert werden müssen, wenn schon die originale Form (etwa als CD-ROM) nicht erhalten werden kann. Komplexer wird die Sicherung dauerhafter Nutzung, weil nicht nur Hardwareveränderungen überwunden werden müssen, sondern die sich wandelnde Software zusätzlich (etwa als template) bereitstehen muß. Bei der Archivierungsfrage wird in besonderer Weise bewußt, daß sich die Probleme wissenschaftlicher Informations- und Literaturbereitstellung nicht über den Markt allein regulieren lassen. Hier sind Daueraufgaben zu bewältigen, die als Gemeinschaftswerk nur über längerfristige öffentliche Investitionen auf den unterschiedlichsten Ebenen in regionaler, nationaler und internationaler Zusammenarbeit geleistet werden können.

11. Die Bibliothek der Zukunft: eine multifunktionale Einrichtung im Netz virtueller Fachinformation Viele stellen sich ein Gebäude vor, wenn sie an eine Bibliothek denken. Auch in Zukunft wird das Gebäude für eine Bibliothek von grundlegender Bedeutung sein — aber es wird den Rahmen für eine multifunktionale Einrichtung bieten. Denn eine Bibliothek wird weiterhin Handschriften, Bücher und Zeitschriften, Mikroformen und AV-Medien besitzen und bereitstellen; sie wird aber zugleich bevorzugter Ort für Zugriff und Nutzung digitaler Medien sein, an dem nicht nur hochwertige Bildschirm- und Multimediaarbeitsplätze zur Verfügung stehen müssen, sondern auch Ausgabe- und Druckmöglichkeiten sowie Dienstleistungen unterschiedlichster Qualität angeboten werden. Die Bibliothek wird den Zugang und die Nutzung für die unterschiedlichsten Medien und die weltweiten Informationsangebote nur dadurch gewährleisten können, daß sie zusätzlich Räumlichkeiten für Schulungen und Gruppenarbeit

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XXXV. Mediengegenwart I: Buch u. Broschüre I: Technik, Verlags-, Vertriebs- u. Bibliothekswesen

zur Verfügung hält — und sich selbst aktiv in den Schulungsprozeß einbringt. Dabei wird es nicht nur darum gehen, Kenntnisse für die Nutzung von Informationen zu vermitteln, sondern Hilfestellung bei der aktiven Aufbereitung, der Erstellung und der Verbreitung eigener Texte, Programme und Multimediaprodukte im Rahmen von Studium, Lehre und Forschung zu geben. Die Bibliothek wird selbst digitale Materialien archivieren und vieles von Verlagen oder anderen Informationsanbietern Gespiegeltes zugänglich halten. Sie wird dabei aber nur ein Bindeglied im Netz virtueller digitaler Fach- und Forschungsbibliotheken sein, die mit möglichst einheitlichen Standards international abgestimmt aufgebaut werden. Sie wird all diese Aufgaben nicht allein bewältigen können, sondern nur in Kooperation vor Ort mit den Fachbereichen, dem Rechenzentrum und Medienspezialisten, ergänzt um die Kooperation auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Dabei wird sie vieles auch „outsourcen" können und müssen, aber trotzdem die Kontrolle über die sich dynamisch entwikkelnde digitale Informationslandschaft behalten müssen. Mehr als bisher aber wird der kürzeste Weg zur Bibliothek und ihren Dienstleistungen nicht der zu ihrem Gebäude, sondern der über die Homepage im Internet vom Bildschirm zu Hause sein.

12. L i t e r a t u r Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände, Bibliotheken 93. Göttingen, 1993. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Elektronische Publikationen im Literatur- und Informationsangebot wissenschaftlicher Bibliotheken. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie (Zfbb) 42, 1995, 445-463. —, Neue Informationsinfrastrukturen für Forschung und Lehre. Empfehlungen des Bibliotheksausschusses und der Kommission für Rechenanlagen. In: ZfBB 43, 1996, 134-155. Die unendliche Bibliothek. Digitale Information in Wissenschaft, Verlag und Bibliothek. Wiesbaden, 1996. Mittler, Elmar, Verteilte digitale Forschungsbibliothek — ein neues Paradigma für das Verhältnis von Bibliothek und Forschung? In: Bibliothek und Wissenschaft 30, 1997, 141-149, vgl. auch ebenda 1-4. — , Die digitalte Bibliothek — eine Zwischenbilanz. In: Gutenberg Jahrbuch 75, 2000, 346-355. Prämissen für die Zukunft angesichts der OnlineHerausforderungen. Gemeinsame Erklärung von Bibliotheken und Buchhandel. In: Börsenblatt 50, 21. 06. 1996, 5. Retrospektive Digitaliserung von Bibliotheksbeständen. Berlin 1997.

Elmar Mittler, Göttingen

(Deutschland)

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen 144. Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs 1. 2. 3. 4.

5. 6. 7.

1.

Terminologische Vorüberlegungen und Ansätze der Kinderliteraturforschung Zwischen Tradition und Erneuerung: Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 Das Kinder- und Jugendbuch als Gegenstand gesellschaftlicher Sozialisation Das Kinder- und Jugendbuch als Gegenstand ästhetisch-literarischer Sozialisation Intermedialität und Multimedialität: Kinderund Jugendliteratur und die AV-Medien Ausblick Literatur

Terminologische Vorüberlegungen und Ansätze der Kinderliteraturforschung

Die folgende Darstellung umfaßt den Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart (den Zeitraum vom Beginn des Buchdrucks bis 1945 behandelt der Artikel Kommunikative und ästhetische Funktionen historischer Kinder- und Jugendbücher in Bd. 1 des vorliegenden Handbuchs). Da aus Raumgründen kein Überblick über die kommunikativen und ästhetischen Funktionen aller Nationalkinderliteraturen gegeben werden kann, soll hier die deutsch-, englisch- (England, USA) und schwedischsprachige Kinder- und Jugendliteratur dazu dienen, die Konstanz und den Wandel dieser Funktionen zu demonstrieren. In Anlehnung an neuere Begriffsbestimmungen wird in diesem Artikel Kinder- und Jugendliteratur als Oberbegriff für die gesamte Produktion von Werken für Kinder und Jugendliche festgelegt. Als Kinder- und Jugendbuch wird dann derjenige Teil der Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet, der in Buchform herausgegeben wurde. (Zur genaueren Begriffsbestimmung von 'Kinderund Jugendliteratur' und zur historischen Kinderliteraturforschung verweise ich auf

das einleitende Kapitel des oben angegebenen Artikels). Während man zur älteren Kinder- und Jugendliteratur detaillierte historische Studien vorfindet, fallen die wenigen historischen Abrisse zur modernen Kinder- und Jugendliteratur eher global aus (vgl. Eyre 1971; Townsend 1994 und die entsprechenden Kapitel zur Kinderliteratur nach 1945 in Wild 1990); ausführlichere literaturgeschichtliche Studien gibt es lediglich zu Teilbereichen (z.B. Crouch 1972; Doderer 1988; Lundqvist 1994). Aus diesem Grund fehlen bisher auch übergreifende historisch-systematische Studien, die den Wandel kommunikativer und ästhetischer Funktionen von Kinderund Jugendbüchern thematisieren. Eine Typologie der Funktionen des Printmediums Kinder- und Jugendbuch stellt folglich ein Desiderat der Forschung dar. Die Diskussion aktueller Forschungsansätze hat der Kinderliteraturwissenschaft neue Perspektiven eröffnet. Die Kinderkulturforschung hat den Blick auf die von Kindern oder für Kinder produzierten Kunstformen gelenkt und in der Kinderkultur ein der Erwachsenenkultur gleichberechtigtes Pendant postuliert. Die Kinderkulturforschung hat auf die weitreichende Vernetzung und gegenseitige Beeinflussung aller kinderkulturellen Bereiche hingewiesen, wozu auch die Kinder- und Jugendliteratur und die AV-Kindermedien gehören. Während die Printmedien seit Ende des 18. Jhs. die Funktion eines Leitmediums innehatten, wird ihnen dieses Privileg zunehmend seit den dreißiger Jahren durch die AVMedien (zunächst durch den Rundfunk und den Kinofilm) streitig gemacht. Die Entwicklung neuer Medien in den letzten Jahrzehnten und ihr nachweislich intensiver Gebrauch durch Kinder und Jugendliche rückt diesen Kulturbereich verstärkt in den Vordergrund, so daß man heutzutage in der Forschung von

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

einer „Kindermedienkultur" oder „Medienkindheit" spricht (Glogauer 1993). Die Medienforschung hat sich mittlerweile dieser Problemstellung angenommen, wobei der Akzent bisher auf die AV-Medien und interaktiven Medien gelegt wird, während das Printmedium Kinder- und Jugendbuch eher ein Schattendasein führt (Grünewald/Kaminski 1984; Heidtmann 1992). Die Wechselwirkung zwischen Kinder- und Jugendbuch und den anderen Kindermedien ist deshalb nur in Ansätzen diskutiert worden (Nodelman 1992; Rollin 1993). Der durch den Einfluß moderner Kindermedien einhergehende Funktionswandel der Kinder- und Jugendliteratur und die dadurch ausgelösten Veränderungen der Lesekultur werden in der Leserund Rezeptionsforschung untersucht. Sie lenken das Interesse auf die Adressatenvorstellungen und Intentionen der Autoren, wobei neben dem Aspekt der pädagogisch-gesellschaftlichen Sozialisation zunehmend derjenige der ästhetisch-literarischen Erziehung rückt. Während der Akzent bisher auf die literarische Sozialisation von Kindern ab dem Grundschulalter gelegt wurde, wird erst in neuerer Zeit auch das Kleinkind alter berücksichtigt (Braun 1995; Kiefer 1994). Die Literaturerwerbsforschung befindet sich allerdings noch in den Kinderschuhen. Das von Kognitionspsychologen in die Diskussion eingebrachte Konzept des Literaturerwerbs (engl, literacy) wurde mittlerweile auch auf andere Erwerbskonzepte übertragen, so daß m a n expliziter zwischen text literacy, visual literacy und media literacy unterscheidet. Der Bezug zwischen diesen Erwerbstypen und ihre jeweilige Entwicklung sind jedoch größtenteils noch unerforscht. Profitiert hat von diesen Ansätzen insbesondere die Bilderbuchforschung, die seit den achtziger Jahren beachtliche Studien hervorgebracht hat (Kiefer 1994; Nodelman 1988; Rhedin 1992; Schwarcz 1982; Thile 2000 ). Die immer noch aktuelle Debatte um die Position der Kinderliteraturkritik (u. a. Dolle-Weinkauff/Ewers 1996; Hunt 1991; Lesnik-Oberstein 1994; Sadler 1992) hat in den neunziger Jahren durch den Versuch der Integration moderner literaturwissenschaftlicher Ansätze wie cultural studies, gender studies, postcolonial theory, Semiotik und New Historicism Auftrieb bekommen und dürfte in Z u k u n f t auch für die Analyse der kommunikativen und ästhetischen Funktionen moderner Kinderund Jugendliteratur von großer Bedeutung sein (vgl. Kümmerling-Meibauer 1996; Watkins 1992).

2.

Zwischen Tradition und Erneuerung: Kinder- und Jugendliteratur nach 1945

Kinder- und Jugendliteratur ist vorrangig durch ihren expliziten oder impliziten Adressatenbezug definiert. Von Beginn an stand dabei ihr Gebrauchswert f ü r Erziehungs- und Sozialisationszwecke im Vordergrund: sie diente der religiösen Erbauung, der moralisch-aufklärerischen Intention seit dem ausgehenden 18. Jh. und der nationalen Gesinnungsbildung im 19. Jh.; seit der Jahrhundertwende kam durch den Aufschwung der Reformpädagogik der Aspekt der 'Lebenshilfe' im Sinne der Vermittlung von Weltwissen und der Hilfestellung bei der eigenen Identitätsfindung hinzu. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen neue Trends in der Kinderpsychologie und ein freieres Erziehungsideal (A. S. Neill) Einfluß auf die Kinderund Jugendliteratur in Westeuropa und Nordamerika. Mit dem Rückgang der zivilisatorischen Funktionen des Kinder- und Jugendbuchs und der Zunahme seines unterhaltenden Charakters deutet sich ein tiefgreifender Wandel an. Die Zeit von 1945 bis Ende der sechziger Jahre kann in Westeuropa und Nordamerika als eine erste Blütezeit kindgemäßer Kinderliteratur, die an die Weltsicht und Erlebnisperspektive des Kindes anknüpft, eingestuft werden. Die bereits von der Romantik geforderte Autonomie der Kindheitsphase und die Vorstellung eines kindlichen Frei- und Schonraums setzt sich in einem Großteil der Kinder- und Jugendliteratur durch (Ewers 1995). Das moderne Erziehungskonzept, das von der Vorstellung der kindlichen Entwicklung als einem organischen Reifungsprozeß ausgeht, führte zu einer Anerkennung des besonderen Status der Lebensphase Kindheit, die u.a. durch rege Spiel- und Phantasietätigkeit ausgezeichnet ist. Diese Tendenz zur Entdidaktisierung bewirkte den Aufstieg des bisher von Kritikern und Pädagogen gering geschätzten kinderliterarischen Genres der phantastischen Erzählung (engl, fantasy) in Deutschland und Schweden, während die angloamerikanischen Länder hierbei auf eine bis in die Mitte des 19. Jhs. reichende Tradition zurückblicken konnten. Als die wichtigsten Autoren können in Schweden Astrid Lindgren, Tove Jansson und Lennart Hellsing, in Deutschland James Krüss und Otfried Preußler und in England Lucy Boston, Clive Staples Lewis und Philippa Pearce genannt werden. Dieser ersten

144. Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs

Phase, die sich durch ihre antiutilitaristische Einstellung auszeichnete und ungefähr bis Ende der sechziger Jahre anhielt, folgten drei weitere kinderliterarische Phasen: die Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre sich etablierende 'antiautoritäre' Kinderliteratur in Deutschland und Schweden bzw. der aufkommende new realism in England und den USA näherten sich mit dem Anspruch, den kindlichen Leser mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen vertraut zu machen, wiederum dem aufklärerischen Postulat der Spätaufklärung an. Seit Mitte der siebziger Jahre setzte sich zunehmend der psychologische Realismus in der Kinderliteratur durch; zugleich nahm die Verflechtung des Printmediums Kinder- und Jugendbuch mit anderen AV-Medien zu. Der Einfluß des Medienverbundes und das Eindringen interaktiver Medien in den Kinderkulturbereich bedingten in den achtziger Jahren die Entstehung neuer Buchtypen und Erzählformen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.

3.

Das Kinder- und Jugendbuch als Gegenstand gesellschaftlicher Sozialisation

Der gesellschaftliche und kulturelle Wandel in Westeuropa und Nordamerika am Ende der sechziger Jahre hatte weitreichende Folgen für den Funktionswandel der Kinderund Jugendliteratur. Durch die Erweiterung des Literaturbegriffs wurde Kinder- und Jugendliteratur als Teil der Allgemeinliteratur anerkannt. Seit dieser Zeit wurde auch der Anspruch der pädagogischen Angemessenheit neu gedeutet. Die traditionelle erzieherische und antizipatorische Funktion wich einer neuen sozialisatorischen Aufgabe, die sich auf die Klärung der Erfahrungen und der Verständnisbedürfnisse des Kindes bezog. Der kindliche Leser sollte durch das Kinderund Jugendbuch Einsicht in die bestehenden Verhältnisse und Gesellschaftssysteme erhalten. Kommunikatives Ziel der 'antiautoritären' Kinderliteratur war dabei die Erfassung von Konflikten und sozialen Mißständen. Die Rückkehr zur Instrumentalisierung der Kinderliteratur im Rahmen einer politischgesellschaftlichen Erziehung führte zur Wiederbelebung des spätaufklärerischen Modells vom literarischen Erzieher. Mit diesem emanzipatorisch-aufklärerischen Impuls näherte sich diese Kinder- und Jugendliteratur wieder der traditionellen Kinderliteratur der Aufklä-

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rung, allerdings mit dem Unterschied, daß das Kind nicht mehr als zukünftiger Erwachsener, sondern als eigenständiges, mündiges Wesen, das aktiv in die Wirklichkeit eingreifen könne, gesehen wurde. Die sozialkritischgesellschaftsanalytische Kinderliteratur bediente sich dabei der Elemente sozialkritischer Erwachsenenliteratur (politische Lyrik, Dokumentarliteratur, Lehrtheater). Das von der Aufklärung her bekannte konventionelle Erzählmuster der Beispielgeschichte erlebte als 'Problemliteratur' (engl, problem novel) eine Renaissance. Die emanzipatorischen Funktionen (Erweiterung des Wissens, Identitätsfindung, Einfluß auf die Lösung von Konflikten, Einsicht in politisch-gesellschaftliche Prozesse) und die von Pädagogen und Kritikern erhobene Forderung nach einem 'neuen Realismus' in der Kinderliteratur waren der Auslöser für die Integration von Tabuthemen in die Kinderliteratur (Krieg, Gewalt, Tod, Sexualität, Drogen usw.). Als prominente Vertreter dieser Richtung können Peter Härtling, Christine Nöstlinger, Ursula Wölfel (Deutschland), Maria Gripe, Harry Kullman, Sven Wernström (Schweden), Judy Blume, Norma Klein und Paul Zindel (USA) genannt werden. Die durch diesen Wandel in den siebziger Jahren hervorgerufene Debatte über die Kindgemäßheit der modernen Kinderliteratur machte auf eine Doppelstrategie innerhalb der Kinderliteraturkritik aufmerksam. Einerseits sahen sich viele Pädagogen und Kritiker zu Zensurmaßnahmen berufen, die zum Ausschluß der betroffenen Kinderund Jugendliteratur vom Schullektürekanon und aus öffentlichen Bibliotheken führte. Von dieser Seite wurden kinderliterarische Werke, die die traditionellen Werte und Erziehungsnormen vertreten, bevorzugt. Andererseits deutete sich hier bereits eine Tendenz zur Literarisierung der Kinder- und Jugendliteratur an, die auf den Aufstieg des psychologischen Realismus in der Kinderliteratur seit Mitte der siebziger Jahre vorausdeutet. Obwohl sich die moderne Kinder- und Jugendliteratur zunehmend den ästhetisch-literarischen Standards der Erwachsenenliteratur annäherte und damit die Entdidaktisierung der Kinderliteratur vorantreibt, lassen sich auch gegenläufige Tendenzen beobachten, etwa in der Trivial- und Serienliteratur oder in den amerikanischen Teenager novels, in denen der jugendliche Leser im Rückgriff auf traditionelle Geschlechterrollen auf seine zukünftige Rolle in der Gesellschaft vorbereitet wird (Christian-Smith 1993). Die Ende der

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

achtziger Jahre zunächst durch religiöse und politisch rechtsstehende Gruppierungen in den USA (dies gilt zeitweise auch für England und Schweden) wieder entfachte Zensurdebatte, die sich gegen die kritische new young adult literature richtete, fand ihren Widerhall in der Kampagne linksradikaler Gruppen gegen vermeintlich rassistische und sexistische Kinderliteratur, die sich vor allem auf die Kinderbuchklassiker (Mary Poppins, Pippi Längstrump, Dr Dolittle, The Adventures of Huckleberry Finn) bezog und die Edition neuer, um die bemängelten Passagen gekürzte Ausgaben veranlaßte (RümmerlingMeibauer 1999; West 1988). Die Forderung nach 'political correctness' in der Kinderliteratur führte in einem weiteren Schritt — auch unter dem Einfluß der cultural studies und post-colonial theory — zur Besinnung auf die bisher vernachlässigte Literatur ethnischer Minderheiten, so etwa die afroamerikanische Kinderliteratur in den USA (Johnson 1990).

4.

Das Kinder- und Jugendbuch als Gegenstand ästhetisch-literarischer Sozialisation

Ende der siebziger Jahre wurde die Kritik an der sozialrealistischen und problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur immer lauter. Die dadurch ausgelöste Debatte über den ästhetischen Wert der Kinder- und Jugendliteratur leitete eine neue Phase ein. Erst mit den achtziger Jahren vollzog sich in der Kinderund Jugendliteratur im allgemeinen die Einführung von Formmerkmalen und Themen der Erwachsenenliteratur. Die Kommentarhaltung des literarischen Erziehers wich einer Position moralischer Neutralität, die auch die Neigung zum offenen bzw. ambivalenten Schluß förderte. Wegen der Konzentration auf existentiell-philosophische Fragen und der facettenreichen Beschreibung seelischer Prozesse könnte man die Haupttendenz in der Kinder- und Jugendliteratur seit den achtziger Jahren (mit Vorläufern in der angloamerikanischen Jugendliteratur der siebziger Jahre) als psychologischen Realismus kennzeichnen (Kümmerling-Meibauer 1996). In dieser Phase zeichnete sich im gesamten Sektor der Kinderund Jugendliteratur die Tendenz ab, daß diese primär die Aufgaben erhielt, mit dem Phänomen der Literatur vertraut zu machen und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes anzuregen, und erst sekundär in die Normen- und Lebenswelt der Erwachsenen einzuführen. Die kom-

munikativ-kognitiven Funktionen der Kinder· und Jugendliteratur bestanden u. a. darin, eine Hilfestellung bei der Erweiterung der kognitiven Kompetenz zu geben, die mündliche und schriftliche Aktivität zu stimulieren, das Vergnügen an der eigenen Imaginationsfähigkeit zu wecken, zu Denkprozessen und zur Entwicklung eigener Ideen anzuregen, eine kritische Einstellung zu den dargestellten Problemen einzunehmen und sich in die Perspektive oder Gefühlswelt anderer Personen hineinzuversetzen (Lesnik-Oberstein 1994). Der Kinder- und Jugendliteratur wird in dieser Hinsicht also die Rolle zugeschrieben, der Persönlichkeitsentwicklung des kindlichen Lesers zu dienen. Mit diesem Prozeß geht die Aufgabe einher, dem zunächst unwissenden Leser Kenntnisse über das Phänomen 'Literatur' zu vermitteln. Ihre pädagogische Funktion wird dadurch nicht aufgehoben, aber neu gewertet, nämlich als inner-literarische Leistung für das gesamte Literatursystem, d. h. als ästhetischliterarische Sozialisation. Damit erhöhen sich auch die ästhetischen Anforderungen an das Kinder- und Jugendbuch. Die zunehmende Komplexität der modernen Kinder- und Jugendliteratur, die durch die Integration erwachsenenliterarischer Genres (Adoleszenzroman, Science-Fiction-Roman) und Erzählformen zustande kommt, führte in den fünfziger Jahren (in England und den USA) bzw. siebziger Jahren (in Deutschland und Schweden) zu einer Dichotomisierung in 'einfache' Kinder- und Jugendliteratur, wozu neben der Kleinkindliteratur auch die Trivialliteratur und die Leseanfängerliteratur gehören, und eine künstlerisch anspruchsvolle Kinder- und Jugendliteratur, die von ihrem Leser ein hohes Maß an literarischem Vorwissen und kognitiver Aufmerksamkeit verlangt. Bei der Einstiegsliteratur für Kleinkinder standen zunächst eher kognitive als ästhetische Aspekte im Vordergrund. Das Kleinkind-Bilderbuch (engl, baby book oder board book) übernimmt dabei die kommunikativen Funktionen des Wiedererkennens und Benennens von bildlich dargestellten Gegenständen. Über die Verbalisierung des Wahrgenommenen hinaus erreicht das Kleinkind dadurch erste Kenntnisse von visual literacy und wird mit dem Konzept 'Buch' vertraut gemacht. Durch die besonderen Typen des Konzeptbuchs (engl, concept book) und einfache Bildergeschichten wird der kindliche Betrachter an einfache Erzählstrukturen und das Konzept 'Geschichte' herangeführt. Angeregt durch den pädagogischen Ansatz des

144. Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs

spielerischen Lernens erlebten die Spielbücher eine Renaissance. Neben den bereits im 18./ 19. Jh. entwickelten Typen des Leporellos, des Pop-Up-Buches und der Bücher mit integrierten Spielen (Puzzles, Rätsel, Ausschneidebögen) findet man Klappbilderbücher und Kombinationen von Buch und beigelegtem Stoffspielzeug vor. Die Rücksichtnahme auf die Belange des literarisch unerfahrenen Kleinkindes, die bereits ansatzweise in der Romantik gefordert wurde, verlangte von der für diesen Personenkreis bestimmten Kinderund Jugendliteratur besondere literarische Eigenschaften, die unter dem Sammelbegriff „Einfachheit" zusammengefaßt wurden (Lypp 1984). Die geforderte „Einfachheit" bezieht sich dabei auf alle literarischen Elemente wie Thematik, Figurenauswahl, Erzählweise oder Sprache. Das Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes nach Spannung, Unterhaltung und Ablenkung drängt dabei die didaktischmoralisierenden Erörterungen zunehmend in den Hintergrund. Die Leseanfängerliteratur, die in eigenen Verlagsreihen erscheint, nimmt Rücksicht auf die begrenzte literarische Kompetenz des Lesers und soll zugleich den Einstieg in den Erwerb des Lesens erleichtern. Mit wenigen Ausnahmen (z. B. Dr. Seuss: The Cat in the Hat (1957)) zeichnet sich diese Literatur durch ihre didaktische Orientierung aus. Der wachsende Markt der Leselern-Reihen fand seinen Nachhall in der zeitgenössischen Gestaltung von Schullesebüchern, bei denen eine Abkehr von phonetisch basierten Leselerntexten zugunsten einfacher kinderliterarischer Texte zu erkennen ist. Die bereits in der Kinder- und Jugendliteratur seit den fünfziger Jahren anklingende Tendenz zur Wahrnehmung kindlicher Interessen und zur Darstellung aus der Perspektive des Kindes setzte sich nicht nur in der modernen Jugendliteratur, sondern auch in der Kinderliteratur, insbesondere im 'psychologischen Kinderroman' durch. Die damit einhergehende Komplexität und der Anspruch auf künstlerische Autonomie leitete einen Formen- und Funktionswandel ein, der in der Erwachsenenliteratur bereits im 18. Jh. stattgefunden hat. Es sind keine deutlich konturierten Erziehungsvorstellungen, die für die ältere Kinder- und Jugendliteratur charakteristisch waren, mehr erkennbar. Statt dessen wird der modernen Kinder- und Jugendliteratur die Funktion zugeschrieben, im Sinne der literarischen Enkulturation mit den poetischen Regeln und Genres vertraut zu machen und dem Leser den Übergang zur

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Lektüre von Erwachsenenliteratur zu erleichtern (Ewers 2000). Zwei Faktoren bestimmen die besondere Rolle der modernen Kinderund Jugendliteratur. Erstens verbinden sich in ihr Elemente der literarischen Moderne und Postmoderne (ζ. B. mehrere Erzählebenen, Verbindung paraliterarischer, medialer und postmoderner Erzählformen, offener Schluß, Verknüpfung mehrerer Sprachstile, Darstellung eines seelischen Entwicklungsprozesses, Verbindung von Tragik und Humor). Zweitens erreichte diese Literatur erstmals einen größeren Leserkreis unter den Erwachsenen und machte damit die Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur für Erwachsene salonfähig. Die Differenz zur Erwachsenenliteratur zeigt sich in der Fokussierung auf die kindliche Perspektive und in der Abschwächung progressiver Elemente zugunsten konventioneller kinderliterarischer Normen. Dennoch bricht die moderne Kinderund Jugendliteratur mit der Übernahme von Themen und Erzählstrukturen der Erwachsenenliteratur mit konventionellen Vorstellungen von der literarischen Kompetenz kindlicher Leser. Die komplexe Literarität der modernen Kinder- und Jugendliteratur verlangt vom Leser eine besondere ästhetische Rezeptionsweise, die auf einem psychologischen Interesse (Einfühlungsvermögen, innere Selbstwahrnehmung, wirklich keitsbezogenes Problembewußtsein) beruht. Tabuthemen werden mit einer Offenheit und zugleich in einer moralisch neutralen Haltung angesprochen, wie man sie bisher nur von der Erwachsenenliteratur kannte. Weitaus auffälliger ist jedoch die Komplexität der Erzählstruktur und der sprachlichen Gestaltung. Das Experimentieren mit verschiedenen literarischen Formen (Integration medialer Erzählweisen, Mischung der Genres, Verfahren der Intertextualität) wird noch durch das Phänomen der Metafiktion ergänzt. Die Thematisierung des Schreibprozesses und die Lenkung der Aufmerksamkeit des Lesers auf die Entstehung und den Aufbau literarischer Texte sind weitere Aspekte, die die Mannigfaltigkeit und erzählerische Komplexität der modernen Kinder· und Jugendliteratur illustrieren (Beckett 1999; McCallum 1996; Nikolajeva 1996; Stephens 1992). Die Konkurrenz der modernen Unterhaltungsmedien dürfte dabei ein wichtiges Erklärungsmoment für die gegenwärtige Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur darstellen.

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5.

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Intermedialität und Multimedialität: Kinder- und Jugendliteratur und die AY-Medien

Der unaufhaltsame Prozeß der Mediatisierung von Kinder- und Jugendbüchern wurde bereits um die Jahrhundertwende durch frühe Formen des Medienverbunds eingeleitet. Mit den erfolgreichen Zeichentrickfilmen von Walt Disney nach berühmten kinderliterarischen Vorlagen und dem kontinuierlichen Ausbau des Hörfunks für Kinder in den dreißiger Jahren zeichnet sich der Beginn einer Kindermedienkultur ab, die ihren Siegeszug allerdings erst nach 1945 antrat. Waren in den fünfziger bis siebziger Jahren vor allem der Hörfunk und das Fernsehen die verfügbaren AV-Medien, so stehen seit den achtziger Jahren mehrere auditive, audiovisuelle und interaktive Medien zur freien Verfügung. Obwohl das Printmedium Kinder- und Jugendbuch weiterhin eine wichtige Rolle im Alltag des Kindes einnimmt und das Bilderbuch offensichtlich immer noch das erste Medium ist, mit dem das Kleinkind in Berührung kommt, ist die kindliche Lektüre in eine multimediale Welt einbezogen; mit anderen Worten, außer den Printmedien Buch, Zeitschrift und Comics nehmen andere Kommunikationssysteme einen immer größeren Einfluß auf den kindlichen Medienkonsum. Mit der Erfindung und Verbreitung neuer Medien verschwinden die alten nicht, unterliegen aber einem Funktionswandel: sie büßen bestimmte Funktionen ein, übernehmen gleichzeitig aber neue. Die Unterhaltungsbedürfnisse, die in den fünfziger Jahren durch triviale Literatur befriedigt wurden, haben sich heute auf entsprechende Fernsehserien verlagert. Der Wunsch nach Spannung, Unterhaltung, Abenteuer wird — wie die neuere Leserforschung belegt — zunehmend durch Fernsehen, Film und Video erfüllt. Kinder erhalten zudem durch die AV-Medien Einblick in die sie umgebende Welt, so daß sich die Medienerfahrung von Kindern und Erwachsenen angleicht. Der durch diese Medienvielfalt ausgelöste kulturelle Akzelerationsprozeß wird erst in der neueren Medienpädagogik positiv eingeschätzt. Die Debatte um den möglicherweise negativen Einfluß des Medienkonsums auf die kindliche Wahrnehmung und Entwicklung hat eine regelrechte „Medienpanik" (Drotner 1992) hervorgerufen, die von ihrer Argumentations- und Vorgehensweise her an die gegen triviale Kinder-

literatur gerichtete sogenannte 'Schmutz- und Schundkampagne' in den fünfziger Jahren, die Comic-Debatte in den sechziger Jahren und die vehemente Frontstellung von Fernsehgegnern gegen die Ausweitung des kindlichen Fernsehkonsums in den siebziger/achtziger Jahren erinnert. Das gleichbleibende Argument vom hilflosen, passiv der Bilderflut und der Kakophonie ausgeliefertem Kind wurde erst von der Kindermedienforschung entschärft. Das von ihr in die Diskussion eingebrachte Konzept der media literacy machte auf die besonderen interpretativen Fähigkeiten, die der Umgang mit AV-Medien und interaktiven Medien wie etwa Computerspielen verlangt, aufmerksam (ζ. B. Wahrnehmung von Sprach-Bild-Relationen und von bewegten Bildern, Deutung von Szenenwechseln) und thematisierte in einem weiteren Schritt die Auswirking dieser Kenntnisse auf die Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur (Greenfield 1987; Rollin 1993; Vandergrift 1980). Die Erweiterung des traditionellen Lese-Konzeptes auf das Verstehen von Symbolen, Bildern und Programmiersprachen mündete in ein Plädoyer für eine multimediale Erziehung des Kindes, die neben dem traditionellen Printmedium Kinder- und Jugendbuch auch die anderen Kindermedien heranzieht. Durch das Erlernen der jeweiligen medialen Codes und die Anleitung zum Vergleich ihrer spezifischen Leistungen soll der kritische Umgang mit den Medien ermöglicht werden. Mit diesem Ansatz versucht die Kindermedienforschung der Tendenz, daß die Unterhaltungsfunktion zunehmend den AV-Medien und interaktiven Medien zugeordnet wird und dem Printmedium Kinderund Jugendbuch ausschließlich die Aufgabe des Lese-Erwerbs und der Vermittlung von Sachwissen vorbehalten bleibt, entgegenzusteuern (Perrot 1996). Im Hinblick auf die Kinder- und Jugendliteratur können dabei vier Aspekte der wechselseitigen Einflußnahme von Printmedium Buch und AV-Medien (und seit kurzem auch interaktive Medien) hervorgehoben werden: Multimedialität oder Medienverbund als die gleichzeitige oder zeitlich verschobene Repräsentanz eines ästhetischen Objekts (ζ. B. einer kinderliterarischen Vorlage) in mehreren Medien; Intermedialität als die Übertragung eines ästhetischen Objekts von einem Medium in ein anderes; die Integration medialer Erzählformen im Kinder- und Jugendbuch und die Entwicklung neuer medialer Buchtypen.

144. Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs

Die Kommerzialisierung der Kindermedien wird besonders beim Medienverbund und dem Phänomen der Serialisierung deutlich. Bei dem nach dem Baukastensystem funktionierenden Medienverbund wird ein Leitmedium (zunächst eine Buchvorlage, seit den achtziger Jahren zunehmend ein Film) in andere Medien umgesetzt und gleichzeitig auf den Markt gebracht. In den USA wurde dieses Vermarktungskonzept im Kindermedienbereich zuerst von den Disney-Studios konsequent in die Tat umgesetzt, indem populäre Lesestoffe zugleich als Film und Comic zur Verfügung standen (Bambi, Peter Pan, Pinocchio). In den fünfziger Jahren wurde das neue Medium Fernsehen für die Serialisierung von kinderliterarischen Bestsellern entdeckt. Eines der erfolgreichsten Produkte war die fast zwanzig Jahre lang fortgesetzte Serie zu dem klassischen Kinderbuch Lassie (1940) von Eric Knight, von dem zugleich auch vier erfolgreiche Kinofilme gedreht wurden. Durch den internationalen Verkauf der Rechte wurde die Aa.v.v/í'-Fernsehreihe auch in Westeuropa verbreitet und leitete dort die multimediale Verwertung von einem Leitmedium ein. In Schweden sind die in alle Weltsprachen übersetzten Mumin-Comics (und später die Zeichentrickserie) als mediale Umsetzung der Mum in-Bücher (1945ff.) Tove Janssons und die Verfilmungen und Comics zu Astrid Lindgrens Pippi Längstrump (1945) zu nennen. In Deutschland sind erste Formen des Medienverbundes mit dem Aufkommen des Schulfernsehens in den späten sechziger Jahren erkennbar. Hierbei stand bei der gegenseitigen Ergänzung von Printmedien und Fernsehen noch der Bildungsaspekt im Vordergrund. Die ersten umfassenden kommerziellen Verbundsysteme entstanden in Deutschland zu Beginn der siebziger Jahre mit der TV-Vorschulserie Sesamstraße und der erfolgreichen Vermarktung von Johanna Spyris Kinderbuchklassiker Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880), der als Bilderbuch, Comic, Hörspiel, Musical und Zeichentrickfilm verfügbar war. Die kommerzielle Vermarktung von erfolgreichen Medienprodukten (Merchandising) erstreckte sich hierbei auch auf medienfremde Konsumbereiche wie Mode, Schmuck, Spielzeug, Geschirr oder Süßigkeiten (Jensen/Rogge 1980; Schmidbauer/Löhr 1985). Ausgangspunkt für die multimediale Verwertung ist seit den achtziger Jahren vorwiegend ein erfolgreicher Spielfilm oder eine Fernsehserie, die nachträglich in Buchform (TV-tie-in-novelization)

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erscheinen (z. B. Alf Der König der Löwen, Beverly Hills 90210). Ein vorherrschendes Prinzip ist dabei die Serialisierung, mit dem in allen Kindermedien gearbeitet wird und das seit der Kommerzialisierung des literarischen Marktes im 19. Jh. auch das Kinderund Jugendbuch betraf. Das Serienprinzip — ob im Kinder- und Jugendbuch oder in den AV-Medien — wird in der Kinderliteraturforschung wenig beachtet und eher negativ eingestuft. Die möglicherweise positiven Konsequenzen (Wiedererkennen von literarischen Mustern und Erzählstrukturen) wurden erstmals von Nodelman (1992) diskutiert. Die durch die Übertragung eines Mediums in ein anderes entstehenden Veränderungen der Originalvorlage ist Gegenstand neuerer Studien (Heldner/Rönnerstrand 1992; Rollin 1993; Street 1983). Der von der älteren Kinderliteraturforschung verwendete ungenaue Terminus „Adaption" wurde zugunsten der Begriffe „transmediering" (Skjonsberg 1979), „cross-mediality" oder „Intermedialität" verworfen, die den Prozeß der medialen Umsetzung und die Beachtung der jeweiligen Besonderheiten des ausgewählten Mediums mehr hervorheben und damit auch dem Umstand Rechnung tragen, daß populäre Kinder· und Jugendbücher oft gar nicht mehr im Original, sondern als Bearbeitung in anderen Medien bekannt sind. Der Aspekt der Intermedialität steht mit einem anderen Phänomen, das die moderne Kinder- und Jugendliteratur zunehmend bestimmt, in engem Zusammenhang: die Medien nehmen gegenseitig Einfluß aufeinander und nähern sich in ihren Darstellungsweisen an. Die interaktiven Medien (Videospiel, Computerspiel) greifen gerade bei den Abenteuerspielen (adventure games) auf Märchen oder Heldenepen als literarische Vorlagen zurück und übertragen dieses Genre in eine interaktive Form, indem das Erzählmuster des Märchens durch Bilder ergänzt und der kontinuierliche Erzählfluß durch Rätselaufgaben unterbrochen wird. Umgekehrt zeichnet sich das moderne Kinder- und Jugendbuch durch die Integration medialer Erzählformen aus: im Bilderbuch finden sich Elemente des Comics und des Films (Chris Van Allsburg, Raymond Briggs, Babro Lindgren, Jörg Müller), im Kinder- und Jugendbuch hat sich ein cinematographischer Stil etabliert (Robert Cormier, Bret Easton Ellis, Peter Pohl, Mats Wahl); neuerdings gibt es auch Versuche, die strukturellen und graphischen Eigentümlichkeiten interaktiver Medien in die Kinder- und

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Jugendliteratur zu integrieren (Harry Mazer). Im Gefolge dieser Entwicklung haben sich einige neue „interaktive" Kinderbuchtypen konstituiert, die als Mischformen von traditionellem Buch und interaktivem Medium anzusehen sind (Dresang 1999; Perrot 1992). Dazu gehören die Ende der siebziger Jahre entwickelten game books oder choose your own adventure books, die dem Leser die Wahl zwischen verschiedenen Handlungseinheiten und damit ein aktives Gestalten der Geschichte ermöglichen (Edward Packard: Sugarcane Island (1976), Steve Jackson/Ian Livingstone: Tìie Warlock of Firetop Mountain (1982)). Dieses Genre, das größtenteils durch die Abwandlung bekannter high fantasyStoffe bestimmt ist, hat in einem weiteren Schritt die unter Schülern und Studenten verbreitete Bewegung der „Rollenspiele" ins Leben gerufen, bei denen diese high fantasyStoffe nachgespielt und eigenständig weiterentwickelt werden. Der von der Medienpädagogik in die Diskussion eingebrachte Gedanke des spielerischen Umgangs mit den Medien (edutainment) hat zwei Buchformen hervorgebracht, bei denen der Leser zugleich mit dem Medium Computer vertraut gemacht wird. Es handelt sich zum einen um Kinderbücher mit beigefügter Diskette, mit deren Hilfe der Leser selbst in die Rolle der dargestellten Figuren schlüpfen kann (Frank Stieper: Die Jagd nach dem PC-Phantom (1995)). Zum anderen findet man living books auf CD-ROM vor, d. h. „interaktive Bilderbücher" mit bewegten Bildern, Tonkulisse und Fenstern zum Anklicken, die den Benutzer zur Veränderung und Selbstgestaltung von Geschichten anregen (Mercer Mayer: Just Grandma and Me (1995)). Angesichts des enormen Wandels der modernen Mediengesellschaft und des ständigen technischen Fortschritts (gerade im Bereich der interaktiven Medien) offenbart sich hier ein kinderliterarisches Potential, das langfristig gesehen auch Einfluß auf einen weiteren Wandel der Formen und Funktionen des modernen Kinder· und Jugendbuchs einnehmen dürfte.

6.

Ausblick

Außer den bereits bei historischen Kinderund Jugendbüchern anzutreffenden und weiterhin existierenden Funktionen der religiösen, sozialen, moralischen und geschlechtsspezifischen Erziehung, der sachlichen Belehrung, der ästhetischen Geschmacksbildung

und der Unterhaltung können folgende kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs festgehalten werden: Wissenserweiterung, Einsicht in gesellschaftliche und persönliche Verhältnisse, Hilfestellung bei der Identitätsfindung, Literaturerwerb (literarische Enkulturation) und Erleichterung des Umgangs mit den verschiedenen Kindermedien. Trotz der allgemeinen Tendenz zur Entdidaktisierung zeichnet sich auch die moderne Kinder- und Jugendliteratur durch ein Wechselverhältnis von pädagogischen und ästhetischen Prinzipien aus, wobei die pädagogischen Maximen nicht mehr explizit durch einen in den Text integrierten literarischen Erzieher, sondern nur indirekt vermittelt werden. Abschließend sollen einige Fragestellungen erwähnt werden, die zu zukünftigen Forschungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur anregen könnten: (1) In medienwissenschaftlichen Studien zur modernen Kindermedienkultur wird das Printmedium gegenüber den AV-Medien und neuen interaktiven Medien stark vernachlässigt. Außerdem liegen bisher kaum Arbeiten vor, die die komplexen Formen der Intermedialität zwischen dem Kinder- und Jugendbuch und anderen Medien untersuchen. (2) Da auch die moderne Kinder- und Jugendliteratur generell nicht als wichtiger Bestandteil der allgemeinen Literaturgeschichte eingestuft wird, ist der Aspekt der Vergleichbarkeit der Funktionen von Kinderliteratur vs. Erwachsenenliteratur bisher nur in wenigen Studien berücksichtigt worden, obwohl gerade die vielfach konstatierte Annäherung beider Literaturformen vergleichende Studien nahelegen würde. (3) Ebenso liegen keine komparatistischen Analysen vor, die die verschiedenen Funktionen mehrerer nationaler Kinderliteraturen vergleichen und ihre gegenseitige Einflußnahme untersuchen. (4) Die vielversprechende Diskussion über die mannigfaltigen Aspekte des Literaturerwerbs mittels der Kinder- und Jugendliteratur hat der Kinderliteraturwissenschaft eine neue Perspektive erschlossen und sollte Anlaß zu weiterführenden Studien sein.

7.

Literatur

Beckett, Sandra (Hrsg.), Transcending Boundaries. Writing for a Dual Audience of Children and Adults. New York/London 1999.

144. Kommunikative und ästhetische Funktionen des modernen Kinder- und Jugendbuchs

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von Compar(a)ison 11/1995. Hrsg. v. Bettina Kümmerling-Meibauer. Bern 1996, 5 — 18.

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145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart 1.

4. 5.

Einleitung: Das Sachbuch als Bildungsangebot auf dem modernen Buchmarkt Die Stellung des Sachbuchs in der Fachkommunikation Das Sachbuch als Fachtextsorte (Genre) der Popularisierung von Fachwissen Ausblick Literatur

1.

Einleitung

2. 3.

Sachbücher sind die dominierende Erzeugnisgruppe auf dem gegenwärtigen Buchmarkt und haben in der Regel einen größeren Absatz als Publikationen der spezialisierten Fachliteratur. Auch im internationalen Maßstab erfreut sich das Sachbuch wachsender Beliebtheit und eines regen Leseinteresses, ungeachtet der Tatsache, daß im Englischen und im Französischen für diese Textsorte des populärwissenschaftlichen Schrifttums keine eindeutigen (terminologischen) Bezeichnungen vorhanden sind. Im Englischen existiert als Umschreibung 'specialised nonfiction book', im Französischen besteht Nulläquivalenz. Das Sachbuch ist ein lohnender Untersuchungsgegenstand für die Journalistik-/Medienwissenschaft, die Fachsprachenlinguistik, die Stilistik und die Literaturwissenschaft. In der Fachsprachenlinguistik ist das Sachbuch noch kaum untersucht worden. Das erklärt sich aus seiner nicht eindeutig bestimmbaren Stellung zwischen Fachliteratur, Belletristik und Publizistik. Im Buchhandel und im Bibliothekswesen gilt das Sachbuch als Textsorte der Gebrauchs- und Sachliteratur. Es ist auf die Bedürfnisse breiter Leserschichten abgestimmt und erreicht Massenauflagen, wenn es durch den Gegenstand, die Darstellungs-

weise und die typographische sowie bildkünstlerische Ausstattung hohen Qualitätskriterien entspricht. Der Leser greift gewöhnlich freiwillig zum Sachbuch. Er ist in der Regel nicht durch berufliche Anforderungen der Ausbildung oder der Fortbildung am Arbeitsplatz dazu veranlaßt. Diese Anforderung erfüllt das Fachbuch — eine übergreifende buchhändlerische Bezeichnung für die Spezialliteratur der Fachleute, repräsentiert durch Textsorten wie Monographie, thematischer Sammelband (Konferenzbericht, Festschrift), enzyklopädisches Nachschlagewerk, Lexikon usw.

2.

Die Stellung des Sachbuches in der Fachkommunikation

Das Sachbuch ist eine populärwissenschaftliche Veröffentlichung der fachexternen Kommunikation, d.h. der Kommunikation zwischen Fach- und Nichtfachleuten. Seine Funktion besteht darin, den interessierten Laien in kompetenter, allgemeinbildender und allgemeinverständlicher Weise in ein Fachgebiet einzuführen, dessen Entwicklung an relevanten Themen oder Zeitabschnitten nachzuzeichnen und Impulse zur selbständigen Beschäftigung mit der betreffenden Thematik zu geben. Die ästhetische Funktion des Sachbuches besteht darin, durch besondere schriftstellerische Qulitäten der Darstellung, die sich von denen der üblichen Fachliteratur unterscheiden, sowie durch bildkünstlerische Vorzüge der Illustrationen, die über die reine nichtverbale Informationsvermittlung hinausgehen, einen ständigen Leseanreiz zu bieten, das fachliche Interesse des Rezipienten wachzuhalten, Genuß, Entspannung zu bereiten und letztlich ein Bildungserlebnis zu

145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart

vermitteln. Sachbücher sind in diesem Sinne polyfunktional: Sie sollen Bildungsbedürfnisse unterschiedlicher Leserschichten, die nach Alter, Bildungsvoraussetzungen und Leseinteressen nur schwer bestimmbar sind, befriedigen und damit zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse beitragen und — darüber hinaus — Freizeitbedürfnisse einer anspruchsvollen Unterhaltung in Form einer anregenden Lektüre erfüllen. Als Publikationen der fachexternen Kommunikation sind Sachbücher zwar nicht didaktisiert, doch verwenden ihre Autoren häufig solche kommunikativen und textbezogenen Strategien, die für die didaktisierte Fachliteratur (Lehrbücher, Lehrbriefe, Skripten) kennzeichnend sind. Dazu gehören metakommunikative Äußerungen, der implizite Dialog mit dem Adressaten, umgangssprachliche Elemente (darunter Phraseologismen und kontrahierte Verbformen, Abtönungspartikeln und konnotierte Lexik) sowie andere Stilmittel, die der Auflockerung dienen. 2.1. Die Adressaten Einerseits sind die Rezipienten von Sachbüchern hinsichtlich ihres Alters und Geschlechts, ihrer Bildungsvoraussetzungen und Interessenlage schwer kalkulierbar, andererseits versuchen gerade Marktforscher, Verlagsleiter und versierte Wissenschaftsjournalisten, eine Marktlücke für ein Fachthema von Allgemeininteresse zu entdecken und diese im Sinne eines Auftragswerks zu schließen. So können Sachbücher auch für eine bestimmte Lesergruppe konzipiert und verfaßt werden: etwa als Kinder- oder Jugendlexikon, als anleitendes Sachbuch für Freizeitinteressen der Frauen oder auch als Bildungsund Reiseangebot für Senioren. Die einschlägige Praxis und adressatenbezogene Herstellung eines Sachbuchs hat U. Pörksen (1986, 184) wie folgt eingeschätzt: „Sachbücher werden vielfach auf der Grundlage internationaler Kooperation hergestellt - Bildmaterial wird ausgetauscht, Werke werden als Ganzes adaptiert, um Lokalkolorit und Vorurteilsstrukturen des Herkunftslandes beschnitten und um die des Ankunftslandes bereichert, oder sie werden von vornherein auf ihre internationale Verwertbarkeit, u. U. mehrsprachig konzipiert. Das klassische Beispiel, ein Autor schreibt das Buch, trifft nicht mehr zu. In 90 bis 100 Prozent der Fälle konzipiert der Verlag das Buch, entwikkeln Redakteur oder Lektor und Produktionsleiter, Marktforscher und Vertrieb in rivalisierender Zusammenarbeit das intellektuelle und technische Modell. Ehe Autoren engagiert werden bzw. unab-

1595

hängig von ihnen, liegt das meiste fest: vom Titel über die Kapiteleinteilung und den Bildanteil bis zur Seitenzahl der Kapitel. Die Herstellung ist extrem arbeitsteilig. Die Entwicklung eines Buches dauert drei bis fünf Jahre, seine durchschnittliche Lebensdauer beträgt ebenfalls drei Jahre."

Die Feststellung Pörksens mag für dokumentarische, anleitende und enzyklopädische Sachbücher, die einen beträchtlichen Bildteil beanspruchen, zutreffen, für narrative Sachbücher, wo das schriftstellerische Einfühlungsvermögen des Sachbuchautors als Individuum voll zur Entfaltung kommt, dürfte sie hingegen kaum gelten. 2.2. Die Autoren Die Person des Sachbuchautors und seine Arbeitsweise haben bereits mehrfach im Blickpunkt der Stilistik (Hickethier 1976; Pforte 1976) und Fachsprachenlinguistik (Pörksen 1986; Gläser 1990) gestanden, so daß für die Textsorte Sachbuch bereits linguistische und kommunikative Qualitätskriterien feststehen. Der Sachbuchautor muß in erster Linie in der Fachmaterie gut bewandert sein — entweder als Fachexperte oder als sehr versierter Wissenschaftsjournalist. Die popularisierende Sachdarstellung erfordert jedoch ein 'Umdenken', eine 'Transformation', 'Metamorphose' oder auch einen 'Übersetzungsvorgang' des Fachwissens und letztlich Fachdenkens, das dem Experten eigen ist, für den Nicht-Fachmann, dem der Einstieg in eine ihm unbekannte, aber attraktive fachliche Materie erleichtert werden muß. Diese spezifische Umsetzung von Fachinformation verlangt von dem Sachbuchautor eine durchdachte Darstellungsform, die folgende Merkmale aufweist: — Auflockerung der Terminusdichte — Ersetzen von Termini durch allgemeinsprachliche Bezeichnungen (oder Paraphrasen), wo unbedingt erforderlich — förderliche Redundanz durch Begriffserklärungen — Analogiebeispiele aus der Erfahrungswelt des Lesers als Einstieg in eine theoretische Erörterung (Nutzung des Alltagswissens mit Hilfe der Inferenz) — Thematisierung von Hintergrundwissen, das dem Fachmann selbstverständlich ist, aber dem Laien wesentliche Zusammenhänge erschließt — Vereinfachung komplizierter Sachzusammenhänge — allgemeinverständliche Schreibweise durch Vermeidung von Ketten komplexer Sätze

1596 -

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Rezeptionsanreiz für den Leser durch publizistische Mittel (Aufhänger, Mottos; Episoden- und Anekdotenhaftes; Exkurse/ 'Digressionen' in andere Wissensgebiete.

Als Sprachhandlungstyp herrscht im Sachbuch das sachbetonte Informieren (Beschreiben, Feststellen, Vergleichen, Verallgemeinern usw.) vor; das Berichten wird wirksam ergänzt durch das erlebnisbetonte Schildern, das der Sachbuchautor häufig wählt, um den Leser gewissermaßen als Augenzeugen in die beschriebene Entdeckung oder Erkundung mit einzubeziehen. Somit steht der Sachbuchautor als Vermittler zwischen Fachliteratur und Publizistik und verbindet unterschiedliche wissenschaftliche (oder auch technische) Fächer mit Hilfe seiner gediegenen Allgemeinbildung und seines entweder im Ausbildungsgang erworbenen oder als Autodidakt selbständig angeeigneten Fachwissens. Diese Vermittlungsfunktion hat der Germanist D. Pforte (1976, 145) treffend charakterisiert, indem er den Sachbuchautor als „Fachmann für das Nicht- Fachmännische" bezeichnet: „Der Sachbuch(text)-Autor wird sich nicht damit begnügen dürfen, den wissenschaftlichen Sachverhalt, den es zu vermitteln gilt, selber zu verstehen und „Gefühl für die Anschauungen, Positionen und Bewertungsmaßstäbe seiner Leser" zu entwickeln; er wird vielmehr ebensosehr Gefühl für die Anschauungen, Positionen und Bewertungsmaßstäbe der Wissenschaftler entwickeln müssen, deren Erkenntnis er vermittelt. Denn nur dann wird er im Vermittlungsprozeß nicht bloß auf diesem Gebiet Unkundigen, sondern auch dem dort Kundigen — im Grenzfall dem Wissenschaftler selbst — zu den neuen Erkenntnissen verhelfen können."

R. Geier, H. Huth und U. Wittich (1982, 18) haben in ihrem Berufsbild eines populärwissenschaftlichen Schriftstellers besonderen Nachdruck auf die sprachgestalterischen Fähigkeiten gelegt: „Sein Beruf besteht gerade darin, nach gründlichen fachlichen Studien populärwissenschaftliche Bücher zu schreiben, oft zu Themen, die einzelne Wissenschaftsgebiete überschreiten. Er verfügt über schriftstellerische Begabung, d.h., er vermag mit der Sprache in besonderem Maße schöpferisch und variantenreich umzugehen, gelungene sprachliche Bilder zu finden und literarische Verfahren wirkungsvoll einzusetzen. Seine sprachlichen Fähigkeiten sind nicht mit denen von Fachwissenschaftlern zu vergleichen und können für diese nicht als Maßstab gelten."

Im Unterschied zum Fachwissenschaftler greift der Sachbuchautor aber nicht in die laufende Fachdiskussion in Form kritischer

Äußerungen oder einer gezielten Polemik ein; vielmehr betrachtet er diese Vorgänge häufig aus der Distanz oder retrospektiv. Als Wissenschaftsjournalist beruft er sich auf das gesicherte Wissen (das Paradigma) der Fachleute. Mit Vorliebe behandelt er aber solche Probleme aus Wissenschaft und Technik, die den Anschein des Geheimnisvollen und Gefährlichen haben, darunter ungelöste Rätsel aus Natur und Kosmos (wie außerirdische Lebensformen und Zivilisationen), ohne daß damit aber die Grenze zur Science Fiction überschritten wird. Die wissenschaftliche Phantasie des Sachbuchautors, die auf Sachzusammenhänge und die Vorstellungswelt des Rezipienten gerichtet ist, aber in der Regel nicht ins Spekulative und Phantastische abgleitet, findet ihre wirkungsvolle Ergänzung in der künstlerischen Phantasie des Buchillustrators, der die visuellen Mittel nicht nur als Informationsträger zur Komplettierung der Sachdarstellung einsetzt, sondern sie gerade nach ästhetischen Prinzipien wählt und mit den typographischen Gestaltungsmitteln abstimmt. Im Idealfalle sind die Sachbuchautoren in Personalunion Fachwissenschaftler und Popularisatoren. Sehr häufig sind sie Wissenschaftsjournalisten, die sich gründlich in eine Fachmaterie eingearbeitet haben und als Publizisten über das erforderliche Maß an schriftstellerischen Fähigkeiten verfügen. Als Prototyp für das Sachbuch eines Wissenschaftsjournalisten kann der Bestseller 'Götter, Gräber und Gelehrte' mit dem Untertitel 'Roman der Archäologie' von C. W. Ceram (Pseudonym für Kurt W. Marek) gelten, der 1949 erschien, in 16 Sprachen übersetzt und außerdem verfilmt wurde. Dieses Sachbuch erwarb sich die Anerkennung der Fachwelt, weil es auf genauen Recherchen im Zusammenhang mit Heinrich Schliemanns Ausgrabungen von Troja und Mykenä beruht. Ceram beschreibt in fesselnder Weise die Entdeckung der Pharaonengräber und die Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion und zum Schluß die Entdeckung der Städte der Inkas und Azteken. Der Lebensweg C. W. Cerams (1915 — 1972) kann ebenfalls als charakteristisch für einen Wissenschaftsjournalisten und Autodidakten gelten. Nach seiner Lehre als Buchhändler erwarb er sich sein archäologisches und journalistisches Wissen als Gasthörer an der Universität Berlin, war freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften bei Ullstein und später - nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft — Feuille-

145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart

tonredakteur und Cheflektor bei verschiedenen Verlagen und Redaktionen. Er gewann einen umfangreichen Überblick über die Wiederentdeckung der Antike durch sein Studium der in den Beständen der Großherzoglichen Bibliothek von Oldenburg vorhandenen Forschungsliteratur des 19. und 20. Jhs. Außerdem bereiste er die Schauplätze seiner archäologischen Darstellungen in Griechenland und Ägypten. Der Schweizer Sachbuchautor Erich von Däniken (geb. 1935) erreichte als Wissenschaftsjournalist mit seinem Erstlingswerk 'Erinnerungen an die Zukunft' (1968) einen sensationellen Durchbruch. Seine „phantastische Hypothese", nach der die in verschiedenen Mythen und Religionen der Erde vorkommenden Götter mit ihren Himmelswagen Raumfahrer gewesen sein könnten, die von anderen Himmelskörpern auf die Erde gelangt und wieder entschwunden wären, nicht ohne bleibende Spuren zu hinterlassen, wurde von der Fachwelt kontrovers beurteilt. Auch Däniken recherchiert entlegene Quellen, kann sich in Spezialfragen auf Experten berufen, reist in alle Erdteile und erfreut sich einer grossen Gemeinde seiner „Stammleser". Sein erstes Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und ebenfalls verfilmt. In einem seiner späteren Bücher, 'Der Götter Schock' (1992, 86), bezeichnet sich Däniken selbst als „Tramp zwischen den Wissenschaften". In seinen jüngsten Veröffentlichungen bedient sich Däniken jedoch zunehmend einer saloppen Ausdrucksweise, rückt die Selbstdarstellung in den Vordergrund und zielt auf sensationelle Effekte ab, was die Seriosität seiner Hypothese und die beabsichtigte Beweisführung beeinträchtigt und die schriftstellerischen Qualitäten seiner Sachbücher schmälert. Stellvertretend für diejenigen Fachwissenschaftler, die in Personalunion auch als Sachbuchautoren in Erscheinung getreten sind, sollen der Chemiker Friedrich Cramer, der Archäologe Eberhard Paul, der Sprachwissenschaftler David Crystal, der Sprach- und Kulturwissenschaftler Magnus Magnusson und der Kulturwissenschaftler Mark Girouard genannt werden. Ihre Sachbücher erfüllen einen hohen schriftstellerischen Anspruch. Der deutsche Chemiker Friedrich Cramer (geb. 1923) behandelt in seinem Buch 'Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen' (1988) Übergänge von der anorganischen zur organischen Materie und verwendet zur Illustration der dargestellten Ordnungs- und Harmonieprinzipien auch Texte

1597

der deutschen Nationalliteratur und fingierte Dialogtexte zwischen Naturwissenschaftlern, Philosophen, Dichtern und literarischen Kunstfiguren. Diese Verbindung von streng naturwissenschaftlicher, wenn auch populärwissenschaftlicher, Darstellungsweise und belletristischer Literatur verleiht diesem Sachbuch einen eigentümlichen Reiz. Friedrich Cramer war lange Zeit Professor für Organische Chemie an der TH Darmstadt, seit 1962 Direktor im Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen, daneben Honorarprofessor an den Universitäten Braunschweig und Göttingen. Er ist als Fachautor zahlreicher Publikationen auf dem Gebiet der Chemie, Biochemie, Medizin und interdisziplinärer Forschungen bekannt. Der Leipziger Archäologe Eberhard Paul (geb. 1932) legt in seinem Sachbuch 'Die falsche Göttin' (1962) eine 'Geschichte der Antikenfälschung' vor — eine von seiner Habilitationsschrift abgeleitete Thematik. Als Experte der antiken Archäologie und der Kunstgeschichte hat E. Paul Monographien, Bildbände über das alte Rom und Abhandlungen über die Leipziger Antikensammlungen veröffentlicht. Sein Frühwerk der Popularisierung, 'Die falsche Göttin', zeichnet sich durch eine starke Einbeziehung des Lesers in die Aufdeckung der Kunstfälschungen und durch einen geschliffenen, oft die Grenze der Ironie überschreitenden Stil aus. Als Sachbuchautor hat sich auch der englische Sprachwissenschaftler David Crystal (geb. 1941) einen Namen gemacht. Er arbeitete am London University College, an der Universität Reading sowie an der Universität Bangor, The University College of North Wales. Seine Arbeitsgebiete reichen von der englischen Phonetik und Phonologie über die Stilistik und Grammatik bis hin zur Psycholinguistik. David Crystal hat mehrere linguistische Nachschlagewerke verfaßt. Sein enzyklopädisches Sachbuch 'The Cambridge Encyclopedia of Language' (1988) hat in Großbritannien bereits mehrere Auflagen erreicht und ist ins Deutsche übersetzt worden. Es ist ein modulartig aufgebautes, anregend geschriebenes und reich illustriertes Einführungs- und Nachschlagewerk mit einem hohen Bildungswert. Bekannt geworden ist der englische Nordist und Archäologe Magnus Magnusson, von Hause aus Isländer, durch sein Wirken als Universitätsprofessor der Nordistik und Archäologie an der Universität Edinburgh, wo er zeitweise auch das Rektoramt bekleidete, durch seine akademischen Arbeiten zur

1598

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

nordischen Philologie und Geschichte, aber auch durch seine Fernsehserien zur Kulturgeschichte der Vikinger im skandinavischen Raum und vor allem in England und auf dem europäischen Kontinent. Sein Sachbuch 'Vikings!' (1980) wurde von der British Broadcasting Corporation veröffentlicht. Es ist eine gelungene Verbindung zwischen historischem Bericht anhand chronistischer Quellen, archäologischer Fundierung und altnordischer Literatur, aus der treffende Zitate angeführt werden. Der Verfasser des kultur- und architekturgeschichtlichen Sachbuchs 'Life in the English Country House. A Social and Architectural History' (1978), Mark Girouard, gilt als einer der führenden Vertreter der Architekturgeschichte in Großbritannien. Neben seiner Tätigkeit als Slade Professor of Art an der Universität Oxford hat er jahrelang als Mitherausgeber der Fachzeitschrift 'Architectural Review' gewirkt und ist Mitglied wissenschaftlicher Gesellschaften. Die hier nur exemplarisch genannten deutschen und englischen Sachbuchautoren als Wissenschaftsjournalisten und Fachwissenschaftler haben in ihren Darstellungsprinzipien zur Vermittlung von Fachwissen durchaus Gemeinsamkeiten, aus denen Verallgemeinerungen über die kommunikative und ästhetische Funktion, die Fachlichkeit und die rhetorischen und stilistischen Merkmale der Textsorte Sachbuch innerhalb der populärwissenschaftlichen Literatur abgeleitet werden können. 2.3. Die Fachgebiete Auf dem gegenwärtigen Buchmarkt sind Sachbücher auf nahezu allen Wissensgebieten vertreten: in der Medizin, in den Natur-, Technik-, Sozial- und Geisteswissenschaften ebenso wie in vielen praktischen Lebensbereichen wie Gartenbau, Haustierhaltung, Kunsthandwerk und Handarbeiten, Blumenbinden und Heimwerkerarbeiten, Laienspiel und Hausmusik, Wandern und Reisen, Darstellung von Lebensbildern berühmter Dichter, Künstler, Wissenschaftler und Politiker in ihrer Zeit u. a. m. In Anbetracht der thematischen Spannweite variieren die ästhetische Funktion und die schriftstellerischen Qualitäten der Sachbücher: Sie reichen vom erregenden Tatsachen-'Roman', der einen bestimmten Zeitabschnitt aus der Geschichte einer Fachdisziplin (Archäologie, Architektur, Kunstgeschichte, Raumfahrt, Polarforschung und Meereskun-

de) behandelt, bis zu einer stark faktenbezogenen, aber gut lesbaren und eingängigen Abhandlung über Pflanzen und Tiere mit praktischen Hinweisen zu ihrer Züchtung und Pflege. Die in den Sachbüchern behandelten Fachgebiete sind selten streng voneinander abgegrenzt; vielmehr vermittelt der Sachbuchautor durch seine hohe Fach- und Allgemeinbildung zwischen den Fächern und häufig auch zwischen den Künsten und Literaturen. Die Abschweifungen bzw. 'Digressionen' in andere Wissensgebiete erhöhen gerade die Attraktivität des Sachbuchs für den nicht spezialisierten Leser. Es ist aber nicht die Aufgabe des Sachbuchautors, in systematischer Weise Arbeitsprinzipien interdisziplinärer Forschung vorzuführen.

3.

Das Sachbuch als Fachtextsorte (Genre) der Popularisierung von Fachwissen

Eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen dem Sachbuch und einer für den Fachmann bestimmten Veröffentlichung ist die Verwendung eines wissenschaftlichen Apparats, unabhängig davon, ob der Sachbuchautor Fachwissenschaftler oder Wissenschaftsjournalist ist. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehören: — die Verwendung des Fachwortschatzes, speziell der Terminologie, und Definitionen oder zumindest eingängige Begriffserklärungen; einige Sachbuchautoren (ζ. B. Crystal) bieten im Anhang ein Glossar ('Glossary') zu Fachbegriffen an; E. Paul versieht die einzelnen Kapitel seitenweise mit 'Erläuterungen' zu Eigennamen, Fremdwörtern und Fachbegriffen im Sinne von Definitionen — Anmerkungen bzw. Fußnoten am Ende eines Kapitels oder am Schluß des Buches ('Notes to the Text') — Bildnachweis (Quellenangaben zu Illustrationen, oft verbunden mit einer Danksagung, 'Acknowledgements') — systematische Zeittafeln (C. W. Ceram) — Personen- und Sachregister ('Index', 'Register') — Literaturverzeichnis ('Bibliography'; 'Books for Further Reading'). Im Unterschied zu Zitaten aus der Literatur des jeweiligen Fachgebiets werden Zitate aus der Belletristik, aus Reden von Politikern

145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart

oder Schriften von Philosophen, die Sachbuchschriftsteller mit Vorliebe als Mottos zu Hauptkapiteln verwenden, wie auch in die Argumentation eingearbeitete vollständige Gedichte oder Prosastücke nicht mit einem Quellennachweis versehen. Ihre Kenntnis wird offenbar als Bildungsgut des Allgemeinwissens auf Seiten des Rezipienten vorausgesetzt. Diese schriftstellerischen Anleihen des Sachbuchautors liegen auf einer anderen Ebene der Intertextualität als die für die faktologische Darstellung oder die Argumentation benötigten fachinternen Informationsquellen einschlägiger Werke und ausgewiesener Experten. Fachexterne „Fremdtexte" sind gerade ein Merkmal für die Exkurse bzw. Digressionen des Sachbuchautors in andere Wissensgebiete. 3.1. Arten von Sachbüchern Je nach Anteil der schriftstellerischen Komponente, dem Umfang dokumentarischen Bildmaterials und dem Grad bildkünstlerischer und typographischer Gestaltung kann man verschiedene Arten von Sachbüchern, somit Textsortenvarianten der Fachtextsorte (Genre) Sachbuch, unterscheiden: a) Narrative Sachbücher der Sachbuchautor schildert Ereignisse und Vorgänge aus der Wissenschaftsgeschichte; U. Pörksen verwendet dafür den Ausdruck „erzählerisches Sachbuch" (1986, 183) b) Dokumentarische Sachbücher Bildbände über Städte, Landschaften oder Länder; Museumsführer; kommentierte Kataloge über Ausstellungen; der Sachbuchautor beschreibt in einer sachlich korrekten, anschaulichen und anregenden Weise die Besonderheiten der Lokalitäten und wirbt für sie auf indirekte Weise c) Biographische Sachbücher Bildberichte über das Leben von Politikern, Forschern, Entdeckern, Seefahrern, Dichtern, Künstlern, Komponisten u.a. vor dem Hintergrund ihrer Zeit; biographische Daten werden in einen größeren chronistischen Zusammenhang gestellt; Selbst- und Fremdzeugnisse der betreffenden Persönlichkeiten werden in das Lebens- und Zeitbild durch den Sachbuchautor eingearbeitet d) Anleitende Sachbücher U. Pörksen bezeichnet diese Gruppe als „Ratgeberbücher"; es handelt sich um Überblicksdarstellungen bestimmter Freizeitbe-

1599

schäftigungen und praktische Anleitungen, z. B. Garten, Aquarien, Herbarien, Kakteenzucht; Modelleisenbahn, Modellbau; Segelfliegen; Wandern und Touristik; historische Möbel; Kunsthandwerk; Blumenbinden; Handarbeiten usw. e) Enzyklopädische Sachbücher der Sachbuchautor verarbeitet eine Fülle von Fachwissen, indem er die strenge Fachsystematik durch eine modulartige Darstellungsweise auflockert und dem Rezipienten interessante räumliche und zeitliche Exkurse anbietet (ein treffendes Beispiel liefert D. Crystal 1988). 3.2. Stilmerkmale des Sachbuchs 3.2.1. Titelwahl Der Verkaufserfolg eines Sachbuchs hängt in nicht geringem Maße von einem treffenden, auffälligen und einprägsamen Titel ab. Das gilt insbesondere für narrative Sachbücher. Jeder Buchtitel — ähnlich wie die Überschrift eines Artikels oder eines Buchkapitels — muß in knappster Form den Inhalt des Folgetextes signalisieren und paraphrasieren. Sachbücher verwenden daher in der Regel deskriptive Titel. Assoziative (metaphorische) Titel bilden die Ausnahme; sie sind eher als Überschriften für Einzelkapitel anzutreffen. Eine gewisse Rolle bei der Titelwahl spielen phonostilistische (euphonische, rhythmische) und damit ästhetische Gesichtspunkte. Die Alliteration hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion in Haupt- und Untertiteln, vgl. 'Götter, Gräber und Gelehrte. Roman der Archäologie' (C. W. Ceram); 'Seeungeheuer. Fabeln und Fakten' (P. W. Lange). Der Buchtitel kann auch als Antithese oder als Paradoxon formuliert sein, vgl. 'Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen' (F. Cramer); 'Erinnerungen an die Zukunft' (E. von Däniken). Narrative Sachbücher tragen nicht selten Titel, die ein Signalwort für das mit der Lektüre verbundene Erkunden und Entdecken einschließen, vgl. 'Abenteuer Sprache. Ein Streifzug durch die Sprachen der Erde' (H. J. Störig); 'Spuren des Prometheus. Der Aufstieg der Menschheit zwischen Naturgeschichte und Weltgeschichte' (J. Herrmann); 'Die falsche Göttin. Geschichte der Antikenfälschung' (E. Paul). 3.2.2. Mottos Die Verfasser narrativer Sachbücher verwenden häufig Mottos, die sie einem Hauptteil des Buches oder sogar jedem Einzelkapitel

1600

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

voranstellen. Das Motto dient als Aufhänger, Einstieg oder Argumentationsgrundlage für den Folgetext. Es ist gewöhnlich ein Zitat aus der Belletristik, der Philosophie, der Forschungsliteratur oder aus den Memoiren eines Staatsmannes, Seefahrers oder Entdekkungsreisenden. So wählt C. W. Ceram in seinem Erstlingsroman ein Schiller-Zitat als Motto für 'Das Buch der Statuen', einen Ausspruch von Napoleon, einen altägyptischen Spruch und die Inschrift auf dem Sarg des Königs Tut-ench-Amun für 'Das Buch der Pyramiden'. Ein längerer Text, betitelt 'Rede des Scheichs Abd-er-Rahman an den englischen Archäologen Layard', leitet 'Das Buch der Türme' ein, und ein Selbstzeugnis von 'John L. Stephens im Anblick seiner ersten Entdeckung' bildet den Vorspann für 'Das Buch der Treppen'. Erich von Däniken verwendet in seinen Büchern gleichfalls Mottos; mitunter schließt er längere Kapitel durch ein Zitat aus der Belletristik oder politischen Publizistik ab. Hier finden sich Zitate von Peter Bamm, Curt Goetz, Victor Hugo, Blaise Pascal, Albert Einstein und Winston Churchill, wobei zu jeder Person die Lebensdaten angegeben werden. Als Mottos für die Kapiteleinleitungen in seinem Buch 'Seeungeheuer' nutzt P. W. Lange Aussprüche von Naturwissenschaftlern und Forschungsreisenden verschiedener Länder, von Philosophen, Enzyklopädisten und Romanschriftstellern. Diejenigen Sachbuchautoren, die ohnehin belletristische Texte in ihre Darstellung einbeziehen (F. Cramer, M. Magnusson) und die Verfasser dokumentarischer und enzyklopädischer Sachbücher (H. J. Störig, M. Girouard, D. Crystal) verzichten dagegen auf Mottos. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das Motto ein fakultatives Strukturelement des Sachbuches ist und wichtige Aufschlüsse über die im Sachbuch mögliche Mischung von Textsorten und die Intertextualität im weiteren Sinne bietet. 3.2.3. Die Verwendung des Fachwortschatzes Der Fachwortschatz ist ein konstitutives Merkmal des Sachbuchs. Er wird maßvoll, aber stets gegenstandsgemäß und zweckentsprechend verwendet. Er ist auch ein Nachweis der Fachkompetenz des Sachbuchautors. Vage Umschreibungen oder allgemeinsprachliche Ersetzungen von Termini würden den wissenschaftlichen Anspruch des Sachbuchs - trotz Popularisierung von

Fachwissen — und die Seriosität seines Verfassers herabsetzen. Wenn auch die Terminusdichte im Vergleich zu einem wissenschaftlichen Text deutlich geringer ist, so haben doch Termini und Nomenklaturzeichen als Fachwörter eine notwendige Benennungsfunktion; sie werden in der Regel auch definiert oder zumindest hinreichend erklärt. Einzelne Autoren beschließen ihre Darstellung mit einem Glossar zu den verwendeten Termini. Selbst in Gartenbüchern für den Züchter und Liebhaber findet man durchgehend die lateinische botanische Nomenklatur neben den alltags sprachlichen (Trivial)namen. M. Magnusson gebraucht Sachbezeichnungen für Typen von Wikingerschiffen (skin-boat, dug-out canoe, plank-built vessel, ocean-going landing-craft, longship, knörr, dinghy), spezielle Termini der Land- und Meeresarchäologie und zahlreiche historiographische Termini (paganism, Bronze Age, Viking Age, the cult of Odin). Bei M. Girouard finden sich Termini für Anlagen und Gebäude englischer Herrensitze (country house, manor house, château, hunting lodge, Palladian mansion), für Gebäudeteile (bachelor's wing, living hall, conservatory, larder, scullery) sowie für Bauelemente (hipped roof balustraded parapet, battlement, gable). Bei der Beschreibung der Meeresfauna bevorzugt P. W. Lange den zoologischen Wortschatz mit der lateinischen Nomenklatur von Linné, ζ. Β. Netzpython (Python reticulatus), Schwarznatter (Coluber constrictor), Walhai (Rhincodon typicus), Riesenhai (Cetorhinus maximus) usw. Bei E. Paul finden sich kunsthistorische Erklärungen wie „Herme — menschlicher Oberkörper ohne Arme"; „die Agis — das schreckenerregende Haupt der Gorgo"; „Metope — skulpierte Platte am Gebälk des griechischen Tempels". D. Crystal vermerkt bei jedem in seinem Glossar angeführten Begriff zusätzlich das Sachgebiet, z. B. „ablaut (hist) A + vowel that gives a word a new grammatical function (drink -> drank); also, gradation"; „onomastics (sem) The study of the + etymology and use of + proper names"; „participle (gram) A word derived from a + verb and used as an + adjective (a smiling face)". Verweiswörter werden hier mit dem Symbol + gekennzeichnet. 3.2.4. Der implizite Dialog zwischen Autor und Leser Ein wichtiges Gestaltungsmittel in der populärwissenschaftlichen Literatur und insbesondere der Textsorte Sachbuch ist der implizite

145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart

Dialog zwischen Autor und Adressat. Bereits in der Planungs- und Formulierungsphase, aber spätestens in der Kontrollphase der Textproduktion gewinnt dieses Gestaltungsprinzip, das die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel zur Folge hat, an Bedeutung. Der implizite Dialog beruht auf der gedanklichen Vorwegnahme des Rezipienten durch den Textautor, indem sich dieser bei der Konzipierung wie bei der Abfassung des (Fach-) textes in die Erfahrungs- und Vorstellungswelt des Rezipienten hineinversetzt und auf ein leichteres Verständnis des übermittelten Fachwissens bedacht ist. Sprachliche Indikatoren des impliziten Dialogs sind: (1) Frage-Antwort-Sequenzen, mit denen der Sachbuchautor eine Kernfrage, die den Rezipienten als Nichtfachmann bewegt, zunächst als rhetorische Frage thematisiert und oft auch als Zwischenüberschrift wählt, worauf im Folgeabschnitt eine erklärende Antwort, die auch weiterführende Fragen aufwerfen kann, gegeben wird; (2) Direkte Anrede des Adressaten (you, Sie) und die Verwendung des verallgemeinernden bzw. einschließenden Pronomens (generalizing vs. inclusive) we bzw. wir, wodurch der Leser in die Diskussion unmittelbar einbezogen wird; (3) Performative Verben und Einleitungsfloskeln, die als Impuls für die Einbeziehung des Adressaten in ein Gedankenexperiment verwendet werden, ζ. B. imagine, suggest, let's assume, nehmen wir an, stellen Sie sich vor, (4) Metakommunikative Äußerungen als partnergerichtete Strategien der Gesprächsführung, mit deren Hilfe der Autor durch die Thematisierung bestimmter Gegebenheiten bei der Textentfaltung das adäquate Verständnis seiner Intention auf Seiten des Rezipienten gewährleisten möchte; ζ. B. Begründung oder Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes bei der Themenangabe; Zwischenzusammenfassungen und Ankündigungen eines neuen Teilthemas; Vor- und Rückverweise im Text; Definition oder Umschreibung von Fachbegriffen; Relativierung schlußfolgernder und verallgemeinernder Aussagen und Möglichkeiten der Selbstkorrektur am Schluß eines ganzen Kapitels; (5) Heckenausdrücke (hedges) als Modalitätsausdrücke, mit denen die Bestimmtheit oder auch die autoritäre Formulierung der eigenen Aussage abgeschwächt werden k a n n (durch Modalverben, Modaladverbien, unpersönliche Konstruktionen); Nuancenwörter bei Zeit-, Mengen- und Gewichtsangaben; Aus-

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druck des persönlichen Zweifels (I believe, to our knowledge·, allem Anschein nach)·, emotional geladene Ausdrücke der Emphase (of particular importance, extremely difficult)·, episte mische performative Verben (assume, believe, indicate, propose); (6) Expliziter fiktiver Dialog zwischen einem vom Sachbuchautor angenommenen Fragesteller (als Laien) und einem Fachmann (als Auskunftsperson) - oder auch als fiktiver Dialog über ein Fachproblem zwischen historischen Persönlichkeiten oder literarischen Figuren; (7) Anknüpfen an einen alltäglichen Sachverhalt oder an die Allgemeinbildung des Rezipienten (shared knowledge), wobei durch Inferenz ein Einstieg in die prinzipielle Erörterung eines Fachproblems gewonnen werden kann. Der implizite Dialog als Interaktion zwischen Autor und Leser ist in den einzelnen Sachbüchern unterschiedlich ausgeprägt, aber stets latent vorhanden. Dabei äußern sich einige Autoren wie z. B. C. W. Ceram und E. von Däniken in der Ich-Form. So gibt Ceram im Einleitungskapitel seines Buches 'Götter, Gräber und Gelehrte', betitelt 'Wovon die Rede ist' (S. 13f.), dem Leser eine konkrete Empfehlung: „Ich rate dem Leser, das Buch nicht auf der ersten Seite zu beginnen. Ich tue das deshalb, weil ich weiß, wie wenig überzeugteste Versicherung des Autors verfängt, daß er einen außerordentlich interessanten Stoff vorzutragen habe, wie wenig besonders dann, wenn der Titel einen Roman der Archäologie verspricht, der Altertumskunde, von der jedermann überzeugt ist, daß sie eine der trockensten und langweiligsten Wissenschaften sei. Ich empfehle, auf S. 105 anzufangen und das Kapitel über Ägypten, das „Buch der Pyramiden", zuerst zu lesen. Dann habe ich die Hoffnung, daß auch der mißtrauischste Leser unserem Thema wohlwollender gegen übertritt und sich entschließt, gewisse Voreingenommenheiten übers Bücherbord zu werfen. Nach solcher Einführung allerdings bitte ich den Leser, in seinem eigenen Interesse zurückzublättern und mit Seite 21 zu beginnen. Danach nämlich bedarf er zum besseren Verständnis auch der erregendsten Geschehnisse einer planmäßigen Führung. Unser Buch ist ohne wissenschaftliche Ambitionen geschrieben. Vielmehr wurde nur versucht, eine bestimmte Wissenschaft derart zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, daß die Arbeit der Forscher und Gelehrten vor allem in ihrer inneren Spannung, ihrer dramatischen Verknüpfung, ihrem menschlichen Gebundensein sichtbar wurde. Dabei durfte die Abschweifung nicht gescheut werden, ebensowenig wie die persönliche Reflexion und die

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Herstellung aktueller Bezogenheit. Dadurch ist ein Buch entstanden, das der Wissenschaftler „unwissenschaftlich" nennen muß. Ich habe dafür nur eine Entschuldigung, daß dies genau in meiner Absicht lag. Denn ich fand, daß diese reiche Wissenschaft, in deren Taten sich Abenteuer und Stubenfleiß, romantischer Aufbruch und geistige Selbstbescheidung paarten, in der die Tiefe aller Zeiten und die Weite globalen Raumes ausgeschritten wurde, in Fachpublikationen begraben worden war."

Diese hier mit Absicht ausführlich zitierte Textstelle vermittelt nicht nur einen Eindruck von Cerams ausgewogenem und literarisch anspruchsvollem Stil, sondern ist zugleich Ausdruck der Darstellungsabsichten des Autors. E. von Däniken führt den Dialog mit dem Leser weniger bescheiden und zurückhaltend, sondern nicht selten emotional-expressiv und argumentativ-polemisch, wobei er sich vielfach in Ausrufesätzen und Interjektionen artikuliert, salopp-umgangssprachliche Lexik verwendet, pointierte rhetorische Fragen stellt und den Leser in seine Auseinandersetzung mit Fachleuten, die seine eigene Meinung nicht zu teilen gewillt sind, einzubeziehen versucht. Ein Beispiel dieser Darstellungsweise ist das mit der rhetorischen Frage überschriebene Kapitel 'Ein heißes Eisen?' aus dem Buch 'Der Götter Schock' (1992, 178 f.): „Wer hinieden versucht, der UFO-Problematik ein Kränzchen zu winden, ist einfach „bescheuert" [...] Ernsthafte Menschen befassen sich nicht damit. Basta! Und sollte es trotzdem einer versuchen, findet er sich alsogleich auf dem Müllhaufen der Lächerlichkeit. Er wird rumsdibums aus der Gesellschaft der Ernsthaften (im Original kursiv) hinausgeschmissen. In welcher Fakultät muß man eigentlich studieren, um UFO-Forscher zu werden? In derselben, in der sich Kaninchenzüchter, Eierverkäufer und Rasierpinselhersteller einschreiben — in keiner. In welcher Fakultät muß man sich einschreiben, um eine Studiengruppe gegen (kursiv) UFO-Forscher zu betreiben? In derselben! [...] Die Anti-UFO-Lobby, durch und durch pseudowissenschaftlich, hängt sich stets das Mäntelchen der 'Wissenschaftlichkeit' um, bedient sich der Methoden der Verunglimpfung und Ausgrenzung und beteuert bei jeder unpassenden Gelegenheit ihre 'Seriosität'."

Wiederholt ruft Däniken seine Leser als Zeugen für die Richtigkeit seiner Hypothesen und Recherchen an, übt Kritik an den „westlichen Gelehrten", die sich seiner Hypothese, nach der Götter früher Raumfahrer und Erdbesucher aus dem Kosmos hätten sein können, verschließen, und nutzt jede Gelegenheit

zur Selbstdarstellung, wobei er sich nicht selten einer saloppen Ausdrucksweise bedient (vgl. 'Der Götter Schock' 1992, 119). „Müßte ich eine Doktorarbeit schreiben, ich könnte leicht fünfzig vergleichende Beispiele aufzählen. Unzeitgemäß bleibt nur, was unsere Gelehrten daraus machten. Der „Himmelsstier" ist ein Sandsturm, Etanas und Enkidus „Flüge" waren Träume und Bep-Kororotis Schutzanzug eine „personifizierte Naturgewalt". Jetzt fehlt eigentlich nur noch, daß man aus Erich von Däniken ein Phantom macht, das nie existierte!"

Mit Hilfe des impliziten Dialogs verfolgen die Autoren narrativer Sachbücher vordergründig die Strategie des Argumentierens, indem sie den Leser schrittweise durch das zu erschließende Fachgebiet leiten, stets in dem Bemühen, ihn einen bestimmten Sachverhalt oder eine Erscheinung mit den Augen des Fachmanns betrachten zu lassen, ihn aber auch in die Lage zu versetzen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dabei sind die Autoren darauf bedacht, die Faszination des Fachgegenstandes, von der sie selbst erfüllt und überzeugt sind, auf den Leser zu übertragen. Sie beziehen ihn gewissermaßen als Augenzeugen in einen Vorgang der Erkundung, Entdekkung oder in das Erkennen interessanter, mitunter auch verblüffender Zusammenhänge mit ein. Der Bericht wird zur Schilderung; das praesens historicum verleiht ihr Spannung und Emotionalität. Eine Begleiterscheinung des impliziten Dialogs in deutschen Sachbüchern, die in englischen Sachbüchern keine Entsprechung hat, ist die gehäufte Verwendung von Abtönungspartikeln, die gerade für das zwanglose Gespräch charakteristisch und damit ein Reflex der gesprochenen Sprache in den dialogisch intendierten Abschnitten eines Sachbuches sind. Als Stilmittel, das eine Nuancierung oder persönliche Wertung ausdrücken kann, begegnen Abtönungspartikeln in narrativen wie in enzyklopädischen Sachbüchern. Im Deutschen umfaßt dieses Inventar solche lexikalischen Einheiten wie also, eben, gar, gerade, gewiß, ja, nun, wohl·, bekanntlich, eigentlich, freilich, lediglich, natürlich, selbstverständlich, wirklich; allenfalls, jedenfalls·, beileibe nicht, versteht sich. Wörter wie diese prägen nicht selten den Individualstil eines Sachbuchautors (wie z. B. bei E. Paul). 3.2.5. Stilfiguren Die schriftstellerischen Qualitäten von Sachbüchern beruhen zu einem nicht geringen Anteil auf der Wirkung von Stilfiguren. Der

145. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart

Sachbuchautor kann seine individuellen Ausdrucksmöglichkeiten voll entfalten. Einzelnen Autoren sind sogar bestimmte Stilzüge eigen: P. W. Lange neigt zum Humor, E. Paul zur Ironie, D. Crystal zur Didaktisierung. Typische Stilfiguren in Sachbüchern sind die Metapher, der Vergleich, der Parallelismus, die Antithese, die rhetorische Frage, die Parenthese, die Ellipse, die Inversion und der Nachtrag. Bei einigen Autoren kann man sogar expandierte Metaphern in Form eines Metaphernfeldes feststellen. So benutzt P. W. Lange das Vokabular der Kriminalistik als Metaphern in Kapitelüberschriften des Sachbuchs 'Seeungeheuer', vgl. 'Professor Rathke ermittelt' — 'Tatort Neue Welt' — 'Ein unbestechlicher Zeuge: Die Marine Ihrer Majestät' — Ή . M. S. 'Osborne' im Kreuzverhör' — 'Commander Gould und der 'Fall Seeschlange' ' — 'Richter Brown im Zeugenstand' — 'Entdeckung im Museumskeller' — 'Steckbrief eines Räubers'. Das zweite von W. P. Lange in Kapitelüberschriften verwendete Metaphernfeld stammt aus der Musik: 'Skandinavisches Präludium' — 'Schottisches Intermezzo' — 'Optimistisches Finale'. H. J. Störig greift in einigen Kapitelüberschriften auf die bekannte Metapher der Verwandtschaftsbeziehungen zurück, um die Zusammengehörigkeit der europäischen Sprachen zu veranschaulichen: 4. Kapitel 'Griechisch — Wiege unserer Kultur'; 5. Kapitel 'Latein — Mutter Europas'; 6. Kapitel 'Die stolzen Töchter'; 10. und 11. Kapitel 'Sprachfamilien der Erde' ... Das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Stilfiguren (Nachtrag, Metapher, Personifizierung, rhetorische Frage, figura etymologica) und implizitem Dialog soll anhand einer Textstelle aus Cerams Erstlingswerk, 'Götter, Gräber und Gelehrte' (1949, 89), veranschaulicht werden: „Ein Vermögen hatte er (Heinrich Schliemann — R. G.) in die Wissenschaft gesteckt - wegen des Öls aus 1612 Olivenbäumen begab er sich der Möglichkeit, den Schlüssel zu den vorgeschichtlichen Rätseln zu finden, die er durch seine Funde geschmiedet, aber längst nicht alle gelöst hatte! Ist es bedauerlich? Nein, sein Leben war reich und erfüllt, als ihm der Tod im Jahre 1890 den Spaten aus der Hand nahm, den großen Gräber selbst begrub."

Ungewöhnliche stilistische Wirkungen erreichen einige Sachbuchautoren durch die Verwendung anachronistischer Vergleiche. C. W. Ceram (1949, 77) schreibt: „Und Heinrich Schliemann, der Forscher, zwingt im Namen der Gerechtigkeit den Kaiser von Brasi-

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lien, seine Schäbigkeit öffentlich einzugestehen. Der Polizist Leonardos ist gerettet. So handelt Schliemann — ein Träumer, wenn er in die alten Welten blickt, ein kalt überlegender Detektiv, wenn er nach Schätzen spürt; ein Michael Kohlhaas, wenn er um eine gerechte Sache ficht."

H. J. Störig versteht die demotische Schrift der Ägypter „fast als Stenographie" (S. 19); das bei den Babyloniern gepflegte, inzwischen ausgestorbene Sumerische bezeichnet er als „Mönchslatein des Alten Orients" (S. 32). E. von Däniken wählt Anachronismen zur Pointierung seiner Schilderung (vgl. 'Der Götter Schock' 1992, 16): „Der Neil Armstrong der Spanier, der zwar nicht den Mond, aber immerhin als erster Weißer die Küste Südamerikas betrat, hieß Pedro de Candida und war Stückmeister von Beruf." „Wie befahl der israelische Gott seinem Volk? Du sollst keine anderen Götter neben mir haben! Das Copyright für diesen Befehl hat übrigens nicht Moses. Bereits in älteren, arabischen Texten wird von einem Mann namens „Ami ben Luhajj" berichtet, der eine weite Reise unternahm." (S. 110).

3.3. Typographische und bildkünstlerische Gestaltung Sachbücher sind in der Regel reich bebildert und attraktiv ausgestattet. Der verbale Text und der Bildtext sind ausgewogen über die Druckseite verteilt und durch abwechslungsreiche typographische Mittel ansprechend aufgegliedert. Es gibt aber auch Sachbücher, in denen die Abbildungen als zusammenhängende und fortlaufende Bildbeilage nach einzelnen Kapiteln erscheinen oder in den Anhang des Buches aufgenommen sind, so daß im Text auf die Abbildungen hingewiesen werden muß. Für den Betrachter haben die Illustrationen einen Anschauungs- und oft auch einen Erlebniswert. Sie bereiten ästhetischen Genuß und wecken häufig den Wunsch, mehr über den dargestellten Gegenstand oder Sachverhalt zu erfahren. 3.3.1. Typographische Gestaltung In Abhängigkeit vom Format des Sachbuchs, das zwischen der Größe eines Bildbandes und einem handlichen D I N A 5 Format liegen kann, sind die typographischen Gestaltungsmittel einer Druckseite vielfältig. Bevorzugt werden in großformatigen enzyklopädischen Sachbüchern verschiedene Schriftgrößen und -typen namentlich für die Überschriften der Haupt- und Unterkapitel. Nicht selten bieten diese Sachbücher auch einen Marginalindex mit Leitbegriffen, die dem Leser die Orientie-

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

rung erleichtern. In enzyklopädischen Sachbüchern findet man außerdem verschiedenfarbig getönte und durch kastenartige Einrahmung abgehobene Textsegmente, in denen der Autor exkursartig weiterführende Informationen anbietet. Mit dieser typographischen Gestaltung wird zugleich die modulartige Anlage eines solchen Sachbuchs vor Augen geführt: Der Leser kann sich nach Belieben in diesem Nachschlagewerk von Thema zu Thema bewegen, ohne an die Linearität des Textes gebunden zu sein. Die angebotenen 'Digressionen' bzw. Exkurse in thematische Nebenstrecken erhöhen seine Neugier und das Lesevergnügen. 3.3.2. Illustrationen Obwohl bei den meisten modernen Sachbüchern die Tendenz zu farbigen Abbildungen besteht, gibt es auch solche, die aus Kostengründen auf diese Ausstattung verzichten und einfarbige Illustrationen verwenden. Andererseits bezeugen Schwarz-WeißAufnahmen in Sachbüchern auch einen älteren Stand der Bilddokumentation und haben als authentische Zeugnisse historischen Wert. Außerdem gelten nach Ansicht einiger Bildjournalisten und Filmproduzenten Schwarz-Weiß-Aufnahmen noch immer als die klassische Form der Wiedergabe der Wirklichkeit, die einen besonderen Nuancenreichtum von Hell- und Dunkel-Tönen ermöglicht. Diese Aufnahmen beeinträchtigen keineswegs den ästhetischen Eindruck des abgebildeten Objekts bzw. Wirklichkeitsausschnitts. Das Angebot an Illustrationen in Sachbüchern ist — je nach Thema — vielgestaltig. Dazu gehören: — Landkarten und Landschaftsaufnahmen — Personen- und Gruppenfotos — archäologische Objekte am Ausgrabungsort und/oder als Museumsgegenstände — Expeditionsfotos — Faksimiles aus historischen Quellenwerken (Chroniken, Papyri, Inschriften auf Steinen) — Reproduktionen von Bildkunstwerken, ζ. B. Gemälden, Kupferstichen, Holz- und Linolschnitten, Scharrbildern, Zeichnungen, Radierungen, Plastiken, Baudenkmälern usw. Sachbücher können aber auch Vignetten, auf den spezifischen Gegenstand abgestimmte Zeichnungen, bis hin zu Karikaturen, enthalten.

3.3.3. Graphika Die Verwendung graphischer Darstellungen in Sachbüchern ist ebenfalls vom fachlichen Gegenstand abhängig. Tabellen, Kurvendiagramme, Statistiken, Schaltpläne, Algorithmen u. a. m. setzen ein bestimmtes Maß an abstraktem Denken voraus; ihre Interpretation kann dem nicht geschulten Rezipienten Schwierigkeiten bereiten. Deshalb werden Graphika in Sachbüchern nur dort verwendet, wo sie für das Fachgebiet üblich und unentbehrlich sind. Themen der Archäologie, Kunstgeschichte und Historiographie zwingen nicht zu einer abstrakten schematischen Darstellung. Eine Ausnahme bilden hier die Grundrisse bestehender Gebäude oder ausgegrabener Siedlungen, Befestigungsanlagen und Einzelgebäude. Sie sind jedoch — einer Landkarte vergleichbar — für den Rezipienten kein Kommunikationshindernis. In den Sachbüchern von C. W. Ceram, M. Magnusson, E. Paul und M. Girouard gibt es keine Diagramme. Die Bildillustrationen sprechen für sich selbst. In dem Sachbuch des Biochemikers F. Cramer finden sich dagegen — dem dargestellten Gegenstand entsprechend - eine Vielzahl unterschiedlicher Graphika: Strukturformeln chemischer Verbindungen, schematische Darstellungen zum „Kreislauf der Energien des Lebens" und zu „Gleichgewichtssystemen", Schemata zu den Mendelschen Vererbungsgesetzen und zu Zellkontakten; Oszillationsdiagramme; die „modellmäßige Darstellung eines kleinen Planeten"; die schematische Darstellung tierischer und pflanzlicher Zellen und der Doppelhelix bei den Abkömmlingen der Nukleinsäure (DNS), die genetische Information vermittelt. Insofern stellt F. Cramers Sachbuch 'Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen' an den Leser bestimmte Anforderungen im naturwissenschaftlichen Denken.

4.

Ausblick

Durch ihre kommunikative und ästhetische Funktion haben Sachbücher als Genre des populärwissenschaftlichen Schrifttums, wie an den deutschen und englischen Textbeispielen deutlich geworden ist, übereinzelsprachliche Gemeinsamkeiten. Diese resultieren sowohl aus der internationalen Zusammenarbeit von Verlagen mit den zuständigen Fachwissenschaftlern, Wissenschaftsjournalisten und Buchillustratoren als auch aus Text-

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons Sortenkonventionen, die sich f ü r die Subgenres narratives, d o k u m e n t a r i s c h e s , biographisches, anleitendes u n d enzyklopädisches Sachb u c h bereits herausgebildet haben. Infolge des starken öffentlichen Leseinteresses a n S a c h b ü c h e r n ist eine z u n e h m e n d e Spezialisier u n g v o n S a c h b ü c h e r n , die a u c h in der Textgestaltung u n d bildkünstlerischen Ausstatt u n g ihren Niederschlag findet, zu erwarten.

1605

Herrmann, Joachim, Spuren des Prometheus. Der Aufstieg der Menschheit zwischen Naturgeschichte und Weltgeschichte. Jena/Berlin 1975. Hickethier, Knut, Sachbuch und Gebrauchstext als Kommunikation. Für eine kommunikationsbezogene Betrachtungsweise von 'Sach- und Gebrauchsliteratur'. In: Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielanalysen. Hrsg. v. L. Fischer/K. Hickethier/K. Riha. Stuttgart 1976, 58-85. Magnusson, Magnus, Vikings! London 1980.

5.

Literatur

Ceram, C. W., Götter, Gräber und Gelehrte. Roman der Archäologie. Hamburg 1949. Cramer, Friedrich, Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Stuttgart 1988. Crystal, David, The Cambridge Encyclopedia of Language. Cambrige/New York 1988. Däniken, Erich v., Erinnerungen an die Zukunft. München 1968.

Lange, P. Werner, Seeungeheuer. Fabeln und Fakten. Leipzig 1979. Paul, Eberhard, Die falsche Göttin. Geschichte der Antikenfalschung. Leipzig 1962. Pforte, Dieter, Der Sachbuch(text)-Autor, ein Fachmann fürs Nichtfachmännische. In: Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielanalysen. Hrsg. v. L. Fischer/K. Hickethier/ K. Riha. Stuttgart 1976, 138-154.

Geier, Ruth/Hella Huth/Ursula Wittich, Verständlich und wirksam schreiben. Leipzig 1982.

Pörksen, Uwe, Populäre Sprachprosa und naturwissenschaftliche Sprache (Zweiter Übersetzungsvorgang). In: Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien. Tübingen 1986, 182-199.

Girouard, Mark, Life in the English Country House. A Social and Architectural History. Harmondsworth 1978.

Störig, Hans J., Abenteuer Sprache. Ein Streifzug durch die Sprachen der Erde. Berlin/München/ New York 1988.

— , Der Götter Schock. München 1992.

Gläser, Rosemarie, Das Sachbuch. In: Fachtextsorten im Englischen. Tübingen 1990, 207—221.

Rosemarie

Gläser, Dresden

(Deutschland)

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons 1. 2. 3. 4. 5.

Einleitende Bemerkungen Geschichtliche Entwicklung Kommunikative Funktionen Ästhetische Funktionen Literatur

1.

Einleitende Bemerkungen

1.1. Sonderstellung des Lexikons u n t e r d e n schriftlichen M e d i e n D a s Lexikon (zur begrifflichen K l ä r u n g vgl. 1.2.) hat — u n a b h ä n g i g von allen seinen W a n d l u n g e n w ä h r e n d der letzten drei J a h r h u n d e r t e — stets einen besonderen Platz unter den schriftlichen Medien e i n g e n o m m e n . D a s ist darin b e g r ü n d e t , d a ß das Lexikon anders als literarische W e r k e u n d spezielle fachliche P u b l i k a t i o n e n einer möglichst u m f a s senden allgemeinen I n f o r m a t i o n dienen soll.

Diese I n f o r m a t i o n ist auf Bildung, aber a u c h — wie wir n o c h zeigen werden — auf U n t e r h a l t u n g gerichtet. Einige Zitate, die einen Z e i t r a u m v o n der Mitte des 18. bis z u m E n d e des 20. Jhs. u m s p a n n e n , m ö g e n einen ersten Eindruck von der b e s o n d e r e n Stellung des Lexikons u n t e r den schriftlichen M e d i e n vermitteln. Im ' P r o s p e c t u s ' zur g r o ß e n französischen E n z y k l o p ä d i e ('Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers') schrieb Denis Diderot (1750): „Dieses Werk könnte einem Berufsgelehrten als Bibliothek dienen für alle Fächer, die er nicht selbst betreibt. Es wird die Elementarbücher ersetzen, die wahren Prinzipien der Dinge entwickeln, ihre Beziehungen hervorheben, zur Gewißheit und zum Fortschritt der menschlichen Kenntnisse beitragen, die Zahl der echten Gelehrten, der hervorragenden

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Künstler und aufgeklärten Laien vermehren und folglich in der Gesellschaft neue Vorteile verbreiten."

Heinrich August Pierer postulierte in der 3. Auflage seines Lexikons ('Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe', 1. Band, 1849, VII): „Das Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart ... setzt es sich zum Zweck, über jeden bemerkenswerten Gegenstand menschlichen Wissens eine kurze, aber für denjenigen, welcher die Wissenschaft, zu welcher der Artikel gehört, nicht zum eigentlichen Fach macht, möglichst befriedigende, dabei jedoch gründliche [...] wissenschaftliche Nachweisung zu geben." In einem Vortrag 'Das Lexikon - ein Instrument des modernen Bewußtseins' meinte Helmut Schelsky (1966): „Wissensmethodisch ist das Lexikon zweifellos eine Vorstufe des informationsspeichernden Computers, und es scheint mir mehr als ein Schlagwort zu sein, wenn man ein umfassendes Lexikon als die Denkmaschine des kleinen Mannes bezeichnen wollte [...] Das Lexikon ist ein Instrument des modernen Bewußtseins; erst wenn man es instrumental benutzt, beutet man es in seinem vollen Wert aus." Und Johannes Groß in einem Vortrag 'Beitrag des Lexikons zur Ausbreitung des Bildungswesens in der Massengesellschaft' (1984) angesichts der Konkurrenz neuer technischer Informationsträger: „Ich räume dem Lexikon weiterhin eine unentbehrliche Funktion ein in der Massengesellschaft unserer Tage und der kommenden Jahrzehnte ... Alternativen werden es schwer haben gegen dieses fabelhafte Instrument, das sich schon seit vielen Jahrhunderten zunehmend bewährt hat. Das Lexikon leistet etwas, was die Gesellschaft sonst an keiner anderen Stelle leistet. Es stellt etwas wie den Kernbestand des abendländischen Wissens zusammen und zur Verfügung und damit ein Urgestein, auf dem alles andere aufgebaut wird." 1.2. Zur begrifflichen Klärung Wir vestehen unter Lexikon hier das nicht auf ein bestimmtes Fachgebiet bezogene sog. allgemeine oder Universal-Lexikon (engl, general encyclopaedia). Spezielle oder Fachlexika, die sich an den Laien wenden, der sich für ein bestimmtes Fachgebiet interessiert, bedürfen keiner gesonderten Behandlung, da bei ihnen kommunikative und ästhetische Funktionen in der gleichen Weise ausgeprägt

sind wie bei den allgemeinen Lexika. Dagegen gehören wissenschaftliche Speziallexika zu den Lehr- und Arbeitsbüchern des jeweiligen Fachs und unterliegen anderen Regeln. Für das auf möglichst umfassende, allgemein verständliche Information zielende Lexikon ist auch im Deutschen die Bezeichnung Enzyklopädie (bzw. Enzyklopädisches Lexikon) im 20. Jh. wieder stärker gebräuchlich geworden, die auch in der internationalen Begrifflichkeit dominiert. Dagegen ist der Begriff Wörterbuch (engl, dictionary, frz. dictionnaire) für Werke mit lexikalischem Anspruch, die sich nicht auf die alphabetisch geordnete Sammlung von Begriffserklärungen beschränken, aus der Übung geraten. (Der Begriff Enzyklopädie stammt aus dem Griechischen. Seine Bestandteile enkyklios = kreisförmig und paideia = Bildung führen zu der allgemein üblichen Übersetzung Bildungskreis. Enkyklios bedeutet auch im Kreislauf des Jahres immer wiederkehrend, also alltäglich, üblich, gewöhnlich. Alltagsbildung wäre dann eine geeignete Übersetzung.) Dies gilt, obwohl alle Enzyklopädien bzw. enzyklopädischen oder allgemeinen Lexika durchaus auch Stichwörter mit Wörterbuchcharakter (Begriffserklärungen) enthalten.

2.

Geschichtliche E n t w i c k l u n g

2.1. Die Anfänge U m Art und Bedeutung kommunikativer und ästhetischer Funktionen des modernen Lexikon klar erkennen zu können, ist ein kurzer Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Lexikons hilfreich. Erste lexikalische Verzeichnisse (z. B. Bestandslisten, Glossare) bei den antiken Babyloniern und Ägyptern waren bestimmt von den Bedürfnissen und Fähigkeiten einer begrenzten Gruppe Lese- und Schreibkundiger bei ihren Verwaltungs- und Organisationsaufgaben im kultischen und weltlichen, auch kommerziellen Bereich. Auch Schriftart und Beschreibstoff setzten ihnen Grenzen. Die Verfasser der uns bekannten Enzyklopädien der Antike und des Mittelalters (u. a. Marcus Terentius Varrò im 1. Jh. v. Chr., Plinius der Altere im 1. nachchristlichen Jh., Cassiodor im 6. Jh., Hrabanus Maurus im 9. Jh. und Vinzenz von Béarnais im 13. Jh.) strebten danach, das gesamte Wissen ihrer Zeit oder das Wissen über ein bestimmtes Sachgebiet zu sammeln, systematisch zu ordnen und dadurch dem Leser leichter zugäng-

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

lieh zu machen. Das gleiche wollten die ersten Urheber alphabetisch geordneter Lexika. Als erster unternahm im Jahr 1503 Domenico Nani Mirabelli mit seinem Werk 'Polyantha nova' einen solchen Versuch. Fast alle diese Autoren bedienten sich der lateinischen Sprache. Als erstes alphabetisch geordnetes Lexikon in einer lebenden Sprache erschien 1674 das 'Grand Dictionnaire historique' des Louis Moréri. Mit diesem Werk beginnt die Geschichte der neuzeitlichen enzyklopädischen Lexikographie. Hier sollen nur die wichtigsten Marksteine erwähnt werden, die charakteristische Wandlungen in Zielsetzung und Aufbau der Enzyklopädien deutlich machen. In eindeutiger Distanz zu den Lehren der katholischen Kirche, wie sie Moréri vertreten hatte, folgte seinem Werk das 'Dictionnaire historique et critique' des Pierre Bayle (1695 — 1697). Dieses Lexikon, das auch als „Bibel der Frühaufklärung" bezeichnet wurde, erschien 1741 bis 1744 in deutscher Ubersetzung, herausgegeben von Johann Christoph Gottsched. 2.2. Das 18. Jahrhundert — die Encyclopédie Das 18. Jh., das Jahrhundert der Aufklärung und der Enzyklopädie schlechthin, brachte in Deutschland als gewaltigstes Werk das von Johann Heinrich Zedier in Leipzig verlegte 'Große vollständige Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste' in 64 Bänden (1732-1750) mit 4 Nachtragsbänden (bis 1754) sowie als handliches und populäres einbändiges Nachschlagewerk 'Johannes Hübners Reales Staats- und Zeitungs-Lexikon' seit 1704 mit 31 Auflagen bis 1825. Wie Bayles Werk gehört die zweibändige 'Cyclopaedia' des Briten Ephraim Chambers (1728) zu den Vorläufern der großen französischen Enzyklopädie. Das von Denis Diderot — bis 1758 gemeinsam mit Jean le Rond d'Alembert — 1751-1772 herausgegebene Werk wurde dank des wissenschaftlichen und politischen Mutes des Hauptherausgebers, seines Durchsetzungs- und Durchhaltevermögens, aber auch dank der wissenschaftlichen und literarischen Qualität seiner Mitarbeiter zum bahnbrechenden Schlüsselwerk seiner Zeit, der Epoche der Aufklärung. Vom „Einleitungskapitel der Revolution" sprach später Robespierre. (Für den wirtschaftlichen Erfolg war das vom Verleger André le Breton mit Geschick angewandte Subskriptionsgeschäft entscheidend, mit dessen Hilfe die Enzyklopädie eine Auflage von 30000 erreichte).

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Die Breite und Tiefe, mit der alle Wissensgebiete, neben den Wissenschaften und den „schönen Künsten" erstmals in diesem Umfang auch die Technik, dargestellt sind, unterschied die 'Encyclopédie' von ihren Vorläufern, die politische Wirkungskraft von allen Nachfolgern, die sich bis heute meist eher als recht bescheidene Hilfsmittel geistigen Arbeitens darstellen denn als Zeugnisse politischen publizistischen Ehrgeizes. Voraussetzung für diese Zielsetzung großer Enzyklopädien, ganze Bibliotheken ersetzen zu können, war der im 18. Jh. erreichte Stand der Wissenschaft: Die Wissensmenge war schon zu groß für den durchschnittlichen Gelehrten, um sie ohne die helfende Aufbereitung des Lexikographen zu erfassen, sie schien aber noch nicht zu umfangreich für das Fassungsvermögen großer allgemeiner Lexika. Mindestens alle wesentlichen Aussagen fanden noch Platz. 2.3. Das 19. Jahrhundert — das Konversationslexikon Im 19. Jh. mußte das Ziel, eine Bibliothek zu ersetzen, aufgegeben werden. Joseph Meyer bezeichnete im Vorwort sein Lexikon (vgl. 3.1.) als „populäre Enzyklopädie" und stellte sie den Ansprüchen der „Aristokratie des Wissens" gegenüber. Darin deutet sich an, daß sich die Zielgruppe der Lexika geändert, erweitert hatte. Meyers „Aristokratie des Wissens" hatte möglichst „alles" wissen wollen. Das war unmöglich geworden. Gleichzeitig wollten immer mehr Menschen immer mehr wissen, mehr, als ihnen die populären Werke wie der einbändige Hübner bieten konnten. Neue Schichten interessierten sich für Wissenschaft, aus beruflichen Gründen, vor allem aber aus den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Status. Unternehmer, Kaufleute, Lehrer, Journalisten, aber auch der Adel empfanden das Bedürfnis, nicht nur ein gründliches Wissen über Weniges, also ein Fach- oder Spezialwissen, sondern auch eine allgemeine Orientierung über möglichst Vieles stets parat zu haben. Für das letztere, das einen immer größeren Anteil am Wissen des einzelnen hatte und für das das Lexikon zur ständig sprudelnden Quelle wurde, hat ein gar nicht böswilliger Realist den Begriff „Ungefähr· Wissen" gebraucht. Dies war das Wissen der „gebildeten Stände", wie sie seit 1814 als Zielgruppe im Titel der Lexika von Friedrich Arnold Brockhaus und seit 1839 von Joseph Meyer auftauchen - keineswegs in der Lage, „alles" zu

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

wissen, aber gebildet genug, um vielseitig interessiert zu sein, nicht jedoch genug gebildet, um alles zu verstehen und deshalb „verständliche" Darstellung fordernd: Wissensverdichtung, Vereinfachung, Weglassen, das wurden die Kennzeichen der neuen Wissensdarstellung in einem Lexikontyp, den man nun Konversationslexikon nannte. Der Begriff orientiert sich an der „gepflegten Konversation" als Kennzeichen eines gehobenen gesellschaftlichen Lebensstils, wie er sich vom Adel her auf immer weitere Kreise des Bürgertums ausbreitete. Nicht zu fachlich sollte die Konversation sein, aber auch nicht zu oberflächlich — wer in diesem Stil mitreden konnte, „gehörte dazu", mit Hilfe des Konversationslexikons. Wer die Rolle des Lexikons bei der Entwicklung der Kultur vom 19. Jh. bis heute richtig verstehen will, darf aber nicht übersehen, daß der heute als veraltet geltende Begriff Konversationslexikon nur auf ein äußerliches Kennzeichen dieser Entwicklung Bezug nimmt. Es bildet sich eine Wechselwirkung zwischen dem Lexikon und den Bedingungen und Bedürfnissen des Industriezeitalters heraus: Die gesellschaftlichen Verhältnisse forderten die Teilnahme von immer mehr Menschen an modernen Entwicklungen in Wirtschaft, Politik, Kultur. Diese verlangten nach geistiger Zurüstung für ständig neue Aufgaben. Was sie, selbst wenn sie eine höhere Bildung genossen hatten — was noch keineswegs selbstverständlich war —, an Wissen mitbrachten, hielt diesen modernen Entwicklungen nicht stand. Das Lexikon war das optimale Mittel, Lücken zu schließen, wenn auch gewiß nicht das einzige. Vertieftes und verbreitertes Wissen aber regte den Einzelnen an, seine Ziele höher zu setzen, sich weiter zu entwickeln. Diese Tendenz hat sich bis zur Gegenwart ständig verstärkt angesichts der explosionsartig verlaufenden Wissensvermehrung und der sprunghaft weiter steigenden Wissensanforderung an immer mehr Einzelne, denen berufliche Weiterbildung und Mobilität abverlangt werden. Doch mit diesen Feststellungen greifen wir der Entwicklung des Lexikons vor! Zugeschnitten auf den bürgerlichen Salon, wo man sprachliche Bildung höher schätzte als Kenntnisse in Naturwissenschaft und Technik, ja erstere mit Bildung schlechthin identifizierte, entwickelte sich im 19. Jh., vor allem in Deutschland, der Typ des Konservationslexikons, das für das geistreiche Gespräch der Gebildeten bestimmt war und

mehr oder minder unverhohlen die „ungebildeten Stände" ausschloß. Als besonders erfolgreich sollte sich ein Konversationslexikon erweisen, das unter der Regie des jungen Buchhändlers Friedrich Arnold Brockhaus (*1772,1 1823) herauskam. Auf der Leipziger Messe 1808 hatte er für 1800 Taler den Lagerbestand des seit 1796 von Renatus Gotthelf Löbel und später von Christian Wilhelm Franke herausgegebenen ' Conversationslexicons mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten' aufgekauft und damit das Fundament des späteren Verlages F. A. Brockhaus gelegt. Bereits von 1809 an lieferte Brockhaus den Restbestand des unvollendeten Werkes von Löbel/Franke aus und ließ noch Ergänzungsbände folgen, in denen u. a. auch Napoleon zur „Lexikon Würdigkeit" kam. Die zweite Auflage dieses Werkes nahm Brockhaus dann in die eigene Hand, und bald folgten weitere Auflagen bis zum vorläufigen Abschluß 1818. Im gleichen Jahr machte ein weiteres verlegerisches Unternehmen dieser Art von sich reden, die mit dem Namen der Gelehrten Johannes Samuel Ersch (*1766, f 1828) und Gottfried Gruber (*1774, 1 1851) verbundene, kurz als Ersch — Gruber oder Hallesche Enzyklopädie bekannte 'Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste', ein 1831 dann ebenfalls von Brockhaus aufgekauftes, letztlich unvollendet gebliebenes Mammutunternehmen, von dem bis 1889 nicht weniger als 167 Bände mit rund 70 000 Seiten erschienen. Unterdessen, 1826, hatte jedoch ein anderer Verleger, der bereits genannte Joseph Meyer (*1796, 1 1856), unter der Devise „Bildung macht frei" ein Bibliographisches Institut gegründet. Er beabsichtigte trotz der bereits vorhandenen Lexika — des Brockhaus, der teuren Halleschen Enzyklopädie und des UniversalLexikons oder vollständigen Encyclopädischen Wörterbuchs von Heinrich August Pierer (*1794, f 1850) — ein weiteres Lexikon auf den Markt zu bringen. (Pierers Lexikon — die erste Ausgabe erschien 1822—1836 in 26 Bänden — brachte eine unvergleichlich größere Stichwortzahl, rund 400000 gegenüber 4500 bei Löbel/Franke/Brockhaus). Nach fünfjähriger Vorbereitung war Meyer soweit. 1839 erschien die erste Lieferung eines zunächst auf 21 Bände geplanten neuen Lexikons, das bis zum Abschluß 1852 auf nicht weniger als 46 Bände anwuchs, noch unter dem Titel 'Das Große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände'.

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

Mehr als eine Million Gulden kostete dieses Unternehmen, aber der Durchbruch gelang. So fand das Werk allein 1848/49 nicht weniger als 70 000 Subskribenten und wurde 1853/55 - inzwischen durch SupplementBände auf 52 Bände angewachsen - nochmals nachgedruckt. Nachdem Herrmann Julius Meyer das Lebenswerk seines Vaters übernommen hatte, kam es von 1857 bis 1860 zu einer auf 15 Bände gekürzten Neuausgabe, nun unter dem bezeichnenden Titel 'Neues Konversations-Lexikon für alle Stände'. Die zweite Hälfte des 19. Jhs. war in Deutschland durch weitere Auflagen der inzwischen etablierten Lexika von Brockhaus und Meyer geprägt. Daneben gab es jedoch eine Fülle weiterer bedeutender Nachschlagewerke. Erwähnt seien 'Herders Conversations-Lexikon für das katholische Deutschland' (ab 1854); das im Zeitalter der 'Gartenlaube' besonders populäre 'Illustrierte Haus- und Familienlexikon' bei Brockhaus (ab 1860) und das auch für den kleinsten Geldbeutel erschwingliche einbändige 'Handlexikon des allgemeinen Wissens', der sog. Kleine Meyer (ab 1870). Als die 'Berliner Illustrine Zeitung' 1899 eine Bilanz des 19. Jhs. zog, stellte sie ihrem Publikum auch die Frage: „Welches Buch hat in diesem Jahrhundert den größten Einfluß gewonnen?" Die Antwort war überraschend, denn an erster Stelle wurde — noch vor der Bibel und Darwins Werken — mit Abstand das Konversationslexikon genannt. 2.4. Das 20. Jahrhundert Das 20. Jh. ist durch ein fast explosionsartiges Anwachsen der Zahl lexikalischer Werke im In- und Ausland gekennzeichnet — nicht zuletzt auch eine Folge der immensen Zunahme wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse auf allen Gebieten der Forschung. Neben die traditionsreichen Verlage des 19. Jhs. traten schon bald auch zahlreiche Neugründungen, von denen im deutschen Sprachraum das Bertelsmann Lexikon (seit 1953) eine starke Marktposition erlangte. Die Entwicklung auf dem Lexikonmarkt ist derzeit durch eine verstärkte internationale Zusammenarbeit zur Nutzung der immer teurer werdenden jeweiligen nationalen Text- und Bildsubstanzen gekennzeichnet, die inzwischen mittels der Verfahren moderner elektronischer Medien gespeichert und abgerufen werden können. Von der kirchlich ausgerichteten Welterläuterung bei Moréri über

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die aufklärerische Zielsetzung bei Bayle und in Vollendung bei Diderot sowie die gesellschaftliche Hilfestellung des Konversationslexikons spannt sich so der Bogen der historischen Entwicklung zur Gegenwart, in der sich im Streben nach „objektiver" Information eine pluralistische Wert- und Gesellschaftsordnung manifestiert. Insgesamt spiegelt die Geschichte eine zunehmende Tendenz zu Popularisierung und Demokratisierung. 2.5. Abhängigkeit vom kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext In allen historischen Phasen des Einsatzes und der Nutzung von Lexika waren ihre kommunikativen und ästhetischen Funktionen abhängig von jeweils herrschenden Denk-, Erziehungs- und Sprachmustern sowie den Nutzungsarten und Anwendungsbedürfnissen andererseits. U m dies auch für das moderne Lexikon deutlich zu machen, sollen in den beiden folgenden Abschnitten kommunikative und ästhetische Funktionen neuerer Lexika dargestellt werden. Dabei werden unter kommunikativen Funktionen die inhaltliche Aufgabenstellung und Zielsetzung und unter ästhetischen Funktionen formale, gestalterische Darbietungsweisen moderner lexikalischer Information verstanden, also einerseits der Inhalt - das WAS — und andererseits die Form - das WIE. Nach dem bekannten Satz, daß der Inhalt die Form bestimmt, durchdringen und bedingen sich kommunikative und ästhetische Funktionen.

3.

Kommunikative Funktionen

3.1. Bemühen um Objektivität im Gegensatz zu ideologischer Abhängigkeit/Parteilichkeit Bei der inhaltlichen Ausrichtung moderner Lexika gleich welchen Umfangs tritt in den meisten Fällen vor allem das Bemühen um Objektivität der Darstellung in Erscheinung. Dabei sind ein wertungsfreies Beschreiben des Gegenstands von verschiedenen Seiten oder ein Nebeneinanderstellen verschiedener Wertungen charakteristisch. Nicht übersehen werden darf in diesem Zusammenhang, daß dem Streben nach Objektivität schwer überwindbare Grenzen gesetzt sind, da es nicht nur eine — man könnte sagen: - qualitative Subjektivität gibt, die in jeder Wertung liegt, sondern auch eine quantitative Subjektivität, die ihren Ausdruck in der Auswahl der Ge-

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

genstände ( = Stichwörter) und der zu ihrer Beschreibung herangezogenen Fakten findet. Und diese Auswahl ist bei jedem Lexikon notwendig (vgl. 3.2.). Im historischen Rückblick hatten wir gezeigt (vgl. 2.), daß Lexika im 17. und vor allem 18. Jh. Träger politischen Strebens waren. Im 19. Jh. fiel die aufklärerische Zielsetzung, wie sie besonders Diderots 'Encyclopédie' vertrat. Der alle anderen vollendeten deutschen Lexika des 19. Jhs. weit übersteigende Umfang der ersten Auflage von Meyers Lexikon (46 Bände, 1839 bis 1852) erklärt sich daraus, daß hier letztmals der Versuch gemacht wurde, über ein Lexikon politische Aufklärung zu verbreiten. Diese Zielsetzung war inspiriert von der geistigen und politischen Haltung des Verlegers Joseph Meyer im sog. Vormärz, der Zeit vor der Revolution von 1848. An die Stelle der Aufklärung, des Kampfes gegen kirchlichen Dogmatismus und feudalistisches Gesellschaftssystem, trat im 19. Jh. als Zielsetzung die Objektivität. Joseph Meyer hatte in seinem Vorwort (1840, VI) noch geschrieben: „Der Aristokratie des Wissens ... ist eine populäre Encyklopädie ein Dorn im Auge, und sie wird unserem Beginnen nicht hold seyn. Intellectuelle Gleichheit liest sie auf unserem Panier, und in jedem Kämpfer für jene gewahrt sie einen Feind, der an ihrem Thron rüttelt, und ihr das Benifiz des Privilegiums zu entziehen trachtet." „Je sème à tout vent" (Ich säe bei jedem Wind) schrieb dagegen Pierre Larousse in seinem 'Grand Dictionnaire universel du XIXème siècle' (1866-1876) und meinte damit die als Objektivität proklamierte Anpassung und Unterordnung gegenüber den jeweiligen politischen Zeitström ungen. In diesem Sinne äußerte sich zur Objektivität bereits 1824 Heinrich August Pierer im 1. Band (XII) seines 26bändigen 'Enzyklopädischen Wörterbuchs der Wissenschaften, Künste und Gewerbe' (1824—1836), wobei er gleichzeitig Objektivität als Anpassung und Unterordnung gegenüber den politischen Zeitströmungen kennzeichnete, wie wir es oben getan haben: „[...] bei streitigen Lehrsätzen, zumal religiösen, philosophischen oder politischen, unparteiliche Darstellung derselben, entweder von verschiedenen Seiten aus oder auch in Nebeneinanderstellung zweier Bearbeitungen verschieden denkender Verfasser, unter sorgfältiger Vermeidung einer eigentlichen Oppositionsstellung gegen anerkannte und von oberen Staatsgewalten behauptete Grundsätze der Kirchen- und

Staatsordnung ..." Dies ist nichts anderes als Larousse „Ich säe bei jedem Wind". Daß bei Pierer trotz der postulierten „Nebeneinanderstellung zweier Bearbeitungen verschieden denkender Verfasser" auch noch eine von Zeitgeist bedingte offene Subjektivität zu finden ist, hat Gärtner (1976, 154) von einer kommunistischen Position aus gezeigt, ebenso wie umgekehrt die vom Nationalsozialismus bzw. Marxismus-Leninismus geprägten Lexika in Deutschland nicht nur Ausdruck ihrer Zeit, sondern im zweiten Fall auch offen erklärter Parteilichkeit waren (Stephan/Weck 1976, 203ff.). Die Frage, wie weit das Streben nach Objektivität andererseits mit einer Orientierung lexikalischer Inhalte am Wertesystem einer freiheitlichen Demokratie stets vereinbar ist, wird nicht pauschal zu beantworten sein. Streben nach Objektivität heißt jedenfalls heute das Bemühen, dem Benutzer des Lexikons durch das Angebot von Fakten die Bildung eines eigenen Urteils zu ermöglichen: „[...] jede Zeitepoche muß sich eine neue Objektivität erarbeiten. [...] Auch die Meinung darüber, was Objektivität ist, ist immer im Fluß. Der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt hat einmal das Wesen der Philosophie als 'zeitliche Lösung eines zeitlosen Problems' definiert. Diese Aufgabe muß sich auch der Mitarbeiterstab eines Lexikon-Instituts stellen, und sie steht über dem Problem der 'allgemeinen Bildung' überhaupt" (Wahrig 1966, 18). 3.2. Stoffbedingte Selektion und vom Benutzerinteresse abhängige Abundanz Unabhängig vom Umfang eines lexikalischen Werkes, beim Einbänder wie in einem 30bändigen Großlexikon, findet eine Selektion statt. Dabei kann es sich um Stichwort-Selektion oder um Informations-Selektion oder — was heute meist der Fall ist — um eine Kombination beider Verfahren handeln. Die Notwendigkeit dieser Auswahlvorgänge liegt angesichts des heutigen Standes von Wissenschaft, Forschung und Technik und der ungehemmt wachsenden Menge von Fakten und Erkenntnissen auf der Hand. Die Stichwortauswahl ist zunächst vom Umfang eines Lexikons abhängig, bedeutet aber in jedem Fall einen rigorosen Eingriff in den verfügbaren Wissensstoff, selbst bei den umfangreichsten Nachschlagewerken unserer Zeit. Einige Zahlen sollen das deutlich machen: Der 1960—1964 erschienene 'GrandLarousse encyclopédique' enthält etwa 450 000

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

Stichwörter. Große US-amerikanische Enzyklopädien bieten zwar nur eine begrenzte Zahl umfangreicher Artikel, aber Registerbände mit rund 400000 Stichwörtern. Die umfangreichsten deutschsprachigen Lexika unserer Zeit nennen 200 000 bis über 250 000 Stichwörter. Demgegenüber liegt die Zahl bekannter chemischer Verbindungen ebenso im Millionenbereich wie diejenige der Tierarten. Das Thieme-Beckersche Künstler-Lexikon enthält über 200000 Biograpien, große Atlanten — selbst auch schon zur Auswahl gezwungen - nennen mehr als 300 000 geographische Namen. Die wenigen Beispiele zeigen genügend: Jede Lexikonarbeit beginnt mit der Stichwortauswahl. Diese wird am besten deutlich, wenn man sich das gesamte mögliche Stichwortmaterial nach dem Grad der Wichtigkeit in konzentrischen Kreisen geordnet vorstellt. In einem einbändigen Lexikon kann man dann vielleicht die beiden inneren Kreise erfassen, in einem vierbändigen zwei oder drei weitere. Bei einem zehnbändigen Lexikon würde man bis zum sechsten oder achten Kreis vorstoßen, bei einem 25bändigen bis zum zehnten oder zwölften usw. Neben die Stichwortauswahl tritt die Informationsauswahl. Vergleicht man die einzelnen Artikel zu bestimmten Stichwörtern (ζ. B. Personen, geographische Objekte) in umfangreichen älteren und modernen Lexika, so stellt man fest, daß die entsprechenden Artikel früher häufig sehr viel länger waren als heute. Das gilt auch für Personen oder Gegenstände, die an Interesse nicht verloren haben, für die aber heute angesichts des gewachsenen Gesamtwissens weniger Raum bleibt. Das zwingt, ebenso wie die Stichwortauswahl, den Lexikonredakteur häufig zum schmerzhaften Verzicht auf Informationen, die er gern bringen würde. Ein selektives Moment enthält schließlich auch der Lexikonstil (vgl. 3.3.). 3.2.1. Wie wird ein modernes Lexikon genutzt? Welche Aufgabe hat das Lexikon, was wird von ihm erwartet? Erinnern wir uns an Pierer, der in der 1. Auflage noch formuliert hatte: „[...] über jeden bemerkenswerten Gegenstand [...] eine kurze, jedoch für einen momentanen Bedarf möglichst befriedigende Nachweisung [...]" Der „momentane B e d a r f entsteht vor allem, wenn im Prozeß einer Informationsaufnahme (im Gespräch, beim Lesen eines Buches, einer Zeitung, beim Hören und/oder Sehen einer Nachrichtensendung)

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ein Begriff oder ein Name unbekannt oder unzureichend bekannt ist, so daß die Gesamtinformation nicht oder nicht voll verstanden wird. Nach diesem Muster entstehen die meisten Nachschlagevorgänge. Wenn das richtig ist, so ergeben sich folgende Konsequenzen, die vor allem für den Lexikonnutzer, aber auch für den Lexikonproduzenten wichtig sind: Zunächst ist nicht vorhersehbar, wann während der Informationsaufnahme das Nachschlagebedürfnis entsteht. Das Lexikon muß also stets dort verfügbar sein, wo gelesen oder gelernt, wo Informationen konsumiert werden. Nicht vorhersehbar ist weiter, auf welches Stichwort sich das Nachschlagebedürfnis richtet. Das Lexikon muß deshalb möglichst viele Stichwörter enthalten. Wenn das Nachschlagebedürfnis während einer Informationsaufnahme entsteht, so verlangt es sehr rasche Befriedigung, damit der Aufnahmeprozeß nicht oder möglichst wenig gestört wird, so daß der Kontext erhalten bleibt. Das Lexikon muß deshalb so gestaltet sein, daß die gesuchten Stichwörter nicht nur vorhanden, sondern auch schnell auffindbar und die enthaltenen Einzelinformationen rasch erschließbar sind. Daraus folgen klare Forderungen für die Artikelgestaltung (vgl. 3.4.). Neben dieser Lexikonnutzung als Bestandteil eines Hauptinformationsprozesses, der von einem anderen Medium (Buch, Zeitung, Radio, TV o. a.) ausgeht, kann die Lexikonnutzung auch ein eigener, selbständiger Informationsvorgang sein. Ein solches Nachschlagen zielt häufig auf Übersichts- oder andere umfangreichere Artikel. Hier stehen ebenfalls zunächst Definitionen, Daten und Fakten sowie ggf. Bewertungen im Vordergrund, häufig aber auch Gliederungsfragen, Klassifizierungen oder Periodisierungen und Unterteilungen. Ergänzende Hinweise auf Literatur, die weiterführt, spielen ebenso eine große Rolle wie Verweise, die Ergänzungen bieten oder Zusammenhänge verdeutlichen. Als zusätzlicher Aspekt sei noch darauf hingewiesen, daß von einem Lexikon nicht nur die Schließung von Wissenslücken erwartet wird, sondern auch die Beseitigung von Unsicherheiten, die Bestätigung des vorhandenen, aber unsicheren eigenen Wissens. Aus beidem folgt, daß eine ungewöhnlich hohe Zuverlässigkeit vorausgesetzt wird, daß nicht nur Wissenschaftlichkeit oder Objektivität, sondern auch Autorität erwartet werden. Die

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Lexikoninformation wird für den Benutzer zur Auskunft „letzter Instanz", die nicht mehr überprüft wird — die Möglichkeit dieser Nutzung gibt dem Lexikon den Charakter einer Versicherung. Dies stellt an eine Lexikonredaktion ganz außergewöhnliche Anforderungen, die sie manchmal überfordern, denen sie aber angesichts des Gewichts der Enttäuschung, die durch Fehler verursacht wird, gerecht zu werden bestrebt sein muß.

Diese Darstellung überzeugt nicht. Das Lexikon-Institut Bertelsmann befragt regelmäßig Käufer u. a. danach, welche Fachgebiete ihnen im Lexikon besonders wichtig sind. Dabei stehen stets Geschichte, Geographie, Biologie und Technik an der Spitze. Ihre Betonung entspricht ohne Zweifel vor allem dem — von Mittelstrass nur bei den Illustrationen eingeräumten — „ Konsumentenb e d a r f ' (vgl. auch 3.6.).

3.2.2. Inhaltliche Gewichtung Ein wichtiges lexikalisches Charakteristikum ist die Aufteilung der verfügbaren Gesamtmenge an Text bzw. der Gesamtzahl der Stichwörter auf die einzelnen großen Fachgebiete. Dafür haben sich im Laufe der Zeit gewisse durchschnittliche Prozentsätze herausgebildet, die bei allen Lexika und in allen Sprachräumen sehr ähnlich sind. Schon geringe Abweichungen von den Durchschnittswerten führen aber dazu, daß einzelnen Lexika eine gewisse Betonung der Geisteswissenschaften (in Deutschland traditionell Brockhaus) bzw. der Naturwissenschaft und Technik (in Deutschland traditionell Meyer) zugeschrieben wurde.

3.2.3. Folgerungen für Auswahl und Gestaltung

Zu den umfangreichsten Gebieten gehören meist die Geographie (mit Geologie, Geophysik, Völkerkunde etwa 15 — 18 Prozent), Geschichte (mit Politik 12—15 Prozent), Biologie ( 1 0 - 1 2 Prozent), Technik ( 8 - 1 0 Prozent), Literatur, Recht, Wirtschaft und Medizin. Jürgen Mittelstrass hat diese Gewichtung (1976) mit dem Streben der Verlage nach weniger aktualitätsanfälligen Inhalten zu erklären versucht: „Hinzu kommt die in nahezu allen Enzyklopädien bemerkbare Tendenz zur Bevorzugung eines Wissens, das nicht so schnell veraltet. So machen sich Geographie und Geschichte, Botanik, Zoologie, überhaupt Naturkunde jeder Art breit (damit gleichzeitig auf die natürlichste Weise dem gegenüber diesen nicht nur größten, sondern auch prächtigsten Büchern geltend gemachten Konsumentenbedarf an bunten Bildern und Tafelwerken entsprechend), Biographisches wird großgeschrieben. Kurzum, Enzyklopädien setzen ihrer materialmäßigen Organisation nach keineswegs nur auf das vergängliche Neue, sondern in mindestens ebensolchem Maße auch auf das gesicherte Vergangene wie Andauernde, eine Eigenart wiederum, die sie mit jenem älteren enzyklopädischen Wissen teilen, für dessen Selbstbewußtsein der Fortschritt noch nicht existierte."

Für die Stichwortauswahl ergibt sich also, daß sie in erster Linie auf diejenigen Wörter und Begriffe gerichtet sein muß, die dem Laien im täglichen Leben, in den Massenmedien und in populärwissenschaftlichen Publikationen begegnen oder mit großer Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft begegnen werden. Diese Begriffe müssen direkt auffindbar sein und sollten nicht erst auf dem Weg über Verweise zugänglich werden. Begriffe dagegen, die nur in der Fachliteratur eine — wenn auch oft sehr wichtige — Rolle spielen, treten demgegenüber zurück. Diese Grundsätze gelten insbesondere auch für die Auswahl von Biographien. Es müssen oft Persönlichkeiten ins Lexikon aufgenommen werden, an deren Leistungen man durchaus zweifeln kann oder deren Bewertung umstritten ist, die aber häufig in der Öffentlichkeit genannt werden (Politiker, Schauspieler, Sportler). Selbstverständlich sind sogenannte Eintagsfliegen auszuscheiden. Für die Gestaltung der Artikel ergibt sich folgendes: Allgemeinverständlichkeit ist das oberste Prinzip. Wo eine allgemeinverständliche Darstellung in dem Raum, der im Lexikon zur Verfügung steht, nicht möglich erscheint, ist sie nicht durch eine besonders ausführliche Darstellung anzustreben, sondern man sollte sich ernsthaft die Frage stellen, ob dieses Stichwort wirklich ins Lexikon gehört. Wenn man diese Frage bejaht, kann man u. U. zu dem Ergebnis kommen, daß ein kurzer Hinweis, der den Begriff in einen größeren Zusammenhang einordnet, für den Laien nützlicher ist als der Versuch, auf zu engem Raum zu einer notwendigerweise nicht allgemeinverständlichen Erklärung zu kommen. Es sei hier betont: Die Beiträge etwa aus dem Gebiet der Biologie ergeben, wenn man sie zusammenfaßt, kein Fachlexikon dieser Wissenschaft, sondern die Summe dessen, was der Laie aus diesem Fach braucht, was ihn interessiert und was er verstehen kann.

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

In diesem Zusammenhang gehört auch, daß es nicht Aufgabe eines allgemeinbildenden Lexikons ist, sich mit widerstreitenden wissenschaftlichen Hypothesen auseinanderzusetzen und eine Entscheidung zu suchen. Das Lexikon hat die Aufgabe, das wissenschaftlich Gesicherte mitzuteilen und zukünftige Entwicklungsrichtungen anzudeuten. Exaktheit im faktischen Detail ist wichtiger als die Kühnheit der Formulierung, die sich mit einer wissenschaftlichen Hypothese, einer umstrittenen Lehrmeinung, einer Ideologie auseinandersetzt. 3.3. Zur Sprache und Verständlichkeit — „Lexikon-Stil" Ein selektives Moment (vgl. 3.2.) enthält schließlich auch der Lexikonstil, wie er sich seit dem 19. Jh. zunehmend herausgebildet hat. Er ist ein wesentliches Element der Wissensverdichtung, erhöht zwar nicht gerade die flüssige Lesbarkeit, leitet aber ebenso wie die Informationsauswahl innerhalb des Artikels den Auskunftssuchenden rasch auf den Kern der Sache hin. Bei der Betrachtung dieses Stils — man spricht auch von „Telegrammstil" — , der auf schmückende Adjektive, Wiederholungen und weitgehend auch auf Beispiele verzichtet, viele Abkürzungen nutzt und nur wichtige Fakten aneinanderreiht, werden wir wieder auf das Schlagwort Objektivität hingeleitet: Es ist klar, daß unter den Bedingungen des Lexikonstils der Raum für die Wiedergabe von Meinungen fehlt - es sei denn, es handele sich um einen Gegenstand, der wirklich zwei völlig gegensätzliche Meinungen erlaubt. Dann muß der Raum vorhanden sein, beide zu bringen. In der Regel aber werden Verfasser oder Redakteure eines Lexikonartikels gezwungen sein, dem Benutzer nur gesicherte Tatsachen anzubieten. Etwas anders sah das noch Joseph Meyer, der 1834 im „Reglement für die Herren Mitarbeiter" schrieb (zitiert nach Hohlfeld, 1926, 104f.): „Demnach ist an jedem Gegenstande immer die interessanteste, d. h. diejenige Seite abzugewinnen, von welcher aus seine wissenschaftliche Bedeutung oder praktische Wichtigkeit am deutlichsten und stärksten hervortritt. Auch Nebenumstände, wenn sie bezeichnend und pikant sind, dürfen nicht unerwähnt bleiben, immer aber sind die neuesten Ereignisse, der neueste Stand der Sache hervorzuheben. Dagegen sind trockne Schemas und Begriffszergliederungen so viel als möglich zu vermeiden, oder abzukürzen. Breite des Ausdrucks ist als ein Hauptfehler

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einer encyklopädischen Darstellung aus dem Conv.Lex. ein für alle Mal verbannt; ein kräftiger, markirter, frischer Styl, der die rechte Mitte hält zwischen der abstrusen Compendienform und dem laxen Ton der Unterhaltungsliteratur, ist bei allen größern Artikeln zu adoptiren, bei kleinern Artikeln aber muß eine noch größere Präcision eintreten, und hier, wo es nur darauf ankommt, Fakta hinzustellen, ist selbst die Ersparung eines Wortes, ja einer Silbe, als Gewinn anzusehen. Da, wo das Gemüth mitredet, wo die Gesinnung des Verfassers in der Färbung seiner Rede sich abspiegeln soll, bei größern Artikeln über Gegenstände der Religion, der praktischen Philosophie, der Politik etc. etc., bei Schilderungen großartiger Werke der Natur und der Kunst, herrlicher Charaktere und weltbewegender Katastrophen — bei Allem, was der Sache nach groß und außerordentlich ist, soll auch die Darstellung einen höheren Aufschwung nehmen und nicht bloß die Sache zu erklären, sondern auch den Leser zu erwärmen suchen. Leere Floskeln und pomphafte Redensarten sind freilich hier ebensowenig, als bei den kürzesten Artikeln, an der Stelle." 3.4. Der Artikelaufbau Die lexikalische Darstellung eines Gegenstands (eines Stichworts) umfaßt meist (1) eine sprachliche, die etymologische Herkunft und gegebenenfalls grammatikalische Besonderheiten verdeutlichende Erläuterung des Begriffs, einschließlich evtl. erforderlicher Hinweise zur Aussprache, (2) je nach Gegenstand eine geschichtliche Übersicht, (3) eine sachlich-systematische Einordnung, (4) einen Hinweis auf die heutige Bedeutung des Gegenstands sowie abschließend (5) eine Auflistung weiterführender Literatur. Auf die Notwendigkeit der Kürze, auch durch die Verwendung von Abkürzungen, ferner gute Definition, deutliche Gliederung (Auszeichnungen, Zwischenüberschriften), Hervorhebung der wichtigsten Fakten, Verständlichkeit und - wo nötig - sichere Bewertung wurde schon hingewiesen (3.2.). Wenn in einem Artikel Fachtermini verwendet werden, so sind diese in der Form und Schreibweise zu bringen, in der sie ggf. im Lexikon als eigenes Stichwort erscheinen, so daß sie auch komplikationslos nachgeschlagen werden können (vgl. auch 3.5.).

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Für die Gliederung der Artikel gilt die Regel: „Vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Einfachen zum Schwierigen." Man könnte also von einem spiralförmigen Aufbau der Artikel sprechen.

eignete Programme nicht nur sehr erleichtert wird, sondern daß sich dort zahlreiche neue und zusätzliche Verknüpfungsmöglichkeiten ergeben.

3.5. Verweissysteme

Aktualität gehört vielleicht zu den wichtigsten, auf jeden Fall zu den meistgenannten Forderungen an ein Lexikon. Gerade angesichts der seit Jahrzehnten immer wieder laut werdenden Meldungen zum Schlagwort Wissensexplosion, nach denen sich das Wissen der Welt, je nach Fachgebiet, angeblich alle zehn, sechs oder gar drei Jahre verdoppele, halten viele Laien und Journalisten (und vor allem Leute, die beides sind) Lexika f ü r eine außerordentlich vergängliche, verderbliche Ware. Dieser Sachverhalt ist auch die Grundlage vieler schlechter Prognosen für die zukünftigen Aussichten des gedruckten Lexikons, da von nicht Wenigen erwartet wird, daß es durch leichter aktualisierbare Datenspeicher verdrängt werden wird. Diese Prognosen sind schon so alt wie die ersten Computer und die ältesten Datenbanken. Mittlerweile weiß jeder Kenner, daß Datenspeicher zwar große Bedeutung für berufsbezogene Fachinformation erlangt haben und weiter gewinnen werden, daß sie aber den allgemeinen Lexika noch keinen größeren Abbruch getan haben. Das hat unterschiedliche Gründe. Entscheidend ist wohl dabei auch daß die Bedeutung aktueller Information im Lexikon vielfach überschätzt wird. Es ist sicher richtig, wenn eingewandt wird: Der Leser einer Morgenzeitung oder der Betrachter einer informierenden Fernsehsendung weiß oft mehr, als er als Besitzer einer Enzyklopädie erfahren kann. Richtig — nur: Sucht er das, was ihm Zeitung oder TV bieten, im Lexikon? Wohl nur selten!

Verweise sollen vor allem Ergänzungen bieten oder Zusammenhänge herstellen, also insgesamt das Verständnis und die Benutzbarkeit des Lexikons fördern. Es werden unterschieden: (1) Glatte Verweise von einem Stichwort auf ein anderes. Bei dem Stichwort, auf das verwiesen wird, m u ß es sich um einen Artikel handeln, der zum Verständnis des Stichworts, von dem verwiesen wird, unbedingt notwendig ist. Das Stichwort, von dem verwiesen wird (ζ. B. agglutinierende Sprachen), m u ß in dem Artikel, auf den verwiesen wird (ζ. B. Sprache), buchstabengetreu auftauchen und darf dort nicht nur in Wortzusammensetzungen stehen. Hierzu gehören auch der Verweis von einer Abkürzung auf das ausgeschriebene Stichwort (z. B. AG -> Aktiengesellschaft) und der Verweis von einer Namenschreibung auf eine andere (ζ. B. Milano -» Mailand). (2) Der Verweis im Text eines Stichworts auf ein anderes Stichwort, das mit dem Stichwort, von dem verwiesen wird, in einem größeren Zusammenhang steht, für dessen Verständnis aber nicht unbedingt notwendig ist. In diesem Fall m u ß das Stichwort, von dem verwiesen wird, im Artikel, auf den verwiesen wird, nicht unbedingt auftauchen (z.B.: „Ägäisches Meer, ... durch die -> Dardanellen mit dem -» Marmarameer verbunden ..." (3) Siehe-auch-Verweis (auch ->), der in der Regel am Ende eines Artikels oder Absatzes steht und auf einen Artikel verweist, der zum Verständnis des Artikels, von dem verwiesen wird, nicht unbedingt erforderlich ist, aber das Verständnis eines größeren Zusammenhanges erleichtert. (4) Die meisten Lexika lehnen die Verwendung des Gleichheitszeichens als Verweis ab, also nicht z. B. Milano = Mailand, AG = Aktiengesellschaft. (5) Sonderfälle sind Verweise auf Abbildungen oder Landkarten ([ÏÏ], [κ]). Dabei sind Verweise auf das Stichwort, bei dem sich die Illustration findet, ebenso möglich, wie Verweise auf Seiten- und/oder Bandzahlen. Schon hier sei darauf verwiesen, daß die Herstellung und Offenlegung von Zusammenhängen im elektronischen Lexikon durch ge-

3.6. Der Wert der Aktualität

Und selbstverständlich sind die Redaktionen stets bemüht, mit großem organisatorischem Aufwand sowohl veraltetes und k a u m gesuchtes Stichwortmaterial herauszufiltern wie neue Persönlichkeiten, die ins Licht der Öffentlichkeit treten, und neue Begriffe, die ständig auftauchen und Allgemeingut zu werden beginnen, zu suchen. Bei der Suche nach neuem Stichwortgut m u ß der Blick auch bereits auf Begriffe und Personen gerichtet werden, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit erst in den nächsten Jahren voll durchsetzen. Es m u ß auch nicht nur auf einzelne Erscheinungen und Ereignisse geachtet werden, sondern es müssen oft Verschiebungen berücksichtigt werden, die ganzen Fachgebieten neues und zusätzliches

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

Gewicht verleihen. Das galt ζ. B. vor einigen Jahrzehnten für Psychologie und Soziologie, für Kernphysik und Kerntechnik, Politik und politische Geographie der Entwicklungsländer, außereuropäische Kulturen u.a., in jüngerer Zeit für Datenverarbeitung, Immunologie, Molekularbiologie, Gentechnologie u. a. 3.7. Unterschiedliche Arten der Aktualisierung Die Lebensdauer einer Lexikongeneration, d. h. der Abstand zwischen dem Erscheinen zweier völlig neu bearbeiteter Ausgaben eines bestimmten Lexikons, beträgt in der Regel etwa 10 bis 15 Jahre. In dieser Zeit behelfen sich die Verlage traditionell meist mit Nachtrags· oder Ergänzungsbänden, sie geben ergänzende Jahrbücher heraus, oder sie veranstalten durchschnittlich einmal im Jahr eine aktualisierte Neuauflage (wie ζ. B. bei Bertelsmann oder der 'Encyclopaedia Britannica' üblich ist). Ein anderer, von den deutschen Großlexika (Brockhaus, Meyer) in den letzten Jahren bevorzugter Weg besteht in Nachträgen am Ende jedes einzelnen oder bestimmter Bände (jeder 3., 4. oder 6. Band). Der Nachteil von Ergänzungsbänden und Nachträgen besteht darin, daß der Benutzer stets an mehreren Stellen nachschlagen muß, wenn er sichergehen will, alle Aktualitäten gefunden zu haben. Bei aktualisierten Neuauflagen sind die Redaktionen an die Einhaltung des Gesamtumfangs und das Layout gebunden, d. h. eventuelle Einfügungen neuer Stichwörter oder Ergänzungen vorhandener müssen in unmittelbarer Nachbarschaft durch Kürzungen kompensiert werden (4.3.). Es hat sich nun gezeigt, daß durch Aktualisierungen in dem genannten Zeitraum von 10 bis 15 Jahren, wie sie z.B. durch Todesfälle, politische Veränderungen, neue Gesetzgebungen, wissenschaftliche Neuerungen, veränderte Bevölkerungs- und Wirtschaftszahlen, Preisverleihungen, neue Werke u. a. veranlaßt werden, nur 5 bis allenfalls 10 Prozent aller Artikel betroffen sind. Der Rest der Stichwörter bezieht sich auf „bleibende Werte", auf Informationen, die bei Neuausgaben allenfalls moderner gestaltet, in der Aussage aber nicht verändert werden. Es ist auch offensichtlich nicht etwa so, daß die aktualitätsanfälligen Stichwörter weit überdurchschnittlich nachgeschlagen werden. Das zeigt sich darin, daß z. B. Nachtragsoder Ergänzungsbände oder ergänzende Jahrbücher, wenn sie nicht bereits mit dem Grundwerk bestellt werden, keineswegs auch nur annähernd gleich hohe Auflagen errei-

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chen wie das Lexikon selbst. (Diese Bände sind also sehr problematische Vertriebsobjekte). Auch die Tatsache, daß Auskunftsdienste, die zum Lexikon angeboten werden (wie es in Deutschland besonders intensiv bei Bertelsmann geschieht), hauptsächlich nach ergänzenden und nur relativ selten nach aktualisierenden Angaben gefragt werden, ist ein deutliches Indiz dafür. Dessen ungeachtet, soll der Auskunftsdienst dem Käufer die Gewißheit geben, im Bedarfsfall aktuelle Informationen zu erhalten, da der Verlag auf die traditionell übliche Herausgabe von Nachtrags- oder Ergänzungsbänden verzichtet. Weiter erhält der Käufer, wenn er es wünscht, zu einzelnen Stichwörtern ergänzende Informationen oder weitergehende Literaturhinweise, für die im Lexikon der Platz fehlt. Schließlich kann er auch Informationen über Namen oder Begriffe erhalten, die im Lexikon wegen Raummangel fehlen. Der Auskunftsdienst ist im übrigen für den Verlag nicht nur ein verkaufsförderndes Argument. Er stellt — neben Käuferbefragungen — auch ein Instrument dar, mit dem Benutzer in Kontakt zu kommen, seine Interessen, Bedürfnisse und Nutzungsgewohnheiten kennenzulernen.

4.

Ästhetische Funktionen

Die Darstellung der Erwartungen, mit denen die Benutzer an das Lexikon herangehen (vgl. 3.2.), leitet unmittelbar zu der Frage über, wie sich die Verlage bemühen, diesen Erwartungen gerecht zu werden, d. h., wie und in welcher Form Lexika entstehen. Am Anfang steht die Frage, ob sich das geplante Lexikon an eine klarer bestimmbare Zielgruppe wenden soll. Die Frage ist meist identisch mit der Frage nach dem Umfang des Lexikons und zielt heute zunächst vor allem auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, also die Kaufkraft der Zielgruppe. Da sich moderne Lexika praktisch an jeden wenden, unabhängig vom Alter — die Zielgruppe reicht von den Heranwachsenden bis zu den Senioren — und vom Geschlecht, vom Beruf und vom Bildungsstand, wird der Einzelne beim Kauf eines Lexikons in seiner Wahl vor allem von seinen finanziellen Möglichkeiten geleitet. Natürlich spielt die Intensität geistiger Interessen, auch die — oft von Familientradition beeinflußte — Erfahrung im Umgang mit Nachschlagewerken, ebenfalls eine Rolle.

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Daß am Anfang der eigentlichen Arbeit dann Selektion steht, und zwar vor allem Stichwortauswahl, hatten wir schon dargestellt. Wie weit die Auswahl und die Verdichtung gehen muß, ergibt sich aus dem Umfang des Lexikons. Er bestimmt, welche Menge an Text und Illustration untergebracht werden kann. Im Rahmen der, meist in Zeilen ausgedrückten, Gesamtmenge an Text ist es nun eine konzeptionelle Entscheidung, ob man eine möglichst große Zahl an Stichwörtern mit durchschnittlich sehr geringer Artikellänge anstrebt oder sich für weniger, aber durchschnittlich längere Artikel entscheidet. Das erstgenannte Verfahren entspricht der deutschen und auch der französischen Lexikontradition, das letztere mehr der angloamerikanischen. 4.1. Die Konzeption der Stofferschließung Die Grundfrage jeglicher Lexikonerstellung, die Frage nach der Konzeption des enzyklopädischen Nachschlagewerks, beeinflußt sowohl seine kommunikativen wie seine ästhetischen Funktionen. Dabei bezieht sich bei kleinen und mittleren Werken die Konzeption allein auf den Umfang, die Qualität der Textbeiträge und die Ausstattung, die graphische und herstellerische Ausgestaltung. Bei großen Enzyklopädien hingegen findet die Frage nach einem bestmöglichen Zugang zum Inhalt verschiedene Antworten. Entweder präsentieren sie sich als rein alphabetische Großlexika (wie bei Brockhaus) oder gegliedert in Micropaedia und Macropaedia (wie bei der 'Encyclopaedia Britannica', vgl. 4.1.2.) oder aber als Kombination von alphabetisch geordnetem Lexikon mit sog. Themabänden (wie bei der Bertelsmann LEXIKOTHEK) — um nur drei typische Lösungen zu nennen. Bei der Beurteilung der unterschiedlichen Lösungsansätze werden im nationalen wie im internationalen Vergleich zielgruppenabhängige Elemente aus Geschichte und Gesellschaft heranzuziehen sein. Diese Elemente werden auch bei der Antwort auf die Frage nach den heutigen und zukünftigen Möglichkeiten und Chancen von Nachschlagewerken auf elektronischen, nicht papiergebundenen Informationsträgern eine Rolle spielen. 4.1.1. Was heißt Enzyklopädie und wie öffnet sie sich? Georg Picht kam Anfang der siebziger Jahre in einem Vortrag ('Enzyklopädie und Bildung', 1971) zu der Deutung: „Eine Enzyklopädie ist [...] ein Labyrinth, in dem nur sol-

che Leser die verborgenen Schätze finden, die vorher schon wissen, wo man suchen muß." Picht leitet den Inhalt des Wortes Enzyklopädie aus dem Bildungsprogramm der sophistischen Schule ab („die eines freien Mannes würdige Bildung bestand darin, daß er zwar über alles orientiert war, aber genug Geschmack und Stilgefühl besitzen sollte, um die Pedanterie des gründlichen und genauen Wissens zu vermeiden. Man sollte gerade so viel wissen, um sich über alles ein politisches Urteil bilden zu können und jedem Gegner in der Diskussion gewachsen zu sein.") Aus der Trennung zwischen „Bildung", Spezialwissenschaft und Philosophie folgt: Enzyklopädie ist die Alltagsbildung, die für die philosophische Erkenntnis nur den Vorhof bildet; sie ist profane „... Bildung, die auf das wahre Wissen bestenfalls vorbereitet". Erst die Neuzeit verstand dann unter Enzyklopädie „ein vollständiges System der Gesamtheit des menschlichen Wissens". „... eine Information (sagt) nur dem etwas, der den Zusammenhang kennt, in den sie gehört. Es hilft nichts, die Summe aller verfügbaren Informationen in Folianten oder in Datenbanken zu speichern; man muß auch die Kunst vermitteln, sie zu benutzen." Der hier deutlich werdenden Skepsis gegenüber Datenspeichern wie modernen Lexika versuchen heutige Lexikonverlage auf unterschiedliche Weise zu begegnen. Es sei hier nur auf die Teilung der Encyclopaedia Britannica, auf die Einfügung enzyklopädischer Sonderbeiträge in neueren deutschen Großlexika und auf das System der LEXIKOTHEK hingewiesen (4.1.2.). 4.1.2. Unterschiedliche enzyklopädische Lösungen Die traditonsreichen deutschen Lexikonverlage, die seit 1984 zur Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus A G fusioniert sind, stellen nach wie vor umfangreiche, alle Wissensgebiete erfassende, nach dem Alphabet geordnete Lexika her. Allerdings sind die Großlexika von Meyer (seit 1971) und Brockhaus (seit 1986) durch in das Alphabet eingeordnete essayistische Sonderbeiträge bzw. Schwerpunktartikel (Schlüsselbegriffe unserer Zeit) angereichert worden, die in begrenztem Umfang Zusammenhänge verdeutlichen sollen. Viele Benutzer einer Enzyklopädie haben aber, da sie nicht über eine gut sortierte Fachbibliothek verfügen, das Bedürfnis, neben schneller Einzelinformation auch Zugriff auf

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

eine gründliche Darstellung von Zusammenhängen zu erhalten. Die Problematik, die sich daraus ergibt, haben mehrere Verlage erkannt. So erschien in Frankreich bei Larousse neben der 'Grande Encyclopédie alphabétique' (1971-1976), die in der Form der klassischen Enzyklopädie wenige Stichwörter und lange Artikel enthält, ein Grand Dictionnaire encyclopédique' (1982—1985), ein Werk, das, wie wir es in Deutschland gewöhnt sind, viele Stichwörter, aber keine Zusammenhänge bietet. Wie gesagt, diese beiden Enzyklopädien stehen nebeneinander, ergänzen sich nicht. Der Verlag geht nicht davon aus, daß sich ein Benutzer beider Enzyklopädien bedient. Einen anderen Weg geht die 'Encyclopaedia Britannica', die seit 1974 innerhalb der einen Enzyklopädie die beiden Teile Micropaedia und Macropaedia unterscheidet. Die Micropaedia (10 Bände) stellt den Nachschlageteil dar, die Macropaedia (19 Bände) informiert in längeren Artikeln umfassend über eine geringe Zahl von Stichwörtern. Zusammenhänge können auch bei diesem Vorgehen nur unzureichend deutlich werden, da auch die Macropaedia durch ihre alphabetische Anordnung auf die — wenn auch ausführliche — Darstellung von Einzelthemen begrenzt ist. Lizenzausgaben der Britannica erschienen auch u. a. in japanischer, französischer, arabischer und spanischer Sprache. Der Bertelsmann Lexikon Verlag hat durch umfassende Käuferbefragungen festgestellt, daß von einem großen Teil der Benutzer ein alphabetisch geordnetes Lexikon von 15 Bänden als ausreichend empfunden wird. Ergänzend dazu umfaßt die Große Bertelsmann LEXIKOTHEK 15 sogenannte Themabände sowie einen großformatigen Atlas. Die 15 Bände des alphabetisch geordneten Teils enthalten über 200 000 Stichwörter. Das entspricht dem im In- und Ausland üblichen Umfang größerer enzyklopädischer Lexika. Die Themabände kann man als enzyklopädische Sachbücher bezeichnen. Sie beschäftigen sich mit der Darstellung der Grundzüge und Zusammenhänge der verschiedenen Fachgebiete. Dabei stehen nicht Vollständigkeit und Fülle der Einzelinformation im Vordergrund - diese bietet der alphabetische Teil - , sondern die exemplarische Wissensvermittlung. Obwohl die überaus positive Aufnahme dieser enzyklopädischen Lösungen durch die Benutzer die Konzeptionen bestätigen, kann man sie selbstverständlich von einer theoreti-

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schen wissenschaftsmethodischen Warte aus als Kompromisse kritisieren. Am schärfsten ist diese Kritik vom Standpunkt des „real existierenden" „wissenschaftlichen Sozialismus" formuliert worden. So schrieb Gurst (1976, 185): „Es hat den Anschein, als plage die bürgerlichen Lexikonmacher ein schlechtes Gewissen darüber, daß sie unter dem Gesichtspunkt der Termini und Namen alphabetisch aufgesplittertes — und dazu noch stark gekürztes — Wissen bieten müssen, und Unzufriedenheit, daß ihre Lexika nur bescheidene und sekundäre Hilfsmittel geistiger Arbeit sein können. Es ist kultur-, wissenschaftsund buchgeschichtlich gesehen wenig durchdacht, wenn das alphabetisch gegliederte Lexikon, geplant als ergänzendes Pendant zur historisch — und meist auch auf die einzelne Privatbibliothek bezogen — längst vorher vorhandenen nichtlexikographischen Literatur, wiederum gerade durch systematische, monographische oder lehrbuchartige Bücher ergänzt werden soll. Die Entwicklung des allgemeinen Lexikons seit 1800 ist nicht zuletzt die Geschichte seines notwendigen Verzichtes, das Gesamtwissen zu übernehmen oder Bibliotheken ersetzen zu wollen. Aber Namen wie Herderbibliothek oder Lexikothek oder Werbesprüche wie 'Das ganze Wissen in höchster Form' ... legen den Verdacht nahe, daß wiederum der Bibliothek Konkurrenz gemacht werden soll. Aber was im 18. Jh. noch bedingt möglich und in der ersten Hälfte des 19. Jhs. noch verzeihlich war, ist heutigen Verlegern nicht zu verzeihen und ist schädlich, weil es die Illusion eines abgeschlossenen 'häuslichen Wissensschatzes' erzeugt. Für die Verlage ist es allerdings sehr lukrativ, die Zugkraft der allgemeinen Lexika zu benutzen, um beim Lexikonkäufer einige spezielle bzw. nichtlexikographische teure Titel zusätzlich abzusetzen." Diese Tirade zeigt in typischer Weise die Mißachtung des Benutzerwillens. Eine vergleichbare Kritik ist aber auch immer wieder von denen zu hören, die sich die Lösung aller Probleme lexikalischer Arbeit von der immensen Speichermöglichkeit elektronischer Medien versprechen. Dazu muß hier gesagt werden, daß (1) die Frage noch offen ist, ob in der Zukunft überhaupt für die große Masse der informationsuchenden Laien hinreichend schnelle und zugleich leicht handhabbare und preisgünstige Zugriffs- und Verknüpfungsmöglichkeiten angeboten werden können und

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(2) — wenn sie gegeben sind - wann dies der Fall ist, so daß (3) für die Gegenwart und die überschaubare Zukunft die vorhandenen Enzyklopädien in Buchform bei der großen Mehrzahl der Benutzer noch ohne ernsthafte Konkurrenz sind. 4.2. Die Gestaltung der Information Bereits im 19. Jh. entwickelten sich auch die wichtigsten Prinzipien der formalen lexikographischen Gestaltung, die die nüchterne und sachliche, tatsächlich weitgehend wertungsfreie Information im typischen Lexikonstil strukturierte, auch wenn die Verdichtung noch nicht so weit fortgeschritten war, wie es heute oft der Fall ist. Auch Illustrationen dienten der Information, zunächst einfarbig, dann auch mehrfarbige Tafeln, Textabbildungen, Karten im Text, auch auf (oft farbigen) Tafeln; hinzu kamen ggf. Register, Ergänzungsbände. Kinder des 19. Jhs. sind auch die mittleren und Kleinlexika, Werke, die meist zwei bis vier Bände umfaßten, also deutlich umfangreicher waren als die meisten späteren Einbänder, die typische Produkte des 20. Jhs. sind, ob es sich um den Kleinen Knaur, Meyers Blitzlexikon, den Volksbrockhaus, das Bertelsmann Volkslexikon, das Bertelsmann Universallexikon o. a. handelt. Der einzige Einbänder des 19. Jhs., der Kleine Meyer, zuerst 1870/72 erschienen, war immerhin so umfangreich, daß seine zwei Hälften getrennt gebunden wurden. Echte Neuerungen der zweiten Hälfte des 20. Jhs. sind die durchgehend farbige Illustration, das Taschenbuchlexikon, die Kombination des Lexikons mit systematisch gegliederten Themabänden, wie sie vor allem das Haus Bertelsmann pflegt (Bertelsmann Lexikon-Bibliothek, LEXIKOTHEK), und - mit sehr begrenztem Erfolg auf dem deutschsprachigen Markt — das Partwork-Lexikon. 4.2.1. Schriftliche Gestaltungselemente — Typographie Zu den formalen Kennzeichen gehörten bereits im 19. Jh.: halbfette Hervorhebung des Stichworts; Angaben zur Aussprache, zur Etymologie, ggf. zur Grammatik, zum Wissenschafts- oder Sachgebiet; ggf. textliche Auszeichnungen zur Hervorhebung oder Untergliederung; Verwendung vieler Abkürzungen, darunter der Abkürzung des Stichworts im Text durch seinen Anfangsbuchstaben; Vorworte; Abkürzungsverzeichnisse;

Verweissysteme; Literaturangaben, die weiterführen und ergänzen; Autoren- bzw. Mitarbeiterverzeichnis; Mehrspaltigkeit; lebende Kolumnentitel; in manchen Lexika Register. 4.2.2. Schriftlich-graphische Gestaltungselemente Im wesentlichen neue Elemente vor allem der 2. Hälfte des 20. Jhs. sind Kästen, Balken und andere Übersichten, die ζ. T. in tabellarischer Form, ζ. T. als Textblöcke, oft hervorgehoben durch graphische Zutaten wie farbige Leisten oder Fonds einzelne Aspekte, Faktenkomplexe, Sach- oder Zeitzusammenhänge besonders herausstellen. Von den zahlreichen Beispielen in der modernen Lexikographie können nur wenige genannt werden. So enthält das 15bändige Lexikon der Großen Bertelsmann LEXIKOTHEK 100 biographische Tabellen zu wichtigen Personen der Weltgeschichte, bei denen die linke Spalte die Lebensdaten der Persönlichkeit, die rechte gleichzeitige Ereignisse aus verschiedenen Weltteilen und Lebensbereichen verzeichnen - das Ganze mit farbiger Kopfleiste und farbigem Fond. Im gleichen Lexikon enthalten alle Artikel über selbständige Staaten einen Kasten, in dem neben Nationalflagge und Staatswappen sowie einem Lagekärtchen die wichtigsten Grunddaten zusammengefaßt sind. Andere Lexika bieten ähnliche Elemente wie die balkenförmige Neben- oder Übereinanderstellung der Lebensdaten von Zeitgenossen u. a. 4.2.3. Information im Bild Informationsträger ist im Lexikon neben dem Text bereits seit langem und in ständig zunehmendem, heute in vielen Sachgebieten durchaus gleichrangigem Maß die Illustration. Sie kommt in jeder denkbaren Form vor, als Foto, Karte, Zeichnung oder andere graphische Darstellung, in Farbe oder Schwarzweiß. Zwar gab es noch im 20. Jh. einige namhafte Lexika, deren Urheber glaubten, ganz ohne Abbildungen auszukommen, doch gehört die visuelle Vorstellung einer Person oder eines Gegenstands heute ebenso zur Allgemeinbildung wie die textliche Beschreibung. Auch gibt es viele Gegenstände, die durch eine Illustration viel besser verständlich zu machen sind als durch das oft unvollkommene Wort. Neben den separaten Tafelbänden (meist mit Kupferstichen), wie sie etwa zur französischen Encyclopédie oder zur 1. Auflage von Meyers Lexikon herausgege-

146. Ästhetische und kommunikative Funktionen des modernen Lexikons

ben wurden, waren Vorstufen der Bebilderung von Lexika die 1825—1827 bei Herder erschienene 'Systematische Bilder-Gallerie zur Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie' und das 1837 — 1841 bei Brockhaus herausgekommene 'Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk'. Pierer bereicherte schon die 1840—1846 erschienene 2. Auflage seines Lexikons mit Tafeln. Brockhaus stattete dann erstmals die 13. Auflage (1882-1887) mit Tafeln aus, während die 1892—1895 veröffentlichte 14. Auflage auch im Text bebildert war. Allerdings gab es einzelne Textabbildungen bereits in den noch von Löbel bearbeiteten Teilen der 1. Auflage (ab 1796) von Brockhaus und auch in der 1. Auflage von Meyer (ab 1839). Eine durchgehend farbige Illustration setzte sich dann erst in den siebziger Jahren des 20. Jhs. in der deutschen Lexikographie allgemein durch. Auch bei den Abbildungen stellt sich die Frage nach dem Wert der Quantität. Großlexika werben in der Gegenwart mit Abbildungszahlen von 20000 bis über 40000. Meist ist dabei das Format so klein („Briefmarkengröße"), daß die Aussagekraft, der Informationswert (und darauf kommt es im Lexikon zuerst an!) fraglich wird. Die sich im Informationsgehalt ausdrückende Auswahl und Qualität und auch der Raumanteil sind für den Benutzer wertvoller als die Bildzahl, nicht zuletzt auch die Idee, die hinter der Bebilderung steht, wie es der schwedische Verleger Sven Lidmann mit Lexivision oder die LEXIKOTHEK mit ihren Bild-Doppelseiten und Transparentdrucken praktizierten. Wie sich der Raumanteil in den letzten Jahrzehnten gesteigert hat, sei an einigen BertelsmannLexika gezeigt: Im 4bändigen Lexikon der Jahre 1953 — 1955 betrug er 20 Prozent, im 7bändigen Lexikon (1966) 30 Prozent und im lObändigen Lexikon der L E X I K O T H E K (1972-1974) 40 Prozent. Damit schien ein gewisser Sättigungsgrad erreicht, denn im 15bändigen Nachfolgewerk (1984/85) stieg der Anteil nicht weiter. Kartographische Darstellungen in Form von geographischen, politischen und thematischen Landkarten sowie Stadtplänen gehören heute und seit längerem ebenso in ein Lexikon wie Fotos und Zeichnungen, ohne selbstverständlich einen Atlas ersetzen zu können oder zu wollen. Auch hier sind Qualität und Aussagekraft die entscheidenden Kriterien, wofür die Voraussetzungen am besten sind, wenn ein Lexikon-Verlag mit einem dem gleichen Verlagshaus angeschlossenen Karto-

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graphischen Institut eng zusammenarbeiten kann. Die Zahl und Qualität der Illustrationen hängt natürlich nicht nur von den Informationszielen der Redaktion ab, sondern auch von den Möglichkeiten der Kalkulation. Die Gesamtzahl der Illustrationen wird entsprechend dem Verfahren bei der Stichwortzahl — auf die einzelnen Fachgebiete verteilt. Dies geschieht allerdings nach einem anderen Schlüssel, denn es gibt Fachgebiete (1) mit einem großen Anteil an Text und Bild (z. B. Geographie, Biologie), (2) mit großem Text- und geringem Bildanteil (z. B. Literatur, Recht) und (3) mit geringem Text- und großem Bildanteil (z. B. Kunst). Eine große Zukunftsperspektive für die Illustration komplizierter Sachverhalte hat ohne Zweifel auch für die Zwecke des elektronischen Lexikons das bewegte Bild. Beachtliche Anfänge liegen vor. 4.3. Layout und lexikographisch-technische Zwänge Die Erstellung des Layouts, d.h. die Zuordnung von Text und Illustration auf den Seiten des Lexikons bildet den vorläufigen Abschluß der Arbeit. Wenn alle Vorarbeiten beendet und die Texte fachgebietsweise gesetzt und korrigiert sind, wird der Gesamttext aller Fachgebiete im Rechner alphabetisch geordnet. Er wird dann der sogenannten Schlußredaktion unterzogen. Für die Lexikonarbeit ist es charakteristisch, daß noch während des Ablaufs der technischen Herstellung zahlreiche Artikel Veränderungen unterliegen (z. B. durch den Tod einer Person, durch aktuelle politische Entwicklungen u. a.), die bei der Korrektur berücksichtigt werden müssen. Dadurch hat das gedruckte Lexikon bei seinem Erscheinen eine hohe Aktualität. Bei der Herstellung des Layouts wird durch die Graphische Abteilung der Satz auf Seiten formatiert — was heute meist am Computer-Bildschirm geschieht — , wobei die Zeichnungen und Fotografien eingebaut werden müssen. Dabei sollen die Abbildungen möglichst in der Nähe des betroffenen Artikels stehen, die einzelnen Seiten bzw. Doppelseiten sollen aber auch ein gefalliges Erscheinungsbild ergeben. Auch der aus dem Layout sich ergebende Umbruch wird noch ein- oder zweimal gelesen und überprüft, bevor die Redaktion ihn endlich für druckfertig erklärt.

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Dabei ist zu bedenken, daß das Layout, vor allem die notwendige enge Zuordnung von Text und Bild, späteren Veränderungen während der technischen Herstellung, besonders aber auch bei Nachauflagen, Grenzen setzt. Umfangsverändernde Korrekturen sind nur möglich, wenn sie auf der gleichen Doppelseite oder wenigstens in unmittelbarer Nähe kompensiert werden können. Wenn also der Text um einige Zeilen verlängert werden muß, ist es notwendig, in der Nachbarschaft zu kürzen (oder umgekehrt), es sei denn, es stehe in der Nähe ein Bild, dessen Format verändert werden kann. 4.4. Zeitgemäße Visualisierung — Erfordernis für Akzeptanz Wir haben festgestellt, daß die Wissensvermittlung durch Visualisierung beim modernen Lexikon eine entscheidend größere Rolle spielt als bei den Enzyklopädien der Aufklärung und den Konversationslexika des 19. Jhs. Diese Visualisierung und die layouterische Orientierung am Geist und Geschmack der Zeit haben im 20. Jh. stetig, ja sprunghaft zugenommen. Die Aktualität eines modernen Lexikons wird deshalb nicht mehr nur an der Aktualität der Fakten gemessen, sondern auch an der Art der Darstellung (Farbgebung, Bildauswahl, aber auch Strukturierung der Texte). Ein Seitenzweig dieser Entwicklung ist die Ausgestaltung des modernen Lexikons zum Prestige- und Kunstobjekt, wie sie sich in der äußeren Aufmachung zeigt. Dabei geht es nicht mehr nur um Luxusausgaben in wertvollem Leder und mit Goldschnitt, sondern auch um den Einsatz prominenter Künstler für die Ausstattung (ζ. B. Friedrich Hundertwasser bei Brockhaus und Georg Baselitz bei Bertelsmann). Neben dem zahlenmäßig sehr limitierten Interessentenkreis derartiger Sonderausgaben sucht das elektronische Lexikon zu Beginn des 21. Jhs. noch seinen Platz auf dem Massenmarkt. Seine technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten erscheinen durchaus erfolgversprechend. Sie gestatten nicht nur sekundenschnellen Zugriff zu aktueller Information, sondern — verglichen mit der schlichten Zweidimensionalität der Zuordnung von Text und Bild im herkömmlichen Druckwerk — eine Fülle von Verknüpfungen von Textinformationen, Fotos, Graphiken und Karten, Ton- und Videosequenzen zu einem komplexen Netzwerk von Bezügen. Allerdings wirken die — mindestens derzeit noch - geringere Mobilität des Mediums und

die Überforderung vieler potentieller Nutzer durch die unüberschaubare Menge von optischen und akustischen Signalen vorerst als Hemmnis der Akzeptanz.

5.

Literatur

Brockhaus, Hans, Aus der Werkstatt eines großen Lexikons. Wiesbaden 1953. Brockhaus, Heinrich E., Die Firma F. A. Brockhaus von der Begründung bis zum 100jährigen Jubiläum 1805-1905. Leipzig 1905. Diesner, Hans-Joachim/Günter Gurst (Hrsg.), Lexika gestern und heute. Leipzig 1976. Gärtner, Hannelore, Zur Geschichte und zur Lexikographie der Encyclopédie. In: Lexika gestern und heute. Hrsg. v. Hans-Joachim Diesner/Günter Gurst. Leipzig 1976, 9 5 - 1 3 6 . Gurst, Günter, Allgemeine Lexika gestern, heute und morgen. In: BbdB Leipzig 140, H. 5, 30. 1. 1973, 8 4 - 8 7 . —, Zur Geschichte des Konversationslexikons in Deutschland. In: Lexika gestern und heute, Hrsg. v. H . J . Diesner/G. Gurst. Leipzig 1976, 137-188. Hadding, Günther, Aus der Praxis moderner Lexikographie. In: Welt der Information. Hrsg. v. Hans-Albert Koch/Agnes Krup-Ebert. Stuttgart 1990, 109-121. Hjort, Kirsten, Lexikon, Wörterbuch, Enzyklopädie, Konversationslexikon. Versuch einer Begriffserklärung. In: Mu 77. 1967, 353-365. Hohlfeld, Johannes, Das Bibliographische Institut, Festschrift zu seiner Jahrhundertfeier. Leipzig 1926. Hübscher, Arthur, 150 Jahre F A . 1805-1955. Wiesbaden 1955.

Brockhaus

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(Deutschland)I (Deutschland)

147. Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Begriff Überschneidungen mit anderen Publikationsformen Design Produktion und Distribution Geschichte Erzählung und Leser Literatur

f ü r die a n o n y m b l e i b e n d e n A u t o r e n w i r d f ü r die E i n p a s s u n g d e r einzelnen Titel in die Serie gesorgt. Wenige G r o s s i s t e n , die exklusiv bes t i m m t e G e b i e t e beliefern, vertreiben die H e f t e a n die v e r s c h i e d e n s t e n E n d v e r k ä u f e r .

2.

Überschneidungen mit anderen Publikationen

1.

Begriff

N a c h heutigem Standard erscheinen R o m a n H e f t e in gezählten, w ö c h e n t l i c h e r s c h e i n e n d e n Serien. J e d e s o k t a v f o r m a t i g e ( 1 5 x 2 2 , 5 c m ) H e f t b r i n g t eine abgeschlossene E r z ä h l u n g , R o m a n genannt. Die Hefte, deren Bindeart i h r e m N a m e n e n t s p r i c h t , sind zweispaltig ged r u c k t u n d 64 Seiten s t a r k , h i n z u k o m m t ein vierseitiger, v i e r f a r b i g e r U m s c h l a g . P r o d u k t i o n u n d Vertrieb sind streng d u r c h r a t i o n a l i siert. D u r c h V o r g a b e bzw. K o n t r o l l e v o n Serienexposé, H e f t e x p o s é , S c h r e i b a n w e i s u n g e n

V o n all diesen K e n n z e i c h e n , die a u f d e m M a r k t seit M i t t e d e r sechziger J a h r e z u r N o r m w u r d e n , ist keines f ü r d a s R o m a n h e f t v e r p f l i c h t e n d . U n g e z ä h l t e Serien, ζ. B. ' K r i m i n a l - R o m a n M a c E v e r ' ( J e d e r m a n n bzw. E v e r w i e n Vlg. 1948) u n d ' B l a u - G e l b e J u g e n d b ü c h e r ' (Voco Vlg. 1929) o d e r Serien, bei d e n e n einzelne N u m m e r n n i c h t gezählt w a r e n , k o m m e n g e n a u s o v o r wie H e f t e , bei d e n e n d e r Serien- g e g e n ü b e r d e m Stück-Titel in d e n H i n t e r g r u n d tritt ( e t w a bei ' N e u e V o l k s b ü c h e r ' , E n ß l i n & L a i b l i n , v o r 1880).

1622

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Zuweilen fehlt der Serientitel sogar ganz (vgl. Schalow 1992, 207f.), so daß der Serien-Charakter nur durch die Numerierung erkennbar bleibt und der Serientitel nur aus Verlagsverzeichnissen und Bibliothekskatalogen erschlossen werden kann. (Etwa bei 'Unterhaltungsbibliothek. Eine Sammlung interessanter Romane', Bagel Vlg. 1881 f.) Vielfach läßt sich daher nicht sicher entscheiden, ob ein Einzeltitel oder eine Serie vorliegt. Neben der wöchentlichen Erscheinungsweise kommen auch vierzehntägiges oder gar monatliches Erscheinen vor. Periodizität als das verpflichtende Kriterium für das Romanheft entfallt, da bis 1950 die meisten Serien keine Angaben zur Erscheinungsweise machen und viele Nummern parallel angeboten und verkauft wurden. (Vor allem auch wegen der vor dem Krieg noch größeren Bedeutung des Direktversandgeschäfts.) Auch das Kriterium des abgeschlossenen Romans verliert bei näherer Betrachtung seine Bedeutung. Nicht nur weil bis heute äußerst erfolgreiche Titel den Charakter von Endlos-Serien (ζ. B. 'Perry Rhodan. Der Erbe des Universums. Die größte Weltraum-Serie', Moewig Vlg. 1961 ff.) mit nur hin und wieder fixierten Endpunkten eines Handlungsstrangs haben und damit zum Lieferungsheftroman changieren, sondern auch weil immer wieder Mini-Serien, Fortsetzungserzählungen (etwa bei 'Kurt Safran's Reise-Abenteuer', Ewald & Co. vor 1926), die über einige Hefte laufen, vorkommen. Das Prinzip des ein Heft/eine Erzählung wird auch durchbrochen, wenn zwei oder mehrere Erzählungen angeboten werden, teils weil eine Erzählung zu kurz geriet und eine zweite zum Ausfüllen des Serien-Umfangs hinzugefügt wurde, teils weil es zum Serien-Konzept gehörte, mehrere zumeist aber thematisch zusammenpassende Erzählungen zu bringen (vgl. 'Freund und Feind. Kriegs-Roman-Serie', Vogel & Vogel 1921). Die Serie tendiert in diesen Fällen zum Magazin. Die amerikanischen Pulps wie ihre deutschen Entsprechungen (etwa 'Wahre Detektiv-Geschichten', Es werde Licht Vlg. 1920—22, oder Έ1lery Queens Kriminal-Magazin', Aufwärts Vlg. Berlin 1954). Sie haben zwar die Zählweise von Zeitschriften, mit Band bzw. Jahrgangs- und Nummerzählung, gehören aber wegen ihres Inhalts (keine aktuellen, ausschließlich fiktionale Texte) weniger zu den Zeitschriften als zu den Roman-Serien. Überblickt man größere Strecken der Geschichte des Romanhefts, zeigt sich die bunte Vielfalt der Formen und Formate. Ausstat-

tungsgewohnheiten, die ihm in der Gegenwart oder zu einem anderen Zeitpunkt ein verpflichtendes Gesicht, einen festen Charakter zu geben schienen, erweisen sich bei genauerer Kenntnis seiner Geschichte als zweitrangig. Immer wieder tendiert das Romanheft in die Nähe anderer Publikationsklassen, verwirklicht mediale Übergangsformen, die beim starren Blick auf nur ein Muster allzu leicht übersehen werden. Auch dem heutigen 64-Seiten-Standard-Umfang kommt keinesfalls verpflichtende Bedeutung zu. Zum einen haben viele erfolgreiche Serien der Kaiserzeit (z.B. 'Buffalo Bill. Der Held des Wilden Westens', Eichler Vlg. 1905-12 bzw. Gustav Kühn Vlg. 1930-33) ein Quartformat (21,5 X 27,5 cm) und daher entsprechend nur einen Umfang von 32 Seiten; zum zweiten sind besonders in der Zeit der Weimarer Republik auch kleinere Oktavformate (zumeist: 11 X 17,5) sehr beliebt. Diese haben häufig einen Umfang von 6 Druckbögen, also 96 Seiten; es kommen aber auch Serien mit einem Standardumfang von 192 Seiten vor (etwa 'John Klings Erinnerungen', Dietsch Vlg. 1931—39). Diese im Blick gehefteten und mit einem geklebten vierseitigen Umschlag versehenen Romanhefte, die ganzzeilig, nicht spaltig gedruckt wurden, stehen Taschenbüchern nahe. Ähnliches gibt es noch in den Fünfzigern (etwa 'Landser-Großband', Pabel Vlg. 1958 ff.). Andererseits finden sich geringere Umfange auch bei den Kleinformaten, die, wenn sie nicht mehr geheftet sind, einen Übergang zu den Moritaten-Blättern darstellen. Nicht nur in der Machart und in der Erscheinungsweise, auch in Aufmachung und Inhalt unterscheiden sich die verschiedenen Romanheft-Serien und damit ihre kommunikative und ästhetische Funktion. Der anonym bleibende Autor oder gar die Vielzahl von Autoren, die einen Serien-Helden (Jerry Cotton/Nick Carter) verwenden und nach einem vorgegebenen Schema sich in den Dienst des Serienformats stellen, sind keineswegs die verpflichtende Norm. Zwar gibt es schon im 19. Jh. Schreibanweisungen für Serienautoren. Diese zielen aber ebenso auf Originalität wie auf Erfüllung von Qualitätsstandards (vgl. Johannsen 1950, 4). Vor allem aber lassen sich die zahllosen Nachdrucke der Werke von Buch-Autoren in Heften — sei es Wilhelm Hauff oder Friedrich Schiller, Eugenie Marlitt oder Hedwig Courths-Mahler nicht aus der Geschichte des Romanhefts ausschließen, ohne der Publikationsform Ge-

147. Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts

wait anzutun. Serien wie die 'Roman-Zeitung' (vgl. Tägliche Rundschau 1949—90), die überwiegend Romane der Weltliteratur bringen, gehören zum Heftroman. Noch komplexer erscheint das Verhältnis von Romanheft und Buch, bedenkt man, daß nicht wenige Romanheft-Serien (kaum bearbeitet oder sogar textidentisch) auch als Buchserien vertrieben werden. So stehen bei 'Jerry Cotton' oder bei 'Kommissar X' Taschenbuch und Romanheft nebeneinander. Darüber hinaus geht die dichotomische Vorstellung vom anonymen und gesichtslosen RomanheftAutor, der hinter seiner Titelfigur verschwindet einerseits, und dem bekannten Autor andererseits, dessen Name für den Leser wichtiges Signal für die Lesehaltung ist, an der Wirklichkeit des Heftromans vorbei. Im Heftroman werden die Pseudonymen Autoren genauso häufig zu Qualitätsmerkmalen wie auf dem Buchmarkt. G. F. Unger steht im Western-Genre für ein Markenprodukt, gleichgültig, ob er als Buch- oder HeftromanAutor auftritt. Auch inhaltlich oder gar sprachlich-stilistisch bilden Heftromane keine streng von anderen Publikationsformen zu scheidende Klasse. Sensationalles, Abenteuerliches, Zugespitztes, Gefühlvolles gibt es schließlich in jeder Druckqualität, wie es auch Betuliches oder Belehrendes in Form von RomanheftSerien gibt. So unterscheidet sich die Romanheft-Serie 'Immergrün' (Vlg. d. Ev. Gesellschaft Stuttgart, 1909 ff.) inhaltlich und sprachlich in nichts von vergleichbarer erzählender Traktätchen-Literatur, und 'Die schönsten Schilderungen aus Brehms Tierleben. Neubearbeitet und in Einzeldarstellungen herausgegeben' (Vlgshs. f. Volkslit. u. Kunst, vor 1932 bzw. 1952—57) bringen genau das, was der Titel verspricht. Sie zählen aber zu Recht (vgl. Schalow 1992, 160) zu den Romanheft-Serien. 3.

Design

Trotz der Unmöglichkeit, formal oder inhaltlich das Romanheft exakt zu fassen, gibt es so etwas wie ein charakteristisches Design. Die zentrale Idee dieses Design ist das Herausstellen der Serie und das Hintanstellen des Einzeltitels. Gleichgültig, ob das Romanheft im strengen Sinn eine Serie ist, also feste Figuren hat, häufig gar einen durchgehenden Titelhelden, der der Serie den Namen gibt, oder eine Reihe mit wechselnden Figuren ist, zeigt das obere Drittel oder Viertel den Se-

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rientitel. Der Serientitel annonciert das Genre, wobei Typographie, Schmucksymbole (Kronen oder Herzen) oder Untertitel die Titelgebung dabei unterstützen. Bei Serien ist ein zumeist stylisiertes Porträt des Titelhelden in die Titelzeile integriert. Die Nummer, durch die der Leser das Heft in der gestaffelt gehängten Auslage am Kiosk identifiziert, findet hier ebenfalls ihren Platz. Gegenüber dem Serientitel hat der Einzeltitel geringere Bedeutung. Er ist typographisch zumeist deutlich kleiner gehalten und befindet sich häufig — oft ohne Nennung des Autors, den erst das Titelblatt bringt — am unteren Heftrand unterhalb des (zumeist) bunten Titelbildes. Auch das Titelbild unterstreicht die Grundidee des Layouts und hebt eher das Genre denn die einzelne Nummer hervor, indem es irgendeine zum Genre passende Illustration — im Krimi besonders häufig ein Filmstill — zeigt. (Illustrationen zur Geschichte der einzelnen Hefte finden sich tendenziell häufiger in der Frühgeschichte des Romanhefts.) Auch die Hefttitel unterstreichen die Genres. Generell sind Spannungsromane (die sog. Männer-Unterhaltung) knapper bzw. informativer gehalten. Etwa bei 'Unter den Puelchen' (Neue Volksbücher Nr. 443, Enßlin & Laiblin 1890), 'Das geheimnisvolle Schloß in Mexiko'; 'Texas-Jack. Der große Kundschafter' N. F., Nr. 3. (Ns. Vlgshs. f. Volkslit. 1932), 'Welikije Luki' [d.i. Schauplatz einer Schlacht in der USSR im Zweiten Weltkrieg] Der Landser Nr. 30 (Pabel Vlg. 1957). Demgegenüber haben die Liebesromane (sog. Frauen-Unterhaltung) ausführlichere bzw. appellative Titel. Etwa: 'Was zählt mehr als unser Glück' (Bastei FürstenRoman Nr. 328, 1974) oder 'Karl Steldinger und seine drei Bräute' (Loreley-Roman Nr. 205, Vlgshs. f. Volkslit. u. Kunst 1926) oder 'Unser kleiner Prinz' (Dr. Martens. Kinderklinik Birkenhain, Nr. 63, Kelter Vlg. 1993/4). Ist der Umschlag durch Gestaltung und Druckqualität (seit den sechziger Jahren durchweg Hochglanzpapier) darauf abgestellt, attraktiv, ja hochwertig zu erscheinen, um dem Image des billigen Massenprodukts entgegenzuwirken, stellen Druckanordnung und Druckqualität des Heftinnern dieses geradezu heraus. Zeitungspapier, jahrzehntelang stark holzartig (vgl. die US-amerikanische Bezeichnung Pulp für die Groschenhefte), spaltiger Druck, ein handliches Format, kurze Absätze und Abschnitte, kurze Sätze, große Typographie erleichtern nicht nur das Lesen, sondern animieren zum Lesen als einer Tätigkeit, die nur wenig aus dem All-

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

tag herausgehoben wird, überall und nahezu immer, auch für kurze Zeitintervalle geeignet ist. Erleichtert der Umschlag die Orientierung und verleiht dem Romanheft Gediegenheit, so erleichtert die Gestaltung des Innern die Lektüre und verleiht dem Romanheft so etwas wie Alltäglichkeit. Macht der Umschlag das Massenprodukt kostbar, deutet die Gestaltung des Drucks den Massencharakter zum Vertrauten um und macht damit das Romanheft wahrhaft zum Teil der populären Kultur: bekannt, weil weit verbreitet, und vertraut, weil leicht verständlich.

4.

Produktion und Distribution

Heftromane werden in kleinen und Kleinstbetrieben — s. den sprichwörtlichen „Einmann-Verlag" (Mannheim), der 1951 u.a. die Serie 'Liebe in Ketten' herausbrachte — wie in Großbetrieben mit mehreren hundert Angestellten hergestellt. „Die gern behauptete Dichotomie" (Pforte 1979, 14) der zwei Verlagssysteme Buch- bzw. Heft-Verlage erweist sich als unhaltbar. Buch- wie Heftroman sind Waren, ihre Produktions- und Distributionsformen sind „nur graduell unterschieden" (Pforte ebda.). Buchroman-Reihen folgen den gleichen Marktstrategien wie HeftromanSerien; beide können in gleichem Maße standardisiert sein. Zwischen 'Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane' (ab 1905) mit Erstdrucken Th. Fontanes, H. Hesses oder Th. Manns und der Heftroman-Serie 'Der 30 Pfennig Roman' (Aufwärts Vlg. 1936-45) besteht, was den Serien-Charakter bis auf den gleichmäßigen Umfang angeht, kein Unterschied. Sujet, Genre, Autoren, Sprache der Einzeltitel sind in beiden Serien gleichermaßen unterschiedlich; das Layout hingegen gleichermaßen gleich. Die Gleichförmigkeit bzw. der Seriencharakter sind weniger Ergebnis eines literarischen oder kulturellen Niveaus, als Folge wirtschaftlicher Überlegungen und Möglichkeiten. Hat das Romanheft auch kein Exklusivrecht auf Standardisierung, gehört andererseits eine gewisse Standardisierung zu seinen Voraussetzungen. Ein geringeres oder größeres Variationspotential innerhalb einer Serie ist dabei Resultat der verschiedenen Produktionsformen. Nicht ein bestimmtes Standardisierungsmaß ist aber das Besondere am Romanheft und seiner Produktionsweise, sondern daß ein Zusammenhang existiert zwischen dem Niveau durchrationalisierter Produktion und einer an dieses Niveau gekoppel-

ten Verbindung von Produktions- und Schreibprozeß. Während im Buchverlag durchrationalisierte Produktion nach wie vor höchst individuelle Literatur- und Buchformen entstehen läßt, schaffen durchrationalisierte Produktions- und Distributionsformen beim Romanheft eine Angleichung von Schreiben und Produzieren mit dem Ergebnis eines auch literarisch immer mehr standardisierten Produkts, was keinesfalls kulturkritisch verstanden werden muß. Die Grenzen der Standardisierung werden vom Markt vorgezeichnet. Daß es sie gibt, läßt sich theoretisch begründen und praktisch beobachtend erahnen: die Grenze liegt dort, wo der Seriencharakter der Erzählung das Motiv zum Weiterlesen konterkariert. Wiewohl wir nur wenig über den Produktionsprozeß von Romanheften aus der Zeit vor 1960 wissen — und das betrifft immerhin rund 100 Jahre Romanheft-Geschichte — läßt sich aus der Betrachtung der Produkte schließen, daß die Produktion vor 1960 sehr unterschiedlich, ja personell bestimmt war. Die Heftserien - auch die, die durch einen Titelhelden ein größtmögliches Maß an Standardisierung versprachen - besaßen „so wenig [...] verbindendes Hintergrundkolorit [daß] den einzelnen Autoren die Möglichkeit einer Eigenprofilierung" (Schmidtke 1979, 70) gegeben war. „Was da der eine oder andere Autor dem Serienhelden an Aufgabenstellung zuwies, zuweilen aber auch, wie das Erdachte dann erzählt wurde, blieb viel intensiver mit dem Verfassernamen verbunden, als in Reihen mit starken Konzeptzwang." (Schmidtke ebda.) Sprachlich standardisierte Heftroman-Serien waren daher bis 1960 nur möglich, wenn ein Autor Verfasser der ganzen Serie war. Solche Serien kommen zwar vor (s. etwa 'Kabels Kriminalbibliothek', die bis auf ein Heft von Walter Kabel geschrieben wurde), bilden aber die Ausnahme. Serien mit großer Verbreitung wie 'Buffalo Bill' oder 'Nick Carter', 'Jörn Farrow's U-BootAbenteuer' oder 'Rolf Torring's Abenteuer' sind Unternehmungen, an denen mehrere Autoren beteiligt waren, gleichgültig, ob das gleiche Autorenpseudonym angegeben wird oder nicht. Die Vielfalt der Formen und Formate und ihre Abhängigkeit von individuellen wie ökonomisch bestimmten Produktionsformen erlaubt es hier daher nur, die Produktion und Distribution eines einzigen Romanhefttyps, den der Konzeptserie, darzustellen. Dieser Typ entsteht erst im Zusammenhang mit dem seit 1960 verstärkt einsetzenden Konzentrationsprozeß unter den An-

147. Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts

bietern von Romanheften. Und nur von seiner Herstellung liegen einigermaßen verläßliche Fakten und Einsichten vor. Nur auf diesen Typ trifft in vollem Wortsinn die Rede von der „industriellen Fließbandproduktion" (Ziermann 1983, 96) zu. Die Produktion dieses Hefttyps ist — wie vielfach in der Literatur beschrieben — von vier Institutionen bestimmt: Den Serienkonzepteuren, den Serienerfüllern, externen Prüfstellen, Verkaufskontrolleuren. Der Verlag, Lektoren oder gar die „Verlagsleitung" (Wernsing/Wucherpfennig 1976, 11) erarbeiten bzw. billigen oder vervollständigen ein von außen angebotenes Serienkonzept (vgl. zur Serie 'Die Terranauten', Krämer 1990, 217ff.). Das Serienkonzept wird von Autoren umgesetzt, die teils ein Konzept für einzelne Titel vorgelegt bekommen oder ein solches dem Verlag vorlegen und abprüfen lassen. Der Verlag unterstützt seine Autoren bei der Entwicklung solcher Konzepte für Einzeltitel durch Schreibanweisungen, die im Roman-Geschäft eine lange Tradition haben. Solche Anweisungen, die das fixierte Serienkonzept in geordneter Form nach den Titelfiguren, anderen Charakteren, Ort, Handlung etc. erläutern, gehören heute zum Alltag nicht nur von Romanheft-Produktionen, sondern auch von TV-Serien. In der Literaturwissenschaft wie in Publikumszeitschriften wird auf ihre Existenz bei literarischen Serien (unnötigerweise) mit einem entlarvenden Gestus hingewiesen. (Hierin ist keine der bisherigen Arbeiten, selbst Stadler 1978 und Stäche 1986, frei.) Der scheinaufklärerische Impetus verstellt die Einsicht nicht nur in die ökonomische Notwendigkeit, sondern vor allem auch in die literarische Produktivität dieses Verfahrens. Das mehrfach Verdichtungen provozierende Produktionsverfahren fördert Durchsichtigkeit der Formensprache und die Darstellung großer Themen in den verschiedenen Genres (ζ. B. Mensch als eine in Frage gestellte LeibSeele-Einheit im Geisterjäger-Genre). Die Produktionsweise verhilft daher dem Romanheft, auch wenn es stilistisch im Vergleich zum Buchroman weniger elaboriert ausgeformt sein mag (wiewohl ich hier Zweifel habe angesichts der artistischen Fertigkeiten der professionellen Autoren), zu einer dichten Sprache, die erst erklärt, warum Millionen Käufer Jahr für Jahr zum Romanheft greifen. In die ineinander verschränkten Aktionen von Lektorat und Autor sind noch die Richtlinien bzw. die Überprüfungskriterien der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften

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bzw. der freiwilligen Selbstkontrolle der Romanheft-Verleger sowie die zwar weniger kodifizierten, aber nichts desto trotz bedeutsamen Richtlinien der Leser- und Werbemarktforschung integriert (vgl. die Liste der Herstellungsphasen bzw. Kontrollmechanismen bei der Produktion von Romanheften bei Stadler 1978, 242f.). Entscheidend für das ökonomische Gelingen des Produktionsprozesses und charakteristisch für die Romanheft-Herstellung sind die zahlreichen und immer wieder eingebauten Kontrollschritte. Lektorat, Rechercheure, die auf aktuelle Fälle oder auf erfolgreiche Sujets hinweisen, Testleser, Werbung und deren Erfolgskontrolle, verschiedene Prüfstellen des Textes sorgen dafür, daß der Dumme am Ende des Produktionsprozesses höchstens — nein, nicht der Leser — der Autor ist. Das schwächste Glied im Kommunikationssystem Romanheft sind die HeftromanAutoren vor allem deshalb, weil ihre Verträge mit dem Verlag erst Gültigkeit erhalten, wenn ihre Texte von den Prüfstellen des Bundes und der Verlage geprüft wurden. Die dadurch bei den Hobby-Autoren, die nebenbei einige Hefte schreiben, wie bei den Berufs-Autoren (zur Unterscheidung vgl. Stadler 1978, 223 ff.) entstehende Unsicherheit über die Validität ihrer Texte erzeugt einen größeren Anpassungsdruck als alle Verlagskonzepte, fördert aber andererseits die routinierten Schreiber, die im Extremfall nicht nur für viele RomanSerien, sondern auch für mehrere Verlage gleichzeitig arbeiten. Die Honorare, die heute bei eingeführten Autoren um die 2000 D M pro Heft liegen, verursachen den geringsten Teil (3 Prozent) der Produktionskosten. Insofern sind die kritischen Bemerkungen, die sich in der Literatur immer wieder finden, daß der Profit der Verlage wesentlich in den niedrigen Autorenhonoraren begründet sei, mit Vorsicht zu genießen. 50 Prozent der Kosten entfallen auf den Vertrieb, 25 Prozent auf die Verlagsorganisation, Druck und Bindekosten, „so bleibt dem Verleger ein Gewinn von 22 Prozent" (Pforte 1979, 25). Bei wöchentlichen Druckauflagen von 40 000 bei erfolgreichen Serien ergibt sich daher ein ordentlicher Uberschuß, auch „wenn davon auszugehen ist, daß die Druckauflage auch bei guter Kalkulation 2 0 - 3 0 Prozent höher ist als die Verkaufsauflage" (Pforte 1979, 25). Allerdings ist seit Mitte der sechziger Jahre das Geschäft schwieriger geworden. Produktionssteigerungen sind (wenn überhaupt) nur noch durch höheren Aufwand und mehr Se-

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

rien zu erreichen. So erreicht der Bastei Verlag, der 1953 in das Geschäft einstieg, 1960 mit acht Serien eine wöchentliche Druckauflage von 473 000 (pro Serie also knapp unter 60000); 1965 konnte er die Durchschnittsauflage der nunmehr 12 Serien auf mehr als 85000 steigern, um schon 1970 (16 Serien) ein Absinken auf 75 000 hinnehmen zu müssen. Die wöchentliche Gesamtauflage aller Serien stieg bis 1976/77 auf 1,55 Mio. an, verharrt mit geringer negativer Tendenz seitdem auf etwa gleichhohem Niveau; wobei die Nachwendejahre noch einmal ein Zwischenhoch bis 1993/94 brachten (1983: 1,4 Mio.; 1989: 1,59 Mio.; 1993: 1,64 Mio.; 1997/98: 1,26 Mio.). Diese Entwicklung (kleinere Verlage erzielen nur die Hälfte und weniger pro Serie) läßt sich auf alle großen Verlage übertragen, so daß sich, nach den erstmals von Krämer (1990) kritisch überprüften und revidierten Zahlen eine wöchentliche Gesamtauflage aller Verlage von 1970: 3,7 Mio., 1978: 5,6 Mio., 1983: 5,8 Mio., 1993: 5,3 Mio. ergibt; was aufs Jahr gerechnet Produktionszahlen in der Größenordnung von rund 250 Mio. ausmacht (bei 1997er Preisen rund 2,30 DM pro Heft zuzügl. 5 Prozent Annoncen-Umsatz). Dieses Geschäft lag in der BRD (zum Heftroman der D D R vgl. Gaida 1975, 1976; Labroisse 1986; Mallinckrodt 1984; Schoenfelder 1976) zunächst in den Händen zahlreicher kleinerer Verlage, die häufig nur 1 —4 Serien herausbrachten. Schalow (1992, 15ff.) führt für die Jahre von 1946—48 Serien von rund 50 verschiedenen Verlagen an; 1949 kommen 83, 1950 51 neue hinzu. Für 1953 nennt Stadler (1978) nach dem ADW-Zeitungskatalog, der allerdings nur die für die Werbewirtschaft interessanten Verlage und Reihen nennt, noch insgesamt 23 Verlage. Der Konzentrationsprozeß ging bis in die sechziger Jahre kontinuierlich weiter. Ab 1970 haben die kleineren nur noch „einen Marktanteil von 4—6 Prozent, was einer Auflagenhöhe von ca. 150000-330000 entspricht" (Krämer 1990, 153). „Die aktuelle Situation (1993) sieht nach den Angaben in Willy Stamms 'Leitfaden für Presse und Werbung' (1993) folgendermaßen aus: Marktführer ist der Bastei-Verlag [mit einem Marktanteil von mehr als 50 Prozent]. [...] Der zweitgrößte in diesem Geschäft ist Pabel/Moewig. [...] Stamms Leitfaden verzeichnet außer diesen beiden ... nur noch zwei Heftchen-Verlage: den Kelter-Verlag" (Strobel 1994, 227 f.) und den AV top speziai Verlag. Neben ihrer

ökonomischen hat die Konzentration auf wenige Verlage auch kommunikative Bedeutung. Sie erleichtert das Durchsetzen gleichbleibender Standards und fördert eine Marktbindung der Käufer und Leser, nicht zuletzt mit der Folge einer relativ stabilen Leserrate. Bei der Distribution konkurrieren bis in die siebziger Jahre zwei Vertriebswege: „Die Auslieferung der Heftromane über das Zeitschriftengrosso an den Einzelhändler und die Auslieferung über verlagseigene Vertriebsorganisationen. Im Zuge der immer stärker werdenden Konzentration [...] und der Notwendigkeit zur Marktausschöpfung systematisch auch den entlegensten Laden in der tiefsten Provinz zu beliefern [...] hat sich die Auslieferung über Grossisten bewährt, die die Produkte mehrerer Verlage nebeneinander vertreiben. Hauptabnehmer" (Pforte 1979, 23) sind Kioske, Bahnhofsbuchhandlungen, Kaufhäuser, Lebensmitteleinzelhandel und Schreibwarengeschäfte. Nach wie vor gibt es auch die Möglichkeit des Direktbezugs, zumeist im Abonnement. Der Vertrieb ist in wenige (3 — 5) große Regionen gegliedert. „Bei einer durchschnittlichen Wochenauflage [...] gilt als Faustregel" (Stadler 1978, 245 f.) 50 Prozent der Auflage werden in der BRD, 25 Prozent in Österreich, der Schweiz und in den Urlaubsorten abgesetzt, 25 Prozent „sind 'Risiko'. Dieses 'Risiko' wird dadurch vermindert, daß das Absatzgebiet nicht gleichzeitig versorgt wird: Teil der Auflage geht in Gebiet 1, Restauflage plus Remittenden gehen in Gebiet 2; Remittenden gehen in Urlaubsorte im Ausland oder werden zu 'Sonderbänden' zusammengefaßt und verbilligt abgegeben" (Stadler 1978, 246). Die Verlage unterstützen den Betrieb durch Werbung im TV und in Publikumszeitschriften, sowie durch eine von Fall zu Fall sehr unterschiedliche Leserbetreuung. Vor allem im Bereich der Männer-Unterhaltung (in Männer- oder Frauen-Unterhaltung gliedern die Verlage und die Werbewirtschaft die Produktionen ein) regen die Verlage zum Sammeln der Hefte an. Sammelmappen werden angeboten, Leserbriefe veröffentlicht und bei der Konzeption der Hefte berücksichtigt (s. Nutz 1986; Schemme 1983) und FanClubs unterstützt bzw. gegründet. Für retrospektiv orientiertes Sammeln hat sich seit 1970 ein eigener Markt mit Spezialgeschäften, Tauschbörsen, Auktionen und Preiskatalogen (s. Schalow 1992; Pilz 1995) ausgebildet. Für Hefte der frühen Fünfziger oder für

147. Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts

Vorkriegsausgaben aus dem Segment der Männer-Unterhaltung werden 150 D M und mehr gezahlt. Im Einzelfall werden (auf einer Auktion im Jahre 1982) sogar 1000 D M für ein Romanheft (aus der Nachkriegsserie 'Rolf Torring's Abenteuer') erzielt.

5.

Geschichte

5.1. Vorgeschichte Romanhefte sind 'populärer Lesestoff' (vgl. Schenda 1977, 26ff.). Daher gehören zu ihrer Vorgeschichte alle in großer Stückzahl produzierten und vertriebenen Publikationsformen, sofern in ihnen literarische Unterhaltung angeboten wurde. Produktionstechnisch stehen den Heften das Flugblatt, die Broschüre, das Taschenbuch, die Zeitschrift, der Lieferungs- und Fortsetzungsromanwerke nahe; formensprachlich ist das Romanheft mit der gesamten erzählerischen Unterhaltung verwandt. Seine Geschichte ist ein Teil von dieser. (Zum Begriff der Unterhaltung s. Hügel 1973 und 1978.) Räuber etwa haben eine durchgängige Konjunktur in allen erzählenden Medien der Unterhaltung: sie treten im Ritter-Räuber-Schauer-Roman des späten 18. Jhs. ebenso auf wie in sensationellen Kolportage- oder Lieferromanen des 19. Jhs. wie in Zeitschriften- und Zeitungsromanen oder in Romanheften des 19. und 20. Jhs. (wie in den audiovisuellen Medien unserer Tage). 5.2. Entstehungsgeschichte Die erzählerische und technische Verwandtschaft des Romanhefts mit anderen Publikations- und Erzählformen — besonders mit der „zwischen 1955 und 1960" (Kosch/Nagl 1993, 65) zu Ende gegangenen Geschichte des Kolportageromans führt zu Problemen beim Ansetzen der Geschichte des Romanhefts. Die Unsicherheit, was ein Romanheft ist und womit dann seine Geschichte beginnt, hat nicht zuletzt ihre Ursache in dem für Deutschland zunächst fehlenden Begriff. Galle (1982, 5) datiert „die ersten echten Heftreihen" wohl zu spät in die Jahre „um die Jahrhundertwende". In den USA hingegen, also in einem zahlenmäßig (im 19. Jh.) kleineren Buchmarkt, konnte man sich auf ein viel exakteres Datum einigen, da schon früh die Verlagsseite einen Begriff für das Romanheft durchsetzte. So datiert Johannsen (1950, 31) (und ebenso Bragin 1938) den Beginn der Romanheft-Geschichte exakt auf den 9. 6. 1860. „Then, on June 9, the Tribune carried the an-

1627

nouncement: 'Beadle's Dime Novels, No. 1. Ready this morning. The Best Story of the Day, by the star of American authors.' Malaeska, the Indian Wife of the White Hunter". Der schlagkräftige Name, auf dem ein ganzer Werbefeldzug „BOOKS FOR T H E MILLION! A Dollar Book for a Dime!!" (Anzeige New York Tribune, 7. 6. 1860) aufbaute, überzeugte die Leser wie die Wissenschaft. Nimmt man das erste Heft (und die nächsten 27 folgenden) in die Hand, stellen sich Zweifel ein. Malaeska ist ein Nachdruck aus 'The Ladies' Companion' aus dem Jahre 1839; die Aufmachung dieses 'Yellow Backs' ist schlicht, es gibt keine Illustration auf dem Umschlag, Sprache und Stil, Umfang und Druck sowie Papierqualität unterscheiden sich kaum von den zeitgleichen (und früheren) deutschen Romanreihen: wie 'Eisenbahn-Unterhaltungen' (Berlin: Behrend, ab 1862) oder 'Neue Volksbücher' (Leipzig: Schlicke, ab 1851). Der Unterschied wird zunächst allein durch die Werbung gemacht. Irwin P. Beadle zielt von Beginn an auf ein Massenpublikum und produziert nicht einfach relativ billige und bequem zu lesende Bücher. Erst ab Nr. 29 von 'Beadle's Dime Novels' (und auf den Nachauflagen der ersten Nummern) gibt es eine Umschlag-Illustration und erst ab Nr. 66 verspricht Beadle periodisches Erscheinen. Aber erst mit den 'New Dime Novels' (ab 1874) findet Beadle zu einer Umschlag-Aufmachung, die in der Folge für das Romanheft prägend wurde: mit starker grafischer Unterteilung von Serienkopf, bunter Umschlag-Illustration und Einzeltitelei. Mit der Erkenntnis der allmählichen Entstehung des Romanheftes können seine kulturhistorischen Wurzeln, der durch die Frontier-Erfahrungen entstandene nordamerikanische Nationalismus (vgl. Johannsen 1950, 4) und die Sensationelles herausstreichende Medienkultur (die ihrerseits eine Funktion der Größe und der Wildheit der US-Geschichte ist) stärker zutage treten. Und es wird auch das Nebeneinander von deutschen (und europäischen) Eigenentwicklungen und Ubernahmen aus dem US-Markt leichter verständlich. So geben Layout und Stil der ersten deutschen Romanhefte vom Typ der 'Neuen Volksbücher' oder der 'Unterhaltungs-Bibliothek' bis zur 'KriminalBibliothek. Fritz Stagart's Abenteuer' (Meteor Vlg. 1905-07) keinen Anlaß, US-amerikanische Einflüsse anzunehmen. Allerdings sind die das Erscheinungsbild des Romanhefts zunächst dominierenden Serien Übernahmen oder Anleihen US-amerikanischer

1628

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Produktionen: etwa 'Buffalo Bill' (ab 1905); 'Nick Carter' (ab 1906); 'Berühmte Indianerhäuptlinge' bzw. 'Sitting Bull' (ab 1906); 'Nat Pinkerton' (ab 1907). Bestimmen zunächst (Western)-Abenteuer und Krimis und einige Erotika, 'Intime Geschichten' (ab 1904); 'Was man nicht laut erzählt' (ab 1907), die Szene, bringt der sich ankündigende Weltkrieg ein stärker nationalistisch gefärbtes Genre hervor, vgl. 'Kriegsfreiwillig. Erlebnisse eines Primaners' (ab 1914); 'Unter deutscher Flagge' (ab 1911). Der Erfolg des neuen Mediums rief auch Kritik hervor. Wie die Lieferungsromane und der Kolportagebuchhandel, hatten auch die Romanhefte und ihre Vertreiber eine teils wirtschaftlich, teils politisch und pädagogisch motivierte Auseinandersetzung und verschiedenste Verkaufsbeschränkungen zu erleiden (vgl. Kosch/Nagl 1993, 292ff.). Die Schund- und Schmutzdebatte (vgl. Schultze 1909) führte aber erst im Krieg zu harten Einschränkungen und Verboten, der die Verlage mit einer immer stärker werdenden nationalistischen Sprache zu entkommen suchten (vgl. die Werbung zu 'Lord Lister' ab 1908 und 'Texas Jack' ab 1906 „vorstehende fünf Ausgaben sind in patriotischem Sinn geschrieben und unserer Jugend daher besonders zu empfehlen"). Zugleich mit der Kritik fanden Autoren und Verleger aber auch Verteidiger (s. Hyan 1909; Kelchner/Lau 1928; Epstein 1929). Nach 1918 bestimmen zunächst Neuauflagen der Vorkriegsserien das Bild; mit dem allmählichen Niedergang des Kolportageromans entstehen Romanheft-Serien für Frauen, und erste Geschäfte im Medienverbund zwischen Film und Romanheft werden in Gang gebracht (vgl. Bleckmann [1992]). Die Haltung der N S D A P zum Romanheft ist zwiespältig; wird es in offiziösen Stellungnahmen schon 1933 angegriffen, begnügt man sich zunächst mit dem Durchsetzen nationalistischer Töne. Erst ab Kriegsbeginn werden die meisten Serien — mit Ausnahme einiger Kriegspropagandaliteratur, Frauenunterhaltung und Serien ohne Titelhelden — verboten (Einzelheiten s. Galle 1988). Die Stunde Null war auch für das Romanheft kurz. 1946 schon erscheinen neue Ausgaben. Bald folgen - wie nach dem ersten Weltkrieg — Nachdrucke bzw. Bearbeitungen der alten Serien und stellen eine nahezu kontinuierliche Geschichte des Romanhefts her. Eine zweite, diesmal international geführte Debatte über den Unwert des Romanhefts führt 1953 zum Schmutz- und Schundgesetz und 1954 zur Gründung der Bun-

desprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Im Vorfeld dieser Debatte hatten die Verleger durch Gründung eines einheitlichen Verbandes und der Einrichtung der 'Freiwilligen Selbstkontrolle deutscher Zeitschriftenverleger' durch den sog. Remagener Kreis (s. Stadler 1978, 135f.) schon radikaleren Maßnahmen vorgesorgt. Ergebnis der Debatte sind ein einheitlicherer Standard der Romanhefte und eine Förderung des Konzentrationsprozesses. Die Liberalisierung der Pornographie-Bestimmungen im Jahre 1973 bringen für das Romanheft wie für andere Medien neue Genres (Horror, Erotika) und neue Genremischungen (s. z. B. 'Lassiter', ab 1972) hervor. Gleichzeitig entsteht dem Romanheft durch Serien von „Taschenheften" (Krämer 1990, 153) besonders auf dem Gebiet der Frauenunterhaltung eine starke Konkurrenz. Während dieses Publikationsformat zusammen mit dem Siegeszug der Pocketbooks in den USA die Pulps verdrängt hat, bleibt das Romanheft in Deutschland nicht zuletzt durch eine gezielte Preispolitik bis heute konkurrenzfähig. Bei der Entwicklung neuer Genres und dem Verschwinden alter hat das Romanheft keine eigenen Gesetzlichkeiten ausgebildet. So wird in den Fünfzigern die Science-fiction zu einem führenden Genre, während das Western-Heft allmählich stirbt. Und so entstehen mit der Fantasy-Welle auf dem Buchund Filmmarkt entsprechende Romanheftformate.

6.

Erzählung und Leser

„Am 23. Februar 1931 [...] war ich [...] in der Grosstadt Horb, das ist also 'Horawa', oder 'Sumpf'! Da habe ich in einem male zwanzig Stück der 'Texas Jack-Hefte' gekauft und in einem Rutsch vier Mark hingelegt! Ich bin wohl ein Pechvogel und verdiene kaum mehr einen Pfennig; aber bevor ich etwas zu Essen haben will, brauche ich in den langweiligen Abendstunden einigen Lesestoff! [...] Das vorliegende Heft scheint wunderschön zu sein, schöner als die Nummer eins (1)! Am Abend des 23. 2. 31. Stefan Schlatter, Mühringen". Schlatter, ein einfacher Hilfspolizist, später Friedhofsgärtner, hat für seine Lektüre gelebt. Er schrieb diesen Kommentar auf die 2. Umschlagseite von 'Texas Jack'. N. F. Nr. 3 (1932). Mit einer Typenhebelschreibmaschine verfaßte er Hunderte von nie publizierten Romanheften, imitierte mit Fettkreide die Titelbilder. Er entspricht den Leserinnen,

147. Kommunikative und ästhetische Funktion des Romanhefts

die Radway (1991) in ihrer bahnbrechenden Studie kennzeichnet, als Frauen, die bemerkenswert häufig von Leserinnen zu Autorinnen werden, die in der Lage sind, die Einzeltitel sprachlich und stilistisch differenziert wahrzunehmen und zu beurteilen, die in der Lektüre eine Möglichkeit realisieren, produktiv mit ihrer Frauenrolle umzugehen, Liebesromane lesend eine Art Freiheitserklärung zu unterzeichnen, im Lesemotiv 'Escape' sowohl Ausflucht als auch Utopie realisieren, die, mit anderen Worten, Romanhefte als Literatur, „Populäres als Kunst" (Hügel 1996) lesen. Gegen diese empirisch abgesicherte Sicht des Romance-Lesens als einer sich ästhetisch und kommunikativ nicht vom Lesen sog. hoher Literatur unterscheidenden Tätigkeit ließe sich das Argument von Nutz (1987, 102) entgegenhalten, daß hoher Nutzungswert und geringer Bedeutungswert durchaus miteinander zu verbinden sind. Radway hat diesem — ihr gleichgültigen Argument — Vorschub geleistet, indem sie bei ihrer Text-Interpretation nur auf eine an den Arbeiten von Vladimir Propp orientierte morphologische Plotanalyse setzt. Daher bekommt sie als Ergebnis ihrer Text-Analysen nur ein Schema „The narrative structure of the ideal romance" (Radway 1991, 134) heraus, und kümmert sich nicht um die Differenz zwischen ihrer schematischen Beschreibung und den genaueren Wahrnehmungen der Leserinnen. Immerhin kommt sie durch ihren ethnographischen Ansatz weit über das hinaus, was von deutschen Literaturwissenschaftlern über Wirkung und in der Folge auch über die Vielschichtigkeit der Texte und mögliche Lesearten festgestellt wird (vgl. „Schwarz/WeißSchema" und „lebensbereichernde Ersatzbefriedigung", Hermands 1988, 90f.; „Simplifikation und Happy End", Davids 1984; „Verkürzung der Wirklichkeit" und „Technik der Typisierung", Nusser 1976). Zum statistischen Leser (vgl. Nutz/Schlögell 1991, 189) „Die Leserschaft der Heft- und Taschenromanleser setzt sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammen, wenn auch die Tendenz auf die Angehörigen der unteren Mittelbzw. der Unterschicht zielt" (vgl. auch Stadler 1978, 266ff.; Nutz/Schlögell 1986, Nutz 1976, 1997). Der Hauptgrund für die auf der Textseite unbefriedigende Forschungslage liegt in der Seltenheit von Einzelanalysen von Titeln, Formaten oder Genres. Wenn sie vorkommen, sind sie nicht auf die Analyse des Einzelnen, sondern auf „Modellanalyse" (Waldmann 1972) aus. Struktur und Wirkung

1629

ganzer Genres und Traditionen oder sogar der ganzen Publikationsform sollen erfaßt werden. So daß die Forderung von Koebner (1970): „Der Interpret der Trivialliteratur erkennt sein Objekt auch als Individualität an, nicht nur als Schnittpunkt verschiedener Traditionen und Tendenzen." höchstens von einigen Arbeiten zum SF-Genre (s. Stäche 1986; Krämer 1990) erfüllt wird. Solche Einzelanalysen müßten gerade versuchen, die historische Entwicklung des Romanhefts zu erfassen, das Besondere der einzelnen Hefte zu beschreiben, den Unterschied zwischen den einzelnen Formaten und Serienkonzepten und den ihr zugehörigen Genres herauszuarbeiten, die Serienmischungen wahrzunehmen und das Miteinander von Erzählfluß und herausgehobenen Schlüsselszenen verfolgen, statt nur das automatische Funktionieren der Handlungsschemata und Konzepte festzustellen. Daß solche Lesebemühung möglich und fruchtbar ist, beweist jeder Griff in die Vorratskammern der Antiquare und Kioske — wenn man zu lesen versteht.

7.

Literatur

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1630

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1631

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Hans-Otto Hügel, Hildesheim

(Deutschland)

148. Kommunikative und ästhetische Funktion der Comicschriften 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Das Comicangebot Zielgruppen Kultureller Stellenwert Prinzip Bildgeschichte Rezeptionsanforderungen Wirkungsfrage Literatur

1.

Das Comicangebot

Mit der Aufnahme von Bildgeschichten im Periodikum Zeitung (Sonntagsbeilage, Tageszeitung) in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den USA, dem folgend ihr Seriencharakter sowie die industrialisierte Produktion (spezialisierte Auftragsarbeit, Produktionsstudios) und Distribution (Syndikate), gerieren die Comics als Massenware. Als adäquat rasch konsumierbares Angebot, das sowohl überzeitliche Konstanten tradierter Unterhaltungsgenres als auch aktuelle Zeit- und Ortsbezüge umfaßt, haben sie sich als comicstrips in Zeitungen, Illustrierten, Zeitschriften mit internationaler Verbreitung etabliert. Zunächst als Sammelausgabe von comicstrips in Heftform (comicbooks), dann mit originären, in Erzählmodus und grafischer Gestaltung medial adäquaten Beiträgen, entwickeln sich Anfang der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts eigenständige Comicschriften, die über das System des Zeit-

schriftenhandels vertrieben werden. Einer Serie vorbehalten oder als gemischtes Magazin konzipiert, erscheinen die Hefte periodisch, vielfach mit käuferbindenden Fortsetzungsgeschichten. Parallel zum stagnierenden bzw. rückläufigen Zeitschriftenmarkt hat sich seit den siebziger Jahren das Comicalbum durchgesetzt, das, den grossistenbestimmten Zeitschriftenphasen entbunden, freieren Marktzugang hat. Neben Serienalben sind damit auch Einzelwerke (Autorencomics) vermarktbar. In vielen Ländern existiert ein Netz von speziellen Comicbuch- bzw. Comicversandläden; bei steigendem Trend öffnet sich seit den achtziger Jahren auch der allgemeine Buchhandel dem Comicangebot, wobei Alben und broschierte wie gebundene Bücher das Sortiment bestimmen. Eingebunden in ein meist internationales System multimedialer Vermarktung (Merchandising), adaptieren Comics Textliteratur, Zeichentrick- wie Realfilme und Fernsehserien und umgekehrt, werden Comichefte mit Aktionsbeigaben (Gimmick) verkauft, populäre Comicfiguren in Werbung, Dekor, Spielzeug usf. aufgegriffen.

2.

Zielgruppen

Wie sich das Papiertheater, ein kleines Tischtheater mit Bühne, Kulissen und Papierflach-

1632

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

figuren zum Selbstbauen, als populäres Unterhaltungs- und Bildungsangebot Mitte des vorigen Jahrhunderts vom Erwachsenenzum Kindermedium ('Kindertheater') wandelte, wandten sich auch die Bilderbogen, Einblattdrucke, die neben diversen Bild- und Spielangeboten auch Bildgeschichten umfaßten, in der 2. Hälfte des 19. Jhs. vorwiegend an Kinder und Jugendliche. Eine vergleichbare Zielgruppenentwicklung ist auch bei den Comics zu beobachten. Die Zeitungscomics wurden für ein (zeitungslesendes) disperses Erwachsenenpublikum produziert, was sich auch in der Inhaltlichkeit der Serien, die zumeist im Erwachsenenalltag mit seinen kleinen und größeren Problemen angesiedelt waren, spiegelt. Gefördert durch die Anschaulichkeit der Bildsprache, eroberten sich auch Kinder und Jugendliche vorwiegend die Comics der Sonntagsbeilagen, so daß Serien mit kindlichen Protagonisten, die auch zum Interessen· und Lebensweltbezug von Kindern gehören, gezielt für diese Zielgruppe produziert wurden (z. B. 'Little Nemo' von Winsor MacCay 1905). Die Comichefte, über den Kiosk vertrieben und preislich dem Taschengeld von Kindern und Jugendlichen angemessen, fanden und finden überwiegend junge Käufer, auch wenn ihre Inhalte zunächst nicht speziell für sie entworfen wurden. Neben Serien „für Leser von 7 bis 70" (z. B. 'Tintin' in Europa) werden ab den fünfziger Jahren vermehrt zielgruppenspezialisierte Comichefte angeboten, für Kinder vorwiegend im funny- bzw. semi-funny-genre angesiedelt, für ältere Kinder und Jugendliche im adventuregenre mit seinen diversen Richtungen. Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, die einen, vorwiegend durch Importe bestimmten, Comicmarkt erst ab den fünfziger Jahren aufweist, werden Comics pauschal als Kinderlektüre angesehen. Comics werden, pädagogischen Vorbehalten der Erwachsenen zum Trotz, zur bevorzugten (oft heimlichen) Lektüre (Hauptlesealter zwischen 7 und 12 Jahren), wobei Jungen deutlich mehr Comics lesen als Mädchen. Die Beliebtheit der Comics spiegelt u.a. auch die Herausgabe der Zeitschrift 'Mosaik' (Hannes Hegen) in der D D R , ein Zugeständnis an das offensichtliche Leseinteresse an Comics, die als westliche „dekadente" Produkte mit Skepsis und Ablehnung betrachtet wurden. (Das Fortbestehen von 'Mosaik' nach der Wende zeigt, daß offensichtlich Leserinteressen entsprochen wurde.) Seit den siebziger Jahren nimmt mit wachsender Tendenz das Comic-Angebot für

ältere Jugendliche und Erwachsene wieder zu. Die Gründe sind vielfaltig. Zum einen stagniert der Kindermarkt bzw. ist rückläufig, was mit dem Geburtenrückgang in den Industrienationen wie mit dem wachsenden multimedialen Unterhaltungsangebot zu tun hat. Nach einer repräsentativen deutschen Studie (Lukesch u. a. 1989) liegen Comichefte und -bûcher unter den Printmedien vor den Romanheften an vorletzter Stelle; in etwa 60 Prozent der Haushalte sind sie vorhanden. Häufiger von Jungen als von Mädchen genutzt, beanspruchen Comics 10 Prozent der Lektürezeit, etwa 1,43 Stunden pro Woche. Eine Korrelation mit der Sozialschicht oder ein Stadt-Land-Gefälle läßt sich nicht aufzeigen. Interessant dabei ist auch, daß unter den kindlichen Fernsehvielsehern mehr ComicLiebhaber zu finden sind als unter denen, die weniger Fernsehkonsum haben. Zum anderen verweist Fossati (1991, 81 f.) darauf, daß das Comicangebot für Kinder deutlich verarmt sei, der insbesondere durch Fernseh/Videorezeption und Computerspiele geforderten Erweiterung des Anspruchsniveaus nicht mehr gerecht werde. Aktuell reagiert die Comicindustrie mit stärker multimedial eingebundenen Angeboten, so dem Magazin 'fun online' (1995) für Kinder und Jugendliche, das auch eine CDRom enthält, der engen Bindung an Musikvideos des Privatfernsehens ('Beavis und ButtHead') oder jugendästhetisch orientierten „Kultserien" wie 'Tank Girl'. „Ohne Fernsehen", so Kagelmann/Kriz in ihrer Studie über Kindercomics in Deutschland (1991, 103), „geht kaum etwas, mit Fernsehen läuft vieles." Fernsehfilme steigern die Popularität und damit das Kauf- und Leseinteresse von Comics. Der Trend zur Einbindung der Comic· Lektüre in ein Spiel- und Erlebnisweltangebot (Gimmick, Medienverbund) ist vorherrschend. Parallel zum Kindercomic wurde der Markt für Erwachsene bzw. ältere Jugendliche deutlich ausgebaut. Angesprochen werden, z. T. mit forcierten Produkten (limitierte, speziell ausgestattete Sonderausgaben) und entsprechendem Kontextprogramm (Preiskataloge, Comicbörsen), Sammler, die Comics als Wertobjekt verstehen. Eine spezifische Zielgruppe sind Comicfans, vielfach überregional organisiert und mit Insider-Zeitschriftten bedacht, die oft das Comicleseerlebnis ihrer Kinderzeit nostalgisch (re)kultuvieren und die mit Reprints historischer Serien bedacht werden. Daneben fördern Comicalbum und -buch die Entwicklung von

148. Kommunikative und ästhetische Funktion der Comicschriften

Autorencomics, anspruchsvollen inhaltlich wie ästhetisch innovativen Experimenten (Comic Art), ein Angebot, das auch aufgrund des relativ hohen Kaufpreises an einer anderen, älteren Zielgruppe als die Comichefte orientiert ist. Comiclektüre ist vorwiegend männliche Lektüre. Erst in jüngster Zeit wird verstärkt die Zielgruppe weiblicher (jugendlicher, erwachsener) Leserinnen durch ein Angebot spezieller Frauencomics, problemorientiert, satirisch oder provokant-feministisch von einer jungen Generation engagierter Zeichnerinnen (ζ. B. Annie Goetzinger, Julie Doucet) produziert, angesprochen. 3.

Kultureller Stellenwert

3.1. Ignoranz und Pejorisierung Wenn auch, zeitlichen Vorlieben folgend, erzählende, 'literarische' Bilder in Rezeption und Reflexion der Moderne rangmäßig geringeren Stellenwert genießen, so finden doch Bildgeschichten in Form von grafischen Zyklen (ζ. B. von Kollwitz, Klinger, Masereel) nicht nur ihr Kunstpublikum, sondern waren und sind auch stets Gegenstand kunstwissenschaftlicher Untersuchungen. Populäre, allgemein verständliche Angebote dagegen (ich verweise auf die zähe Diskussion um den „Kunstwert" von Fotografie und Film) stoßen eher auf Ignoranz. So war lange Zeit die populäre Bildgeschichte der Bilderbogen, selbst wenn anerkannte Künstler wie Moritz Vtbon Schwindt (Münchener Bilderbogen) als Autoren zeichneten, kein Gegenstand kunstwissenschaftlicher Reflexion. Vergleichbar der sog. U(nterhaltungs)-Musik und -Literatur blieben sie Forschungsgebiet der Ethnologie, die freilich andere Interessen als die ästhetische Fragestellung verfolgt. Entsprechend fanden die Bilderbogen auch keine Aufnahme in die Kunstmuseen, sondern gehören zum Sammelgebiet der Volkskundemuseen. Zudem stößt die 'Bild-Literatur' im fachengen Wissenschaftsbetrieb auf Zuständigkeitsirritationen, wie es das Beispiel Wilhelm Busch anschaulich macht, der lange Zeit von der Kunst- wie der Literaturwissenschaft kaum beachtet wurde. Erst im Kontext der künstlerischen Grenzüberschreitung, auch der bewußten Verwischung von Hoch- und Trivialkultur im Zuge der Moderne, öffnet sich mit Aby Warburg und seiner Schule die Kunstwissenschaft einer breiteren kultur- und sozialkritischen Fragestellung. Wenn dennoch, von wenigen

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Ausnahmen abgesehen (Hofmann 1969; Metken 1970), die Bildgeschichte und insbesondere die Comics weiterhin ignoriert wurden, mag das erklärt werden mit ihrer pauschalen Zuordnung zur 'Kinderliteratur', die in der kunst- und literaturwissenschaftlichen Diskussion als vorwiegend 'pädagogisch' eingeschätztes Angebot nur geringe Resonanz findet. So sind es auch vorwiegend Pädagogen, die mit dem beginnenden Comicboom der fünfziger Jahre den Comic als Gegenstand der Auseinandersetzung entdecken. Konventionell befangen sind sie allerdings nicht in der Lage bzw. nicht willens, seine ästhetische Spezifik zu erfassen. Sprachpriorisierend fixiert am System der Textliteratur, wird den Bildfolgen pauschal „Förderung des Analphabetismus", „Verkümmerung des Spieltriebes und der Fantasie" vorgeworfen. Comics werden in zahllosen Beiträgen als „Bildidiotismus", „Gift", „gefährliche Unterwanderung der Kultur", als „Kulturschande" apostrophiert. Angelehnt an eine populistisch vulgärpsychologische Anticomic-Kampagne in den USA (Mosse, Wertham) knüpft die bundesdeutsche Diskussion an den sog. Schundund Schmutzkampf der zwanziger Jahre an und wirft den Comics vor, die Jugend nicht nur ästhetisch, sondern auch moralischethisch zu verderben und zur Kriminalität zu verführen (vgl. Dolle-Weinkauff 1990, 96ff.; Knigge 1986, 173ff.). Die öffentliche Pejorisierung und in ihrer Folge staatliche Restriktionen (Gesetz über jugendgefährdende Schriften, BRD 1953; gezielt gegen Gewaltinhalte in Comics die 'Fitz-Patrick-Bill', New York, wie ein entsprechendes Gesetz in England, 1955) führen zu Gegenreaktionen der Verlage. 1954 wird in den USA die Comics Magazine Association of America (CMAA) gegründet, die mit einem Comic-Code eine Selbstindizierung (mit entsprechendem Siegel) einführt. Dem Vorbild folgend, schaffen die deutschen Verlage 1955 die Freiwillige Selbstkontrolle für Serienbilder (FSS). Die Kritik der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften mutet aus heutiger Sicht vielfach überzogen an; nach Einführung der FSS gehen ihre Comic-Indizierungen aber deutlich zurück. Indiz, daß es den Comicgegnern letztlich weniger um Inhalte denn um das unverstandene, daher verhaßte Medium selbst ging, ist neben der pauschalen Pejorisierung die jetzt einsetzende Initiierung von Umtauschaktionen („gutes Jugendbuch" gegen „schlechtes Comicheft") und öffentlichen

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Verbrennungen. Die Aktionen führen zu einem (vorübergehenden) Rückgang des Comicangebots, sind vor allem maßgeblich dafür verantwortlich, daß als seriös geltende Autoren, Künstler und Verlage sich in der Bundesrepublik dem öffentlich negativ eingeschätzten Comic verweigern. Der bundesdeutsche Comicmarkt wird so weitgehend importbestimmt. Das Leseinteresse der Kinder und Jugendlichen wird von der Kampagne allerdings kaum berührt; im Gegenteil gewinnt der Comic als „verbotene" Lektüre besonderen Reiz. Von Erwachsenen abgelehnt, erhält er den Charakter eines jugendeigenen Mediums, das gewissermaßen per se kulturelle Eigenständigkeit und Protest gegen eine von Erwachsenen vorgegebene Norm behauptet. Das nostalgische Interesse an Serien der fünfziger Jahre (ζ. B. von Hansrudi Wäscher) mag mit dieser intensiven Bindung begründbar sein. 3.2. Vorsichtige Akzeptanz Als im Kontext der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre die Massenmedien (Film, Fernsehen, Printmedien) verstärkt Gegenstand kulturkritischer Auseinandersetzung auch an Hochschule und Schule wurden ('Visuelle Kommunikation'), gerieten auch die Comics ins Blickfeld. Die pauschale Verdammung wurde nun durch eine deutlicher am Gegenstand orientierte Diskussion ersetzt, die differenziertere Urteile erlaubte. Neben vornehmlich aus soziologischer und psychologischer Sicht getragenen ideologiekritischen Untersuchungen bekannter Massenserien (Disney-Comics, Superheldencomics) wurde partiell auch die spezifische Ästhetik und Leistungsfähigkeit der Comics gesehen. Sekundiert durch den vorwiegend in Studentenkreisen beachtlichen Erfolg der sog. undergroundcomics (ζ. B. von Robert Crumb), die in Opposition zur bürgerlichen Moral provokant Themen wie Drogen, Sexualität und Gewalt aufgriffen, durch die Korrespondenz von Popart und Comics (Roy Lichtensein, Mei Ramos), Comic-Romane für Erwachsene (Forests 'Barbarella', 1962; Pellaerts 'Jodelle', 1966 und 'Pravda', 1967) wie auch durch den internationalen Publikumserfolg von 'Asterix' (Goscinny/Uderzo) werden Comics zeitweise geradezu modischer Gegenstand wissenschaftlicher und publizistischer Beschäftigung. Ausstellungen, Symposien, Sekundärliteratur zu Geschichte und 'Sprache' der Comics, umfangreiche Einzeluntersuchungen (z. B. zu den 'Peanuts' von Charles

Schulz oder zu 'Asterix') und spezielle Fachzeitschriften, die über das 'Fan-Heft' mit informativ-kritisch-analytischem Anspruch hinausreichen (Comixene, Comic-Forum), durchbrechen die bisherige Ignoranz. Comics werden Unterrichtsgegenstand an den Schulen (Deutsch, Kunst), wobei die primäre Zielsetzung darauf gerichtet ist, die Erzähl- und Darstellungsweisen durchschaubar zu machen und selbst anwenden zu lernen, um gegen 'Manipulationen' gewappnet zu sein. Comics waren jetzt nicht mehr verboten bzw. verpönt; dennoch blieb ein latenter Vorbehalt diesem 'Massenmedium' gegenüber, der bis heute nachwirkt. So öffnen sich die Bibliotheken den Comics auch nur zögernd (mit dem Mißverständnis, Comics seien eine „Brücke zum Lesen", zum „richtigen" Buch), seit den achtziger Jahren stärker, weil die Ausleihnutzung der Alben überproportional hoch ist (Heidtmann 1995). Die kulturelle Skepsis wird — zumindest in Deutschland — auch nicht vom reichen Angebot spezieller ComicLäden und meist international ausgerichteten Comic-Festivals (Comic-Salon Erlangen; am bedeutendsten ist das Festival von Anguoleme, Frankreich) und Comic-Preisen (z. B. Alph-Art, Frankreich; Max-und-Moritz-Preis, Deutschland; Harvey-Award, Eisner-Award, USA) ausgeräumt. Erst die Publikationsmedien Alben und Buch, die aufgrund ihrer Verweildauer auf dem Markt auch den künstlerisch anspruchsvollen 'Autoren-Comics' eine Chance bieten und seit Ende der achtziger Jahre ihren Einzug in die bisher sich abschottenden Buchläden halten, führen zu einer (vorsichtigen) kulturellen Akzeptanz dieser Erzählkunst. Eine vorurteilsfreie, offene Diskussion besteht nach wie vor nur in Ansätzen, was im deutschsprachigen Raum — im Unterschied z. B. zum frankophonen, den USA oder Japan (Manga) — auch damit zusammenhängt, daß eine kulturell eigenständige Produktion bislang nur gering ist. Erfolge wie der Szenen-Kult-Comic 'Werner' (Rötger Feldmann), aber auch die kulturell-angepaßten, überzeugenden DonaldDuck-Ubersetzungen von Erika Fuchs verweisen auf die Bedeutung dieses Faktors. Vorsichtige kulturelle Akzeptanz erfolgt auch, weil Comics nicht mehr schlechthin als Kinderlektüre angesehen werden (was leider ein beredtes Bild auf die geringe Einschätzung der Literatur für Kinder und Jugendliche wirft), sondern als Erwachsenenlektüre Denk- und Diskussionswürdiges anzubieten haben, wie z. B. Art Spiegelman, der mit

148. Kommunikative und ästhetische Funktion der Comicschriften

'Maus' die sensible Thematik des Holokausts aufgreift. Es verweist auf bestehende Unsicherheiten, wenn Comic-Alben für Jugendliche, die wie 'Hitler' (Friedemann Bedürftig/ Dieter Kaienbach) oder 'Der Schrei nach Leben' (Patrick Cothias/Paul Gillon) ebenfalls das Thema NS-Diktatur und Holokaust aufgreifen, sich erst mühsam gegen politische Vorbehalte und strafrechtliche Eingriffe zur Wehr setzen müssen. Dennoch, nach einem kurzatmig modischen Interesse Anfang der siebziger Jahre, Zurückhaltung in den Achtzigern, scheinen Comics heute, sowohl hinsichtlich ihres Marktwertes als auch hinsichtlich der wissenschaftlichen wie öffentlich-populären Reflexion, der Ignoranz und pauschalen Ablehnung entrissen. Comicjahrbücher (Knigge, Kaps), Forschungsprojekte (Dolle-Weinkauff), Forschungsberichte (Kagelmann), die Reaktivierung der Fachzeitschrift 'Comixene' (1974—1981), Rezensionen von Einzelwerken in Fachzeitschriften wie in der Presse sowie neben dem konventionellen Unterhaltungsangebot ein wachsendes Experimentierfeld innovativer Werke belegen dies.

4.

P r i n z i p Bildgeschichte

Die frühen Comics sind komische Geschichten, die in Slapstickmanier witzige, teils drastisch übertriebene Geschichten aus dem Alltag ihrer Leser erzählen. Themen komplexe wie Familie und Kinder dominieren. Ihrem Medium, dem Periodikum Zeitung angemessen, handelt es sich um Serien narrativer Einzelbilder und abgeschlossener oder fortgesetzter Kurzgeschichten in einer Bildfolge, deren Einzelpanel in der Chronologie der Handlungszeit sukzessiv aufeinanderfolgen, so daß der Bewegungsprozeß der Akteure bzw. der Handlungsprozeß kontinuierlich zu verfolgen ist (enge Bildfolge). Um Vertrautheit zwischen Leser und Comic herzustellen, erscheinen die Protagonisten als 'stehende Figur', im prägnanten äußeren Erscheinungsbild mit typischen Merkmalen wie in Charakter und Verhaltensweise festgelegt, womit die Einzelepisoden einer Serie als Variationen eines relativ starren Musters bestimmt sind. Somit führt das Verfolgen einer Serie zum Wiedererkennen, baut eine klare Erwartungshaltung des Lesers auf, dessen Befriedigung sowohl bestätigenden Genuß als auch Identifikation ermöglicht (und beständigen Kaufanreiz befördert). Der karikaturnahe, teils

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verkürzende, teils übertreibende Zeichenstil korrespondiert mit dem komisch-witzigen Inhalt des Erzählten, erlaubt eine prägnante Typisierung der Figuren wie eine extreme Dynamik der Aktionen. Damit markiert er — als Differenz zur Realität, zu der zwar ein Bezug hergestellt, die aber als „künstlich präsentiert" erfahren wird - eine gewisse überlegene, Lachen befördernde Distanz des Lesers zum Dargestellten, stärkt zugleich die Anschaulichkeit, erlaubt überdeutliche Mimik und Posen der Akteure. Zur beredten Körpersprache tritt die wörtliche Rede, die als Dialog oder (innerer) Monolog in einem ausdifferenzierten System von zuweisenden Sprechblasen im Bild präsentiert wird. Nicht nur der Inhalt der Sprache, auch ihr Duktus (ζ. B. flüstern oder schreien, schmeicheln, befehlen, reden oder denken) kann durch entsprechende Typographie (Form, Größe und Farbe der Buchstaben) und die jeweilige Sprechblasenumrandung (wolkig, zackig etc.) vermittelt werden. Geräusche werden durch lautmalende Worte (Onomatopöie) verdeutlicht, und ein inzwischen konventionalisiertes System von Symbolen (ζ. T. von Sprachbildern übernommen: „Sterne sehen" bei Schmerzempfindung etc.) und Zeichen (ζ. B. Bewegunggsstriche, die Schnelligkeit wie Bewegungsrichtung anzeigen) erhöhen weiterhin die Anschaulichkeit. Die genannten Merkmale können allerdings nur tendenziell als Definition der Comics herhalten. So gibt es 'Pantomimenstrips', die ganz auf Text (Sprachblase) verzichten. Die inhaltliche Erweiterung der Comics, die heute alle Genres umfassen, die wir aus der Textliteratur kennen, samt ihren differenzierten Intentionen (Unterhaltung, Kritik, Aufklärung, Information), läßt den Begriff 'Comic' obsolet erscheinen. Neben dem karikaturistischen Stil finden sich, inhaltlich korrespondierend, eine Vielzahl anderer, ζ. B. realistischer, idealisierender oder abstrahierender Art. Traditionelle Technik des Comics ist die Zeichnung, dominierend die Umrißlinie sowie eine meist flächig gegebene Kolorierung. Dank moderner fotografischer Verfahren können heute uneingeschränkt alle künstlerischen Techniken (neben der Zeichnung Malerei, Fotografie, Collage, Plastik etc.) reproduziert werden, die — je nach Erzählintention — auch kombiniert werden. Medien wie Heft und Album führen die lineare Streifenfolge zu komplexen Seitenkompositionen mit in Form und Größe variierenden, die Dynamik der Erzählung stützenden

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Einzelbildern. Überhaupt weist die Dramaturgie vielfach neben der chronologisch-linearen Folge Rückblenden, Rahmenhandlungen, Einschübe anderen Erzählniveaus (ζ. B. Traum, Erinnerung), Zeitparallelen usf. auf. Manche Serien (ζ. B. 'Prinz Eisenherz', Hai Foster) gehen vom starren System der 'stehenden Figur' ab und erlauben — dem Entwicklungsroman vergleichbar — dem Protagonisten einen mitverfolgbaren Alterungs- und Reifungsprozeß, Lernerfolge und daraus resultierende Verhaltensänderungen. Buch und Album befördern die abgeschlossene, nicht als Serie konzipierte Erzählung. Comics reihen sich somit in Tradition und Geschichte der narrativen Erzählkunst ein, sind als eine moderne spezifische Form dem 'Prinzip Bildgeschichte' zuzuordnen. Im Unterschied zur Illustration, die erläuterndes, veranschaulichendes, ζ. T. interpretierendes, aber doch fakultatives Beiwerk eines Textes ist, erweist sich die Bildgeschichte als eigenständig, autonom. Die Erzählung (die StoffVermittlung) beruht auf der narrativen Bildfolge. 'Bildfolge' umfaßt hier das Einzelbild, das den Bild-Leser das zeitliche Geschehen vor wie nach der vorgestellten Szene suggestiv mitimaginieren läßt, das Geschehnisse unterschiedlicher zeitlicher Chronologie miteinander verbindet oder das — als Simultanbild — chronologische Handlungsszenen in einem Handlungsraum, meist bei Wiederholungen der Akteure in einem gliedernden System (ζ. B. Architektur, Wege in der Landschaft), integriert. Dominierend für die 'Bildfolge' ist jedoch die Aneinanderreihung von Handlungsszenen im kontinuierlich fortlaufenden Bildstreifen (ζ. B. Trajanssäule, Teppich von Bayeux) oder die Reihung von chronologisch aufeinander bezogenen Einzelbildern (ζ. B. Altarbilder mit der Passion Christi, grafische Zyklen), wobei ihre Anordnung meist unserer vertrauten Text-Leserichtung folgt. Dabei ist das Einzelbild meist recht komplex, illustriert eine prägnante Handlungsstation, so daß zwischen den Einzelbildern große Zeitsprünge liegen können ('weite Bildfolge'). Verbindende Beitexte können dabei Lesehilfe geben; vielfach ist der erzählte Stoff (Bibeltext, Mythen, Märchen) dem Rezipienten vertraut, was das Verständnis erleichtert. Die 'enge Bildfolge', die dem Einzelbild weniger Eigenständigkeit einräumt und einen zeitlich eng aufeinanderbezogenen Prozeß, oft einen Bewegungsprozeß, zeigt, gewinnt erst im 19. Jh. (Toepffer, Dorè, Meggendorfer, Busch), be-

fördert durch frühe Versuche gezeichneter Animation (Zauberscheibe, Wunderrad), zunehmend an Bedeutung (und ist für die Comics dominant). Während Bildgeschichten als Streifenfolge auf einer Säule, als Bildfolge kontinuierender Art (die Handlungsszenen sind übergangslos miteinander verbunden) oder distinguierender Art (die Handlungsszenen sind als meist umrahmte Einzelbilder voneinander getrennt) an der Wand (Fresko), als Tafelbild, Glasfenster oder Wandteppich usf. bei öffentlicher Rezeption ein disperses Publikum ansprechen, zielen Bildgeschichten in Handschriften und - seit dem 14. Jh. - als vervielfältigter Bilddruck (Holzschnitt, Kupferstich, Lithographie — Einzelblattfolge, Bilderbogen usf.) auf individuelle, private Rezeption. Eine Zielgruppendifferenzierung, die nicht nur auf Inhalte, sondern auch auf Erzählweise und Gestaltung Einfluß nimmt und Orientierung an einer allgemein verständlichen populären Kunst oder an der spezielles Vorwissen beanspruchenden Hochkunst sucht, ist damit angelegt. Das allgemein vertraute Zeichenvokabular, wie wir es in den Massenmedien Bilderbogen oder den Zeitungs- und Heftcomics finden, sucht vielfach dem kleinsten Nenner allgemeinen gemeinsamen Verstehens gerecht zu werden; weniger an ein Massenpublikum denn an spezifischen Interessen (und Geschmack) orientieren sich Beispiele, die z. B. mit zeitgenössischen künstlerischen Entwicklungen (sei es Symbolismus [Klinger], Expressionismus [Masereel] oder Surrealismus [Ernst]) korrespondieren. William Hogarth (1697-1764) trägt dieser Differenzierung mit seinen satirisch-kritisch, moralisch-pädagogisch intendierten Bildgeschichten sowohl hinsichtlich der Inhalte (Orientierung an Problemen und Situation der jeweils angesprochenen Stände) als auch der Komplexität der Erzählweise (Zitate, Anspielungen, Bezug auf den ständebezogenen künstlerischen Geschmack und entsprechende Bildung) Rechnung. (Seine Geschichten demonstrieren, daß diese Differenzierung keineswegs mit einem künstlerischen Qualitätsunterschied verbunden sein muß!) Hogarth, der sich auch theoretisch mit der Bildgeschichte auseinandergesetzt hat, konstatiert die Nähe der Bildgeschichte mit dem Theater. „Mein Ziel war, meinen Stoff zu behandeln wie ein Dramatiker. Mein Bild ist meine Bühne und Männer und Frauen sind meine Schauspieler, die durch gewisse Gesten und Stellungen ein stummes Spiel vorführen." (Hogarth 1753,

148. Kommunikative und ästhetische Funktion der Comicschriften

zit. 1914, 13) Diese Charakterisierung gilt für jede Bildgeschichte, deren Akteure durch ihr äußeres Erscheinungsbild (typisierende, konventionell-symbolische Attribute, Darstellungsstil — der rollen kennzeichnenden Theatermaske vergleichbar) wie durch ihre Köpersprache gewissermaßen zum Leben erweckt werden, wobei das „stumme Spiel" über Text (ζ. B. im Untertext, im Spruchband, in der Sprechblase) erweitert werden kann. Der Blick ins Bild wie in eine Guckkasten-Theaterbühne bestimmt die Bildgeschichten bis Ende des 19. Jhs.; erst mit Erfindung und Erfahrung der Fotografie und des Films, der mit der variablen Perspektive der beweglichen, zoomenden und ihren Standpunkt ändernden Kamera das Betrachterauge gewissermaßen vom starren Standpunkt befreit, sowie durch die Montage von Schnittfolgen, gewinnt die Bildgeschichte mit den Comics eine neue Präsentatons- und Erzähldimension. Vogel- und Froschperspektive, Näherkommen und Sich-Entfernen, Überblicksicht und Detailnähe, narrativ akzentuierte Bildausschnitte oder Bild-im-Bild-Darstellungen dynamisieren und rhythmisieren den Handlungsprozeß. Der aktuelle Autoren-Comic (Graphic-Novel) integriert vielfach diverse Möglichkeiten der Darstellung und Dramaturgie, wie sie im Verlaufe ihrer langen Geschichte vom „Prinzip Bildgeschichte" entwickelt wurden und verleiht damit den Comics - neben den populären Serien - eine neue ästhetische Qualität.

5.

Rezpetionsanforderungen

Bildgeschichten fordern, um verstanden zu werden, kein verweilendes anschauendes Betrachten, sondern ein aktives kombinierendes Bild-Lesen. Im Unterschied zu Theater, Film und Fernsehen, die bei vorgegebener Rezeptionszeit ein tatsächliches bewegtes, 'lebendes' Bild präsentieren, obliegt bei der Bildgeschichte die Rezeptionszeit dem Rezipienten und die „Verlebendigung" der starren Bildfolge seiner animierten Vorstellungskraft. Die im 18. Jh. beliebten amourösen Zwei-BildGeschichten 'Before and After' verdeutlichen das Prinzip. Bild A zeigt, ζ. B. in einem Schlafzimmer, ein Paar. Körpersprache und gegenseitige Zuordnung der Personen signalisieren die begehrliche Zuwendung des Mannes, die eher spröde Zurückhaltung der Dame. In Bild Β hat sich die Szene verändert: das in Bild A glatte Bett ist zerwühlt, die

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Kleider der Protagonisten sind derangiert, sie wendet sich ihm zu, er ist mit dem Zuknöpfen der Hose beschäftigt. Unter Akzeptanz der Regel, daß Bild Β chronologisch auf Bild A folgt, betrachtet der Rezipient zunächst Bild A, dann Bild B, stellt dann im Vergleich, im steten Wechsel von simultanem und fixierendem Blick, die Unterschiede fest, die zu sich bestätigenden Indizien werden und ihm erlauben, das Nicht-Gezeigte zwischen den Bildern, die 'Leerstelle', schlußfolgernd zu ergänzen bzw. sich auszumalen. Die Handlungsstationen A und Β werden zu einem Handlungsprozeß verknüpft, was gelingt, wenn zwischen A und Β deutliche Bezüge bestehen, wenn die Bildzeichen Lebenserfahrung, gespeichertes Bildpotential und Vorstellungsvermögen des Rezipienten ansprechen, wenn ein die Veränderungen erklärend wirkender Zusammenhang als Prozeß konstruiert werden kann. Eine enge Bildfolge (und somit die ihr zumeist verpflichteten Comics) mit ihren zeitlich nah beieinander liegenden Einzelbildern verlangt dabei weniger vergleichende Kombinationsarbeit und Rezeptionszeit als eine weite Bildfolge, bei der die Leerstellen zwischen den Bildern erheblich größer sein können und ein detailgenaueres Erfassen und fantasievolles Verbinden verlangen. Trotz dieser Unterschiede basieren enge und weite Bildfolge auf demselben Prinzip: dem Verhältnis von Innovation (Veränderung der Bildaussage: Weglassen, Dazukommen, Modifikation von Bildelementen) und Redundanz (konstante Bildelemente), dessen Wahrnehmung, Erklärung suchend, zur kombinierenden Füllung der Leerstelle führt. Voraussetzung ist die — zumindest partielle, anknüpfungsmögliche — Korrespondenz des Gezeigten (die Bildgeschichte 'sagt' nicht, 'beschreibt' und 'erklärt' nicht, sondern 'zeigt', präsentiert ein Angebot) mit dem Horizont (Erfahrung, Wissen, Rezeptionsund Vorstellungsvermögen, Interesse) des Rezipienten. Weidenmann (1991, 60ff.) verweist darauf, daß hier die Bilder meist weniger Abbilder denn Sinnbilder sind, die Emotionen, ein intensives Erleben auslösen. In Einzelbild und Bildfolge vereinen sich Darstellungscode (ikonische Zeichen, dem Gemeinten durch Form und Farbe angenähert ähnlich; konkrete Zeichen, deren Bedeutung durch Konvention, Erklärung und Kontextbezug gesetzt ist) und Steuerungscode (der den Betrachterprozeß lenkt), so daß aus dem Betrachten ein aktives, verknüpfendes, die Leerstellen füllendes Bild-Lesen wird. Textbeigaben

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

(Sprechblasen, Beitexte, Inserts, Lautmalerei) werden in diesem Prozeß entsprechend integriert, haben Darstell ungs/Erklärungs- wie Steuerungsfunktion. Dabei gewährt die simultane Präsentation (Akteure, Requisiten, Ort- und Zeitangabe) besondere Anschaulichkeit. Aus der äußeren Darstellung kann über den Darstellungsstil, die Körpersprache, markante Attribute, Sprech- und Denkblasen usf. auch auf 'innere' Befindlichkeiten und Prozesse geschlossen werden. Ein gewisser 'Rätseleffekt' (Unbestimmtheiten in Darstellung oder Prozeß), der aber die Aussicht auf 'Lösung' verspricht, fördert die interessierte aktive Rezeption. Untersuchungen (Grünewald 1984) haben gezeigt, daß diese Rezeptionsanforderungen von Kindern leicht und motiviert geleistet werden, wenn Bildzeichen und Inhalt des Erzählten mit ihrem Horizont und Interesse korrespondieren. So erfassen sie aus der Darstellung prägnanter Szenen, insbesondere der Körpersprache, die narrative Situation, verbinden Wort- und Bildinformation zu einer sinnhaften Einheit, können (nachgewiesen durch die Aufgabe, vertauschte Bilder zu ordnen) den sinntragenden Handlungsprozeß in der Bildfolge nachvollziehen und die Leerstellen kombinierend füllen. Dieses Rezeptionsverhalten ist ein durch Übung, durch Tätigsein gesteuerter Lernprozeß, dessen Intensität bei Rezeption ästhetisch gleicher oder ähnlicher Angebote (Serie) durch den Wiedererkennungseffekt, die Internalisierung der Zeichen und Erzählmuster, abgeschwächt wird. Zwar bereitet das Wiedererkennen, die Bestätigung des Erwarteten Genuß, doch führt das Vertraute auch tendenziell zu einer rascheren, eher konsumierenden Haltung, weniger zu einem aktiv-bewußten denn automatischen Lesen. Insbesondere bei Kindern besteht die Gefahr, daß so Hemmschwellen gegenüber Angeboten anderer ästhetischer Codes aufgebaut werden. Sie fordern, da noch nicht vertraut, intensive aktive Lesearbeit und beinhalten im Unterschied zum bekannten, einschätzbaren Serienangebot zugleich das Risiko, ob ein erwarteter Lesegenuß auch eintritt. Sinnvoll scheint daher, Kindern schon früh (Elternhaus, Schule, Bibliothek) ein möglichst breites, differenziertes Angebot zugänglich zu machen, das es im Vergleich erlaubt, Unterschiede zu erkennen, ein auf Inhalt wie auf Ästhetik bezogenes Qualitätsbewußtsein und damit Ansprüche zu entwickeln und zugleich Offenheit, neugierige Bereitschaft, sich auf Innovatives einzulassen, fördert.

6.

Wirkungsfrage

Pauschale Aussagen zu 'den' Comics, insbesondere zu ihrer Wirkung, verbieten sich. Zum einen sind Comics ein Angebot, auf das jeder Rezipient individuell reagiert, auch wenn in der informationsnivellierenden Fernsehgesellschaft tendenziell vergleichbare Voraussetzungen konzidiert werden können, auch wenn die Rezeptionsanforderungen vergleichbare Erkenntnisprozesse initiieren. Wie bei jedem künstlerischen Angebot bleibt für Verständnis und Wirkung ein subjektiver Anteil des Rezipienten als wesentlicher Faktor. Die 'Aussage' ist, in Qualität und Niveau differenziert, letztlich nie vollständig oder 'richtig' zu erfassen (zu interpretieren); es bleibt stets ein offener Rest. Zum anderen ist das Comic-Angebot in Inhalt und Ästhetik so vielfältig wie ζ. B. das Textangebot und entzieht sich somit einer gleichen Wirkungsweise. Zweifellos kann man im jeweiligen Einzelfall zwischen künstlerisch anspruchsvollen Comics und populären, eher trivialen Comics differenzieren; bei ersteren einen distinguierten Code mit entsprechenden Anforderungen und Denk- und Genußangeboten konstatieren, bei letzteren von einem restringierten Code, von Klischees und Stereotypen sprechen mit eher seichtem Unterhaltungswert. Sicherlich ist der 'Massenware' neben ihrer intendierten Unterhaltungsfunktion eine versteckt oder beiläufig mittransportierte Norm- und Werteerziehung eigen, ein übertragbarer Gewöhnungseffekt (ζ. B. hinsichtlich des Stellenwertes von Gewalt), eine Tendenz zu Kompensation und Eskapismus gegenüber den unbewältigten Problemen und Mängeln der erfahrbaren Wirklichkeit. Andererseits ist im komplexen Geflecht der Sozialisation die Wirkung der Comiclektüre zu relativieren. So hat die heute konstatierte Reizüberflutung zu spezifischen, selektierenden Rezeptionsmodi insbesondere bei Kindern und Jugendlichen geführt, die Aufnahme und Akzeptanz an Lebensbezug und Interesse binden und eine passive Manipulation zumindest gemäß den Annahmen der Reiz-Rekations-These fraglich erscheinen lassen. Gemesseen an 'Nutzen' und 'Gebrauch' populärer Kunst ist eine pauschale Dequalifizierung problematisch (Shusterman 1994); Intensität und Wiederholung der Lektüre mißt sich an der individuellen Erlebnisqualität, wobei i. d. R. zwischen der Fiktion der Comic-Geschichte und der Realität unterschieden wird, so daß unmittelbare Übertragungen (Verhaltens- und Einstellungsanwei-

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149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch

sungen) Ausnahmen sind bzw. bereits auf andere vorhandene Wirkungsfaktoren treffen. Wo erkennbar eine Wirkungsintention angestrebt wird, ζ. B. Comic-Einsatz in der Werbung, Informations- und Aufklärungscomics (ζ. B. Sachcomic, Antirauchcomic, Aids-Comic), prägt eine entsprechende Erwartungshaltung den Umgang mit dem Angebot. Die Anschaulichkeit und die aktive Rezeptionsanforderung kann solche Intentionen sicherlich befördern. Erzählende Comics, auf Unterhaltung zielend, sind Genuß- und Denkangebote, deren sozialisierende Wirkung von den konkreten Bezügen zur Lebenswirklichkeit des jeweiligen Rezipienten und seinem Rezeptionsvermögen abhängt — und seiner je aktuellen Befindlichkeit. Nicht p a u s c h a l i e rende Vorurteile oder administrative Reglementierungen, sondern Förderung von Kompetenz und Verantwortung des individuellen Lesers führt zu einem angemessenen Umgang mit Comics. Basis dafür ist ihre kulturelle Akzeptanz, die Chance offener, kritischer Auseinandersetzung mit dem Einzelwerk.

7.

Literatur

Franzmann, Bodo/Ingo Hermann/H. Jürgen Kagelmann/Rolf Zitzlsperger (Hrsg.), Comics zwischen Lese- und Bildkultur. München 1991. Grünewald, Dietrich, Wie Kinder Comics lesen. Frankfurt a. M. 1984. —, Vom Umgang mit Comics. Berlin 1991. - , Comics. Tübingen 2000. Hofmann, Werner, Zu kunsthistorischen Problemen der Comic Strips. In: Vom Geist der Superhelden. Comics. Zur Theorie der Bildergeschichte. München 1973. Hogarth, William, Analyse der Schönheit. Hrsg. v. H. D. Zimmermann. 1953. Berlin 1914. Kagelmann, H.-Jürgen Vol. 1. München 1991.

(Hrsg.),

Comics

Anno

—, Comics Anno Vol. 3. München 1995. Knigge, Andreas, Fortsetzung folgt. Comic Kultur in Deutschland. Frankfurt a. M. 1986. Kunzle, David, The Early Comic Strips. Narrarive Stories in the European Broadsheet from ca. 1450 to 1825. Berkeley 1973. Metken, Günther, Comics. Frankfurt a. M. 1970. Shusterman, Richard, Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus. Frankfurt a. M. 1994.

Dolle-Weinkauff, Bernd, Comics — Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945. Weinheim 1990.

Dietrich Grünewald, Reiskirchen ( Deutschland)

149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch 1. 2. 3. 4.

10.

Vorbemerkung 1945 ein Epochenjahr? Neuorientierung und Tradition bis 1949 Opposition gegen literarische Restauration in den fünfziger Jahren Ein seltener Streit um sprachästhetische Normen: Der 'Fall Johnson' Der deutsch-deutsche Doppelblick auf die 'gesellschaftliche Realität' Bleibende Leistungen der DDR-Literatur 'Tod der Literatur' und ihre Wiederauferstehung nach 1968 Literarische 'Postmoderne' und die Beliebigkeit der Literaturkritik Literatur

1.

Vorbemerkung

5. 6. 7. 8. 9.

Niemals zuvor waren die technischen Möglichkeiten wie die thematischen und ästhetischen Anregungen für literarische Arbeiten in

Deutschland so vielfaltig wie in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Dennoch steht es um die Weltgeltung der deutschen Literatur nicht zum besten. Ein Überblick über die Zeit nach 1945 soll die Licht- und Schattenseiten der Entwicklung vorstellen.

2.

1945 ein Epochenjahr?

Sprachlich wie literarisch gab es 1945 keine 'Stunde Null'. Selbstverständlich sind Brüche zu verzeichnen. Mit der Ν S-Kulturbarbarei endete erfreulicherweise das 'germanischnordische' Geraune und die 'Blut-und-Boden'-Poesie. Noch erfreulicher durften erstmals wieder laut werden, die zuvor nur im Untergrund oder im Exil wirken konnten. Endgültig verstummt waren allerdings zahlreiche Autoren, die bereits vor 1933 einen in-

1640

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

ternational oder zumindest national anerkannten Namen hatten (ζ. Β. K. Tucholsky, E. Toller, St. Zweig oder Gertrud Kolmar), sowie unzählige noch nicht gereifte, gleichsam namenlose Talente: Sie waren die Opfer des NS-Terrors, unter dem sie unfreiwillig oder verzweifelt-freiwillig aus dem Leben geschieden waren. Wer sich nun wieder einer deutschen Öffentlichkeit vernehmbar machen konnte, hatte entweder unter einem jahrelangen Veröffentlichungsverbot oder - von Glücksfallen in der Schweiz abgesehen — mehr oder weniger unter der kulturellen Isolation in einem fremdsprachigen Exil gelitten. Das führte aber auch dazu, daß in der neuen, demokratischen Epoche Deutschlands ästhetische Konzepte und Stiltraditionen der Weimarer Zeit mitunter fast „unbeschädigt" fortgesetzt werden konnten. Teilweise wurden nun aber auch die in der Selbstisolation Deutschlands 1933—45 nicht zur Kenntnis genommenen ästhetischen Entwicklungen des Auslands mit großem Enthusiasmus rezipiert. Ein bedeutsames medientechnisches Instrument wurden dabei ab 1946 'Rowohlts Rotations-Romane', die zunächst im Zeitungsformat zahlreiche ausländische Texte in Ubersetzungen bekanntmachten. Noch vor den Wirkungen einer programmatischen Neubesinnung, die in West und Ost freilich höchst unterschiedlich ausfiel, ist die unmittelbare Nachkriegszeit also von einer großen Spannweite literarischer Erscheinungen geprägt. Sie liegt im Epischen zwischen den Polen des großen Romans und der amerikanisch beeinflußten Kurzgeschichte, im Lyrischen zwischen traditionellen Naturgedichten und zeitkritischen Liedern, im Dramatischen zwischen ungebrochener Klassikrezeption und Zeitstücken. Manche literaturgeschichtliche Betrachtung greift mithin zu kurz, wenn sie für diese Zeit die 'kleine' Form, Gedicht, Kurzgeschichte und Hörspiel, für typisch erklärt und deren Dominanz nicht nur medial-materiell mit Papierknappheit begründet, sondern auch darauf zurückführt, daß die Schrecken des Krieges und des NS-Terrors vielen Autoren und Autorinnen für 'große Gattungen' gleichsam den langen Atem geraubt hätten. Diese Erklärungen stimmen für einzelne Autoren ganz gewiß, treffen aber nicht die Gesamtsituation, die durch eine außerordentliche Vielfalt und Kreativität auf allen literarischen Feldern gekennzeichnet ist. Allein die gängigen literarhistorischen Klassifizierungen markieren eine Fülle sehr

verschiedener ästhetischer Programme: die 'Naturlyrik' eines W. Lehmann stand neben dem 'absoluten Gedicht' G. Benns; der 'magische Realismus' von Epikern wie H. Kasack, E. Jünger und E. Kreuder konkurrierte mit (traditionellen oder neuen) christlichen Orientierungen von A. Döblin, R. A. Schröder oder A. Goes. 1946 erhält für ein ebenfalls nicht mehr ganz neues literarisches Programm H. Hesse (seit 1923 Schweizer Staatsbürger) den Literaturnobelpreis. 3.

N e u o r i e n t i e r u n g u n d T r a d i t i o n bis 1949

In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bemühte man sich zunächst um eine möglichst breite Sammlung aller literarischen, auch konservativer Tendenzen, um damit einen gesamtdeutschen Anspruch kommunistischer Kulturpolitik zu demonstrieren. Der 1. Deutsche Schriftstellerkongreß in Berlin 1947 formulierte denn auch in einem seiner Manifeste sehr traditionell-deutschnational, fast noch „blut-und-boden-ständig": „Ja, wir glauben an die unvergängliche Gemeinschaft derer, die die deutsche Sprache sprechen, derer, die durch die Landschaft (!) Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach, Goethes und Hölderlins angeregt und geformt worden sind." Eine radikale Abkehr von literarischen und sprachlichen Traditionen erfolgte indes, zumindest in den 'Westzonen', bei einigen Autorinnen und Autoren, deren Werk man als spezifisch deutsche Ausprägung des 'Neorealismus' unter dem Begriff 'Trümmerliteratur' subsumiert. Exponent dieser Richtung vor allem junger, von Kriegserfahrungen geprägter Schriftsteller war W. Borchert, der mit seinen Kurzerzählungen und nicht zuletzt mit seinem Hörspiel 'Draußen vor der Tür' (1947) die verdrängte Schuld und die Trostlosigkeit der Überlebenden zu spiegeln versuchte. In ähnlicher Weise begann auch H. Boll seine Kriegs- und Nachkriegserfahrungen literarisch umzusetzen, auch er zunächst in 'kleiner Form', in Kurzgeschichten für Feuilleton und Funk (ab 1946), wie auch die erste veröffentlichte größere epische Arbeit, 'Wo warst Du, Adam?' (1951), letztlich die Komposition von neun Kurzgeschichten ist, die um das Thema „Sinnlosigkeit des Krieges" kreisen. (Frühere größere Arbeiten wie 'Kreuz ohne Liebe' von 1946/47 sind noch unveröffentlicht oder wurden erst lange nach seinem Tod herausgegeben.)

149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch

Erst 1949 wurden diese Ansätze durch W. Weyrauch in einer programmatischen Sammlung von Kurzgeschichten inzwischen oft vergessener Autoren unter dem Titel 'Tausend Gramm' zusammengeführt, die gemäß ihren theoretischen Ausführungen im Nachwort auch das 'Kahlschlag-Manifest' genannt wird: „[...] die Kahlschlägler fangen in Sprache, Substanz und Konzeption, von vorn an." Entgegen der naheliegenden Vermutung, daß hier wieder einmal die amerikanische Shortstory Pate gestanden hätte, entstammen die einleitenden fünf historischen 'Modellgeschichten' der deutschen und europäischen Tradition: Hebbel, Kleist, Maupassant, Tschechow, Hebel. Was aber war das Neue? — Es waren natürlich die Gegenwartsthemen und deren nüchtern-trockene, jeden Schnörkel meidende Darstellungsweise, mit — wie schon bei Borchert oder Boll — meist kurzen, parataktischen Sätzen unter starker Verwendung umgangssprachlicher Elemente. Aber weder dieses 'Manifest' noch der im selben Jahr erstmals publizierte Ausspruch Th. W. Adornos, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", der noch heute in vielerlei Varianten umläuft und reflektiert wird, hatten eine grundstürzende Wirkung. Weder ging die Lyrik unter; im Gegenteil: sie blühte, nicht zuletzt als Medium der Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte (erwähnt seien nur ihre herausragenden Leistungen bei Nelly Sachs und P. Celan); noch gaben nicht zuletzt die aus dem Exil — vor allem in die SBZ — remigrierten Romanciers, etwa A. Zweig oder Anna Seghers die große epische Form auf, von den im Exil Verbleibenden wie L. Feuchtwanger, Th. Mann oder E. Canetti ganz zu schweigen. Insbesondere Th. Manns hypotaktisch hochkomplizierter Stil war dem 'Kahlschlag'-Programm diametral entgegengesetzt. Ohnehin von den deutschen Verhältnissen nur mittelbar betroffen, entwickelten die damals noch jungen Schweizer Autoren M. Frisch und F. Dürrenmatt ihr höchst persönliches literarisches Œuvre in Romanen und Dramen. Und auch die 1947 von H. W. Richter gegründete 'Gruppe 47' trug keineswegs zu einer homogenen Erneuerung ästhetischer und sprachlicher Art bei. Dies war allerdings auch nicht ihr Ziel, das besser mit dem Zitat eines (anonym gebliebenen) Gruppenmitglieds als „Programm der Programmlosigkeit" zu umschreiben wäre (eine Formel, die im übrigen bereits 1896 für die literarischen Ambitionen der Zeitschrift 'Jugend' geprägt

1641

worden war); denn die Gruppe 47 war gleichsam als Ersatz für die wegen ihrer sozialistischen Tendenz von den Amerikanern verbotene Zeitschrift 'Der Ruf' gedacht: Da man nicht mehr publizieren durfte, las man sich gegenseitig seine neuen Texte vor.

4.

Opposition gegen literarische Restauration in den fünfziger Jahren

Die in den Westzonen und in der frühen BRD vorherrschende Literaturkritik protegierte freilich zunächst ganz anderes: Autoren und Autorinnen, die, an klassischen/klassizistischen Stiltraditionen orientiert, über den politischen Umbruch hinweg ästhetische Kontinuitäten zu retten versuchten. Der Ruhm dieser 'Nachkriegsklassiker' erfuhr mehr noch als durch das zunächst wenig beachtete Wirken der 'Gruppe 47' einen teilweise nicht mehr zu behebenden Einbruch durch die vielbeachtete Streitschrift von K. Deschner, 'Kitsch, Konvention und Kunst' (1957), in der vor allem die Uberschätzung des „Inhaltlichen" zu Lasten sprachkritischer Maßstäbe angeprangert wurde. Das Verdikt Deschners richtete sich konkret gegen W. Bergengruen, H. Carossa und große Teile des Werks von H. Hesse; aber auch andere bis dahin hochgelobte Autorinnen und Autoren wie Gertrud von le Fort oder E. Wiechert büßten endgültig an Reputation ein. Statt dessen machte Deschner als einer der ersten auf die Qualitäten von R. Walser, R. Musil, H. Broch und H. H. Jahnn aufmerksam, die seitdem zum ungeschriebenen Kanon deutscher Literatur des 20. Jhs. zählen. Mit der 'Gruppe 47' stimmte Deschner zweifellos in der Ablehnung restaurativer Tendenzen und in der Forderung nach literarischer Zeitkritik überein. Nur Deschner allerdings (obwohl — oder weil? — selbst kein literaturwissenschaftlicher oder -kritischer 'Profi' wie einige '47er', z. B. W. Jens) reklamierte genaue Sprachanalysen, durch die erst eigentlich der weltanschauliche Gehalt eines Texts ermittelt werden könne. — Die schließlich jahrzehntelange Wirkung der 'Gruppe 47' auf den westdeutschen Literaturbetrieb, der sich anfangs nur zögerlich den Autoren dieses Kreises zuwandte, wäre ohne die geschickte PR-Arbeit ihres Mentors H. W. Richter (der selbst nur relativ schwache Werke schrieb), kaum denkbar gewesen. Aber es war auch nicht die Gruppe als ganze,

1642

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

die eine literarische Breitenwirkung erzielte, sondern es waren immer nur einzelne ihrer Vertreter wie H. Boll, Ingeborg Bachmann oder G. Grass, die mit je eigenen ästhetischen Konzepten weitsichtige Verleger für sich gewinnen konnten. Während die zweifellos meisterhaften Nachkriegsromane des Gruppenmitglieds W. Koeppen (z.B. 'Tauben im Gras', 1951, oder 'Das Treibhaus', 1953) nur bedingt Erfolg hatten, konnte sich H. Boll mit seinen der unmittelbaren Nachkriegszeit gewidmeten Romanen 'Und sagte kein einziges Wort' (1953), 'Haus ohne Hüter' (1954) und 'Das Brot der frühen Jahre' (1955) fast schlagartig durchsetzen. Boll schuf in diesen Texten — darin immer noch seinen Anfangen in der 'Trümmerliteratur' verpflichtet, aber auch Anregungen von Joyce und Hemingway aufgreifend — eine überaus stimmige Synthese von Thema, Konzeption und stilistischer Gestaltung, diese als Ergebnis sehr genauer Studien des sprachlichen und kommunikativen Milieus der 'kleinen Leute' seiner Vaterstadt Köln. Eine sprachlich schlichte und nüchterne, aber auch mit kühnen Bildern operierende Gestaltung von Themen, die — Kriegs- und Nachkriegserfahrungen spiegelnd — bar jeder Illusion bleiben, kennzeichnet auch den 1953 erschienenen Lyrikband 'Die gestundete Zeit' von I. Bachmann, die damit wie mit ihren weiteren Gedichtbänden, 'Anrufung des großen Bären' (1956) und 'Das dreißigste Jahr' (1961), zu einer der größten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jhs. geworden ist. In der 'Gruppe 47' waren also, wie allein die Namen Boll und Bachmann beweisen, schon in den literarischen Gattungen sehr verschiedene Temperamente vertreten. Das Spektrum der Gattungen und ästhetischen Konzepte erscheint noch weiter, wenn man das fast surrealistische Drama 'Onkel, Onkel' von G. Grass (1958) hinzurechnet. Ins allgemeine Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit trat Grass aber erst 1959, als er seinen Roman 'Die Blechtrommel' vorlegte. Zwar bezog dieses Werk — ähnlich wie Bolls Romane zuvor — einen wesentlichen Teil seiner Kraft aus der genauen Erinnerung des Autors an die sprachliche und kommunikative Atmosphäre seiner Vaterstadt, Danzig; dennoch verfolgte Grass konzeptionell und stilistisch ganz andere Ziele: Jüngste Vergangenheit und Gegenwart werden aus der Perspektive einer abnormen Figur, des aus eigenem Willen kleinwüchsig bleibenden Oskar

Matzerath, in der Art eines modernen Schelmenromans dargestellt und reflektiert. Ironie und Satire präsentieren sich in hochartifiziellen Sprachkonstruktionen, die von der Böllschen Sprachschlichtheit nicht weit genug entfernt gedacht werden können. Gleichwohl galten Boll und Grass ab 1959 im In- wie Ausland für viele Jahre gleichsam als das Zwillingspaar der deutschen Gegenwartsliteratur, neben dem sich viele kaum noch Gleichwertiges oder gar Höherrangiges vorstellen konnten. Die daraus resultierenden sehr hohen, zu hohen Erwartungen hinsichtlich künftiger Werke der beiden ließen denn auch die Enttäuschungen über mindere Leistungen in späteren Jahren, vor allem bei Grass (z.B. im Roman 'Die Rättin', 1986, erst recht im Roman 'Ein weites Feld', 1995), um so tiefer werden. Bei Boll, dessen ebenfalls 1959 erschienener Roman 'Billard um halbzehn' in seiner mystisch-symbolischen Umschreibung politischer Positionen bereits Anzeichen einer problematischen Entfernung von seinen treffsicheren 'neorealistischen' Anfängen zeigt, wurden die eigentlich unübersehbar zunehmenden ästhetischen Schwächen der Literaturkritik in Anerkennung seines politisch-moralischen Engagements oft gnädig — oder blind — übersehen. Damit greifen wir aber bereits jener Phase der literarischen Entwicklung vor, in der die Frage nach dem „richtigen Bewußtsein" (wieder einmal) Fragen nach ästhetischer Stimmigkeit an den Rand drängte (s. 8.).

5.

Ein seltener Streit um sprachästhetische Normen: Der 'Fall Johnson'

Angesichts dieser konstitutionellen Schwäche neuerer (westdeutscher Literaturkritik war es fast schon eine Ausnahme, daß ein 1959 erstmals hervortretender Autor einen erfrischenden Streit um sprachästhetische Normen auslöste: U. Johnson mit seinem Roman 'Mutmaßungen über Jakob'. In der D D R hatte der aus Pommern nach Mecklenburg verschlagene, in Leipzig zum Germanisten ausgebildete Autor keinerlei Publikatonschance, weswegen er 1959 nach West-Berlin übergesiedelt war. Nun konnte auch er Einladungen in die 'Gruppe 47' folgen, und er erweiterte das ohnehin schon breite ästhetische Spektrum der Gruppe um eine völlig neue Farbe. Die 'Mutmaßungen über Jakob' konfrontierten das westdeutsche Publikum mit ihren

149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch

Erwägungen zum dubiosen Tod eines Reichsbahners mit Geheimdiensthintergrund erstmals mit einer 'Innenansicht' der D D R , geschrieben in einer Sprache, die der Ungewißheit über das tatsächliche Geschehen auf Seiten der mutmaßenden Figuren entsprechen sollte. Streit entzündete sich über der Frage, ob der ungewöhnliche Stil Johnsons, insbesondere seine zahlreichen syntaktischen Brüche einer ästhetischen Absicht folgten oder schlicht Beweis für sprachliches Unvermögen seien. Die aus dialektal geprägter Spontansprache gewonnenen stilistischen Elemente — so könnte man die Kritik pointiert zusammenfassen — seien literarischer Verarbeitung unwürdig. In diesem Streit, der mit dem Erscheinen von Johnsons zweitem Roman 'Das dritte Buch über Achim' (1961) ausbrach, stand ausgerechnet der in Abschn. 3 als progressiv charakterisierte K. Deschner auf der konservativen Seite, also gegen Johnson, während germanistische Linguisten Johnsons Sprachstil — auch unter Hinweis auf historische Vorbilder — verteidigen mußten. Insgesamt noch zweimal entbrannte — von ideologischen Kontroversen in der D D R , um 'Realismus' oder 'Formalismus', einmal abgesehen — Streit um ästhetische Normen in der Literatur, wobei freilich weit weniger präzise als beim 'Fall Johnson' sprachliche Kriterien i. e. S. berührt wurden: im sog. Zürcher Literaturkrieg von 1966/67, in dem der Altmeister germanistischer Textdeutung E. Staiger höchst konservativ die literarische Moderne insgesamt in Zweifel zu ziehen versuchte, sowie im 'neudeutschen Literaturstreit' von 1985/86, in dem verschiedene Fraktionen der Literaturkritik um die Qualität vor allem von P. Handke und B. Strauß gegeneinander fochten. Leider werden literaturkritische Auseinandersetzungen nur selten wissenschaftlich nachvollziehbar ausgetragen, und zu oft stellt sich der Eindruck ein, daß sich die Marktstrategien einzelner Verlage stärker auswirken als nachprüfbare ästhetische Kriterien. Auch die Verleihung von Literaturpreisen ist in Deutschland angesichts der Inflation solcher Preise kein verläßliches Kriterium mehr (s. 9.).

6.

Der deutsch-deutsche Doppelblick auf die 'gesellschaftliche Realität'

U. Johnson hatte eine D D R verlassen, in der zwar die ärgsten stalinistischen Deutungen eines 'sozialistischen Realismus' schon halbwegs überwunden waren, denen sich auch

1643

einst hoffnungsvolle Talente mit unsäglichen Produkten (etwa K. Barthel, gen. Kuba, mit seiner 'Kantate auf Stalin') unterworfen hatten; dennoch blieb die kommunistische Kulturprogrammformel ein immer noch mächtiges, weil äußerst flexibel einsetzbares Machtinstrument, mit dem die SED politisch „unzuverlässige" Geister zu bändigen verstand. Hier ist nicht der Ort, die Windungen und Wendungen der DDR-Kulturpolitik nach Stalins Tod 1953 nachzuzeichnen. Der DDRspezifische Blick auf die 'gesellschaftsliche Realität', die offiziell immer nur die gerade gewünschte sein durfte, sollte jedenfalls ab 1959 gemäß dem von W. Ulbricht auf der 1. Bitterfelder Konferenz vorgegebenen 'Bitterfelder Weg' von schreibenden Arbeitern geschärft werden. Von literarischen Exkursionen in die Arbeitswelt abgesehen, die auch bedeutende Autoren wie F. Fühmann unternahmen, ergab dieses Programm unter der Parole 'Greif zur Feder, Kumpel!' häufig nur eine Aktivierung von Dilettantismus, der teilweise noch bis zur 'Wende' 1989 staatlich subventioniert wurde. Daneben war die anfangs sich ehrlich für eine sozialistische Zukunft Deutschlands engagierende Literatur - von Ausnahmen abgesehen — zu einem weitgehend staatsfrommen Schrifttum verkommen, in dem gesellschaftliche Probleme mehr oder weniger nur behandelt wurden, damit man ihre 'sozialistische' Lösung demonstrieren konnte. Die B. Brecht folgende 'Kampflyrik' der frühen Nachkriegsjahre war zur scheinrevolutionären Gebrauchslyrik abgesunken, auch die aus dem Exil heimgekehrten Epiker blieben — wie A. Seghers — oft hinter ihren früheren Leistungen, die noch nicht von einer Staatspartei gegängelt waren, zurück. Selbst B. Brecht, dessen Dramenästhetik und Ost-Berliner Theaterarbeit bei Dramenautoren, etwa bei Heiner Müller, bis in die jüngste Vergangenheit und in der Theaterpraxis, auch in Westdeutschland, eine sehr große Vorbildwirkung hatte, traf in seinen im östlichen Nachkriegsdeutschland geschriebenen Stükken nicht mehr sein altes Niveau. (Vgl. auch 7.). Eine nur in Diktaturen mögliche und nötige Funktion aber übernahm die Literatur der D D R sehr bald: Sie galt vielfach als Ersatz für die durch Zensur der Massenmedien verweigerte Information über die tatsächlichen gesellschaftlichen Zustände. Da sich einzelne Autoren auch bewußt auf diese Erwartung einließen, entwickelte sich beim DDR-Publikum ein sehr eigenes Leseverhai-

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XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

ten: Man las ganz wesentlich auch 'zwischen den Zeilen'. Eine so indirekte Auseinandersetzung war in der BRD nicht nötig. Als hier — entfernt mit dem 'Bitterfelder Weg' vergleichbar - die Arbeitswelt literarisch in den Blick genommen werden sollte, hatte sich bereits ein 'Neuer Realismus' etabliert, der, von der 'Kölner Schule' um D. Wellershoff angeregt und gegen die epische Phantastik etwa in den Romanen von G. Grass gerichtet, in der Literatur nur noch 'objektive Tatbestände' zulassen wollte (sog. Faktographie, verwandt mit der 'Faction-Prosa' in den USA). Dramentheoretische und -praktische Anregungen Brechts und Piscators aufgreifend entwickelte sich in den sechziger Jahren parallel zu episch-dokumentarischen Arbeiten (ζ. B. von A. Kluge und H. M. Enzensberger) das sog. Dokumentartheater: 1963 sorgte R. Hochhuth mit seinem papstkritischen Stück 'Der Stellvertreter' für eine bundesweite Diskussion, die sich freilich weniger auf die künstlerische als auf die zeithistorischen Aspekte konzentrierte (diese Akzentverlagerung bewahrte Hochhuth auch bei späteren Stücken immer wieder vor einer ernsthaften ästhetischen Kritik!). Literarisch bedeutsamer wurden die Stücke von P. Weiss 'Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats ...' (1964) und 'Die Ermittlung' (1965), worin die Vernehmungsprotokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses verarbeitet wurden; ferner das ebenfalls dokumentarische Stück H. Kipphardts 'In der Sache J. R. Oppenheimer' (1964). Mit dem Drama 'Ernst Toller' (1968, aber schon in den frühen sechziger Jahren konzipiert) eröffnete T. Dorst seine lange fruchtbare Reihe von Texten um historische Figuren. Dorst wurde damit zu einem der seltenen beständigen Theaterautoren Deutschlands, ohne die das Schauspiel wohl noch mehr auf das in den siebziger Jahren in Mode gekommene 'Regietheater' angewiesen wäre, also auf eine Theaterpraxis, die ausschließlich der selbstherrlichen Intuition von Regisseuren unterworfen ist. P. Handkes 'Publikumsbeschimpfung' von 1966 war zwar ein notwendiger Reflex auf eine allgemeine Ermattung der deutschen Theaterkultur, erhob sich aber kaum über die Qualität eines sensationsheischenden Gags, wie auch seine späteren Arbeiten eine höchst zwiespältige Aufnahme fanden (so schwankten auch die Urteile über seinen voluminösen Text 'Mein Jahr in der Niemandsbucht' von 1994 zwischen „opus maximum" und „typisch deutschem Geraune").

Ziel- und Endpunkt der dokumentarischen Literatur aber war, die aus 'hoher' Literatur meist ausgeblendete Realität der unteren Bevölkerungsschichten, möglichst in ihrer Arbeitswelt, ebenfalls „objektiv" einzufangen. Hier waren — wie schon einmal in der 'Neuen Sachlichkeit' der zwanziger Jahre — Reportagen gefragt, ζ. B. 'Industriereportagen', mit denen sich vor allem G. Wallraff einen Namen machen konnte. Aber auch durch Tonaufzeichnung technisch „objektivierte" Äußerungen sollten literarisch werden. Zum prominenten, zugleich aber auch fragwürdigen Beispiel wurden Erika Runges 'Bottroper Protokolle' (1968): Um die aufgezeichneten Äußerungen von Arbeitern aus dem Ruhrgebiet überhaupt lesbar zu machen, hatte Runge — wie sie erst nachträglich einräumte — in die Texte redigierend eingreifen müssen. Was im 'Bitterfelder Weg' der D D R schon an der meist mangelnden Kompetenz der Schreibenden gescheitert war, stieß in der BRD an eine grundsätzliche Grenze: zwischen literarischer Fiktion und „objektiven Fakten", die als die glaubwürdigere „Literatur" gelten sollten. Diesem verfehlten Anspruch fielen letztlich auch die Versuche der 'Gruppe 61' um E. Sylvanus und M. von der Grün sowie des von dieser Gruppe abgespaltenen 'Werkkreises Literatur der Arbeitswelt' zum Opfer.

7.

Bleibende Leistungen der DDR-Literatur

Das gespaltene Deutschland hatte auch seine je eigenen politischen und kulturellen Epochen. Sieben Jahre vor der Zäsur, welche die Studentenrevolte von 1968 für die BRD bedeutete, erlebte die D D R einen radikalen Einschnitt in ihre inneren und äußeren Angelegenheiten durch den Mauerbau (1961). Die großen Remigranten A. Zweig, A. Seghers und St. Heym überlebten ihn, ohne diesem Datum besondere Aufmerksamkeit zu schenken (Heym hielt ein Manuskript über den Aufstand vom 17. Juni 1959 bis 1974 zurück: 'Fünf Tage im Juni'!). Christa Wolf dagegen begann ihr episches Schaffen mit just diesem Thema, in der Erzählung 'Der geteilte Himmel' (1962). Trotz unzweifelhafter Stärken in Konzeption und Stil vermittelt der Text soviel Staatstragendes, daß die Tragik eines durch die Mauer für immer getrennten Paares nur wie ein formaler Vorwand erscheint. Wo immer sich Autoren in der D D R (wie anderswo!) allzusehr auf außerliterarische Vorgaben — sei es durch Schweigen oder

149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch

durch staatstreuen Einsatz - einließen, haben sie die besondere Aufgabe und Möglichkeit der Literatur verfehlt. Wenn man also heute fragt, was von der DDR-Literatur nach Abzug aller unvermeidlichen äußeren Einflüsse (vor allem der euphemistisch „Druckgenehmigungsverfahren" genannten Zensureingriffe) Bestand haben kann (eine Frage, die man westdeutscher Literatur durchaus auch einmal stellen sollte!), dann suche man nach Zeugnissen für ein Engagement, das nicht auf die Tagespolitik oder die gerade geltenden Parteitagsbeschlüsse der SED fixiert war. Da wäre zu nennen E. Strittmatters Roman 'Ole Bienenkopp' von 1963, der die Geschichte eines märkischen Dorfes in einer dem Sujet kongenialen Sprache erzählt, die einerseits wortkarg, andererseits reich an Naturmetaphern ist. Wie sehr Strittmatter den Ton der Ostdeutschen zu treffen fähig war, zeigte sich noch an der Resonanz auf den dritten Teil seiner Autobiographie, 'Der Laden', der 1992 zum ersten großen literarischen Ereignis in den östlichen Bundesländern nach der 'Wende' wurde. Es bleiben gewiß die Lyrik und die Prosa von J. Bobrowski (u. a. die Gedichtsammlung 'Schattenland Ströme', 1962, oder der Roman 'Levins Mühle', 1964), die thematisch wie sprachlich aus der geographischen wie ethnischen Grenzsituation des Memellandes, Bobrowkis früherer Heimat, lebt, einer Region also zwischen Deutschland und den von den Deutschen Überfallenen Nachbarvölkern. Deren — zumal litauischem — Kulturerbe erweist Bobrowski immer wieder Reverenz, weil er wenigstens einen kleinen Teil der im deutschen Namen erfolgten Zerstörungen aufzuarbeiten versucht. Auch viele Werke F. Fühmanns werden überdauern, sicherlich die Ich-Erzählungen im Band 'Das Judenauto' (1962), in denen zeithistorische Betrachtungen aus der Sicht verschiedener Lebensalter gestaltet werden, oder die tragischen Liebesgeschichten in 'Der Geliebte der Morgenröte' (1978). Mit der Kritik an Christa Wolfs 'Der geteilte Himmel' (s. o.) und der teilweise unappetitlichen Auseinandersetzung um ihre relativ milden politischen Verstrickungen zu DDR-Zeiten (die sie freilich in 'Was bleibt' von 1990 nicht eben plausibler machen konnte) kann und darf nicht ihre Qualität in Werken wie 'Nachdenken über Christa T.' (1968) oder 'Kindheitsmuster' (1976) in Abrede gestellt werden. Die teilweise überschwengliche Aufnahme in der BRD trug

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zwar auch ausgesprochen modische Züge (insbesondere ihre Einstufung als Vertreterin einer 'Frauenliteratur' anläßlich ihrer Erzählung 'Kassandra', 1983, entsprach einer unzulässigen Übertragung westdeutscher Stereotype auf die DDR); aber viele ihrer Arbeiten verdienen mehr denn je eine weitere, vorurteilsfreie Auseinandersetzung. Ahnliches gilt auch für manche Werke anderer DDR-Autoren, die sich — wie St. Heym — nicht immer klar genug von den grundsätzlich literaturfeindlichen Bedingungen der SED-Diktatur distanzieren konnten. Ein grundsätzliches Verdienst der DDR-Literatur war die Bewahrung alter, in der BRD oft allzu leicht vergessener deutscher Sprachtraditionen. Daran haben allerdings nicht wenige der von der SED vertriebenen ehemaligen DDR-Autoren (etwa die Lyriker P. Hüchel, G. Kunert oder R. Kunze oder die Erzählerin Monika Maron) besonderen Anteil, von den in der SED im eigenen Land Unterdrückten ganz zu schweigen. Wie die SED durch 'Ausbürgerung' (1976) ideologisch borniert auf eine literarische Bereicherung verzichten konnte, die dann der BRD unverdient zuteil wurde, bewies der 'Fall W. Biermann'. Die aggressiven, unverdrossen an der Utopie von diesseitiger Gerechtigkeit festhaltenden Texte dieses 'Liedermachers' waren und bleiben ein Stachel im Leib jeder selbstzufriedenen deutschen Gesellschaft.

8.

'Tod der Literatur' und ihre Wiederauferstehung nach 1968

Eine scharfe Zäsur westdeutscher Literaturentwicklung, die anders als der Mauerbau in der D D R von 1961 sogar für einen zeitweiligen Stillstand sorgte, bedeutete die Parole 'Tod der Literatur' im Gefolge der Studentenrevolte von 1968 und ihres kulturrevolutionären Programms nach maoistischem Vorbild. Alles, so auch die Künste, hatte nach Meinung ihrer Wortführer nur noch eine Daseinsberechtigung, wenn es unmittelbar der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft und der Emanzipation unterdrückter Völker diente. Auf dieses letztlich vulgärmarxistische Konzept ließen sich auch namhafte Autoren wie H. M. Enzensberger ein, die allerdings — nachdem die Phalanx der intellektuellen Revolutionäre wieder in zahllose politische Sekten zerfallen oder vom Reformkurs der sozialliberalen Politik (ab 1969) absorbiert worden war — zu literarischer Produktion zu-

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rückfanden, während viele noch unerprobte Talente dauerhaft auf der Strecke blieben. Auch der kommerzielle Literaturbetrieb blieb für einige Jahre verunsichert. Theoretische Schriften, vorwiegend soziologischen, sozialpsychologischen und psychoanalytischen Inhalts, füllten die Verlagsprogramme. So unverdaulich die Sprache vieler dieser Texte auch war, so sehr muß doch die unzweifelhafte Bedeutung dieser antiliterarischen Phase für das kulturelle Leben der BRD gewürdigt werden. Ihre Wirkungen müssen u. a. auf drei für die sprachliche und literarische Entwicklung wichtigen Ebenen gesehen werden: zum einen in einer neuen, grundsätzlicheren Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Nationalsozialismus ('Faschismus'-Theorien), die auch zu wichtigen thematischen Anregungen für spätere literarische Werke wurde; zum anderen in einer stärkeren Hinwendung zu sozialen Randgruppen, woraus sich auch neue Antriebskräfte für die 'Literatur der Arbeitswelt' ergaben (vgl. 5.), nachhaltiger indes mächtige Schübe zur Einbeziehung umgangssprachlicher Muster und Elemente in die öffentliche und literarische Kommunikation bis hin zur Ausprägung eines 'neogrobianischen' Stils; zum dritten in einer stärkeren Aufmerksamkeit für regionale Probleme gegen sterile technokratische Vereinheitlichungstendenzen ('Regionalismus'), woraus die Dialektliteratur mächtige Impulse gewann. Auch und nicht zuletzt der Zerfall der von den Revolutionstheoretikern (insbesondere in der 'Frankfurter Schule') einheitlich gedachten Bewegung setzte weitere Kräfte frei, die die deutsche Literatur bis heute stark prägen, so vor allem in Texten einer 'neuen Innerlichkeit', in denen die individuelle Identitätssuche im Gewirr fremdbestimmter Lebensbedingungen zentral wurde. Nur vor diesem Hintergrund konnten auch so ichbesessene epische und dramatische Arbeiten wie die des Österreichers Th. Bernhard ein breiteres Interesse finden. Im weiteren Sinne gehört zur intensivierten Suche nach persönlicher Identität auch ein neuer Aufbruch der Frauenbewegung, die in zahllose Versuche mündete, eine eigene 'Frauenliteratur' zu begründen. Daß das gesteigerte Interesse an diesem Thema viele Verlage zu besonderen Vermarktungsstrategien anregte, wodurch 'Frauenliteratur' in der BRD auch zu einem Modethema wurde, darf indes nicht unterschlagen werden. Aber wie schon das 'Epochenjahr' 1945, so brachten auch die endsechziger Jahre nur be-

dingt einen totalen literarischen Umbruch. Nicht nur die zahlreichen Kehrtwenden einzelner Autoren, die nach der Reduktion ihres Schreibens auf das Kriterium vom 'richtigen Bewußtsein' die Ohnmacht der Literatur einsahen, die gesellschaftlichen Widersprüche unmittelbar aufzulösen (die Renaissance der Lyrik in den siebziger Jahren wäre ohne diese Einsicht nicht verständlich), sondern auch die kontinuierliche literarische Arbeit derer, die sich zu keinem Zeitpunkt vom AgitpropLärm beeinflussen ließen, sorgten für eine von Verlagen und Publikum willkommen geheißene 'Wiederauferstehung' der Literatur.

9.

Literarische 'Postmoderne' und die Beliebigkeit der Literaturkritik

Eine negative Folge des kulturrevolutionären Experiments und der von ihm ausgelösten Konzentration auf theoretisch abgesicherte Lösungen scheint aber die starke 'Kopflastigkeit' vieler Gegenwartstexte zu sein, die oft nur noch von literaturwissenschaftlichen Experten ganz goutiert werden kann, während ein eher 'naives' Lesevergnügen (das durchaus anspruchsvolle Texte aus anderen Literaturen nach wie vor bereiten können) oft viel zu kurz kommt. Hier fehlt der Platz, einzelne Beispiele zu nennen; fest steht allerdings, daß die deutsche Gegenwartsliteratur schon seit einiger Zeit nur noch wenig internationale Resonanz findet. Inzwischen wird die Auflösung einer am Ende der Sechziger gewünschten einheitlichen Verpflichtung auch der Literatur auf politische Programme von Literaturtheoretikern gelegentlich als Phänomen der 'Postmoderne', eines 'Anything goes' rubriziert, während die tatsächliche Vielfalt der literarischen Erscheinungen auch und nicht zum mindesten eine Folge und der Erweis literarischer Freiheit ist, die nach 1945 nur in der D D R und während der westdeutschen Kulturrevolution - in beiden Fällen auf Dauer erfolglos - beschnitten werden sollte. Aber auch nach Auflösung der traditionellen ideologischen Lager wirken die der literarischen Freiheit wenig förderlichen politischen Stereotype fort, ob sie nun gegen den 'linken' G. Grass oder gegen den 'rechten' B. Strauß ins Feld geführt werden. Allerdings haben viele neuere Texte auch kaum mehr verdient als eine politische Wertung, da sie ihrem eigenen Anspruch nach eher zum Fach 'politische Essayistik' zählen. Die neue literarische Freiheit hat indes auch die literaturkritischen Maßstäbe mehr

149. Kommunikative und ästhetische Leistungen der Sprache im modernen Buch

oder weniger beliebig gemacht. Das muß kein Nachteil sein, weil es einer demokratischen Gesellschaft gut ansteht, jedem Leser, jeder Leserin das Recht zu garantieren, sich zwischen konkurrierenden Urteilen selbst zu entscheiden. Ein in jedem Fall bedauernswertes Defizit deutscher Literaturkritik aber scheint die weitgehende Ausblendung sprach kritischer Aspekte zu sein. Zwar wird ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen Literatur des 20. Jhs. (spätestens seit dem 'Chandos-Brief' H. von Hofmannsthals von 1902) unter der Signatur einer 'Sprachkrise' gesehen; doch richtet sich der Blick dabei nur selten auf die i. e. S. sprachlichen Ergebnisse einer als grundsätzlich empfundenen Unfähigkeit, die unübersichtlich gewordene Realität im traditionellen Medium der Literatur noch angemessen zu fassen. Als rühmliche Ausnahme muß da der Wiener E. Jandl gelten, der in seinen satirischen 'Sprechgedichten' (schon in 'Laut und Luise', 1966) die Verwüstungen dieser Welt konsequent schon im sprachlichen Medium selbst, mit einer ebenfalls zerstörten Sprache zu spiegeln versucht. Die meisten anderen Autoren und Autorinnen hingegen hängen insgeheim weiterhin dem Glauben an, die Realität — ob Außen- oder Innenwelt — im tradierten Normgerüst der Sprache darstellen zu können. Welcher sprachlichen Mittel sich die Autoren dabei bedienen, kann somit nicht ganz gleichgültig sein. Allermeist wird aber die Entscheidung zwischen den gerade in diesem Jahrhundert sehr weiten Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks weder von Autoren noch Kritikern sonderlich reflektiert. Als exemplarisch für dieses Defizit mag die Unmöglichkeit gelten, in der traditionsreichsten Reihe der zahlreich gewordenen Poetikvorlesungen, der Frankfurter 'Stiftungsdozentur Poetik' (seit 1959), mehr als nur marginale Beiträge zum sprachlichen Status gegenwärtiger deutscher Literatur zu entdekken. Zwar sind die Zeiten längst vorbei, in denen sich die Poetik an Stilrezepten und festen Sprachmustern orientierte; aber es bleibt doch zu fragen, ob die faktische Spannweite sprachlichen Ausdrucks, etwa zwischen dem fast 'klassizistisch' hochsprachlich schreibenden Hermann Lenz und einer den niedersten Jargon bemühenden Elfriede Jelinek, nur als belangloser Begleitumstand unterschiedlicher persönlicher 'Befindlichkeiten' oder ideologischer Haltungen der Schreibenden zu werten ist. Der jeweiligen Verlagswerbung mag beides gleichermaßen recht sein, wenn es nur

1647

den Absatz der Bücher fördert; als Belege ästhetischer Positionen indes bedürften die sprachlichen Phänomene größerer Beachtung und sorgfältigerer Analyse. Nach begründeten Urteilen über diese Dimension gegenwärtigen Schreibens sucht man aber bei den meisten Literaturkritiken in den Medien vergebens. Erst recht darf man von Fernseh-Talkshows über Literatur wie dem 'Literarischen Quartett' (ZDF) fundierte Urteile über sprachliche Qualitäten eines Werks nicht erwarten; der vorrangige Unterhaltungswert dieser Sendung würde unter objektivierbaren Sprachanalysen zweifellos leiden. Sehr viel anders geht es leider auch in öffentlichen Jurydiskussionen zur Vergabe der zahlreich gewordenen Literaturpreise nicht zu. Selbst in seine gedruckten Urteile über literarische Neuerscheinungen streut der 'Großmeister' der aktuellen Literaturkritik, M. Reich-Ranicki, oft nur beiläufige und meist sehr pauschale Hinweise auf Sprachliches ein. Einen absoluten Tiefpunkt deutscher Literaturkritik, den das Ausland nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm, stellte 1995 die geradezu hysterische Kampagne gegen G. Grass' Roman 'Ein weites Feld' dar. Obgleich dieses Werk den anmaßenden Ansprüchen von Autor und Verlagswerbung auf ein „Jahrhundertwerk" nicht genügt, desavouierten sich viele Kritiken durch eine peinliche Mischung ästhetischer Urteile, persönlicher Ressentiments und politischer Vorurteile. Eine abstrakte Versöhnung zwischen den Antagonisten Grass und Reich-Ranicki fand dann 2000 aber doch noch statt: Im Himmel der Literaturpreise. Nach dem Nobelpreis für Grass erhielt Reich-Ranicki den HölderlinPreis. Fragt man nach den Ursachen für die geradezu notorische Vernachlässigung sprachlicher Kriterien in ästhetischen Urteilen, so wird man dafür möglicherweise schon Defizite in der Tradition deutscher Literaturkritik verantwortlich machen können. Mit Sicherheit aber ist daran auch die gegenseitige Abschottung literatur- und sprachwissenschaftlicher Forschung und Ausbildung beteiligt, die Texte ohne Sprache und Sprache ohne Texte vorstellbar macht. — 10. L i t e r a t u r Arnold, Heinz L., Literarisches Leben in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 2 1986. Briegleb, Klaus/Sigrid Weigel (Hrsg.), Gegenwartsliteratur seit 1968. München 1992.

1648

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

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Dieter

Schlosser,

Frankfurt a. M. ( Deutschland)

150. Verbraucherverhalten und Leserreaktion (am Beispiel der Lesersituation im postsowjetischen Rußland) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Einleitung Lesesituation Klassische Literatur Massenliteratur Ausländische Literatur Ausblick Literatur

1.

Einleitung

D a s vorliegende M a t e r i a l w u r d e n a c h den Ergebnissen v o n F o r s c h u n g e n v o r b e r e i t e t , die v o m S e k t o r f ü r Soziologie des Lesens u n d des Bibliothekswesens der Russischen Staatsbib l i o t h e k in d e n J a h r e n 1994—1995 d u r c h g e f ü h r t w u r d e n . D i e Schlüsse g r ü n d e n sich a u f e m p i r i s c h e I n f o r m a t i o n e n , die d u r c h folgende Forschungsmethoden gewonnen wurden: -

U m f r a g e — Interview d e r B e v ö l k e r u n g R u ß l a n d s in einer r e p r ä s e n t a t i v e n A u s w a h l (2006 B e f r a g t e ) , die g e m e i n s a m m i t dem Gesamtrussischen Z e n t r u m zur Erf o r s c h u n g d e r ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g (Vser-

ossijskij C e n t r p o Izuceniju O b s c e s t v e n nogo Mnenija/V C I O M ) durchgeführt wurde. — Befragung der Benutzer der städtischen B i b l i o t h e k e n in drei R e g i o n e n R u ß l a n d s (Gebiete — oblasti — Vologda, Kemerovo u n d V o l g o g r a d ) u n d in d e r S t a d t M o s k a u (1658 B e f r a g t e ) m i t F r a g e b o g e n , — A n a l y s e d e r Z u s a m m e n s e t z u n g d e r Lesers c h a f t v o n B i b l i o t h e k e n (1248 L e s e r f o r mulare). D a s Ziel dieser F o r s c h u n g e n b e s t a n d in d e r A n a l y s e d e r V e r ä n d e r u n g e n im Leserverhalt e n u n d im Verhältnis z u m Lesen, die in d e r a u s d e r h i s t o r i s c h e n P e r s p e k t i v e sehr k u r z e n p o s t s o w j e t i s c h e n P e r i o d e v o r sich g e g a n g e n sind. Sie bestehen n i c h t in einzelnen, w e n n a u c h auffalligen M o m e n t e n d e r I n n o v a t i o n , s o n d e r n in d e r A b l ö s u n g eines historisch ents t a n d e n e n M o d e l l s d e r K u l t u r u n d d e r Leseo r i e n t i e r u n g verschiedener k u l t u r e l l e r G r u p pen. I m h ö c h s t e n G r a d h a b e n diese V e r ä n d e rungen das Verhalten und das Bewußtsein

150. Verbraucherverhalten u. Leserreaktion (am Beisp. d. Lesersituation im postsowjet. Rußland)

der Massen der Bevölkerung betroffen, deren Abhängigkeit von dem staatlich-parteilichen System der Organisation der Kultur in der sowjetischen Periode besonders groß war. Dieses Publikum hatte nicht genügend kulturelles Kapital für die selbständige Orientierung in der Literatur und den Zugang zu alternativen Kanälen der Verbreitung inoffizieller Texte (Samizdat). Der Massenleser war gezwungen, sich mit dem Sortiment des staatlichen zensurierten Buchverlagswesens zufriedenzugeben. zu ihm wurde nur eine bestimmte 'ideologisch korrekte' Literatur und ein beschränkter Kreis von Autoren durchgelassen. Die Zensur und der ganze ideologische Apparat konstruierten für diesen Leser eine künstliche Welt der Kultur, die in besonderer Weise geordnet und begrenzt war.

2.

Lesesituation

Die Abschaffung der Zensur und die Befreiung des Lesers von der strengen ideologischen Kontrolle haben in Rußland in erster Linie zur Entstehung einer prinzipiell neuen Lesesituation geführt. Die in professionellen und in weiten gesellschaftlichen Kreisen anzutreffende Meinung von der tödlichen Krise und der Zerstörung der Buchkultur wird weder durch die Daten der Statistik noch durch die der Forschung bestätigt. Repräsentative Umfragen unter der Bevölkerung, die regelmäßig vom VCIOM durchgeführt werden, haben gezeigt, daß die Einwohner Rußlands 1994 im Vergleich mit 1990 dreimal seltener Kinos besucht haben, zweimal seltener Zeitungen lasen, fast viermal weniger Zeitschriften lasen, aber zu Büchern haben sie nach diesem Zeitraum 1,35 mal so häufig gegriffen (Ekonomiceskie 1994, 29). Das Problem besteht nicht in der Abnahme des Lesepublikums, sondern in der Veränderung seiner kulturellen Orientierungen und literarischen Prioritäten. Das ist verbunden mit der Veränderung der kulturellen Hierarchie der Gesellschaft, der Rollen und des Status der verschiedenen Gruppen, die Anspruch auf die herrschende Stellung in der Kultur erheben. Die frühere intellektuelle Elite, vor allem die humanistisch gebildete, die lange Zeit die kulturellen Orientierungspunkte vorgab und das geistige Potential der Gesellschaft bestimmte, verliert heute ihr Prestige. Zusammen mit ihr verlassen die Szene Werte und Symbole der früheren Kultur, die in ihrem

1649

Wesen eine literaturzentrierte war. Seit den Zeiten Puskins hatte die Literatur in Rußland eine führende Stellung in der Skala der geistigen Werte eingenommen, und der Schriftsteller wurde in den Rang eines Propheten und Messias erhoben. In der sowjetischen Periode gewann die Literatur noch größere Bedeutung - sie trat praktisch als einzige Trägerin von Informationen und moralischen Botschaften auf. Befragungen der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten haben gezeigt, daß das Lesen ständig die Liste der kulturellen Prioritäten anführte und ein symbolischer Wert im höchsten Maßstab war. In der Situation einer normalen Entwicklung der Informationssysteme, der verschiedenen Gesellschaftswissenschaften und gesellschaftlichen Institutionen verlieren die Literatur und das Lesen die fremden 'Stellvertreter'-Funktionen, die sie in der Sowjetzeit hatten. Das Lesen hat aufgehört, die prestigeträchtigste Beschäftigung und ein sich selbst genügender und autonomer kultureller Akt zu sein, aber indem es einen instrumenteilen Charakter erworben hat, ist es ein Teil der Kultur des Alltags geworden, dabei ein überwiegend fakultativer. In den Vordergrund sind nicht so sehr intellektuelle, sondern lebenswichtigere Beschäftigungen getreten — Fernsehen, Arbeit für einen Zuverdienst, Arbeiten auf dem privaten landwirtschaftlichen Grundstück u. a. Heute kann man das Leserverhalten antiliterarisch nennen. Ahnliche Perioden hat es in der russischen Geschichte schon gegeben. Sie sind von Forschern analysiert und beschrieben worden (Dubin/Rejtblat 1990, 13f.). Als empirische Bestätigung dieser Tendenz können Daten über die Lektüre der Klassik dienen, die ein zentrales Glied der literarischen Kultur darstellt. 3.

Klassische L i t e r a t u r

Die wichtigsten Untersuchungen der sechziger bis achtziger Jahre zeigen, daß die Klassik nie eine bedeutende Stellung in der realen Lektüre verschiedener Gruppen eingenommen hat. Eine Ausnahme bildeten die Schüler, für die sie Pflichtlektüre ist. Die Auswertung der Lesernachfrage in Bibliotheken, die von uns im Jahr 1994 vorgenommen wurde, spricht von einer markanten Verringerung des Anteils der Klassik an der Gesamtzahl der Bestellungen — von 20 Prozent im Jahr 1988 auf 6,3 Prozent. Dabei bildet die Hälfte der bestellten Bücher ebenfalls

1650

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

die Pflichtlektüre, die für Studenten und Schüler unumgänglich ist. Wenn aber in den früheren Jahren die Klassik auch nicht gelesen wurde, so wurde sie aktiv gekauft und bildete Hausbibliotheken. Der obligatorische Besitz von gesammelten Werken literarischer Autoritäten zu Hause war eine allgemein anerkannte kulturelle Norm und eine Demonstration, meistens eine unbewußte, der Akzeptanz der herrschenden kulturellen Tradition. Eine Befragung der städtischen Bevölkerung Rußlands, die im Jahr 1987 von uns gemeinsam mit dem Forschungsinstitut für Kultur [Nil kul'tury] organisiert wurde, zeigte, daß die Klassik 34,2 Prozent aller genannten Werke ausmachte, die die Befragten für ihre persönliche Bibliothek anschaffen wollten. Wegen der Unterschiede in der Auswahl und der Technik der Befragungen ist es nicht möglich, diese Daten korrekt mit den Daten unserer neuesten Forschungen zu vergleichen. Aber über die Tendenzen kann man angemessen auf Grundlage der folgenden Tatsachen urteilen: — Werke russischer und ausländischer Klassiker stellen insgesamt 4,7 Prozent der Bücher, die von Lesern der Bibliotheken im Jahr der Untersuchung und im vorhergehenden Jahr (1994-1995) gekauft wurden, — im Jahr 1994 wurden sie von 12,3 Prozent der Befragten gekauft (bzw. von 21,4 Prozent derjenigen, die in diesem Jahr überhaupt Bücher gekauft haben); — mehr als die Hälfte der Befragten, die Klassik gekauft haben, gehören zum gebildeten Teil der Bevölkerung (Hochschulbildung und nicht abgeschlossene Hochschulbildung).

4.

Massenliteratur

Auf diese Weise hat der Erwerb dieser normativ markierten Literatur aufgehört, eine Massenerscheinung zu sein, die für alle Schichten der Bevölkerung charakteristisch ist, die in der einen oder anderen Weise in die literarische Kultur einbezogen sind. Sie stellt nach wie vor ein Zeichen hoher Kultur und einen funktionell wichtigen Teil des geistigen Lebens für bestimmte Schichten der Intelligenz dar, die den früheren Symbolen und Idealen treu geblieben sind. Zur anderen Seite der beschriebenen Prozesse wurde eine nicht dagewesene Explosion des Interesses an einer Massenkultur, ihre rasante Ausbreitung. Das Leserverhalten der

breitesten Schichten der Bevölkerung ist heute seinem Wesen nach massenkommunikativ. In den Ländern mit entwickelter Zivilisation hat sich die Herausbildung und Ausbreitung dieses Typs von Kultur über Jahrzehnte erstreckt, wobei gleichzeitig Staat und Gesellschaft Formen der Steuerung dieses Prozesses entwickelten und im Fall der Notwendigkeit die Wirkungssphäre der Massenkulturproduktion begrenzten. Im postsowjetischen Rußland hat die Massenkultur einen bedeutenden Teil des kulturellen Raumes in etwa 5—7 Jahren eingenommen. Es ist wesentlich, daß der hauptsächliche Teil der Bevölkerung sich diesen für sie wenig bekannten Typ einer Kultur in einer Situation aneignet, in der die früheren kulturellen Orientierungspunkte zerstört sind und ein Mechanismus fehlt, der für die Gesellschaft unerwünschte Erscheinungen blockiert. Man kann nicht sagen, daß es in der Sowjetunion nicht eine eigene Massenkultur gegeben habe. Das war aber gewissermaßen eine besondere Variante von ihr, die ihre unwiederholbare Spezifik hatte. Ihr Ziel war nicht die Zerstreuung und psychische Entspannung, sondern „Gehirnwäsche" mit dem Ziel, die kommunistische Ideologie im öffentlichen Bewußtsein zu verankern. Wenn man von der Literatur spricht, so war sie eine stark politisierte Belletristik, die mit den ideologischen Symbolen 'die eigenen - die Fremden', 'Freunde - Feinde' usw. operierte. Gerade damit wurde gegen die Formel der Massenkultur verstoßen. In diesem Sinn war die sogenannte 'sowjetische Massenliteratur' keine Massenkultur im genauen Sinn des Wortes, sie war nur eine schlechte Belletristik, die in enormen Auflagen herausgebracht wurde. Eine Reihe klassischer Genres der Massenkultur fehlten völlig: der Frauenroman, Comics, Filmromane, Bücher des Typs von Indianer· oder Wildwestromanen u. a. Die Herausgabe von Krimis, Phantastik und Abenteuerliteratur war streng eingeschränkt. Diese Bücher konnte man nur auf dem Schwarzmarkt kaufen, wo der Preis für sie ungefähr einem statistischen mittleren Monatseinkommen entsprach. Die ausländische Massenkulturproduktion, sogar ihre klassischen Vorbilder, wurde nicht verbreitet - das wurde als „Propaganda der bourgeoisen Ideologie und des kapitalistischen Lebensmodells" abgewertet. Es ist nicht verwunderlich, daß im postsowjetischen Rußland eine echte Expansion der Massenkultur begann.

150. Verbraucherverhalten u. Leserreaktion (am Beisp. d. Lesersituation im postsowjet. Rußland)

Eine vergleichende Analyse des verlegerischen Repertoires vom Vorabend der Perestrojka (1984) und der gegenwärtigen Periode bezeugt, daß diese Literatur, die in der sowjetischen Periode fast nicht herausgegeben wurde oder totale Mangelware war, in den Vordergrund getreten ist: Krimis, sentimentale Liebesromane, Phantastik — eine Zunahme der Zahl der veröffentlichten Titel um das 15—25fache, historische Romane — um das 2,5fache. Die grundlegenden Massengenres führen sowohl bei der Nachfrage in Bibliotheken, wie im Verkauf. Sie stellen den größten Teil der genannten Bücher und Themen:

Krimis

1651

ereignet - an erster Stelle tritt immer selbstbewußter eine 'weibliche' Nachfrage hervor, die Krimis, Phantastik und andere traditionell „männliche" Typen der Lektüre verdrängt. Zwei Umstände im Prozeß der Verbreitung einer Massenliteraturproduktion verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens halten es die Leser nicht mehr für nötig, ihre Treue zu der 'hohen' Literatur zu demonstrieren, sie sprechen ohne Zögern darüber, daß sie 'leichte' Bücher brauchen, 'zur Erholung und Zerstreuung'. In diesem Sinn ist es gerechtfertigt, von der zustandegekommenen Selbstidentifikation der Massenkultur zu sprechen (Jakimov 1995).

Prozent von der Gesamtzahl der in einer Bibliothek bestellten Bücher, nach Themen

Prozent von der Gesamtzahl der Leser von Bibliotheken, die konkrete Nachfragen hatten

Prozent von der Gesamtzahl der Befragten, die im Jahr 1994 Bücher gekauft haben

20

17,2

53,3

Phantastik

8,8

9,3

31,9

sentimentale Liebesromane

8,9

8,7

36,8

Abenteuerromane

6,9

8,1

keine Informationen

Historische Romane

4,2

4,4

35,9

Eine Befragung von Straßenverkäufern von Büchern, den sogenannten „lotocniki", die vom Jugendinstitut [Institut molodezi] im Frühjahr 1994 in Moskau durchgeführt wurde, hat diese Tendenz bestätigt und die wesentlichen Käufergruppen aufgezeigt. Das sind vor allem Männer bis 40 Jahre, die sich für Phantastik und Krimis interessieren. Dann kommen Frauen von 35—40 Jahren, die Liebesromane, Kinderliteratur, Klassik, Bücher über Haushaltsführung, Volksmedizin und Lehrbücher für Fremdsprachen kaufen. Die folgende Kategorie sind die Kinder reicher Eltern und 'neuer Russen', die Krimis und Phantastik bevorzugen. Und schließlich die 'bomzi' [bez opredelennogo mesta zitel'sva = ohne festen Wohnsitz], die Obdachlosen. Sie zieht die philosophische Literatur und die Klassik an, die sie nicht in der Lage sind zu kaufen und die sie vorziehen zu stehlen (Komozin 1994, 149). In den letzten zwei Jahren, die seit diesen Umfragen vergangen sind, hat sich eine gewisse Verschiebung der Prioritäten der Leser

Zweitens, wenn sich früher das 'leichte' Buch im Wesentlichen unter dem wenig gebildeten Teil der Bevölkerung bewegte und verhältnismäßig selten in den intellektuellen Schichten angetroffen wurde, so ist es heute in den Kreis der Lektüre praktisch aller sozialer Gruppen vorgedrungen. Das Bildungsniveau hat eine differenzierende Bedeutung in Bezug auf die einzelnen Genres (zum Beispiel sind unter den Lesern von Bibliotheken, die historische Romane ausleihen wollten, 5,8 Prozent mit unvollständiger mittlerer Bildung und 41 Prozent mit Hochschulbildung). Aber es hat praktisch keinen Einfluß auf das Interesse an diesem Typ von Literatur im Ganzen. So bezeugen die massenkulturellen Orientierungen der Leser einerseits die Verstärkung der gesellschaftlichen Position der weniger gebildeten und eher traditionellen Schichten, andererseits die neue Funktion der Massenkultur. In der im Werden begriffenen Gesellschaft, in der sich Status und Rollen der verschiedenen Gruppen ändern, spielt sie nicht

1652

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

nur eine entspannende, sondern auch eine stabilisierende Rolle. Gerade hier spielt sich jetzt die Suche nach universalen Symbolen und Werten ab. Gerade sie gibt den Code des normalen alltäglichen Verhaltens vor, hält die Tradition und die Elemente der allgemeinen Zivilisiertheit aufrecht (Dubin/Zorkaja 1994, 24). Die Forschungen zeugen auch von einer Reihe anderer Veränderungen in den Orientierungen und dem Verhalten der Leser. So hat sich in der Situation einer Krise der gesamtnationalen Werte die Bedeutung der höchstpersönlichen Lebensbereiche — Haus und Familie — erhöht. Ein wesentlicher Teil der Befragten erklärt heute seine Anhängerschaft zu eben diesen Idealen, was sich auch im erhöhten Interesse an der entsprechenden Literatur ausdrückt. In der Bibliothek ist die Nachfrage nach ihr nicht groß (um 2 Prozent der Gesamtzahl der genannten Bücher und Themen), weil die Leser Veröffentlichungen dieser Art zu ihrer persölichen Lebenssphäre zählen und es vorziehen, sie zu Hause zu haben. Darum hat die Literatur über Haushaltsführung, Küche und Haustiere in der Zahl der Prioritäten beim Kauf mit den Genres der Massenliteratur gleichgezogen — sie wurde von 32,7 Prozent der Befragten unter

Im ersten Fall ist das religiöse und quasireligiöse Literatur, Arbeiten russischer und antiker Philosophen, Bücher über östliche Religionen, über Parapsychologie, Okkultismus usw., die davon zeugen, daß die Suche nach neuen weltanschaulichen Prinzipien heute vor allem in Gebieten vor sich geht, die dem Marxismus ideell entgegengesetzt sind. Im zweiten Fall sind das Veröffentlichungen als Hilfe für beginnende Unternehmer, über das Geschäftsleben, Management, Finanzen, Recht, Nachschlagewerke und Wörterbücher, Lehrwerke für Fremdsprachen, Bücher über die Möglichkeiten, im Leben Erfolg zu erzielen. Wir fügen dazu noch hinzu ein für das russische Publikum neues Interesse an Literatur über Ökologie, Literatur des russischen Auslandes, Bücher über Sex und Erotik u. a. In der Nachfrage in Bibliotheken sind diese innovativen Momente schwach ausgedrückt — in den Grenzen von ungefähr 2—3 Prozent der Gesamtzahl der von den Lesern nachgefragten Bücher und Themen. Sie erscheinen vor allem in der Sphäre des Kaufs. Veröffentlichungen dieser Art gehören zu den teuersten auf dem Buchmarkt, und ihre Käufer bilden der Größe nach wichtige und nach sozialdemographischen Kennzeichen unterschiedliche Gruppen: Prozent von der Gesamtzahl der Befragten, die im Jahr 1994 Bücher gekauft haben

Enzyklopädien, Nachschlagewerke

14,8 Prozent

Religiöse Literatur

12,6 Prozent

Lehrwerke zum Erlernen von Fremdsprachen, Wörterbücher

9,4 Prozent

Bücher über das Ubernatürliche, Parapsychologie, Okkultismus

8,7 Prozent

Literatur über Management, Finanzen, Hilfe für Unternehmer

4,1 Prozent

denjenigen, die im Jahr 1994 überhaupt Bücher kauften, gekauft. Eine Besonderheit der heutigen Lesesituation ist das Aufkommen neuer Felder und Probleme, die in der sowjetischen Buchproduktion und dementsprechend in der Massenlektüre nicht vertreten waren. Hier treten vor allem zwei wichtige Blöcke hervor, die von uns hier mit Vorbehalt als 'weltanschauliche' und 'funktionale' Literatur bezeichnet werden.

Dasselbe läßt sich für wissenschaftliche und spezielle Literatur sagen — die Massenbibliothek ist keine irgendwie bedeutende Quelle, um sie zu erhalten, im Unterschied zu den Kaufziffern (9,2 Prozent und 16,7 Prozent der Befragten). Somit zeugt die durchgeführte Analyse von einigen prinzipiell wichtigen Umständen. Der erste besteht in der Tatsache des Erscheinens kultureller Innovationen in der Orientierung der Leser an sich. Der zweite in

150. Verbraucherverhalten u. Leserreaktion (am Beisp. d. Lesersituation im postsowjet. Rußland)

der Verstärkung der funktionellen Rolle des Lesens. Der dritte darin, daß gleichzeitig mit der Konzentration des Interesses der Leser um bestimmte, zum Beispiel massenkulturelle Produktion, ihre Entmassung vor sich geht, was von der Differenzierung des Lesepublikums zeugt. Die russische Gesellschaft wird sich ihrer selbst immer stärker nicht als sozialpolitischer Monolith bewußt, sondern als Gesamtheit verschiedener Gruppen, Werte und Kulturen. Noch ein Problem, das ich berühren möchte — das Verhältnis von 'Eigenem' (Inländischem) und 'Fremdem' (Ausländischem) in der Lektüre der Massenschichten der Bevölkerung. Die sowjetischen Kulturbehörden teilten die Literatur streng in 'unsere' und 'nicht unsere'. 'Unsere' war nicht einfach nur inländische, sondern auch dem sowjetischen ideologischen Standard entsprechende. 'Nicht unsere' — vor allem ausländische - war zeitgenössische, die nicht dem vorgegebenen ästhetischen Kanon entsprach oder ein 'fremdes' Modell des Lebens, Werte und Normen einer 'fremden' Gesellschaft wiederspiegelte und deshalb nicht herausgegeben und verbreitet wurde.

5.

Ausländische Literatur

Die entstandene Struktur des literarischen Repertoires, deren Grundlage 'unsere' inländische Literatur darstellte, blieb über Jahrzehnte unverändert. Die Literatur der wichtigsten Länder der Welt macht einen unbedeutenden kleinen Teil der gesamten staatlichen Buchproduktion aus (Pecat 1976, 62f.): Anzahl ausländischer Bücher und Broschüren, die ins Russische übersetzt wurden (in Prozent der Gesamtzahl veröffentlichter Bücher und Broschüren): Jahr

1975

1980

1985

4

2,3

2,4

Wir bemerken, daß ein großer Teil dieser Nennungen von den Werken eines ziemlich engen Kreises von Schriftstellern gestellt wurde (H. de Balzac, E. Zola, Th. Dreiser, J. Galsworthy). Der am häufigsten in der Sowjetunion verlegte ausländische Schriftsteller war Jack London. Es ist natürlich, daß in der Lektüre der Massenkategorien der Bevölkerung die Werke zeit-

1653

genössischer sowjetischer Autoren überwogen (Stelmakh 1973,78). Befragungen der Bevölkerung in den siebziger und achtziger Jahren haben gezeigt, daß das von der Staatsmacht aufgedrängte ideologisierte Verhältnis zur ausländischen Literatur (vor allem der Massenliteratur) als „Lügenpropaganda einer feindlichen Ideologie und der bourgeoisen Lebensweise" vom Bewußtsein der Massenleser angeeignet wurde. Die unten angeführten Äußerungen von Befragten, entnommen aus Antwortblättern dieser Jahre, sind charakteristisch genug: „Wozu brauche ich ausländische? Ich lebe im Sowjetland. Die Vorstellungen der ausländischen Schriftsteller vom Leben sind uns fremd!"; „Ausländische lese ich wenig, ich mag nicht diese ganzen nichtrussischen Bezeichnungen. Da kommen Wörter vor, die man nicht versteht. Und ihre Namen sind auch schwierig — 5 Minuten für einen Namen. Damit stopft man sich nur den Kopf voll"; „Die ausländischen Schriftsteller schreiben von der kapitalistischen Lebensweise. Was kann der Kapitalismus lehren? Aber jedes Buch von uns lehrt irgend etwas" (Stelmakh 1973, 79). Auf diese Weise hatten nicht nur auf der Ebene der offiziellen Ideologie, sondern auch auf der Ebene der Vorstellungen der Leser und ihrer Einstellungen die konservativsten der nationalen Ideen gesiegt — der Hegemonismus in der Kultur, die eigene kulturelle Exklusivität und Überlegenheit. Heute hat sich vor dem Leser sozusagen die Tür des ideellen Käfigs geöffnet. Die Herausgabe von übersetzter Literatur war in den Jahren 1994—1995 im Vergleich mit dem Jahr 1985 auf mehr als das zweifache gestiegen. Den grundlegenden Komplex davon stellen Ubersetzungen aus dem Englischen dar. Das ist vor allem amerikanische und zum Teil englische Buchproduktion. Die Untersuchung „Lesen in den Bibliotheken Rußlands", die von der Russischen Nationalbibliothek [Rossisjskaja Nacional'naja biblioteka] im Jahr 1994 durchgeführt wurde, hat gezeigt, daß erstmals die Zahl der Ausleihen ausländischer übersetzter Literatur höher war als die der inländischen — um das l,5fache. Dabei ist das Interesse an den ausländischen Schriftstellern des 19. bis Anfang des 20. Jhs. verlorengegangen. Aus der Lektüre verschwanden J. Galsworthy, Th. Dreiser, H. Boll, W. Faulkner, H. Balzac und A. Stendhal. Die überwältigende Mehrheit der nach-

1654

XXXVI. Mediengegenwart II: Buch und Broschüre II: Kommunikative und ästhetische Analysen

gefragten Bücher sind ausländische „Damenliteratur", Krimis und Phantastik (D. Du Maurier, J. Susann, M. Puzo, S. Sheldon) (Murav'eva/Libova). Der Prozeß des schnellen „Einströmens von Texten von außerhalb" (ein Ausdruck von Ju. Lotman) wird von den russischen politischen und kulturellen Eliten verschieden interpretiert. Im Kontinuum der Meinungen gibt es zwei entgegengesetzte Standpunkte. Die Vertreter von Gruppen, die auf die Erhaltung und Erneuerung sowjetischer ideologischer Standards ausgerichtet sind, sprechen von der „Expansion der USA im Kulturbereich", von der „bewußten Politik der Verwestlichung, die von den russischen Machthabern im Zug einer antisozialistischen Konterrevolution durchgeführt wird", vom „Aufdrängen von kulturellen Stereotypen ins Bewußtsein der Nation, das weitreichende Folgen hat". Ihre Opponenten beeilen sich, vom entstandenden Dialog der Kulturen, der Zerstörung der kulturellen Barrieren und nationalen Vorurteile und von der organischen Vereinigung des Eigenen und Fremden zu reden. Dabei meinte Ju. Lotman, „das Wichtigste ist, zu verstehen, wann das „Einströmen" (von Texten — V. S.) nur eine verwirklichte Möglichkeit ist, und wann es lebensnotwendig wird, weil andernfalls die schöpferische, bewußte Entwicklung der eigenen Kultur erschwert, wenn nicht unterbrochen wird" (Lotman 1992, 384f.). In diesem Sinn befinden wir uns erst am Beginn eines Dialogs der Kulturen, in den ersten Stadien eines Prozesses des gegenseitigen Kennenlernens und des Einfügens in eine gemeinsame kulturelle Welt. Natürlich erinnert das heutige Bild des Repertoires an Büchern in der Lektüre mit seinem ungestümen Kaleidoskop von Autoren, Genres und Richtungen äußerlich an das verwirklichte Ideal eines offenen Kulturraums ohne Hierarchien und Barrieren. Aber das ist nur der Anschein eines kulturellen Dialogs. Den wesentlichen Teil der herausgegebenen und nachgefragten Literatur stellt die massenkulturelle Produktion dar. Diese formelhafte Literatur ist anational, sie ist nicht „besonders" oder „ungewöhnlich" und trägt nicht die Werte dieser oder einer anderen Kultur, sondern universale Images und Stereotypen der zivilisierten Gesellschaft. Gerade dadurch trägt sie unbedingt zur Schaffung eines gemeinsamen Feldes von Werten und Sinn vorstell ungen bei, was für die Ent-

wicklung des Modernisierungsprozesses in Rußland unumgänglich ist. Aber eine echte kulturelle Synthese ist nicht möglich, solange wir eine in Teile zerrissene Gesellschaft mit antagonistischen Interessen und Prioritäten der einzelnen Gruppen haben, die außerdem vielen sowjetischen Stereotypen und Vorurteilen die Treue halten. Während sich das Verlagswesen und das Leserverhalten auf das 'Fremde', ausländische und deshalb besonders anziehende, so wie auch die Verbreitung in Rußland bisher unbekannter Formen der Freizeitgestaltung (Kasino, Diskotheken, Nachtklubs mit obligatorischen englischen Namen usw.) orientieren, bleibt auf der Ebene des Bewußtseins die Überzeugung von der eigenen kulturellen Überlegenheit erhalten.

6.

Ausblick

Im Zug der von uns derzeit durchgeführten und noch nicht abgeschlossenen Untersuchung (die Umfrage wird in Bibliotheken in Moskau und nahegelegenen größeren Städten durchgeführt) werden die Befragten gebeten, auf die Frage zu antworten: „Es gibt die Ansicht, daß Rußland das am meisten lesende Land der Welt sei. Was denken Sie hierüber?" (eine methodische Vorgehensweise, die vom VCIOM im Projekt „Der Sowjetmensch" angewandt wurde). Die russischen Forscher verstehen, daß diese Frage eines der wesentlichen Postulate der sowjetischen Periode enthält, das lange Jahre keinem Zweifel unterlag und fest im Bewußtsein der Massen verankert war. Die überwältigende Mehrheit — 44,5 Prozent der Befragten — antwortet überzeugt: „Ja! Stimme vollkommen zu". 30,4 Prozent antworteten: „Ich weiß nicht ,ich habe darüber nicht nachgedacht". 10,9 Prozent stimmten dieser Behauptung nicht zu, aber dabei drücken sie im Wesentlichen keinen Zweifel an der früheren Rolle Rußlands als „führendem Leseland" der Welt aus: „Zweifellos war es das, aber heute ist es ganz anders", „In der gegenwärtigen Zeit kaum ..." Nicht so „streng" reagierten die Befragten auf die Frage: „Es gibt die Meinung, daß die russische Literatur die größte in der Welt sei. Was denken Sie hierüber?" Hieran zweifeln nicht („stimmen vollkommen zu") 45,7 Prozent der Befragten, aber fast ebensoviele — 43,2 Prozent — meinen, daß man nicht vergleichen könne, denn „jedes Volk hat seine große Literatur".

150. Verbraucherverhalten u. Leserreaktion (am Beisp. d. Lesersituation im postsowjet. Rußland)

Die Befragung einer Kontrollgruppe — Studenten — ergab wesentlich andere Resultate: vollkommen stimmen 32,4 Prozent damit überein, daß Rußland das am meisten lesende Land der Welt sei, nicht einverstanden sind 27,9 Prozent, 34,2 Prozent denken nicht darüber nach. Diese und ähnliche empirische Fakten zeugen davon, daß eine „fundamentale Transformation des gesellschaftlichen Bewußtseins" nicht vor sich gegangen ist, daß „wir keinen „neuen" Menschen sehen, der von seinen sowjetischen Wurzeln und Beschränkungen frei wäre" (Levada 1995, 14). Gleichzeitig gibt es bei den Gruppen der Jugend der neuen Generation schon nicht mehr einen so klar ausgedrückten Antagonismus und Gegenüberstellung des 'Eigenen' und des 'Fremden', des inländischen und der übrigen Welt. Eine schrittweise Verwaschung der Grenzen des kulturellen Isolationismus ist im Gang. Wir erinnern daran, daß die Rede ist vom Zustand des Massenbewußtseins in einer Gesellschaft, die keine demokratischen Traditionen hat und die sich vor kurzem von einer äußerst grausamen Zensur und totalen staatlichen Kontrolle im Buchwesen befreit hat. Eine weitere Wechselwirkung der Kulturen wird erst in dem Maß möglich sein, wie sich die Wertorientierungen und die symbolischen Orientierungen der russischen Gesellschaft verändern.

7.

1655

Literatur

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Valeria D. Stelmakh, Moskau

(Rußland)

XXXVII. Mediengegenwart III: Buch und Broschüre III: Zukünftige Entwicklungen 151. Zukunftsperspektiven des Buches 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitung Neue Formen der Textspeicherung Der Einfluß des Fernsehens Die soziale Komponente Zusammenfassung Literatur

1.

Einleitung

In einer Zeit weltweit wachsender Buchproduktion scheint die These vom Ende des Buchzeitalters auf den ersten Blick wie ein Paradoxon. Doch ist nicht zu übersehen, daß die Zweifel an der Funktion des Buches als Informations- und Kulturträger seit den sechziger Jahren ständig gewachsen sind und die Diskussion über seine Zukunft an Heftigkeit zugenommen hat. Dabei speist sich diese Diskussion aus Argumenten, die drei Bereichen entstammen und die sich erst in der späteren Entwicklung vereinigt oder überschnitten haben. Der erste dieser Ansätze hat einen ökonomischen Ausgangspunkt, der zweite geht von technischen Überlegungen aus, der dritte beruht auf soziologischen und anthropologischen Überlegungen. In allen drei Diskussionssträngen finden sich unterschiedliche Bewertungen der prognostizierten Entwicklung. Die These vom Ende des Buchzeitalters erfährt in gleicher Weise eine positive wie negative Beurteilung. Neben einem Bedauern über die sinkende Bedeutung des Buches für den kulturellen Status gibt es auch Stimmen, die diese Entwicklung ausdrücklich begrüßen, wobei es auch Diskussionsteilnehmer gibt, die im Laufe ihrer Argumentation ihre Bewertung grundlegend geändert haben, etwa der Medienkritiker Ivan Illich, der sich zwischen 1971 und 1988 von einem fortschrittsgläubigen Buchkritiker zu einem Beklager des Untergangs des Buches wandelte, ohne dabei jedoch seine Überzeugung über die mangelnde Zukunft des Buches zu ändern.

Die Diskussion um die Zukunft des Buches kann jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Sie steht in einem doppelten Zusammenhang. Zum einen ist sie Teil einer grundsätzlicheren Fragestellung nach der Zukunft der Schrift als einer fundamentalen Grundlage des Buches. Dadurch greift die Fragestellung über den Informationsträger hinaus und erreicht die Ebene des kommunikativen Verhaltens der Menschen. Diese Problematik schließt jedoch auch andere Formen der schriftlichen Äußerung ein bis hin zur aktuellen Nachricht. Damit erreicht die Diskussion die Dimension des Gegensatzes von Literalität und Oralität. Doch wirkt auf die Überlegungen zur Zukunft des Buches auch eine Entwicklung ein, die zu einem eingeschränkten Verständnis der traditionellen Funktion des Buches führt. Vor allem jene Ansätze, die ihren Ausgangspunkt bei einer Informationstheorie nehmen, verstehen jede Form der schriftlichen Darstellung als einen Informationsprozess, der sich an dem Sender-Empfänger-Modell orientiert. Das jedoch reduziert die soziale Funktion des Buches deutlich. Eine Prognose, die man aus der Entwicklung im Bereich der Informationsvermittlung ableitet, wird auf das Buch übertragen, ohne daß dabei hinreichend geprüft wird, wie weit sich aus der nachrichtentechnischen Struktur Rückschlüsse auf die Zukunft des Buches ziehen lassen. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß die Frage nach der Zukunft des Buches auch eine Dimension aufweist, die weder die schriftliche Grundlage noch die informationstheoretische Komponente betrifft, sondern sich einfach auf die physische Form bezieht. Unter Beibehalten aller intellektueller und sozialer Komponenten kann das Buch dennoch seine Bedeutung verlieren und durch eine andere Speicherform ersetzt werden. Diese Entwicklung hat unverkennbar bereits eingesetzt. In zunehmendem Maße werden Texte nicht

151. Zukunftsperspektiven des Buches

mehr in gedruckter Form, sondern als elektronische Aufzeichnung (CD-ROM) oder in elektronischer Speicherung (On-line-Texte) verbreitet. Der hier entstehende Antagonismus lautet: Buch versus Computer, wobei der Terminus 'Buch' eine engere Bedeutung erhält als etwa in der Diskussion um die Ablösung der Literalität durch eine neue Oralität. In diesem Fall bleibt nämlich, trotz aller Änderung der physischen Form, der in einer Schriftaufzeichnung präsentierte Text erhalten.

2.

Neue Formen der Textspeicherung

Der heute bereits am konkretesten greifbare Wandel der Informationsstruktur betrifft die Ablösung der vertrauten physischen Form des Buches durch eine elektronische Speicherung. Neben dem traditionellen Buch bieten die Verleger in wachsendem Maße ihre Produkte auch — oder sogar ausschließlich — in elektronisch gespeicherter Form, in der Regel auf CD-ROM - an. Insgesamt ist der Anteil dieser Neuerscheinungen gemessen an der Gesamtmenge der Verlagsproduktion zwar noch gering, doch ist die Tendenz deutlich steigend. Diese Entwicklung hat sowohl ökonomische wie technische Ursachen. Die Erstellung einer C D ist durchweg billiger als die eines konventionellen Buches, was die verlegerische Bereitschaft, sich dieses neuen Mittels zu bedienen, deutlich beeinflußt, wenn der Verleger nur auf der Seite des Lesers eine gewisse Akzeptanz erwarten kann. Auch kann der Herstellungsprozess gegenüber dem Druck erheblich beschleunigt werden, da in zunehmendem Maße der bereits durch den Autor elektronisch erfaßte Text verwandt wird. Und auch für den Leser bietet die elektronische Speicherung Vorzüge. Vor allem bei Nachschlagewerken wird die Nutzung wesentlich vereinfacht. Schließlich bietet die CD mit der Möglichkeit, neben Text auch Ton und bewegte Bilder zu speichern, eine dem Buch verschlossene Chance, multimediale Texte wiederzugeben. Als Nachteil dieser Speicherform wird es jedoch empfunden, daß ihre Nutzung immer an die Verwendung eines Geräts gebunden ist. Damit wird die Lektüre gegenüber dem traditionellen Buch nicht unerheblich erschwert. So hat sich denn auch bisher die Speicherung auf C D auf einen engen Bereich wissenschaftlicher und praktisch-technischer Literatur beschränkt, ζ. B. auf Bibliographien,

1657 Nachschlagewerke oder umfangreiche Textkorpora, — in der Regel neben der gedruckten Ausgabe - und auf die wenigen bereits veröffentlichten multimedialen Publikationen. Aus diesem Ansatz läßt sich eine Prognose über das Ende des Buchzeitalters noch keineswegs ableiten. Zu allen Zeiten hat es Formen der Informationsverbreitung gegeben, die neben das traditionelle Buch traten, als letztes der Film, ohne daß damit eine Verdrängung der älteren Form eintrat. Nun beschränkt sich jedoch die Tendenz auf eine Überführung der Texte auf elektronisch lesbare Speichermedien keineswegs auf die CD-ROM. Bereits seit dem Anfang der sechziger Jahre gibt es Überlegungen, Texte nicht in physischer Form zu verbreiten, sondern in elektronischen Datenbanken zu speichern, aus denen sie individuell on-line abgerufen werden können. Diese Technik fand ihre erste Anwendung in der Literaturinformation der Naturwissenschaften und der Medizin. Der 'Index Medicus' und die 'Chemical Abstracts' sind die typischen — wenn auch keineswegs die einzigen — Vorbilder für diese Entwicklung. Gerade auf dem Gebiet der Referateblätter wird der Vorteil der elektronischen Speicherung deutlich: Schnellere Verfügbarkeit, umfassendere Recherchemöglichkeiten, unbegrenzte Kumulierung der Datenbestände. Inzwischen hat sich im bibliographischen Bereich diese Form der Speicherung allgemein durchgesetzt — zumindest gleichberechtigt neben dem traditionellen Buch, häufig jedoch dieses ersetzend. Auch in den Naturwissenschaften ist die elektronische Textspeicherung im Vormarsch. Die großen naturwissenschaftlich-technischen Verlage haben erste Zeitschriften herausgegeben, die nur noch elektronisch gespeichert sind. Damit wird eine erhebliche Beschleunigung der Veröffentlichungen erreicht, da die aufwendigen technischen Prozesse, die mit dem Druck eines Textes verbunden sind — Satz, Korrekturlesen, Druck, Postversand — fortfallen. Auch hier kann jedoch festgestellt werden, daß insgesamt der Anteil der auf diese Weise gespeicherten Texte die Erstellung konventioneller Bücher nicht wesentlich beeinflußt. Doch ist nicht zu übersehen, daß aus den ersten Erfahrungen mit elektronisch gespeicherten Texten weitergehende Überlegungen angestellt werden. Gerade der Zeitgewinn solchen Textes hat schließlich zu Plänen geführt, auch bisher in traditioneller Form ver-

1658

XXXVII. Mediengegenwart III: Buch und Broschüre III: Zukünftige Entwicklungen

öffentlichte Literatur zu digitalisieren und in elektronische Datenbanken einzuspeisen. Es sind vor allem die Bibliotheken, die eine derartige Umwandlung ihrer Buchbestände ins Auge fassen, um damit die Nutzung der von ihr gespeicherten Literatur zu erleichtern. Die hier bestehenden Pläne besitzen gigantische Ausmaße und beeinflussen die zukünftige Medienentwicklung nachhaltig. Seit 1994 haben diese Überlegungen die politische Ebene erreicht. Die Konferenz der sieben großen Industrienationen (G7) hat am 26. 2. 1995 in Brüssel — nach entsprechenden Vorüberlegungen und der Auswertung von ersten Erfahrungen vor allem in den USA — ein Programm für eine 'Bibliotheca Universalis' beschlossen, das die wesentlichen Werke des wissenschaftlichen und kulturellen Erbes eines jeden Landes digitalisieren und in eine allgemein zugänglichen Datenbank einspeichern soll. Die Bundesrepublik Deutschland ist dieser Initiative 1996 mit dem Aktionsplan 'Info 2000' gefolgt. Diese Initiative verfolgt im Bereich der schriftlichen Information drei Ziele. Zum einen soll der Zugang zu den Beständen der Bibliotheken erleichtert werden. Die Nutzung der elektronisch gespeicherten Texte kann grundsätzlich für jeden von seinem Schreibtisch aus erfolgen - die entsprechende technische Installation voraussetzt —, ohne jede Verzögerung der Bereitstellung des Buches durch die Bibliothek. Zum zweiten wollen die Bibliotheken das Problem der Konservierung der Bücher, die durch einen latenten Papierzerfall bedroht sind, lösen. Schließlich erwartet man langfristig auch eine Reduzierung der Betriebskosten der Bibliotheken, obwohl die Digitalisierung der Texte erhebliche Anfangskosten verursacht. Auf die Zukunft des Buches werden auch diese Aktivitäten jedoch nur einen begrenzten Einfluß nehmen, da das konventionelle Buch neben der elektronischen Speicherung erhalten bleibt, und vor allem, weil kaum zu erwarten sein wird, daß die Gesamtheit der Literatur jemals in dieser Speicherform angeboten wird. Im Grunde beziehen sich alle hier diskutierten Formen der elektronischen Speicherung auf die wissenschaftliche oder berufliche Nutzung von Texten, die nur einen kleinen Teil der Gesamtliteratur ausmacht. Der große Bereich derjenigen Literatur, der der reinen Unterhaltung dient, bleibt in diesen Überlegungen dagegen weitgehend ausgeschlossen.

Dennoch kann nicht übersehen werden, daß in die elektronische Speicherung zwei Elemente eingeschlossen sind, die die Tendenz zu einer generellen Ablösung des traditionellen Buches in sich tragen. Zum einen löst sich die Publikation des Textes von der traditionellen Form der Veröffentlichung durch einen Verleger ab. In zunehmendem Maße geben Autoren selbst ihre Texte — vor allem wenn wegen ihres hohen Spezialisierungsgrades der Leserkreis überschaubar ist — in eine elektronische Datenbank, hierbei die weltweiten Verbreitungsmöglichkeiten über entsprechende Netzwerke, wie dem Internet, nutzend. Zum anderen bietet diese elektronische Speicherung die Möglichkeit, jederzeit den einmal gespeicherten Text zu verändern, zu korrigieren oder zu ergänzen, und zwar nicht nur durch den Autor, sondern im Grundsatz durch jeden Nutzer des Textes. Damit wird jedoch der klassische Textbegriff zersetzt. Diese Möglichkeiten eines fließenden Textes haben sich inzwischen auch belletristische Autoren zunutze gemacht und Texte in Datenbanken eingegeben, die bewußt verschiedene Möglichkeiten des Textablaufs anbieten und auch Textfortsetzungen dem einzelnen Leser überlassen. Inwieweit diese noch im Experimentstadium befindlichen Veröffentlichungsformen die generelle Textstruktur beeinflussen werden, ist noch nicht abschätzbar. 3.

D e r E i n f l u ß des F e r n s e h e n s

Die Diskussion um die Zukunft des Buches wird jedoch nur bedingt von diesen neuen Formen der Textspeicherung bestimmt, die immer noch den für das Buch charakteristischen Vorgang des Lesens zur Grundlage haben. Deutlich stärker wirkt die technische Entwicklung der Nachrichtenübermittlung, wie sie sich seit der letzten Jahrhundertwende abzeichnet, auf die Prognosen über die Zukunft des Buches ein. Besonders das Entstehen und die Verbreitung des Fernsehens hat die Diskussion entscheidend belebt. Als erster bestimmte sie der kanadische Soziologe Marshall MacLuhan, der zu Beginn der sechziger Jahre die These von der 'Gutenberg Galaxis' verkündete, von einer Ablösung des Gutenberg-Zeitalters, das vom gedruckten Text bestimmt war, durch die 'Marconi Galaxis', der Welt der elektronischen Medien, die sich auf das gesprochene Wort gründet. MacLuhan sieht in diesem Wandel nicht nur einen technischen Vorgang, sondern eine

151. Zukunftsperspektiven des Buches

grundlegende Änderung im Informationsverhalten, und darüber hinaus im Sozialverhalten und im Denken des Menschen. Die Erfindung der Schrift und ihre Verbreitung — vor allem als alphabetische Schrift — in der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus habe — so führt MacLuhan aus — zur Erfindung und Entwicklung der Logik geführt, der Ubergang vom Schreiben zum Drucken im 15. Jh. zur Bildung einer informativen Öffentlichkeit, die die Grundlage für das Entstehen von Nationalstaaten und der Idee der Demokratie liefert. Diese beiden Eckpfeiler der abendländischen Kultur sieht er in den elektronischen Nachrichtenmedien abgelöst durch eine Rückkehr zu einer kommunikativen Oralität, die zugleich die alte Kralstruktur wieder belebt. Diese Thesen fanden in den folgenden Jahren zuerst einmal eine vereinfachende Zuspitzung auf den Gegenstand zwischen Lesen und Fernsehen. In der Zunahme des Fernsehkonsums sahen zahlreiche Medientheoretiker und Bildungspolitiker eine ernste Gefahrdung des Buches. Dabei gingen sie von einem einfachen Zeitvergleich aus, der die Nutzungszeiten der beiden Medien gegenüberstellt. Diese Fragestellung verlagert die Frage nach der Zukunft des Buches auf den Bereich der Unterhaltungs- und Bildungslektüre. Hier ist es also — im Unterschied zu der Diskussion um die Digitalisierung von Texten — nicht die Buchnutzung zu wissenschaftlichen oder beruflichen Zwecken, die die Argumentation bestimmt, sondern die Frage nach der Freizeitgestaltung. Dabei bildete sich bald ein Antagonismus heraus, der in der Zunahme des Fernsehkonsums eine Verdrängung des Lesens sehen wollte. Entsprechende statistische Untersuchungen zeigen, daß der Anteil des Fernsehens den der Buchlektüre in der Freizeitgestaltung der meisten Menschen weit übersteigt. Doch haben exaktere Analysen inzwischen nachgewiesen, daß dieser einfache Zahlenvergleich generelle Schlüsse über die Zukunft des Buches nicht zuläßt. Auch vor der Einführung des Fernsehens war der Leseanteil in der Freizeitgestaltung nicht wesentlich größer. Außerdem zeigen Untersuchungsergebnisse, daß Vielfernseher in zahlreichen Fällen auch Vielleser sind. Die Diskussion des Fernsehens als Buchmörder auf der einfachen Grundlage von Zeitvergleichen ist daher abgeflaut. Dennoch ist der Antagonismus zwischen diesen beiden Medien auch weiterhin in der Diskussion, jedoch auf der Grundlage einer

1659 vertieften soziologischen Analyse. Dabei greift die Argumentation auf die Überlegungen von Marshall MacLuhan zurück, der in dem Wechsel des Mediums eine fundamentale Änderung im Weltverständnis des Menschen sehen will. Für ihn führt der Übergang von der literalen Welt des Buches zur oralen der elektronischen Medien zu einem fundamentalen Wandel im intellektuellen und sozialen Verhalten der Menschen, der in seiner Konsequenz die bisherigen Formen der Kommunikation durch neue ersetzen wird und dadurch zu einem Ende des Buchzeitalters führt. So entstand in den beiden letzten Jahrzehnten eine umfangreiche Literatur, die die sozialen Auswirkungen der Mediennutzung behandelte. Es geht also nicht um eine bloße zeitliche Verdrängung des Buches durch das Fernsehen. Es wird vielmehr unterstellt, daß das Ersetzen des Lesens durch das Fernsehen zu einer grundsätzlichen Änderung des Weltverständnisses führt, die ein Ablösen des Buches als Vermittlungsmedium zur Folge hat. Diese bereits von McLuhan aufgestellte These erfährt jedoch eine negative Bewertung. Während nämlich der kanadische Medientheoretiker in seiner Prognose von einem deutlichen Fortschrittsoptimismus getragen wurde, der in der Weiterentwicklung der Technik auch einen Fortschritt der Menschheit sehen möchte, wirkt auf die neue Diskussion eine deutliche Technikfeindlichkeit ein, die im technischen Fortschritt eine Gefahr für die intellektuelle Entwicklung des Menschen, wenn nicht gar eine Quelle seines Untergangs — sowohl des einzelnen Menschen wie der gesamten Gattung - diagnostiziert. Dieser Wandel in der Grundhaltung entspringt nicht primär der Diskussion um die Zukunft des Buches, dem Gegensatz von Lesen und Fernsehen, sondern hat andere Ursachen, die wohl nur bedingt den Erfahrungen der zweiten Hälfte des 20. Jhs. entspringen, sondern auch einem endogenen Wandel von Weltvorstellungen, wie er in der Geistesgeschichte zu allen Zeiten aufweisbar ist. Die Gefahren, die dem Buch durch die elektronischen Medien drohen, werden dabei sowohl im intellektuellen wie im sozialen Bereich gesehen. Dabei wird gewöhnlich der Gegensatz von Bild und Schrift als Ausgangspunkt des Vergleichs gewählt. Hier richtet sich die Frage auf die Unterschiede in der Wahrnehmung von bildlicher und schriftlicher Information. Nun ist sicherlich nicht zu verkennen, daß die Erfassung eines Bildinhaltes unmittelbar

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XXXVII. Mediengegenwart III: Buch und Broschüre III: Zukünftige Entwicklungen

erfolgt, während die einer Schrift immer einen Entschlüsselungsprozess erfordert. Daraus leiten zahlreiche Kritiker des Fernsehens ab, daß das Ersetzen des Lesens durch das Fernsehen zu einer intellektuellen Verarmung führen müsse. Nur das Lesen garantiere die für den Menschen notwendige Geistesschulung. Daher sei es falsch, wenn zum Beispiel in der Schule der auf schriftliche Vermittlung ausgerichtete Unterricht durch Lehrprogramme ersetzt würde, die einen hohen Anteil an bildlicher Information aufweisen. Es wird zwar nicht bestritten, daß das Bild einen unmittelbaren didaktischen Effekt erzielen kann. Doch darf dies im Interesse der logischen Schulung nur eingebunden in eine im Grunde literale Vermittlung von Wissen erfolgen. Dieses Argument kehrt die Grundthese von McLuhan um, der gerade in der Ablösung des logischen Denkens und in der Rückkehr zu vorlogischen Denkformen des mythischen Bewußtseins einen großen Fortschritt sehen wollte. Hier stoßen zwei anthropologische Bilder aufeinander, die keineswegs erst in der Gegenwart — gar noch durch die Diskussion um die Zukunft des Buches — entstanden sind, sondern eine lange historische Tradition besitzen. Im Grundsatz läßt sich dieser Gegensatz auf die beiden unterschiedlichen Definitionen des Menschen als 'animal rationale' und 'animal ludens' zurückführen und damit auf den sicherlich vereinfachenden Gegensatz von Rationalität und Spontaneität bringen. In dieser Verallgemeinerung zeigt sich, daß die Diskussion um die Zukunft des Buches keineswegs eine aktuelle Fragestellung darstellt, sondern sich — in der einen oder anderen Form — in allen Jahrhunderten aufzeigen läßt. Dieses Hervorheben des bildlichen Denkens gegenüber dem begrifflichen Denken setzt voraus, daß die Erfassung von Bildern die menschliche Spontaneität fördert. Die hier unterstellte Gleichheit von mythischem Denken und bildlicher Wahrnehmung wird jedoch durch die praktische Erfahrung nur bedingt gestützt. Die Verfechter der These verweisen zwar auf das Entstehen moderner Mythen durch die optischen Medien, wie es sich am deutlichsten im Westernfilm aufweisen läßt. Doch darf nicht übersehen werden, daß es einen deutlichen Unterschied zwischen der Erzeugung derartiger Mythen und ihrer Rezeption gibt. Auch die neuen Mythen basieren in großem Maße auf literaler Tradition. Erst ihre Umsetzung erfolgt bildlichoral.

So muß die Frage der Verfechter einer Ablösung des literalen durch die pikturale Information lauten, ob die Bildaufnahme wirklich jene Eigenschaften fördert, die der Bilderzeugung zugewiesen werden. Die Skeptiker möchten nämlich in der Rezeption von Bildern gerade keine spontane Leistung sehen und erklären daher das Fernsehen als einen Vorgang, dem jede Spontaneität fehlt. Dabei berufen sie sich auch auf gehirnphysiologische Untersuchungen, die beiden Wahrnehmungsvorgängen verschiedene Gehirnzentren zuteilen. Während also das Buchlesen durch die Forderung der Entschlüsselung, die die Schrift an den Leser stellt, immer zu einer aktiven Geistesleistung zwingt, bedeutet die Rezeption von Fernsehbildern — und auch von oral vermittelten Texten — eine Passivität des Bewußtseins und damit eine Verarmung in der Inanspruchnahme der geistigen Kräfte, die schließlich zu einer geistigen Trägheit führen müsse. Dabei wird von den Kritikern des Fernsehens die von seinen Apologeten betonte Produktivkraft noch mit einem weiteren Argument bestritten. Die Verbindung von Bild und Phantasie, wie sie zum Beispiel die Theoretiker der surrealen Kunst zu Beginn des 20. Jhs. unterstellt haben, läßt sich bei einem rein rezeptiven Fernsehkonsum nicht belegen. Während dem Fernsehzuschauer durch die Flut der Bilder kein Freiraum für die Entwicklung eigener Phantasie gelassen wird, fordert der abstrakte Text in der Lektüre zur neuen Bebilderung der literalen Geschichte auf. So lautet die These der Fernsehgegner, daß das Lesen in viel stärkerem Maße als das Fernsehen die Phantasie anrege. Rationalität, Spontaneität, Phantasie; diese drei wesentlichen Eigenschaften des Menschen werden in dem Gegensatz zwischen Lesen und Fernsehen ausschließlich dem Lesen zugeordnet. Ein Ersetzen des Lesens durch das Fernsehen, ein Verzicht auf das Buch, stellt damit in dieser Sicht eine wesentliche Einschränkung des anthropologischen Bildes dar, die zum Verlust dessen führt, was die Tradition in mehr als zweitausend Jahren als das Wesen des Menschen verstanden hat. Doch bewegt sich die Diskussion um den Gegensatz von Lesen und Fernsehen nicht nur auf der Ebene der geistigen Fähigkeiten des Menschen. Sie schließt auch die sozialen Komponenten ein. Auch hier hat MacLuhan die Entwicklung der Informationsübermittlung, die zur Auflösung traditioneller sozialer Verhältnisse führt,

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151. Zukunftsperspektiven des Buches

mit großem positiven Akzent beschrieben. Auch hier kehren seine Kritiker die Bewertungen um und verleihen diesem Prozess negative Akzente. Der erste, der diesen Aspekt herausgestellt hat, war Neil Postman mit seiner These vom Amusement. Diese Argumentation beschränkt sich — wie schon diejenige von MacLuhan - nicht vordringlich auf das Fernsehen, sondern greift weiter aus und schließt alle Formen moderner Unterhaltung ein. D a ß Postman seine Diagnose mit einem negativen Akzent versieht, zeigt schon der Titel seines Werks: 'Wir amüsieren uns zu Tode'. Nun steht diese These nicht primär in der Auseinandersetzung um die Zukunft des Buches. Auch das Buch kann der Unterhaltung dienen. Insoweit trifft der Tadel der soziologischen Entwicklung auch die Literatur. Doch liegt das entscheidende Element für die Zukunftsfrage für das Buch bei diesem Ansatz nicht in der Feststellung seines Unterhaltungswertes, des Amusements schlechthin, sondern in seiner Dominanz gegenüber anderen Formen menschlicher Rezeption. Nicht also in der Tatsache, daß es Formen der Unterhaltung gibt, auch nicht, daß diese einen großen Teil der menschlichen Lebensgestaltung einnehmen, liegt der entscheidende Aspekt, sondern darin, daß sie wie eine Kralle alle anderen Formen der Weltbewältigung überzieht und bestimmt. Das gilt vor allem für die Information, den klassischen Bereich der literalen Vermittlung. In zunehmendem Maße wird die ursprünglich rationale Mitteilung mit Elementen der Unterhaltung durchsetzt, so daß aus ihr eine Mischung von Information und Amusement wird, für die inzwischen sich der Terminus 'Infotainment' eingeführt hat. Diese Form der Emotionalisierung des an sich rationalen Vorgangs der Informationsvermittlung wird sicherlich in starkem Maße im Fernsehen geboten. Doch sollte nicht übersehen werden, daß dieser Prozess keineswegs auf die elektronischen Medien begrenzt ist. Auch der Zeitungsjournalismus wird zu guten Teilen von dem gleichen Phänomen bestimmt. Das Entstehen der Boulevardpresse im 19. Jh. ist der eigentliche Anfang dieser Entwicklung. So ist es nicht richtig, in dem Zunehmen des Unterhaltungsbedürfnisses ein Indiz für den Untergang des Buches zu sehen. Sicherlich ist das Vorherrschen der reinen Unterhaltung ein Anzeichen für ein wachsendes Unterhaltungsbedürfnis. Doch darf dabei nicht übersehen werden, daß sich diese Tendenz auch auf dem Buchmarkt wiederfindet. So zeigt

die wachsende Zahl der gedruckten Kriminalromane, daß aus der steigenden Tendenz zum Amusement kein Argument über die Zukunft des Buches gezogen werden kann. Dennoch ist in einem tieferen Sinn diese Tendenz für die Zukunft des Buches von Bedeutung. Die sich hier andeutende Wandlung des sozialen Verhaltens legt die Vermutung nahe, daß das Interesse an der Buchlektüre nachläßt, selbst wenn die Lesefähigkeit generell gewährt bleiben sollte. Das Streben nach 'Amüsement' mit seiner Tendenz zum kurzfristigen Wechsel des Gegenstandes, wie er sich beim Fernsehkonsum im 'Zappen' ausdrückt, schmälert den Willen zu einer konzentrierten Buchlektüre. Die Maßnahmen zur Leseförderung, die in zahlreichen Ländern — auch in Initiativen der UNESCO - bestehen, sind Ausdruck dieser Befürchtung. Damit wird jedoch eine weitere Ebene in der Frage nach der Zukunft des Buches erreicht. Gibt es, so lautet nun die Frage, in der sozialen Entwicklung generelle Tendenzen, aus denen sich Schlüsse über die Zukunft des Buches ableiten lassen? 4.

D i e soziale K o m p o n e n t e

In zahlreichen medientheoretischen Überlegungen wird angenommen, daß ein Wandel im kommunikativen Verhalten der Menschen Auswirkungen auf das Sozialverhalten hat, wobei die Frage der Ursache und Wirkung eine unterschiedliche Antwort findet. Auch in dieser Diskussion finden sich positive wie negative Bewertungen der prognostizierten Entwicklung. So wird von mehreren Autoren in der Ablösung der Schrift durch die Rede ein sozialer Fortschritt gesehen. Das alte Argument von der sozialen Isolation durch das Lesen, des Verlustes des Realitätskontaktes fand in den letzten fünfzig Jahren zahlreiche Fürsprecher von der Diskurstheorie der Frankfurter Schule über die medientechnischen Überlegungen der Schule von Toronto bis zu den französischen Theoretikern der Postmoderne. Von ihnen wird als Faktum konstatiert, daß sich die klassischen Sozialformen auflösen und neue Gemeinschaften entstehen, die auf alte orale Strukturen zurückgreifen. So spricht etwa MacLuhan von der Rückkehr in den Kral, Jean Baudrillard von einem neu entstehenden Tribalismus. Doch wird diese Entwicklung nicht nur positiv gesehen, wie etwa die Kritik Karl Poppers zeigt, der in ihr eine Gefährdung der offenen Gesellschaft diagnostiziert.

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XXXVII. Mediengegenwart III: Buch und Broschüre III: Zukünftige Entwicklungen

Aus der These eines grundlegenden sozialen Wandels im kommunikativen Verhalten werden Schlüsse auch für die Zukunft des Buches gezogen. Der Rückgang der literalen Kommunikation zugunsten der oralen verringert die Bedeutung des Buches für die menschliche Kommunikation. In dem Maße, in dem die Unmittelbarkeit des sozialen Kontaktes als zentraler Wert verstanden wird, schwindet die Bedeutung des gespeicherten, durch indirekte Vermittlung übertragenen Textes. Das schließt zwar nicht grundsätzlich die schriftliche Vermittlung aus. Doch verliert diese ihre zeitüberbrückende Funktion, was etwa Jacques Derrida die 'Décomposition von Präsenz und Bewußtsein' genannt hat. Was ihr bleibt, ist lediglich die Komponente der Raumüberwindung. An dieser Stelle der Überlegung tritt der Computer in einer erweiterten Form in Konkurrenz zum Buch. Seine weltweite Vernetzung schafft die Voraussetzung, die orale Kommunikation von ihrer räumlichen Begrenzung abzulösen und damit schriftliche Kommunikation der mündlichen anzugleichen. Damit scheint das Buch die letzte Bastion zu verlieren: die durch die Schrift verschlüsselte Kommunikation. Diese Substitution des Buches durch den Computer reicht bis in die Pädagogik hinein. So wird von einigen Theoretikern die Ablösung des Schulunterrichts — einschließlich des Schulbuches — durch den Computer propagiert. Als einer der ersten hat Ivan Illich die Überlegenheit des Computers gegenüber dem Buch vertreten. Doch finden sich auch Gegenstimmen, die auf die Gefahren einer derartigen Ablösung hinweisen, in seinen späteren Schriften auch Illich. Dabei wird angeführt, daß der literale Kontakt über den Computer wegen des in ihm verwandten eingeschränkten Vokabulars und einer reduzierten Syntax zu einem Verfall des Sprachbewußtseins führt, wie dies etwa Barry Sanders ausgeführt hat. Diese Diskussion zeigt, daß selbst bei der Beibehaltung von schriftlicher Kommunikation die Zukunft des Buches in den Prognosen zahlreicher Autoren nicht gesichert erscheint, da an die Stelle der gedruckten Vermittlung andere Formen des literalen Kontaktes treten. Die Kritiker dieser Entwicklung sehen in ihr einen massiven Verfall der Kultur, die für sie immer literal verstanden wird. Daher sprechen sie von einem sekundären Analphabetismus, unter dem sie auch die Formen der Schriftbeherrschung subsumie-

ren, die durch die Nutzung eines Computers anfallen. Die Tatsache eines wachsenden Analphabetismus in literalen Gesellschaften ist zwar nicht zu übersehen. Doch läßt sich aus ihm sicherlich nicht die Folgerung ableiten, daß er sich auf alle sozialen Schichten ausbreiten wird. Für eine Prognose über die Zukunft des Buches reichen diese Überlegungen nicht aus. 5.

Zusammenfassung

Die zahlreichen Aspekte, die unter den verschiedenen Gesichtspunkten über die Frage nach der Zukunft des Buches angeführt werden, können nicht überzeugen. Die Hinweise auf die ökonomischen Vorzüge elektronischer Speicherung gehen von der Annahme aus, daß es eindeutig umreißbare Nutzungsformen literaler Texte gibt. Doch ist nicht zu verkennen, daß neben den hier ins Auge gefaßten Texten auch Formen der Textnutzung bestehen, die durch ihre elektronische Speicherung nicht begünstigt werden. Die Formen der Textnutzung hängen nicht ausschließlich — und wohl auch nicht einmal vordringlich — von der Ökonomie der Textspeicherung ab. Auch in den Überlegungen zur technischen Weiterentwicklung der Nachrichtenübermittlung, die in der Kontroverse zwischen Buch und Fernsehen ihre Ausprägung gefunden hat, wird verkannt, daß in der Regel eine neue Technik nicht eine bestehende ablöst, sondern allenfalls zu einer Aufteilung ihrer Nutzung führt. Die Existenz des Fernsehens allein wird die Existenz des Buches nicht bedrohen. Daß jedoch der soziale Wandel, das schwindende Interesse an der Lektüre einen Einfluß auf die Zukunft des Buches ausüben wird, scheint mehr den Befürchtungen eines konservativen oder den Illusionen eines progressiven Kulturbildes zu entspringen als einer konkreten Analyse der Fakten. Weder ein neuer postmoderner Aktivismus noch eine Computergläubigkeit bieten hinreichende Argumente, dem Buch die Zukunft zu versagen. Wie auch in den anderen Bereichen offenbaren diese Prognosen mehr über die Diskussionsschwerpunkte der Gegenwart als über die reale Situation in der Zukunft.

6.

Literatur

Baudrillard, Bern 1989.

Jean,

Paradoxe

Kommunikation.

Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976.

151. Zukunftsperspektiven des Buches

1663

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Günther Pflug, Frankfurt

(Deutschland)

XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen 152. Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion Zeitungen und Zeitschriften unterscheiden sich in produktionstechnischer Hinsicht einerseits durch die zu ihrer Herstellung gewählten Druckverfahren und andererseits durch das bevorzugte Produktformat bzw. die Produktform. Während Zeitungen anfangs im Hochdruckverfahren von Stereotypieplatten und später von Fotopolymer-Wikkelplatten hergestellt wurden und nach einem 'Intermezzo' mit Flexodruck und 'Di-Litho' zum Offsetdruckverfahren übergingen, dominierte im Zeitschriftendruck von Anfang an das Tiefdruck-Verfahren, das in den letzten Jahren wegen der zunehmenden Titelvielfalt mit jeweils geringerer Auflagenhöhe vom Heatset-Offsetdruckverfahren bedrängt wird. Der Grund für diesen Wandel liegt in den hohen Kosten der Tiefdruck-Formherstellung begründet, was für die Umlage eine bestimmte Mindest-Auflagenhöhe erforderlich macht. Was das Produktformat anbelangt, so wird bei Zeitungen ein Großformat (broadsheet) bevorzugt, das im Trichterfalz erzeugt wird und mittels Zylinderfalz im Falzapparat nur einen Hilfsfalz erhält, während bei Zeitschriften das im Zylinderfalz erzeugte Tabloidformat vorherrscht, das dazu beschnitten und geheftet ausgeliefert wird. Setzen wir den Beginn der Produktionsstrecke bei Zeitungen mit der Druckplattenherstellung fest, so ist zu beobachten, daß mit der Entwicklung vom Klebeumbruch zur Ganzseitentechnik die Seitenbelichtung nicht mehr auf Film, sondern direkt auf die Druckplatte erfolgt. Im Fachjargon wird dies 'Computer-to-Plate' genannt. Ein Vorläufer dazu war die Kameraplatte, die nach dem elektrofotografischen Verfahren (OPC) arbeitete und ebenfalls den Film umging, jedoch wegen Verlusten in den Hochlichtern qualitätsmäßig nicht befriedigen konnte. Einschränkungen in der Wirtschaftlichkeit von 'Computer-toPlate' werden bei der Produktionsart mit

Mehrfachnutzen, d. h. der Parallelproduktion gleicher Produkte gesehen, wenn mehrere Druckplatten von der gleichen Seite gebraucht werden. Untersuchungen der IFRA haben jedoch ergeben, daß bis 3 Platten pro Seite „Computer-to-Plate" immer noch wirtschaftlicher ist gegenüber der konventionellen Produktion von Negativplatten über Film (Abb. 152.1) und auch darüber die Kosten nur moderat ansteigen. Die belichteten und entwickelten Druckplatten werden heute fast durchwegs automatisch über Telelift-Einrichtungen an die Rotation gebracht, wobei Strichcodes die Steuerung übernehmen. Am Endpunkt angelangt, werden sie meistens noch manuell auf die Plattenzylinder der Druckeinheiten übertragen, doch sind vereinzelt auch schon Knickarm-Roboter in Gebrauch, die diese Arbeit übernehmen. Zur Einstellung der Farbgebung in den einzelnen Farbwerken der Rotationsdruckmaschine haben die Druckplatten einen Platten-Scanner durchlaufen, der die einzelnen Einstellwerte streifenförmig mißt und danach die Farbwerke voreinstellt, so daß nur kleinere Nachjustierungen während der Produktion manuell durchgeführt werden müssen. Gänzlich vermieden werden diese Einstellungen mit einer Entwicklung zu zonenfreien Farbwerken, d. s. Farbwerke, in denen die Restfarbe nach dem Einfärben der Form immer wieder mit einer Rakel beseitigt und ein neuer Farbfilm aufgetragen wird (Abb. 152.2). In Mitteleuropa wird diese Einfarbemethode mit der Vorsilbe „Anilox-" umschrieben, von der dabei verwendeten Rasterwalze = Aniloxwalze herrührend, während in USA und Japan keine solche Walze zum Einsatz kommt und man deshalb von 'keyless' (zonenfrei) als übergeordnetem Begriff spricht. Allen diesen neuen, zonenfreien Farbwerkarten ist gemeinsam, daß sie nicht nur die Voreinstellung und Nachjustierungen

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152. Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion Kosten/Platte (DM) 22

20

6

L _ J 1

2

3

4

5

6

7 8 Platten pro Seite

Abb. 152.1: Nach diesem Vergleich ist die Wirtschaftlichkeit bei Computer-toPlate im Zeitungsdruck bei Mehrfachnutzen bis zu 3 Platten pro Seite gegeben.

der Farbgebung überflüssig machen, sondern auch während des Fortdrucks eine konstante Farbdichte sicherstellen. Die sonst üblichen Farbtonschwankungen über eine Auflage hinweg werden dadurch vermieden. Eine Unsicherheit in bezug auf Farbtonschwankungen bleibt nur noch mit den Feuchtwerken bestehen, die heute durchwegs rückwirkungsfrei als Sprühfeuchtwerke (Abb. 152.3) ausgebildet sind. Zur Vermeidung des Schabloniereffektes wird zwar die Feuchtauftragwalze häufig so ausgebildet, daß sie genau dem halben Umfang des Plattenzylinders ent-

spricht, wodurch bei Doppelproduktion (der häufigsten Produktionsart) keine versetzte Uberrollung und damit sogenannte 'Geisterbilder' auftreten, doch wird allgemein danach gestrebt, das Feuchtwerk ganz aus dem Zeitungsdruck zu verbannen. Dazu wird an der Entwicklung des wasserlosen Offsetdrucks gearbeitet und/oder mit Emulsionsfarben, den sogenannten 'single fluid inks', experimentiert. In der generellen Bauart der Zeitungsdruckeinheiten hat sich nach einer langen Odysee" über Satellitendruckeinheiten und

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

druck von 4 Farben, wodurch keine Farbplazierungswünsche der Anzeigenkunden und der Redaktion offenbleiben. Dem gegenüber dem Satellitenprinzip vorgebrachten Passerproblem beim Achterturm begegnet man durch Staffelung der Druckplattenposition in der Breite und durch Einführung sogenannter 'Bildregler' zwischen den einzelnen Druckzonen. Letztere bestehen aus einzelnen, freilaufenden Röllchen, die unterschiedlich tief an die Bahn angestellt werden, die Bahn wellenförmig verformen und so eine Schrumpfung der Bahn beim Einlauf in den Druckspalt bewirken. Um auch den Umfangspasser konstant zu halten, empfiehlt sich der Einbau einer elektronischen Registerregelung, wie sie aus dem Tiefdruckmaschinenbau seit langem bekannt ist.

Abb. 152.2: Die zonenfreie Einiarbetechnik im Zeitungsdruck arbeitet mit einer Rasterwalze = Aniloxwalze, an die eine Kammerrakel angestellt ist.

sogenannten Y-Druckeinheiten schlußendlich der Achterturm (Abb. 152.4) durchgesetzt. Er erlaubt im vertikalen Durchlauf der Papierbahn den gleichzeitigen Schön- und Wider-

Da Passerschwankungen bei Zeitungsrotationsmaschinen nicht nur durch die Feuchtwasseraufnahme der Papierbahn, sondern auch durch Bahnspannungsschwankungen verursacht werden, die besonders beim Hochfahren der Maschine und beim automatischen Papierrollenwechsel auftreten, ist in letzter Zeit ein Trend zum wellenlosen Antrieb zu beobachten. Statt mittels Längs- und Stehwellen die einzelnen Druckzylinder und Zugwalzen in der Maschine zu verbinden und so in ihrer Drehzahl zu synchronisieren, werden alle Zylinder und Walzen mit je einem

Abb. 152.3: Das Sprühfeuchtwerk besteht aus einem Rohr mit 8 Düsen, über die mittels Magnetventilen, gesteuert nach Sprühfrequenz und Sprühzykluslänge, das Feuchtmittel aufgetragen wird.

152. Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion

beide Seiten mit je 4 Farben zu bedrucken.

Motor versehen, die gemeinsam über eine 'elektronische Welle' synchronisiert werden. Diese elektronische Welle (Abb. 152.5) im SERCOS-Standard besteht aus einer superschnellen Datenleitung, die die Winkellage, die Drehzahl und das Drehmoment jedes Motors äußerst präzise regelt. Die Papierspannung wird dadurch auch unter extremen Bedingungen in der Maschine konstant gehalten und damit Makulatur vermieden. An Falzapparaten werden heute im Zeitungsdruck sowohl Klappenfalzapparate, als auch Trommelfalzapparate eingesetzt. Während letztere hauptsächlich für seitenstarke Produkte, wie sie in USA und Australien auftreten, gebraucht werden, stellen erstere einen schärferen und genaueren Falz sicher und sind in Europa die gängige Bauart. Auch in der Art der Trichteranordnungen ergeben sich Unterschiede zwischen Amerika/Australien und Europa. Während bei ersteren die übereinander angeordneten 'Ballontrichter' Anwendung finden, legt man in Europa Wert auf niedrige Bauweise und setzt deshalb 3 Trichter nebeneinander auf eine Ebene. Mehr

1667

als ein Falztrichter werden im FalzapparatUberbau benötigt, um mehrere Sektionen = 'Bücher' im Zeitungsprodukt entstehen zu lassen. Die im Unterbau der Zeitungsrotationsmaschine angeordneten Papierrollenträger wechseln heute durchwegs vollautomatisch die Papierrollen, weshalb man auch von Rollenwechslern oder Autopastern spricht. Daneben wird auch die Rollen-Logistik mit Einlagerung der angelieferten Papierrollen, dem Bereitstellen im Tageslager, dem Auspacken und der Klebevorbereitung immer mehr automatisch, ζ. T. mit Robotern durchgeführt, weshalb ein menschenleerer Rollenkeller entsteht, in dem man sogar das Licht löschen könnte, wenn da nicht die Service-Mechaniker mitunter eingreifen müßten. Die Weiterverarbeitung hat sich im Zeitungsdruck in den letzten Jahren zu einer fast selbständigen Einheit entwickelt und man spricht ihr sogar eine Führungsrolle im Zusammenstellen des Endproduktes zu. Nicht nur die vorausgedruckten Vorprodukte (VP) müssen hier dem Hauptprodukt (HP) hinzugefügt werden, sondern auch zahlreiche Werbedrucksachen sind in die Zeitung einzustekken. All dies geschieht heute durchgängig automatisch mit Einsteckmaschinen und Zwischenlagerung der Einsteckprodukte in Spulenform. Ebenso ist die Bündelbildung, die Bündelbeschriftung, das Bündelverpakken und -verschnüren ein automatischer Vorgang, bevor die Bündel zielgerichtet die einzelnen Transportfahrzeuge an der Verladerampe erreichen. Am Anfang der Zeitschriftenproduktion im Tiefdruckverfahren steht statt der Druckplattenherstellung die Formzylinderherstellung, die einen aufwendigen galvanischen und mechanischen Bearbeitungsprozeß erforderlich macht. Die eigentliche Formherstellung erfolgt heute ausschließlich in elektromechanisch arbeitenden Graviermaschinen, wenn auch die Lasergravur bereits die Entwicklungslabors verlassen hat und früher oder später in die Ersatzbeschaffung eingehen wird. Hoffnungen auf eine ElektronenStrahlgravur sind seither an den damit verbundenen Kosten gescheitert. Zunehmend werden zur Gravur nicht mehr Papiervorlagen auf einem synchron drehenden Zylinder abgetastet, sondern die Gravierdaten direkt aus dem Speicher des Ganzseiten-Computers bezogen. Auch hier, wie im Zeitungsdruck, geht die Tendenz zu 'Computer-to-Plate', oder besser gesagt, zu 'Computer-to-Cylinder'.

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

Die Rollentiefdruckmaschinen (Abb. 152.6) zeichneten sich durch eine ständige Vergrößerung der Verarbeitungsbreite und eine Erhöhung der Produktionsgeschwindigkeit aus. Die maximale Bahnbreite liegt heute bei 3,6 m und die maximale Druckgeschwindig-

keit bei 17 m/s. Das Tiefdruckverfahren ist damit das weitaus produktivste und bietet sich für alle Massendrucksachen an. Zudem lassen sich im Tiefdruck einfachere, d. h. kostengünstigere Papiere als im Heatset-Rollenoffsetdruck verwenden, ohne daß die Druckqualität

Abb. 152.5: Die elektronische Welle nach dem SERCOS-Standard ersetzt durch schnelle Datenleitungen die mechanischen Längs- und Stehwellen.

Produktionsgeschwindigkeit aus.

152. Technik der modernen Zeitungs- und Zeitschriftenproduktion

dadurch beeinträchtigt wird. Die Einschränkung kommt nur von der teuren Formherstellung, was eine bestimmte Mindestauflage erforderlich macht. Die so starke Vergrößerung der Verarbeitungsbreite im Tiefdruck wurde nur durch eine besondere Walzenkonstruktion im Pressurbereich möglich. Nachdem man schon seit Jahren aus Druckqualitätsgründen vom 3Walzen-System zum 2-Walzen-System übergegangen war, d. h. den Stützpresseur eliminiert hatte, mußte das Wegbiegen des Arbeitspresseurs bei der Druckanstellung infolge des mit der Verbreiterung einhergehenden großen Schlankheitsgrades vermieden werden. Mit dem S-Walzen - und NIPCOWalzen-Prinzip, sowie durch Einrücken der Lagerstellen wurden deshalb Mittel gefunden, um den Arbeitspresseur mit einem Gegen-Biegemoment zu beaufschlagen, um ihn so an den Formzylinder anschmiegen zu lassen. Tiefdruckfarben müssen wegen ihrer niedrigen Viskosität nach jedem Druckvorgang getrocknet werden. Bei Rollentiefdruckmaschinen sind deshalb alle Druckeinheiten mit einer Trockenhaube versehen. Waren diese in den frühen Jahren meistens nach dem Parallelstromprinzip konzipiert und mit Trockentrommeln versehen, so hat sich in den letzten Jahren das Prallstromprinzip der Düsentrocknung mit Führung der Bahn über normale Papierleitwalzen durchgesetzt (Abb. 152.7). Die Papierspannung wird dadurch geringstmöglich beeinflußt. Auch wird auf eine Erwärmung der Blasluft über Wärmetauscher im allgemeinen verzichtet. Es genügt die mit der Luftumwälzung sich einstellende Lufterwärmung. Der Seitenpasser wird durch Staffelung der Formen auf den Formzylinder eingestellt und Nachjustierungen im Maschinenlauf erfolgen über kleine Heizbatterien oder mittels Dampfbeaufschlagung (Feuchte). Die Seele des Tiefdrucks ist die Rakel, weshalb ihrer Konstruktionsausführung schon von jeher eine besondere Beachtung geschenkt wurde. Die schwimmende Selbsteinstellung spielt dabei eine besondere Rolle, wobei jedoch eine übermäßige Druckanstellung zur Vermeidung eines zu hohen Rakelverschleißes verhindert werden muß. Zum Zylinderwechsel werden die stabilen Rakeltische abgeschwenkt oder es werden ganze Formzylinderkassetten mit Farbwannen durch die Seitenwand hindurch gewechselt. Da die Tiefdruck-Formzylinder unterschiedliche Durchmesser haben können und

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Abb. 152.7: Statt Trockentrommeln werden heute in den Trockenhauben der Tiefdruckwerke normale Papierleitwalzen eingesetzt, die die Bahn stützen, während Düsen Luft darauf blasen.

so eine bestimmte Formvariabilität erlauben, muß auch der Falzapparat variabelformatig ausgeführt sein. Man erreicht dies mit Greiferfalzapparaten, bei denen die Produktlängen außerhalb der Falzzylinder quergeschnitten und dann zwischen Transportbändern auf die Falzzylinderposition beschleunigt werden. Für Mehrfachproduktionen werden heute sowohl doppelbreite Falzapparate gebaut, als auch Mehrfachauslagen konzipiert, was besonders bei 6 Atzungen statt 4 Atzungen im Umfang des Formzylinders interessant ist. Das Kernstück der Weiterverarbeitung bei der Zeitschriftenproduktion ist der Sammelhefter. Dabei können die verschiedensten Sektionen zusammengetragen werden und es lassen sich in der Zusammenstellung dieser Sektionen auch Personalisierungen durchführen. Bei seitenstärkeren Produkten schließt sich eine Klebebindung an, bevor die Exemplare gestapelt, verpackt und verschnürt oder einzeln schrumpffolienverpackt werden. Wie schon eingangs erwähnt, werden wegen der Vielzahl der Titel und der kleiner werdenden Auflagen immer mehr Zeitschriftenaufträge vom Tiefdruck zum Heatset-Rollenoff-

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen Sercos

Press M a n a g e m e n t N e t (Arcnet)

Abb. 152.8: Rollenoffsetmaschinen, die den frischen Farbfilm mit Heißluft trocknen, bauen durch diese Trokkenstrecken sehr lang, weshalb ein wellenloser Antrieb sich anbietet.

setdruck verlagert. Dies umso mehr, da die Produktionsgeschwindigkeiten dieser Maschinen in den letzten Jahren gewaltig gesteigert wurden, was immer längere Heißluft Trokknerstrecken möglich machten. Auch setzt in letzter Zeit eine Entwicklung zum wellenlosen Antrieb ein, was die langen Trockenstrecken zu überbrücken hilft (Abb. 152.8). Akzidenz-Rollenoffsetmaschinen sind zwar in der Abschnittlänge der Produkte nicht variabel, doch kompensieren sie dies in einem bestimmten Grad durch eine Breitenvariabilität, sowie neuerdings durch wahlweise liegende oder stehende Seiten am Plattenzylinderumfang. Es werden deshalb in den Druckeinheiten vollbreite Druckplatten eingesetzt, die sich in der Seitengröße und Seitenposition beliebig aufteilen lassen, und es wurden Kombinationsfalzapparate mit Parallelfalz, Delta-Falz, Dreifalz und neuerdings auch begrenzt variabelformatige Greiferfalzapparate entwickelt, die diese Formvariabilität ermöglichen. Zusätzlich kommen sogenannte Inline-Finishing-Einrichtungen mit Pflugschar-Falz, Lakkier-. Perforier- und Stanzeinrichtungen zum Einsatz, die typische Produkte für das DirectMailing erzeugen können. Auch im Rollenoffsetdruck ist eine Tendenz zu 'Computer-to-Plate' hin festzustellen, wobei die Belichter jedoch wegen der Größe der Plattenformate aufwendiger als im Zei-

tungsdruck gebaut sind und auch eine niedrigere Durchlaufleistung erzielen. Für die Personalisierung werden Inkjet-Eindruckwerke eingesetzt und für schnell wechselnde Firmeneindrucke wurde der fliegende Plattenwechsel erfunden. Die bei Rollenoffsetmaschinen eingesetzten Rollenwechsler arbeiten meistens nach dem Stillstands-Prinzip, d. h. es wird im Stillstand umgeklebt, während die Maschine weiterläuft und mit Rollenpapier aus einem mäanderförmigen Bahnspeicher versorgt wird. Dem Rollenwechsler ist immer ein separates Einzugswerk nachgeschaltet. Bahnfangeinrichtungen sorgen dafür, daß bei einem Bahnriß kein Wickler auftritt und die Bahn nicht in den Trockner nachläuft. Sicher wird früher oder später auch die zonenfreie Einfarbungstechnik im Heatset-Rollenoffsetdruck Einzug halten. Computer-toPress, d. h. elektrofotografische Umdrucke werden vorerst aus Kostengründen nur Kleinstauflagen vorbehalten bleiben. Auch ein Ersetzen von Zeitungen und Zeitschriften durch C D - R O M und Online-Dienste ist nicht in Sichtweite. Eher wird es zu einem engen Miteinander von elektronischen und gedruckten Medien kommen, denn sie ergänzen sich in vielen Dingen vortrefflich. Boris Fuchs, Dannstadt

(Deutschland)

153. Moderne Zeitungsdruckereien

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153. Moderne Zeitungsdruckereien Zeitungsdruckereien prägten in der Vergangenheit ganze Stadtviertel von Großstädten. In London war dies die schon legendäre Fleet Street, in Paris das Viertel hinter der Börse und in Berlin die von Axel Springer nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebte Kochstraße. Die schnelle Verbreitung der gedruckten Zeitungen über Zeitungsjungen erforderte diese Nähe zur Innenstadt. Auch die Zeitungsreporter brauchten den schnellen Zugriff zur Redaktion, um bei der Gestaltung ihrer Artikel korrigierend eingreifen zu können. Dieses nahe Beieinandersein von Input und Output schaffte eine eigenartige Atmosphäre, zumal der Hochbetrieb für die Morgenzeitungen in der Nacht stattfand und sich zahlreiche Journalistenbars oder solche, die es zu sein nur vorgaben, in der Nähe ansiedelten. Mit den steigenden Auflagen und besonders mit den steigenden Seitenzahlen wurde jedoch die Produktion der Zeitung in der Innenstadt zunehmend zu einem logistischen Problem. Die Räume für die wachsenden Rotationsdruckmaschinen wurden zu eng, die das Rollenpapier anliefernden Lastkraftwagen verstopften die Straßen und die Lärmbelästigung wurde zu einem Stein des Anstoßes für die Nachbarschaft, zumal gesetzliche Forderungen ihnen dazu das Recht gaben. Auf der anderen Seite machte der Rückgang des Straßenverkaufs und die Zunahme der Hauszustellung, aber auch die Dezentralisierung der Städte und die Regionalisierung der Zeitungen es erforderlich, daß die gedruckten Exemplare schnell ins Umland transportiert werden konnten. Der zunehmend dichter werdende, d. h. von Fahrzeugstaus geprägte Großstadtverkehr bildete dabei ein immer stärker werdendes Hindernis. Uber eine Teilung von Redaktion/Satz und Druck/Weiterverarbeitung wurde deshalb schon früh nachgedacht. Doch der Materntransport - mancherorts sogar mittels Flugzeugen — erwies sich als zu zeitraubend und bei mißlichen Wetterbedingungen als zu unsicher. Erst mit der Entwicklung und Einführung der Faksimile-Übertragungstechnik in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts wurde die Zweiteilung befriedigend gelöst. Den Anstoß, eine neue Druckerei auf der grünen Wiese zu bauen, während die Redaktion und der Satz in der Innenstadt blieben, gab verstärkt der Ubergang vom Hochdruck- zum OffsetdruckVerfahren, der zum gleichen Zeitpunkt stattfand. Eine neue Rotationsdruckmaschine,

meistens weit größer als die alte, ließ sich in ein neues Gebäude besser einplanen — auch ließ sich der Übergang mit überlappender Parallelproduktion besser bewerkstelligen. Zudem verlangte das zunehmende Einsteckgeschäft mit Beilagen und die Aufteilung der Zeitung in mehrere Lokalausgaben eine Vergrößerung des Versandraums, was meistens nur in einem Neubau zu realisieren war. So präsentiert sich heute die moderne Zeitungsdruckerei als ein zweigeteiltes Gebilde mit der Redaktion und Satz/Repro, d. h. der Seitenproduktion in der Innenstadt, während der eigentliche Druck der Zeitung mit der Erstellung der Druckplatten, sowie die Weiterverarbeitung der gedruckten Exemplare zu versandfertigen Zeitungsbündeln in einem oder mehreren Zweigbetrieben erfolgt. Die vollelektronische Seitenproduktion mit vernetzten PCs statt schwerer Maschinentechnik erlaubte auch das Redaktionsgebäude in eine moderne Bürolandschaft zu verwandeln, was vielerorts architektonisch bemerkenswerte Vorzeigeobjekte hervorbrachte. In vielen Fällen konnten im Zuge der Modernisierung Altimmobilien preisgünstig veräußert werden, was die Finanzierung der Neubauten entlastete. Manche traditionellen Zeitungsviertel wurden so wie die Fleet Street von Zeitungsverlagen gänzlich verlassen und tragen nur noch Denkmalcharakter. Für die Zeitungsdruckerei auf der grünen Wiese, an der Peripherie der Stadt, bestand und besteht weitgehend Planungsfreiheit. Kriterien, die zu beachten sind, betreffen hauptsächlich die günstige Verkehrsanbindung und die störunempfindliche Nachbarschaft eines Industriegeländes. Auch sollte auf genügende Erweiterbarkeit von Anfang an geachtet werden. Als Bauausführung empfiehlt sich eine Flachdach-Stahlskelett-Hallenkonstruktion mit Verbundmetallverblendung. Als Grobeinteilung der Hallentrakte ist dabei in Produktionslaufrichtung zu unterscheiden zwischen dem Papierrollenlager, der Rotationsdruckmaschine mit Nebenbetrieben und der Weiterverarbeitungs- und Versandhalle mit Rampe zum Beladen der Transportfahrzeuge des Vertriebs. Die Rotationsmaschinenhalle ragt dabei weit über die übrige Profillinie hinaus. Die Ausbaubarkeit wird üblicherweise in Querrichtung zur Produktionslaufrichtung gesehen, ganz gleich ob die einzelnen Rotationsdruckmaschinen für je 48 oder 64 Zei-

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

tungsseiten in Linie, d. h. hintereinander, oder kammförmig, d. h. paralllel nebeneinander aufgestellt werden. Kammaufstellungen haben den Vorteil der einfacheren, weil weniger die Gesamtproduktion störenden Erneuerbarkeit, während die Linienaufstellung unterschiedliche Produktionsteilungen der Maschinen begünstigt. Einen Kompromiß zwischen beiden Lösungen stellt die spiegelbildliche Aufstellung von zwei Maschinenlinien dar, wobei die Bedienung vom Zwischenraum zwischen den beiden parallelen Maschinenlinien heraus geschieht. Die wohl spezifisch teuerste Baumaßnahme bei einer Zeitungsdruckerei betrifft das Maschinenfundament aus Stahlbeton, das kastenförmig zu gestalten ist und auf nachstellbaren Spiralfedern gelagert werden sollte. Nur so kann eine tiefe Abstimmung ge-

gen Körperschallübertragung erreicht werden. Korkmatten oder andere Isolierstoffe reichen hier nicht. Um die Nachstellung vornehmen zu können, muß das Fundament für das Bedienungspersonal zugänglich sein. Mancherorts, wie im Fall der Süddeutschen Zeitung in Steinhausen, wurde es auch als Fluchttunnel bei Gefahr für das Personal konzipiert. Zur Erklärung im Detail seien hier einige moderne Zeitungsbetriebe angeführt, wie sie in jüngster Zeit errichtet wurden. Als der Axel Springer Verlag 1991 daranging, eine neue Druckerei in Berlin-Spandau zu bauen, da wurde in einem Industriegebiet ein Gelände von 40 000 m 2 Fläche erworben und darauf ein Gebäude von 201 m Länge und 177 m Breite, d. h. 20000 m 2 überbaute Fläche errichtet (Abb. 153.1). Die Länge der

Abb. 153.1: Der Grundriß des Druckhauses Spandau am Brunsbütteler Damm in Berlin zeigt die Aufteilung in die einzelnen Arbeitsbereiche.

153. Moderne Zeitungsdruckereien

zwei Hallentrakte für Rotationsdruck und Weiterverarbeitung/Versand beträgt dabei je 127 m, während die Hallenhöhen zwischen 14 m und 26 m (Rotationsdruck) variieren. Als Papierlager wurde ein Hochregallager mit automatischem Handling der Papierrollen gewählt, weshalb es relativ kompakt gehalten werden konnte und nicht die volle Hallenlänge einschließt. Wieviel mehr Raum bzw. Fläche die Weiterverarbeitung/Versand gegenüber der Rotationsdruckmaschine einnimmt, wird mit den Breitenmaßen deutlich, die bei der Rotation 36 m und bei der Weiterverarbeitung 75 m betragen. Der Bau wurde im Juli 1991 begonnen und Mitte 1993 in Betrieb genommen, mit voller Produktionsaufnahme Ende 1993. Die Projektsumme betrug 550 Mio. D E M , wovon 360 Mio. D E M Produktionsanlagen betrafen. Es werden gegenwärtig 660 Mitarbeiter dort beschäftigt und die fünf 64-seitigen und zwei 48-seitigen Offset-Rotationsmaschinen vom Typ Colorman 40 S von M A N Roland sind in ihrer Kapazität so ausgelegt, daß sie stündlich fast eine halbe Million 24-seitige „Bild"-Zeitungen herstellen können. Die Gesamtanlage hat eine Länge von 26 m, eine Höhe von 14 m (ab Rollenträgerebene) und wiegt 2750 Tonnen. In der Weiterverarbeitung setzt man Geräte des Schweizer Lieferanten Müller Martini (Newsliner mit Shuttle-Beschickung) ein und verfügt über ein Zwischenlager, das 30 verschiedene Zeitungsprodukte aufnehmen kann. Besonderen Wert wurde auf eine umweltgerechte Gestaltung der Druckerei gelegt. Um das Stadtwassernetz nicht über Gebühr zu belasten, wird sowohl das technische Kühlwasser als Kreislaufsystem betrieben als auch alle Sanitäreinrichtungen mit wassersparenden Elementen versehen. Die Heizund Kühlenergie wird in einem Blockheizkraftwerk erzeugt, das sich durch einen hohen Wirkungsgrad auszeichnet. Was die Schadstoffemissionen anbelangt, so unterschreitet man die zulässigen Werte um eine ganze Zehnerpotenz und an den Arbeitsplätzen wird bei der Lärmemission ein Pegel von 85 dB (A) unterschritten. Daß man bis zu 100 Prozent recyceltes Zeitungspapier einsetzt, ist eine Selbstverständlichkeit, doch auch zur ordnungsgemäßen Entsorgung des Abfallpapiers werden große Bündelpressen in einer speziellen Halle mit Rampe für die Entsorgungsfahrzeuge eingesetzt. Als ein weiteres Beispiel einer modernen Zeitungsdruckerei mag uns der Neubau der Magdeburger Volksstimme des Heinrich

1673 Bauer Verlags in Barleben bei Magdeburg dienen. Auch hier handelt es sich um ein Industriegebiet, das in der Luftlinie 8 km vom Redaktionsgebäude in der Innenstadt von Magdeburg entfernt liegt. Die Nähe zur Stadt und eine geplante Autobahn zur günstigen Verkehrsanbindung waren für die Auswahl des Grundstücks in der Gemeinde Barleben entscheidend (Abb. 153.2). Der Neubau hat eine Länge von 153 m und eine Breite von 105 m, wobei ein 15 m breiter Kopfbau zur späteren Aufnahme der Redaktion miteingerechnet wurde. Auch hier überragt die Rotationsdruckmaschinenhalle die übrigen Hallentrakte des Papierlagers und der Weiterverarbeitung/Versand (Abb. 153.3). Der Neubau wurde mit modernster Technik ausgestattet, so u. a. mit einer Wasseraufbereitungsanlage und einem Blockheizkraftwerk. Dem Lärmschutz wurde volle Beachtung geschenkt, neben schalldämmenden Wandverkleidungen in der Rotationsdruckmaschinenhalle auch durch Schallschutzwände zwischen den einzelnen Maschinen. Auch um die Details der täglichen Praxis hat man sich gekümmert: Zum Beispiel wurde der Raum, der für die Lüftung der 36 Druckwerksmotoren an der Antriebsseite der Rotationsdruckmaschine nötig ist, in ein 72 m langes und 4,5 m breites Regalsystem ausgebaut. In zwölf Etagen wurden dort die Verkabelungen, sowie die Gebrauchsmaterialien wie Ersatz· Farbkästen, Rakel, Aufzüge, Putzlappen und Farben, aber auch Geräte für die Reinigung von Farbkästen und für das Farbenrecycling untergebracht. Der Produktionsrichtung folgend beginnt links (Abb. 153.4) das automatisierte Rollenlager mit einer Lagerkapazität von 600 Papierrollen, bei einem täglichen Gebrauch von 100 bis 150 Rollen. Das Rollen-Handling mittels zwei automatisch gesteuerten Deckenkränen, sowie Verpackungs- und Makulaturentsorgungs-Anlagen wurde von der Schweizer Firma VonRoll geliefert. Von der Rollenauspackstation gelangen die Papierrollen auf dem Mecaroll-System zum Klebevorbereitungsroboter. Sie werden dort automatisch mit Klebestreifen für den automatischen Rollenwechsel in der Maschine versehen. Die so vorbereiteten Papierrollen werden auf Abruf in die Rotationsdruckmaschinenhalle transportiert. Hier sind vier 48-seitige Offset-Zeitungsdruckmaschinen vom Typ Anilox-Colora von Koenig & Bauer-Albert (KBA) aufgestellt. Neben dieser Kurzfarbwerktechnik (Anilox-Offset) besteht

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

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Abb. 153.2: Lageplan des neuen MVD-Druckzentrums im neu ausgewiesenen Gewerbegebiet in Barleben, zirka acht Kilometer in der Luftlinie von Magdeburg entfernt. Die geplante Autobahn (links unten) war ein wesentlicher Aspekt bei der Auswahl des Grundstücks.

die Besonderheit dieser dezentralisierten Druckerei noch darin, daß ihr die Druckplatten nach dem Verfahren „Computer-toPlate" zugeführt werden, d. h. es werden keine Filme erzeugt, die durch FaksimileÜbertragung übermittelt werden, sondern die übermittelten Digitaldaten des Computers belichten direkt die Druckplatten - ohne Zwischenschritte. Die Weiterverarbeitung bzw. der Versandraum konnte relativ kompakt gehalten werden, da das platzsparende Rollpacksystem des Schweizer Herstellers Ferag zur Anwendung kam, das anstelle von rechteckigen Zei-

tungsbündeln runde Zeitungsrollen erzeugt. Man schätzt, daß dadurch 600 m 2 Fläche im Versandraum eingespart werden konnten. Am äußersten rechten Ende schließt sich auch hier die Verladerampe für die Vertriebsfahrzeuge an. Der gesamte Neubau soll rund 200 Mio. D E M gekostet haben. Als drittes Beispiel möge uns noch der Neubau der „Berliner Zeitung" in BerlinLichtenberg dienen. Das Druckhaus Friedrichshain war die größte Zeitungsdruckerei in Ostdeutschland vor der Wende. Mit Titeln wie 'Junge Welt', 'Berliner Zeitung', 'Neues Deutschland' und 'Wochenpost' wurde eine

153. Moderne Zeitungsdruckereien

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Abb. 153.3: Perspektivische Darstellung (Ostansicht) des Druckzentrums für die „Volksstimme" in Barleben bei Magdeburg. Die Druckerei — vom Papierlager (links) bis zur Rampe (rechts) — hat eine Länge von 153 m. Das Verlagsgebäude wurde versetzt gebaut.

tägliche Auflage von rund 2,1 Mio. Exemplaren erreicht. 1990 wurden die Mehrheitsanteile am Druckhaus Friedrichshain in einem Joint-Venture gemeinsam von Gruner + Jahr und der Maxwell-Gruppe übernommen. Seit Februar 1994 ist Gruner + Jahr alleiniger Gesellschafter des Druck- und Verlagshauses. Größtes Druckobjekt ist mit einer durchschnittlichen Auflage von 285 000 Exemplaren die 'Berliner Zeitung'. Das zweite große Druckobjekt ist der 'Berliner Kurier', eine Kaufzeitung mit einer Druckauflage von ca. 250 000 Exemplaren. Daneben werden noch einige Wochenzeitungen und Anzeigenblätter produziert. Auf dem stark umkämpften Berliner Zeitungsmarkt verfügen die Konkurrenten der 'Berliner Zeitung' bereits über neue Vierfarbmöglichkeiten, weshalb sich das Druckhaus Friedrichshain einem Neubau mit neuer Technik nicht verschließen konnte. Vom Land Berlin konnte in Berlin-Lichtenberg ein 18 000 m 2 großes Grundstück in einem ruhigen Viertel in der Nähe der Wasserwerke erworben werden, das mit einer Nutzfläche von 11 000 m 2 überbaut wurde. Das Gelände ist für das Verbreitungsgebiet der 'Berliner Zeitung' optimal gelegen und erfüllt auch sonst alle Anforderungen. Bemerkenswert ist vielleicht die Tatsache, daß früher auf diesem Gelände der Fuhrpark der

Staatssicherheit der D D R untergebracht war. Stacheldraht, Mauern und Wachtürme bestimmten damals das Bild. Auch bei diesem Neubau einer Zeitungsdruckerei wird das Hallenprofil durch die 20 m hohe Rotationsdruckmaschinenhalle mit angeschlossenen Versorgungseinrichtungen in der Mitte charakterisiert, während die Hallen für das Papierlager links davon und die Weiterverarbeitung/Versand rechts davon nur knapp 10 m hoch sind (Abb. 153.5). Für das Rollenlager wurde ein Konzept erarbeitet, das zu Beginn ein weitgehend manuelles Handling vorsieht, aber für die spätere durchgängige Automatisierung offenbleibt (Abb. 153.6). Die Beschickung des Tageslagers erfolgt auf herkömmliche Weise. Dort werden die Papierrollen im verpackten Zustand vorgelegt. Die Vorbereitung der Rollen geschieht auf der Längsschiene, in die 4 Auspackhilfen mit halbautomatischer Klebevorbereitung für den automatischen Rollenwechsel in der Maschine integriert sind. Von dort werden die so vorbereiteten Papierrollen in den Rollenträgerbereich der Rotationsdruckmaschine transportiert. Das Kernstück der neuen Zeitungsdruckerei stellt diese Rotationsdruckmaschinenanlage mit vier 48-seitigen vom Typ Geoman von MAN Roland dar (Abb. 153.7). Die Druckeinheiten wurden als sogenannte Ach-

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

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tertiirme gebaut, die den beidseitigen Vierfarbendruck auf jeder Papierbahn in geradem Durchlauf erlauben. Die Druckleistung liegt bei 35 000 Zylinderumdrehungen pro Stunde, was auf die vier Maschinensektionen bezogen 140000 48-seitige Zeitungen oder 280000 24seitige Zeitungen pro Stunde entspricht. Bei

48-seitigen Produkten können 16 Seiten vierfarbig und der Rest zweifarbig sein. Die Steuerung der Rotationsdruckmaschine erfolgt durch ein modernes Leitstand- und Maschinenvoreinstellsystem. In der Weiterverarbeitung/Versand wird eine bereits bestehende Anlage von Müller

Abb. 153.5: Schnitt durch das Gebäude des DHF vom Rollenlager bis zur Versandstraße. Im wesentlichen wurden zwei Bauhöhen vorgese

Abb. 153.7: Die neue Geoman-Linie des DHF ist knapp 50 m lang und 9,30 m hoch (mit Rollenständern). Sie besteht aus vier 48-seitigen

hen: knapp zehn Meter für das Rollenlager und die Weiterverarbeitung/Versandhalle sowie 20 m für die Rotationshalle und die Haustech-

Maschinen. Die Nachrüstung mit Trocknung ist möglich.

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154. Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag

Martini mit 6 Biliner-Einsteckmaschinen weiterverwendet. Damit können bis zu 4 Beilagen bzw. drei Beilagen und ein Vorprodukt in das Hauptprodukt eingesteckt werden. Nach der Einreich un g des Bauantrags im April 1994 wurde mit dem Bau im Sommer 1994 begonnen. Im Sommer 1995 wurde nach Plan mit der sektionsweisen Einbringung der Rotationsdruckmaschinen und dem

Umzug der Weiterverarbeitungstechnik begonnen, so daß Ende 1995 die neue Druckerei in Betrieb gehen konnte. Dies mag einmal mehr beweisen, daß Zeitungsleute nicht nur schnell im Ausbringen von Nachrichten, sondern auch schnell im Errichten ihrer Druckereien sind. Boris Fuchs, Frankenthal

(Deutschland)

154. Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag 1. 2.

5.

Zweck und Aufgaben Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag als Wirtschaftsunternehmen Erlöse und Kosten Die Organisation des Zeitungs- und Zeitschriftenverlags Literatur

1.

Zweck und Aufgaben

3. 4.

Als Verlag im weitesten Sinne wird ein gewerbliches Unternehmen bezeichnet, das auf eigene Kosten und eigenes Risiko geistige bzw. künstlerische Werke zur Veröffentlichung auswählt, produziert und verbreitet. Typologisch abgrenzen lassen sich Buchverlage, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, Bild- und Kunstverlage, Musikverlage; die Praxis kennt zahlreiche Mischformen. Bei einem Zeitungs- oder Zeitschriftenverlag (Presseverlag) handelt es sich um ein Wirtschaftsunternehmen, das Zeitungen und/ oder Zeitschriften produziert und vertreibt (vgl. Heinrich 1994, 186). Von vielen anderen Wirtschaftsbranchen unterscheidet sich der Presseverlag durch die Eigenart seiner Produkte: (1) Die Zeitung oder Zeitschrift ist nur materiell-formal eine Ware, ihrer Funktion nach ist sie eher eine — geistige — Dienstleisung: ein Mittel der Information, der Meinungsbildung und der Unterhaltung. Sie hat damit eine besondere Funktion in der Gesellschaft, für die sie einen Beitrag zur Unterrichtung, Belehrung und zur politischen Meinungsund Willensbildung leisten kann. (2) Die Produkte des Zeitungs- oder Zeitschriftenverlags sind aufgrund der aktuell vermittelten Informationen kurzlebig, aber auf regelmäßige Fortschreibung (Periodizi-

tät) und zugleich auf inhaltliche Kontinuität angelegt. (3) Presseerzeugnisse werden überwiegend auf zwei verschiedenen Märkten abgesetzt: auf dem 'Lesermarkt' als publizistisches Mittel und auf dem Anzeigenmarkt als Werbeträger. Beide Märkte sind wirtschaftlich miteinander verflochten und hängen voneinander ab: „Eine große Zahl von Lesern bzw. ein spezifischer Leserkreis ist Voraussetzung für hohe Anzeigenerlöse, da der Anzeigenpreis weitgehend von der allgemeinen oder spezifischen Reichweite des Presseorgans abhängig ist; ein großes Anzeigenaufkommen ermöglicht niedrige Bezugspreise bzw. ein verbessertes redaktionelles Angebot, so daß dadurch wiederum zusätzliche Leser angezogen werden können" (Schütz 1994, 313).

2.

Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag als Wirtschaftsunternehmen

2.1. Der Presseverlag in der Statistik 1994 zählte das Statistische Bundesamt 3.160 Unternehmen, die 1.436 Zeitungen, darunter 381 Hauptausgaben und 9.093 Zeitschriften verlegten. Die Zeitungen hatten eine durchschnittliche Auflage von 30,6 Millionen Exemplaren je Erscheinungstag, von denen 21.1 Millionen auf Abonnement- und 9,6 Millionen auf Straßenverkaufszeitungen entfielen. Die durchschnittliche Auflage aller Zeitschriften je Erscheinungstag erreichte 387,8 Millionen Exemplare. Von den Unternehmen waren nach ihrem wirtschaftlichen Schwergewicht 325 Zeitungsverlage, 1.951 Zeitschriftenverlage und 385 Verlage mit Schwerpunkt außerhalb der periodischen Presse. 499 Unternehmen waren

1678

XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

schwerpunktmäßig nicht dem Verlagsgewerbe, sondern anderen Wirtschaftszweigen zuzurechnen. Die 2.661 Verlagsunternehmen beschäftigten am 31. Dezember 1994 einschließlich der tätigen Inhaber 263.300 Personen, darunter 22.900 Redakteure, 2.100 Volontäre und 10.800 sonstige Mitarbeiter in Redaktionen. Weitere 36.800 waren als freie Mitarbeiter tätig. 48 Prozent aller Beschäftigten - das waren 126.600 — arbeiteten in den Zeitungsverlagen (Statistisches Bundesamt, 1996). 2.2. Unternehmensformen Die Mehrzahl der auf dem Pressemarkt tätigen Verlage ist auf einen Printtyp: Zeitung oder Zeitschrift spezifiziert; soweit in bezug auf die Produktpalette 'Mischformen' vorkommen, handelt es sich fast immer um Zeitungsverlage, die auch Zeitschriften verlegen. Erst der Verkauf ostdeutscher Zeitungen an westdeutsche Unternehmen hat den Einstieg der Publikumszeitschriftenverlage in den Tageszeitungsmarkt möglich gemacht (Schütz 1994, 454). Im deutschen Verlagswesen sind praktisch alle nach dem Handelsrecht zulässigen Gesellschaftsformen vertreten. Bei kleineren bis mittleren Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen findet sich häufig noch die Personalunion aus Eigentümer und Verleger im Einzelunternehmen oder in den Formen der Personengesellschaft. Bei einer betrieblichen Expansion wechseln die meisten Presseunternehmen zu den Rechtsformen der Kapitalgesellschaft. Nach der amtlichen Pressestatistik von 1993 (Statistisches Bundesamt 1996, 36) firmierte die Mehrzahl der deutschen Zeitungsverlage als Kommanditgesellschaft (153) und als GmbH, A G (139), wobei die überwiegende Mehrheit auf die GmbH entfällt. Einzelunternehmen wurden 22 gezählt, offene Handelsgesellschaften 12. Bei den Zeitschriftenverlagen stellen G m b H und A G (1.141 Unternehmen) und K G (238) die Mehrheit der Verlage. Immerhin firmierten noch 448 Zeitschriftenverlage als Einzelunternehmen, 26 als OHG. Seit der ersten Pressestatistik 1975 zeichnet sich ein deutlicher Trend zur Kapitalgesellschaft ab.

3.

Erlöse und Kosten

Einnahmequellen der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage sind die Erlöse aus Vertrieb und Anzeigengeschäft. Die jeweilige Erlös-

struktur eines Verlags ist im wesentlichen vom Typ der Zeitung oder Zeitschrift, die er verlegt, mitbestimmt. Bei der Tagespresse und bei den Publikumszeitschriften übersteigt der Anzeigenerlös den Vertriebserlös erheblich. Bei der konfessionellen Presse und den Fachzeitschriften entscheiden maßgeblich die Vertriebserlöse. Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes (1994) betrug der Umsatz der Verlagsunternehmen im Jahre 1994 43,6 Milliarden D M ; darunter 18.9 Milliarden D M aus dem Vertrieb und 19.7 Milliarden D M aus dem Anzeigengeschäft. Presseverlage sind außerordentlich kostenintensive Unternehmen. Typisch für die Branche ist der hohe Anteil der Personalkosten. Die Kostenstruktur eines Presseunternehmens hängt unter anderem davon ab, ob das Blatt in eigener Druckerei oder in Fremddruck (auch Lohndruck) hergestellt wird. Bei den regionalen Abonnementzeitungen in Deutschland ergaben sich im Jahre 1994 folgende Durchschnittswerte Herstellungskosten: Redaktionskosten: Anzeigen: Vertriebskosten: Verwaltung:

38 22 12 20 8

Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent

An die rund 263.000 Angestellten, Arbeiter und Zusteller wurden 1994 11 Milliarden DM an Löhnen und Gehältern gezahlt. Weitere 2,2 Milliarden D M wurden für die Sozialkosten ausgegeben, von denen knapp 1,8 Milliarden DM aufgrund gesetzlicher Bestimmungen und fast 0,5 Milliarden D M aufgrund tariflicher oder freiwilliger Vereinbarungen geleistet wurden (Statistisches Bundesamt, 1996).

4.

Die Organisation des Zeitungs- und Zeitschriftenverlags

Das Presseunternehmen ist eine organisierte Einheit aus den Bereichen Redaktion, Anzeigenwesen, Vertrieb und kaufmännische Verwaltung. Die meisten Zeitungen und auch die Publikumszeitschriften in der Bundesrepublik Deutschland werden in den Presseunternehmen, die die Periodika verlegen, technisch hergestellt. In diesen Verlagen stellt die Technik einen weiteren Funktionsbereich dar. In der Verlagspraxis gibt es zahlreiche Varianten von diesem Muster. Doch sind die genannten

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154. Der Zeitungs- und Zeitschriftenverlag

Grundfunktionen in allen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen vorhanden (vgl. Mundhenke 1994, 21-23). 4.1. Der Zeitungs- und Zeitschriften Verleger Die zentrale publizistische und wirtschaftliche Verantwortung im Zeitungs- bzw. Zeitschriftenverlag trägt der Verleger, der haftende Inhaber — Eigentümer oder dessen Bevollmächtigter — des Unternehmens. Er schafft die wirtschaftlichen und technischen Voraussetzungen für das publizistische Produkt und bewirkt es, indem er Typ, Richtung, Erscheinungsform und -weise festlegt bzw. sicherstellt. Er koordiniert die Tätigkeiten der verschiedenen Verlagsbereiche und trifft die grundsätzlichen Entscheidungen. In mittleren und großen Verlagen sind einzelne Direktionsfunktionen oft auf einen oder mehrere Verlagsleiter delegiert. Der Direktionsbereich und die juristische Stellung der Verlagsleiter hängen von der unternehmerischen Struktur und vom Produktionsprogramm des jeweiligen Verlages ab (Mundhenke 1994, 21). Die meisten Zeitungsverleger und ein Teil der Zeitschriftenverleger firmieren zugleich als Herausgeber. Diese eher redaktionell orientierte Bezeichnung entzieht sich einer allgemeingültigen Definition, da die vielfältigen Erscheinungsformen von Druckpublizistik unterschiedliche funktionale Zuordnungen kennen. Bei der Einzelpublikation (Buch, Broschüre) ist der Herausgeber in der Regel eine Person, die sich vertraglich verpflichtet hat, die Publikation für den Verlag inhaltlich vorzubereiten und durchzuführen; bei der Zeitschrift ist der Herausgeber der vom Verlag bestellte Sachwalter der publizistischen Linie des Periodikums; beim Zeitungsherausgeber liegt die letzte Kompetenz für die Richtlinien der Redaktionspolitik. 4.2. Die Redaktion Der Redaktion obliegt die geistige Gestaltung des (nicht werblichen) ereignisgeprägten, meinungsbildenden und unterhaltenden Inhalts von Zeitung und Zeitschrift. Sie besteht in der Regel aus einer Mehrzahl von angestellten journalistischen Mitarbeitern (Redakteuren). Dazu zählen zumeist auch die Journalisten im Außendienst: Reporter (Wort und Bild) und Korrespondenten. Zum Redaktionspersonal gehören ferner teilzeittätige und freie Mitarbeiter in verschiedenen Bereichen: Zeichner, Karikaturisten, Graphiker, Layouter; der Redaktion an- oder eingeglie-

dert sind in der Regel das Text- und das Bildarchiv. Gewöhnlich wird die Redaktion eines Periodikums von einem Chefredakteur geleitet; bei einigen Zeitungen und Zeitschriften nimmt diese Funktion ein kollegiales Leitungsgremium wahr. Aufgabe des Chefredakteurs ist es, auf die Einhaltung der vom Verleger bzw. Herausgeber festgesetzten publizistischen Grundhaltung der Zeitung zu achten, die Arbeit der einzelnen redaktionellen Bereiche (Ressorts) zu koordinieren und die Redaktion nach außen zu vertreten. Ziel der redaktionellen Arbeit (die in gesonderten Abschnitten ausführlich behandelt wird) ist es, den Leser mit aktuellem Nachrichtenstoff zu versorgen, ihm mit meinungsbildenden Beiträgen Denkanstöße und Orientierungen zu geben und mit unterhaltenden Beiträgen seinem Bedürfnis nach Entspannung gerecht zu werden. 4.3. Die Anzeigenabteilung Die Anzeigenabteilung im Zeitungs- und Zeitschriftenverlag ist neben dem Vertrieb eine Verkaufsabteilung (Mundhenke 1994, 147). Ihre Funktion besteht darin, potentielle Kunden von der Bedeutung des Werbeträgers Zeitung oder Zeitschrift zu überzeugen, Anzeigen zu verkaufen, Anzeigenaufträge auszuführen und neue Anzeigenmärkte zu erschließen. So vielfältig wie die Presselandschaft in Deutschland ist auch die Organisation der Anzeigenabteilungen in den Verlagen. Sie richtet sich nach der Größe des jeweiligen Unternehmens und den Erfordernissen des Marktes. Die Struktur der Anzeigenabteilung, die Zahl der Mitarbeiter und die Organisationsform sind auch vom Umfang des Anzeigengeschäftes und von der Zahl der Zeitungs- bzw. Zeitschriftenausgaben abhängig· Für das Anzeigengeschäft des Verlages trägt der Anzeigenleiter die Gesamtverantwortung. Er untersteht der Geschäftsführung bzw. der Verlagsleitung direkt und zeichnet presserechtlich für den Anzeigenteil verantwortlich. Seine Aufgabe ist es darüber hinaus, die Arbeit der einzelnen Funktionsbereiche — Anzeigenverkauf (innen) und Außendienstorganisation, Marktforschung, Anzeigenherstellung, Anzeigenstatistik usw. — zu koordinieren (vgl. Hoebel 1996, 61 ff.). 4.4. Der Vertrieb Die schnelle und reibungslose Vermarktung der Zeitung bzw. Zeitschrift ist Aufgabe der

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XXXVIII. Mediengegenwart IV: Zeitung und Zeitschrift I: Technik, Verlags- und Vertriebswesen

Vertriebsabteilung des Presseverlags. Auch ihre Zuständigkeit und Ablauforganisation sind von verschiedenen Faktoren abhängig; Von der Gattung (Zeitung oder Zeitschrift), von der Größe des Unternehmens und seiner Marktstellung bzw. der seiner Produkte. Typische Funktionsbereiche der Vertriebsabteilung sind Expedition (Versandvorbereitung, Auslieferung), Außendienst (Zustellerbetreuung, Reklamationsbearbeitung), Änderungsdienst (Kundenservice), Vertriebsbuchhaltung (Zahlungsverkehr), Organisation (Auflagenführung), Marktbeobachtung und Verkaufsmarketing. Diese Funktionsbereiche zu koordinieren, ist Sache des Vertriebsleiters. Presseerzeugnisse werden im Abonnement oder im Einzelverkauf abgesetzt. Das Abonnement ist bei den Zeitungen in der Bundesrepublik Deutschland eine eindeutig dominierende Vertriebsform und gründet auf einem zeitlich befristeten oder unbefristeten Vertrag zwischen Abnehmer (Abonnent) und Verlag über den Bezug der Zeitung. Der Verlag verpflichtet sich, den Abonnenten regelmäßig zu beliefern, wofür der Abonnent einen Pauschalbetrag an den Verlag entrichtet. Die Abonnementzeitungen in Deutschland werden dem Leser auf vier Vertriebswegen zugestellt: Verlagseigene Vertriebssysteme oder Presse-Zustellungsgesellschaften gewährleisten durch Zeitungsbotenauslieferung vor allem eine frühmorgendliche Bedienung der Abonnenten, die bei der Zeitungszustellung durch die Post (Postzeitungsdienst) nicht immer erreicht werden kann. Der Postzeitungsdienst wird überwiegend von überregionalen Zeitungen und Blättern mit ländlicher Verbreitung in Anspruch genommen. Zahlreiche Verlage kooperieren im Vertriebsbereich, so daß häufig Zeitungszusteller eines Verlags mehrere, zum Teil sogar konkurrierende Blätter austragen. Die Verlagsauslieferung von Abonnementzeitungen durch den Großhandel (das soge-

nannte Presse-Grosso) umfaßt nur einen geringen Anteil am Gesamtvertrieb. Der Absatz von Straßenverkaufszeitungen hingegen wird in erster Linie über das Presse-Grosso abgewickelt. Das Abonnement über den Postzeitungsdienst ist bestimmende Vertriebsform der konfessionellen Zeitschriftenpresse und der Fachzeitschriften; auch Publikumszeitschriften bedienen sich dieser Vertriebsform, für diese Pressetypen spielt aber insbesondere der Einzelverkauf (am Kiosk, im Ladengeschäft, im Bahnhofsbuchhandel) eine herausragende Rolle. Eine Sonderform des Zeitschriftenabonnements stellt der sogenannte „Lesezirkel" dar; dabei handelt es sich um die zumeist auf eine Woche beschränkte Vermietung verschiedener Publikumszeitschriften in Form von „Lesemappen" gegen eine Gebühr. 5.

Literatur

Brand, Peter/Volker Schulze (Hrsg.), Die Zeitung. Medienkundliches Handbuch. Aachen ,0 2000. Heinrich, Jürgen, Medienökonomie. Bd. 1: Mediensystem, Zeitung, Zeitschrift, Anzeigenblatt. Opladen 1994. Hoebel, Hansjoachim, Neue Anzeigenpraxis. Lehrbuch für Einsteiger — Nachschlagewerk für Insider. Bonn 1996. Mundhenke, Reinhard, Der Verlagskaufmann. Berufsfachkunde für Kaufleute in Zeitungs-, Zeitschriften· und Buchverlagen. Frankfurt 6 1994. Schütz, Walter J., Pressewirtschaft. In: Publizistik, Massenkommunikation. Hrsg. v. Elisabeth NoelleNeumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke. Frankfurt 1994, 452-475. Schulz, Herbert, Der Vertrieb regionaler Tageszeitungen. Verkaufen, Verteilen, Verwalten — ein Funktionsprofil. Bonn 1994. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bildung und Kultur, Fachserie 11, Reihe 5: Presse. Wiesbaden 1996.

Volker Schulze, Meckenheim

(Deutschland)

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen 155. Agenturen und Pressestellen als Informationsquellen der Zeitung 1. 2. 3. 4.

Stoffbeschaffimg Die Nachrichtenagenturen Pressestellen Literatur

1. Stoffbeschaffung Die Beschaffung des inhaltlichen Rohstoffes für die Zeitung in dem vom jeweiligen Verlag festgelegten konzeptionellen und wirtschaftlichen Rahmen ist Sache der Redaktion. Sie sendet journalistische Beobachter zu den Ereigniszentren, sammelt das über die verschiedensten Kanäle einlaufende Nachrichtenmaterial, sichtet und ordnet den Stoff, wählt aus, was sie für berichtens- und kommentierenswert hält, und bearbeitet den Text zur Veröffentlichung. Zeitungsinhalte sind vielfältig wie das Geschehen in der Welt. Aber keine Zeitung kann immer und überall da zur Stelle sein, wo sich Ereignisse von allgemeinem Interesse abzeichnen oder wo etwas geschieht, das für größere Publikumskreise erfahrenswert oder wichtig ist. Das ist aus personellen, finanziellen und organisatorischen Gründen nicht möglich. Vor Ort, d. h. vor allem am Sitz oder im Umfeld der Redaktion, ist die Zeitung noch am ehesten in der Lage, den Stoff durch redaktionelle — fest angestellte oder freie — Mitarbeiter selbst zu beschaffen. Mittlere und große Zeitungen verfügen darüber hinaus über ein Netz eigener Korrespondenten, die von Zentren nationaler und internationaler Politik regelmäßig berichten. Aus Kostengründen unterhalten oft verschiedene Zeitungen gemeinsame Korrespondentenbüros, beispielsweise in der Bundeshauptstadt, in einzelnen Landeshauptstädten oder im Ausland. Keine Zeitung aber, die Anspruch auf Universalität legt, ist in der Lage, ausschließlich mit eigenen Mitteln das Bedürfnis der Leser nach umfassender, aktueller Information täg-

lich aufs neue zu befriedigen. Auch die größten Zeitungen sind auf zusätzliche Informationsangebote angewiesen.

2.

Die Nachrichtenagenturen

Rund 70 Prozent der Meldungen aus dem Ausland, die deutsche Zeitungen veröffentlichen, und 60 Prozent der Inlandsmeldungen beruhen auf Informationen von Nachrichtenagenturen. Bei Nachrichtenagenturen handelt es sich um Unternehmen, die Nachrichten sammeln, sichten, sortieren, formulieren und regelmäßig an feste Bezieher (Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunkanstalten) gegen Entgelt liefern. 2.1. Die Weltnachrichtenagenturen 1835 gründete der Franzose Charles Havas durch Zusammenfassung älterer Dienste die nach ihm benannte Agence Havas, aus der später die französische Nachrichtenagentur Agence France-Presse hervorging; etwa zur selben Zeit wurden auch in Deutschland (durch Bernhard Wolff) und England (durch Paul Julius Reuter) Nachrichtenagenturen ins Leben gerufen, die bereits den kurz zuvor erfundenen Telegraphen in den Dienst der schnellen Nachrichtenübermittlung stellten. Die Agence France-Presse (AFP) und die Agentur Reuter gelten heute als Weltagenturen, weil sie nicht nur ein weltumspannendes Nachrichtennetz aufgebaut haben, sondern auch für die Presse in allen Kontinenten arbeiten. Zu den wichtigsten Weltnachrichtenagenturen zählt ferner die 1848 gegründete amerikanische Associated Press (AP). In der gesamten Welt arbeiten derzeit über 200 Nachrichtenagenturen, von denen mehr als 50 — wie beispielsweise die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua — unter direkter staatlicher Kontrolle stehen. Während die unabhängigen Nachrichtenagenturen der freien Welt ihre Aufgaben

1682

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

darin sehen, Informationen von hoher Aktualität so objektiv wie möglich zu vermitteln, dienen die Agenturen in den kommunistischen Staaten und anderen diktatorisch regierten Ländern als Mittel der Popaganda nach innen und nach außen. Der Zusammenbruch des Kommunismus in der — ehemaligen — Sowjetunion und in Osteuropa hat dazu geführt, daß einige der Staatsagenturen ihre Unabhängigkeit erlangten und auf dem Weg zu Dienstleistungsunternehmen westlicher Prägung sind. Andere dagegen, wie die russische Agentur ITAR-TASS (Nachfolgerin der sowjetischen Agentur TASS), BTA aus Bulgarien, CTK aus der Tschechischen Republik oder neugegründete Agenturen in den aus der Sowjetunion hervorgegangenen unabhängigen Staaten, stehen weiter unter staatlicher und/oder parlamentarischer Kontrolle. Hinzu kommen aber neue, unabhängige Agenturen, wie INTERFAX in Rußland, die das Nachrichtenangebot in den ehemals kommunistischen Staaten erweitern. 2.2. Die Nachrichtenagenturen in Deutschland Mit umfassendem deutschsprachigen Nachrichtenangebot konkurrieren in der Bundesrepublik Deutschland fünf Nachrichtenagenturen: Die Deutsche Presse-Agentur (dpa), Reuter, Associated Press (AP), Agence France-Presse (AFP) und DDP. Die von deutschen Zeitungen meistgenutzte Agentur ist die dpa. Sie hat ihren Sitz in Hamburg und wurde im Jahre 1949 durch Zusammenschluß der von den westlichen Alliierten nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufenen Agenturen der Besatzungszonen gegründet. Die Deutsche Presse-Agentur hat die Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung; ihre 201 Gesellschafter sind die Verleger bzw. Verlage deutscher Zeitungen sowie die Rundfunkanstalten. Um eine Majorisierung durch einen Gesellschafter auszuschließen, können dpa-Gesellschafter jeweils nur bis zu 1,5 Prozent des Stammkapitals erwerben, die Rundfunkanstalten insgesamt bis zu 25 Prozent. Die Agentur arbeitet — wie dies im Gesellschaftsvertrag festgelegt ist - „unparteiisch und unabhängig von Einwirkungen und Einflüssen durch Parteien, Weltanschauungsgruppen, Wirtschafts- oder Finanzorganisationen und Regierungen". In der Hamburger Zentrale laufen täglich mehr als eine Million Wörter Nachrichtenstoff zusammen, gesammelt von Redakteuren

im In- und Ausland, übermittelt von Dutzenden anderer Nachrichtenagenturen und freien Mitarbeitern in aller Welt. Dieses Material wird redigiert, zu Nachrichtendiensten zusammengestellt und via Satellit an feste Bezieher verbreitet. Im Inland sendet der dpaBasisdienst rund 170.000 Wörter täglich, das entspricht etwa 800 Meldungen. Nachrichten, die nur regional interessant sind, werden in einem der 12 Landesdienste verbreitet — Tag für Tag etwa 50 bis 120 Meldungen. Für das Ausland gibt dpa einen deutschsprachigen Europadienst sowie Weltnachrichtendienste in englischer, spanischer und arabischer Sprache heraus. Zum Nachrichtenangebot der dpa gehören ferner u. a. ein Bildfunkdienst, der digitalisiert über Satellit täglich im Durchschnitt 200 Fotos verbreitet; ein Kartendienst, verschiedene Spezialdienste und die dpa-Datenbank, auf der der Basis- und die Landesdienste online angeboten werden. Zweite deutsche Nachrichtenagentur ist der Deutsche Depeschen-Dienst (DDP). Am 1.1. 1994 haben die Agenturen Deutscher Depeschen Dienst (ddp) und Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN), die seit 1992 wirtschaftlich zu einer Gesellschaft gehören, ihre bis dahin getrennt voneinander erschienenen Dienste zusammengelegt. Die Zentralredaktion befindet sich in Berlin. Der ddp mit Sitz in Bonn arbeitete seit Dezember 1971 in der Bundesrepublik als konkurrierendes Unternehmen zur dpa. Er wurde von Redakteuren der amerikanischen Nachrichtenagentur United Press International (UPI) gegründet, als diese ihren Deutschlanddienst eingestellt hatte. Von 1985 an beschränkte sich ddp auf die Funktion einer reinen Inlandsnachrichtenagentur. Der A D N , 1946 gegründet, war die Staatsnachrichtenagentur der ehemaligen DDR. Mit der staatlichen Vereinigung Deutschlands ging sie in den Besitz der bundeseigenen Treuhandanstalt in Berlin über. Von der Treuhand wurde die Agentur 1992 an die Firma des Mehrheitsgesellschafters des ddp, die EffektenSpiegel AG, verkauft. Im November 1994 veräußerte deren Eigentümer sämtliche Anteile von d d p A D N an ein Mitglied der Geschäftsführung der Agentur. Seit 1999 gehört die Agentur — nunmehr D D P — zum Pro-7Fernseh-Konzern. Schwerpunkt der Berichterstattung von D D P ist die bundesdeutsche Berichterstattung mit besonderem Gewicht auf die neuen Bundesländer. Montags bis freitags informie-

155. Agenturen und Pressestellen als Informationsquellen der Zeitung

ren zusätzlich Spartendienste aus den Bereichen Kultur, Medien, Ratgeber und Reise sowie ein Regionaldienst Ost, der sich speziell mit Themen aus den neuen Bundesländern befaßt. Seit 1946 ist Associated Press (AP) auf dem deutschen Markt vertreten; die Zentralredaktion hat in Berlin ihren Sitz. Die internationale Finanz- und Nachrichtenagentur Reuter arbeitet seit 1971 auf dem deutschen Nachrichtenmarkt mit einem eigenen Dienst. Sitz der Zentralredaktion ist ebenfalls Berlin. Die Agence France-Presse (AFP) bietet seit 1947 einen deutschsprachigen Dienst an, der aber erst seit 1999 in Berlin zusammengestellt wird. Die internationalen Agenturen haben ihre Stärken insbesondere in der Auslandsberichterstattung, bei der sie auf die Weltdienste ihrer Muttergesellschaften zurückgreifen können. Bei der Berichterstattung aus Deutschland pflegen sie ein Komplementärangebot zu dpa. Als weitere Leistungen bieten AP und Reuter Bilderdienste an, während A F P seinen Weltbilderdienst in die Europäische Pressephoto Agentur (EPA) einbringt. Infografikdienste werden von Reuter und A F P erstellt. Seit 1992 ist Reuter mit Reuters TV (Kauf der Firma Visnews) im Geschäft mit Fernsehnachrichtenfilmen. 1994 hat AP seinen Fernsehnachrichtendienst APTV mit Sitz in London eingeführt. Eine Sonderstellung nimmt die sog. Dritte Welt-Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS) ein. Sie ist weltweit tätig und bemüht sich um die Süd-Süd- und Nord-Süd-Kommunikation. Schwerpunkte sind die Bereiche Entwicklungspolitik, Umwelt und Menschenrechte. In Bonn wird seit 1981 ein deutscher Dienst erstellt, der eine Auswahl aus dem englischen und spanischen Dienst ist. Zur Verbreitung der Meldungen benutzt IPS das Leitungsnetz von DDP. 2.3. Spezialagenturen Neben den Weltagenturen und den in und für Deutschland hauptsächlich tätigen Nachrichtenagenturen, die mit einem universellen Stoffangebot aufwarten, tragen zur Vielfalt des Stoffangebotes in den Massenmedien auch jene Agenturen bei, die sich entweder auf einen bestimmten Abnehmerkreis oder aber thematisch spezielisiert haben. Zu den stofflich spezialisierten Informationsanbietern gehören die Vereinigten Wirtschaftsdienste, der Sport-Informations-

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Dienst und die kirchlichen Nachrichtendienste. Ausschließlich mit Wirtschaftsberichterstattung befassen sich die Vereinigten Wirtschaftsdienste (VWD), eine Agentur mit Sitz in Eschborn bei Frankfurt. An dieser 1949 gegründeten Nachrichtenagentur sind seit Januar 1994 mit je einem Drittel vom Gesellschaftskapital die Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, die Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH in Düsseldorf und die Dow Jones & Company Inc. in New York (u. a. Wirtschaftsnachrichtendienst AP-Dow Jones, The Wall Street Journal) beteiligt. Rund 70 Prozent des Umsatzes entfallen auf elektronisch verbreitete Programme, 30 Prozent auf gedruckte Informationen. Online mit allen deutschen und den wichtigsten internationalen Börsen sowie allen Redakteuren im In- und Ausland verbunden, übermittelt die Agentur den Medien via Satellitenkommunikation oder über das eigene Basisnetz börsentäglich einen aktuellen Wirtschaftsdienst. Der VWD-Mediendienst enthält neben Nachrichten aus dem Wirtschaftsleben, Kommentare sowie Hintergrund- und Korrespondentenberichte. VWD versorgt Zeitungen auch mit Börsen- und Währungstableaus. Daneben bietet VWD Zeitungen und Rundfunkanstalten, aber auch Wirtschaftsunternehmen, Behörden und Verbänden täglich die Nachrichten für Außenhandel und 20 branchenbezogene schriftliche Dienste sowie einmal wöchentlich den Außenhandelsdienst an. Für die Sportteile der meisten deutschen Zeitungen berichtet der Sport-InformationsDienst (sid) mit Sitz in Düsseldorf vom sportlichen Geschehen im In- und Ausland. Dabei konkurriert die Agentur mit dem Sportdienst von dpa. Etwa 75 feste und 1.000 freie Mitarbeiter sind für diese Spezialagentur, die 1945 gegründet wurde, tätig. Neben dem eigenbeschafften Material wertet sid auch ausländische Fachdienste aus. Auf ungefähr 25.000 Wörter täglich beläuft sich der Ausstoß von Sportnachrichten, den sid seinen Abonnenten anbietet. Auf Nachrichten über das religiöse, vor allem kirchliche Geschehen haben sich die Agenturen der großen Kirchen in Deutschland spezialisiert: der 1947 gegründete Evangelische Pressedienst (epd), Frankfurt, und die Katholische Nachrichtenagentur (KNA), 1952 gegründet, Bonn. Beide Agenturen verfügen über einen Mitarbeiterstab im In- und Ausland. Neben ständigen allgemeinen Nach-

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

richtendiensten und speziellen Landesdiensten bringen die kirchlichen Agenturen in regelmäßigen Abständen Korrespondenzdienste mit Themenschwerpunkten (beispielsweise Massenmedien-Dienste) heraus. Sowohl epd als auch KNA bieten Bilderdienste an. Die Katholische Nachrichtenagentur gibt zudem einen speziellen Rundfunkdienst heraus. Träger und Herausgeber von epd ist das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik eV. mit Sitz in Frankfurt. Die K N A gehört zu 50 Prozent den Bistümern bzw. ihren Treuhändern sowie zu je 25 Prozent Mitglied s Verlagen der Arbeitsgemeinschaft Katholische Presse und der Unitas-Verlagsgesellschaft mbH, einer Gruppe katholischer Verleger von Tageszeitungen. 3.

Pressestellen

Wichtige Informationsquellen für die Nachrichtenagenturen wie auch die verarbeitenden Medien sind die sogenannten Pressestellen: Kommunikationseinheiten von Behörden und öffentlichen Institutionen bzw. Organisationen, Parteien, Verbänden und Unternehmen. Diese Stellen nehmen in der Regel eine Doppelfunktion wahr, indem sie einerseits die publizistischen Medien über Ereignisse und Entwicklungen der jeweiligen Organisation unterrichten und für Auskünfte zur Verfügung stehen, andererseits die für sie relevante Publizistik systematisch auswerten und ihren eigenen Gremien zugänglich machen. In autoritären und totalitären Systemen fungieren staatliche Pressestellen vorwiegend als politische Indoktrinations- und Propagandaeinrichtungen; doch auch im demokratischen Rechtsstaat sind Presse- bzw. Informationsämter „Sprecher" der von ihnen getragenen Körperschaften (Stadtverwaltung, Landesund Bundesministerien, diplomatische Vertretungen). Auch die Pressestellen anderer öf-

fentlicher Einrichtungen bzw. von Unternehmen der privaten Wirtschaft, sehen u. a. ihre Aufgabe darin, gezielt im Interesse der jeweiligen Institutionen, für die sie arbeiten, zu informieren. Unter den amtlichen Pressestellen nimmt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung als eine der obersten Bundesbehörden eine herausragende Stellung ein. Das Bundespresseamt wurde 1949 in Bonn errichtet und im Laufe der Jahre immer wieder den Belangen der jeweiligen Bundesregierungen strukturell angepaßt. Das Amt untersteht dem Bundeskanzler direkt. Der Chef der Presse- und Informationsamtes ist gleichzeitig Sprecher der Bundesregierung und steht üblicherweise im Rang eines Staatssekretärs. Ähnlich organisiert sind die Presseämter auf Landesebene. Das Amt hat nunmehr seinen Sitz in Berlin. Eine auf Unabhängigkeit bedachte Medienberichterstattung wird sich nicht mit den Informationen begnügen, wie sie von den einzelnen Pressestellen vermittelt werden; sie wird vielmehr bemüht sein, durch eigene Recherchen zusätzliche Informationsquellen zu erschließen, um den Mediennutzer umfassend und nach Möglichkeit objektiv zu unterrichten. 4.

Literatur

Brand, Peter/Volker Schulze (Hrsg.), Die Zeitung. Medienkundliches Handbuch. Aachen 102000. Dovifat, Emil, Zeitungslehre, Band 1. Berlin 6 1976. Resing, Christian/Hansjoachim Höhne, Die Nutzung von Nachrichtenagenturen durch Tageszeitungen. In: Zeitungen '93 Hrsg. v. Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger. Bonn 1993, 276 — 311. Zschunke, Peter, Agenturjournalismus. Nachrichtenschreiben im Sekundentakt. München 1994.

Volker Schulze, Meckenheim

(Deutschland)

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156. K o m m u n i k a t i v e F u n k t i o n von Pressestellen

156. Kommunikative Funktion von Pressestellen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Einleitung Geschichte der Public Relations Begriffsbestimmungen A u f b a u der Pressestelle Akzeptanz Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten Literatur

1.

Einleitung

Die nachfolgenden Bemerkungen zur Kommunikation von Pressestellen als Teilbereich der Public Relations können lediglich grundlegende Merkmale der individuell und komplex gestalteten Kommunikation sein, zumal Kommunikationsprofile steten Veränderungen unterworfen sind.

2.

Geschichte der Public Relations

Die Geschichte der gezielt öffentlichen Kommunikation ist so alt wie die Menschheit. Schon die antiken Redner wußten die populären Taten der Herrschenden zu preisen und auch noch heute lautet der Wahlspruch: „Tue Gutes und Rede darüber!" Und doch liegt die Wiege des modernen, gezielten „öffentlichen Verhältnisses der Kommunikation" in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, was auf die merkantile Haltung und die damit verbundene Notwendigkeit wirtschaftlicher Kommunikation zurückzuführen ist. Wenngleich Offentlichkeits- (PR) und Pressearbeit über einen vorurteilsbehafteten Ruf verfügt, so darf die Verbindung zur bedingt freien Meinungsäußerung eines Unternehmens nicht hergestellt, sondern muß heute als Versuch offengehaltener Informationspolitik gesehen werden. 2.1. Entstehung der Public Relations in den USA Der Rechtsanwalt Dormann Eaten gebrauchte 1882 erstmals den Begriff "public relations" und umschrieb ihn mit "to mean relations for the general good". Die eigentliche Geburtsstunde ist 1905 anzusiedeln, als John D. Rockefeiler den Journalisten Ivy Lee engagierte, seine nicht immer fairen Geschäftspraktiken des Olgeschäftes gegenüber der Öffentlichkeit zu verteidigen. Lee entwikkelte die "declaration of principles", in der er die Öffentlichkeit wissen ließ, es sei die Absicht, die Presse — und damit die Bevölke-

rung — schnell, genau, kurz und offen über Tatsachen zu unterrichten, die von Wert und Interesse seien. Im Jahre 1913 nahm der Journalist Edward L. Bernays 'Publicity-Aufträge' an und wurde drei Jahre später von Präsident Wilson in das 'Committee on Public Relations' berufen, das unter anderem die Aufgabe hatte, den unpopulären Feldzug in Europa der Öffentlichkeit nahezubringen. Nach Ende des Krieges hielt Bernays die erste 'PR-Vorlesung' mit dem Titel "On the principles and ethics of the new profession of public relations". Die Grundfeste der Public Relations war in den USA etabliert. 2.2. Entstehung der Public Relations in Deutschland Als Alfred Krupp 1851 mit einem am Stück gegossenen 2-Tonnen schweren Stahlblock an der Weltausstellung in London teilnahm, wurde das Unternehmen weltweit bekannt. Er war an die Öffentlichkeit getreten und hatte dadurch den Bekanntheitsgrad eines führenden Stahlkonzerns geschaffen. Erstmals gezielt an die Öffentlichkeit trat Alfred von Tierpitz, Staatssekretär des Reichsmarineamtes im Jahre 1894, als er auf großen Kriegsschiffen die Stelle eines Presseoffizieres einrichtete. Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts bestanden bescheidene kommunikative Bestrebungen, die durchaus unter Pressearbeit subsumiert werden können. In der Zeit des Nationalsozialismus stagnierten weitgehend unternehmerische Kommunikationsbemühungen und wurden durch die staatliche Propaganda ersetzt. 1950 schuf der Industrieund Handelstag eine Pressestelle, die als Ursprung der Public Relations (Öffentlichkeitsarbeit) im Nachkriegsdeutschland gesehen wird. In den vergangenen zwanzig Jahren ist ein sprunghafter Anstieg an Pressestellen bei Wirtschaft, Organisationen, Institutionen und der Öffentlichen Hand zu verzeichnen, wobei auch zum Beispiel Interessengruppen und Bürgerinitiativen die Möglichkeit öffentlicher Diskussion durch Presseinformationen zu nutzen wissen. D a ß sich die Anzahl der Pressestellen vervierfacht hat, ist nicht zuletzt auf ein gesteigerteres und kritischeres Interesse der Öffentlichkeit zurückzuführen, sondern gründet auch in der Solidarität der Pressekommunikation, die auch preiswerter als Werbe- oder Marketingmaßnahmen ist.

1686

3.

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Begriffsbestimmungen

3.1. Abgrenzung von Public Relations, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Gerade weil die Begriffe Public Relations im Deutschen gleichgesetzt mit Öffentlichkeitsarbeit und gerne synonym mit Pressearbeit gebraucht werden, gilt es, sie im engen Sinne gegeneinander abzugrenzen. Public Relations (PR) und Öffentlichkeitsarbeit (ÖA) als deutschsprachiges Synonym stehen als Uberbegriffe der Kommunikation im weitesten Sinne eines Unternehmens, einer Institution, Partei, Gruppe oder Person (im weiteren zusammenfassend gebraucht als 'Unternehmen') und umfaßt die Teilbereiche interne und externe Kommunikation, Werbung, Sponsoring, Product Placement, hauseigene Publikationen und Pressestelle. Innerhalb dieses Kommunikationssystemes kommt der Pressestelle eine besondere Funktion zu. Ihre Aufgaben beschränken sich hauptsächlich auf kommunikatorische Zielgruppen (Agenturen, Redaktionen, Journalisten) und sind geprägt vom Grundsatz: Information der Kommunikatoren und damit der (Teil-)Öffentlichkeit, verbunden mit dem Ziel, Glaubwürdigkeit und Akzeptanz zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Das bedeutet, daß eine Pressestelle offen und nach Möglichkeit umfassend über ein Unternehmen zu unterrichten und auf verschleiernde oder beschönigende Informationen zu verzichten hat. Dieser Pressestellen-Kodex nimmt sich nicht nur in Zeiten einer Krise (Krisen-PR) besonders wichtig aus, er dient vor allem dazu, spekulativen Meinungsbildungen vorzubeugen, zumindest aber steuernd eingreifen zu können. Unterläßt ein Unternehmen — aus welchen Gründen auch immer — informative Selbstdarstellung, ist die Entwicklung des Erscheinungsbildes (Image) nicht oder nur bedingt beeinflußbar. Wird bewußt die Unwahrheit kommuniziert, zerbricht die Glaubwürdigkeit der Pressestelle als verlautbarendes Organ bei Journalisten und damit auch meist verbunden das Image. Grundlage einer konstruktiven Pressearbeit sollte eine langfristige Unternehmenspolitik sein, denn nur dadurch kann eine gezielte Pressearbeit und systematische Erforschung der Meinungsbildes erfolgen. 3.2. Das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit (Image) Als Image wird das Vorstellungs- und Erscheinungsbild von Unternehmen aufgrund kognitiver und emotiver Wertung durch die

Öffentlichkeit verstanden. Dem Image liegen oftmals keine objektiven oder differentzierten Urteile zugrunde, sondern subjektive Verallgemeinerungen, Bewertungen und Typologisierungen. Image korrespondiert eng mit der Corporate Identity (CI), dem Selbstverständnis und dessen theoretische Grundlagen und Vorgaben (wie Leitlinien, Firmenphilosophie, Führungsgrundsätze etc.). Dieses Selbstverständnis soll intern die Identifikation des Mitarbeiters mit dem Unternehmen fördern, extern auf die gesellschaftliche Akzeptanz einwirken. Das Image wird unter anderem verstärkt durch das Corporate Design (CD), der Sichtbarkeit des Unternehmens (Logo, Firmenfarben, -Schriften etc.). 3.3. Zusammenspiel der Public Relations Die Bildung des Images wird geprägt durch das Zusammenwirken von Werbung, Sponsoring, Product Placement, internen und externen Publikationen, Personal- und Pressemaßnahmen, wobei eine strategisch kommunikative Kontinuität zwischen den einzelnen Bereichen bestehen sollte, um Divergenzen im Gesamterscheinungsbild zu vermeiden. Im Konzept der Medialplanung sollten Aktivitäten und Maßnahmen aufeinander abgestimmt sein.

4.

Aufbau der Pressestelle

Die Pressestelle kann nach verschiedenen Gesichtspunkten und Bedürfnissen gegliedert werden. Eine gängige Untergliederung ist durch verschiedene Segmente (zum Beispiel Wirtschafts-, Produkt-, Unternehmenspresse etc.) oder nach Zielgruppen (zum Beispiel Lokal-, Print-, Funk- und Fernsehmedien etc.) oder nach themenspezifischer Ausrichtung des Unternehmens gegeben. Bei jeder Untergliederung, entsprechend der Größe und Struktur, sind Vermischungen denkbar und auch praktikabel. Meist sind ungeachtet der jeweiligen Strukturierungen die Ressorts Evaluation (Auswertung der Pressearbeit, Presseclipping) und das Bildarchiv (Bild-, Film-, AV-Medien etc.) beigeordnet. Über den jweiligen Ressorts steht als Koordinator und Verantwortlicher der Pressechef (PRChef, Pressesprecher, Unternehmenssprecher), der das Unternehmen nach außen hin offiziell vertritt. Oftmals sind die Funktionen Pressestellenleiter und PR-Chef in einer Person vereint. Unternehmen ohne eigene Pressestelle beauftragen oft eine PR-Agentur

156. Kommunikative Funktion von Pressestellen

(PR-Berater), die, entsprechend den Anforderungen, alle Funktionen interner und externer Kommunikation planen und übernehmen. Für Unternehmen, in denen der Firmeneigner (Firmeninhaber, Vorstand etc.) alle Funktionen in seiner Person vereint, besteht die Gefahr der einseitigen Sichtweise und der sich fast zwangsläufig daraus ergebenden Fehleinschätzung kommunikativen Geschehens. 4.1. Die Pressearbeit der Wirtschaft und Industrie Massenmedien sind heute mindestens ebensosehr auf Medienarbeit der Unternehmen angewiesen wie die Unternehmen auf die Medien. Die vom Unternehmen eingeleiteten Kontakte zu Journalisten (Agenturen und Redaktionen, auch Free-Lancern) sollten gepflegt und erhalten werden. Zu den Aufgaben einer Wirtschafts- und Industriepressestelle zählt zunächst die Pressemitteilung zu verschiedenen Themen des Unternehmens (Produktankündigungen, Bilanzpressekonferenz, Personalentscheidungen etc.) sowie die Versorgung mit Hintergrundinformationen, die Vermittlung von Interviewpartnern (vor allem bei Funk- und Fernsehen) und nicht zu einem geringen Teil die „reaktive Pressearbeit", d. h. die Beantwortung von Journalistenanfragen. Dieser Teil der Pressearbeit eines Referenten ist im Vorfeld von Messen und Ausstellungen ebenso wichtig wie deren Nachbearbeitung (Rückfragen). Dem Rezipienten (Leser, Hörer und Zuschauer) werden die vielfaltigen Tätigkeiten einer Pressestelle nicht offenbar, selbst wenn rund die Hälfte der Texte direkt in die Beiträge mit einfließen, von mündlichen Informationen oder vorgefertigten Features und Filmen ganz zu schweigen. Mittelstandsunternehmen, die oft überhaupt keine Pressearbeit betrieben, sehen langsam die Notwendigkeit der Selbstdarstellung und Positionierung gegenüber Mitbewerbern ein, zumal sich die Produkte oder Dienstleistungen immer ähnlicher und damit die Unterscheidungsmerkmale zwischen konkurierenden Firmen verwischter werden. Um in den Medien präsent zu sein, obliegt es der Wirtschaftspressestelle 'Events' (Veranstaltungen) zu suchen, zu planen und durchzuführen, wobei sie größeren Spielraum als Pressestellen von Verbänden oder Organisationen bezüglich ihrer Möglichkeiten hat (zum Beispiel Produktpräsentationen im attraktiven Ausland etc.).

1687 Grundsätzlich werden Pressestellen sämtlicher Unternehmen (auch Organisationen und Pressestellen der Öffentlichen Hand) durch die Neuen Medien vor neue Aufgabenfelder gestellt (zum Beispiel Computerdiskette, CDRom, Videotext, Internet/Netzwerke etc.). Das hat zur Folge, daß Pressestellen neue Ressorts einrichten müssen, um dem Informationsbedürfnis der Journalisten und auch einzelner (Onlinebenutzer) genügen zu können. Im Krisenfall (Unfall, Störungen etc.) ermöglichen Online-Dienste neben Fax, Btx und dergleichen eine schnelle Reaktion. Interne Maßnahmen zur Krisenkommunikation (Krisen-PR) sollten im Vorfeld geplant werden. Die Presseabteilung sollte in Abstimmung mit der Führungsebene und Fachabteilungen einen Kommunikationsplan für den eventuellen Bedarf erarbeiten (Schadenserfassung- und Begrenzung) und so eine 'Vordenkerrolle' einnehmen. 4.2. Die Pressearbeit der Organisationen und Verbände In Organisationen werden repräsentative Presseaufgaben überwiegend von Hauptgeschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern wahrgenommen. Dies ist bei zwei Drittel der Organisationen und bei fast allen Wirtschaftsverbänden der Fall, wobei die Prästentation der Organisationsführung als wichtigste Zielsetzung gesehen wird, gefolgt von der Profilierung des Vorsitzenden selbst, der sich die Rolle des Pressesprechers vorbehält. Die Pressestelle wirkt daher meist flankierend zur Führungsebene und ist ihr direkt unterstellt. Die aktive Pressearbeit überwiegt (70 Prozent), Berichte über aktive Tätigkeiten und Vorhaben werden eher kommuniziert, interne Angelegenheit und Entwicklungen werden seltener angesprochen. Pressestellen beklagen interne Probleme, insbesondere Zeit-, Personal· und Geldmangel sowie übertriebene Erwartungshaltungen der Verbandsführung. Mangelnde Abstimmung und Kompetenzabgrenzungen erschweren die Pressearbeit, zumal oft die gesamtpolitische Konzeption fehlt, was zu Widersprüchen der VerbandsPR einerseits und der PR-Linie und dem Verhalten einzelner Verbandsmitgliedern andererseits führt. Eine spezielle Aufgabe liegt bei der Information von Verbands- und Organisationsmitgliedern sowie der Redaktion der Fach- und Verbandspublikationen. Nicht selten werden auch Reden der Verbandsvorsitzenden in der Presseabteilung verfaßt.

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

4.3. Die Pressearbeit der Öffentlichen Hand

4.4. Evaluation

Die Pressearbeit von Behörden, Körperschaften, Regional- und Kommunalverbänden und dergleichen zeichnet sich durch eine kontinuierliche Kommunikation aus. Lediglich 15 Prozent der Institutionen leisten rein zufallig sich ergebende Pressearbeit. Dabei handelt es sich meist um Fachbehörden mit begrenzter Zuständigkeit. Rund drei Viertel der Pressestellenleiter nehmen regelmäßig an wichtigen Konferenzen teil und dennoch liegt ein Konfliktpotential zwischen Fachabteilungen und Pressestelle, was nicht zuletzt auf den Verwaltungsapparat und unterschiedliche Kompetenzen zurückzuführen und besonders in kleinen Institutionen (Städte und Gemeinden) zu beobachten ist. Bedingt durch die Informationspflicht von Behörden gegenüber Journalisten als kontrollierende und vermittelnde Instanz des Bürgers, reagieren die Pressestellen häufiger als sie agieren, d. h. sie treten seltener an die Kommunikatoren heran als es zum Beispiel die Pressestellen der Wirtschaftsunternehmen, Organisationen und Verbände tun. Journalisten ergreifen von sich aus die Initiative, da politische Entscheidungen und Entwicklungen von öffentlichem Interesse sind.

Bedingt durch die finanziellen Mittel, die eine Pressestelle benötigt, um den Anforderungen einer modernen Kommunikationsgesellschaft gerecht zu werden, fordert das Unternehmen oftmals eine Rentabilitätsrechnung. Dies ist schlechterdings nicht möglich. Durch Methoden der Marktforschung überprüfbar sind zwar Image und Bekanntheitsgrad, nicht aber durch Pressearbeit bedingte Umsatzsteigerungen. 'Clipping-Analysen', das Sammeln (Monitoring) und quantitatives Auswerten von Berichten (in allen Medien zum Beispiel durch Ausschnittdienste, Analysedienste elektronischer Medien etc.) als Standardinstrument der Erfolgskontrolle, sind wenig aussagekräftig. Eine positive Berichterstattung ist wichtig, Ziel einer Botschaft (Imageveränderung, Produktkenntnis etc.) aber ist der meinungsbildende Prozeß der angesprochenen (Teil-) Öffentlichkeit. Durch Mittel der Meinungsforschung läßt sich ein „Ist"-Zustand ermitteln, der auf der Basis einer Vergleichsuntersuchung für den angestrebten „Soll"Zustand notwendig ist und oftmals eine Änderung der zielgruppenorientierten Maßnahmen erfordert. Dennoch ist Erfolgskontrolle in ihrem Gesamtergebnis relativ zu bewerten.

So verfügt zum Beispiel die Bundesregierung über das Presse- und Informationsamt (Bundespresseamt; BPA) mit den Aufgaben, gemäß § 81 der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO) der Bundesregierung die in- und ausländischen Nachrichtenträger (Agenturen, Presse, Hörfunk, Fernsehen und andere Organe der öffentlichen Meinungsbildung) zu informieren. Das Presse- und Informationsamt, vertreten durch den Pressesprecher (und Chef des BPA) vertritt die Bundesregierung auf Pressekonferenzen. Das BPA wird von den Ministerien über Absichten und Maßnahmen unterrichtet, sobald eine öffentliche Erörterung zu erwarten ist (Näheres regelt §81 GGO). Das BPA bedient sich dazu hauptsächlich den Instrumentarien Pressemitteilung und Pressekonferenz (Bundespressekonferenz), vermittelt aber auch Hintergrundinformationen (zum Beispiel Bundestagsprotokolle etc.). Das BPA wendet sich auch gezielt an die Bürger ausländischer Staaten, um die Politik des vereinigten Deutschlands zu erläutern und seinen Beitrag zur Einheit Europas, zum westlichen Bündnis und zu einer friedlichen Staatengemeinschaft darzustellen. So bietet es unter anderem auch Zeitschriften, Bücher, Broschüren, Informationsstände auf Messen oder Filme in der wichtigsten Sprache an.

5.

Akzeptanz

5.1. Akzeptanz von Presse- und PR-Aktivitäten bei Journalisten Nach einer 1995 veröffentlichten Studie 'Journalismus in Deutschland' der Forschungsgruppe Journalistik der Universität Münster lassen sich vier Nutzertypen unterscheiden: Die 'PR-Praktiker', die Pressemitteilungen positiv und aufgeschlossen gegenüberstehen (25,2 Prozent), die 'PR-Skeptiker', die Pressemitteilungen skeptisch-distanziert betrachten (21,7 Prozent), die 'PR-Kritker', die der Ansicht sind, Pressemitteilungen verführten zu unkritischer Berichterstattung und ersetze die eigene Recherche (26 Prozent) und zuletzt die Gruppe der 'PR-Antikritiker', die Pressearbeit weder als überflüssig noch als verführerisch ansehen (21,1 Prozent). Je nach Ressort nimmt sich die Bewertung der Presseaktivitäten durch Journalisten unterschiedlich aus. Zusammenfassend wurde festgestellt, daß der Einfluß der Pressearbeit um so wirkungsvoller ist, je weniger Zeit den Kommunikatoren zur eigenen Recherche zur Verfügung steht.

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157. Kommunikative Funktionen der Agenturarbeit

5.2. Akzeptanz von PR-Aktivitäten bei Politikern und Parteien Ein nicht zu unterschätzendes Derivat der Unternehmenskommunikation ist der 'Lobbyismus', den hauptsächlich Wirtschaftsunternehmen- und Verbände, Organisationen (zum Beispiel der Deutsche Industrie und Handelstag, DIHT) durch Verbindungsbüros in der Bundeshauptstadt unterhalten, mit dem Ziel, früh genug auf Konsequenzen bevorstehender Entscheidungen hinzuweisen. Dies ist insofern notwendig, da rund die Hälfte aller Gesetze direkt oder indirekt Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. So versuchen Lobbyisten nicht nur mit der Exekutive und Legislative in nutzbringender Verbindung zu stehen, sondern wirken als Sachverständige und Gutachter an der Meinungsbildung mit. Ihre Branchen- und Fachkenntnisse sind von Politikern geschätzt und stellen wertvolles Hintergrundwissen bei Entscheidungsprozessen dar.

6.

Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten

Public Relations-Berufe gehören zur expandierenden Kommunikationsbranche, die eine praktische Ausbildung fordert nach dem journalistischen Grundsatz 'learning by doing'. Grundsätzlich ist nach Beschluß des Berufsverbandes für Public Relations (Deutsche Public Relations Gesellschaft, D P R G e. V.) der Zugang zu PR-Berufen offen und erfordert keine zwingend notwendigen Quali-

fikationen. Neben den tradierten PR-Gesellschaften bietet zum Beispiel die Bundesanstalt für Arbeit eine Ausbildung für Hochschulabsolventen an. Die Ausbildung wird abgerundet durch Praktika in Unternehmen, Verbänden oder Institutionen. Für die Weiterbildung von Öffentlichkeitsarbeiten! bieten Verbände und PR-Gesellschaften praxisorientierte Grundkurse und themenspezifische Seminare und Veranstaltungen an. Ebenso werden von Universitäten und Fachhochschulen journalistische Studien- und Aufbaustudiengänge angeboten, die über den Schwerpunkt Public Relations/Offentlichkeitsarbeit verfügen.

7.

Literatur

Böckelmann, Frank, Pressestellen in der Wirtschaft (Pressestellen I). München 1991. — , Die Pressearbeit der Organisation (Pressestellen II). München 1991. —, Pressestellen der Öffentlichen Hand (Pressestellen III). München 1991. Brauer, Gernot, ECON-Handbuch der Öffentlichkeitsarbeit. Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1993. Pflaum, Dieter/Wolfgang Pieper (Hrsg.), Lexikon der Public Relations. Landberg 2 1993. Schulze-Fürstenow, Günther/Bernd-Jürgen Martini (Hrsg.), Handbuch PR. Öffentlichkeitsarbeit in Wirtschaft, Verbänden, Behörden. 2 Bd. 1994ff.

Christoph H. Roland, Tübingen (Deutschland)

157. Kommunikative Funktionen der Agenturarbeit 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Grundlagen Definition Organisation der Nachrichtenagenturen Funktionen für die Agenturkunden Journalistische Qualität Literatur

1.

Grundlagen

Nachrichtenagenturen haben eine Schlüsselfunktion für alle Massenmedien: Sie öffnen den Presse- und Rundfunkredaktionen nicht nur den Weg zu Meldungen über möglichst alle aktuellen Ereignisse, sondern liefern zu diesen Grundinformationen auch ein breites

Spektrum journalistischer Ergänzungen: Hintergrundberichte, Analysen, Reportagen, Grafiken, Fotos, Filme oder Tonaufnahmen. Die Information, das klassische Kerngeschäft der Agenturen seit 1835, kann in unterschiedlichem Maße — etwa bei der sogenannten bunten Meldung - von Unterhaltung ergänzt oder überlagert werden. Nur vereinzelt haben Agenturen auch die Aufgabe übernommen, Werbung zu transportieren. Der Vielfalt des Produkts entspricht eine große Bandbreite der Bezieher von Agenturdiensten: Neben den Massenmedien gehören auch Unternehmen, Behörden, Parteien, Gewerkschaften

1690

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

und andere Organisationen zu den Agenturkunden. Ohne zwischengeschaltete Medien finden Agenturnachrichten in Online-Diensten oder im Internet auch den direkten Weg zu interessierten Rezipienten.

2.

Definition

Die Begriffsbestimmung folgt zumeist den historischen Entstehungsbedingungen der Nachrichtenagenturen: Diese halfen den Zeitungen aus dem Dilemma zwischen dem Anspruch umfassender Berichterstattung aus aller Welt und den begrenzten Möglichkeiten, eigene Korrespondenten zu entsenden. Aus der vorliegenden Literatur — die Forschungslage ist gemessen an der Bedeutung der Agenturen eher dürftig (Wilke/Rosenberger 1991, 13) — lassen sich folgende Definitionselemente ableiten: (a) Nachrichtenagenturen besetzen den Platz zwischen den aktuellen Ereignissen und den Medien, sie wenden sich nicht in erster Linie an ein Massenpublikum. Sie sind daher auch als Nachrichtengroßhändler (Minet 1977, 18) oder Zuliefererbetriebe (Höhne 1984, 129) bezeichnet worden. (b) Nachrichtenagenturen haben eine öffentliche Aufgabe (Hagen 1995, 42f.); ihre Angebote unterliegen bestimmten Qualitätsanforderungen wie Richtigkeit, Objektivität, Relevanz, Schnelligkeit und Verständlichkeit. (c) Nachrichtenagenturen entwickeln ihr Angebot weiter, indem sie auf veränderte Bedürfnisse ihrer Abnehmer reagieren (Zschunke 1994,49,233). Zusammenfassend lassen sich Nachrichtenagenturen somit bestimmen als Unternehmen, die Informationen über aktuelle Ereignisse sammeln und in Text, Bild oder Ton kontinuierlich an feste Bezieher weiterleiten. Dabei orientieren sie sich sowohl an bestimmten Qualitätsanforderungen als auch an den sich ändernden Bedürfnissen ihrer Kunden.

3.

Organisation der Nachrichtenagenturen

3.1. Rechtsformen und Typen Der Inhalt eines Agenturdienstes wird maßgeblich von der Rechtsform des Unternehmens und seiner wirtschaftlichen Stellung beeinflußt. Nachrichtenagenturen gibt es als Privatunternehmen, genossenschaftliche Zu-

sammenschlüsse von Medienbetrieben und als Staatsunternehmen. Auch Zwischenformen sind möglich wie bei der französischen Agence France-Presse (AFP) mit der Organisation einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft bei privatwirtschaftlicher Ausrichtung des Managements (Schmid 1993, 67). Eine weite Verbreitung hat das Modell der genossenschaftlichen Trägerschaft gefunden, zuerst bei Associated Press (AP) als Gemeinschaftseinrichtung von Zeitungen und Rundfunksendern in den USA, später auch bei der japanischen Kyodo, der Deutschen PresseAgentur (dpa), der Austria Presse Agentur (APA), der Schweizerischen DepeschenAgentur (SDA), der italienischen Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA) und anderen. Die wirtschaftlichen Erträge dieser derart organisierten Agenturen werden in der Regel nicht ausgeschüttet, sondern in die technischen und personellen Kapazitäten reinvestiert. Die auf Ertragsmaximierung angelegten Privatagenturen haben ihren Schwerpunkt zumeist nicht im Medienbereich, sondern in der lukrativen Belieferung von Finanzunternehmen mit aktuellen Wirtschaftsdaten. Bei der Reuters Group PLC, der weltweit umsatzstärksten Nachrichtenagentur, stammen weniger als zehn Prozent der Einnahmen von Medienkunden. Zu den Reuter-Gesellschaftern gehören aber zwei genossenschaftlich organisierte Agenturen: die britische Inlandsnachrichtenagentur Press Association (PA) und die Australian Associated Press (AAP). Auch Finanzinformationsdienste wie die Vereinigten Wirtschaftsdienste (VWD), Dow Jones, Knight-Ridder oder Bloomberg zählen einzelne Medienunternehmen zu ihren Eigentümern. Agenturähnliche Funktionen erfüllen aktuelle Informationsdienste großer Zeitungshäuser wie z. B. der 'New York Times'. Eine völlig andere Ausrichtung haben Staatsagenturen. Sie bedienen vorrangig nicht die Informationsbedürfnisse ihrer Kunden, sondern wirken als Instrument staatlicher Informationspolitik sowohl nach innen als auch in die internationale Öffentlichkeit hinein. In Ländern mit Staatsparteien beeinflußt deren Ideologie unmittelbar das inhaltliche Angebot der Nachrichtenagentur bis hin zu bestimmten Sprachregelungen. Nach dem Auseinanderbrechen des sowjetischen Machtbereichs ist die chinesische Xinhua die bedeutendste Agentur dieser Prägung geblieben. Die russische ITAR-TASS, hervorgegangen aus der sowjetischen TASS, ist zwar nicht mehr an die

157. Kommunikative Funktionen der Agenturarbeit kommunistische Idologie gebunden, hat aber weiterhin amtlichen Charakter. Zentrale Aufgabe der Staatsagenturen ist die Verbreitung offizieller Mitteilungen der Regierung. Im Interesse der Herausbildung einer nationalen Identität wurden daher auch in den meisten Ländern der Dritten Welt staatliche Agenturen gegründet. Neben den Unterschieden in der Rechtsform werden Nachrichtenagenturen nach der Ausdehnung ihres Korrespondentennetzes eingeteilt in Weltagenturen, internationale Agenturen, Regionalagenturen und Nationalagenturen (Höhne 1984, 134). Weltagenturen verfügen über ein derart großes Netz von Korrespondenten, daß sie aus eigener K r a f t eine Berichterstattung aus allen Regionen der Erde gewährleisten können. Außerdem bieten sie Nachrichtendienste in mehreren Sprachen an und sind daher auch in ihrem Vertrieb international ausgerichtet. Zu den Weltagenturen zählen AP, Reuters und AFP, ehedem gehörten diesem Kreis noch die amerikanische Nachrichtenagentur United Press International (UPI) und die sowjetische TASS an. Der Unterschied zu den internationalen Agenturen ist lediglich gradueller Art, da für diese die genannten Kriterien einer Weltagentur ebenfalls zutreffen, aber in geringerem Maße ausgeprägt sind. Zu den führenden internationalen Agenturen zählt die dpa. Klarer bestimmt werden kann die Gruppe der Regionalagenturen, die in einer bestimmten Region länderübergreifend tätig sind wie ζ. B. die ägyptische M E N A für den Nahen Osten. Die meisten der mehr als 180 Nachrichtenagenturen mit einem tagesaktuellen politischen Dienst sind Nationalagenturen, die im wesentlichen nur in ihrem jeweiligen Inland eigene Berichterstatter haben. Alle Agenturen verbindet ein vielseitiges System von Austauschverträgen, ausgenommen sind Vertragsbeziehungen zwischen direkten Konkurrenten auf dem gleichen Nachrichtenmarkt. Ein typisches Verhältnis ist etwa die Verbindung zwischen einer Weltagentur und einer Nationalagentur, wobei der kleinere Partner die internationale Berichterstattung übernimmt und die große Agentur das jeweils nationale Meldungsangebot auswertet. Große nationale Agenturen wie die APA haben die Dienste vieler internationaler Agenturen abonniert und können so eine Synopse aus dem Gesamtangebot zusammenstellen. Unterschieden werden Nachrichtenagenturen ferner nach ihrer inhaltlichen Reichweite: Während Universalagenturen das gesamte

1691 aktuelle Geschehen aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und dem sogenannten Vermischten abdecken, konzentrieren sich Spezialagenturen auf ein bestimmtes Thema. Zu nennen sind hier etwa in Deutschland der Evangelische Pressedienst (epd) und die Katholische Nachrichten-Agentur ( K N A ) sowie der Sport-Informations-Dienst (sid). 3.2. Redaktionsstrukturen Die Voraussetzungen für einen gleichmäßigen aktuellen Nachrichtenfluß sind erstens ein reibungslos funktionierendes System von Korrespondenten vor Ort, Außenbüros und Zentrale und zweitens die technischen Kapazitäten zur ständigen internen Vernetzung dieses Systems sowie zur Übermittlung des Nachrichtendienstes an seine Bezieher. Die Außenbüros im Inland oder im Ausland haben die Aufgabe, die Entwicklungen in ihrer Region kontinuierlich zu beobachten und die Berichterstattung über aktuelle Ereignisse zu gewährleisten. Sie sind es vor allem, die Selektionsentscheidungen treffen und die Korrespondenten oder freien Mitarbeiter dementsprechend einsetzen. Die Außenbüros stimmen sich dabei mit der Zentrale ab, teilweise geschieht dies regelmäßig über tägliche Telefonkonferenzen. Die größeren Außenbüros redigieren bereits die Texte ihrer Korrespondenten, bevor sie in der Zentrale umgeschlagen werden. Ein erheblicher Teil der Redigierarbeit ist ansonsten in der Zentrale zu leisten. Dort trifft ein Schichtleiter für die verschiedenen Ressorts die letzte Entscheidung, ob eine Meldung in der vorliegenden Form gesendet wird. Dessen Arbeitsplatz nach der angloamerikanischen Agenturfachsprache Slot genannt — ist die eigentliche Schaltzentrale des fortlaufenden Nachrichtendienstes (Zschunke 1994, 213-218). Der Schichtleiter gibt auch Anfragen aus den Redaktionen der Agenturkunden an Außenbüros oder gegebenenfalls an die Chefredaktion weiter. Ein erheblicher Teil der Agenturarbeit in den Außenbüros wie in der Zentrale besteht in der Sichtung eingehender Pressemitteilungen, der Prüfung von Vorabmeldungen der Medien sowie in der Auswertung von anderen Agenturdiensten, deren Meldungsangebot zur Ergänzung der eigenen Berichterstattung bezogen wird. In den nationalen Vertretungen der Weltagenturen mit einem eigenen Nachrichtendienst in der jeweiligen Landessprache (ζ. B. die deutschen Dienste von AP, Reuters, A F P ) besteht neben der eigenständigen Nachrichtensammlung im Inland ein

1692

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Auslandsressort, in dem das oft mehrsprachig eintreffende internationale Meldungsangebot für den Dienst in der eigenen Sprache aufbereitet wird. In der Gegenrichtung werten die für den Weltdienst tätigen Korrespondenten neben eigenen Recherchen den Inlandsdienst aus.

4.

Funktionen für die Agenturkunden

Die zentrale Leistung der Nachrichtenagenturen besteht im preiswerten Angebot aktueller Texte — preiswert verglichen mit den Kosten für die Eigenproduktion: auf den Bezug von Agenturdiensten entfallen durchschnittlich weniger als fünf Prozent der Redaktionskosten (Höhne 1995, 22). Die Bedeutung der Agenturen für die Massenmedien erschöpft sich aber nicht in dieser „Rationalisierung der Nachrichtenbeschaffung" (Blum 1995, 11). So geben Nachrichtenagenturen auch wertvolle Orientierungshilfen in der Informationsflut. Ihre Gewichtung von Ereignissen beeinflußt die Rangordnung, die die Nachrichtenthemen des Tages in den Redaktionen erhalten. Die Tatsache, daß sich die Agenturen beim 'Agenda-Setting' wiederum an anderen Leitmedien orientieren, bedeutet keine Abschwächung dieser Funktion, sondern erhöht eher ihren Wert: Die Strukturierung der Themenvielfalt seitens der Agentur ist keine beliebige, sondern entspricht gewissermaßen der volonté générale der Massenmedien. Die Informationsflut kann auch in der Form eingedämmt werden, daß sogenannte Selektionsdienste angeboten werden: der Agenturkunde erhält dann nur Informationen zu den ihn interessierenden Themen. Die Kanalisierung des nie abreißenden Nachrichtenflusses setzt stets an der einzelnen Meldung an. Eine entscheidende Kompetenz des Agenturjournalisten besteht darin, die Relevanz einer Nachricht sachgerecht zu beurteilen und die Berichterstattung entsprechend zu gestalten. Bei der Fülle eingehender Meldungen muß die Einschätzung der vorliegenden Nachrichtenwerte in kürzester Zeit erfolgen; Entscheidungen werden fast schon reflexartig getroffen (Wilke/Rosenberger 1991, 200). Je nach Bedeutung eines Ereignisses oder Themas bieten die Agenturen den Beziehern ihres Nachrichtendienstes Ergänzungen zur Kernberichterstattung an: Begleitende Hintergrundberichte oder Reportagen, Fotos und Grafiken. Zunehmende Bedeutung wird die Aufgabe erhalten, diese Produkte mit teilweise

sehr unterschiedlichen Entstehungsbedingungen so zu koordinieren, daß die Agenturkunden Text, Bild und Grafik — sowie gegebenenfalls auch Ton und Film — mühelos aufeinander beziehen können. Daneben schließt die Servicefunktion der Agenturen auch die Beantwortung kurzfristiger Anfragen ein. Neben der fortlaufenden Belieferung mit aktuellen Texten und Bildern ermöglichen Nachrichtenagenturen auch den Zugriff auf ihr elektronisches Archiv. Die Online-Recherche in den Datenbanken der Agenturen steht zumeist auch denen offen, die keine Agenturkunden sind. Damit ergeben sich fünf Hauptfunktionen der Nachrichtenagenturen: (a) Versorgung mit aktueller Information (b) Versorgung mit unterhaltsamen Textoder Bildformaten (c) Strukturierung der Themenvielfalt (d) Serviceleistungen für Redaktionen (e) Aufbereitung von Informationen in elektronischen Datenbanken

5.

Journalistische Qualität

Dem Anspruch umfassender, aktueller und objektiver Berichterstattung stehen im Alltag der Nachrichtenproduktion Sachzwänge wie Zeitdruck oder Konkurrenzsituation entgegen. Spannungen bestehen zwischen Zielvorgaben: Schnelligkeit/Richtigkeit (aufgelöst in der klassischen Forderung: „Get it first, but first get it right!"), Genauigkeit/attraktive Darstellung oder Vollständigkeit/knappe Darstellung. Bezogen auf ein Optimum journalistischer Qualität haben Agenturnachrichten traditionell kein gutes Image. Verzerrte Darstellung der Realität, fixiert auf Negativismus und Superlative, Verlautbarungsjournalismus, überdurchschnittlich viele sachliche Fehler, mit Klischees überfrachtete Sprache, mangelnde Recherche, Nachrichten aus zweiter Hand — so oder ähnlich lauten die Vorwürfe, wobei in Anbetracht der Fließbandproduktion von Agenturnachrichten an Beispielen kein Mangel ist. Die Empfehlung, eine geringere Aktualität zugunsten gründlicherer Recherche in Kauf zu nehmen (Hagen 1995, 283f.), kommt einem Teil der Agenturkunden bis zu einem gewissen Grad sicherlich entgegen (etwa in einer Zeitungsredaktion am Vormittag). Mit Blick auf die elektronischen Medien sowie die Akteure in Wirtschaft und Politik müssen Agenturjournali-

158. The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects

sten aber auch künftig wesentliche Zielgrößen gleichzeitig vor Augen haben: — Richtigkeit — Annäherung an Objektivität im Sinne von wertfreier Darstellung beobachtbarer Realitäten — Schnelligkeit — Verständlichkeit — Relevanz Die Beherrschung des sogenannten Nachrichtenhandwerks allein reicht nicht mehr aus, um den Anforderungen gerecht zu werden, die sich bei der Erfüllung aller fünf genannten Funktionen der Agenturarbeit stellen. Nötig ist eine professionelle Ausbildung von Agenturjournalisten. Und wichtig ist eine adäquate personelle Ausstattung der Agenturredaktionen: Mit Blick auf ihre eingangs genannte Schlüsselrolle ist erforderlich, daß profunde Sachkompetenz in wesentlichen Disziplinen (wie internationale Beziehungen, Sozialpolitik, Ökologie oder Volkswirtschaft) die Nachrichtenagenturen bei einer möglichst optimalen Wahrnehmung ihrer kommunikativen Funktionen unterstützt.

6.

Literatur

Blum, Roger, Die blinden Augenzeugen. In: Die AktualiTäter. Nachrichtenagenturen in der Schweiz. Hrsg. v. Roger Blum/Katrin Hemmer/Daniel Perrin. Bern/Stuttgart/Wien 1995. Fenby, Jonathan, The International News Services. A Twentieth Century Fund Report. New York 1986.

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Hagen, Lutz M., Informationsqualität von Nachrichten. Meßmethoden und ihre Anwendung auf die Dienste von Nachrichtenagenturen. Opladen 1995. Höhne, Hansjoachim, Report über Nachrichtenagenturen. Neue Medien geben neue Impulse. Baden-Baden 1984. — , Wenig Spielraum. In: journalist 4/1995, 19—23. Minet, Gert-Walter, Nachrichtenagenturen im Wettbewerb. Köln 1977. Resing, Christian/Hansjoachim Höhne, Die Nutzung von Nachrichtenagenturen durch Tageszeitungen. In: Zeitungen '93. Hrsg. v. Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger. Bonn 1993, 276—311. Schenk, Ulrich, Nachrichtenagenturen als wirtschaftliche Unternehmen mit öffentlichem Auftrag. Mit einer kritischen Würdigung des ddp. Berlin 1985. Schmid, Sigrun, Weltagentur auf dem deutschen Nachrichtenmarkt: Agence France-Presse (AFP). In: Agenturen im Nachrichtenmarkt. Reuters, AFP, VWD/dpa, dpa-fwt, K N A , epd, Reuters Television, Worldwide Television News, Dritte WeltAgenturen. Hrsg. v. Jürgen Wilke. Köln/Weimar/ Wien 1993, 57-105. Wilke, Jürgen/Bernhard Rosenberger, Die Nachrichtenmacher. Eine Untersuchung zu Strukturen und Arbeitsweisen von Nachrichtenagenturen am Beispiel von AP und dpa. Köln/Weimar/Wien 1991. Zschunke, Peter, Agenturjournalismus. Nachrichtenschreiben im Sekundentakt. München/Konstanz 1994.

Peter Zschunke, Frankfurt a. M. ( Deutschland)

158. The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Introduction News as product and as discourse Scheme for analysis The structure of news stories Language and Representation Domains and Registers Representation of Texts and Speech Addressing the Reader Bibliography

1.

Introduction

In recent years, the language of newspapers has become an important object of study for linguists and discourse analysts; the methods

and results of these studies provide models for work on other genres of media discourse and on public language more generally. Newspapers have attracted linguistic analysis because of their inherent social and political importance, mediating a society's dominant values for a vast mass readership; and because they constitute a major part of the reading practice of individuals, many of whom read little else on a daily basis. For the analyst, newspaper discourse offers a striking challenge. A newspaper is multimodal, a complex contruction of words, typographic choices, and images; and it is heteroglossic,

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containing a range of distinctive registers which interrelate in complex ways. But there is always a tendency towards monologism, the striking of the individual accent in which each newspaper voices its specific view of the world. — The multimodality and the complex significance of the newspaper text are matched by a multiplicity of approaches by analysts. The linguistic study of newspapers has drawn on a variety of models of analysis. The present paper is an introduction to some of these, reviewing some existing studies and marking out an agenda for future work which may display greater depth and broader scope.

2.

News as product and as discourse

2.1. The linguistic study of news discourse accepts and builds on the basic premises of modern media studies. Central among these is the axiom that news is not a reflection of or a window on objectively preexisting events and facts, but a construct and a product. As G. Philo puts it, "'News' on television and in the Press is not self-defining. News is not 'found' or even 'gathered' so much as made. It is a creation of a journalistic process, a commodity even" (Philo 1983, 135; Hall 1978, 53). News is the product of commercial institutions, and it is a construct formed by a considerable range of circumstances and practices which guide its production. There is nothing unusual or original in these assumptions: linguistics did not establish the constructed nature of news, but it needs these premises, and, in assuming them, integrates well with media studies which utilize other disciplines. The ways in which news gets constructed in the manufacturing process are generally agreed. Selection is first determined by the commercial and political interests of the news manufacturing industry. Newsworthiness is also determined by a set of implicit 'news values' (Galtung/Ruge 1965) which select, interpret and weight potential news stories according to the desires, values and conventions of the prevailing culture. News values are a part of 'gatekeeping' procedures by which stories are admitted or rejected, including for example conventions of 'access' by which the voices of certain individuals with culturally prominent roles can expect and be expected to be heard. Gatekeeping is also effected by news-gathering procedures: the papers' reliance on news

agency services and on other media, and the preferred sites, people and occasions habituated by reporters (Whitaker 1981, 31f.). And when the news story is admitted through the gate, the processes of construction are not completed. The chosen stories in their source textual forms are subjected to change through editing (Bell 1991) and through the influence of the currently changing technologies used during editing. Most of these processes which affect the news as product and as construct have been amply researched and discussed (Altheide 1974; Bell 1991; Epstein 1973; Fishman 1980; Gans 1979; Schlesinger 1987; Tuchman 1978). 2.2. The news product has its material and semiotic existence as text in the case of a newspaper, the text is predominantly language literally construed (words and sentences), with also signifiers from other systems: photos, cartoons, maps, diagrams, layout, colours, etc. But van Dijk and Bell have pointed out that not only is the end-product text, its antecedents are largely other language, and it has been formed by complex linguistic processes in the newspaper office. See van Dijk 1988b, 126-128; Bell 1991, 57 for lists of typical textual sources. These linguistic sources are subjected to complicated and thorough editorial changes as they are revised toward their final form: changes which aim at economy, at the maximization of news value, at an appropriate style in relation to the type of readership envisaged. Thus the final text on sale at the street corner has a rich intertextual archaeology. Note here that the sources are socially positioned, and the editorial processes are socially motivated, so the final news text is likely to bear the imprint of its origins and of its editorial transformations in the social values it conveys. Thus the sources, the formation processes, and the final text of a newspaper can be seen as constructed by, and articulating, a rich social semiotic. The newspaper text contains layers of beliefs, values, prohibitions, it is a discourse in the sense in which linguists have adapted that term from Foucault (Cook 1994, Kress 1985).

3.

Scheme for analysis

Approaches to news discourse may be distinguished as macrostructural and microstructural.

158. The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects

3.1. The macrostructural approach is concerned with the topical, thematic or narrative structure of the news story as a whole. It is summarized first in this paper (section 4) because it provides a framework for more detailed and local microstructural description. 3.2. A greater body of linguistic work on news discourse has been microstructural. 3.2.1. There has been much concern, particularly in critical linguistics, with the language of the news as representation, that is to say with the way in which the structure of language conveys a particular — partial, interested - view of the world (section 5). 3.2.2. Other analysis of news language has been concerned with style in the sense of characteristic sociolinguistic patternings such as register (section 6); in this area we also treat the representation of speech and text (section 7). 3.2.3. News language analysts often distinguish style from rhetoric. The latter is regarded as the persuasive dimension of news language, depending on a congenial mode of address towards an envisaged reader, and the devices for evaluating a story in terms of newsworthiness and credibility (section 8). Playful or literary linguistic features and decorative and persuasive layout are also included under rhetoric.

4.

The structure of news stories

News stories are a distinctive — some would say peculiar — genre of narrative with their own conventions for telling. Besides the main part of the narrative, there are other obligatory elements including the headline(s) and the 'lead' — an opening paragraph which summarizes the story and establishes its point; there are details of place and setting and of the persons involved; a sequence of episodes delivered in 'instalments' which are not usually chronologically arranged; there may well be an attribution to a source — agency, reporter or spokesperson; there are indications of newsworthiness. 4.1. The above is merely an informal and impressionistic note on news story structure. If, as seems intuitively to be the case, news stories are conventionally structured, a more formal model is required. — One set of de-

1695

scriptive terms which has been applied to news stories is taken from the analysis of another genre, oral narratives of personal experience. The study of 'natural' (non-literary) narrative was pioneered by the sociolinguist W. Labov (see Labov/Waletzky 1967; Labov 1972). Labov handles the structure of oral stories through six components, some (the first, and the last two) optional, occurring roughly in the order listed. We may use these to help us think about the components of news stories (cf. Bell 1991, 148ff.). They are: Abstract (an opening summary indicating the point of the story: directly comparable to the headline and lead in a news story); Orientation (the setting, specified in terms of the people taking part, the location, the time of the main or opening event; always detailed in a news story); Complicating Action (the sequence of events developing the Abstract; the body of the news story); Evaluation (establishing the tellability of the story, the newsworthiness of news according to some set of criteria as the news values of Galtung and Ruge (1965); usually dispersed throughout a news story — see section 8 below); the Resolution of the action, not relevant to news stories, which do not climax; and an optional Coda or tail-piece to 'sign off', usually not found in news. 4.2. Labov's categories may be used to illuminate some aspects of news discourse, but they derive from a different genre. T. van Dijk (1988b) attempts a more structured scheme tailored to the schematic conventions of news story-telling. According to van Dijk, a news story has a hierarchical superstructure akin to the constituent analysis of individual sentences (the influence of the French linguistic structuralism of the 1960s is evident here). He provides a tree-diagram for the structure of a news schema (1988b, 55), in which a NEWS REPORT consists of a SUMMARY plus a STORY, the SUMMARY consists of a HEADLINE plus a LEAD; the STORY consists of SITUATION plus COMMENTS, the SITUATION consists of EPISODE plus BACKGROUND, and so on. The full scheme allows the content components of a news story to be labelled as instances of schematic categories, and related in the form of a hierarchical constituent structure. Like the phrase markers for sentences in early TG, these 'underlying' constituent structures are mapped onto actual sequentially arranged texts by ordering rules. The nature and application of these schematic textual processes is

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discussed in detail in van Dijk 1988b; more empirical support is provided by a volume of case studies based on analysis of 729 articles from 138 newspapers published in 72 countries (1988a). 4.3. Parenthetically: the question should be raised how the newspaper reader processes schematic textual structures in news stories. The process of comprehension clearly involves the deployment of background knowledge. A good deal of relevant knowledge would appear to be ad hoc and fortuitous, e. g. information on ongoing events in the world of the news — what happened yesterday and last year, etc. Such knowledge would not be random: it would be collected and stored in terms of the frames and scripts postulated in cognitive theories of text processing (Minsky 1975; Schank/Abelson 1977). Other more general types of schematized knowledge would be relevant: scripts of narrative structures in general, story grammars as in psycholinguistics and AI, the Labovian 'natural narrative' schema, the more specific news schema of van Dijk — the descriptive validity of the latter (and it seems intuitively illuminating) would entail that it has some status in the cognitive representations of newspaper users. These issues are beyond the scope of the present paper. 4.4. To return to news schemata in text description. Although van Dijk envisages microstudies of style and rhetoric as complementary to this larger-scale treatment of thematic and narrative structures, he does not show how the words and sentences of the text are derived from the more abstract components of the news story. Nor is this a simple matter (in fact, the relating of thematic and narrative 'deep structures' to sentential and lexical 'surface structures' is one of the central problems of any theory of text grammar). As a first move, we can extend a van Dijk-type constituent structure 'downwards', and this is what Bell does. He takes van Dijk's Episodes down into smaller Events (so that in effect a section of the story consists of a chain of individual happenings and actions); and the nuclear constituents of Events are Actors, Setting and Action (Bell 1991, 171) — plus other constituents, largely evaluative and contextual. Although these 'ultimate constituents' of news story structure are not pieces of actual text, they do match linguistic units - especially Noun Phrases, Verb

Phrases, Adverbs and Prepositional Phrases which express them. A basic and simple part of the analysis of news as representation (section 5) is the collection and analysis of such phrases. 5.

Language and Representation

A newspaper is a construction of a world, not a reflex of a world: it is a representation. The sources and the textual practices are not visible to the reader, and may be only partly visible to the analyst, because the sources are ephemeral and the evidence of editing usually gets dumped in the waste bin, or becomes irretrievable in the continuous transformation of word-processing. Even Allan Bell, a working journalist, could muster scant evidence of the constructive processes of editing. It is a priority to find a cooperative newsroom ready to give linguists access to sources and editorial changes. Research to date has had to restrict itself to linguistic analysis of the finished news text, against the background of the assumptions sketched in 2. above. 5.1. Two related schools of linguistics have concentrated on the ways in which newspaper discourse constructs a partial and interested representation of the world: critical linguistics (Fowler/Hodge/Kress Trew 1979; Kress/Hodge 1993; Fowler 1991) and critical discourse analysis or CDA (Fairclough 1995a, 1995b). The latter is concerned with the social and ideological positioning of texts, the former focusses more on the analysis of linguistic structure, and we will concentrate on the former — critical linguistics. Critical linguistics is eclectic in its methodology, but takes its principal tools from the functionalsystemic linguistics of Μ. A. K. Halliday (Halliday 1978; 1994). In Halliday's linguistics, 'The particular form taken by the grammatical system of language is closely related to the social and personal needs that language is required to serve' (1970, 142). Choices of wording and structure are made in accordance with the social context and the personal purposes of utterance or writing, so language is a kind of 'socialsemiotic' in the words of the title of Halliday's 1978 book. A language is a system for expressing meanings, and in Halliday's view these meanings are primarily social in origin and function. We can see that the account of the social origins of news discourse given above is entirely

158. The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects

compatible with this functional-semiotic linguistic theory. The way a news story is worded reflects the context of its production, its intended readership, and the news values which legitimate it. Now the newspaper analyst knows, because s/he can compare accounts in two papers, that wordings can differ radically in different publications, amounting to different representations of the world. Critical linguistics applied to news discourse attempts to demonstrate how structures of language contribute to differently accented representations of the world of news. — Limited space prohibits detailed demonstration, but let us just mention and illustrate informally two areas of structure in Hallidayan linguistics which have been powerfully insightful in the critical linguistic analysis of newspapers: lexical categorization and transitivity. — It is to be understood that the input to such analysis is a linguistic description of the noun, verb and adverbial phrases which lexicalize the participants, processes and circumstances which constitute events, as identified in 4.4. above. 5.2. First, lexical categorization. A generally accepted principle of cognitive psychology is that human beings live in a categorized world: that they experience phenomena not as isolated data but as instances of categories that are established in long-term memory, whether as a result of natural disposition (e. g. colours, shapes, logical relationships) or socialization (kinship, plant taxonomies). The work of E. Rosch has been most influential in consolidating and testing this hypothesis (Rosch/Lloyd 1978). Rosch's research has always connected categorization intimately with language, and so has Halliday, coming from a different direction: a major factor in the representational function of language is what he calls the 'taxonomic organization of vocabulary' (1971, 335). It has long been recognised that the vocabulary of a language, and the mental lexicons of speakers, are structured systems. The categories in terms of which we experience the world are mapped on to the structures of the lexicon, so vocabulary organization helps to structure the world. These principles are further explained and illustrated in Fowler 1991, Ch. 3. Now it is clear that not all language users, and not all types of text, share the same vocabulary, and lexicons may differ in their systems of categories depending on special interests and topics - and on the view of the world established in a speaker or in a discourse. Critical

1697

linguistics has studied the vocabulary systems found in newspapers as evidence of distinctive or revealing ways in which they may categorize experience. For example, the ways in which people are categorized are of great interest, particularly since personalization is a major news value — the presentation of stories in terms of people rather than issues or events. Newspapers are full of references to people, and the references characteristically include category labels: mother-of-two Jean Smith, Prime Minister John Major, etc. Just what kinds of people are mentioned, and how they are referred to, give a good indication of the newspaper's overall view of the contents of the human world. In England, a tabloid newspaper is likely to be full of references to people from the worlds of entertainment and sport, while a broadsheet refers much more extensively to politicians, experts, professionals, and artists: and each reference is carried by its appropriate categorizing noun phrase. The occupational, gender and family roles in terms of which people are categorized (lawyer, lady, mother), and the title and name forms in which they are mentioned (Mrs, James, Brown), give more specific indication of the newspaper's position on such sensitive issues as ethnic and gender representation. In this connection it should be noted that the effect of repeated category labels in newspapers is stereotyping, the treatment of individuals as clear, firm and unambiguous examples or paradigms of human values or activities which are negatively or positively valued in the culture (see Fowler 1991, Ch. 6). - Labelling is also significant in the way newspapers handle events which are inherently ambiguous. Comparisons between papers, or between episodes in stories reported over a long period, can reveal that the same state of affairs can be interpreted for readers as entirely distinct phenomena. An excellent example was the salmonella-in-eggs 'affair' (one hardly knows what noun to use here!) which received hysterical coverage in the British Press for months in 1989—90 (see Fowler 1991, Chs. 9—10). The topic was referred to variously as [the] salmonella outbreak, controversy, warning, poisoning, crisis, epidemic, danger, infection, scare, cases, problem, scandal, threat, affair. The very different interpretations offered by these representations are very obvious. 5.3. Transitivity has an idiosyncratic meaning in Halliday, but once understood yields a

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powerful tool for analysis. Transitivity concerns the types of processes in a clause — actions, states, relations, etc. - and the kinds of participants that go with these processes - actors, patients, experiencers, objects, beneficiaries, and so on. Transitivity is the grammar of 'Who does what to whom', 'Who experiences what', 'What states occur'. The same event may be encoded in quite different transitivity structures, and these are prime indicators of the newspapers' views of action and responsibility, UNREST ON STREETS, RIOTING

YOUTHS R U N

AMOK

and

POLICE

QUELL

view the same situation in quite different ways. The classic example of transitivity analysis of the Press is Trew (1979a; 1979b), and further work of this kind appears in Fowler 1991, Ch. 8. A clear introduction to the method with a literary application is Burton 1982. RIOT

5.4. Lexical categorization and transitivity are parts of the 'ideational' (otherwise 'experiential' or 'representational') function of language in Halliday. The other two functions, the 'interpersonal' and the 'textual' have also been drawn on in newspaper analysis, or, they offer potential for such analysis. Areas of the interpersonal in which critical linguistics and critical discourse analysis have been applied to newspaper discourse include deixis, modality and various more sociolinguistic topics such as accommodation and register.

6.

D o m a i n s a n d Registers

6.1. One major feature of newspaper discourse according to J. Hartley (1982, 81) is that it assumes society to be 'fragmented into distinct spheres — sport, politics, family life, etc.' Other spheres which are important in newspapers include entertainment, crime and the law, health, finance, sex, food and drink, travel, leisure, overseas affairs; in many papers they are separated into distinct, often headed, pages or sections. These 'spheres' may be called domains. The division into domains is part of the process of categorization: domains offer a stable, organized, map of the world, a set of compartments each of which has its typical events and objects, and in which people are reported as performing stereotypical actions: marrying, making hit records, buying stocks and shares, going on package holidays, rioting in the streets, and

so on. Each domain has its characteristic technical vocabulary marking the cognitive categories, frames and scripts in terms of which it is represented; so domains are marked semantically. Thus a newspaper presents a picture of a rich and plural world, various but not chaotic or difficult to understand; and the world will be different according to the readership targeted by the paper. 6.2. Because a newspaper embraces a repertoire of distinct domains, its discourse embodies a range of different registers in the sense of Halliday Mcintosh and Strevens 1964 and Halliday 1978. A register is a variety of language distinguished according to the use to which language is put: classic theory speaks of registers of science, advertising, religion, law, etc., but these are broad and crude distinctions - finer ones are possible. The characteristic structures of a register depend on three variables in the context: the subject or associated acitivity (the field), the relationships between participants which are implied (the tenor), and the channel used and the way it is arranged (the mode). The domains in the newspaper's represented world are different 'fields' from the point of view of register theory; and indeed we would expect the finance, gardening and sports sections to be written in characteristically different styles. In addition, the different domains evoke different tenors: gardening, travel, cookery and the like often foreground the actions and recommendations of an Τ and the options for a 'you' (the actual reader). There are typical modes, too — tables of fixtures and results in sports, listings of investment performances in finance, maps in weather, and so on. Descriptions of registers in newspaper domains would be very valuable, together with accounts of their intertextual kin in other genres of writings outside the newspaper. 6.3. Although a newspaper includes discourse in numerous domain-specific registers, it is not, as some plural texts are, heteroglossic in the sense used by Bakhtin (1981). There is no sense that the special registers address one another, rub shoulders in a dialogic way: each is contained in a separate section - and usually all the features sections are placed at the back of the paper, or collected in a distinct, magazine-like, part. In this way, domain-specific registers are kept away from the 'news' pages of the paper. The news pages

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are in fact quite the reverse of heteroglossic; they display a uniformity of style, the style of the newspaper, which I would like to call mimologie. 7.

R e p r e s e n t a t i o n of Texts a n d S p e e c h

As we saw in section 2.2. above, the sources of news texts are predominantly other language: agency copy, press releases, public speeches, interviews, narratives by witnesses, official reports, etc. The sheer diversity of these sources in terms of register, mode (spoken or written), local dialect or standard language of speaker, is striking. However, in order to preserve the consistency of the newspaper's style, its monologic accent, the plurality of the source texts has to be reduced by accommodating them in the idiom of the paper concerned — that of the news pages, as opposed to the features, anyway. Source texts for news may not be acknowledged: some may just silently form the basis of the paper's narrative news report, and this is particularly the case where the paper sees no reason to doubt or disagree with the news source. But speeches and texts are often the subject of news report, and here of course they are explicitly acknowledged. A surprisingly large number of news stories contain reports of speech or text. The front page of the Independent for 12 January, 1996 has as its main story a report of a political lecture by Lady Thatcher, the Tory ex-prime Minister of Great Britain: Thatcher strikes at heart of Tory unity. Then an account of Chechen rebels holding hostages and surrounded by Russian troops refers to demands and statements by the rebels' leader, Salman Raduyev. The next story down, headlined Heseltine admits hospital crisis, is about a British Medical Association report on the shortage of hospital beds, and also refers to comments by the Deputy Prime Minister, Michael Heseltine. Finally, Bosnia's children given £ 114,000 of hope quotes comments from three officials of charities which will benefit from a Christmas appeal on behalf of the children of the former Yugoslavia. — Even in this one random page, there is a considerable variety of formats for reperesenting speech and comment. These include direct quotation: ' "It's a tremendous boost to our efforts and we're delighted that Independent readers were so supportive of the campaign," he added' (note the hint of colloquialism); indirect report: ' "A Welsh G P was

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told earlier this week that there were no acute beds in the whole of South Wales [...]" '; summary in a phrase, with an interpretation: 'delivering a contemptuous dismissal'; one-word summary: 'blast'. As for speech-reporting verbs and their derived nomináis, some are neutral — said, added — but in the report of the Thatcher speech, there is a plethora of interpretive verbs and nomináis simultaneously reporting and commenting on speech acts: uncompromising statement, devastating critique, acknowledged, suggested, complain, declared, praise, assertion, etc. Such instant reports of speech acts, with or without interpretive adverbs or adjectives, are a common feature of news discourse, and a significant way in which the paper indicates its view while reporting another's statement. - Even the above mere handful of examples illustrates the variety and complexity of speech- and text-reporting devices in newspapers. A descriptive scheme for categories of speech and text representation would be valuable, and though this has not been developed for news discourse itself, the representation of speech has been extensively studied in literary criticism. A very practical, linguistically oriented, account is available in Leech and Short 1981. — The fundamental importance of speech report for the analysis of ideology has been demonstrated by M. Bakhtin, who makes it clear that a writer who sets down or quotes another's speech is entering into a dialogue with their point of view (Bakhtin pseud. Voloshinov 1973).

8.

Addressing the R e a d e r

8.1. It is a commonplace of media analysis that media discourse aims at an audience: an audience or readership that is unknown, but quite sharply envisaged. The source's perception of typical addresses has an effect on the nature of the language used, an effect which is obvious in, for example, the modes of address used in the various types of radio station heard in European countries (pop, classical, news, phone-in). The radio presenter, an individual personal voice speaking to an individual listener, uses direct address (the pronoun you, interpersonal speech acts such as questions and commands, and so on) and an appropriate sociolinguistic register. Direct nomination of the reader occurs infrequently in the Press — in signed feature and commentary articles, sometimes in editorials and in

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hysterical appeals such as 'Would you like to pray with a gay priest?'. But although the accenting of the discourse to the addressee is harder in the Press than in the spoken media, there are strategies for doing so. 8.2. One cluster of strategies involves what is known in sociolinguistics and social psychology as accommodation. This is the process of adjustment of the speaker's manner of address in relation to his or her perception of the addressee, a complex process of change in the dynamics of conversation (Giles/ Powesland 1975). Accommodation typically involves convergence towards the addressee's way of speech, but may alternatively aim at divergence, a standing apart through language. Convergence seems to be the rule in media language: research into phonological features of radio broadcasting shows that persenters use measurably more informal pronunciations in stations which primarily address lower class, less educated, and younger listeners (Bell 1991, Ch. 6). As far as newspapers are concerned, the followed classic hypothesis of (in our terms) convergence has been made by S. Hall: 'Of special importance in determining the particular mode of address adopted will be the particular part of the readership spectrum the paper sees itself as customarily addressing. The language employed will thus be the newspaper's own version of the language of the public to whom it is principally addressed: its version of the rhetoric, imagery and underlying common stock of knowledge which it assumes its audience shares and which thus forms the basis of the reciprocity of producer/reader. For this reason we want to call this form of address — different for each news outlet — the public idiom of the media' (Hall 1978, 61). - Hall's claim should not be taken too literally! It is not being suggested that Sun readers actually talk 'Sunspeak' or that the Guardian is a reliable source of evidence for the language of its readers. Each paper makes certain moves of convergence toward what it sees as a mode of discourse acceptable to its readership. At least there is evidence of correlations between discourse and envisaged readership. For example, Bell (1991, Ch. 6) reports research on determiner deletion (which produces phrases like superstar Cher, newsagent's manager Martin Gilbert, Defence Secretary Michael Portillo (all from Sun, January 6, 1996)). Several studies show that the deletion of articles in such phrases distinguishes popular from seri-

ous radio stations, tabloid from broadsheet British newspapers, American from British newspapers, and that it has become more common in the popular Press over the course of this century. These are correlations with assumed class and education; and the deletion seems to connote modernity, populism, and journalistic raciness. In other areas of language, accommodations in relation to similar parameters occur. Vocabulary differences present an obvious case: it has long been observed that the British tabloids favour a demotic, low-register lexis {bonk, chief, blast, boss, dishy, boobs, flutter, etc.; Taylor 1991) whereas the broadsheets use a more bookish and elevated lexis. The following quite ordinary sentence from the Guardian (10 January, 1966) would be unlikely to appear in the Sun\ 'But the zander's migration has not been welcomed by anglers, who blame its predatory instincts for depleted fish stocks'. — No doubt the syntax of the broadsheets is also suitably middle-class, but detailed research would be needed to test that intuition. 8.3. The second major strategy for audienceaddress in the press has been called the oral model (Fowler 1991, Ch. 4) or conversationalization (Fairclough 1995b). Although newspapers use a printed medium, they affect an oral style: certain linguistic features are exploited to hint at the illusion of a speaking voice aimed at the reader, and therefore, a recognition of the reader. A list of features used in this way to simulate speech is provided in Fowler 1991, 62—65. (The more popular the paper, the further it goes in this direction.) A number of functions could be suggested for this appearance of orality or conversational style. One would be that it serves to temper the essential formality of a printed text. Again, the reasons could be found in the realm of solidarity, an imagined speaking voice appearing to side with, share interests with, the reader. It has also been suggested that the illusion of conversation helps to foster consensus. Berger and Luckmann (1976) have argued that the meanings of conversation, because casual and unexamined, are of prime importance in sustaining communal, commonsense values; see also Halliday 1978. 8.4. I have space to refer only briefly to three other rhetorical features which merit considerable attention in future linguistic and

158. The language of newspapers: communicative and aesthetic aspects

semiotic studies of news discourse. The first is the rhetoric of evaluation for significance and crddibility. One aspect has been noticed: the constant citation in news stories of facts and figures to suggest authenticity and precision: 'Between November 1986, when BSE was first recognised, and 12 January this year, 156,712 cattle have had to be destroyed because of the disease. This is an enormous number. But it's far from being all of Britain's cows. In 1994, the UK's dairy herds numbered 2.7 million cows, while there were 1.8 million beef cattle. The disease is now in decline, with only 300 cattle a week being diagnosed compared with more than 1,000 a week when the epidemic was at its peak' (Independent, 23 January, 1996). Other aspects of evaluative rhetoric include hyperbole enormous, epidemic — and evaluation by modal adverbs and adjectives.

1701

which they customarily occur (textbooks, reports, etc.). Typography merits semiotic study: the connotations of fonts such as Times Roman and the various italics and antiques; the implications of varying and of juxtaposing different fonts. The functions of colour printing — emphatic, attention-directing, evocative, etc. — and (now there is a choice) of monochrome need detailed consideration. Finally, page layout is of great interest: there are conventional positionings for certain types of news content; fonts are not positioned randomly; nor are stories and pictures; and the whole topic of layout needs to be examined in relation to the patterns of movement which a reader's attention habitually makes as s/he scans the page. For some suggestive recent work on visuals, format and layout, see Goodman 1995, Kress and van Leeuwen 1995.

8.5. Verbal play One of the most immediately striking features of the British popular press is the addiction to word-play: puns, alliteration and other rhetorical devices are rife, especially in headlines and captions. These have complex functions, but are particularly connected with the report of excitement or crisis. The Sun plays on the largest ever jackpot in the British National Lottery: £ 40 m whoppery, the bottery (lottery story about a tattoo on a celebrity's backside!) (January 6, 1996), and a few days later, when it was learned that a Chinese had won a share in the jackpot, National wokkery. Again on January 6 It could be QUEUE (main Lottery slogan is It could be you)\ and alliteration: Rollover rover; Mystic Mega-dosh, Fame and fortune. For a study of the structures and functions of verbal play in the Press, see Goodman 1995. 8.6. Layout and visual style It was mentioned in section 1 that a newspaper is a multimodal text, containing many different types of visual materials, including colour, in addition to text. A semiotic approach is required in order to describe signification in visual materials and in their relationships to text. Topics for investigation include: the meanings of photographs — which are inherently polysémie, but accented one way or another by captions and by related text (or even by unrelated text if juxtaposed); the ways in which the proximity of photographs affects their meaning; the significance of diagrams, charts, maps, etc., in relation to the newspaper context and to the official contexts in

9.

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(Großbritannien)

159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars 1. 2. 3. 4.

Übersicht Funktionen des Zeitungskommentars Kommentieren als Bewältigen kommunikativer Aufgaben Literatur

1.

Ubersicht

1.1. Fragestellungen Z e i t u n g s k o m m e n t a r e als e i g e n s t ä n d i g e Textsorte h a b e n sich in d e r a u f b l ü h e n d e n Publizistik des 19. Jhs. h e r a u s g e b i l d e t . Die Einbind u n g des Z e i t u n g s w e s e n s in d e n politischen D i s k u r s f ü h r t e d a z u , d a ß die e n t s t e h e n d e Textsorte ü b e r ihr spezifisches M o m e n t d e r 'politischen M e i n u n g s k u n d g a b e ' z u n e h m e n d als A u s d r u c k u n d o b l i g a t o r i s c h e r B e s t a n d t e i l

dieses D i s k u r s e s gesehen w u r d e . D i e Eigens c h a f t d e r M e i n u n g s k u n d g a b e gilt in b e z u g a u f die L e s e r s c h a f t als I d e n t i f i k a t i o n s k r i t e r i u m , in b e z u g a u f a n d e r e j o u r n a l i s t i s c h e T e x t s o r t e n als A b g r e n z u n g s k r i t e r i u m f ü r d e n Z e i t u n g s k o m m e n t a r . Seine politische O r i e n t i e r u n g setzt den Z e i t u n g s k o m m e n t a r einerseits v o n d e m t r a d i e r t e n , a u f die E r l ä u t e r u n g wissenschaftlicher o d e r literarischer Texte ( o d e r O b j e k t e ) b e z o g e n e n K o m m e n t a r ab. A n d e r e r s e i t s tritt die m i t d e r M e i n u n g s k u n d gabe v e r b u n d e n e S u b j e k t i v i t ä t des Z e i t u n g s k o m m e n t a r s in O p p o s i t i o n z u r v e r m e i n t l i c h o b j e k t i v e n N a c h r i c h t . D i e in vielen M i s c h u n gen b e s t e h e n d e I n t e r f e r e n z , d o c h letztlich erreichte T r e n n u n g z w i s c h e n ' o b j e k t i v e r N a c h richt' u n d 'subjektivem, meinungsbildendem

159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars

Kommentar' ist kennzeichnend für die Entwicklung im 19. und 20. Jh. und wird, nach dem manipulativen Mißbrauch im Nationalsozialismus, bei der Neukonstitution der Presse nach 1945 axiomatisch zur journalistischen Handlungsmaxime erhoben, aber durch die neuere Nachrichtenforschung wieder relativiert (vgl. Schönbach 1977; Friedrich 1977). In einem vorläufigen Zugriff kann man wohl sagen: Zeitungskommentare haben die Funktion, die Einstellung oder Meinung eines namentlich genannten Kommentators (bisher nur vereinzelt: einer Kommentatorin), der für sich oder seine Zeitung spricht, über einen öffentlichen Sachverhalt oder ein öffentliches Ereignis mit dem Ziel mitzuteilen, daß Leser als Adressaten diese Einstellung oder Meinung zur Kenntnis nehmen und sich ggf. damit auseinandersetzen. Diese alltagsweltliche Beschreibung verweist darauf, daß Kommentare ein im öffentlichen Raum situiertes Kommunikationsereignis mit einem bestimmten Wirklichkeitszugriff darstellen. Uber dessen spezifische Regularitäten können die kommunikativen Funktionen von Kommentaren ermittelt werden. Die Beschreibung macht auch deutlich, daß der Kommentar neben seinem Bezug auf den öffentlichen Diskurs (und spezifischen daran gebundenen Referenzobjekten) von weiteren Einflußfaktoren (wie ζ. B. der politischen Linie einer Zeitung) abhängig ist, die auf die Textproduktion zurückwirken. Als konkrete Fragen folgen daraus u.a.: (1) Welche Funktion haben Kommentare im öffentlichen Diskurs über öffentliche, insbesondere politische Angelegenheiten? (2) Welche Funktion haben Kommentare im Organisationsprofil einer Zeitung, insbesondere im Verhältnis von Nachrichten und Kommentar? (3) Welche Funktion haben Kommentare im Verhältnis zu und in bezug auf die zugrunde liegenden Ereignisse oder Sachverhalte? (4) Wie verhalten sich die Kommentarfunktionen zu den Intentionen der Kommentatoren als Textproduzenten? (5) Welche textkonstituierenden Eigenschaften müssen realisiert sein, damit ein Kommentar als Kommentar wahrgenommen und rezipiert wird? (6) Welche formalen und sprachlich-stilistischen Mittel konstituieren den Text so, daß Funktionen des Kommentars realisiert sind?

1703

Es muß demnach zwischen Funktionen von Kommentaren unterschieden werden, die sich auf den Kommentar als selbständigen Text beziehen und seine Positionierung im medialen Setting bzw. im öffentlichen Diskurs im Blick haben [(1), (2), (3)], und anderen, die bestimmte Textelemente betreffen, die in kommentarspezifischer Ausprägung vorliegen. Dabei ist zwischen solchen Texteigenschaften zu unterscheiden, die eine kommentarspezifische Ausprägung der Beziehungskonstellation zwischen Textproduzenten und Textrezipienten zum Ausdruck bringen (4) und solchen, die eine kommentartypische Textstruktur hervorbringen [(5), (6)]. Funktionen können dem Kommentar also sowohl in bezug auf andere Texte als auch in bezug auf medienspezifische Diskussionstraditionen zugesprochen werden, die kommentarspezifischen Textelemente sind Ausdruck dieser Funktionen. 1.2. Funktionen und Aufgaben Die Funktionen, die bisher nur unter dem Gesichtspunkt ihrer unterschiedlichen Bezugsbereiche gesehen worden sind, sind textlinguistisch genauer faßbar, soweit Textfunktionen sich auf die Kommentartexte als solche beziehen. Die Textfunktion wird hier verstanden als „Rolle von Texten in der Interaktion, ihr(en) Beitrag zur Realisierung gesellschaftlicher Aufgabenstellungen und individueller Ziele sowie zur Konstituierung sozialer Beziehungen." (Heinemann/Viehweger 1991, 148). Daraus lassen sich ableiten (a) Textfunktionen, die durch den intertextuellen Bezug auf andere Texte oder in bezug auf eine Institution gekennzeichnet sind (institutionell gebundene Textfunktionen). So besteht ζ. B. eine Textfunktion von Kommentaren darin, einen Bezug zur Nachricht herzustellen, was auf medienspezifische Diskurstraditionen und damit im weiteren Sinne auf eine gesellschaftlich vermittelte Teilaufgabe verweist (2.1.); (b) Textfunktionen, die in besonderer Weise auf potentielle Rezipientengruppen zugeschnitten sind (adressatenorientierte Textfunktionen). So kann Kommentaren ζ. B. die adressatenorientierte Textfunktion zugesprochen werden, die Leserschaft zu orientieren (2.2.). Der hier verwendete Funktionsbegriff ist etwas weiter als der, der die dominierende Basisillokution in den Mittelpunkt stellt (ζ. B. Rolf 1993, 147). Dieser in der Text-

1704

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

sortenklassifikation verwendete Funktionsbegriff kann solche Funktionen von Texten nicht greifen, die nicht auf sprachliche Indikatoren für Illokutionen zu beziehen sind — so ζ. B. der nicht notwendig textualisierte Bezug auf andere Texte oder bestimmte Diskurstraditionen. Über das Konzept der Basisillokution werden allerdings konventionelle Ausprägungen spezifischer Illokutionsstrukturen und damit verbundene interaktive Potentiale gut faßbar, ζ. B. beim argumentierenden Kommentartext (vgl. 3.1.2.). Die institutionell gebundenen und adressatenorientierten Textfunktionen stellen den Kommentator bei der Textproduktion vor spezifische kommunikative Aufgaben. Er muß in Hinblick auf ein bestimmtes kommunikatives Ziel besondere kommentartypische Mittel einsetzen, die sich signifikant von den Mitteln der Akzeptanzstützung und Verstehenssicherung bei anderen Texten unterscheiden. Das kommunikative Ziel kann sich einerseits auf die adressatenorientierten Textfunktionen (ζ. B. dem Rezipienten eine bestimmte Deutung anzubieten), andererseits aber auch auf die Intentionen beziehen, die mit bestimmten Formen des Kommentierens typischerweise verfolgt werden (ζ. B. die Emotionalisierung beim emphatisch-wertenden Kommentar; s. 3.1.2.). Da die Aufgaben des Kommentators vermittelt über die Textfunktionen und möglichen Intentionstypen immer ähnlich sind, führen sie zu bestimmten sprachlichen Lösungen, die als Textmuster zu beschreiben sind. Textmuster lassen sich einerseits als textsortenkonstituierende Schemastrukturen (3.1.1.), andererseits als typische sprachliche Routinen (3.1.2.f.) begreifen. Kommentieren ist in formulierungstheoretischer Hinsicht also einerseits als kreatives Problem-Lösen im Sinne von Antos (1982) angesichts eines bestimmten singulären, kommentarwürdigen Ereignisses zu verstehen, andererseits allerdings auch als ein textmusterorientiertes Aufgaben· Bewältigen. Dazu kommen noch allgemeine kommunikative Aufgaben: Da sich der Kommentar an ein Massenpublikum richtet, muß er sich in besonderer Weise um Lesefreundlichkeit und Verständlichkeit seiner Äußerungen bemühen und dabei allgemeine Formulierungsmaximen beachten (vgl. 3.2.). Zusammenfassend: Im öffentlichen Diskurs werden dem Kommentar bestimmte Textfunktionen zugeschrieben. Die Textfunktionen bergen kommunikative Potentiale in

sich und reflektieren bestimmte Rezipientenerwartungen. Beim Schreiben reagiert der Kommentaror auf die an ihn qua öffentlichem Diskurs und medialer Präsentation gestellten Erwartungen. Es haben sich dabei Lösungsstrategien herausgebildet, die zu konventionellen Textmustern und -routinen führen, die ihrerseits von den konventionellen Intentionen des Textproduzenten gesteuert werden. Die zur Erfüllung der kommunikativen Aufgabe des Kommentators entwikkelten Textmuster besitzen gegenüber Textfunktionen und Intentionstypen eine Hilfsfunktion.

2.

Funktionen des Zeitungskommentars

2.1. Institutionell gebundene Textfunktionen Zeitungskommentare bilden ein variationsreiches Genre, vornehmlich der Tagespresse, das vom gravitätisch-schwergewichtigen Leitartikel bis zum heiteren oder bissigen, pointierend-glossenartigen 'Streiflicht' reicht. Die Wochenpresse (und Vergleichbares) verbindet meist Berichtendes und Reflektierendes-Kommentierendes. Zeitungskommentare, typisch für die regionale und überregionale Tagespresse, beziehen sich in der Regel auf tagespolitische Themen im weitesten Sinne, meist politischer oder wirtschaftlicher, seltener sozialer oder kultureller Art. Vom Zeitungskommentar wird erwartet, daß er über das gewählte Thema im Zusammenspiel mit der allgemeinen Ausrichtung der Zeitung etwas Relevantes zu sagen hat. 2.1.1. Der Kommentar als Element der Tageszeitung: Die intertextuelle Funktion Zeitungslektüre schließt die Erwartung ein, einen Kommentar (oder mehrere) vorzufinden, der zu einem aktuellen Thema Stellung nimmt. So gut wie jede Zeitung wird dieser Erwartung gerecht, indem sie mithilfe bestimmter Verfahren den Kommentar aus der Masse der Artikel hervorhebt. Dazu gehören: — Regelmäßige Positionierung, ζ. B. erste Seite rechts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) indiziert den Text als Leitartikel; — Verbund mit anderen meinungsbetonenden Texten auf einer (meist derselben) Seite unter einer Seitenüberschrift wie 'Meinungen', 'Hintergrund' o. ä.);

159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars

— typographische Auszeichnungen wie veränderte Schrift, Kästelung und andere Variationen des Layouts; — Textmarkierer wie Namennennung des Autors am Anfang oder Ende des Beitrags, manchmal mit Porträtfoto; Spaltenüberschrift über Kommentarüberschrift wie 'Unsere Meinung', 'Der Kommentar' u. ä. Damit wird der Kommentar im Verbund der Texte einerseits integriert, andererseits als formal markiert vielfältig besonders herausgestellt. Inhaltlich wird in der Regel kommentiert, was auch im Nachrichtenteil auf der Faktenebene berichtet wird. Der außermediale Sachverhalt, das Kommentandum, ist damit in der Regel zweimal repräsentiert. Insofern ist der Kommentar also zwar immer aktuell in bezug auf die Faktenlage; aber das tagespolitische Ereignis ist oft nur der Aufhänger für die kommentierende Behandlung eines nicht nur tagesaktuellen Themas. 2.1.2. Der Kommentar als Kennzeichen einer bestimmten Tageszeitung: Die Kennzeichnungsfunktion Da die Parteipresse nur noch eine marginale Rolle spielt und die meisten Tageszeitungen sich als 'überparteilich' bezeichnen, ist für die Kommentare in den heutigen Tageszeitungen damit ein relativ enger weltanschaulich-politischer Rahmen gesetzt, innerhalb dessen sich das Spektrum der Meinungskundgabe bewegt: Eine Tendenz zur Ausgewogenheit wohnt den Zeitungskommentaren nicht als Eigenschaft der Textsorte inne, sondern hat sich aufgrund der medialen Entwicklung herausgebildet. Der Kommentar hat innerhalb dieses allgemeinen Rahmens einen weiten Spielraum. Global kann man die Kommentierpraxis nach der Wichtigkeit differenzieren, die das Blatt den Kommentaren zubilligt, und deshalb Zeitungen, für die Kommentare einen hohen Stellenwert haben, von solchen unterscheiden, die Kommentare eher als von Lesern erwartete Zugabe betrachten. So fließend die Übergänge sein mögen: Der Grad der Wertschätzung betrifft die Qualität und die Funktionen des Kommentierens im engeren Sinne und besonders seine intentionale Quelle, den Kommentator. Ein hoher Kommentieraufwand wird ζ. B. von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) betrieben, bei der die namentlich gekennzeichneten Leitartikel und Hauptkommentare grundsätzlich vom Herausgeberkol-

1705

legium gegengelesen werden. Dies bedeutet, bei aller praktizierten Individualität, daß die kommunikative Intention des FAZ-Kommentars nicht die persönliche Meinungskundgabe ist, sondern die Aktualisierung der generellen politischen Linie der Zeitung. Abweichungen haben ernsthafte Konsequenzen (Tern 1973; Gotthardt 1988). Das andere Extrem bildet die Institution des Gast-Kommentators, weil gerade hier die individuelle Einstellung und Meinung des in der Regel nichtprofessionellen Kommentators den kommunikativen Zweck des Kommentars definiert. Dazwischen liegt das Gros der Kommentatoren, die als redaktionelle oder freie Kommentatoren Kommentare in mehr oder weniger alltäglicher Routine und oft unter Zeitdruck produzieren. Sie müssen als Rahmenbedingung bei der Darstellung ihrer Meinungen im wesentlichen nur beachten, die wirtschaftlichen und ideologischen Interessen der Träger der Zeitung nicht ernsthaft zu beeinträchtigen. Insgesamt kommt aber innerhalb der journalistischen Tätigkeiten dem Kommentieren ein hoher Prestigewert zu. 2.1.3. Der kommentarspezifische Habitus: Die Distinktionsfunktion Indem der Kommentator für den Text verantwortlich ist, verantwortet er nicht nur die Tendenz und den faktischen Inhalt, sondern auch die Modi der Themenbehandlung und die Sprache des Kommentars. So verbindet sich mit dem Text das Kommentator-Image auch in dem Sinne, daß der Autor weiß, daß er dem Bild, das sich andere von ihm machen, zu entsprechen hat. Unbeschadet weiterer Funktionen des Kommentars ergibt sich bereits daraus eine hervorgehobene Position des Kommentators, die vom Textproduzenten imagepflegende und imageschonende Verfahren erfordert und die einen Balanceakt zwischen Präsentation und Zurücknahme des Kommentator-Ichs bedingt. Im Sinne des Bourdieuschen Habitusbegriff ( 2 1988, 279) schafft der Kommentar ein System von Differenzen, mit denen die soziale Identität des Kommentators konturiert wird. Die Hauptdifferenz ergibt sich über den vermeintlichen Wissensvorsprung des Kommentators, auf den dieser mittels textueller Prozeduren reagieren muß. Von einem Kommentator wird vor allem erwartet, daß er — sachkompetent ist, d. h. daß er weiß, worüber er schreibt: die Referenzbereiche hinrei-

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

chend genau kennt und in ihren Zusammenhängen zu reflektieren, zu analysieren und einzuordnen weiß, so daß seine Meinung und Bewertung als eine sachangemessene Evaluation rekonstruiert werden kann; - schreibkompetent ist, d. h. die textuellen Muster und die rhetorisch-stilistischen Verfahren beherrscht, die für einen gelungenen Kommentar üblich sind; - glaubwürdig ist, d. h. daß ihm die Leserschaft Vertrauenswürdigkeit und Unabhängigkeit als personale Eigenschaften zuschreibt. Der ideologisch-politische Tenor der Meinungskundgabe hingegen ist, soweit er die Rahmenbedingungen nicht sprengt, für die Kompetenz-Zuschreibung unerheblich. 2.2. Adressatenorientierte Textfunktionen Unabhängig von den individuellen Intentionen des Kommentators unterscheiden sich die Textfunktionen dadurch, daß verschiedene Rezipientengruppen als Adressaten zu unterscheiden sind: Sieht man einmal vom Ensemble der konkurrierenden Medien als Rezipientengruppe ab, ist vor allem zwischen den Akteuren des kommentierten Referenz-Systems einerseits und dem 'normalen' Zeitungsleser (bei Tageszeitungen typischerweise der Abonnentenschaft) andererseits zu unterscheiden. Aus der Sicht der adressatenspezifischen Differenzierung tritt ein globaler kommunikativer Zweck des Kommentars hervor, nämlich der der Teilhabe am öffentlich-politischen Diskurs. Er bedingt die adressatenspezifische Differenzierung in regulative und orientierende Funktionen. 2.2.1. Vom Kommentar Betroffene: Regulative Funktionen des Kommentars Zumindest die Leitartikel und Hauptkommentare der großen überregionalen Tageszeitungen, aber auch - in Maßen — die der regionalen Blätter werden von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Funktionsträgern des Breichs gelesen, auf das sich das Thema des Kommentars bezieht. Gebunden an und vermittelt durch die Schriftlichkeit des Mediums konstituieren sich dialog-ähnliche Strukturen, die sich häufig in referenzadressatenbezogenen Sprechhandlungen wie Empfehlungen, Ratschlägen, Warnungen niederschlagen, äußerst selten allerdings in direkten, unmittelbaren Anreden, sondern meist gespiegelt in adressaten-objektivierender Form („Der Bundeskanzler sollte ..."). In dem Maße, in dem sich die (maßgeblichen) Journa-

listen und Herausgeber als gleichberechtigte mediale Partner der Akteure der öffentlichen Systeme verstehen, beanspruchen sie Partizipation an der politischen Diskussion mit dem erklärten Ziel der Einflußnahme zumindest auf die globale Richtung politischer Entscheidungen. Beeinflussung durch Beteiligung am öffentlichen Diskurs ist deshalb auf dieser Ebene die zentrale kommunikative Textfunktion des Zeitungskommentars. Die Beteiligung am öffentlichen Diskurs legitimiert sich traditionell — durch die verfassungsrechtlich garantierte Presse- und Meinungsfreiheit, die historisch zur Stilisierung der Presse als 'vierte Gewalt' und zur Denkfigur der 'Wächter-Funktion der Presse' geführt hat, besonders solange sich die Presse institutionell als Opposition gegenüber den politisch Herrschenden begriff. Dieses Selbstverständnis fordert die Kontrolle der öffentlichen Gewalt durch den öffentlichen Diskurs; — durch den Anspruch, die öffentliche Meinung in Vertretung derjenigen herzustellen, die sonst nicht in Erscheinung treten, der Bürgerinnen und Bürger, was sich u. a. in den häufigen wir- und maw-Formulierungen der Kommentare niederschlägt. Kommentare stellen aus dieser Perspektive so etwas wie einen Transmissionsriemen dar, der (dem Anspruch nach) Vernünftiges, aber sonst öffentlich Ungesagtes zum Ausdruck bringt; — durch die Unabhängigkeit der Kommentatoren von parteipolitischen und herrschaftsbezogenen Zwängen, von Sachzwängen, von der Notwendigkeit der faktisch zu verantwortenden Entscheidung und durch die damit mögliche Distanzierung. Diese institutionellen Merkmale führen die Autorität des Kommentators und des Kommentars herbei, die auf der Grundlage der Kompetenz-Zuschreibung zu realisieren ist. Die Einflußnahme auf die öffentliche Diskussion erwächst also, zusammenfassend, aus der Differenz zwischen kommentiertem und kommentierendem System. 2.2.2. Die Leserschaft: Orientierungsfunktion des Kommentars Die zentrale kommunikative Funktion des Kommentars in bezug auf die reguläre Leserschaft ist aber zweifellos die der Orientierung. Zu ihrer Realisierung benutzt der Kommentator Verfahren der Strukturierung und der Evaluierung.

1707

159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars

— Der Kommentar bietet dem Rezipienten ein strukturiertes Wirklichkeits-Modell an, indem er einen aktuellen Sachverhalt (ein Thema) als Wirklichkeits-Ausschnitt behandelt, diesen in einer vom Kommentator für wesentlich erachteten Form rekonstruiert, ihn in globalere Zusammenhänge einbindet und von daher das Bedeutungs- und/oder Strittigkeitspotential vorführt, das den Sachverhalt zu einem kommentarwürdigen Ereignis macht. — Der Kommentar präsentiert jedoch nicht nur strukturierte Sachverhalte, sondern unterzieht sie vielfältigen Bewertungs- oder Evaluierungsverfahren, insbesondere durch die Modi der Präsentation von Argumenten, Aspekten, Perspektiven und die in der Regel erwartbare Gesamtbewertung des Themas als Pointierung der Meinungskundgabe (3.1.1.). Auf der Grundlage der Strukturierung und Evaluierung stellt der Kommentar ein Deutungs- oder Sinnangebot her, das dem Leser und der Leserin nahelegt, die eingenommene Position zu übernehmen oder sich mit ihr (kritisch) auseinanderzusetzen. Insofern enthält der Kommentar auch ein Persuasionspotential. Der Kommentar arbeitet mit Verfahren der Komplexitätsreduktion (i. S. Luhmanns), um die undurchschaubare Wirklichkeit transparenter zu machen. Insoweit vermittelt der Kommentar zwischen politischem System und 'Normalbürger'; und viele Kommentatoren, heute vielleicht die meisten, verstehen sich auch in diesem Sinne als Vermittler. Um dieses Orientierungsangebot über Strukturierung und Evaluierung auszudrücken, steht dem Kommentar relativ wenig Raum zur Verfügung, auch wenn Kommentare hinsichtlich ihrer Länge extrem variieren können. Deshalb muß er, um überzeugend zu wirken, seine Einordnungen zu stützen oder seine Bewertungen zu plausibilisieren, auf spezifische sprachliche Techniken zurückgreifen, aus denen u.a. die sprachlichen Besonderheiten von Kommentartexten resultieren. So fällt das gehäufte Auftreten von solchen sprachlichen Einheiten auf, die eine argumentationssparende Funktion aufweisen (ζ. B. satzwertige Phraseologismen, Gemeinplätze oder Sprichwörter), weil sie scheinbar den common-sense repräsentieren. Kommentare changieren zwischen Exklusivität und Simplifizierung. Die Exklusivität resultiert daraus, daß der Kommentar, auch um die Kompetenzunterstellung zu rechtfertigen, bestimmtes Spezialwissen einfließen läßt; die Simplifizie-

rung ergibt sich daraus, daß der Kommentar, um seine Weltdeutungen auf begrenztem Raum verständlich zu machen, die Perspektive der Leserschaft berücksichtigen muß.

3.

Kommentieren als Bewältigung kommunikativer Aufgaben

D a der einzelne Kommentator sich an diesen institutionell-kommunikativen Funktionen und Maximen orientiert, haben sich Konventionen für die Realisierung der kommunikativen Anforderungen herausgebildet, die mithilfe bestimmter Textorganisationsverfahren abgearbeitet werden. Die kommentarspezifischen Texteigenschaften sind insoweit Reflex der allgemeinen Funktionen. Die Texteigenschaften von Kommentaren lassen sich drei verschiedenen Gruppen zuordnen, von denen zwei spezifische Ausprägungen von Textmustern bedingen: — Kommentarkonstituierende Texteigenschaften, die sich sowohl aus einem institutionell geregelten Referenzbezug (notwendiger Bezug auf ein aktuelles Thema) als aus dem Identifikationsmerkmal der subjektivpolitischen Meinungskundgabe ergeben und die sich zu bestimmten Schemastrukturen mit obligatorischen Schemaelementen verdichten (3.1.1.). — Kommentartypische Texteigenschaften, die sich in bestimmten Formulierungsroutinen (bis hin zu Floskeln), aber auch in der typischen Ausgestaltung von sprachlich-textuellen Beziehungen niederschlagen, vor allem Prozeduren der Akzeptanzstützung (3.1.2. und 3.1.3.). — Dazu kommen sprachliche Techniken, die entweder dem verbesserten Verständnis des einzelnen Kommentars dienen oder das Lesevergnügen steigern sollen (3.2.). 3.1

Textmuster zur Bewältigung der kommunikativen Aufgaben

3.1.1. Schemastruktur: obligatorische und fakultative Elemente Die Theorie des Kommentierens unterscheidet zwischen Kommitat und Kommitandum (Posner 2 1980). Das Kommitandum besteht in dem aktuellen Sachverhalt, der Thema des Kommentars sein soll. Es muß neben der Aktualität bestimmte Relevanzkriterien erfüllen, die es kommentarwürdig machen, ζ. B. (tagespolitische) Hervorgehobenheit, Strittigkeit, Erklärungsbedürftigkeit, Aktualisierung

1708

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

eines Langzeitthemas u. ä., wobei nur einzelne Kriterien erfüllt zu sein brauchen. Am Anfang des Kommentars muß eine klare Referenz auf das Kommitandum hergestellt werden, die die Einordnung des Kommentars in die allgemeine Nachrichtenlage ermöglicht. Damit ist auch die Verbindung mit den informierenden Berichten der Tageszeitung hergestellt. Dabei kann es sich um einen bloßen Verweis auf den Referenzbereich handeln, aber auch um eine kurze Zusammenfassung des Sachverhalts mit informierenden Elementen. Die inhaltliche Präsentation des Kommitandum s verbindet der Kommentator in der Regel mit sprachlich impliziten oder expliziten Wertungen, die sich auf die Bedeutsamkeit des zu kommentierenden Sachverhalts einerseits und auf die Herausarbeitung des leitenden Gesichtspunkts andererseits beziehen, der in der folgenden Stellungnahme behandelt wird. Diese Fokussierung des Kommentarthemas führt über die vorgenommene Reduktion der (Sach-) Komplexität zur Einstimmung des Lesers auf den Tenor der Themenbehandlung, ζ. B. „Der neue Kanzler der 'Koalition der Mitte' machte seinem Anspruch alle Ehre und trug im Parlament eine wahrhaft mittelmäßige Regierungserklärung vor" (FR 14. 10. 82). Formal wird die Trennung zwischen textlicher Kommitandum-Präsentation und 'eigentlichem' Kommitat meist durch einen Absatz markiert. Das Kommitat wird sehr stark von den Modi der Themenbehandlung bestimmt, so daß es keine verbindlichen Schemastrukturen oder -elemente gibt. Unabhängig davon, welchen Modus der Kommentarschreiber wählt, sind nur zwei Aspekte formal unverzichtbar: Daß das Kommitat entsprechend den Vorgaben der Themen-Präsentation und -Fokussierung behandelt wird (thematische Kohärenz) und daß die Einstellung des Kommentators zu dem thematisierten Kommitandum deutlich wird. Dazu werden sprachliche und textuelle Bewertungen vorgenommen. Sie kulminieren sehr häufig (aber nicht obligatorisch) in einem expliziten Schemaelement am oder gegen Ende des Kommentars, oft in sprachlich pointierter Zuspitzung (Ramge 1994a); z.B.: „Denn eines hat sich jetzt schon gezeigt: Auch die neuen Männer in Bonn werden nur mit Wasser kochen können" ('Wetzlarer Zeitung' 14. 10. 82). Bei aller Variabilität ist der Kommentar als Textsorte durch formale Organisationsprinzi-

pien als Textschema definiert, das obligatorische Textelemente in verbindlicher Abfolge enthält und dazu durch Bewertungshandlungen der verschiedensten Art die Formalstruktur den evaluierenden Textsorten zuordnet. 3.1.2. Sprachhandlungen: Intentionstypik und Variabilität in Kommentaren In Anlehnung an Dovifat/Wilke ( 6 1976, 178) kann man verschiedene Haupttypen von Kommentaren unterscheiden. Sie lassen sich charakterisieren durch das Verhältnis von informierenden, begründenden und bewertenden Sprachhandlungen, durch die die Handlung des Kommentierens je nach Zweck und Intention des Autors verwirklicht wird. - So werden beschreibende und erklärende Sprachhandlungen dann bevorzugt, wenn ein aktuelles, aber vermutlich den meisten Lesern unbekanntes oder schwieriges Thema behandelt wird, das eine über die Nachrichteninformation hinausgehende Explikation erfordert. Hier ist die Sachkompetenz, mitunter das Spezialwissen des Kommentators gefragt, und offenkundig steht die Sachorientierung der Leserschaft als Voraussetzung für eine eigene Meinungsbildung im Vordergrund; Argumentation und vor allem Evaluation treten zurück, ohne zu verschwinden. - Bewertende Sprachhandlungen dominieren nicht nur dann, wenn der Kommentator besonders engagiert ist oder es ihm um eine besonders klare Stellungnahme geht, denn das kann auch in Modi des Argumentierens geschehen, sondern vor allem dann, wenn die Bewertung des kommentierten Sachverhalts auch als Aussagemodus im Vordergrund steht, wenn emotional aufgerüttelt, bewegt, gerührt, eindringlich empfohlen, gewarnt oder (an)geklagt werden soll (Schaber/Fabian 1964). Gleichviel, ob emphatisch oder polemisch: Hier tritt am deutlichsten die regulierende Funktion in der Beteiligung am öffentlichen Diskurs hervor; Adressaten sind in der Regel Akteure der Öffentlichkeit, die Leserschaft wird affektiv für das Anliegen des Kommentars engagiert. Die Wirkung solcher Kommentare hängt deshalb sehr von der Glaubwürdigkeit des Autors ab. Argumentation und Information treten zurück. - Begründende (konklusive) Sprachhandlungen dominieren in Kommentaren, die auf Argumentationsstrukturen beruhen. Am häufigsten ist das Verfahren, die Argumente, die am Ende zu einer begründeten Bewertung und Entscheidung führen, nicht nur in steigender

159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars

Wichtigkeit zu nennen, sondern tatsächliche oder denkbare Gegenargumente an der jeweiligen Position mit in die eigene Argumentationsreihe aufzunehmen, zu entkräften oder sonstwie zu bewerten (ζ. B. „Es ist nicht wahr, daß alle Menschen sich in der Politik nur von materiellen Erwägungen bestimmen lassen. Sicher tun es Millionen." FAZ 19. 6. 54). Argumentierende Kommentare sind nicht nur die häufigsten, sondern auch die typischsten, ohne daß man sie deshalb als Prototyp des Kommentars werten dürfte (Klein 1992; Läzer 1988; Lenk 1989; Moilanen 1996). Argumentierende Kommentare sind in besonderem Maße Bestandteil des öffentlichen Diskurses, erfüllen aber gleichermaßen die Orientierungsfunktion gegenüber der Leserschaft und die Profilierung gegenüber Konkurrenzmedien. Gefordert ist hier vor allem die analytische Sachkompetenz des Kommentators. Informierende und evaluierende Sprachhandlungen sind funktional an die Argumentationsstruktur gebunden. Die Argumentationen in Kommentaren zeigen tendenziell einige sprachliche Besonderheiten, u.a. eine geringe Kennzeichnung der Beziehungen der Aussagenelemente zueinander. Die argumentationskonstitutiven Sprachhandlungen des Folgerns und des Begründens werden oftmals überhaupt nicht realisiert, sondern durch spezifische Kontextimplikate nur nahegelegt. Ein Beispiel für das vollständige Fehlen von Begründungen: „In Wahlreden macht mancher sich selbst zum Gefangenen, nicht nur von anderen, auch von sich selbst. Mittlerweile ist es Zeit, sich der Erkenntnis zu erinnern, daß die Wirklichkeit nie aus Schwarz und Weiß, sondern aus lauter Schattierungen von Grau besteht" (FAZ 18.6. 70). Der Verzicht auf oder die bloße Nahelegung von Begründungen kann einerseits als Strategie der Kompetenzsicherung gesehen werden, andererseits wird damit auch der Interpretationsspielraum der Rezipienten erweitert, macht vielleicht sogar einen Teil des Leseanreizes aus. 3.1.3. Kompetenzsicherung: Orientierung an sprachlichen Routinen Zu den wichtigen kommunikativen Aufgaben, die im Management des Kommentierens zu lösen sind, gehört es, das KompetenzImage des Kommentators zu sichern. Dies geschieht durch Fremd-Zuschreibung (journalistische Position, Renommee), vor allem aber durch selbstreferentielle textuelle Proze-

1709

duren. Neben indirekten (und intentional nicht leicht kontrollierbaren) Verfahren wie z. B. Präzision der Argumentationslogik gibt es eine Reihe von Verfahren, die funktional der Modellierung des Kommentatorimages dienen. Sie kreisen fast alle um das Problem des Verhältnisses von Subjektivität (Privatheit, subjektive Meinungskundgabe) und Objektivität (Öffentlichkeit, Objektivierung der Meinungskundgabe). Zu unterscheiden sind Mittel und Verfahren, mithilfe derer der Kommentator als Person gewissermaßen sein Ich zurücknimmt, und solche, mithilfe derer er genau seine Kommentator-Rolle als Kompetenter indiziert. — Der Kommentator nimmt sich als Person zunächst ganz einfach dadurch zurück, daß er tunlichst vermeidet, von sich in der ichForm zu sprechen. Die statt dessen bevorzugte w/r-Form dient nur selten als Pluralis modestiae, sondern erweitert das stellungnehmende Personal („'Wir' = 'die Bürger', 'die Deutschen', 'die Kaufleute' ... wissen/haben gelernt, daß ..."), als dessen Vertreter sich der Kommentator versteht. Vergleichbar wird mit den sehr häufigen man-Formen die Allgemeingültigkeit oder die allgemeine Akzeptierung einer Aussage behauptet, auch wenn es faktisch nur die des Kommentators ist (Ramge 1991). Dem entspricht die Bevorzugung des Passivs und anderer agens-verhüllenden syntaktischen Konstruktionen in Kommentaren ebenso wie spezifische Verwendungsweisen von Modal-Elementen, insbesondere der Modalverben (Ramge 1994b). Der Kommentator modelliert eine quasi-objektive Wirklichkeitsperspektive, die ihn selber als Textproduzenten tendentiell verschwinden läßt. — Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe Verfahren, die auf einen Anspruch auf kompetenzgestützte Autorität verweisen. Hervorzuheben sind dabei Hinweise auf seine prognostischen („bleibt abzuwarten, ob/was/ wie ...") und ratgebenden („Die Bundesregierung sollte ...") Fähigkeiten, die sich allerdings nicht ganz selten in vage Andeutungen und geheimnisvolles Raunen auflösen („man möchte wünschen, daß ...; manches muß ... überlassen werden."): Die Verwendung imagepflegender Ausdrücke mündet leicht in Klischees und Leerformeln. Untersucht man Kommentare in der Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg, zeigt sich, daß die Verwendung kompetenzbetonender Verfahren stark zurückgegangen ist:

1710

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Auch die meisten Kommentatoren der großen überregionalen Zeitungen verstehen sich nicht mehr ungebrochen etwa als Partner der Politiker im öffentlichen Diskurs. 3.2. Formulierungsmaximen Neben den spezifischen kommunikativen Aufgaben bei der Realisierung der Kommentarfunktionen müssen allgemeine Schreibaufgaben gelöst werden, damit der Kommentar gelingt. Vorrangig für jeden Autor ist, daß der Text — im Hinblick auf die potentiellen Adressaten — verständlich ist und daß er nicht nur zur Lektüre anregt, sondern daß durch leseanregende Mittel die Lektüre bis zum Ende fortgesetzt wird. Dabei fallt auf, wie in 3.1.2. angedeutet, daß (a) bestimmte verständnissichernde Maßnahmen in Kommentaren selten sind (ζ. B. die Verbindungen von Propositionen über spezifische Konnektoren), daß (b) bestimmte leseanregende Mittel wie Bilder oder metaphorisch motivierte Phraseologismen eine argumentationsersparende Funktion besitzen (s. 2.2.2.). Trotz dieser Einschränkung werden in Kommentaren natürlich zahlreiche verständnisfördernde und verständnissichernde Mittel und Techniken eingesetzt, wobei unter verständnisfördernden Mitteln hier solche gesehen werden, die die rezeptionsstrategischen Überlegungen, d . h . vor allem die Antizipationsleistungen des Kommentators hinsichtlich des Wissens und der Relevanzkriterien seiner Rezipienten direkt reflektieren. 3.2.1.

Verständnisfördernde und verständnissichernde Maßnahmen

3.2.1.1. Verständnisfördernde Maßnahmen — Zur Verständnisförderung können zunächst alle (Teil)Äußerungen gezählt werden, mit denen ein Kommentator die thematische und funktionale Organisation (ζ. B. Abfolge bzw. Handlungskomplexe) verdeutlicht. In Kommentaren finden sich nahezu keine metakommunikativen strukturindizierenden Äußerungen, dafür aber eine Reihe von vorwiegend graphischen Gliederungsmarkierern wie Absätze, Numerierungen, Sternchen oder Sperr-, Fett- oder Kursivhervorhebungen. Es sind weiterhin eine Reihe von impliziten Strategien nachweisbar, mit denen ein neues Thema angezeigt wird (ζ. B. durch Bezugnahme auf den common-sense) oder die Themen· oder Handlungsverknüpfung signalisiert wird (ζ. B. durch den häufigen Einsatz von und: „Und daß sie Politikern aller Lager applaudieren, die ihnen ständig einreden, daß

ein weiterhin geteiltes deutsches Volk, in zwei Staaten mit hermetisch gesicherter Grenze lebend, nicht nur etwas Normales, sondern ein Idealfall sei und überdies eine Friedensgarantie." FAZ 16. 6. 88). Zu den impliziten Techniken zumindest des Themenabschlusses werden auch die Sprichwörter und satzwertigen Phraseologismen gezählt, mit denen ein Thema zusammengefaßt wird, z.B. „... die Zeiten ein für allemal vorüber sind, da das Wünschen noch half und fromme Bitten in Erfüllung gingen" (FR 14. 10. 82). — Zu den verständnisfördernden Techniken gehören auch die relationalen verstehensstützenden Sprachhandlungen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie auf eine andere Sprachhandlung Bezug nehmen (Paraphrasen, Explikationen, Exemplifikationen etc.). Unter diesen Sprachhandlungen dominieren eindeutig solche Explikationen, die das Zustandekommen eines spezifischen Sachverhalts beleuchten, was vornehmlich auf die adressatenspezifische Textfunktion der Orientierung zurückzuführen ist, z. B. „Damit brachte er in die Beschreibung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten einen Begriff ein, der weder mit ihrem Verhältnis zueinander übereinstimmt noch im Grundlagenvertrag zu finden ist" (FAZ 20. 3. 89). Metakommunikative Bedeutungserklärungen sind demgegenüber selten. Die relationalen Sprachhandlungen zeugen besonders von den rezeptionsstrategischen Überlegungen des Textproduzenten, der mögliche Wissensdefizite seiner Rezipienten einbezieht. Antizipationsleistungen können auch solchen Äußerungen zugesprochen werden, die eher der Peripherie verständnisfördernder Maßnahmen zuzurechnen sind und die davon zeugen, daß der Textproduzent implizit oder explizit eine bestimmte, dem Rezipienten vertraute Rolle übernimmt, um einen bestimmten Sachverhalt zu verdeutlichen — der Kommentator orientiert sich in diesem Fall an den Relevanzkriterien seiner Leserschaft, z. B. „Einem Kranken versicherten, der höhere Beiträge entrichten muß, sagt es herzlich wenig, ..." (FR 19. 3. 1987). 3.2.1.2. Verständnissichernde Maßnahmen Zu den verständnissichernden Maßnahmen gehört ein einfacher und klarer Satzbau, der häufiger durch rhetorische Wiederholungs-, Akkumulations- oder Kontrastfiguren unterstützt wird, z. B. „Das hat nichts mit der Groteske des Wahlkampfes der C D U / C S U zu tun, ... Das hat vielmehr zu tun ..." (FR

159. Kommunikative Funktionen des Zeitungskommentars 17. 6. 69). B e s o n d e r s h ä u f i g w e r d e n in K o m m e n t a r e n Mittel d e r I n f o r m a t i o n s s t r u k t u r i e rung und -fokussierung gebraucht, wobei u. a. d a s M i t t e l d e r T o p i k a l i s i e r u n g deutlich hervorsticht, z.B. „ . . . eine realistische D e u t s c h l a n d p o l i t i k z u setzen! U n d z w a r a u f d e r G r u n d l a g e d e r t a t s ä c h l i c h e n Existenz zweier d e u t s c h e r S t a a t e n . " ( F A Z 17. 6. 69). H ä u f i g finden sich a u c h p r o l e p t i s c h e o d e r elliptische S t r u k t u r e n , z. B. „ A b e r die N a t i o n , die gibt es s c h o n n o c h . " ( F R 16. 6. 1973). D a hier m i t d e r E r w a r t u n g s h a l t u n g d e r Rezipient e n gespielt w i r d , w o d u r c h ein k o m m u n i k a t i ver E f f e k t e r r e i c h t w i r d , k ö n n e n diese Mittel a u c h zu den l e s e a n r e g e n d e n gezählt w e r d e n . з.2.2. L e s e a n r e g e n d e Mittel Z u den l e s e a n r e g e n d e n Mitteln g e h ö r e n u. a. s p r a c h l i c h e E i n h e i t e n wie Bilder, M e t a p h e r n , Vergleiche u n d S p r i c h w ö r t e r , die die A n schaulichkeit u n d d a m i t die Verständlichkeit f ö r d e r n . Relativ h ä u f i g f i n d e n sich allerdings in K o m m e n t a r e n Bilder, die v o l l k o m m e n z u m s p r a c h l i c h e n Klischee g e w o r d e n sind, z. B. „ D i e L a w i n e , die so ausgelöst w u r d e , h a t z w a r d a s u n f ä h i g e System n i c h t u n t e r sich b e g r a b e n , aber ihr D o n n e r ist bis in d e n letzten W i n k e l d e r E r d e g e h ö r t w o r d e n " ( G i e ß e n e r Allgemeine 16. 6. 54). W e i t e r h i n k a n n sich d e r K o m m e n t a t o r des I n s t r u m e n t a r i u m s d e r klassischen R h e t o r i k b e d i e n e n , u m seinen Text a t t r a k t i v zu gestalten. D a z u g e h ö r e n z. B. d a s h ä u f i g v e r w e n d e t e M i t t e l der Anapher, rhetorische Figuren wie Z e u g m a o d e r r h e t o r i s c h e V e r f a h r e n wie Klimax, Wortspiel oder rhetorische Fragen. H ä u f i g w e r d e n M i t t e l v e r w e n d e t , die eine A n b i n d u n g an V e r t r a u t e s e r m ö g l i c h e n , w o z u и. a. Klischees, S t e r e o t y p e , Hochwertwörter gehören.

4.

Fahnen-

und

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1712

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

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Hans Ramge /Britt-Marie

Schuster, Gießen ( Deutschland)

160. Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Journalistische Basiskonventionen der Zeitungsberichterstattung Kommunikative und ästhetische Probleme berichtender Texte Artikulationsformen der Reportage Zur Geschichte der Reportage Literatur

Journalistische B a s i s k o n v e n t i o n e n der Z e i t u n g s b e r i c h t e r s t a t t u n g

Trotz des manchmal höheren Ansehens von Leitartikeln oder Essays bleibt die Berichterstattung, also die Übermittlung von Nachrichten in möglichst lebendiger (d. h. erzählender), prägnanter Form das herausstechendste Charakteristikum des Printmediums Zeitung. Vom Berichterstatter (Reporter) wird im allgemeinen eine möglichst breite Allgemeinbildung erwartet, da für den Alltag der meisten kleineren und mittleren Tageszeitungen und Magazine Generalisten, die sich binnen kurzer Frist in einen ihnen unbekannten Sachverhalt einarbeiten können, wertvoller sind als Spezialisten. Darin dürfte auch einer der Gründe für den anhaltenden Streit um die Frage liegen, ob für die Qualifikation

eines Journalisten eine praxisnahe Ausbildung wertvoller ist als ein Universitätsstudium (Harris/Johnson 1965, 8f.; Meyn 1992, 178f.). Traditionell werden vom Reporter der sogenannten 'seriösen Presse', neben Schreibfertigkeit und einer raschen Auffassungsgabe Fairness (was nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit Objektivität), Sorgfalt im Umgang mit den ermittelten Fakten und nicht zuletzt auch die Fähigkeit zur Pflege von Informanten erwartet. — Von den Traditionen vor allem des anglo-amerikanischen Journalismus geprägt, sind die journalistischen Basiskonventionen der Zeitungsberichterstattung in allen westlichen Ländern mehr oder weniger dieselben: die traditionelle Minimalanforderung an einen Zeitungsbericht ist, daß er Antwort gibt auf die berühmten „fünf W's": Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Unabdingbare Mindestvoraussetzung für eine druckfähige Nachricht ist Aktualität, wobei allerdings in manchen Fällen zwischen der primären (oder akuten) Aktualität, die besonders für den Aufliänger wesentlich ist und der sekundären oder (latenten) Aktualität einer sorgfältig recherierten Reportage zu unterscheiden ist (Noelle-Neumann/Schulz 1976,

160. Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen

71). Zu den weiteren Kriterien bei der Auswahl von Nachrichten gehören die Frage nach dem inhärenten Konfliktpotential, dem Effekt, den das geschilderte Ereignis auf eine überregionale oder nationale bzw. lokale regionale Bevölkerungsgruppe hat (Relevanz), der mehr oder minder starken Veränderung des status quo durch das Ereignis (Erfindungen oder Naturkatastrophen), der Prominenz der unmittelbar von dem Ereignis Betroffenen, dem Neuigkeitswert, sowie der räumlichen und zeitlichen Nähe des geschilderten Ereignisses zum Zielpublikum des Blattes. Manchmal spielt auch der 'Human Interest' eine Rolle, bzw. kann, vermittels des „Human-Interest-Effekts" aus einer ansonsten nicht relevanten Meldung eine Reportage werden (Harriss/Johnson 1965, 26ff.). Eine vor allem im anglo-amerikanischen Raum zu beobachtende qualitative Veränderung der Kriterien für den Nachrichtenwert einer Meldung ist dabei der durch das Fernsehen, bzw. die wachsende Abhängigkeit lokaler Zeitungen von Agenturen (dpa, Reuters, UPI, AP, Agence France Press) beeinflußte Trend zur „Nationalisierung" ursprünglich lokaler oder regionaler Ereignisse (Stein 1985, 3). Ebenso aus dem angelsächsischen Journalismus übernommen wurde das Postulat der strikten Trennung von Nachricht und Meinung (welches freilich in der deutschsprachigen Presse selten den gleichen Stellenwert erhielt wie etwa in den USA), sowie der Aufbau einer Meldung oder eines Berichts, der sich am Prinzip der 'Inverted Pyramid' (auch 'TopHeavy-Form' genannt) orientiert, d.h. einer auf den Kopf gestellten Pyramide, wobei das Wesentlichste (bzw. Sensationellste) an einer Meldung zuerst berichtet wird, während im weiteren Textkörper ergänzende und erklärende Details folgen. — Der Elementarbaustein der Zeitungsberichterstattung ist die einfache Meldung (oft von einer Agentur übernommen), die in kürzester, prägnanter Form dem Leser die wesentlichsten Fakten eines Ereignisses übermittelt. Da indes hierbei eine Analyse bzw. vermittelnde Aufarbeitung des Materials weitgehend unmöglich ist, bleibt die typische nachrichtliche Präsentationsform des Zeitungsjournalismus der Bericht, in dem die Nachricht bereits unter dem Aspekt der o. a. Relevanzstrukturen gesichtet, zumindest oberflächlich analysiert und in narrativer Form aufbereitet wird, allerdings meist in bewußt distanzierter, nüchterner, „objektiver" Form. Für den Bericht gelten im wesentlichen bereits die Voraussetzungen, die

1713

in verstärktem Maße auch bei den größeren nachrichtlichen Formen (Feature, Reportage, Report) unterstellt werden: (1) Sichtung des Nachrichtenmaterials unter den diskutierten Relevanzkriterien; (2) Recherche (Vorrecherche im Archiv der Zeitung sowie in anderen Dokumentationsstellen, Recherche vor Ort, Beobachtung, Interviews); (3) Zusammenstellung und kritische Sichtung des gesammelten Materials; (4) Aufbereitung und Niederschrift; (5) Redaktionelle Überarbeitung. Komplexere Themen, bzw. Probleme, deren Informationswert für das Zielpublikum einer Zeitung oder Zeitschrift von der Redaktion als besonders hoch eingeschätzt wird, können in den journalistischen Großformen des Features, der Magazingeschichte, des Reports oder der eigentlichen Reportage behandelt werden, wobei sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff Reportage als Sammelbezeichnung für alle nachrichtenbetonten narrativen Großformen der Zeitungsberichterstattung durchgesetzt hat. Haller (1990) unterscheidet die vier Formen nach dem Grad ihrer Abhängigkeit von den persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen des Berichtenden, also letztlich nach ihrem subjektiven Gehalt. — Das Feature (von to feature = bildlich darstellen, das Wesentliche sichtbar machen) veranschaulicht die theoretische Erörterung eines komplexen Problems durch die Schilderung von konkreten Situationen, in denen Menschen im Alltag sich diesem Problemkomplex konfrontiert sehen; es stellt Fakten anhand von menschlichen Schicksalen dar. Diese Erlebnisse haben freilich vor allem beispielhaften (nicht: beweisenden) Charakter, sie müssen also nicht unbedingt die eigenen Erlebnisse des Reporters sein, ja sie können sogar hypothetische, fiktive Konstrukte sein. Entscheidend ist hier nur die Veranschaulichung sowie die Faktizität des Berichteten, was das behandelte Thema selbst angeht. Im Kontrast dazu erhebt die Magazingeschichte (ursprünglich entwickelt vom amerikanischen Nachrichtenmagazin Time, in Deutschland popularisiert vor allem durch den Spiegel) Anspruch auf absolute Faktizität auch der eingestreuten reportagehaften Elemente, die allerdings in der Regel wiederum nicht die eigenen Erlebnisse des Reporters in den Vordergrund stellen, sondern die Schicksale von Personen schildern, die unmittelbar von dem Problem betroffen sind, mit dem sich der Bei-

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trag beschäftigt. Oft als konkretisierender Einstieg ins Thema am Anfang der Geschichte piaziert, werden diese Einsprengsel von der Magazingeschichte in die Struktur eines argumentativen Zusammenhangs gestellt, so daß sie eine rhetorische Funktion erhalten. Der Report versucht, als eine genreübergreifende Großform journalistischer Berichterstattung, zugleich mit der nachrichtlichen Deckung des Informations-Grundbedarfs auch eine erste umfassende (populärwissenschaftliche Analyse eines akuten, aber in seinen komplexen Auswirkungen nicht durch die repräsentative Typik eines individuellen Erlebnisberichts darstellbaren gesellschaftlichen Problems zu liefern (ζ. B. 'Kinder und Fernsehen', 'Der Treibhauseffekt', oder 'Die Sinnkrise der Deutschen'). Der Report unterscheidet sich von den anderen berichtenden Formen also auch durch die wesentliche stärkere wissenschaftliche Aufarbeitung der verschiedenen Teilkomplexe des übergreifenden Themas durch den Berichterstatter, bzw. — hier eher typisch — durch ein Team von Journalistinnen. Dazu gehört in diesem Fall meist auch das Studium von Gutachten und wissenschaftlicher Fachliteratur (wodurch beim Report nicht selten die Grenze zum Wissenschaftsjournalismus fließend wird), sowie eine stärker diachron angelegte zeitliche Orientierung — im Gegensatz etwa zu der meist synchronen Struktur der anderen Berichtsformen. Schließlich ist dem Report auch häufig eine — zumindest implizite — prognostische Funktion eigen: er will sein Lesepublikum über im Zusammenhang des behandelten Themenkomplexes zukünftige Probleme vorab informieren und damit eventuell anfallende Entscheidungen erleichtern. Bei der Reportage im eigentlichen Sinne handelt es sich schließlich um die inzwischen in allen westlichen Kulturen klassisch gewordene Form journalistischer Berichterstattung ('investigative journalism'), zugleich aber auch um eines von wenigen Genres, die der Journalismus zum Arsenal literarischer Ausdrucksformen beigesteuert hat (neben dem Essay und dem der Reportage eng verwandten klassischen Feuilleton).

2.

Kommunikative und ästhetische Probleme berichtender Texte

Im Bemühen, definitorische Grenzen zu den anderen berichtenden Großformen zu ziehen, hat man versucht (wie z.B. Haller 1990, 93), die Reportage allein auf das authentische, in-

dividuelle und einmalige Erlebnis eines teilnehmenden oder beobachtenden Individuums festzulegen, d.h. auf den Reporter als Augenzeugen. Dabei bleibt jedoch außer acht, daß sich die Reportage als subjektiv-objektive Mischform mit appellativem Charakter (es sei an den handlungsintentionalen Gehalt des Wortes 'Nachricht' erinnert: etwas, nach dem man sich richten kann) seit jeher im Grenzgebiet zwischen referenziellen, repräsentativen und rhetorischen Textsorten bewegt. Das schließt den Einbezug fiktionaler Elemente keineswegs aus, solange die Glaubwürdigkeit der Fakten im Zentrum des Berichts davon nicht angetastet wird. Letztlich bleibt aber doch die Subjektivation des Materials, d. h. die subjektive Erfassung objektiver Tatbestände durch den Berichtenden der Dreh- und Angelpunkt jeder Reportage. Dem entspricht die für die Reportage charakteristische Fluchtung des erzählten Textes auf die Persönlichkeit, Erlebnisfahigkeit und Glaubwürdigkeit des Berichterstatters. Rezeptionsästhetisch mag man sich die Reportage als einen impliziten Kontrakt zwischen Autor und Leser vorstellen. Entsprechend dieser Vereinbarung verpflichtet sich der Reporter eben nicht zu objektiver Berichterstattung (dafür ist die Reportage zu subjektiv), wohl aber zu Akkuratesse in der Schilderung der als real annoncierten Fakten (Mitford 1980, 24) und zu Repräsentativität in der Wahl des dargestellten Wirklichkeitsausschnittes (d. h. es wurde nicht ein extremer Ausnahmefall als typisch für einen geschilderten Problemkomplex ausgegeben, wobei Letzteres ein Unterscheidungsmerkmal zwischen der seriösen und der Regenbogenpresse markieren dürfte). — Leserseitig erfüllt sich dieser Kontrakt durch die Akzeptanz der im Kern der Reportage geschilderten Fakten, trotz der unvermeidlichen Verzerrungen die sich durch jede Selektion eines Wirklichkeitsausschnitts, sowie die Gestaltung und Subjektivation des Materials ergeben. Dieser Kontrakt kann sowohl vom Berichterstatter als auch vom Leser aufgekündigt werden: auf der Seite des Reporters durch bewußte Verfälschung oder Verzerrung der Fakten, auf Leserseite durch Entzug des Vertrauensvorschusses. Eine solche rezeptionsästhetische Sicht der Reportage als virtueller Text, der sich aufgrund der Basiskonventionen des Genres gewissermaßen im freien Zwischenraum zwischen Autor und Leser aktualisiert, umgeht die endlosen (und letztlich ergebnislosen) Debatten, die seit den zwanziger Jahren immer wieder um die Frage

160. Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen

geführt wurden, ob die Reportage schlicht die Oberfläche der Wirklichkeit dupliziert oder vermittels der ihr möglichen gestalterischen Mittel Wirklichkeit analytisch zu durchdringen vermag (vgl. etwa die sog. 'Lukács-Ottwalt-Debatte' in der Linkskurve 1932). Je klarer und deutlicher sich der (oder die) Berichtende als zwischen Material und Leser vermittelnde Instanz ins Bewußtsein der Letzteren bringt, desto besser sind die Chancen der Leserinnen, sich gegen die Wucht des Faktischen zu behaupten, einen kritischen Standpunkt zu finden, von dem aus sie die Glaubwürdigkeit der Reportage beurteilen können. Die personale, subjektivierte Erzählweise, (und d. h. in der Regel die Form der Ich-Erzählung) greift also nicht nur auf die jeglicher Kommunikation als Basisfiktion unterliegende face-to-face-Situation zurück, sie macht auch den Prozeß der Gestaltung, und das heißt der unvermeidlichen Manipulation des Materials durch den Berichtenden, transparent. Freilich kann das im Extrem zu einer allzu stark feuilletonistischen Schreibweise führen, bei der die Optik des Reporters sich so stark verzerrend vor das Faktenmaterial schiebt, daß ersteres einer unabhängigen Einschätzung durch den Leser überhaupt nicht mehr zugänglich ist - wie etwa bei manchen Autoren des amerikanischen New Journalism. Es gilt also, die Balance zwischen subjektivierender und objektivierender Schilderung so weit wie möglich zu halten (Geisler 1982, llOff.).

3.

Artikulationsformen der Reportage

Hier ist zu unterscheiden zwischen thematischen und im eigentlichen Sinne formalen Kriterien: Nach ihren Themenschwerpunkten haben sich im Verlauf der Zeitungsgeschichte folgende Subgenres herauskristallisiert: die den meisten Lesern geläufigste Lokalreportage, (normalerweise in der einfachen Form des Berichts), die nach wie vor eine unersetzliche Funktion als Transmissionsriemen gesellschaftlicher Selbstverständigung im lokalen oder regionalen Umkreis hat; die eher an voyeuristischen Bedürfnissen orientierte Sensationsreportage, die Sozialreportage (in ihrer stärker beschreibenden Variante auch als Milieureportage), die sich zumeist der Schilderung gesellschaftlicher Mißstände widmet; ihr verwandt ist die Enthüllungsreportage, die versucht, Informationen über politische oder gesellschaftliche Arkanbezirke (d. h. dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs normaler-

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weise verschlossene Wissensbereiche) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen; die Gerichtsreportage, die neben ihrer Informationspflicht auch noch stellvertretend für die Gesellschaft als Ganzes eine Kontrollfunktion gegenüber den Gerichten wahrnimmt, wobei allerdings die Ubergänge von der Gerichts reportage zur Urteilsschelte oft fließend sind (vgl. etwa die klassischen Gerichtsreportagen 'Slings' = Paul Schlesinger); die Sportreportage, die im Zeitalter der liveUbertragung ihre ursprünglich informierende Funktion weitgehend eingebüßt und heute eher feuilletonistischen Anstrich hat; die Wissenschaftsreportage (meist als Report), deren Funktion vor allem in ihrer Vermittlerrolle zwischen Fachwissenschaft und einem breiteren Publikum angesiedelt ist; und schließlich die Reisereportage, die nicht nur die älteste, sondern in gewissem Sinne auch die Grundform des Genres darstellt. Sei es, daß ein Korrespondent, der seinen Wohnsitz ständig am fremden Ort hat, über die Sitten und Gebräuche einer anderen Gegend oder eines anderen Landes informiert, sei es daß der Autor über seine eigene Reise berichtet und damit wieder die Sensibilität des teilnehmenden Beobachters mit in den Text einbringt (Link 1963) — immer und programmatisch konfrontiert die Reisereportage ihr Lesepublikum mit dem Anderen, wobei die Attraktivität des Genres wiederum in der Verbindung von Vertrautheit (Standort des Rezipienten) und Fremdem liegen dürfte. Dies gilt auch für alle übrigen Reportageformen, wodurch dem Genre als ganzem ein Element des Exotischen, ja Voyeuristischen anhaftet. - Strukturell kann die Reportage — wie das ihr verwandte Feuilleton (vgl. Haacke, 1951, Bd. II, Kap. VIII) — auf das gesamte Formenarsenal epischer Kurzformen zurückgreifen (von der sachlichen Chronik über das Porträt, die Skizze, das Stimmungsbild bis hin zum Brief). Zu den wichtigsten Techniken und Methoden der Reportage gehören, neben der nicht unproblematischen „flotten Schreibweise" (vgl. Siegel 1978, lf.) das Interview, die Montage, sowie die Verfremdung. Das Interview ist nicht nur eine eigenständige Form der Zeitung, es ist auch eine der potentiell ergiebigsten Informationsquellen für die Reportage, der es als faktisches Rohmaterial zugrunde gelegt werden kann, die es aber andererseits auch als formales Strukturelement mit gestalten kann. Die Montage ermöglicht es der gleichermaßen auf Prägnanz und größtmögliche Wirkung angelegten Repor-

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tage, heterogene und z.T. einander kontrastierende Teilelemente eines Wirklichkeitsausschnitts nebeneinanderzustellen, um durch den so entstehenden Schockeffekt beim Leser Betroffenheit auszulösen. Freilich nutzt sich gerade dieses Stilmittel besonders leicht ab und wird zur reinen Manier, besonders dann, wenn es nicht von den inneren Widersprüchen des Stoffes selber diktiert wird, die der Reporter auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen versucht. — Die Verfremdung ist besonders da produktiv, wo die Signifikanz, bzw. Relevanz des Materials sich dem Leser nicht von selbst erschließt (wie etwa bei sensationellen Ereignissen), sondern erst im Verlauf der Reportage selber nachgeliefert werden muß (ζ. B. bei Reportagen aus der Alltagswelt). Das dem Leser scheinbar (allzu) Vertraute muß aus dem ,Grundrauschen' des Gewohnten herausgeholt und in verfremdeter, interessanter Form dem denkenden Bewußtsein erneut zugänglich gemacht werden. So ist auch Egon Erwin Kischs berühmtes Vorwort zur Erstausgabe des 'Rasenden Reporters' (1925) zu verstehen, das nicht nur wegweisend für die Entwicklung des Genres in Deutschland wurde, sondern auch immer wieder als eine Art Gründungsmanifest der Neuen Sachlichkeit zitiert wird: Kisch schreibt dort: „Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verläßlich, wie sich eine Aussage geben läßt. Die Orte und Erscheinungen, die er beschreibt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, die Quellen, die er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig erreichbar sein, wenn er in einer Welt, die von der Lüge unermeßlich überschwemmt ist, [...] die Hingabe an sein Objekt hat. Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Hinter diesem scheinbaren Bekenntnis zu journalistischem Faktenfetischismus verbirgt sich tatsächlich der aufklärerische Anspruch der Zeitungsberichterstattung. Die Reportage klagt die Ideale der Aufklärung gegenüber der sich aus diesen Idealen als Gründungsmythen legitimierenden demokratischen Gesellschaft ein. Ihre Spannung bezieht sie aus der Differenz zwischen diesen Idealen und den Zuständen in der Wirklichkeit, die sie, in verfremdeter Sichtweise, als skandalon enthüllt. Freilich gibt es auch hier ein caveat: „Der interessante Aspekt darf

nicht nahe, aber er muß immer naheliegend sein. Das meint: Er darf nicht ausgedacht, nicht an den Haaren herbeigezerrt werden" (Haller 1990, 101). Der Berichterstatter bewegt sich also auf dem schmalen Grad zwischen einer produktiv verfremdenden Gestaltung des Materials, die den Leser dessen neue Seiten entdecken läßt und einem aufgesetzten Exotismus. — Darüberhinaus hat sich die Reportage einige für ihre Bedürfnisse besondere Ausdrucksformen bzw. Techniken geschaffen, deren bekannteste, die Zangenreportage, einen kontroversen Darstellungsbereich von zwei gegensätzlichen Standpunkten aus anfluchtet, etwa den einander durch reale Interessengegensätze kontrastierenden Perspektiven von Management und Belegschaft bei einer Industriereportage (Engelmann/Wallraff 'Ihr da oben — wir da unten', 1973) oder den ähnlich gelagerten Gegensatz zwischen Tierschützern und Vertretern der Kosmetikindustrie bei einer Wissenschaftsreportage über Verbraucherschutz durch Tierversuche. Die Rollenreportage, für die der Berichterstatter sich die Innenperspektive und präzise Detailkenntnis des teilnehmenden Beobachters verschafft, indem er für kürzere oder längere Zeit die Identität einer anderen sozialen Gruppe annimmt (meistens ohne deren Wissen), gehört nicht erst seit Günter Wallraffs spektakulären Aktionen und Selbstversuchen zum Standardrepertoire des Genres.

4.

Zur Geschichte der Reportage

Von Herodot und Plinius ('Reportage' vom Ausbruch des Vesuvs) bis zu Goethes 'Kampagne in Frankreich ' reicht die von Praktikern und Theoretikern im Nachhinein konstruierte „Ahnengalerie" der Reportage (Villain 1965, 8 ff.). Tatsächlich ist es jedoch wenig sinnvoll, von 'Vorläufern' einer Gattung zu sprechen, bevor nicht auch die Strukturen des soziokulturellen Kontexts, in dem sie eine Funktion erfüllt, sich wenigstens rudimentär herausgebildet haben. Für die Zeitungsberichterstattung heißt das: zumindest die Frühform eines organisierten Nachrichtenwesens, das die Anforderungen, die an Presseerzeugnisse als Katalysatoren öffentlicher Meinungsbildung gestellt werden, wenigstens in Ansätzen erfüllt: es geht um die vier Kategorien der Publizität (öffentlich zugänglich — was ζ. B. die 'Fuggerbriefe' und andere Kaufmannsbriefe ausschließt), Periodizität (regelmäßiges Erscheinen), Universalität und Aktualität. Wenn-

160. Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen

gleich auch nach dem Erscheinen der ersten Zeitungen in Deutschland (Wolfenbüttler 'Aviso' und Straßburger 'Relation', 1609) und der ersten deutschen Tageszeitung in Leipzig (1650) diese vier Kategorien noch keineswegs einheitlich galten, so kann man doch ab dem 17. Jh. vom Entstehen einer bürgerlich-räsonierenden Öffentlichkeit sprechen, für welche die Zeitung — und mit dieser die Reportage — zu einem der wesentlichsten Kommunikationsmittel werden sollte (Koszyk 1966; Pürer/Raabe 1994, 32ff.). Die französische Revolution von 1789 und ihre Folgeerscheinungen, die auch auf Deutschlands Entwicklung wesentlichen Einfluß ausübten, ließ die Auflagen von Zeitungen und Zeitschriften in die Höhe schnellen und verlangte gleichzeitig nach rascher, gründlicher, aktueller Information, wollte man den ständig sich verändernden Realitäten in der französischen Hauptstadt folgen. Da jedoch einerseits die Tageszeitungen in Deutschland - bis in die Bismarckzeit hinein — unter Zensur standen, andererseits aber Journalisten in Deutschland (bis heute) mehr dem Kommentar und Leitartikel zuneigen als dem reinen Bericht, entwickelten sich reportageähnliche Vorformen in Deutschland zunächst mehr in Monatszeitschriften und Journalen wie Friedrich Justin Bertuchs 'Journal des Luxus und der Moden' oder Cottas 'Morgenblatt für die gebildeten Stände' (in dem ζ. B. Heines England-Korrespondenzen erschienen). Zwei oft als 'Vorläufer' der Reportage reklamierte Bucherscheinungen der Zeit, Georg Forsters 'Ansichten vom Niederrhein' und J. G. Seumes 'Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802' geben, ungeachtet ihres literarischen Wertes als klassische Reisebeschreibungen, zur Definition des Entstehens der Reportage relativ wenig her, da in beiden Büchern das deiktische Moment deutlich hinter das feuilletonistische bzw. politische Räsonement zurückfällt. Aus ähnlich gelagerten Gründen lassen sich auch Ludwig Börne und Heinrich Heine nur bedingt für die Tradition der Reportage reklamieren. Zweifelsohne gehören beide zu den wichtigsten Gründerfiguren in der Geschichte des deutschen Journalismus. Das hat jedoch mehr mit den der Tagespresse stark zugewandten Publikationsstrategien des 'Jungen Deutschland' zu tun als mit spezifischen Einflüssen auf bestimmte Genres (Wülfing 1982). Sicher haben sich Generationen von Journalisten an Heines Stil geschult: der planmäßig eingesetzte Stilbruch, der mit der Illusion aufräumt, es ließe sich der chaotische Schock

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einer modernistischen Weltsicht im Medium der Literatur noch versöhnen (und von dem eine direkte Linie zur Technik der Montage führt), die auf eine einzige konkrete Beobachtung zugespitzte Causerie, die Einführung des 'Flaneurs' als ironisch-distanzierte Hypostasie des Berichterstatters, all das sind Stilmittel, die längst ins Arsenal des deutschsprachigen Journalismus eingegangen sind. Das macht Heine aber noch nicht zum Reporter, allein schon deshalb, weil er vermutlich eine derartige Berufsbezeichnung mit Entrüstung zurückgewiesen hätte, angesichts des gesellschaftlichen Status, den dieser Berufsstand zu seiner Zeit genoß. Heine schrieb seine journalistischen Arbeiten (vor allem die 'Französischen Zustände' und die 'Lutetia') vielmehr als Auslandskorrespondent für Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung. — Ein echter Vorläufer der Reportage in Deutschland sind dagegen Georg Weerths Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten, erstveröffentlicht 1843/44 als eine Reihe von Briefen in der 'Kölnischen Zeitung'. Um mehr zu sehen, „als was man auf einem flüchtigen Gange durch die schlechtesten Gassen einer Fabrikstadt zu bemerken pflegt", gibt sich Weerth als Gehilfe eines schottischen Arztes aus, „der von morgens bis abends in allen Arbeiterhütten herumkriechen mußte" (Weerth 1956, 196) — womit sowohl der Identitätswechsel der Rollenreportage als auch die Methode der teilnehmenden Beobachtung bereits vorgeprägt sind. - Für die Entwicklung der Reportage als eigenständiger journalistischer Form zeichnet dagegen fast ausschließlich der anglo-amerikanische Journalismus verantwortlich (s.u.). Bezeichnend dafür ist z. B. daß sich weder der Begriff 'Reporter' noch der der 'Reportage' in den älteren deutschen Standard-Wörterbüchern findet. Nach dem von einem Autorenkollektiv der D D R 1989 herausgegebenen 'Etymologischen Wörterbuch des Deutschen' wurde 'Reporter' in der 1. Hälfte des 19. Jhs. aus dem Englischen ins Deutsche übernommen, wobei das englische Substantiv sich aus mfrz. repourteur („wer einen Bericht abfaßt bzw. liefert") entwickelt hat - möglicherweise auf dem Umweg über den Parlaments-'Reporter', d. h. den Protokollführer oder Stenographen. Ursprüngliche Wurzel ist das lateinische reportare, d. h. zurücktragen oder -bringen. Das Nomen 'Reportage' wurde dagegen erst gegen Ende des 19. Jhs. aus dem Französischen entlehnt, wobei in diesem Zusammenhang angemerkt werden sollte, daß bis in die neun-

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zehnhundertsiebziger Jahre hinein der angloamerikanische Journalismus den Begriff 'Reportage' selten benutzt (stattdessen meist: 'reporting' oder 'report'). Erst im Umkreis der literarischen Reportage, wie sie vor allem von den Autoren des 'New Yorker' und den Repräsentanten des 'New Journalism' gepflegt wurde, begann sich das Wort reportage als Neuentlehnung aus dem europäischen Sprachbereich auch in den USA durchzusetzen. Die klassischen Vertreter der Reportage in den USA sind Henry M. Stanley, Lincoln Steffens, Upton Sinclair und John Reed, der mit seiner Reportage über die russische Revolution, 'Ten Days That Shook the World', ein eindrucksvolles Zeugnis teilnehmender Beobachtung geliefert hat; in jüngerer Zeit setzte John Hersey mit 'Hiroshima', einer Serie von personell verknüpften Augenzeugenberichten, dem großen Trauma des 20. Jhs. jenes dokumentarische Mahnmal, das eigentlich das Werk des Reporters William L. Laurence hätte sein müssen, der am 9. August 1945 unmittelbarer Augenzeuge der Zerstörung Nagasakis geworden war. Es zeigte sich an der Differenz zwischen Herseys humanistischem Monument und dem völlig gefühllosen Bericht des 'New-York-Times'-Reporters Laurence nicht zum ersten Mal in der Geschichte die Problematik des unmittelbaren Augenzeugen, der (geographisch, zeitlich und emotional) zu nah am Geschehen ist, um das Gesehene einordnen, konkretisieren zu können. - Andere amerikanische Gegenwartsautoren, die sich intensiv mit dem Genre auseinandergesetzt haben, sind Norman Mailer, James Agee, Truman Capote, John McPhee, Tom Wolfe, Studs Terkel, Jane Kramer, und die jüngste Generation: Tracy Kidder und Ted Conover (Sims 1984, 1995). In England gehören zu den Vorläufern Daniel Defoe, zu den bekanntesten literarischen Vertretern des Genres Charles Dickens (der u. a. als Parlamentsreporter arbeitete und unter dem Pseudonym 'Boz' eine Reihe von Skizzen aus dem englischen Alltagsleben verfaßte) und George Orwell. Für die meisten deutschsprachigen Schriftsteller (wie etwa Adalbert Stifter und Theodor Fontane) blieb dagegen die Reportage, soweit sie sich für das Genre überhaupt interessierten, Gelegenheitsarbeit. Über den Umweg des Feuilletons (Daniel Spitzer, Adolf Glassbrenner) differenziert sich die Reportage bei Egon Erwin Kisch erstmals als eigenständiges journalistisch-literarisches Genre heraus. Kisch, der selbst im Feuilleton begonnen hatte, bringt von dort

die ästhetischen Innovationen Börnes, Heines und Weerths in die Reportage ein: die Figur des Flaneurs ebenso wie die präzise Beobachtung scheinbar unwesentlicher Details, mit der sich in der Reportage das Faktum von seiner früher rein illustrativen Funktion emanzipiert und verselbständigt. Vom Feuilleton holt sich Kisch auch die eklektische Formenvielfalt, die es ihm ermöglicht, in seinen Texten vom 'Spaziergang' des klassischen Feuilletons, über das Dramolett, den fiktiven Dialog, den Essay, das Proträt, den Reisebericht, den Erfahrungsbericht und natürlich die 'Reportage' selber im eigentlich journalistischen Sinn mit fast allen Formen zu experimentieren, die ihm eine klassische Ästhetik zur Verfügung stellte. Der wesentlichsten Einschränkung, die die Reportage als 'Kleine Form' mit sich bringt, daß sich nämlich jeweils nur ein relativ kleiner Wirklichkeitsausschnitt in ihr wiedergeben läßt, suchte Kisch vor allem in seinen großen Reisereportagen ('Zaren, Popen, Bolschewiken'; 'Paradies Amerika'·, 'Asien gründlich verändert'·, 'China geheim', 'Landung in Australien'·, 'Entdeckungen in Mexiko') dadurch zu steuern, daß er die Einzelreportagen nach einem Bauplan zusammensetzt (Schlenstedt 1985, 284f.) und so eine Art 'Facetteneffekt' erreicht, durch den jede Einzelreportage über sich selbst hinausweist, wobei zudem noch die Reportagen aus der Sowjetunion den Zuständen in den USA und Australien kontrastiv gegenübergestellt werden (Schütz 1977, 126). Wo allerdings der Konsensus demokratischer Selbstverständigung seine Geltung verliert, büßt auch die Reportage ihre aufklärende Funktion ein: Obgleich im Faschismus durchaus Reportagen geschrieben wurden und in der D D R das Genre sogar intensiv gefördert wurde, läßt sich das prinzipiell subversive Potential der Reportage nur um den Preis der Selbstentäußerung zur Glorifizierung eines faschistischen Expansionskrieges in der Kriegsberichterstattung oder zum leistungssteigernden Aufbau von Arbeiterdenkmälern ('Hennecke-Geschichten' in der D D R ) zweckentfremden (Hauptmann, o. J.). Hingegen kam es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches mit Arbeiten von Erich Kästner, Erich Kuby, u.a. im Westen zu einer kurzlebigen Renaissance des Genres. Wichtige neue Impulse kamen aus um die Mitte der sechziger Jahre entstehenden Bemühungen, auf verschüttete Traditionen der Weimarer Arbeiterkorrespondenten und Betriebsreportagen zurückzugreifen. Ging es der „Gruppe

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160. Berichterstattung in der Zeitung: Kommunikative und ästhetische Fragen

61" noch eher darum, Arbeitertexte in den traditionellen Literaturbetrieb einzugliedern, so zeigten sich die stärker operativ definierten „Werkkreise Literatur der Arbeitswelt" mehr an Selbstverständigung der Arbeiter untereinander, sowie an „Wirkungen in der Praxis" (Wallraff) interessiert (Berghahn 1980; Ludwig 1976). Vor diesem Hintergrund sind auch Günter Wallraffs 'Industriereportagen' einzuordnen, in denen sich zum ersten Mal seit Kisch wieder Ansätze einer systematischen Reportagekonzeption ausmachen lassen. Allerdings neigt Wallraff dazu, aus Angst vor Literarisierung seines Produkts, ein- und dieselben Um- oder Mißstände zunächst durch Erfahrungen am eigenen Leib zu schildern, um sie dann, in der Hoffnung, damit ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen, mit geringen Variationen durch Erlebnisse von anderen sowie durch den pointierten Einbezug von Dokumenten im Montageverfahren abzustützen. Das erhöht zwar den Authentizitätseffekt der Industriereportagen, führt aber in den folgenden Reportagesammlungen (Wallraff 1972; 1975) rasch zur Ermüdung des Lesers, zumal sich Wallraff immer stärker darauf verläßt, durch bewußte Provokation die Anlässe zu seinen Reportagen selbst herbeizuführen. Erst mit der von langer Hand vorbereiteten Rollenreportage über die BILD-Zeitung, 'Der Aufmacher' (1977), gelingt es Wallraff, seine Reportagekonzeption neu zu durchdenken und gleichzeitig, mit der Enthüllung des Redaktionsalltags in der BILD-Zeitung, ein Thema von überragendem gesellschaftlichen Interesse aufzugreifen. Diesem Erfolg folgte wenige Jahre später ein noch größerer: 'Ganz unten' (1985), Wallraffs Schilderung seiner Erlebnisse als türkischer Hilfsarbeiter, wurde zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Bücher der Gegenwart. In beiden Fällen beruht der Erfolg (neben der Brisanz des Themas) nicht zuletzt darauf, daß sich Wallraff wieder stärker auf die erzählende Beschreibung seiner persönlichen Erlebnisse besinnt, was die Reportagen zugänglicher und anschaulicher macht. — Wenngleich die Diskussion um die Reportage im letzten Jahrzehnt etwas abgeflaut ist, hat das doch der Popularität des Genres keinen Abbruch getan. Neben dem spektakulären Erfolg von Wallraffs 'Ganz unten' wären etwa die Gerichtsreportagen von Gerhard Mauz (1968; 1975) oder Peggy Parnass (1979) ebenso zu erwähnen, wie die präzisen Milieuschilderungen der SPIE GEL-Reporterin Marie-Luise Scherer (1988), die Amerikabilder Klaus

Harpprechts (1987), oder auch die satirischen Erlebnisberichte der toz-Mitarbeiterin Gabriele Goettle (1991). In der Nachfolge Günter Wallraffs schreibt man Enthüllungs- bzw. Rollenreportagen (Schomers 1990), und 1978 stiftete die Illustrierte STERN einen 'EgonErwin-Kisch-Preis' für die besten deutschsprachigen Reportagen. Kaum etwas führt aber den Beweis für das anhaltende Bedürfnis nach relevanter, zeitgenössischer Berichterstattung besser als das weiterhin starke Interesse von Zeitungslesern an Berichten und Reportagen aus dem lokalen und nationalen Bereich (Pürer/Raabe 1994, 238ff.). 5.

Literatur

Autorenkollektiv des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft unter Leitung von Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen: Q - Z . Berlin/DDR 1989. Berghahn, Klaus L., Operative Ästhetik: Zur Theorie der dokumentarischen Literatur. In: Deutsche Literatur in der Bundesrepublik seit 1965. Hrsg. v. Paul M. Lützeler/Egon Schwarz. Königstein/Ts. 1980. Engelmann, Bernt/Günter Wallraff, Ihr da oben — wir da unten. Reinbek 1973. Geisler, Michael, Die literarische Reportage in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen eines operativen Genres. Königstein/Ts. 1982. Forster, Georg, Ansichten vom Niederrhein. In: Werke. Hrsg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 9. Berlin 1958. Goettle, Gabriele, a.M. 1991.

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Geisler, Middlebury

( VT,

USA)

161. Kommunikative Funktionen des Zeitungsinterviews 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einführung Begriffsklärung Typen des Interviews Das Interview als Gespräch Das Interview als Gesprächswiedergabe Literatur

1.

Einführung

Das Zeitungsinterview zählt heute fraglos zu den fest etablierten j o u r n a l i s t i s c h e n Textsorten. E s wird s o g a r als M o d e e r s c h e i n u n g beschrieben ( H ä u s e r m a n n 1993, 151) u n d gilt a u f g r u n d seines a u t h e n t i s c h e n C h a r a k t e r s u n d der von ihm vermittelten Lebendigkeit als eine b e s o n d e r s a t t r a k t i v e u n d l e s e r n a h e Darstellungsform.

S c h o n bei d e r E n t s t e h u n g des Z e i t u n g s i n terviews scheinen diese V o r z ü g e eine wesentliche Rolle gespielt zu h a b e n . D e n ersten Versuch, die B e r i c h t e r s t a t t u n g d u r c h die Wiedergabe v o n G e s p r ä c h e n lebendiger, persönlicher u n d l e s e r n ä h e r z u gestalten, u n t e r n a h m e n Polizeireporter d e r „ p e n n y p r e s s " in den U S A . D e r A n s t o ß f ü r die ersten Interviews (seit 1835) k a m also n i c h t e t w a a u s d e m Bereich d e r politischen B e r i c h t e r s t a t t u n g , sond e r n lag v i e l m e h r i m w a c h s e n d e n B e d a r f d e r n e u e n M a s s e n p r e s s e n a c h gleichzeitig a u t h e n tischen u n d u n t e r h a l t s a m e n Personengeschichten b e g r ü n d e t (Nilsson 1971). E i n n e u e r A s p e k t k a m h i n z u , als Interviews — w i e d e r u m z u e r s t in d e n U S A - a u c h in die

1721

161. Kommunikative Funktionen des Zeitungsinterviews

politische Berichterstattung Eingang fanden (seit 1863). Nicht die Vorzüge der angenehm lesbaren Präsentationsform standen hier im Vordergrund, sondern der Zugang zu exklusiven Informationen und die Eroberung des (öffentlichen) Fragerechts. In diesem Sinne ist die Entstehung des Interviews auch Ausdruck eines sich wandelnden journalistischen Selbstverständnisses: weg vom älteren Konzept eines Chronisten der Ereignisse (vgl. Schröder 1995) hin zur modernen Auffassung von Journalisten als Vertreter einer (kritischen) Öffentlichkeit. Entscheidende Bedeutung für die Etablierung des modernen politischen Interviews im deutschen Journalismus hatte das SpiegelGespräch (seit 1956). Nach amerikanischem Vorbild traten Journalisten hier als gleichberechtigte, gut informierte und kritisch nachfragende Gesprächspartner auf — in den Anfängen eher in einer „examinierenden" Expertenrolle (Haller 1991, 54), später immer stärker als Kontrahenten. Auch die äußere Gestaltung war eng am amerikanischen Vorbild orientiert: die Darstellung des Gesprächsverlaufs in Frage und Antwort, das Redigieren mit dem Ziel, den Text in der schriftlichen Form gut lesbar zu machen, die Autorisierung des Textes durch den Gesprächspartner (zum Spiegel-Gespräch vgl. Grünewald 1985). In Zeitschriften, im Hörfunk und im Fernsehen wurden seitdem immer neue Spielarten des Interviews entwickelt und erprobt, vor allem porträtierende und konfrontative Formen (Überblick bei Haller 1991, 34 ff.). In den Tageszeitungen wurden diese Entwicklungen erst in den siebziger Jahren und verstärkt seit dem Ende der achtziger Jahre aufgegriffen. Ein anderer Trend ist dagegen bereits in den sechziger Jahren erkennbar: der Rückgriff auf die Frage-Antwort-Form als Ersatz für den recherchierten journalistischen Beitrag. Auf diesem Zwiespalt zwischen den elaborierten Formen des 'großen' und prestigeträchtigen Interviews einerseits und den alltäglichen Erscheinungsformen des Interviews als einer preiswerten und scheinbar einfachen Darstellungsform andererseits beruht wohl auch die bis heute nicht abgeschlossene Diskussion, inwieweit das Interview überhaupt eine presseadäquate Darstellungsform bildet. „Als Mittel der Recherche war und ist das Interview ein selbstverständliches Instrument der Presse, als Darstellungsform jedoch war und ist es umstritten" (Burger 1990, 57).

2.

Begriffsklärung

Wenn in der Publizistik zwischen Interviews als Recherchemittel und Interviews als Darstellungsform unterschieden wird, so verweist dies zunächst einmal auf unterschiedliche Verwendungszusammenhänge. So wird das Recherche-Interview als eine zielgerichtete Form der Befragung beschrieben, die in erster Linie der Informationsbeschaffung dient, während beim Interview als Darstellungsform die Wiedergabe des Gesprächs als Dialog aus Fragen und Antworten für zentral gehalten wird (vgl. Haller 1991, 96ff.). Das in der Zeitung veröffentlichte Interview ist also in einem doppelten Sinne Interview: Einerseits beruht es auf einer besonderen Art von Quelle (Interview als Gespräch), andererseits verkörpert es einen besonderen Umgang mit dieser Quelle (Interview als Gesprächswiedergabe). Aus diesen beiden Komponenten ergeben sich vier charakteristische Merkmale. (1) Das Interview als Medieninterview: Um die Besonderheiten des Medieninterviews im Unterschied beispielsweise zum kriminalistischen, sozialwissenschaftlichen oder medizinischen Interview zu verdeutlichen, wird vor allem sein öffentlicher Charakter betont. So ist das Medieninterview immer auch an ein Publikum gerichtet, was sich vor allem in spezifischen Wissenskonstellationen und Gesprächsstrategien zeigt (Bucher 1994, 485ff.). (2) Das Interview als Gesprächssorte: Als wichtigste Eigenschaft, in der sich das Interview von anderen Gesprächssorten wie Diskussion oder Streitgespräch unterscheidet, wird in der Forschung die asymmetrische bzw. komplementäre Rollenverteilung zwischen Fragendem und Befragtem hervorgehoben, die sich in charakteristischen Handlungsmöglichkeiten der Gesprächspartner niederschlägt (Holly 1993, 169ff.). (3) Das Interview als geformtes Interview: Deutlicher als das (Live-)Interview der audiovisuellen Medien, in dem Gespräch und Wiedergabe zusammenzufallen scheinen, ist das Zeitungsinterview immer auch ein zum Zweck der Wiedergabe bearbeitetes Gespräch (ein 'geformtes' oder 'gestaltetes' Interview). Zentrales Merkmal ist die „Übersetzung" von mündlicher in schriftliche Kommunikation, die mit einer spezifischen Form der redaktionellen Bearbeitung einhergeht (Burger 1990, 59f.). (4) Das Interview als Wiedergabeform: Für die Präsentation von Interviews gibt es unterschiedliche Formen. Als entscheidende

1722

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Merkmale, in denen sich die Wiedergabe als Interview von anderen Verwendungsformen (ζ. B. Bericht mit O-Ton) unterscheidet, werden der Erhalt der dialogischen Gesprächsstruktur und eine verlaufsorientierte Form der Wiedergabe genannt (Haller 1991, lOOf.). Am deutlichsten sind diese Merkmale in der Form des redigierten Frage-Antwort-Protokolls erfüllt.

3.

Typen des Interviews

Verschiedene Typen des Zeitungsinterviews werden vor allem nach der Textfunktion, nach dem inhaltlichen Schwerpunkt, nach dem Gesprächstyp und nach der Präsentationsform unterschieden. Die Heterogenität der Unterscheidungskriterien bedingt zahlreiche Querverbindungen und Überschneidungen. (1) Textfunktion: Auf unterschiedliche Textfunktionen verweist die Unterscheidung zwischen Sach- und Meinungsinterview (Lüger 1995, 124f.; 141 ff.). Das Sachinterview ist dadurch bestimmt, daß es in der gleichen Funktion wie eine Nachricht oder ein Bericht verwendet werden kann. Das Meinungsinterview erfüllt eine ähnliche Funktion wie andere meinungsbetonte Textsorten (ζ. B. der Kommentar). Eine differenziertere Beschreibung der Interviewfunktion wird möglich, wenn Interviews als Interview-Supplement komplementär zu anderen Textsorten verwendet werden (vgl. Haller 1991, 155). (2) Inhalt: Nach der Art des erfragten Wissens (und damit auch nach dem zugrundeliegenden journalistischen Befragungsinteresse) werden Interviews zur Sache und Interviews zur Person unterschieden. Feinere Differenzierungen ergeben sich aus den unterschiedlichen Rollen, die der Befragte ausfüllen kann. Die sachliche Orientierung dominiert beispielsweise in Experteninterviews oder in der Zeugenbefragung. Typische Interviews zur Person sind Prominenten-Interviews oder Star-Interviews (Schwitalla 1979). Im verschränkten Interview verbinden sich das Interview zur Sache und zur Person: Wesentlichen Stellenwert nimmt die persönliche Sichtweise des Befragten in bezug auf die Sache ein (Haller 1991, 134ff.). (3) Gesprächstyp: Die Art der Gesprächsgestaltung bildet ein weiteres Kriterium für die Unterscheidung von Interviewtypen. Auf unterschiedliche Interviewsituationen nehmen Klassifizierungsversuche Bezug, die

nach der Zahl der beteiligten Partner, nach dem Ort des Interviews oder nach den Entstehungsbedingungen fragen. Unterschieden werden damit beispielsweise Redaktionsgespräch, Umfrage, Vor-Ort-Interview. Die charakteristischen Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten sind der wichtigste Ausgangspunkt für eine Unterscheidung nach verschiedenartigen Interviewstrategien, wie sie beispielsweise im konfrontativen Interview oder im Selbstdarstellungsinterview greifbar sind. Der Vergleich mit Gesprächsformen außerhalb der Medien erlaubt die Abgrenzung von Sonderformen wie Verhör oder Tiefeninterview. (4) Präsentationsform: Auf den zweiten Teil der Interviewdefinition, also auf die Wiedergabe des Gesprächs in Textform, beziehen sich Differenzierungen des Interviews nach der Präsentationsform. Als „Normalform" der Interviewpräsentation gilt die Wiedergabe des Gesprächs in Form eines Protokolls (das reine Interview·). Eine weitergehende Aufbereitung liegt dem Interviewporträt, der Interviewreportage oder der Interviewstory zugrunde. Als neuere Form nennt Häusermann (1993, 153) den Bericht mit Dialog-Sequenzen. Wiedergabeformen, bei denen das Gespräch gegenüber dem Interviewkontext in den Hintergrund tritt, finden sich vor allem in der Boulevard- und Regenbogenpresse (Burger 1990, 66ff.).

4.

Das Interview als Gespräch

Das Interview als Gesprächssorte ist ein zentraler Forschungsgegenstand der linguistisch bzw. ethnomethodologisch fundierten Dialoganalyse (einen Überblick gibt Bucher 1994, 483 ff.). Obwohl ein Schwerpunkt auf der Untersuchung von Fernsehinterviews liegt, haben die Ergebnisse in vielen Punkten medienübergreifende Gültigkeit. Bestimmend für das Interview als medienspezifische Gesprächssorte sind danach vor allem zwei Merkmale (vgl. Holly 1993, 169ff.): einerseits die „trialogische" Grundkonstellation und das daraus resultierende Phänomen der „Mehrfachadressierung" (indem die Partner miteinander sprechen, sprechen sie auch zum Publikum), andererseits „die durchgängige Asymmetrie bzw. Komplementarität der beiden beteiligten Rollen" (Holly 1993, 169), durch die sich das Interview von anderen Dialogformen unterscheidet, die in den Medien vorkommen.

161. Kommunikative Funktionen des Zeitungsinterviews

Während die Handlungsmöglichkeiten des Interviewten im wesentlichen auf die Beantwortung der gestellten Fragen und damit auf eine reaktive Rolle beschränkt sind, verfügt der Interviewer mit dem Fragerecht auch über weitreichende gesprächsorganisatorische Befugnisse (Greatbatch 1988). Er übernimmt die thematische Steuerung, eröffnet und beendet das Interview, erteilt und entzieht das Rederecht. Die Möglichkeit von Fragevorbereitungen und -begründungen erweitert sein Handlungsspektrum über das reine Fragen hinaus. Begrenzt wird es andererseits durch die Neutralitätsverpflichtung, auf deren Einhaltung die Gültigkeit seiner Moderatorfunktion basiert (Jucker 1986). In Frage gestellt wird sie vor allem, wenn der Interviewer bewertende oder strittige Äußerungen ohne ausreichende Distanzierung und Absicherung als eigenen Standpunkt vorträgt. Aber auch Antwortbewertungen und „Empfangsbestätigungen", wie sie beispielsweise in Lehr- und Lern-Kommunikationen oder auch im Alltag üblich sind, gelten in Mediendialogen als Regelverstoß (Heritage 1985). Besonderes Interesse fand in der dialoganalytischen Forschung die Frage nach unterschiedlichen Strategien, die von Interviewern und Interviewten befolgt werden. Detaillierte Untersuchungen dazu wurden vor allem im Bereich der politischen Interviews angestellt. Auf der Seite des Interviewers geht es in erster Linie um Frage- und Dialogsteuerungsstrategien (z.B. Schwitalla 1979; BlumKulka 1983). Die Analyse des Antwortverhaltens läßt beispielsweise Ausweichstrategien oder offensive Vorgehensweisen deutlich werden (z.B. Holly/Kühn/Püschel 1986). Die Kenntnis solcher unterschiedlichen Frageund Antwortstrategien wird in medienpraktischen Arbeiten als wichtige Basis gesehen, die dem Journalisten eine bessere Steuerung des Gesprächsverlaufs ermöglicht (vgl. Haller 1991, 222 ff.). Zusammen mit einer gezielten Auswahl des Interviewpartners ist sie die Voraussetzung, die eine Entscheidung für die Wiedergabe als Interview überhaupt erst rechtfertigt.

5.

Das Interview als Gesprächswiedergabe

In Relation zum Interview als Gesprächssorte hat das Zeitungsinterview als eine spezifische Form der Gesprächswiedergabe in der

1723 Forschung nur wenig Interesse gefunden. So geben linguistische und medienpraktische Arbeiten meist nur relativ allgemeine Hinweise, wenn es um zeitungsspezifische Merkmale und um die besondere Leistungskraft des Interviews als Wiedergabeform geht (Ausnahmen sind beispielsweise Burger 1990; Haller 1991; Häusermann 1993). Zwei Aspekte werden hervorgehoben: einerseits die pressespezifische Form der Bearbeitung, andererseits die besondere Form der Gesprächswiedergabe, die sich durch Verlaufsbezogenheit und dialogische Struktur auszeichnet. Der erste Aspekt ist in den verschiedenen Arbeitsschritten faßbar, die jedem Zeitungsinterview zugrunde liegen (vgl. Burger 1990, 59ff.). Beim Redigieren wird die Sprache grammatisch und stilistisch angepaßt, es werden Auszüge bestimmt, die Abfolge kann verändert werden. Im Leadtext oder in einem dazugestellten Kasten werden ergänzende Informationen gegeben (zur Interviewsituation, über den Interviewpartner oder über das Thema). Obligatorisch sind Überschriften, in denen häufig die Textsortenkennzeichnung, der Interviewte oder eine Kernaussage angeführt werden. Auf die Bedeutung von Bildern und Bildunterschriften weisen beispielsweise Ecker/Landwehr/Settekorn u. a. (1977, 119ff.) hin. Der zweite Aspekt, der das Zeitungsinterview als eine besondere Form der Textwiedergabe kennzeichnet, ist in den konkurrierenden Möglichkeiten faßbar, die für die Aufbereitung der im Gespräch gewonnenen Informationen zur Verfügung stehen. Viele Texte (ganz unterschiedlicher Textsorten) basieren ganz oder teilweise auf Interviews, die in faktizierender Form (mit oder ohne Quellenangabe), in zusammenfassender Redewiedergabe (Redebericht) oder auch auszugsweise in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben werden. Vier Merkmale machen demgegenüber den besonderen Charakter einer Wiedergabe als Interview aus. (1) Perspektive: Im Interview kommt mit dem Befragten ein Nicht-Journalist ausführlich zu Wort: ein Fachmann, ein Beteiligter, ein Betroffener. Im Unterschied zur berichtenden, neutralen Sicht des Journalisten weist das Interview also eine besondere Perspektive auf. Es eignet sich daher in besonderem Maße als Ergänzungsform in Kombination mit anderen Textsorten. (2) Dialogische Struktur: Der dialogische Aufbau des Textes und seine Verlaufsorientierung erlauben eine ganz andere „Dramatur-

1724

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

gie" als monologische Texte. Was aus journalistischer Sicht zunächst vielleicht problematisch ist, nämlich die Schwierigkeit der Themensteuerung, erscheint damit zugleich als spannungserzeugendes Moment. (3) Mündlichkeit: Die auch im redigierten Text erkennbare Mündlichkeit der Äußerungen stärkt einerseits das persönliche Moment (Stil) und kann andererseits die Verständlichkeit verbessern. Die wichtigsten Merkmale sind ein geringerer Verdichtungsgrad und ein höherer Anteil an verständnissichernden Maßnahmen (Wiederholungen, Rückfragen, metakommunikative Ausdrücke). (4) Authentizität: Der dokumentarische Charakter von Interviews bedingt einen vergleichsweise hohen Grad an Authentizität und Transparenz. Mit dem Interview wird eine besondere Art von Medienereignis geschaffen, an dessen Ablauf der Leser (wenn auch vermittelt) teilnehmen kann. Die gängige Praxis der Autorisierung von Interviews macht die Texte darüber hinaus zu einem historischen Dokument und zu einer zitierfahigen Grundlage (Interviews als Nachrichtenquelle). Diese Merkmale verdeutlichen die besondere Leistungskraft des Interviews gegenüber anderen Textsorten, die in der gleichen oder einer ähnlichen Funktion verwendet werden können. Sie sind aber auch als Bedingungen lesbar, unter denen ein Interview seine besondere Qualität erst entfalten kann. In Ratschlägen für das „gute" Interview, wie sie in allen journalistischen Handbüchern zu finden sind, werden diese Qualitätskriterien benannt. Betont werden die zielgerichtete Auswahl von Interviewpartnern, die gründliche Vorbereitung und strategische Planung, die Wahl der angemessenen Wiedergabeform und die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung, die den Dialog zu einem attraktiven und gut lesbaren Text macht. Auf dieser Basis erweist sich auch das 'einfache' Interview, das heute fester Bestandteil des journalistischen Alltags ist, als eine 'schwierige Form', die besondere Ansprüche an die journalistische Tätigkeit stellt. 6.

Literatur

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Heinz-Helmut,

Pressesprache.

Tübingen

2

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Tilomas Schröder, Tübingen

(Deutschland)

162. Kommunikative Funktionen der Zeitungsrezensionen

1725

162. Kommunikative Funktionen der Zeitungsrezensionen 1. 2. 3. 4.

Zur Forschungslage Definition der Rezension Funktionen der Rezension Literatur

1.

Zur Forschungslage

Im Gegensatz zu Tradition und Bedeutung der Rezension steht die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Beitragsform. Definitionen, Funktionsbeschreibungen und empirische Befunde finden sich fast nur am Rande, im Zusammenhang mit anderen journalistischen Textformen, meistens in wenigen Zeilen abgehandelt. Die Liste der Forschungsdesiderata ist lang. Reichlich liegen lediglich flott geschriebene Zeitungsartikel, pointierte Reflexionen von prominenten Rezensenten etc. vor; schon Zeitschriftenaufsätze sind selten. Am häufigsten beschrieben sind die Anfänge. Eine kultursparten- und beitragsformenübergreifende Geschichte des Feuilletonressorts haben zahlreiche Zeitungskundler bis Mitte des 20. Jhs. gewagt (Eckstein 1876; Kellen 1909; Meunier 1914; Meunier/Jessen 1931; Haacke 1951-1953). Ihnen verdanken sich wichtige Hinweise auch zur Rezension. Doch sind die Darstellungen methodisch unzureichend und selbst bereits historisch. Am weitesten erforscht ist die Geschichte der Kritik in und außerhalb von Rezensionen. Auf diesem Feld wurden nicht nur die meisten öffentlichen Diskussionen geführt, sondern haben vor allem Literaturwissenschaftler wichtige Ergebnisse vorgelegt (z.B. Barner 1990; Hohendahl 1985; Wellek 1977). Im Mittelpunkt stehen die Kriterien und Normen des Wertens, eingebettet in ästhetische und historische Zusammenhänge. Für eine Pressegeschichte ist damit jedoch nur ein Teilaspekt erhellt. Eine Geschichte der Rezension steht ebenso aus wie die des Kulturjournalismus insgesamt. Wichtige Schritte dahin sind empirische Einzelanalysen (z.B. Diederichs 1986; Döpfner 1991; Glotz 1968; Jakoby 1988; Lesle 1981; Rolika 1985; Schenk-Güllich 1972; Tadday 1993; Todorow 1996) und Längsschnitte nach Kultursparten (ζ. B. Dresdner 1915; Hohendahl 1985; Venturi 1979; Wellek 1977). 2.

D e f i n i t i o n der R e z e n s i o n

Ebenso rar wie empirische Befunde zu Geschichte und Gegenwart der Rezension sind

Definitionen. Ob Debatte über Sinn und Zweck oder Inhaltsanalyse, fast immer scheint der Gegenstand fraglos. Der Forschungsstand erlaubt nur eine vorläufige Bestimmung: Rezension heißt der Beitrag in einem öffentlichen Medium, mit dem ein Journalist ein von ihm rezipiertes Kulturereignis unter anderem beschreibt, erklärt, einordnet, deutet und/oder bewertet. 2.1. Kommunikationssituation Im Gegensatz zum privaten Face-to-FaceGespräch auf der Straße oder in einem Café über einen neuen Roman oder Film ist das Rezensieren eine öffentliche und mediale Kommunikationsform: Es ist an ein allgemeines Publikum (in der Fachpresse an Sondergruppen) gerichtet und immer über Medien wie Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen vermittelt. Ferner gehört zum kommunikativen Rahmen der Rezension eine spezifische Situation: Der Rezensent hat ein Buch gelesen, ein Konzert gehört, einen Film gesehen und schreibt darüber für die Leser seiner Zeitung mit bestimmten Zielen. Das impliziert erstens thematische und temporale Restriktionen (siehe 2.2.), zweitens charakteristische Modifikationen je nach Pressetyp und -organ. 2.2. Thematische und temporale Restriktion Der Ausdruck 'Rezension' wird nur für Texte über kulturelle Ereignisse verwendet. Wirtschaftliche, politische oder sportliche Geschehnisse werden nach den Regeln unserer Sprache nicht rezensiert. Die thematische Restriktion läßt sich präzisieren auf Kulturprodukte wie Buch und CD oder Kulturveranstaltungen wie Lesung und Konzert. Über kulturelle Trends, Personen oder Ereignisse des Kulturbetriebs erscheinen keine Rezensionen, sondern Kommentare, Glossen, Porträts oder schlicht Berichte. Man kann weder einen Künstler noch eine Figur, weder eine Entwicklung noch eine Preisverleihung rezensieren. Temporale Restriktion: Rezensionen werden nach dem Kulturereignis geschrieben; genauer: nach der Rezeption durch die Rezensenten. Die kann vor der frühestmöglichen durch Leser liegen (bei einer Pressevorführung eines Films vor dem offiziellen Kinostart), parallel (bei einer Theaterpremiere) oder danach (bei Buch oder CD).

1726

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

2.3. Konstitutive und fakultative Elemente

2.4. Rezension und Kritik

Die wenigen vorfindlichen Definitionen gehen nicht über die Feststellung hinaus, daß in Rezensionen informiert und bewertet, unterrichtet und beurteilt wird. Das gilt für alle journalistischen Lehrbücher, aber auch für differenziertere germanistische Versuche (z.B. Huber/Strohschneider/Vögel 1993; Lüger 1995; Zillig 1982). Dem gegenüberzustellen ist die Fülle sprachlicher Handlungen als Elemente, unterschieden in konstitutive und fakultative. Konstitutive Handlungen des Rezensierens sind das Vorstellen einer Person (Künstler oder Figur im Kunstwerk), das Skizzieren einer Exposition (bei Roman, Theater oder Film), das Zusammenfassen des Inhalts (einer Handlung bei Romanen oder Spielfilmen), das Zitieren und andere Formen der Redewiedergabe, das Schildern und (Nach)Erzählen von Ereignissen, das Beschreiben und Erklären der formalen Mittel (nicht nur das schlagwortartige Nennen), das Vergleichen mit anderen Kunstwerken (der Zeit, des Landes, der Person), das Erläutern von Hintergründen, das Einordnen in unterschiedlichste Zusammenhänge, das Interpretieren, das Argumentieren, das Illustrieren einer Behauptung mit Beispielen und das Bewerten in seinen verschiedenen Spielarten vom Feiern oder Spotten bis zum nüchternen Abwägen (vgl. Stegert 1993). All diese funktionalen Bestandteile können auch in anderen Beitragsformen vorkommen: das Vorstellen, Skizzieren, Zusammenfassen etc. in einem Bericht, das Beschreiben und Erzählen in einer Reportage, das Erklären, Erläutern, Einordnen, Interpretieren in einer Analyse, das Bewerten in einem Kommentar, das Spotten in einer Glosse und fast alles in einer Kolumne. Konstitutiv für eine Rezension sind nicht die einzelnen funktionalen Elemente selbst, sondern sind deren Zusammenstellungen. Der Plural ist berechtigt, weil keine prototypische Auswahl zu beobachten ist, sondern eine Vielzahl von gleichwertigen Kollektionen konstitutiver Bausteine. Daneben ist die Rezension wie nur wenige Formen offen für weitere, in der Regel als unjournalistisch geltende Bestandteile wie das Abraten oder Empfehlen, Vorwerfen oder Danken, Fiktionalisieren, Ironisieren etc. (vgl. Stegert 1998). Die Elemente heißen fakultative, weil sie zwar oft in Rezensionen vorkommen (und nie etwa in Berichten), diese aber nicht definieren.

Die Rezension ist eine Beitragsform, die Kritik zunächst einmal eine sprachliche Handlung, die Teil des Rezensierens sein kann, aber auch in alltäglichen Gesprächen, Büchern, Diskussionen, Interviews etc. ihren Platz hat. Die Rezension ist nur ein möglicher 'Ort' der Kritik. Umgekehrt gibt es auch unkritische Rezensionen: Beiträge ohne Bewertung. Im englischsprachigen Raum ist dafür der Ausdruck 'review' gebräuchlich. Im wissenschaftlichen Kontext wird im Deutschen von 'Referat' gesprochen. Zur Veranschaulichung lassen sich zwei Mengen unterscheiden: die aller kritischen Äußerungen zu einem Kulturprodukt oder -ereignis und die aller Rezensionen. Die Schnittmenge sind alle kritischen Rezensionen. Sie können ohne Komplikationen 'Kritik' genannt werden. 2.5. Spielarten Einige Varianten werden nach Dominanz der Handlungen unterschieden. Das erwähnte Referat ist gekennzeichnet durch das Berichten und Einordnen und das Fehlen von Kritik. Steht diese im Vordergrund und werden die Wertungsarten Feiern und Spotten verwendet, so wird von Hymne oder Verriß gesprochen. Kurzrezension heißen in der Regel Texte mit bis zu 50 Zeilen auf 40 Anschlägen. Eine festgelegte Obergrenze gibt es nicht. Die Kürze führt zu Einschränkungen bei der Wahl der Handlungen: Besonders komplexe Formen wie das Erzählen oder Abwägen haben in Kurzrezensionen kaum Platz. Gleichwohl sind komplexe Handlungen konstitutiv. Eine Variante ist die Bildrezension, die in Form einer langen Bildlegende aufgemacht ist. Thematisch bestimmt ist die Sammelrezension, bei der zwei oder mehr Kulturereignisse in einem Beitrag rezensiert werden. Das spiegelt sich in der Auswahl der Handlungen wider: In Sammelrezensionen wird viel verglichen, eingeordnet und aneinander gemessen. Nach Gegenstandsbereich werden Buchkritik, Filmkritik, Musikkritik, Theaterkritik etc. unterschieden.

3.

Funktionen der Rezension

Die in Geschichte und Literatur wichtigsten Funktionen werden aufgeführt. Es sind vorwiegend leserbezogene (Motivieren, Informieren, Bilden, Unterhalten), rezensentenbzw. zeitungsbezogene (Profilieren) und kulturbezogene (Kritisieren, Vermitteln und För-

162. Kommunikative Funktionen der Zeitungsrezensionen

1727

dern, ästhetische Funktion). Keine Funktion der Rezension, aber eine Hauptaufgabe der Rezensierenden ist das Selektieren aus der Masse der Kulturereignisse.

Informationen, auf deren Grundlage sich jeder selbst ein Urteil bilden kann (vgl. Barner 1990; Holicki/Krcho 1992).

3.1. Motivieren und Profilieren

Das Bilden von Sprache, Wissen, Interessen, Geschmack und politischen wie ästhetischen Normen war eine der Hauptaufgaben der Kritik im 18. Jh. Je mehr sich die Regeln einer normativen Poetik auflösten und je breiter das Publikum wurde, desto wichtiger war es, ästhetische Maßstäbe zu verbreiten und zu begründen. Bis weit ins 19. Jh. hinein verstanden sich Rezensenten vorwiegend als Erzieher im Dienste der Kunst — und bürgerlicher Normen. Das Bilden erfolgt durch Hintergrundinformationen: durch das Einordnen in historische Zusammenhänge (von der politischen bis zur Kunstgeschichte und dem Werk des jeweiligen Künstlers), das Vergleichen mit anderen Kulturereignissen und Kulturschaffenden der Gegenwart, das Erläutern der künstlerischen Techniken und das Deuten.

Die Grundfunktion jedes journalistischen Beitrags ist das Motivieren zum An- und Weiterlesen. Zur Kontaktaufnahme dienen Plazierung, Aufmachung, Überschrift, Bild und Einstieg. Um die Leser im Haupttext 'bei der Stange zu halten', wird von Rezensionen jedoch mehr Stil und Originalität (siehe 3.7.) verlangt als von den meisten anderen Textformen. Jede Zeitung und jeder Journalist will meist aus idealistischen und muß aus ökonomischen Gründen ein klares Profil bilden. Die vielseitige Beitragsform Rezension eignet sich dafür besonders. Das Profilieren in diesem Sinne ist nicht eitle Selbstdarstellung, sondern dient dem Motivieren über den Text hinaus und damit der Leser-Blatt-Bindung. Insofern ist die Rezension ein Markenprodukt. Das gilt besonders für freiberufliche Rezensenten, die ihre Sprache zu Markte tragen (vgl. Irro 1986, 53-97). 3.2. Informieren Die ersten Rezensionen erschienen im 17. Jh. in wissenschaftlichen Zeitschriften (1665 im französischen 'Journal des Scavants' und 1682 in den Leipziger 'Acta Eruditorum'). Die allgemeine Presse folgte im 18. Jh. mit Buchbesprechungen in den Gelehrten Artikeln der Intelligenzblätter. Jeweils dienten Rezensionen vor allem der Information, der bis heute grundlegenden Funktion. Daran erinnern Lehrbücher (Heß 1992; Reus 1995). Informationen dienen den Lesern dazu, 'auf dem Laufenden' zu sein und mitreden zu können; sie liefern Gesprächsstoff. Rezensionen haben insofern immer auch eine Ersatzfunktion. Das bedeutet kritisch gesehen Wissen aus zweiter Hand, positiv betrachtet wird so ein Überblickswissen vermittelt. Informationen orientieren. Rezensionen treten nicht immer an die Stelle der Kunstrezeption, sondern bereiten diese auch vor. Die Servicefunktion nimmt vor allem in der Regionalpresse viel Raum ein, überwiegend durch Beitragsformen wie Ankündigung, Tip, Vorschaubericht und Veranstaltungskalender. Aber auch die Rezension soll bei der Freizeitplanung helfen; weniger durch Empfehlen oder Abraten als durch

3.3. Bilden

3.4. Kritisieren Die ersten zaghaften Versuche der Kritik in Rezensionen wurden im ausgehenden 17. Jh. und beginnenden 18. Jh. noch empört von Lesern, Künstlern und Zeitungsherausgebern zurückgewiesen. Als das Urteilen sich dann im Zeitalter der Aufklärung durchsetzte, war es zunächst noch ein Prüfen nach den festen Normen einer traditionellen Regelästhetik. Der Rezensent amtierte als Kunstrichter. Allmählich kam die Rolle des Gesetzgebers hinzu. Und Argumentation ersetzte die Berufung auf überkommene Autorität. Die Subjektivität des wahrnehmenden, urteilenden und schreibenden Kritikers betonen die Romantiker. Kriterien und Gewicht von Kritik wechselten in der Geschichte. Im Dritten Reich untersagte die 'Verordnung über das Verbot der Kunstkritik' vom 26. November 1936 jegliche Bewertung und verlangte eine bloß referierende „Kunstbetrachtung". Eine Rezension hat selten eine Kontrollfunktion. Zwar wird oft ein Gegengewicht zu den offensiven Marketingstrategien der Buchverlage, Platten firm en, Filmverleiher etc. gefordert, doch die raren Befunde über die Wirkung von Rezensionen zeigen ein Dilemma: Kritik hat Einfluß auf die Rezeption der Werke unbekannter Künstler, für die keine andere Öffentlichkeit hergestellt wird, sie erweist sich jedoch gerade da als machtlos, wo ein Korrektiv nötig wäre (vgl. Barner 1990; Glotz 1968; Hohendahl 1974; Holicki/Krcho 1992).

1728

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

3.5. Vermitteln und Fördern Unter dem Stichwort Vermitteln wird meistens mehr ein Um-Verständnis-Werben als ein Verständlich-Machen gefordert. Der Sprachgebrauch ist in der Literatur sehr uneinheitlich und umfaßt auch das Vermitteln von Kunstwerk und Geschichte, das Auslegen in ästhetische oder gesellschaftliche Zusammenhänge hinein. In der Tradition der Aufklärung steht der Anspruch, daß auch die Tageskritik einen Beitrag leisten soll zu ästhetischen oder gesellschaftlichen Diskussionen, also über den Rezensionsgegenstand hinauszugehen habe (Diskursfunktion). Vom Vermitteln im Sinne des Nahebringens ist es nur ein kleiner Schritt zum Fördern eines Kunstwerkes bzw. Künstlers, dem Werben aus idealistischen Motiven. Das muß nicht durch Lob geschehen, meist genügt das Herstellen von Öffentlichkeit, von Public Relation. Zur Rolle des Mentors gehört, nicht nur Vorliegendes zu fördern, sondern die Kulturschaffenden zu beraten, Tips und Anregungen zu geben. Johann Wolfgang Goethe führte dafür 1821 den Begriff 'produktive Kritik' ein. 3.6. Unterhalten Die ersten Rezensionen waren noch weniger unterhaltsam als kritisch. Doch schon in den bürgerlichen Kulturzeitschriften und erst recht in den ersten Feuilletonteilen zu Beginn des 19. Jhs. war das Unterhalten ein Hauptziel. Durch kurzweilige Darbietung sollte ein größeres Publikum erreicht und gebildet werden (vgl. 3.1.). Unterhaltung bedeutete bei Rezensionen nicht Ablenkung und Zerstreuung, sondern Anregung und kulinarischen Genuß. Rhetoriker sprechen vom delectare. 3.7. Ästhetische Funktion Noch über die gehobene, sprachlich gewandte Art der Unterhaltung hinaus geht die ästhetische Funktion von Rezensionen. Von den Romantikern über Persönlichkeiten wie Alfred Kerr und Ernst Robert Curtius sowie dem anglo-amerikanischen New Criticism bis hin zu den Dekonstruktivisten wurde die Kritik aus verschiedenen Gründen immer wieder als Kunst über die Kunst verstanden und gefordert. Bescheidener wird eine Literarisierung der Rezensiontexte oft mit der Norm einer gegenstandsadäquaten Sprache begründet. 3.8. Zur Geltung der Funktionen Vier Aspekte sind bei der Frage nach der Geltung der genannten Funktionen zu berücksich-

tigen: Geltungsquantität: Funktionen werden unterschiedlich gewichtet. Rezensionen erfüllen nie alle Funktionen im selben Maße. Geltungsqualität: Dieselbe Funktion kann durch unterschiedliche Mittel erfüllt werden. Was den einen unterhält, langweilt den anderen; was den einen bildet, das weiß der andere bereits. Geltungszeit: Quantität und Qualität der Geltung von Funktionen wechseln in der Geschichte und oft auch im Tagesrhythmus einer Woche. So galt die Bildungsfunktion im 18. Jh. stärker als heute und gilt in Wochenendbeilagen mehr als an Werktagen. Geltungsraum: Die unterschiedlichen Medien, Pressetypen, einzelnen Organe und Ressorts gewichten die Funktionen jeweils anders. Bei Illustrierten dominiert Unterhaltung, bei Regionalzeitungen Information und Service, bei Wochenzeitungen und überregionalen Qualitätszeitungen Information, Bildung und Kritik (Stegert 1998). 4.

Literatur

Barner, Wilfried (Hrsg.), Literaturkritik — Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart 1990. Diederichs, Hans Helmut, Anfänge deutscher Filmkritik. Stuttgart 1986. Döpfner, Mathias, Musikkritik in Deutschland nach 1945. Inhaltliche und formale Tendenzen. Eine kritische Analyse. Frankfurt a. M. 1991. Dresdner, Albert, Die Entstehung der Kunstkritik. München 1915. Eckstein, Ernst, Beiträge zur Geschichte des Feuilletons. 2 Bde. Leipzig 1876. Glotz, Peter, Buchkritik in deutschen Zeitungen. Hamburg 1968. Haacke, Wilmont, Handbuch des Feuilletons. Emsdetten. 3 Bde. 1951-1953. Heß, Dieter (Hrsg.), Kulturjournalismus. Handbuch für Ausbildung und Praxis. München/Leipzig 1992. Hohendahl, Peter Uwe, Literaturkritik und Öffentlichkeit. München 1974. — (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Stuttgart 1985. Holicki, Sabine/Michaela Krcho, Filmkritik, Filmbeurteilung und der Wunsch, den Film zu sehen. Zum Einfluß von Struktur und Inhalt einer Filmrezension. In: Publizistik 3, 1992, 361-372. Huber, Martin/Peter Strohschneider/Herfried Vögel, Rezension und Rezensionswesen. Am Beispiel der Germanistik. In: Geist, Geld und Wissenschaft. Hrsg. v. Peter J. Brenner. Frankfurt a. M. 1993, 271-295. Irro, Werner, Kritik und Literatur. Zur Praxis gegenwärtiger Literaturkritik. Würzburg 1986.

163. Kommunik. u. ästhet. Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen) 1729 Jakoby, Ruth, Das Feuilleton des „Journal des Débats" von 1814-1830. Tübingen 1988. Kellen, Tony, Aus der Geschichte des Feuilletons. Essen 1909. Lesle, Lutz, Notfall Musikkritik. Wiesbaden 1981. Lüger, Heinz-Helmut, 1995.

Pressesprache.

Tübingen

2

Meunier, Friedrich Ernst, Die Entwicklung des Feuilletons der großen Presse. Heidelberg/Nürnberg 1914. Meunier, Friedrich Ernst/Hans Jessen, Das deutsche Feuilleton. Ein Beitrag zur Zeitungskunde. Berlin 1931. Reus, Gunter, Ressort: Feuilleton. Kulturjournalismus für Massenmedien. Konstanz 1995. Rolika, Bodo, Die Belletristik in der Berliner Presse des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985. Schenk-Güllich, Dagmar, Anfänge der Musikkritik in frühen Periodica. Erlangen/Nürnberg 1972.

Stegert, Gernot, Filme rezensieren in Presse, Radio und Fernsehen. München 1993. — , Die Rezension. Zur Beschreibung einer komplexen Textsorte. In: Beiträge zur Fremdsprachen Vermittlung 31, 1997, 89-110. - , Feuilletion für alle. Strategien im Kulturjournalismus der Presse. Tübingen 1998. Tadday, Ulrich, Die Anfänge des Musikfeuilletons. Stuttgart/Weimar 1993. Todorow, Almut, Das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung". Tübingen 1996. Venturi, Lionello, Geschichte der Kunstkritik. München 1972. Wellek, René, Geschichte der Literaturkritik (1750-1950). 4 Bde. Darmstadt 1977. Zillig, Werner, Textsorte „Rezension". In: Sprache erkennen und verstehen. Hrsg. v. Klaus Detering/ Jürgen Schmidt-Radefeldt/Wolfgang Sucharowski. Tübingen 1982, 197-208.

Gernot Stegert, Tübingen

(Deutschland)

163. Kommunikative und ästhetische Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen) 1. 2. 3. 4.

Einleitung Geschichte Kommunikationscharakter Literatur

1.

Einleitung

Die folgenden Darlegungen beziehen sich auf Werbeanzeigen in periodisch erscheinenden Druckmedien, also Zeitungen, Zeitschriften, Magazine und Illustrierten. Sie sind in neuerer Zeit neben den Funkmedien bevorzugte Vermittler von Werbeanzeigen jeder Art. Allerdings beschränken sich branchenspezifische Werbungen häufig nur auf branchenbezogene Druckmedien, während allgemein verbreitete Druckmedien (Printmedien) in der Regel Werbungen für die verschiedensten Waren und Dienstleistungen vermitteln.

2.

Geschichte

Werbeanzeigen in Druckmedien sind an einen bestimmten Stand der Drucktechnik, des Zeitungswesens und der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung gebunden. Wirtschaftswerbung im engeren Sinne des Hinweisens auf bestimmte Waren (Markenartikel

und Dienstleistungen) gibt es, seitdem diese Waren auf Märkten, in Geschäften und Werkstätten, später auch in Manufakturbetrieben und Fabriken in überreichem Maße angeboten und abgesetzt werden mußten. Die ersten Vermittler von Werbung waren Marktschreier und Schrifttafeln (oft mit Preisangaben). Werbung durch Druckmedien war erst nach Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg (um 1440) möglich. Messeplakate, Handzettel (Flugblätter) und Messekataloge waren die ersten Drucke dieser Art. Mit dem Aufkommen erster Zeitungen im 17. Jh. erschienen auch die ersten Firmenanzeigen (1625 in England, 1626 in den Niederlanden). U m 1700 tauchen in einigen deutschen Städten behördliche Ίηtelligenz-Blätter' auf, in denen auf Kaufoder Mietartikel hingewiesen wird. Die Weiterentwicklung des Zeitungs- und Anzeigenwesens ist von drucktechnischen und pressepolitischen Fortschritten abhängig, so einerseits von der Entwicklung der Lithographie 1789 durch Senefelder, der Zylinderschnellpresse 1812 durch König, des Rasterverfahrens 1881 durch Meisenbach, der Zeilensetzmaschine 1885 durch Mergenthaler, des Offsetdrucks 1921/22, andererseits von der Auf-

1730

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

hebung des Verbots von Anzeigen in Zeitungen um 1850, endgültig 1871—74. Die ständige Verbesserung der Drucktechnik bis zum farbigen Abdruck von Bild-Text-Verbindungen in den Illustrierten der dreißiger und fünfziger Jahre, das Abbilden der Warenmuster in Messe- und Versandkatalogen und schließlich das Aufkommen des Rundfunks in den zwanziger und des Fernsehens in den fünfziger Jahren führten seit dem späten 19. Jh und noch stärker im 20. Jh. zu einem gewaltigen Anstieg der Print- und Funkmedienwerbung, die in zunehmenden Maße professionell und wissenschaftlich fundiert betrieben wurde. Neben den drucktechnischen Verbesserungen, die eine effektive äußere Wirkung der Werbeanzeigen ermöglichten, wurde auch deren psychische Wirksamkeit intensiviert. Die zunächst dominierende behavioristische Psychologie mit ihren Verhaltensbeobachtungen von Reiz und Reaktion wurde allmählich durch tiefenpsychologische Erkenntnisse ergänzt und abgelöst. Aus der ersteren hatte man die sog. AIDA-Formel abgeleitet, wobei der Werbevorgang als Abfolge aus attention (Aufmerksamkeit), interest (Interesse), desire (Wunsch) und action (Kaufhandlung) verstanden wurde, während die tiefenpsychologisch beeinflußte Werbung durch die sog. Emma-Formel (MR = motivations research) gekennzeichnet wurde, der Motivationsforschung vor aller Werbung und der damit verbundenen indirekten Werbung, vor der ihr bedeutendster Kritiker Vance Packard in seinem weltweit bekannt gewordenen Buch 'The hidden Persuaders' (1957, deutsch: Die geheimen Verführer, 1968) eindringlich gewarnt hat.

3.

Kommunikationscharakter

Da alle Werbeanzeigen Mitteilungen enthalten, handelt es sich hierbei um Kommunikationsvorgänge. (Es mag strittig bleiben, ob die bloße Abbildung von Waren bereits eine Werbemitteilung ist. Bei Zufügung eines Markenzeichens oder Firmennamens ist sie es auf jeden Fall). Als Kommunikationsvorgang unterliegt jede Werbeanzeige bestimmten Bedingungen, die für alle Kommunikationsvorgänge gelten. Man kann diese Bedingungen an einem einfachen kybernetischen Modell verdeutlichen, das den Vorgang einer Kodierung einer Mitteilung (message) auf der Sender-Seite und deren Dekodierung auf der Empfänger-Seite anzeigt, wobei die Vermitt-

lung der Mitteilung mit Hilfe eines oder mehrerer Kodes über einen bestimmten Transportweg (Kanal) erfolgt. Der Intention des Senders entsprechend, reagiert der Empfanger, sofern er den Kode erkennt (dekodiert), häufig mit einer bestimmten Handlung oder einer Rückkopplung in Form von Fragen, Antworten u. ä. Diese Modellvorstellung trifft auf viele alltägliche Kommunikationsvorgänge zu, ζ. B. auf Gespräche, Telefonate, Ermahnungen, Belehrungen usw. 3.1. Besonderheitender Werbekommunikation Der Vorgang der Anzeigenwerbung (wie auch der Funk- und Fernsehwerbung) unterscheidet sich allerdings davon durch wichtige Abweichungen in allen Einzelheiten des Kommunikationsvorgangs, (1) in einer veränderten Senderbestimmung, (2) in variablen Senderintentionen und Mitteilungen an den Empfanger, (3) häufig in einem kombinierten Kode, (4) in einem anderen Rezeptions- und Dekodierungsverhalten auf der Empfangerseite. 3.1.1. Die veränderte Senderbestimmung Sender (Absender) der Mitteilungen in einer Werbeanzeige ist natürlich die Firma, die auf diese Weise ein bestimmtes Produkt bzw. eine bestimmte Dienstleistung bekanntmachen und verkaufen will. Nur selten erfolgt die Bestimmung der Werbemitteilung an den möglichen Konsumenten durch die Firmenleitung oder gar den Chef selbst, vielmehr wirken bei größeren Firmen (die sich allein größere Werbeaktionen in den Massenmedien erlauben können) mehrere Arbeitsgruppen zusammen: als erster Primärsender diejenigen Stellen der Verkaufsplanung bzw. des Marketing einer Firma, die für ein neuartiges Produkt oder eine neuartige Dienstleistung, oft erst nach Aktionen der Absatzforschung, eine Werbestrategie, zunächst in Form einer Markenstrategie festlegen und mit der eigenen Werbungsabteilung oder einer Werbeagentur absprechen. Sinn der Markenstrategie ist es, das rechte Markenimage zu finden, das die vorgesehenen Konsumentengruppen ansprechen kann, meistens dadurch, daß es einen bestimmten Nutzen (mitunter auch einen 'Nebennutzen') des Werbeobjekts (Markenartikels) für den Konsumenten verdeutlicht; als zweiter Primärsender die ausgewählte Werbeagentur (bzw. -Abteilung), die dann die Gestaltungsstrategie und die Mediastrategie ausarbeitet und nach Absprache mit dem ersten Primärsender (oft auch der Firmenleitung) realisiert.

163. Kommunik. u. ästhet. Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen) 1731

3.1.2. Kommunikationsintentionen der Werbemitteilung

3.1.3.

Wesentliche Aufgabe der von der Markenstrategie abhängigen Gestaltungsstrategie ist die Festlegung der Art und Weise der Konsumentenansprache, die in einem unmittelbaren (direkten) oder mittelbaren (indirekten) Kaufhinweis oder Kaufappell erfolgen kann. Während direkte Kaufaufforderungen, wie sie die ältere Form der Reklame bevorzugte, heute als zu marktschreierisch abgelehnt werden und nur bei besonderen Verkaufsaktionen vorkommen (ζ. B. Schlußverkäufen, Lagerräumungen, Sonderrabatten), haben sich verschiedene Formen des indirekten Kaufhinweises bzw. Kaufappells ausgebildet. Diese sind weniger Imperativisch; sie appellieren auch weniger an Verstand und Willen als vielmehr an psychische Faktoren des Konsumenten wie Selbstbewußtsein, Eitelkeit, Geltungsbedürfnis, Schönheitssinn, Modernitätsstreben, sex-appeal u. ä. Der Psychologie und ihren verschiedenen Methoden, Reaktionen, Wünschen und Strebungen der Menschen zu erforschen, k o m m t dabei eine große Bedeutung zu (s. o.). Der Grundintention der Wirtschafts- und Warenwerbung, den Absatz bestimmter Waren und Dienstleistungen anzuregen und zu steigern, sucht m a n in der Marken- und Gestaltungsstrategie etwa durch folgende indirekte Teilintentionen (Teilstrategien) gerechtzuwerden: möglichst 'objektive' Darstellung der Werke, Idealisierung der Verwendungssituation, Zuordnung positiver Wertungen zum Werbeobjekt (z. B. Beseelungen), Einordnung der Ware in fremde Zusammenhänge (z. B. in CowboyRomantik = story-Strategie), Erfolgsverheißungen (z. B. 'Riesen-Waschkraft'), Triebappelle (z. B. junge Frauen im Bild), Lob oder Tadel für den Konsumenten (z. B. Käuferstilisierung zum 'Kenner'), Eigenlob des Kommunikators (Image-Werbung, z. B. von Banken), Einbezug von bekannten Gewährsleuten (Sekundärsendern), Dialogisierung der Verwendungssituation (oft in Funkmedien), Werbung mit Zusatzangeboten, z. B. Preisausschreiben ('Rucksackwerbung'), Appell an Angst und Furcht (z. B. Versicherungswerbung), Verbindung mit Witz und Komik, Umwegwerbung.

Werbeanzeigen bestehen zunächst aus Textelementen verschiedener Art in einem verständlichen sprachlichen Kode. Der Sprachtext einer solchen Anzeige besteht minimal aus dem Namen und zumeist auch aus einer Kennzeichnung der Ware. Bei den meisten Werbeanzeigen lassen sich jedoch drei Textteile unterscheiden: (1) die Schlag- oder Kopfzeile (headline), (2) der Haupttext, (3) der Slogan. Im Unterschied zur Zeitungsschlagzeile mit ihrer Konzentration der Hauptnachricht will die Schlagzeile der Werbeanzeige stets die Aufmerksamkeit des Lesers wecken und erscheint deshalb oft in einer auffallenden Formulierung, z. B. als Zitat, als Zitatabwandlung, als Sprachspiel, wertende Warenbenennung, allgemeine Sentenz, als Frage, persönliche Rechtfertigung o. ä. Der Haupttext dagegen bietet meistens Hinweise auf die Vorzüge des Werbeobjekts bei seiner Verwendung. Er kann dabei verschieden lang sein, die Ware evtl. nur in Erinnerung rufen oder sie ausführlich erläutern und Argumente f ü r ihre Anschaffung angeben. Dabei wird der Warenname wiederholt genannt und graphisch hervorgehoben. Der Textinhalt entspricht dabei in der Regel der gewählten Gestaltungsstrategie und Intention (bzw. Teilintention, s. o.). Der Slogan (urspr. = Schlachtr u f ) ist eine auf leichte Einprägsamkeit ausgerichtete formelhafte Textzeile, die den Produktnamen und -zweck in Erinnerung behalten soll (Klotz 1963), was oft durch seine sprachliche Eigenart (z. B. als Sprachspiel, Reim, Sprichwort o. ä.) verstärkt wird. Slogans sind erst mit den Markenartikeln im 20. Jh. aufgekommen. Manche älteren Slogans sind noch heute in Erinnerung (z. B. Odol gibt sympathischen Atem), andere nur von kurzer Geltungsdauer.

Warenwerbungen in Form von Anzeigen können nicht alle möglichen Kaufargumente vermitteln; sie müssen sich auf ein möglichst ansprechendes Argument konzentrieren, auf das die gesamte Gestaltungsstrategie ausgerichtet sein muß. Zunächst wird dies in der Kodierung der Werbebotschaft realisiert.

Mehrfachkodierung

3.1.3.1. Sprachliche Kodierung

Häufig sind bestimmte Sprachhandlungen (Sprechakte) mit den Slogans verbunden (Flader 1974). Die Sprache der Anzeigenwerbung (vgl. Römer 1968) ist zumeist in allen Textteilen durch eine Vorliebe für positive Wertungen, Steigerungsformen und 'semantische Aufwertungen' (oft mit Vorsilben wie super-, höchst-, kraft- u. ä.) gekennzeichnet. 3.1.3.2. Bildliche (visuelle) Kodierung Mindestens ebenso wichtig wie die sprachlich-textliche Kodierung der Werbeanzeige ist deren bildliche (visuelle) Kodierung. Über deren Mitteilungswert gibt es unterschiedli-

1732

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

che Auffassungen. Manche Werbetheoretiker schätzen ihn höher ein als den des Sprachtextes ('Ein Bild sagt mehr als tausend Worte'), andere betonen den höheren Wert des Textes, der das illustrierende Bild erst fixiere. Ein Bild wirkt dort besonders, wo es plakativen Charakter hat (mitunter erscheinen die gleichen Bilder in Zeitschriften wie auf Litfaßsäulen oder Plakatwänden) oder wo es die Ware und ihre Verwendung besonders eindrucksvoll verdeutlicht (ζ. B. in Werbungen für Autos, Schmuck, Kleidung). Text und Bild sollten aufeinander bezogen sein und parallele Intentionen verfolgen, die der Markenstrategie entsprechen. Mitunter kann allerdings ein Bild auch eine Fehlhaltung oder Fehlentwicklung aufzeigen, auf die im Text korrigierend hingewiesen wird, wobei das Werbeobjekt oft als Hilfe empfohlen wird. Bildauswahl und Bildgestaltung werden in der jeweiligen Gestaltungsstrategie durch die Werbeagentur (bzw. Werbeabteilung) festgelegt. Dabei spielen rezeptionsästhetische Aspekte ebenso eine Rolle wie rezeptionspsychologische Aspekte. Wichtig sind vor allem die klare Erkennbarkeit und ästhetisch-kommunikative Wirksamkeit des Bildes. Dabei ist es weniger relevant, ob das Bild als Zeichnung oder als Foto erscheint. Fotos wirken meistens realitätsentsprechender und glaubwürdiger, Zeichnungen vermögen mitunter Zusammenhänge und Vorgänge besser zu verdeutlichen. Rezeptionspsychologisch wichtig sind Plazierung, Aufbau, Größe, Farbgebung, Motiv und Perspektive des Bildes. So werden ζ. B. rechtsseitig stehende Bilder stärker beachtet als linksseitig stehende, erreicht das rechte obere Bildviertel einen doppelt so hohen Aufmerksamkeitsgrad wie das linke untere (33 Prozent: 16 Prozent), werden Menschen (Sekundärsender!) im Bild eher erfaßt als Gegenstände, werden grelle Signalfarben eher gesehen und leichter eingeprägt, aber mitunter auch abstoßender empfunden als gedeckte, abgeschwächte Farben. Selbst Schrifttypen besitzen Signalcharakter: Frakturschrift wirkt altertümelnd, Kursivschrift eilig u. dgl.

terpretationen. Ähnlich den konnotativen Elementen in der verbalen Semantik gegenüber den allgemeingültigen denotativen Elementen können sie je nach der Lebenserfahrung des Einzelnen subjektiv verschieden empfunden werden. Das Bild einer Frau z. B., die ein Baby füttert, in einer Werbeanzeige für Baby-Nahrung wird sich als ikonische Nachricht in der Beschreibung des Bildes erschöpfen. Ikonographisch signalisiert ein solches Bild aber auch Vorstellungen von Mutterglück, Mutterpflichten, Muttersorgen, kindlicher Geborgenheit, Kinderschutz, Fürsorge, friedlicher Welt u. ä. Es signalisiert aber auch Assoziationen von Hilfe, die das Werbeobjekt bietet, von notwendiger Sorgfalt bei der Herstellung des Produkts u. a. m. Eco differenziert die visuellen Register zudem noch nach historischen Typen (z. B. mit bestimmten historischen Kostümen o. ä.) und publizistischen Typen (mit modernen Bildelementen); außerdem unterscheidet er verschiedene Ebenen der ikonographischen Bildwahl und Bildgestaltung: (1) eine tropologische (rhetorische) Ebene, in der wir ähnlich der verbalen Rhetorik unterschiedliche Relationen zwischen Bildform und Bildsinn konstatieren können, (2) eine topische Ebene der Verbildlichung allgemeiner Prinzipien und Ideale und (3) eine enthymematische Ebene der Verbildlichung ethischer Grundsätze und Folgerungen. So kann auf der tropologischrhetorischen Ebene eine Nebeneinanderstellung zweier Produkte einem Vergleich entsprechen, eine bildliche Übertreibung einer Hyperbel, eine bildhafte Verfremdung (z. B. lila Kühe) einer Metapher und eine Teilabbildung eines Produkts (pars pro toto) einer Synonymie. Im tropischen Bereich bewegen sich Anzeigenbilder, die bestimmte Topoi (Gemeinplätze) wie Schönheit, Jugend, Eleganz hervorheben, während der enthymematischen Ebene Betrachtungen ethischer Prinzipien wie Sorge um Kinder, Schutz von Schwangeren, Betonung des Schenkens u. ä. entsprechen.

Wie die Textteile so vermitteln auch die Bildelemente eigene Aussagen. Dabei wird semiotisch zwischen ikonischen und ikonographischen Nachrichten unterschieden (Eco 1972). Als ikonische Aussagen begreift man die sinnlich wahrnehmbaren und aufzählbaren Einzelheiten, Gegenstände und Elemente des Anzeigenbildes, als ikonographische Aussagen dagegen die aus dem Bild ablesbaren kulturellen, symbolischen und ideologischen Sinnzusammenhänge, Assoziationen und In-

3.1.4. Anonyme sporadische Dekodierung und Rezeption Auch in Dekodierung und Rezeption weicht die Kommunikation der Anzeigenwerbung von anderen Kommunikationsvorgängen ab. Wie bei jeder Massenkommunikation ist der Adressat für den Kommunikator anonym. Die Werbebotschaft wird zudem von Adressaten in Zeitungen oder Zeitschriften mehr oder weniger sporadisch und zufallig wahrgenommen, wenn er diese Druckerzeugnisse um

163. Kommunik. u. ästhet. Funktionen der Werbebeiträge in Zeitungen und Zeitschriften (Anzeigen) Produzent

1733

- -(Rückkopplung, bewirkt evtl. Strategieänderung)-

Werbeziele

Kommunikator (Sender, Werber)

Werbekonzeption

Kodierung (Verbalisierung) (Visualisierung) (Musikalisierung)

Kommunikationskanal

opinionleader

Dekodierung Werbebotsdiaft

Selektion

Verstehen Akzeptieren

Abb. 163.1: Vorgangsschema der werblichen Kommunikation.

ihres I n f o r m a t i o n s - o d e r U n t e r h a l t u n g s w e r tes willen k a u f t o d e r sonstwie z u r H a n d n i m m t u n d d u r c h b l ä t t e r t . O b d e r Leser d a n n die e i n g e f ü g t e n W e r b e a n z e i g e n w a h r n i m m t und beachtet, hängt von verschiedenen Fakt o r e n ab, die v o n d e r Auffälligkeit d e r A n zeige a u f g r u n d i h r e r G e s t a l t u n g bis z u m lat e n t e n Interesse f ü r d a s a n g e b o t e n e P r o d u k t reichen k ö n n e n . Dieses Produktinteresse k a n n z u d e m d u r c h a n d e r e P e r s o n e n (sog. opinion-leader) beeinflußt werden, ζ. B. d u r c h M e i n u n g s b i l d u n g e n i n n e r h a l b einer G r u p p e (Kollegengespräche, Hausfrauenklatsch, H ä n d l e r e m p f e h l u n g e ) , so d a ß die R e z e p t i o n d e r W e r b e b o t s c h a f t a u f zweifac h e m Weg e r f o l g e n k a n n . F ü r den K o m m u n i k a t o r (Sender) ist d e r A b s a t z d e r W a r e , f ü r die g e w o r b e n w u r d e , z u n ä c h s t die einzige F o r m der Reaktion (Rückkoppelung) auf seine W e r b u n g . E i n e a n d e r e F o r m d e r R e z e p tion w i r d h ä u f i g v o n K ä u f e r n eines P r o d u k t s n a c h d e m K a u f v o r g e n o m m e n , ζ. B. bei A u t o k ä u f e r n , die d a n n v e r s t ä r k t a u f die Werb u n g f ü r die e r w o r b e n e W a r e a c h t e n (Bestätigungsrezeption).

4.

Literatur

Binder, H., Zum Verhältnis von visueller und verbaler Kommunikation in Werbebildern. In: LuD 22, 1975, 85-102. Brandt, Wolfgang, Die Sprache der Wirtschaftswerbung. Ein operationales Modell zur Analyse und Interpretation von Werbungen im Deutschunterricht. In: GL 1/2, 1973.

Baumgart, Manuela, Die Sprache der Anzeigenwerbung. Eine linguistische Analyse aktueller Werbeslogans. Heidelberg 1992. Buchli, Hans, Geschichte der Werbung. In: Handbuch der Werbung. Hrsg. v. Karl C. Behrens. Wiesbaden 1970, 11 ff. Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik. München 1972. Flader, Dieter, Strategien der Werbung. Ein linguistisch-psychoanalytischer Versuch zur Rekonstruktion der Werbewirkung. Kronberg 1974. Fritz, Thomas, Die Botschaft der Markenartikel. Vertextungsstrategien in der Werbung. Tübingen 1994. Hantsch, Ingrid, Zur semantischen Strategie der Werbung. In: STZ 1972, 93-114. —, Textformanten und Vertextungsstrategien von Werbetexten. In: Anzeigenwerbung. Hrsg. v. Peter Nusser. München 1975, 160-166. Haseloff, (). W., Kommunikationstheoretische Probleme der Werbung. In: Handbuch der Werbung. Hrsg. v. Karl C. Behrens. Wiesbaden 1970, 158 ff. Klotz, Volker, Werbeslogans. In: STZ 8/1963, 539-546. Nöth, Winfried, Semiotik. Eine Einführung mit Beispielen für Reklameanalysen. Tübingen 1975. Römer, Ruth, Die Sprache der Anzeigenwerbung. Düsseldorf 1968. Sowinski, Bernhard, Werbeanzeigen und Werbesendungen. München 1979. —, Werbung. Tübingen 1998. Bernhard

Sowinski,

Köln

(Deutschland)

1734

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

164. Zeitschriftenspezifische Präsentationsformen und Texttypen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Einleitung Abhandlung Essay Bericht Nachricht Kommentar Glosse Reportage Brief Kritik - Polemik Gespräch Zitat Poetische Werke Kleine Formen des Feuilletons Historische Sonderformen Anzeigen Literatur

1.

Einleitung

Die eigenständige Entstehung und Entwicklung der Zeitschrift nach und neben der Zeitung ist ursächlich für die Ausbildung eigener Präsentationsformen und Texttypen. Standen in den ersten Journalen die 'gelehrten Korrespondenzen', die Berichte über neue Entdekkungen, Erkenntnisse und Neuerscheinungen aus der Welt der Wissenschaften sowie wegweisende Kritik im Vordergrund, so widmeten sich die parallel dazu entstehenden Unterhaltungszeitschriften den fröhlichen oder traurigen Begebenheiten, die die Neugier befriedigen konnten, sowie den poetischen und ästhetischen Erzeugnissen ihrer Herausgeber und Autoren. Inhalte, die sich an galante Damen wendeten, bedurften des liebenswürdigen Tons, des geistreichen Inhalts und des ausgezierten Stils. Was bisher erst gedruckt werden konnte, wenn es ausreichend schien für eine Buchpublikation, konnte jetzt rasch in Portionsform über die Zeitschrift an den interessierten und aufgeschlossenen Leser gelangen. Wissenschaftlich-fachlich ausgeprägte Texttypen, die ebenso wie die informierenden und unterhaltenden in ihrer Grundsubstanz schon vor dem Entstehen der Zeitungen und Zeitschriften vorhanden waren, wurden medienspezifisch weiterentwickelt. Verwendung fand ein eingrenzbares Repertoir, das es hier vorzustellen gilt.

2.

Abhandlung

Von den redaktionellen Formen ist besonders herauszustellen die Abhandlung (Aufsatz),

ohne die eine Zeitschrift nicht zu gestalten wäre. Sie dient der sachlichen Zusammenfassung anliegender Fragestellungen und ihrer objektiven Klärung. Die Anreihung von Gedanken zu einer bestimmten und für den Leser interessant und wichtig erscheinenden Thematik wird schriftlich fixiert, der Gegenstand von allen denkbaren Seiten beleuchtet und behandelt, klar ausgerichtet auf das Zielpublikum. Die Abhandlung geht über eine bloße Beschreibung des Gegenstandes hinaus, führt zu einem Urteil über ihn und gibt Ausblicke auf Entwicklungsmöglichkeiten oder naheliegenden Untersuchungsgegenstände. Die Kunst beim Verfassen einer Abhandlung liegt in der Vollständigkeit der Deskription, in der systematischen Gliederung der behandelten Materie, in der Logik der Argumentation, in der Nüchternheit des Vermitteins notwendiger Angaben bis hin zum äußersten Detail, im klaren Urteil. Die Persönlichkeit des Verfassers tritt zurück hinter den Gegenstand des Mitzuteilenden. Im Idealfall ist die Abhandlung Ausdruck der Gesamtbildung des Verfassers sowie Mittel, die Geisteskultur seiner Zeit voranzubringen. Abhandlungen werden primär für die Leser einer bestimmten Zeitschrift geschrieben, sie werden, wenn sie zentrale Zeitfragen und -probleme aufgreifen, aber auch zitiert und außerhalb der Leserschaft des Blattes diskutiert.

3.

Essay

Aus der Abhandlung hervorgangen ist der Essay, die Form des 'tastenden Versuchs', der sich vor allem in anspruchsvollen literarischen Zeitschriften findet. In ihm wird versucht, alle dargestellten Erscheinungen zur aufgenommenen Fragestellung oder Problematik auf dem kürzesten Wege zur Fülle ihrer Bedeutung zu bringen. Der Autor bemüht sich, dem Leser das gewählte Thema, das beliebig bis nebensächlich sein kann, als subjektives Erlebnis aus verschiedener Perspektive, mit stilistischer und rhythmischer Brillanz zu übermitteln, indem er das für ihn Wesentliche herausarbeitet. Die kritisch-sichtende, kurze, pointierende Haltung des Verfassers wird vorausgesetzt. Der Essayist ist Interpret, Vermittler und/oder Kritiker im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft, Politik, Kultur, Kunst und Wissenschaft. Er greift weiter als der Rezensent, indem er tiefer lotet in kritischer Re-

164. Zeitschriftenspezifische Präsentationsformen und Texttypen

flexion. Seine Basis ist die Skepsis, die Einsicht in die Vielfalt der Erscheinungen und Problematiken einer vermeintlich sicheren und endgültigen Erkenntnis.

4.

Bericht

Berichte dienen in Zeitschriften der Sach- wie der Hintergrunddarstellung. Ursprünglich beruhte der Bericht auf der Augenzeugenschaft. Dann genügte das Sammeln, Ordnen und Darstellen selbst erarbeiteter oder kritisch übernommener Einzelheiten, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Berichte haben sachlich zu sein, objektiv und glaubwürdig. Alle möglichen und notwendigen Gesichtspunkte sollen berücksichtigt werden, wobei parteiliche Stellungnahme ausscheidet. Es gilt die Prämisse: relata refero. Je nach stofflichem Anlaß ergeben sich spezifische Arten des Berichts. Beliebt waren und sind Reiseberichte, die literarische Qualität erhalten können, Berichte aus der sozialen Welt, in denen entweder Tatsachen reproduziert oder solche Reproduktionen fiktiv imitiert werden, um noch stärker sozialkritisch zu wirken. In Illustrierten und sonstigen bebilderten Zeitschriften sind Bilder zentral für die Information der Leser. Hier teilen sich Text und Illusion die Aufgabe, möglichst eindringlich oder emotional zu wirken. Chroniken geben einen knappen Überblick über vergangene Ereignisse.

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sers soll geweckt, sein Urteil vorbereitet und unterstützt werden. Weiter soll er zu eigenständigem Handeln hinführen und anleiten. In Leitartikeln kann eine Sache betrachtet, eine Rück- oder Vorschau ausgebreitet, eine Begründung oder Stellungnahme gegeben und für eine Überzeugung gekämpft werden. Aus der anglo-amerikanischen Tradition ist die Kolumne als eine Kommentarform übernommen, die zwischen Kurzartikeln und Glossen steht. Sie erscheint regelmäßig, meist am gleichen Ort in der Zeitschrift unter feststehendem Titel, ist zuweilen kritisch-polemisch, zuweilen unterhaltend-plaudernd. Durch den ständigen Kontakt mit dem Leser kann der Autor, oft der Herausgeber oder Chefredakteur einen beträchtlichen Einfluß ausüben.

7.

Glosse

Nachrichten sind komprimierte Berichte, geben punktförmig den Kern des Mitzuteilenden wieder, wobei relevante Details nicht ausgeklammert werden dürfen. Nachrichten orientieren sich an den W-Fragen (Wer hat was, wann, wo, wie und warum getan, gemeint oder angedeutet). Konsequenzen werden meist nicht mitgeteilt oder gezogen.

Die Glosse führt ein Stück weiter. Ihr Ziel ist, Willensbildung oder tätige Stellungnahme beim Leser dadurch zu erreichen, daß eine Kommentierung überspitzt, daß eine Meinung ironisch oder satirisch angegriffen wird. In manchen Fällen macht sie eine Person oder eine Sache lächerlich. Die Glosse setzt bei den Lesern die Kenntnis des glossierten Gegenstandes schon voraus, bezieht sich deshalb grundsätzlich auf andere Texte, etwa Berichte, die sie ausdeutet oder erklärt. Sie steht also immer in einem Spannungsverhältnis zu einem Ausgangstext. In der Einleitung wird meist auf diesen Bezug genommen, um das notwendige Ausgangswissen beim Leser zu gewährleisten. Dann erfolgt die Diskussion, die in der überraschenden Aussage, der Pointe endet. Im 19. Jh. wurden die Begriffe 'Glosse' und 'glossieren' in Zeitschriften und Zeitungen noch in der Bedeutung 'kritisch-polemische Randnotiz oder Anmerkung' gebraucht, ohne damit einen bestimmten Texttyp zu benennen. Dieser taucht erst gegen Ende des 19. Jhs. auf.

6.

8.

5.

Nachricht

Kommentar

Kommentare sind Meinungsbeiträge, in Zeitschriften meist in Form von Leitartikeln zu finden. Dem Leser soll Interpretationshilfe angeboten werden, Unterstützung, bestimmte Sachverhalte zu begreifen, oder auch nur den Aufbau eines bestimmten Heftes, die Wahl einer gewissen Thematik. Die Einsicht des Le-

Reportage

Die Darstellung der objektiven Realität als erfahrene und erfahrbare Tatsache mit allen wichtigen Details ist das Hauptmittel der Reportage. Der Autor muß diese Realität selbst erleben, genau beobachten, gegebenenfalls erforschen. Das Recherchieren nimmt also für diese journalistische Form einen breiten

1736

XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

Raum ein, denn nur das Authentische garantiert die Glaubwürdigkeit. Wichtig ist auch das Vorbereiten, damit die Beobachtungen gezielt, die Erfahrungen und Erfragungen präzise durchgeführt werden können. Je umfassender und intensiver ein Gegenstand erforscht und analysiert wurde, desto sachkundiger kann die Reportage ausfallen und desto wirksamer wird sie beim Lesen, ermöglicht Erkenntnis der Begründungszusammenhänge und Motive, der versteckten Ursachen oder weitreichenden Implikationen. Dazu bedient sie sich aller sprachlichen und rhetorischen Uberzeugungsmittel, besonders der auf Sinnfälligkeit und exemplarische Klarheit zielenden Möglichkeiten der Montage, der assoziativen oder zufälligen Zusammenfügung an sich heterogener thematischer und sprachlicher Elemente sowie Verfremdungseffekte dienen der literarisch-künstlerischen Qualität. Reportagen können erweitert werden, indem sie die Kritik- oder Agitationsfunktionen besonders aktivieren. So werden 'Reportagen aus der Arbeitswelt' möglicherweise eingesetzt im kollektiven Kampf von Werktätigen, um diesen zu unterstützen oder aufzurufen zum Widerstand gegen Ausbeutung und Unrecht. Literarische Qualitäten erreichten Reportagen von Joseph Roth, Egon Erwin Kisch oder Max von der Grün.

9.

Brief

Briefe waren vor allem vor und in der Frühzeit der Zeitschrift wichtige Mittel der Verständigung unter den Gelehrten, des Kontakts zwischen den Journalherausgebern und ihrem Lesepublikum. Leserbriefe dienten der Leseranbindung. Viele wurden auch ihrer Originalität willen veröffentlicht. Mit Briefen konnte man eine angeschnittene Thematik über längere Zeiträume hin in der Diskussion halten. Sie konnten zur Wiederaufnahme einer bestimmten Problematik dienen. Fiktive Briefe dienten den Herausgebern, Zustimmung zu ihren Ideen in der Leserschaft zu suggerieren, der Leserschaft zusätzlich zur Meinung in den publizierten Artikeln eine Verstärkung zu geben. In sog. Offenen Briefen tritt der Verfasser heraus aus seiner Privatheit und kann Kritik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, zum Kampf gegen Mißstände auffordern, Mitkämpfer suchen und gegen bestimmte Personen agitie-

ren. Bestimmte Briefformen, wie etwa der Reisebrief, werden zwar an spezielle Privatpersonen adressiert, sind aber bestimmt für die spätere Publikation. Bei Auslandskorrespondenten kann sich der Brief zu einer beliebten publizistischen Gebrauchsform entwickeln, in die neben der Information auch Kritik, Polemik und aggressive politische Satire einfließen können. Als Präsentationsform ihrer Unterhaltungsstoffe für Frauenzimmer wählte die Wochenschrift 'Der Jüngling' (Königsberg/Mittau/Leipzig 1747) den Brief. Er erlaubte das zwanglose Kommunizieren, das liebenswürdige, saubere und noble Anbieten von Bildungsstoffen wie von Moral.

10. Kritik - Polemik In den Gelehrtenbriefen wurden vorwiegend auch die neu erschienenen Werke anderer Autoren besprochen und kritisiert. Aus diesen Besprechungen entwickelte sich ein eigenständiger Texttyp, die Rezension. In ihr werden einmal der Inhalt einer Neuerscheinung mitgeteilt, ein Urteil gesprochen, Verwendungsmöglichkeiten angeboten, Nützliches über den oder die Verfasser angeführt, auf Parallelerscheinungen hingewiesen oder auf andere geeignete Lektüre zur gleichen oder ähnlichen Thematik. Die Besprechung soll dem Leser die Entscheidung über Kauf oder Lektüre des ausgewählten Buches erleichtern. Da dieser davon ausgehen kann, daß es sich bei dem Rezensenten um einen besonders kompetenten Fachgelehrten handle, kann er dessen Urteil folgen. Zur Buchkritik gesellte sich im Laufe der Jahrhunderte die Theater-, Film- und Musikkritik, in der Wertung abgegeben wird zu neuen Stücken, Inszenierungen, Aufführungen. Dabei wird berichtet, beschrieben, analysiert, beurteilt, argumentiert, der Leser von Fall zu Fall entweder hofiert, amüsiert, provoziert oder schockiert. Die Kritik kann leicht übergehen in Polemik, bei der alle inhaltlichen und formalen Mittel eingesetzt werden zur Attacke auf eine Person, einen Autor, ein Stück, eine Position etc. Strategisches Ziel des Angriffs ist die intellektuelle oder moralische Vernichtung des Angegriffenen. Sprache und Stil dienen der Aktivierung von Aversionen, integrieren die behandelten Gegenstände in diskriminierende Zusammenhänge.

164. Zeitschriftenspezifische Präsentationsformen und Texttypen

11. Gespräch Das Gespräch ist gekennzeichnet durch die Aussagen zweier oder mehrerer Partner, die gewillt sind, miteinander zu kommunizieren. Der Prozeß der Erkenntnisgewinnung oder -erweiterung wird szenisch abgewickelt. Probleme können von allen möglichen bzw. vertretenen Seiten her beleuchtet und auch kontrovers betrachtet werden. Gespräche können dem intellektuellen Austausch gleichrangiger Diskussionspartner dienen, aber auch dem 'Schlagabtausch', dem Florettfechten mittels Worten. Sie können der Prüfung von Ansichten dienen, wobei die besseren Argumente wichtig werden. Gespräche sind fiktiv als literarische Gebrauchsformen einzusetzen. Eine in der Frühzeit der Zeitschrift häufiger verwendete Form waren die sog. Totengespräche. Gegründet als satirische Dichtungsform in der Antike werden sie in der Zeit der Aufklärung vor allem didaktisch eingesetzt, indem Zeitzustände oder aktuelle Probleme von Verstorbenen kritisch satirisch behandelt werden. Die sog. Monatsgespräche ('Schertz- und ernsthaffter, vernünfftiger und einfältiger Gedancken über allerhand listige und nützliche Bücher und Fragen', 24 Monatshefte, Leipzig bzw. Halle 1688 — 1690) des Leipziger JuraProfessors Christian Thomasius erschienen durchgehend in Dialogform. Sechs Reisende in einer Postkutsche, ein Bürger, ein Händler, ein gebildeter Höfling, ein Weltmann, ein Gelehrter und ein Theologe trugen ihre Gedanken über den Staat, die Gesellschaft, den Adel und Klerus, über die bürgerliche Bildung und Erziehung, die zeitgenössische Literatur und aktuelle Tagesereignisse vor. Vor allem die Besprechung neu erschienener Bücher nutzte Thomasius, um seine kritischen Gedanken den Lesern zu vermitteln. Wurde in den abgedruckten Gesprächen in den Zeitschriften früher bei den Wendungen des Dialogs viel dem Zufall überlassen, so wird beim Interview mit vorbereiteten und gezielt eingesetzten Fragen gearbeitet. Interessant und manchmal folgenreich sind abgedruckte Interviews mit Persönlichkeiten, die sich sonst der Öffentlichkeit eher entziehen, sowie Enthüllungsinterviews, bei denen der Interviewte mehr preisgibt, als er eigentlich wollte und sollte. Der Reiz für den Leser kann auch darin liegen, mitzuerleben, wie ein Opfer gejagt und erlegt wird. Eine Sonderform sind 'Werkstattgespräche', bei denen sich Künstler, Literaten u. ä.

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austauschen, und die meist vom Initiator moderiert werden, der dann auch für die Druckform verantwortlich zeichnet.

12. Zitat Ein bloßes, oft kommentarloses Hinstellen von Zitaten ist in Zeitschriften geeignet, bestimmte Persönlichkeiten entweder zu ehren, wenn ihnen die Zustimmung des Publikums sicher sein wird, oder zu diffamieren, wenn es sich um Anstößiges handelt. Karl Kraus war ein Meister, mit den von ihm ausgewählten Texten eine emotionale Wirkung beim Leser zu bewirken. Er verwendete dabei auch Zitate aus der zeitgenössischen Presse, versuchte seine journalistischen Kollegen auf diese Weise bloßzustellen.

13. Poetische Werke Nicht nur in den literarischen Zeitschriften ist der Abdruck poetischer Werke Selbstzweck. Auch andere allgemein interessierende Journale veröffentlichen die Werke bekannter lebender oder verstorbener Autoren. Während Langformen wie Romane sich für Periodika weniger eignen, die nur in größeren Zeitabständen erscheinen, dagegen in den Illustrierten während deren Blütezeit zentrale Lektüre der Leserinnen und Leser waren, werden Novellen, Erzählungen, Anekdoten, Geschichten, Kurzgeschichten, Aphorismen und ähnliches gerne veröffentlicht. Zu den frühesten literarischen Journalgattungen gehörten Biographien, literarische Porträts bekannter Persönlichkeiten, vom König und Schlachtenlenker bis hin zum Denker, Erfinder oder Arzt. Im Leben der Großen und Reichen kann der Leser sein eigenes spiegeln. Daran reihen sich die Autobiographie, das Tagebuch oder Ausschnitte davon, die dem Leser Einblick geben sollen in das Ringen um Selbsterkenntnis, Selbstanalyse, Selbsterfahrung, Selbstkontrolle, Selbstanklage, Selbstverteidigung etc. Schreibern von Memoiren geht es dagegen vor allem um ein faktengesättigtes Schildern des eigenen Lebensweges und des von Zeitgenossen, Wegbegleitern sowie um die eigene Sicht und Einschätzung der erlebten Zeitereignisse. Eine Sonderform sind Tagebücher, die nur während einer bestimmten Zeit, etwa einer Reise, eines Krieges oder Feldzugs geführt werden. Anzuführen sind noch Nachrufe für verdiente Persönlichkeiten. Sie sind häufig lang-

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

fristig vorbereitet, ruhen in der Schublade, um bei Bedarf die besondere Einstellung ihrer Autoren oder der veröffentlichenden Zeitschrift auszudrücken.

14. Kleine Formen des Feuilletons Schließlich haben in den Zeitschriften die sog. Kleinen Formen des Feuilletons ihre Wirkungsstätte. Es handelt sich um Aphorismen, Skizzen und Notizen zu kleinen Themen, zu Erlebnissen und Empfindungen, zu Eindrücken aus dem Alltag, auf Reisen, wie sie Honoré de Balzac, Ernest Hemingway, Ernst Penzoldt, Alfred Polgar und viele andere schrieben. Anlaß sind mit Vorliebe scheinbar unbedeutende Alltagserscheinungen, augenblicksgebundene Vorgänge und Gegebenheiten für kurze, expossionistische Eindrucksschilderungen und Betrachtungen. Vielfalt und Beiläufigkeit der Stoffe sind Anlaß zu spielerischen, witzigen, mitunter humoristisch-satirischen Assoziationen. Der Einfallsreichtum des Autors äußert sich in Bonmots, Wortspielen, Neologismen, überraschenden Formulierungen, Pointen. Mit vorgeblicher Absichtslosigkeit werden verschiedene Ziele zu erreichen versucht.

wiederzuerkennen glauben. Für die Vermittlung werden auch Texttypen wie Briefe, Totengespräche, Katechismus-Dialoge, Vereinsstatuten parodistisch verwendet. Neben die 'Moralischen Charaktere' treten beschreibende, vor allem aber erklärende Texte, etwa solche der Natur oder der Naturerscheinungen, Traumschilderungen, Personenbeschreibungen, meist von historischen Persönlichkeiten, die als Vorbilder oder zur Abschrekkung aufgebaut werden, außerdem Gespräche, auch solche im Traum oder lehrhaften Inhalts, Briefe, Prophezeiungen, Bekenntnisse, Reden, oder Teile davon, Marginalien, Sentenzen, Epigramme. In anderen Moralischen Wochenschriften personifiziert sich die Sentenz in Gestalten wie dem Patrioten, dem Vernünfftler, dem Biedermann, dem Jüngling oder den 'Vor sich und ihre Kinder sorgfaltigen Müttern'. Aus Frankreich wird in der 1. Hälfte des 19. Jhs. die Causerie übernommen, die amüsante, witzige Plauderei. Zwischen 1860 und 1890 wurde sie vor allem in der bürgerlichen Presse des Liberalismus gepflegt. Hinter der Sprachvirtuosität der Autoren verbarg sich meist ein weitgespanntes Wissen, das in unerschöpflicher Fruchtbarkeit immer wieder den Lesern präsentiert wurde.

15. Historische Sonderformen

16. Anzeigen

Bei den Moralischen Wochenschriften treten die Autoren mit den Lesern oft nicht direkt in Kontakt, sondern über fiktive Verfasserinnen bzw. Verfasser der angebotenen Texte. In den 'Venünfftigen Tadlerinnen' Johann Christoph Gottscheds (1725-1726) sind dies Calliste, Iris und Phyllis, erfunden, um die wahre Identität des Autors zu verbergen und ihn vor Kritik oder Zensur zu schützen. Die drei 'Tadlerinnen' sind vernünftig, kompetent und verfügen über die Lebenserfahrung, die es ihnen ermöglicht, die Leserinnen und Leser zu belehren, deren Sitten durch die Vermittlung von Tugend-Lehren zu verbessern. Die Tugend-Lehren sind eingekleidet in kleine Geschichten, Erzählungen von aufschlußreichen Begebenheiten, eigene Erlebnisse, in Exempeln und Fabeln. Darin werden meist schlechte Eigenschaften, Gewohnheiten, Handlungsweisen personalisiert, personifiziert und damit konkretisiert und durch Übertreiben, Allegorisieren oder Satire stigmatisiert. Die Typisierung erfolgt in der Textform 'Moralischer Charakter' meist so plastisch, daß Leser bestimmte, ihnen bekannte Menschen

In den nicht-redaktionellen Teil gehören die Anzeigen (Annoncen, Inserate) (vgl. Art. 181 in Bd. II). Sie bieten Bekanntmachungen privater und geschäftlicher Art, die für einen Kreis besonders Interessierter oder für die Allgemeinheit bestimmt sind. In den letzten Jahren hat sich bei vielen Publikumszeitschriften, vor allem solche für die Zielgruppe Frauen, eine Tendenz entwickelt, den redaktionellen Text immer stärker den Anzeigenseiten anzugleichen.

17. Literatur Barner, Wilfried (Hrsg.), Literaturkritik — Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart 1990. Baumgart, Manuela, Die Sprache der Anzeigenwerbung. Eine linguistische Analyse aktueller Werbeslogans. Heidelberg 1992. Belke, Horst, Literarische Gebrauchsformen. Düsseldorf 1973. —, Gebrauchstexte. In: Grundzüge der Literaturund Sprachwissenschaft. Hrsg. von Heinz L. Arnold/Volker Sinemus. München 1973, Bd. 1, 3 2 0 341.

164. Zeitschriftenspezifische Präsentationsformen und Texttypen Boerner, Peter, Tagebuch. Stuttgart 1969. Brenner, Peter J. (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 1989. Bürgel, Peter, Literarische Kleinprosa. Eine Einführung. Tübingen 1983. Geisler, Michael, Die literarische Reportage in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen eines operativen Genres. Königstein 1982. Haacke, Wilmont, Handbuch 3 Bde. Emsdetten 1951-53.

des

Feuilletons.

Haas, Gerhard, Essay, Stuttgart 1969. Haller, Michael, Das Interview. München 1991. Hartmann, Heinz/Eva Dübbers, Kritik in der Wissenschaftspraxis. Buchbesprechungen und ihr Echo. Frankfurt a. M./New York 1984. Hempfer, Klaus, Gattungstheorie. und Synthese. München 1973.

Information

Hollstein, Walter, Der deutsche Illustriertenroman der Gegenwart. Produktionsweise — Inhalte — Ideologie. München 1973. Jabs-Kriegsmann, Marianne, Zerrspiegel. Der Deutsche Illustrierten-Roman 1950-1977. Stuttgart 1981. Jurgensen, Manfred, Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Bern/München 1979. Klauser, Rita, Die Fachsprache der Literaturkritik. Dargestellt an den Textsorten Essay und Rezensionen. Frankfurt a. M. 1992. Knapp, Gerhard P., Textarten — Typen — Gattungen. In: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Heinz L. Arnold/Volker Sinemus. Bd. 1: Literaturwissenschaft. München 1973, 258-269. Löffler, Jaromir, Das Interview in den Druckmedien. Diss. Zürich 1978. Misch, Georg, Geschichte der Autobiographie. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1955-1969. Müller, Marlise, Die Schweizer Pressereportage. Eine linguistische Textsortenanalyse. Aarau/Frankfurt a. M. 1989.

1739

Neumann, Gerhard (Hrsg.), Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt 1976. Niefanger, Susanne, Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften. Formalstilistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen am Beispiel von Gottscheds 'Vernünfftigen Tadlerinnen'. Tübingen 1997. Rohmer, Ernst, Die literarische Glosse. Untersuchungen zu Begriffsgschichte, Funktion und Literarizität einer Textsorte. Erlangen 1988. Rohner, Ludwig, Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied/Berlin 1966. —, Die literarische Streitschrift. Themen, Motive, Formen. Wiesbaden 1987. Scheuer, Helmut, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979. Schütz, Eberhard (Hrsg.), Literarische Reportage. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt a. M. 1979. Schumacher, Marianne, Frauenbilder in Kurzgeschichten der Massenpresse. Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Zeitschriften Brigitte, Freundin, Für Sie, Petra und Playboy. Frankfurt a. M ./Bern 1984. Schweinfurter, Judith, Der Essay als publizistische Form in den österreichischen Rundschauzeitschriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diss. Wien 1982. Siegel, Christian, Die Reportage. Stuttgart 1979. Weis sen berger, Klaus (Hrsg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985. Zhong, Lianmin, Bewerten in literarischen Rezensionen. Linguistische Untersuchungen zu Bewertungshandlungstypen, Buchframe, Bewertungsmaßstäben und bewertenden Textstrukturen. Frankfurt a. M./Bern 1995.

Erich Straßner, Tübingen

(Deutschland)

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

165. Kommunikative und ästhetische Dispositionen im Konsum- und Rezeptionsverhalten von Zeitungs- und Zeitschriftenlesenden 1. 2. 3. 4.

1.

Grundlagentheoretische Konzeptionen in der Medien Wissenschaft Typen von Prädispositionen Empirische Studien zu Dispositionen Literatur

Grundlagentheoretische Konzeptionen in der Medienwissenschaft

1.1. Meinungen und Einstellungen als kognitive (Prä)Dispositionen 'Disposition' (lat. Anordnung) ist in der Medienwissenschaft kein eingeführter, präzise definierter Begriff bzw. wird in den diversen Disziplinen unterschiedlich gebraucht: Voraussetzungen für die Nutzung und Wirkung von Medien existieren überall in Gesellschaft und Geschichte, bei Individuen und Biographien, ebenso gründen alle kommunikativen Prozesse auf Dispositionen, die sich — je nach Perspektive und Abgrenzung des Untersuchungsfeldes — vorderhand als unabhängige und abhängige klassifizieren lassen. In der Medien-Wirkungsforschung, ist seit den fünfziger Jahren durch die sozialpsychologischen Studien Carl I. Hovlands (1912— 1961) an der Yale Universität der Begriff der Prädispositionen gebräuchlich: In grundlagentheoretischen Überlegungen, die jeweils die neuesten theoretischen Entwicklungen in Nachbardisziplinen, etwa in der neobavioristischen Lerntheorie, aufnahmen sowie durch exakte Laborexperimente suchte das Yale Communication Research Program das konventionelle Stimulus-Response-Modell der Medienwirkungen dadurch zu verbessern, daß 'intervenierende Variablen' erkundet und ihre Potentiale gemessen wurden, die Medienwirkungen gelingen, mehr noch: eher behindern oder gar mißlingen lassen. Als zentrale intervenierende Variablen identifizierten Hovland und seine Mitarbeiter 'Meinungen' und 'Einstellungen' der Individuen: 'Meinungen' definierten sie als 'breite Klasse von Antizipationen und Erwartungen', Einstellungen als 'allgemeine Orientierungen der Annäherung und Ablehnung' gegenüber prinzipiellen Aspekten des Lebens (Naschold 1973; Schenk 1987, 45ff.). Einstellungen sind also grundsätzlicher, normativer Art, von längerer Dauer, im Bewußtsein tie-

fer verankert, können auch intuitiv oder unbewußt wirksam werden und sind dadurch weder unmittelbar zu rationalisieren noch zu verbalisieren. Meinungen sind hingegen konkreter, auf Sachverhalte oder Vorgänge bezogen und lassen sich deshalb leichter verbalisieren. Allerdings überschneiden sich die Definitionen inzwischen vielfach und lassen sich insbesondere in der empirischen Forschung nicht exakt abgrenzen (Meinefeld 1977). In der neobehavioristischen Lerntheorie werden Medienwirkungen vornehmlich als Veränderungen von Meinungen, Einstellungen und — daraus folgend — Verhaltensweisen verstanden. Sie ergeben sich unter bestimmten Voraussetzungen, wozu neben den Eigenschaften des Kommunikators (bzw. denen, die ihm von Seiten des Publikums attestiert werden), den Formen und Inhalten der Kommunikationen (der Stimuli) die subjektiven Prädispositionen des Rezipienten, eben seine Einstellungen und Meinungen, zählen. Hovland und seine Mitarbeiter kontrollierten in Experimenten möglichst jeden der von ihnen angenommenen Faktoren, um herauszufinden, wann und wie Individuen sich von Medien beeinflussen lassen, also lernen und Veränderungen vornehmen. Aber diese Faktoren sind nicht isoliert zu sehen, vielmehr sind sie in der gesamten Persönlichkeit, ihren sozialen Beziehungen und den gesellschaftlichen Umständen verankert. Das Medium der Kommunikation sowie die soziale Situation, in der diese stattfindet, bleiben in Hovlands psychologischem Ansatz unberücksichtigt (Naschold 1973, 22). Mit ihrer Beachtung beginnt die soziologische Richtung der Kommunikationsforschung. Eine übergreifende psychologische Erklärung für die Wahrscheinlichkeit von Medienwirkungen aus psychologischer Sicht lieferte besonders prominent Leon Festingers (1919 — 1989) Theorie der kognitiven Dissonanz (1957; 1970); sie basiert auf der Annahme interner homöostatischer Prozesse. Danach sind Individuen bestrebt, kognitive Balancen zu halten und Ungleichgewichte zu vermeiden. Droht ein Kommunikationsstimulus, Dissonanzen zu bewirken, ändert das Individuum unter bestimmten Bedingungen seine Position, oder aber es weicht der möglichen Dissonanz durch verstärkte Selektivität aus. Selten hält es die Dissonanz mit einer erhöh-

165. Kommunik. u. ästhet. Dispositionen von Zeitungs- und Zeitschriftenlesenden

ten Ambiguitätstoleranz aus. Die Faktoren, die zu den verschiedenen Reaktionen führen, werden jeweils untersucht. Derzeit sind selektive Prämissen und Haltungen von besonderem analytischem Interesse, nicht zuletzt deshalb, weil die wachsende Medienfülle selektive Zuwendung ('selective exposure') zu den Medien nicht nur nahelegt, sondern geradezu verlangt (Schenk 1987, 120ff.; Donsbach 1991). In der Rezeption der Theorie Festingers, die vielfach modifiziert wurde, aber bis heute noch als ein Erklärungsmodell für Informationsverhalten gilt (Frey 1984; Donsbach 1995, 58) ist mithin als zentrale Disposition für das Medienverhalten das Streben nach Konsonanz bzw. das Vermeiden von Dissonanz anzusehen. 1.2. Gruppen und Meinungsklimata als soziale Dispositionen Aus soziologischer Sicht sind Prägungen durch und Übereinstimmungen mit sozialen Gruppen Prädispositionen für das Medienverhalten bzw. für Medien wirk ungen, wie sie erstmals in der berühmten Wahlstudie von Paul F. Lazarsfeld (1901-1976) u. a. (1944) entdeckt und expliziert wurden. Sie führte zur Erkenntnis von mehrstufigen Diffusionsprozessen sowie von unterschiedlichen Prestige- und Beeinflußbarkeitsgraden von Individuen. Heute werden Diffusionen nicht mehr stufenförmig, sondern als vielfaltige kommunikative Netzwerke gesehen; Chancen der Beeinflussung ergeben sich eher funktional und rollenspezifisch (Schenk 1984, 1987), denn die Medien, die Inhalte und Wissensbereiche divergieren beträchtlich, Individuen leben in zahlreichen, pluralen Gruppengefügen, und Kompetenzen wie soziales Prestige werden je nach Aufgaben und Situationen unterschiedlich ausgehandelt. Als Erweiterung des Balance-Modells auf die gesamte Öffentlichkeit bzw. das öffentliche Meinungsklima läßt sich E. Noelle-Neumanns (1980, 1991) These von der 'Schweigespirale' deuten: Sie geht davon aus, daß sich Menschen ungern in ihrer Meinung isolieren und eher dazu neigen, solche Meinungen zu bekennen, die von Mehrheiten in der Gesellschaft vertreten werden. Die Medien können bestimmte Meinungen als mehrheitlich deklarieren, obwohl sie es in der Gesellschaft noch gar nicht seien (wie die Demoskopie belegt). Ein „doppeltes Meinungsklima" entstehe. Dem Einfluß der Medien gelinge es aber, daß die Andersmeinenden mehr und mehr schweigen und die zunächst minoritäre Meinung dominant wird. Besonders in Wahlkämpfen

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habe sich dieser soziale Mechanismus angeblich belegen lassen; an seiner Validität wird indes gezweifelt (Merten 1994). In medienspezifischer Hinsicht wird insbesondere dem Fernsehen diese Macht zum Meinungsumschwung attestiert, da es als „getarnter Elefant" (Noelle-Neumann 1977) in der kumulativen Präsentation der erwünschten Mehrheitsmeinungen zur Konsonanz (und zum Schweigen) dränge (Noelle-Neumann 1973). Soziale Prädispositionen für das Medienverhalten ergeben sich mithin sowohl aus Gruppenbeziehungen, deren Intensität und Einflußkraft, als auch aus den Mechanismen und Wirkfaktoren öffentlicher Meinungsbildung, vor allem aber aus dem kognitiven wie sozialen Involviertsein des Individuums in diese Zusammenhänge. 1.3. Emotionen als Dispositionen In einem umfassenden Begriff der Einstellung sind Emotionen impliziert. Dennoch wurden sie in der Medienforschung — wohl unter der Dominanz des Behaviorismus — weitgehend vernachlässigt, sowohl als Prädisposition wie auch als mögliche Wirkungen. Von den diversen Medien und speziellen Präsentationsformen abhängig entdeckten H. Sturm u. a. (1972) emotionale Wirkungen, die mit einem Eindrucksdifferential von S. Ertel als „Erregung", „Valenz" und „Potenz" gemessen wurden, ohne aber umgekehrt Emotionen als Prädispositionen zu prüfen. In der Forschung zur Mediengewalt werden emotionale Dispositionen ebenfalls eher implizit angenommen: besonders in der Frage, warum sich welche Individuen violenten Inhalten aussetzen, ob sie sich etwa durch bestimmte Weltsichten und emotionale Belastungen, z. B. Ängstlichkeit, unterscheiden (Schenk 1987, 158ff.; Kunczik 1994). Bedürfnisse, Motive, Erwartungen, Projektionen und Identifikationen, aber auch emotional stützende Gewohnheiten und Bedingungen werden heute verstärkt untersucht, wenn Erklärungen für die anwachsende Unterhaltungsorientierung wie Eskapismus, Gratifikation, Suche nach Erlebnissen und Erregung in der Mediennutzung gesucht werden (Bosshart/Hoffmann-Riem 1994; Vorderer 1996; Gleich 1997). Als traditionelle Leser-Blatt-Bindung bzw. heute als intermediäre Produkt- oder Markentreue, mithin eher als Bestätigung der Akzeptanz oder als Routine der Nutzung werden emotionale Dispositionen von der Mediaplanung

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

eher gepflegt und strategisch eingesetzt als erschöpfend analysiert (Schulz 1994). Emotionale Anmutungen der Rezipienten durch den Boulevardjournalismus exemplarisch über die Sprache, also über verbale Wirkpotentiale analysiert H. Büscher (1996) anhand der Todesthematik in den Schlagzeilen von BILD: Dem BILD-Leser schreibt er folgende emotionale Bedürfnisse zu, die aus allgemeinen Katalogen „überkulturell gültiger Grundemotionen" stammen: das „Bedürfnis nach Reduktion", das „Interesse an 'existentieller' Thematik", das Bedürfnis auf „emotionale Aktivierung" und das Bedürfnis nach „Bestätigung und Rückversicherung" (Ebd. 103). Immerhin legen solche Überlegungen und Ansätze nahe, Prädispositionen in der Medienrezeption nicht mehr nur als „Gesamtheit aller interessensteuernden Variablen" (Hackforth 1976, 91 ff., 190) zu verstehen, vielmehr umfassen sie die Gesamtheit menschlich-psychischer Konstitution und beeinflussen als interdependenten Faktoren tendenziell das ganze Medienverhalten, nicht nur als intentionale und kognitive Interessen.

2.

Typen von Prädispositionen

2.1. Prädispositionen des Publikums Heuristisch lassen sich kommunikations- und medienunabhängige Dispositionen unterscheiden, zunächst anthropologisch-individuelle: also Alter, Geschlecht, kognitive Prämissen (wie Entwicklungsstand, Bildung, Intelligenz, bei Printmedien natürlich auch Lesekompetenz). Diese Faktoren sind jeweils sozial vermittelt und mit dem sozialökonomischen Status, der Lebenslage und -weisen, insbesondere den Gruppenbeziehungen, mit Sozialisation, Biographie, Bildung und Kulturation integrativ verknüpft. Die Familie fungiert für Kinder als erste soziale Instanz zwischen individuellen Bedürfnissen und kollektiven Rollenerfordernissen. Die Kinder eignen sich weitgehend Präferenzen und Verhaltensweisen der Eltern an. In Gruppen von Gleichaltrigen entwickeln und erfahren Jugendliche oftmals andere Werte und Vorlieben; mit ihrer — auch demonstrativen — Übernahme grenzen sich die Heranwachsenden von den (ehemaligen) Vorbildern der Eltern ab, begründen und formen ihre Identitäten in der jeweiligen Alters- und Entwicklungsphase. Kommunikations- und medienunabhängig sind solche Dispositionen nur noch zu einem

gewissen Grad, da die lebenslange Sozialisation der Individuen durch Medien Prägungen hinterläßt, mindestens Motive und Erwartungen für weitere Medienrezeption erzeugt, so daß abhängige und unabhängige Segmente kaum mehr getrennt werden können: Insbesondere sind Mode und Konsum in ihre medialen Vermittlungen markante Transferagenturen. Selbst das kollektive Altersgefühl - auch als soziales Alter bezeichnet — dürfte nicht mehr unbeeinflußt sein von den unentwegt verbreiteten Altersbildern in den Medien, vor allem aber von ihren Kontrasten, den Jugendlichkeitsidolen (Kübler u. a. 1991; Jürgens 1994). Außerdem liefern die Medien für jedes Alters und für jede Lebensphase spezielle Produkte und Idole, so daß über sie sowohl subjektive wie gruppenspezifische Identitäten initiiert wie (meist klischeehaft) präfomiert werden (Charlton/Neumann-Braun 1992). In zeitlicher Hinsicht lassen sich andauernde, habituelle Dispositionen tendenziell von situativen trennen: Grundlegende Lebenshaltungen, Normen, Werte und Einstellungen unterscheiden sich von situativen Konstellationen, momentanen Bedürfnisse und Bedarfen, Befindlichkeiten und Motiven, temporären Stimmungen und Empfindungen. Aber auch bei ihnen sind die Übergänge graduell, daher lassen sich kontinuierliche Bandbreiten vermuten. Vor allem in der alltäglichen Routine werden strukturelle Markierungen gesetzt, die durch ungewöhnliche, spontane Ereignisse, Erlebnisse und Aktivitäten bereichert, aber auch bestätigt werden. In beide sind heute die Medien involviert: als Rituale wie als Highlights des Lebensvollzugs (Carey 1989). 2.2. Mediale Dispositionen Auch von den Medien aus lassen sich potentielle Dispositionen formulieren; sie können kommunikativer und ästhetischer — treffender: medialer — Art sein. Prinzipiell sind sie aber durch die subjektive Medienkonzeption vermittelt, bestehen mithin nicht objektiv und autonom — selbst wenn verkürzte Darstellungen dies nahelegen. Es sind also medienspezifische Erwartungen und Bedürfnisse, die sich mit alltagstypischen Gewohnheiten verbinden und Dispositionen vielerlei Dimensionen stiften: etwa in zeitlicher Hinsicht über Erscheinungsweise, Präsentationstermine, Nutzungsfrequenzen oder in sozialer Hinsicht, wobei Lesen von Printmedien vorrangig als singuläre Tätigkeit ausgeübt wird und sich flexible den Kontextfaktoren anpaßt.

165. Kommunik. u. ästhet. Dispositionen von Zeitungs- und Zeitschriftenlesenden

Früher hatte sie zumindest in den Familien noch gemeinschaftliche Aspekte (Welke 1981; 1993), künftig dürfte sie auch immer mehr am Bildschirm üblich werden. Wer gewohnt ist, morgens seine Tageszeitung zu lesen, tut dies mit bestimmten, jahrelang eingeschliffenen Erwartungen. Zeitungstitel künden noch von Erscheinungsweisen zu anderen Tageszeiten. Wochenzeitungen und Magazine markieren mit ihrem Publikationstermin spezifische Wochentage; Sonntagszeitungen haben besondere Profile, entsprechende Rubriken und Inhalte. Ob ein Organ vierzehntägig oder monatlich herauskommt, prägt nicht nur seine Themen und Ressorts sowie die Intensität seiner Präferenz auf dem Markt, sondern auch die Präferenzen und Bindungen der Lektüre. Je präsenter ein Medienprodukt im Alltag ist, desto selbstverständlicher, habitueller, mithin auch emotionaler dürften die Rezeptionsdispositionen und Bindungen sein. Gemeinhin werden sie in Interviews mit dem Item nach der (Un)Entbehrlichkeit abgefragt. Bei der Vielzahl von Titeln und ihren speziellen Angeboten besonders auf dem Zeitschriftenmarkt dürften jeweils nur wenige das Prädikat der Unverzichtbarkeit attestiert bekommen. Erscheinungsweise und Vertriebsform wirken sich nicht zuletzt auf die formale Gestaltung — Layout und Profil — wie auch auf Auswahl und Aufbereitung der Inhalte aus: Der Straßen- und Kioskverkauf formt(e) die Boulevardpresse und hat inzwischen bestimmte Elemente — vom schreierischen Titel in großen Lettern bis hin zum obligatorischen cover girl — als spezifische Lektüreneignungen eingraviert, ebenso wie von Abonnementzeitungen sachliche Seriosität und publizistische Solidität erwartet werden. Publikumszeitschriften steuern mit ihren Titelseiten Aufmerksamkeit, Neugier und Kauflust sowohl bei ihren Stammlesern als auch der wachsenden Laufkundschaft. Dabei gelten vorzugsweise weibliche Modells und wenige thematische Headlines, möglichst auf Prominente hin personalisiert, als attraktivste und verkäuflichste Ingredienzen. Immer wieder wird mit auffallenden bis schockierenden Titelseiten das Image eines Blattes gepflegt oder auch ruiniert (und renommierte Magazine wie SPIEGEL und STERN werten sie zunehmend als markante Zeugnisse für die Zeitgeschichte auf). Allenthalben steigen die grafischen Aufwendungen für die Titelgestaltung erheblich, die 'Boulevardisierung' wird offenbar zum

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durchgängigen Trend aller Printmedien: Nach dem Einzug der Fotografie in die Druckmedien zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des Farbdrucks in den zwanziger Jahren verändert die Digitalisierung die Printmedien erneut nachhaltig und dürfte künftig noch stärker Vorstellungen wie Erwartungen prägen. Auch Fachzeitschriften und Tageszeitungen haben sich längst dieser outrierenden Tendenz unterworfen und werden immer bilderhaltiger und bunter. Als gedrucktes Fernsehen wurde anfangs die kontinentweit vertriebene Tageszeitung 'USA Today' bespöttelt, als sie 1982 erstmals erschien. Inzwischen ist sie die Tageszeitung mit der zweithöchsten Auflage (etwa 15 Millionen) und dürfte ästhetische Maßstäbe gesetzt haben (Ruß-Mohl 1996), in Deutschland etwa das Aussehen der seit 1993 erscheinenden 'Die Woche'. Große, variable Lettern, bunte Headlines, großflächige farbige Fotos und Infographiken, in überschaubare, vielgestaltige Segmente ausgelockerte Texte - als clustering bezeichnet — sind inzwischen gewohntes Zeitungsbild und formen Leser-Präferenzen wie — Perspektiven (Bucher 1996). Habituelle Leser und Leserinnen dürften ferner auf spezielle Gliederungsteile, Ressorts und Rubriken von Printmedien disponiert sein, die sich an gewohnten Plätzen befinden (und die bei Tageszeitungen etwa auch mit den Erscheinungsterminen wechseln). Bekannt ist, daß Lokal- und Sportteile besonders begehrt und frequentiert sind; sie präformieren mithin die Lektüre der Tageszeitung. Serviceteile, Veranstaltungshinweise, Gebrauchstips etwa für Haus, Garten, Küche, für Hobbys, Gesundheit und Konsum sowie Anzeigen werden anders genutzt als die Wortanteile; sie werden bei Bedarf immer wieder nachgeschlagen und dienen der bedarfsgerechten Orientierung. Auch viele Zeitschriften aus den zahlreichen special-interests-Segmenten etwa für Computer, Auto, High-Fi-Geräte, für Hobbys wie Basteln, Stricken, Kochen etc. erfüllen ähnliche Funktionen und werden mit vergleichbaren Dispositionen gewählt und genutzt. Die schon klassischen Romanhefte mit ihren sentimentalen, abenteuerlichen und/ oder phantastischen Geschichten erfüllen eher evasorische Lese-Bedürfnisse wie Bücher (Geiger 1979). Der Roman in Zeitung und Zeitschrift befriedigt offenbar habituelle Leseneignung und -neugier in kleinen Portionen (Jabs-Kriegsmann 1981). Außerdem pflegen fast alle Zeitungen ihre feste Unterhaltungsrubriken, besonders am Wochenende

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XXXIX. Mediengegenwart V: Zeitung und Zeitschrift II: Kommunikative und ästhetische Analysen

dienen sie diversem Kurzweil. Journale exklusiv mit Hochglanzfotos über Mode, Reisen, Kunst und Design, Möbel und Architektur blättert man durch oder schaut man fasziniert an. Demnach lassen sich medienspezifische Dispositionen weiter differenzieren, je nach erscheinungs-, gattungs- und ressortspezifischen, formalen, inhaltlichen Aspekten und vor allem nach unterschiedlichen Nutzungsbedürfnissen und -gepflogenheiten, die sowohl habituell und ritualisiert als auch situationsspezifisch und spontan zweckorientiert sein können.

3.

Empirische Studien zu Dispositionen

3.1. Denkbare Forschungsansätze Empirische Forschungen ermitteln jeweils nur einige Dimensionen und Aspekte möglicher Dispositionen; aber umfassend und ausreichend sind Gründe und Motive, warum Zeitungen und - erst recht - warum Zeitschriften gelesen werden, nicht erforscht (Rager/Werner 1992; Kübler 1993; Wilke 1994, 99; Straßner 1997a, 72; 1997b, 57). Gemeinhin werden Zeitungslesende meist als anspruchsvolle, interessierte und aufgeschlossene Rezipienten geschätzt. Daß neben den Adressaten von 'Qualitätsjournalismus' auch viele — und offenbar zunehmend mehr — Boulevard- und ähnlich gemachten Zeitungen rezipieren, ist bislang wenig beachtet worden (Bruck/Stocker 1996): Ihre Erwartungen richten sich vornehmlich auf geringes Anspruchs- und Einstiegsniveau, Uberschaubarkeit bzw. Reduktion der komplexen Wirklichkeit auf wenige Sensationen und Personen, Unterhaltung, emotionale Ansprache, und vielfach sorgt die alltägliche, unbedachte Routine für den Kauf am Kiosk oder den Griff in den Straßenkasten. Beim heutigen Standard der empirischen Sozialforschung werden freilich bei jeder Untersuchung zur Mediennutzung möglichst viele soziodemographische, hier als kommunikationsunabhängig gekennzeichnete Variablen erhoben, um Präferenzen und Gewohnheiten der Medienrezeption im Kontext alltäglichen Lebensvollzugs und in biographischen Kontinuitäten zu erfassen. In Studien zur Mediennutzung und -bewertung werden neben vielfaltigen Nutzungsdaten (zu den bevorzugten Medien vergleichend, zu programmlichen und inhaltlichen Präferenzen, zu Häufigkeiten, Dauer und Zeiten der Me-

diennutzung) Aussagen zu Bedürfnissen und Motiven der Mediennutzung, zum Image (Meinungsbild) von Medien, zu ihren Funktionen und Bedeutungen sowie zu den Bindungen von Nutzergruppen an ein bestimmtes Medium erhoben. Entsprechend den skizzierten Konsistenzmodellen untersuchen 'Selective-Exposure'Ansätze selektive Zuwendungsmechanismen, die Individuen gegenüber möglichen irritierenden oder widersprüchlichen Medieneinflüssen pflegen. Insbesondere die zwar schon in den vierziger Jahren entwickelten, erst aber in den siebziger und achtziger Jahren breit verfolgten 'Uses and Gratifications Approachs' (Nutzen· und Belohnungsansätze) richten ihr analytisches Augenmerk verstärkt auf die psychischen und sozialen Dispositionen des als nunmehr „aktiv" erachteten Publikums in der präkommunikativen Phase und suchen herauszufinden, mit welchen Bedürfnissen, Motiven und Erwartungen sich Menschen den Medien absichtsvoll und zielgerichtet zuwenden, um Belohnungen und Gratifikationen zu erfahren. Allerdings sind langfristige, sozialisatorische Prägungen durch Medien, die die jeweils aktuellen Motive und Erwartungen der Medienzuwendung zumindest partiell disponieren, bislang in der eher kurzfristig und punktuell vorgehenden Gratifikationsforschung kaum beachtet werden. Daher werden viele womöglich durch die Medien bereits induzierten Motive als basale, kommunikationsunabhängige Bedürfnisse gewertet (Schenk 1987, 419ff.). 3.2. Motivationale und Gratifikationsstudien Erstmals 1940 untersuchten D. Waples, B. Berelson und F. R. Bradshaw unter dem (inzwischen paradigmatischen) Titel 'What Reading does to People' Prädispositionen und Motive des Zeitungslesens. Darunter faßten sie neben soziodemographischen Merkmalen, Einstellungen und Gefühle des Lesers auch dessen Motive, die sie vage als „expected satisfactions" wie „needs", „wants", „urges" or „demands" definierten (Drabczynski 1982, 92). Konkreter waren die Befunde, die Β. Berelson (1949) 1945 anläßlich eines zweiwöchigen Streiks aus 60 Intensivinterviews ermittelte. Primär vermißten die Befragten die regelmäßige Zeitungslektüre als vagen Mangel an Informationen; nur die Hälfte konnte dafür konkrete Inhalte anführen. Unter diesen Antworten ließen sich bereits differenzierte Nutzungsmuster identifizieren: Außer politi-

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sehen Informationen vermißten die Leser zum einen die praktischen Hinweise (Kinoanzeigen, Börsennachrichten, Wettervorhersage etc.), zum anderen fehlten ihnen die Blätter, um sich bei der Lektüre zu entspannen und die Langeweile des Alltags zu vergessen. Da etliche Leser während der Streikzeit alte Zeitungen erneut lasen, wurde vermutet, daß das Lesen selbst - unabhängig vom (aktuellen) Inhalt - ein gewisses Maß an Befriedigung mit sich bringt und daß die Beibehaltung des gewohnten Tagesablaufs ein Gefühl von Sicherheit gibt. Schließlich wurde die Zeitung als Gesprächsstoff vermißt; auch als Statussymbol war sie vielen unverzichtbar. Insgesamt ließen die beobachteten Reaktionen „die äußert enge Verflechtung der Zeitung mit den Lebensgewohnheiten der Menschen erkennen" (Wilke 1979, 390f.). In einer ähnlichen empirischen Untersuchung in Deutschland während des Münchener Zeitungsstreiks 1978 konnte P. E. Dorsch (1984) diese Zusammenhänge im Alltagsvollzug bestätigen und sie zugleich als insgesamt „gesellschaftlich bedeutsame Funktionen" für die Tageszeitung ausweisen (Dorsch 1984; Pürer/Raabe 1994, 316f.). Nach schwedischen und israelischen Vorbildern wurden in der Bundesrepublik erstmals Mitte der siebziger Jahre von Infratest im Auftrag der 'Kommission für den Ausbau technischer Kommunikation (KtK)' Gratifikationsleistungen und Images von Medien bei Personen ab 14 Jahren repräsentativ erhoben und in Rangfolgen verglichen (Schenk 1987, 404ff.): Für Informationen aus dem regionalen und lokalen Umfeld sowie über den Konsumbereich wurde die Zeitung bevorzugt, für Informationen aus Staat, Welt und Wirtschaft dominierte das Fernsehen, zur Begründung politischer Meinungen votierten viele für das persönliche Gespräch. Zeitschriften erreichten für keine Gratifikation ein ausgeprägtes Profil, auch nicht für Unterhaltungs- und Servicebedürfnisse; sie erfüllten alle Erwartungen nur nachrangig. Insgesamt wurde die Tageszeitung als „leicht zugängliches, kurzfristig verwertbares, aktuelles Informationsmedium mit extrovertiertem [also unmittelbarem und evidentem] Gratifikationscharakter" beurteilt. Das Image der Zeitschrift hingegen — wobei sie nicht in ihre einzelnen Genres spezifiziert wurde — schwankte zwischen den tagesaktuellen Medien Fernsehen, Hörfunk und Zeitungen und dem Buch; deren Attribuierungen überlappten

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sich partiell und waren bedingt austauschbar (Ebd., 405). In einer Folgeerhebung der BertelsmannStiftung (1978), die nach „Kommunikationsabsichten" bei verschiedenen Medien fragte, obsiegte die Zeitung wiederum bei der „Wissensvertiefung", der „Suche nach Kommunikationsstoff" und der „Gewohnheit", während die Zeitschrift - diesmal bereits unterteilt - zumindest als Fachzeitschrift für die „Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse" unangefochten und bei der „Wissensvertiefung" vorne lag. Die Publikumszeitschrift konnte hingegen nur mäßigen Zuspruch für „Leerzeit füllen und Zeitvertreib", „Teilhabe am Schönen" und „Suche nach Kommunikationsstoff' verbuchen. Diese Zuschreibungen ließen sich entsprechend soziodemographischen Merkmalen des Publikums und seiner Informations- wie Kommunikationsbedarfe differenzieren: Beispielsweise schätzten formell höher gebildeten und beruflich besser gestellte Befragte aktuelle Informationen generell für wichtiger ein und bedienten sich insbesondere für ihre Fortbildung und zur Wissensvertiefung der berufs- und arbeitsbezogenen Informationen der Fachzeitschriften. Für Kinder waren im Alter von sechs bis neun Jahren Comic-Hefte als eine besondere Spezies von Zeitschrift überaus attraktiv (nur das Fernsehen werteten sie höher); nach dieser Altersphase übernahm allerdings häufig das Buch solche funktionalen Bedeutungen (Drabcynski 1982, 173fr.; Schenk 1987, 406ff.). Weitere Differenzierungen ergeben sich, wenn bestimmte Publikumsgruppen, deren Motive und Gewohnheiten untersucht werden. Für die Zeitungen ist primär die Gruppe der Nichtlesenden von Belang, die in den letzten Jahren besonders unter Jugendlichen zunimmt. In den USA sind schon in den siebziger Jahren solche Informationsvermeider, die sich weder für lokale noch nationale Nachrichten interessieren, unter den Jüngeren, Personen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung identifiziert worden. Auch mit Einstellungsskalen lassen sich Präferenzen für die Zeitung ausmachen und prognostizieren: Je eher sich jemand dem Konzept des „mündigen Bürgers" mit Verantwortung und Integration im Gemeinwesen verpflichtet fühlt, wozu auch Interesse und „Informiertheit" zählen, umso eher liest er Zeitung (Schenk, 1987, 377). Dispositionen von Zeitschriften-Leser bzw. -Leserinnen werden von der Mediafor-

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schung, die Bestrebungen um Publikumsakzeptanz und Interessen der Inserenten miteinander vereinbaren muß (Schulz 1994), in typischen Lebensstilen porträtiert: etwa in BURDAs 'Typologie der Wünsche' oder in 'Markenprofile und Kommunikationsanalyse' von Gruner + Jahr. Danach wird der 'STERN-Leser' etwa als „kritischer Rationalist" gesehen; er ist informationsorientiert, sucht nach Standpunkten und Meinungen, weniger nach Mitgefühl und Miterleben. Der 'HORZU'-Leser gilt als „sicherheitsorientierter Konservativer", der nach innen gekehrt ist und nach Bewahren statt nach Wandel strebt. Leser einfacherer Programmillustrierten sind vornehmlich an Menschen und Schicksalen interessiert, pflegen Familie, Haus und Bekannte und kümmern sich vorrangig um alltägliche Dinge des Lebens (Straßner 1997b, 57). 3.3. Studien zur Mediennutzung und -bewertung Studien zur Mediennutzung identifizieren zunächst demographische Daten der Medienzuwendung und -nutzung, die auch als kommunikations- und medienunabhängige Dispositionen für die Zeitungslektüre definiert werden können; für die Zeitschriften lassen sie sich kaum konsistent und kompakt beschreiben, da deren inhaltliche und formale Spektren weit diffundieren. Für die Zeitungslektüre sind laut den seit den fünfziger Jahren durchgeführten jährlichen Werbeträger-Analyse des Instituts für Demoskopie in Allensbach (AWA) folgende demographischen Kriterien zu nennen: (1) Geschlecht: Männer lesen im allgemeinen häufiger und länger die nationale und internationale Berichterstattung und den Sport als Frauen, die geringfügig mehr den Lokalteil bevorzugen. (2) Alter: 16- bis 29jährige nutzen die Zeitung am wenigsten; mit zunehmendem Alter gewinnen die Berichterstattung, mit hohem Alter der Lokalteil an Interesse. (3) Bildung und Beruf: Formal höher Gebildete und beruflich höher Gestellte interessieren sich stärker für die nationale und internationale Berichterstattung; am Lokalteil sind alle Bevölkerungsgruppen fast gleichermaßen interessiert. (4) Politisches Interesse: Wer politisch interessiert und zudem aktiv in sein soziales Umfeld integriert ist, liest die Zeitung überdurchschnittlich häufiger und intensiver als derje-

nige, der beides nicht ist. Das Interesse am Lokalteil ist allerdings nicht vom politischen Engagement abhängig (Wilke 1994). Nunmehr über zwanzig Jahre analysiert und dokumentiert die einzige Langzeitstudie in der Bundesrepublik die Nutzung und Bewertung der tagesaktuellen Medien, also von Zeitung, Hörfunk und Fernsehen, zuletzt 1995 (Berg/Kiefer 1996). Sie kann daher am verläßlichsten Kontinuitäten und Veränderungen auch für Tageszeitung, bei ihrem Image und ihrer Bindungsfunktion — zumal in der Relation zu Hörfunk und Fernsehen — aufzeigen: (1) Seit Jahren verliert die Tageszeitung an Reichweite und an regelmäßiger Nutzung, insbesondere bei den unter 40jährigen, den formal wenig Gebildeten und politisch schwach Interessierten. Allerdings ist der zeitliche Nutzungsaufwand für die Zeitung seit Mitte der achtziger Jahre nicht mehr weiter gefallen. Daher läßt sich annehmen, daß die verbliebene Leserschaft der Lektüre mehr Zeit widmet. (2) D a der Hörfunk die massivsten Einbußen seiner 'Glaubwürdigkeit' und seiner 'Objektivität', seines 'Images' - wie es hier heißt hinnehmen mußte, konnte die Zeitung 1995 erstmals nach dem Fernsehen Platz zwei in der Rangskala besetzen. Als politisches und aktuelles Informationsstudium erreicht die Zeitung außerdem höhere Zustimmung als vor fünf und zehn Jahren. Besonders bei den besser gebildeten, politisch interessierten Bundesbürger konnte die Zeitung ihr Image bessern. In den neuen Bundesländern ist das Interesse an der Zeitung deutlich geringer; neben politischer Information wird sie dort eher für praktische Orientierungen genutzt. (3) Bei sinkender Nutzung hat die Tageszeitung die geringsten Imageeinbrüche zu verzeichnen. Die geschrumpfte Leserschaft ist in ihren Interessen an die Zeitung mithin homogener geworden; sie erwarten vornehmlich journalistische Leistungen. (4) Der kontinuierliche Schwund an habitualisierten Lesern vor allen in den jüngeren Altersgruppen ist bislang nicht gestoppt, er scheint sich sogar mit der Etablierung des dualen Rundfunks zu beschleunigen und nimmt bei den jüngsten noch zu. Auch wenn diese Jahrgänge älter werden, hält ihre relative Zeitungsabstinenz an. Selbst höhere formale Bildung ändert an diesem Trend nichts grundsätzlich, sie verlangsamt ihn allenfalls (vgl. dazu auch Gärtner u. a. 1994).

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Es wundert daher nicht, daß der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) und der Regionalpresse 1991 eine „Grundlagenstudie" über das Verhältnis der 14- bis 29jährigen zur Zeitung beim Institut für Demoskopie in Allensbach in Auftrag (NoelleNeumann/Schulz 1993; Bauer 1996), um „Maßnahmen zur Intensivierung der Zeitungsnutzung junger Menschen" (NoelleNeumann/Schulz 1993, 5) zu eruieren. Insgesamt unterscheiden sich die Leseneigungen und Interessengebieten der jungen Leute, bezogen auf die Zeitung, wenig von denen der Erwachsenen; allerdings beachten sie eher Veranstaltungstips, Anzeigen und informieren sich über das Kinoprogramm. Befragt man indes die Nichtleser, die sich eher unter den 14- bis 17jährigen, den Hauptschülern und in Großstädten finden, nach ihren Vorlieben, zeigen sie sich weit weniger an Politik, Lokalpolitik, Wirtschaft interessiert als die regelmäßigen jungen Zeitungsleser. Lieber befassen sie sich mit neuen CDs, Autos und Motorrädern, mit dem Leben von Stars und Prominenten. Ferner interessieren sich besonders die Mädchen für Mode, Kosmetik und Schönheitstips —, mithin für Themen, die von Zeitschriften, aber kaum von Zeitungen behandelt werden (Noelle-Neumann/Schulz 1993, 75; siehe auch Vogel 1996). Jugendkulturelle Gruppenidentitäten identifizierte eine ebenfalls von den beiden Zeitungsorganisationen in Auftrag gegebene qualitative Studie zu „aktuellen Jugendkultur und Mediennutzung" (Bauer 1996), die vier „Stereotypen" entdeckte: Völlig zeitungsfern sind Jugendliche, die sich in ihrem Äußeren (ζ. B. durch Piercing) und ihren Vorlieben als Rapper, Raver und Punker möglichst demonstrativ von der Erwachsenenwelt und dem konventionellen Mainstrem abgrenzen wollen. Kaum eine Rolle spielt die Tageszeitung auch bei den noch sehr jungen Jugendlichen (14, 15 Jahren), die sich hauptsächlich mit Computerspielen und -animationen, Phantasy- und Actionspielen sowie mit Fernsehen und Kino vergnügen. Höchstens nutzen sie Zeitschriften wie 'BRAVO', 'Girl', 'Popcorn' und Comics, und bei Gelegenheit und Bedarf schauen sie kurz in die Boulevardpresse. Vermehrt eine regionale Abonnementzeitung nutzen hingegen Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, die einerseits noch eine sehr starke Bindung an die Familie haben und dem elterlichen Vorbild entsprechen möchten, andererseits aber bereits Eigenständigkeit beweisen und erste Kontakte mit der Er-

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wachsenenwelt, etwa über die Jugendorganisationen von Vereinen, Kirchen, Parteien und Gewerkschaften, aufnehmen. Aber auch die eigene Clique ist wichtig und formt Vorlieben und Werte. Schließlich finden sich etliche regelmäßige Zeitungsleser in einer jugendkulturellen Szene, deren Mitglieder sich vorsichtig und mit dezenten Accessoires (wie schwarze Kleider, kleine Tätowierungen) vom Elternhaus distanzieren, aber sich nicht von ihm ganz ablösen. Primär fühlen sie sich einem bestimmten Musikstil zugehörig, der auch das Lebensgefühl und das Outfit prägt. Dazu lesen sie einschlägige Fanzines (der diversen Musikgruppen, Sportarten und Hobby), Lifestyle- und Special-Interest-Magazine. 3.4. Selektive Zuwendung und Lesekompetenz Ob und wie Prädispositionen der Rezipienten ihre Selektionsentscheidungen für Medien beeinflussen, insbesondere ob das Motiv, bestehende kognitive Spannungen abzubauen oder mögliche zu verhindern, wie es die Konsonanz· bzw. Dissonanzhypothese annimmt, vorherrscht, konnte bislang empirisch nicht zweifelsfrei und umfassend belegt werden (Donsbach 1989; 1991). In einer Fallstudie suchte W. Donsbach die Frage hinsichtlich der Darstellung und Bewertung politischer Persönlichkeiten zu überprüfen. Als zentrales Ergebnis stellte sich heraus, daß die Wahrnehmung und Lektüre eines Artikels eher von den bereits bestehenden Meinungen des Lesers geleitet werden, wenn es sich um positive Informationen über Politiker handelt. Und weiter ließ sich erkennen, daß Leser umso selektiver mit der Zeitung entsprechend ihren bereits bestehenden Meinungen umgehen, je flüchtliger sie täglich Zeitung lesen. Politisch interessierte Personen lesen hingegen weniger selektiv als politisch Uninteressierte und werden daher auch von Mitteilungen erreicht, die ihrer eigenen Meinung widersprechen (Donsbach 1989, 401). Allerdings sind auch die Plazierung und die argumentative Gestaltung eines Artikels von Belang. Nicht zuletzt können Politikernamen schon in der Uberschrift Köder sein. Mit ihnen lassen sich selektive Voreingenommenheiten überwinden, zumal wenn sich die Informationen als nützlich für mögliche Gespräche anbieten. Mithin erweisen sich sowohl politische Meinungen (oder Einstellungen), Interessen, Affinitäten für prominente Personen sowie das Bedürfnis nach Gesprächsstoff als subjektive Disposi-

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tionen, um selektive Zuwendungen zu bestärken wie auch gegebenenfalls zu überwinden. Prinzipielle anthropologische Disposition für die Lektüre von Printmedien ist natürlich die allgemeine Lesefähigkeit, die sogenannte Literalität (Stiftung Lesen 1990; 1995; von der Lahr 1996). Sie wird allerdings kaum gesondert für die Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften untersucht, sondern generell. Die Spezifik des Zeitungs- und Zeitschriftenlesens bleibt weitgehend außer Betracht. Die verfügbaren Daten, die inzwischen auch auf Veranlassung der OECD vergleichend erhoben werden (Lehmann u. a. 1995), registrieren generell einen anhaltenden Rückgang des Stellenwerts des Buches und der Lesehäufigkeit — wobei dafür vielfältige Ursachen angeführt werden (vgl. auch Stiftung Lesen 1993). Sie sind nicht nur in der wachsenden Medienkonkurrenz zu sehen, sondern auch darin, daß im Laufe der nunmehr fast 50jährigen Geschichte der (Buch) Leseforschung die Klage vom 'Zerfall der Lesekultur' stets geführt wurde und die nun verfügbaren Daten sie immer dichter, präziser und differenzierter unterstützen können (Muth 1993; Kübler 1995; Ring 1997). Hingegen erkundet die sogenannte Readability-Forschung insbesondere in den USA, wie kognitive Defizite in der Lesekompetenz oder mentale Vorbehalte gegen die Lektüre durch das Produkt, also durch die Gestaltung der Zeitung, wenn schon nicht überwunden, so doch positiv beeinflußt werden können (Wilke 1979). Ihre Befunde werden heute mit den skizzierten graphischen Umgestaltungen (relaunches) kombiniert, die die Technik anbietet. Zunächst wurde nach sprachlich-stilistischen Faktoren gesucht, um die Attraktivität und Verständlichkeit der Texte zu verbessern. Natürlich werden auch die Sprache, das grafische Aussehen und der affektive Gehalt von Überschriften getestet, um Aufmerksamkeit zu gewinnen und Neugier zu wecken. Ihre Gestaltung hat nicht nur Folgen für die Selektion, sondern auch für die Interpretation der jeweiligen Inhalte, mithin für das Profil und Image eines Presseprodukts. Alle formalen Elemente des Textaufbaus, des Umbruchs, der Plazierung, der Auswahl von Textgattungen, Schrifttypen und -großen sowie von Fotos, Grafiken und Farben werden heute zusammen mit Design und Werbung entwickelt und erprobt. Dabei dürfte der Grat zwischen Attraktivität und fataler Anmache, Verständlichkeit und Banalität, grafischem Chic und unangenehmer Überrei-

zung recht schmal sein und nicht immer für das zu haltende Publikum angemessen getroffen werden. Daher bergen Innovationen - Neueinführungen wie Relaunches - auf dem Pressemarkt angesichts immenser Kosten selbst für die große Verlagskonzerne erhebliche Risiken. 4.

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1750

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Hans-Dieter Kiíbler, Hamburg

(Deutschland)

XL. Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen 166. Auswirkungen der Digitaltechnik auf die technische Weiterentwicklung von Zeitungen und Zeitschriften 1. 2.

4.

Einleitung Prozeß- und Produktinnovation im Pressesektor Fazit: Presseverlage als Multimediaunternehmen Literatur

1.

Einleitung

3.

In diesem Beitrag wird untersucht, welche Innovationen in der Pressebranche durch die Einführung neuer Technologien möglich sind. Dabei müssen zunächst die ProzeßInnovationen berücksichtigt werden, d. h. neue Arbeitsabläufe, die unter Zuhilfenahme neuer Technologien eine effiziente Gestaltung der Wertschöpfungskette ermöglichen. Schwerpunkt der Darstellung sind Produkt!nnovationen, d. h. neue oder modifizierte Produktformen, die meist aus der Kombination unterschiedlicher technischer Verfahren entstehen. Entsprechend der Themenstellung wird im Folgenden stets die Technik als Ausgangspunkt der Innovationen im Pressesektor analysiert. Grundsätzlich sollte jedoch berücksichtigt werden, daß die Weiterentwicklung auch von anderen Faktoren wie etwa den Marktbedingungen, gesellschaftlichen Einflüssen und rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt (Goslich 1987, 43ff., 9 8 f f ) .

2.

Prozeß- und Produktinnovation im Pressesektor

2.1. Elektronisches Publizieren als Prozeßinnovation Mitte der achtziger Jahre wurden Rechnersysteme als Arbeits- und Speichermedium im Satzbereich eingesetzt und die Daten mit Laserbelichtung ausgegeben. Unter dem Begriff Desktop-Publishing (DTP) wurde die Druckvorstufe revolutioniert, mit der die Druck-

vorlagenherstellung unter „völliger Umgehung von Fotosatz, Repro" (Straka/Dickschus/Ley hausen u . a . o. J., 175) möglich wurde. Durch die gleichzeitige Weiterentwicklung der Elektronischen Bildverarbeitung (EBV) aufgrund der weiterentwickelten Scannertechnik (Wolf 1989, 17) wurde die digitale Text- Bildintegration möglich (Blana/ Fliegel/Kusterer 1988, 215ff.). Bei dieser Produktionsweise wird ausschließlich mit digitalen Daten gearbeitet. Im Vergleich zur konventionellen Herstellung wird bei diesem Verfahren die separate Bearbeitung von Texten und Bildern sowie die manuelle Seitenmontage eingespart. Noch kürzer wird der Prozeß, wenn die digitalen Daten dazu benutzt werden, ohne materielle Zwischenstufe (ζ. B. Film), die Druckplatte zu belichten (Teschner 1990, 99). Bei diesem Computer-to-plate (CTP)-Verfahren können sowohl die Bogenmontage als auch die Plattenkopie entfallen. Während hierbei der Druck noch konventionell (analog) erfolgt, gibt es darüber hinaus die Möglichkeit des Digitaldrucks, bei dem — ohne Druckformherstellung — das Papier mit einem Art Kopierverfahren (Inkjet, Thermotransferdruck oder Magnetografie) bedruckt wird. Dies ermöglicht die Individualisierung der einzelnen Ausdrucke (Heinze 1998). Diese technische Weiterentwicklung der Produkterstellung führt jedoch nicht nur zu einer beschleunigten Produktion von Zeitungen und Zeitschriften und damit zu späteren Redaktionsschlußzeiten (ζ. B. durch die digitale Anbindung von Außenredaktionen), sondern senkt die Produktionskosten und trägt somit dazu bei, die intermediale Konkurrenzfähigkeit der Printmedien zu erhöhen. Aufgrund der digitalen Datenspeicherung können digitale Medienarchive aufgebaut werden, die den Lesern als Jahrgangs-CD-ROM oder Online-Archiv zugänglich sind (vgl. 2.3.). Neben der Speicherung des eigenen Produkts

1752

XL. Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen

werden jedoch in vielen Verlagen sämtliche Recherchematerialien digitalisiert und in einer recherchierfähigen Form gespeichert, Regionalzeitungen betreiben ζ. T. Datenbanken mit regionalem Schwerpunkt, die die Wettbewerbsfähigkeit der Zeitung gegenüber den Wettbewerbern verbessert (vgl. Schmitt 1991). Auch das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" baut einen Teil seiner Marktstellung auf einem besonders umfassenden Archiv auf (vgl. Kuhlen 1995, 410). 2.2. Produktinnovationen der Printprodukte Die in 1.2. dargestellten technischen Veränderungen sind nicht nur Voraussetzung für konkurrenzfähige Herstellungsmethoden, sondern sie ermöglichen die Entwicklung neuer Poduktformen, indem die gedruckten Massenmedien zu immer aktuelleren und individuelleren Produkten weiterentwickelt werden. Auf Basis digitaler Druckverfahren werden Presseprodukte möglich, die bezüglich der Druckauflage, des Druckortes und der Druckzeit sehr präzise auf das Leseinteresse abgestimmt werden können (Printing-on-demand: POD). Beispielhaft hierfür ist 'News am Abend', die zehnseitige DIN A4-Ausgabe des 'Handelsblatts' für Flugreisende. Aufgrund der Online-Distribution der Daten an zwölf unterschiedliche digitale Druckstandorte ist es möglich, bei einem Redaktionsschluß von 14.00 Uhr um 16.30 die Zeitung bundesweit an Fluggäste zu verteilen (Bode 1998). Weitere Einsatzgebiete derartiger POD-Produkte testet der Spiegel-Verlag mit einer vierseitigen Nachmittatszeitung 'ICE Press' in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn A G und dem Pilot-Projekt 'Der Tag', der während der Winterolympiade 1998 in Nagano an Kunden von Shell-Tankstellen und Gäste des Reiseveranstalters TUI in der Dominikanischen Republik verkauft wurde. Neu ist v. a. die Aktualität der Printprodukte und die Unabhängigkeit von geografischen Begrenzungen beim Vertrieb. Uber das in diesen Beispielen dargestellte Maß hinaus kann die Nutzung von POD-Verfahren auch zu einer Auflösung des Massenmediums Zeitung bzw. Zeitschrift benutzt werden. Durch Speicherung der Inhalte in Datenbanken und die Möglichkeit, Presseprodukte auflagenunabhängig zu drucken, kann sowohl der redaktionelle Inhalt als auch die Werbebotschaft feiner auf die Zielgruppe abgestimmt werden. Statt lokaler Ausgaben, wie sie beispielsweise im redaktionellen Bereich von Zeitungen oder im Anzeigensektor von Zeitschriften

eingesetzt werden, ist eine weitere Untergliederung nach einzelnen Interessengruppen, bis hin zum individuellen Exemplar denkbar (vgl. Diekhoff 1996, 62). 2.3. Produktinnovationen im Multimediasektor Die in 2.2. geschilderten Ansätze zur distanzlosen Distribution und Individualisierung von Presseinhalten lassen sich bei multimedialen Produkten, die ohne den Bedruckstoff Papier auskommen, konsequent weiterführen. Dabei versteht man unter Multimedia „computergestützte Anwendungen, in die digitalisierte Bilder, Daten und Töne integriert werden" (vgl. Kjelldahl 1991, 4). Der Computerbildschirm bildet somit das Lesemedium, weshalb die Nutzung erheblich durch technische Parameter beeinflußt wird (vgl. Schanze/Kammer 1998). Besonders hervorzuheben sind bei allen nachfolgend skizzierten Multimediaprodukten die gegenüber den gedruckten Medien erweiterten Funktionalitäten, die Interaktivität, d. h. einen Dialog zwischen Medium und Nutzer ermöglichen und aufgrund der Hypertextstruktur eine intuitivere Nutzung bieten können als dies bei linearen Printmedien möglich ist (vgl. Kuhlen 1991). Beispielsweise kann der Nutzer neuen Medien den angelegten Themenverweisen per Hyperlink folgen, ohne daß dies eine aufwendige Recherche erfordert. Auf Seiten der Multimedia-Journalisten sind daher vertiefte Kenntnisse über Strukturierung von Hypertextdarstellungen notwendig (Meier 1998). Grundsätzlich werden die multimedialen Angebote danach unterschieden, ob die Inhalte mit einem Speichermedium vertrieben werden (Offline-Medien), oder ob der Nutzer sich über eine Telekommunikationsverbindung die aktuellen Inhalte vom Rechner des Anbieters abruft (Online-Medien). Der Markt der Offline-Medien konzentriert sich in den neunziger Jahren im Wesentlichen auf den CD-ROM-Markt. Für die klassischen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage ist deren Anwendbarkeit jedoch begrenzt, da bei den Printprodukten mit hoher Periodizität produziert werden, da sie Themen mit einer hohen Aktualität behandeln. Eine C D - R O M ermöglicht jedoch keine ständige Aktualisierung. Die Hauptanwendungsbereiche der C D - R O M im Pressesektor sind daher Jahrgangs-CD-ROMs als Archivmedien und Artikelsammlungen oder Sonderveröffentlichungen zu Einzelthemen (z. B. Reiseberichte der FAZ). Darüber hinaus findet die CD-ROM

166. Auswirkungen der Digitaltechnik auf die techn. Weiterentwicklung von Zeitungen u. Zeitschriften

v. a. im Markt der Fachzeitschriften Verbreitung, da sie eine komfortable Recherchierfähigkeit bietet und sich insbesondere für den Markt der Loseblattwerke eignet (Frühschütz 1997, 145). Neben diesem noch eher engen Anwendungsbereich der Offline-Medien für Presseverlage, haben die neuen Formen multimedialer Off- und Online-Medien zu einer Erweiterung des Titelspektrums der gedruckten Zeitschriften geführt. Das Segment der Computer/Multimedia-Zeitschriften ist seit Mitte der neunziger Jahre stark gewachsen (Geisler 1998, 66). Online-Medien, bei denen das Empfangsgerät des Nutzers mit dem Rechner des Anbieters verbunden ist, um individuelle Informationen abzurufen, eignen sich für die periodischen Publikationen redaktioneller Inhalte der Presseverlage, da sie die Möglichkeit zur ständigen Aktualisierung bieten. Während sich in den achtziger Jahren die Aufmerksamkeit der Verlage auf Videotext und v. a. Bildschirmtext (BTX) konzentrierte (vgl. Keller 1986, 178ff.), steht seit Mitte der neunziger Jahre das World Wide Web (WWW), d. h. der Hypertextdienst des weltumspannenden Internet im Blickfeld der strategischen Planungen der Presseverlage. Was im BTX-Zeitalter zunächst in erster Linie als neue Distributionsform von Informationen betrachtet wurde, bekommt durch die multimedialen Darstellungsmöglichkeiten im W W W ein neues Gewicht. Derzeit können im deutschen Markt bereis ca. 9,9 Mio. Nutzer über 14 Jahren erreicht werden (G + J EMS 1999, 11), aufgrund der interessanten soziodemographischen Struktur der Zielgruppe (gut ausgebildete Nutzer zwischen 20 und 49 Jahren) ist dieses Medium bereits jetzt für die Werbewirtschaft interessant. Die Strategien der einzelnen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage in diesem Markt variieren stark (vgl. Breyer 1998, 17). Neben dem naheliegenden Engagement als Content-Provider (InhalteAnbieter) gibt es v. a. bei Zeitungsverlagen zahlreiche Unternehmen, die — analog zur Distribution des Printprodukts — gewissermaßen Teile der Online-Vertriebstechnik in das eigene Unternehmen integrieren und als Access-Provider Internetzugänge für Privatkunden anbieten. Der eigene Abonnentenstamm inklusive der dazugehörigen Abrechnungsbeziehungen eignet sich für den Aufbau regionaler elektronischer Marktplätze (electronic mails) (vgl. Zimmermann/Kuhn 1995, 43 ff.). Zudem können Verlage als AccessProvider dafür sorgen, daß das eigene Ange-

1753

bot als Startseite in die Browsersoftware des Nutzers eingetragen ist und die technische Anbindung der Abonnenten an die eigenen redaktionellen Inhalte überdurchschnittlich gut ist. Wie lange allerdings Verlage im Sektor des Access-Providings gegenüber der Konkurrenz der Telekommunikationsunternehmen bestehen können ist unklar. Über das Content- und Access-Providing hinaus, sind zahlreiche Presseverlage als Service-Provider tätig, indem sie als Dienstleister ihre Anzeigenkunden beim Aufbau einer Internetpräsenz unterstützen. Ob das eigentliche Hauptgeschäftsfeld der Verlage, das Anbieten redaktioneller Inhalte, auch im WWW finanziell erfolgreich ist, hängt davon ab, ob einerseits die Nutzer dazu bereit sind, für Content zu bezahlen oder andererseits die Werbeumsätze wie beim Free-TV die Kosten für den redaktionellen Aufwand decken. Die Beispiele von Presseangeboten, die nennenswerte Umsätze durch Nutzerentgelt generieren, sind derzeit noch gering und wie ζ. B. beim Wall-Street-Journal durch den speziellen Charakter des Contents zu erklären (Budde 1997). Als Vorstufe zum Abonnement-Verkauf des redaktionellen Contents an die Nutzer werden derzeit bei einigen Presseangeboten bestimmte Services wie ζ. B. der Archivzugang gegen Entgelt angeboten. Um die Hemmschwelle zum Kauf der Inhalte möglichst niedrig zu halten, setzen viele auf zukünftige Modelle des Pay-per-View-Prinzips. Voraussetzung für die Implementation solcher Modelle sind jedoch funktionsfähige Abrechnungsmechanismen für Kleinstbeträge (vgl. Werner 1997, 298ff.). Eine Zwischenposition zwischen Werbung und Content nehmen die Online-Rubrikanzeigen ein, die aufgrund der mehrdimensionalen Recherchiermöglichkeit besonders gut für OnlineMedien geeignet sind. Im Printgeschäft hängt der Charakter von Rubrikanzeigen von der Art des Mediums ab: Bei Zeitungen und Zeitschriften wird sowohl vom Auftraggeber der Anzeige als auch vom Leser ein Entgelt verlangt, die Rubrikanzeigen stellen daher sowohl Content als auch Werbung dar. Bei Offertenblättern sind sie vom Leser zu bezahlender Content, wohingegen Anzeigenblätter lediglich den Auftraggeber belasten und daher Rubrikanzeigen der Werbung zuordnen. Im Online-Markt sind die Marktusancen noch unklar und innerhalb der jeweiligen Pressegattung sehr heterogen. Viele Verlage übertragen in der Phase der Markteinführung die Rubrikanzeigen kostenlos in das Online-

1754

XL. Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen

Angebot und berechnen keine Geführ für den Anzeigenabruf. Teilweise werden dabei ausschließlich Anzeigen aus dem Printangebot online veröffentlicht, um eine Substitution des bezahlten Printprodukts zu vermeiden. Andere Modelle sehen einen gebührenpflichtigen Abruf der Anzeigen vor. Eine der entscheidenden Voraussetzungen für den Aufbau eines Online-Werbegeschäftes konnte in Deutschland 1997 durch die Etablierung einer einheitlichen Mediawährung erfüllt werden (vgl. Breyer 1997, 141 ff.). Dennoch entspricht das Werbegeschäft noch nicht den Erwartungen des Marktes, zumal den Erlösen erhebliche Investitionen der Verlage gegenüberstehen und darüber hinaus branchenfremde Wettbewerber, wie etwa Markenartikler in den Medienmarkt drängen, indem beispielsweise auf der Homepage eines Sportartikelherstellers eine redaktionelle Berichterstattung zu sportlichen Großereignissen stattfindet. Aufgrund der niedrigen Markteintrittshürden, im Online-Sektor stehen den Presseverlagen als etablierten Medienunternehmen zahlreiche neue Wettbewerber bzw. Kooperationspartner gegenüber. Die Chance der Presseverlage im Internet liegt in der anerkannten publizistischen Kompetenz. In dem heterogenen Medium WWW sind die Titel der Zeitungen und Zeitschriften als Markennamen für die Nutzerakzeptanz entscheidend. Zudem können neue publizistische Angebote das Spektrum der im Printmedium gängigen Angebotsformen in ihrer Funktionalität übertreffen. Zeitschriftenangebote mit täglicher oder häufigerer Aktualisierung treten in Wettbewerb zu Tageszeitungsangeboten, da die neue Form der Periodizität zu neuen vergleichbaren Produktkategorien führt. Die Möglichkeit Informationen zu selektieren und auf Benutzergruppen oder einzelne Benutzer zuzuschneiden (customizing), führt in Verbindung mit der einfachen Distributionsmöglichkeit per e-mail zu neuen publizistischen Serviceprodukten, indem sogenannte Push-Dienste, d. h. Abonnementlieferungen angeboten werden. Darüber hinaus gibt es Angebote wie ζ. B. spezielle Zeitungssuchmaschinen, die die Inhalte vordefinierter Online-Angebote der Presseverlage als Rohstoff für neue ζ. T. individualisierte Dienste verwenden. Über die bereits etablierte Funktion als Werbeträger hinaus werden die redaktionellen Angebote der Presseverlage mehr und mehr zu elektronischen Marktplätzen ausgebaut, wo Waren und Dienstleistungen angeboten werden. Für die Erstellung

dieser aufwendigen Produktformen kooperieren zahlreiche Verlage mit anderen Pressehäusern oder Branchenfremden wie ζ. B. Softwarehäusern. Da der Aufwand zur Erstellung von Online-Angeboten im Verhältnis zu den Erlösen sehr groß ist, gibt es zahlreiche Kooperationen zwischen Presseverlagen im Online-Sektor. Neben redaktionellen Mantelprogrammen und gemeinsamen Technikpools gewinnen Kooperationen zur Werbevermarktung zunehmend an Bedeutung.

3.

Fazit: Presseverlage als Multimediaunternehmen

Die Digitaltechnik bietet Presseverlagen die Möglichkeit, die Kernkompetenz der Aufbereitung redaktioneller Inhalte für unterschiedliche Plattformen und Märkte zu nutzen. Ausgehend von dem in Datenbanken strukturierten Content können bei Cross-Media-Publishing-Projekten simultan Produkte in den Mediengattungen Print, TV, Online, CD-ROM und Buch umgesetzt werden (vgl. Heijnk 1998, 10). Komplexe Themen können als Zeitungsserie veröffentlicht werden, die dazugehörigen Hintergrundinformationen werden im Internetangebot der Zeitung präsentiert. Mit dieser produktunabhängigen Verlagsstrategie verlassen die einzelnen Mediengattungen ihre Marktsegmente indem beispielsweise Zeitungen und Zeitschriften mit TV-Sendern und Buchverlagen in Konkurrenz treten bzw. kooperieren. Den genannten Chancen durch die neue technologische Entwicklung der Medienwelt stehen auch Risiken gegenüber. D a in der digitalen Welt die Kopie nicht mehr vom Original unterschieden werden kann, wird es für die Urheber und Verlage immer schwieriger, Urheberrechtsverletzungen durch Dritte wirksam zu verhindern und zu verfolgen (WIPO 1997). Auch die Umsetzung der Pressefreiheit ist im Umfeld der neuen Medien nicht unproblematisch. So ist bei den verschiedenen Online-Angeboten entscheidend welchen Zugang zum Nutzer sie besitzen, d. h. wie bequem sie für den Nutzer auffindbar sind und mit welcher Datenübertragungsrate der Zugang realisiert wird. Nicht immer gelten im Online-Sektor bereits die gleichen Maßstäbe der Distributionsfreiheit wie im Markt der klassischen Print-Medien.

4.

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166. Auswirkungen der Digitaltechnik auf die techn. Weiterentwicklung von Zeitungen u. Zeitschriften

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Thomas Breyer-Mayländer,

Frankfurt!Main ( Deutschland)

1756

XL. Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen

167. Zukunftsperspektiven von Zeitungen und Zeitschriften 1. 2. 3. 4. 5.

Einführung Bestandsaufnahme Konsequenzen Fazit Literatur

1.

Einführung

„Es ist nicht schwer, die Zukunft vorherzusagen. Der schwierige Part ist, mit der Prognose richtig zu liegen." Damit trifft Katja Riefler (Bundesverband 1996,158) ins Schwarze. Um die Prognose so glaubwürdig wie möglich zu halten, hilft die „Bestandsaufnahme", also der Blick in Vergangenheit und Gegenwart, um Tendenzen zu erkennen und daraus Schlußfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Sicher ist, daß ein verlegerisches, redaktionelles und technisches Konzept erforderlich sein wird, das nicht Stückwerk, sondern kompositorisches Ganzes ist. Voraussetzung ist Fähigkeit, Einsicht und Wille zum Wandel. Nicht Zauberworte aber Schlüsselbegriffe für eine erfolgreiche Marktbehauptung werden sein: Medienmanagement, Redaktionelles Marketing und Infrastrukturen als Netzwerk zur publizistischen Qualitätssicherung. Im Kapitel „Konsequenzen" wird darauf eingegangen. Und auf die Herausforderung Multimedia. Im „Fazit" wird dann doch eine Prognose gewagt.

2.

Bestandsaufnahme

2.1. Die Lage der Zeitungen Im zweiten Quartal 2000 wurden der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) 389 Tages- und Sonntagszeitungen mit einer verkauften Auflage von 28,4 Millionen Exemplaren gemeldet. Hinzu kommen 25 Wochenzeitungen mit einer Auflage von rund 2 Millionen. Mit ca. 300 Zeitungsexemplaren je 1000 Einwohner rangiert Deutschland weltweit auf den oberen Plätzen. Die Zahlen klingen gut. Doch sie waren schon besser. Seit einem kurzfristigen Boom nach der Wiedervereinigung stagnieren Anzahl der Titel und Auflagenzahlen bzw. sind rückläufig: noch 1992 verkauften 426 Tages- und Sonntagszeitungen 30,9 Millionen Exemplare (IVW IV/ 1992). Im Sommer 2000 sind es 37 Titel und 2,5 Millionen Exemplare weniger. Besonders dramatisch sind die Reichweitenverluste:

Zwar wurden z.B. 1996 noch immer 80,7 Prozent der Gesamtbevölkerung von der Tageszeitung erreicht (1986 waren es 83,5 Prozent), doch gibt es besonders bei den jungen Leserschichten starke Einbrüche: wurden 1986 noch 72,6 Prozent der 14— 19jährigen erreicht, sind es 1996 mit 60,1 Prozent 12,5 Prozent weniger (alle Angaben stammen von der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse [MA], Berichtsbände 1986-1996). Von den 360 regionalen Abonnementzeitungen werden sogar nur noch gut die Hälfte dieser Altersgruppe erreicht: 52,4 Prozent (MA '96). Auch die Entwicklung der Nutzungszeiten ist alarmierend: während das Zeitbudget der Gesamtbevölkerung für Mediennutzung zwischen 1970 und 1995 zugunsten von Hörfunk und Fernsehen anstieg (von 3 : 3 4 Stunden auf 5:18), sank die Nutzungszeit für Tageszeitungen im gleichen Zeitraum von 35 auf 31 Minuten, bei den 14-19jährigen gar von 23 auf 13 Minuten bei einem Gesamtzeitbudget von 3 : 58 Stunden gegenüber 3 :02 Stunden im Jahr 1970 (Berg/Kiefer 1996, 294). Besonders das Abwandern der Jugendlichen wird in Zukunft die Zeitungen zum Reagieren zwingen, denn es schwindet die Gewißheit, „daß die heutigen Jugendlichen wie Generationen vor ihnen wieder automatisch zu Zeitungsabonnenten werden" (Flö per/Raue 1995, 53). Auch bei den Netto-Werbeeinnahmen hat — was die Steigerungsraten angeht - das Fernsehen die Nase vorn: plus 12,6 Prozent im Jahr 1995 gegenüber dem Vorjahr. Die Tageszeitungen konnten nur 3,4 Prozent zulegen. Dabei bleiben sie mit Abstand der größte Werbeträger in Deutschland: 10,7 Milliarden DM Netto-Werbeeinnahmen konnten sie 1995 auf ihrem Konto verbuchen (von insgesamt 36,3 Milliarden D M aller erfaßbaren Werbeträger). Das sind zwar immer noch 29,5 Prozent des gesamten Werbekuchens; doch zehn Jahre zuvor waren es noch 37,1 Prozent. Im gleichen Zeitraum konnte das Fernsehen seinen Anteil von 8,3 Prozent auf 17,4 Prozent mehr als verdoppeln (Bundesverband 1996, 28 — 35). Eine weitere erwähnenswerte Entwicklung ist die zunehmende Konzentration bei der Tagespresse: Gaben 1954 noch 624 Verlage 225 publizistische Einheiten mit 1500 Ausgaben heraus, so sind es 1999 355 Verlage und 135 publizistische Einheiten mit 1581 verschiedenen Zeitungsausgaben (Schütz 1999, 9). Es ist ab-

1757

167. Zukunftsperspektiven von Zeitungen und Zeitschriften

sehbar, daß sich alle Tendenzen weiter verstärken (vgl. Quervel 1994, 29): abnehmender Printkonsum bzw. sich verändernde Mediennutzung durch Vermehrung der Ein-Personen-Haushalte, Rückzug ins Private, in die Individualisierung, fehlende regionale Bindungen, Politikverdrossenheit (vgl. Rager/ Werner 1992, 12); zunehmende Arbeitslosigkeit und konjunkturelle Schwierigkeiten führen zu Konsumrückhaltung mit Konsequenzen auch für den Werbeetat. Besonders betroffen sein werden die Printmedien u. a. beim Stellenmarkt, dem Immobilienteil, dem Automarkt. Private Haushalte kürzen im Medienbudget, wobei vielfach das Zeitungsabonnement gestrichen wird (vgl. SchaeferDieterle 1993b, 12). Regionale elektronische Medien, kostenlose Anzeigenblätter, Stadtmagazine und die abendliche Tagesschau übernehmen lokale Orientierungsfunktion, Unterhaltung und befriedigen das Informationsbedürfnis. Die Werbewirtschaft nimmt dementsprechend eine Umverteilung ihrer Etats zugunsten der elektronischen Medien vor. Aus all diesen Zahlen und Tendenzen ergibt sich u. a. folgender Handlungsbedarf für die Zeitungen: Reaktionen auf den Leserschwund, besonders bei den jungen Leserschichten. Konsequenzen aus dem Verlust von Marktanteilen beim Werbekuchen. Antworten auf Multimedia und die Konkurrenz der elektronischen Medien. 2.2. Die Lage der Zeitschriften Entspannter ist die Situation bei den Zeitschriften. Während die Anzahl der Tageszeitungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten trotz des hinzugekommenen DDR-Absatzmarktes zurückgingen (1975: 410 Tageszeitungen/2000: 389; IVW IV/1975; IVW II/ 2000) erlebten die Zeitschriften ein kontinuierliches Wachstum, das noch immer anhält: 1975 gab es 223 Publikumszeitschriften (IVW IV/1975), 1996 waren es 851 (IVW 11/2000). Im gleichen Zeitraum kletterte die Auflage von 69,7 Millionen verkauften Exemplaren auf 128,5 Millionen (ebd.). Jedoch ist der Markt hier nicht einheitlich: Während vor allem Special-Interest-Titel über Natur, Wissenschaft, Wohnen, Familie und Essen teilweise erhebliche Einbrüche verzeichneten, konnten besonders EDV-Zeitschriften, Audio-, Video- und Foto-Magazine sowie die Motorpresse und Reise- und Sportzeitschriften in den letzten Jahren zulegen. Auch Fachzeitschriften hatten einen erheblichen Titelzuwachs zu verzeichnen (von 658 im Jahr 1975

auf 1.088 im zweiten Quartal 2000; ebd.), jedoch sank gleichzeitig die Auflage von 19,5 auf 17,3 Millionen. Zur Vervollständigung seien hier auch die Kundenzeitschriften genannt, deren hohe Auflagen häufig als Freioder Mitgliederexemplare vergeben werden: 1975: 30 Kundenzeitschriften mit einer Auflage von 14,5 Millionen Exemplaren. 1996: 93 und knapp 46 Millionen (ebd.). Kräftige Zuwachsraten erleben die Zeitschriften auch bei den Netto-Werbeeinnahmen: 1995 verzeichneten Publikumszeitschriften mit gut 3 Milliarden DM ein Plus von 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr, Fachzeitschriften mit knapp 1,8 Milliarden DM sogar ein Plus von 7,8 Prozent (Bundesverband 1996, 28). Der Zeitaufwand für das Lesen von Zeitschriften an einem durchschnittlichen Werktag betrug in den letzten Jahren seit 1980 durchschnittlich zehn bis elf Minuten (Berg/Kiefer 1992, 325). Während jugendliche Leser auch hier immer weniger auf die Zeitschriften zurückgreifen (1980: 11 Minuten, 1985: 10, 1990 und 1995: 9; ebd. bzw. Berg/Kiefer 1996, 322) ist der Zeitaufwand für Zeitschriften bei den 50 bis 69jährigen kontinuierlich bei jeder Erhebung um ein bis zwei Minuten gestiegen und beträgt 1995 zwölf (bei den 50—59jährigen) bzw. 13 Minuten (bei den 60—69jährigen; ebd.). Auch hier gilt es also, Strategien zu finden, die den jugendlichen Leser stärker an die Zeitschrift binden. Vergleichbar sind die Entwicklungen bei Zeitungen und Zeitschriften allerdings nicht, da ζ. B. Zeitungen als langlebige Medien konzipiert sind, während Zeitschriften eine immer kürzere Lebensdauer haben: sie folgen vielfach Moden und Trends, die nach wenigen Jahren vergangen sind. Kurt Weichler, Chefredakteur des eingestellten Zeitgeistblattes 'Wiener', meint, daß Lifestyle-Magazine „nicht zwanzig Jahre lang immer vorne mitmischen und trendy sein [können]. Ich denke, daß die Verlage in Zukunft ein modisches Magazin einige Jahre laufen lassen, es dann einstellen und ein neues Heft auf den Markt werfen" (Weichler 1994, 29).

3.

Konsequenzen

3.1.

Medienmanagement

3.1.1. Organisation, Koordination und Personal In Zukunft dürfen die einzelnen Bereiche eines Verlages nicht mehr in Konkurrenz zueinander stehen. Sie müssen sich als Partner mit demselben Ziel definieren: der Print- und

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elektronischen Medienkonkurrenz Paroli zu bieten und dem Hauptkonkurrenten, dem Nichtleser, kein weiteres Terrain zu überlassen. Integriertes Verlagsmanagement verlangt, daß Redaktion, Marketingabteilung, Vertrieb und Anzeigenverkauf ineinandergreifen wie die Zahnräder einer Uhr. Heute ähneln die Strukturen eher einem Uhrengeschäft, in dem alle Uhren anders ticken. Das liegt vor allem im Fachpersonal der verschiedenen Abteilungen begründet: Betriebswirtschaftler, Techniker und Journalisten stehen sich im besten Fall in Unkenntnis des jeweils anderen Bereichs gegenüber. Im schlimmsten Fall in Verständnislosigkeit, Besitzstanddenken und Mißtrauen, was langfristig kontraproduktiv wirken muß: Redaktionen fürchten bei zunehmendem Einfluß von Marketing um die journalistische Unabhängigkeit und lamentieren, daß Manager über ihre Köpfe hinweg entscheiden, aber keinen blassen Schimmer von journalistischer Praxis haben. Verlagsleitungen dagegen sehen in Journalisten häufig Einzelkämpfer, die vorrangig eine Glosse auf Seite Eins landen wollen. Und Anzeigenabteilungen hüten Lesernutzungsdaten wie den Heiligen Gral. Mehr Flexibilität, Vielseitigkeit und Mut in Ausbildung und Personaleinsatz sind gefordert, um solche Barrieren abzubauen, z.B.: horizontale Personalrotation sorgt für mehr Verständnis der anderen Tätigkeitsbereiche; Einstellungskriterien und Weiterbildungsmaßnahmen sind darauf ausgerichtet, betriebswirtschaft bewanderte Journalisten und journalistisch erfahrene Marketingexperten zu beschäftigen („Der Chefredakteur als Medienmanager", vgl. Ruß-Mohl 1992b, 147-150). Folgende Anforderungen hat das journalistische Führungspersonal der Zukunft u. a. zu erfüllen: Kenntnisse in Marketingtheorie und Marktforschung (Leser-, Konkurrenz-, Strukturanalyse), Berufsfeldforschung, Zielgruppenbestimmung und Informationsverhalten, redaktionelle Planung, Förderung von Kreativität statt Alltagsroutine, Personalplanung und -entwicklung, corporate identity, Führungswissen (Menschenkenntnis, Gruppenverhalten, Motivationsförderung), Einklang schaffen zwischen kommerziellen und publizistischen Interessen, soziale Kompetenz, Gesprächstechniken, soziale Kompetenz, Gesprächstechniken, marktgerechtes, redaktionelles Konzept, Budgetierung, Controlling, Kommunikationsmanagement, Sachwissen in Recht, Geschichte, Umwelt, Wissenschaft usw., Hintergrundwissen zum Journalismus

(Medienrecht, journalistische Ethik, Strukturen) und natürlich — bei Berücksichtigung ethischer Normen — redaktionelles Handwerkszeug vom Recherchieren und Auswählen über Schreiben und Redigieren bis zum Layouten (vgl. Rager/Werner 1992, 165). Auf Strategiekonferenzen sollten zukünftig Vertrieb, Anzeigenabteilung, Redaktion und Marketing gemeinsame Projekte koordinieren, vor allem bei regionaler Thematik, denn der Kampf auf dem Zeitungsmarkt entscheidet sich im Lokalteil. Als Beispiel für eine solche Strategie sei hier ζ. B. ein jährlich stattfindender regionaler Marathon-Wettbewerb mit großer Resonanz bei der Bevölkerung gewählt; die Marketingabteilung organisiert im Vorfeld Diskussionsrunden mit Sportärzten, Trainern, Vereinsfunktionären, Lokalpolitikern, Läufern usw. Die Vertriebsabteilung kümmert sich um Hauswurfsendungen und Vorankündigungen. Die Redaktion berichtet über die Diskussion und andere das Thema betreffende Veranstaltungen. Bei einem Leserwettbewerb zum Thema werden Ehrenplätze auf der Tribüne verlost. Die Zeitung stiftet den ersten drei Läufern eine Wochenendreise nach Berlin zum dortigen Marathon, eine Reise, die redaktionell aufbereitet werden wird. Am Tag des Marathons selbst wird ein Stand der Zeitung aufgebaut, Probeabos und Luftballons mit Aufdruck verteilt. Der Verlag als Sponsor des Marathons verteilt an alle Läufer T-Shirts mit dem Zeitungskopf. Die Berichterstattung am folgenden Tag erhält eine Sonderseite und ein großes Fenster auf der ersten Seite im Mantelteil. Die ganze, über Wochen gehende Serie zum Marathon wird gesponsert von einem Sportschuhhersteller, den die Anzeigenabteilung anwirbt. Die Redaktion schafft im ganzen Blatt und auf den Sonderseiten ein attraktives Werbeumfeld für Sportläden, Vereine, Anzeigenbörse, Kosmetikprodukte usw. Solch eine Gesamtstrategie ist nur mit einem gemeinsam zwischen allen wichtigen Verlagsbereichen entwickelten und abgesprochenen Konzept zu erreichen. Wenn sich jeder Bereich einbringt und Vorschläge macht, werden alle möglichen Facetten und Sichtweisen berücksichtigt, niemand übervorteilt, gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche Arbeitseinheiten erzeugt und das Gesamtziel - möglichst viele Leser und Anzeigenkunden für die Zeitung zu gewinnen — im Auge behalten. Ein funktionierendes Laufwerk ergibt sich dabei nur, wenn es sich um eine einzige Uhr handelt, deren Zahnräder ineinanderfassen.

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Heikle Fragen, ζ. B. zur Sponsorentätigkeit von redaktionellen Beiträgen, die häufig zu Mißstimmungen zwischen Redaktion und Verlagsleitung führen, können leicht geklärt werden, wenn alle Bereiche an einem Strang ziehen und die Ponderabilien des Geschäfts kennen: Daß dann ein Pharmakonzern als Sponsor der Medizin-Seite ausscheidet, versteht sich aus Gründen der Glaubwürdigkeit von selbst. Aber warum soll ein Automobilclub nicht die Berichterstattung vom Hokkenheimring auf der Sportseite sponsern? 3.1.2. Redaktionelles Management Doch sicher ist nicht nur, „daß die klassische Trennung zwischen 'editorial side and business side' in Zukunft aufgehoben wird" (Schaefer-Dieterle 1993b, 12). Auch Ressortgrenzen in der heutigen Form werden der Vergangenheit angehören (vgl. Flöper/Raue 1995, 78). So wäre es denkbar, die Ressorts Politik, Wirtschaft und Buntes zu einer 'Nachrichten-Abteilung' mit diversen AG's zusammenzulegen. An die Stelle der Ressorts können auch Projektgruppen treten, die längerfristig kooperieren; oder 'Teams auf Zeit', die nur zu einem bestimmten Anlaß oder einer Serie gebildet werden. Für das obige Beispiel mit dem regionalen Marathon hieße das: Ein Team aus Lokal- und Sportreporter, Politik- und Wirtschaftsredakteur ist gemeinsam zuständig für das Thema. Der Lokalreporter erhält im Mantel ein großes Regionalfenster auf der ersten Seite am Tag des Marathons. Der Wirtschaftsredakteur schreibt eine Glosse auf der Sportseite über die zunehmende Kommerzialisierung des Sports. Der Politikredakteur mit internationalem Informationspool verfaßt für die Seite „Vermischtes" einen Bericht über historisch bedeutende und internationale Marathonläufe und deren 'Geschichten'. Und der Sportredakteur gibt im Vorfeld des Laufs in der Sonntagsbeilage 'Gesundheit und Medizin' in Zusammenarbeit mit Ärzten, Apotheken und Krankenkassen Tips zur Vermeidung von Zerrungen und Kreislaufproblemen. Auch das 'lean management' wird vor den Redaktionsräumen nicht haltmachen. Heute lagern Zeitungen etwa ein Drittel ihrer Redaktionsarbeit aus, Zeitschriften vergeben nur 24 Prozent ihrer Aufträge an freie Mitarbeiter (Scholl 1995, 6). Doch Outsourcing wird weiter zunehmen. Die festen Mitarbeiter kosten viel und bedienen — vor allem bei Zeitungen, die sich in Zukunft zielgruppenorientierter ausdifferenzieren werden — nur selten

die „Special Interests" der Leser. Spezialisten jedoch lassen sich mit den mageren Zeilenhonoraren nicht gewinnen. Die Folge: Zeilenschinderei statt eines Qualitätsartikels. Denkbar sind Zukunftsmodelle, bei denen die Personalstärke von Redaktionen auf ein Viertel heruntergefahren wird. Investiert der Verlag die freiwerdenden Gehälter und Lohnnebenkosten in einen 'Outsourcing-Pool', können für anspruchsvolle Berichterstattungsthemen zu Technik, Medizin, Umwelt, Wirtschaft, Außenpolitik, Recht usw. Experten gewonnen werden, deren Sachkompetenz qualifizierte Artikel garantiert. Die verbleibenden Redakteure legen in Kooperation mit allen Abteilungen des Verlages die kurzfristige Planung und die langfristige Strategie fest, vergeben die Themen an Fachprofis bzw. ganze Ressorts — ζ. B. Medienseite, Wetter, Beilagen, Veranstaltungskalender, Reisejournale und alle anderen „Exoten" — an darauf spezialisierte Journalistenbüros, redigieren die eingehenden Beiträge und stellen Kontinuität, Profil und Identität des Blattes sicher. Möglich ist aber auch, daß Redaktionen in Zukunft noch andere Wege gehen (ζ. B. MatrixOrganisationsformen) und vorhandene Systeme redaktioneller Zusammenarbeit ausgebaut werden, ζ. B. Zeitungsring, Redaktionsgemeinschaft, Partnerschaft, Pachtsystem, Kopfblattsystem, Lizenzsystem, Zeitungsgefüge usw. 3.2.

Redaktionelles Marketing

3.2.1. Kundenorientierung Ohne den publizistischen Auftrag aus den Augen zu verlieren, ist es also die vorrangige Aufgabe, die Ware Print zu verkaufen. 'Kundenorientierung' ist das wichtigste Stichwort eines 'Total Quality Managements', das alle Leistungen und Prozesse auf die Erwartungen der Leser konzentriert. Klaus Schärpe von der Basler Prognos AG forderte auf dem BDZVKongreß über 'Strategien für die Zukunft' im Oktober 1995 in Leipzig gar einen Ausbau der Zeitungsverlage zu regionalen Servicezentren. Die Zeitung der Zukunft sollte sich als seriöser Veranstalter und Moderator des Stadtgesprächs verstehen und aktiv als lokaler Kulturund Dienstleister wirken. Die Thematik muß sich dabei nicht nur verstärkt der regionalen Berichterstattung widmen, sondern Lebenshilfe, Lifestyle und verbraucherorientierte Wirtschaftsnachrichten bieten. Weg vom Terminjournalismus, hin zum Dialog mit den Lesern heißt das Motto. Je nach regionalen, soziodemographischen Daten der Zielgruppe

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muß der Service zugeschnitten werden auf die Käufer der Zeitung. So müssen ζ. B. die Blätter in den Neuen Bundesländern noch auf Jahre hinaus lokalen Service und Hilfe anbieten bei den Bereichen Banken, Versicherungen, Krankenkassen, Altersversorgung, Mieten, Einkommen, Steuer, Rechtsfragen usw. Dabei sollten Verlage den großen Vorteil nutzen, den sie gegenüber den meisten anderen Markenartikel-Herstellern haben: sie kennen ihre Kunden; oft — bei Abonnement-Blättern — nicht nur die Namen und Adressen ihrer Leser, sondern Dank vielseitiger Rezipientenforschung auch deren Interessen, ihre Bildung, ihren Finanzrahmen, ihr Alter, ihre Mediennutzungsgewohnheiten usw. Solche Daten einschlägiger Marktforschungs-Institute müssen von den Anzeigenabteilungen ausgewertet und verständlich an die anderen Zahnräder des Uhrwerks weitergegeben werden (vgl. Flöper/ Raue 1995, 119 f.). Nur wenn jeder Mitarbeiter des Verlages weiß, für wen die 'Produktion' bestimmt ist, kann eine gemeinsame Strategie zur Verbesserung der Leser-Blatt-Bindung erreicht werden (vgl. Schaefer-Dieterle 1993a, 27). Diese Verbesserung hat vor allem folgende Bedürfnisse der Leser zu berücksichtigen: glaubwürdige Informationsvermittlung, Unterhaltung, Service, Orientierung und lokale Nähe. 3.2.2. Leser-Blatt-Bindung Stichworte, um die Leser-Blatt-Bindung zu fördern sind: „news to use" bieten und konsequent „die Arbeit der Redaktion an den Interessen und Bedürfnissen der Leserschaft" (Schaefer-Dieterle 1993b, 11) ausrichten. Dabei gilt die Devise: dem Leser auf's Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden. Nullnummern und gezielte Marktforschung vor Einführung eines neuen Blattes, aber auch später kontinuierliche Copy-Tests sind geeignete Hilfsmittel, um eine nach Marketingangaben radikal durchdachte Zeitung oder Zeitschrift herauszugeben. Damit werden sie auch wieder attraktiver für die Werbeindustrie: Im Gegensatz zum teuren Massenwerbemedium Fernsehen — dem zudem die Zuschauer in der Werbepause immer häufiger 'wegzappen' - können die relevanten Kunden dann zu einem höheren Prozentsatz zielgruppengenauer erreicht werden. Printerzeugnisse sollten sich zu Dialogmedien wandeln und den Leser als Kunden mit Wünschen, Vorstellungen und Interessen verstehen. Zu Reaktionen auf solch ein Verständnis gehören: ausgedehnte Interaktivität, d. h.

Leserbriefe ernstnehmen und beantworten; Leserbeschwerden, -probleme und -anregungen gegenüber der Redaktion vertreten, am besten durch eine ständig ansprechbare Gewährsperson (Ombudsleute); 'Redaktion vor Ort': Diskussionsrunden, Aktionsstände, Wettbewerbe, Sponsoring bzw. aktiver Gastgeber (von Konzerten etc.); 'Leser vor Ort': Tage der offenen Tür, Einladungen zu Foren im Hause usw.; Faxzeitung am Urlaubsort; für eine ausgebaute Servicefunktion weit über den lokalen Programmkalender hinaus sollte sich eine Redaktion nicht zu schade sein. Im Gegenteil: Redakteure müssen sich auch als Dienstleister definieren, die in der Informationsflut unserer Zeit dem Leser Orientierungshilfe bieten, ζ. B. indem sie überregionale Themen auf die lokale Ebene herunterholen und darlegen, was eine neue Gebühr, ein internationaler Vertragsabschluß, die neue Mietpreisnovelle, die Gesundheitsreform oder die Kindergelddebatte für Konsequenzen im Leben jedes Einzelnen mit Problemlösungscharakter (ζ. B. bei juristischen oder medizinischen Fragen); Dokumentations- und Archivangebote: Zusenden von Redetexten, Daten, Zusatzinfos, Hintergründen; die Zukunft gehört der immer weiteren Ausdifferenzierung unserer privaten und beruflichen Lebensgewohnheiten. Ein weiteres Stichwort für eine bessere Leser-Blatt-Bindung ist die 'Gläserne Redaktion': warum verbergen sich Journalisten hinter ihren Artikeln? Anstelle der apokryphen Kürzel sollte der volle Name des Autors stehen, statt unpersönlicher Kommentarpräsentation das Photo des Verfassers und die Durchwahlnummern der Redakteure. Neue Kollegen sollten im Blatt portraitiert werden, Quellen transparent gemacht werden. 3.2.3. Special Interests Der Zeitschriftenmarkt hat schnell reagiert: Special-Interests-Titel mit mittleren und kleineren Auflagen gewinnen Marktanteile, während General-interest-Zeitschriften erhebliche Einbußen hinnehmen müssen (vgl. Weischenberg 1994, 39). In den letzten Jahren boomte vor allem der 'Very-Special-Interest'Markt: Schnelle Reaktionen auf neue Trends verhießen rasche Gewinne, aber auch kurzlebige Titel. Besonders beliebt bei der Werbeindustrie ist die heutzutage kaufkraftstarke aber leseschwache — Gruppe der „14- bis 25jährigen Szene-Typen, für die Großstadt, Tag und Nacht, Kaufrausch, Ego, Culture, Stil, Neugierde, Schnelligkeit, Multimedia, Spaß und Leidenschaft alles ist", so Frank

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Wilde von der Werbeagentur 'ArtundWeise' (zit. n. Energy-Drinks 1995, 168). Gerade diese Gruppe läßt sich am besten mit VerySpecial-Interest-Titeln gewinnen. Das Technofieber, von dem auch Deutschlands Jugend Anfang der neunziger Jahre erfaßt wurde, zog mehr als zwanzig Zeitungsgründungen für die ra venden Teenager nach sich. Auch Snowboard-Magazine schössen wie Pilze aus dem Boden, um einen neuen Trend zu begleiten und der Werbeindustrie ein attraktives Umfeld zu bieten. Genauso die Special-Interest-Titel zum Tauchen: hier erreichen Tauchgerätehersteller, Fachgeschäfte für Unterwasserkameras, Sportbekleidungshersteller, Reiseveranstalter usw. mit ihren Anzeigen eine interessierte und finanzkräftige Kundschaft. Schwierig wird es für die Verlage sein, immer das richtige Gespür nach dem jeweiligen „InTrend" zu entwickeln. Denn die Bewegungen auf diesem Markt sind schwer kalkulierbar, die Special-Interest-Titel unterliegen in Folge dessen einem ständigen Auf und Ab, einem dauernden Suchen nach Marktnischen. Ist dann endlich eine entdeckt, stürzen sich alle Verlage hinein. Das war vor ein paar Jahren bei den Reisemagazinen so, 1995 fand der Verdrängungswettbewerb auf dem Sportund Techno-Markt statt, und jetzt kommen und gehen die Online-Blätter (vgl. Suche, 1995, 164). Eine Special-Interest-Zeitschrift muß dabei eine Investitions-Kosten-GewinnRechnung aufstellen, die in einem Zeitraum von zwei bis maximal fünf Jahren zu schwarzen Zahlen führen sollte, denn Trends sind kurzlebig. Nicht nur Trends, sondern ganze Zielgruppen können so über die Jahre verschwinden, so wie es mit den Körner- und Müsli-Ökos der siebziger Jahe geschehen ist: Alle Medien behandeln heute ausreichend Öko- und Natur-Themen, so daß der Bedarf an eigenen Öko-Zeitschriften immer mehr nachläßt. Trotz aller gebotenen Eile bei der Plazierung eines Special-Interest-Titels in einer Marktnische muß der Verlag darauf achten, daß die redaktionelle, fachliche und technische Seite einwandfrei ist, denn Trend- und Szene-Leser sind anspruchsvoll, verwöhnt und meistens bereits gut informiert. Eine simple Aneinanderreihung von Personality- und Technic-News, von Info-Kästen und Grafiken reicht nicht mehr aus. Die Leser erwarten „fachliche Tiefe in den Texten, sie wollen ernstgenommen werden. Wer plump Product placement betreibt oder oberflächlich recherchierte Geschichten anbietet, verärgert diese Leser. Entscheidend kann daher die Ausbil-

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dung der Redakteure sein. Da die Redaktionen der SI-Titel klein sind, prägen einzelne Redakteure und Grafiker — auch schlechte — das Heft ungewöhnlich stark" (Warum 1995, 162). Zur Zeit verzeichnen besonders die Computer-Titel durchschnittliche jährliche Zuwachsraten von rund 20 Prozent, einzelne Titel kommen auf über 100 Prozent. Im Herbst 1996 wurden der IVW 36 EDV-Publikumszeitschriften gemeldet (IVW III/96). Und dieser Markt ist noch nicht ausgeschöpft. Solange die Nutzerzahlen und Angebote bei Multimedia weiter so rasant steigen wie zur Zeit, wird es immer neue Marktnischen und damit Very-Special-Interest-Titel geben. Philipp Berrens von 'Electronic Entertainment' sieht die Entwicklungen auf dem EDV-Zeitschriftenmarkt zurecht optimistisch: „Das Segment ist thematisch so vielseitig, daß durch inhaltliche Profilierungen Zeitschriften mit verschiedenen Schwerpunkten auch in Zukunft nebeneinander bestehen werden" (zit. n. Quickie-Titel, 1995, 177). Auch Zeitungen werden in Zukunft die Special-Interests bedienen und intensiver auf die Bedürfnisse ihrer Leser eingehen müssen, z. B. in Form eines individuellen Selektionsabos für einzelne Bücher oder Ressorts. Zeitschriften konnten hier mit einer klareren Zielgruppenansprache Marktnischen besetzen. Die Zeitung dagegen versucht immer noch, ein Integrationsmedium zu bleiben und hat damit eine unsichere Zukunft. Statt für alles, sollten Zeitungen besser für alle etwas aufbereiten und deshalb eine zielgruppenorientierte interne Produktdifferenzierung mit interessenspezifischen Angeboten vornehmen (vgl. Rager/Werner 1992, 23—26); so können neue Leser gewonnen werden ohne dabei alte zu verlieren. 3.2.4. Layout und Gestaltung Nicht nur organisatorisch und inhaltlich, sondern auch optisch und stilistisch werden sich Printmedien — auch hier besonders die Tageszeitungen, die gegenüber Zeitschriften ein deutliches Defizit haben — umstellen müssen: gefordert ist ein schneller Zugriff auf Information, klare, prägnante Sprache; ein zeitgemäßes Layout muß nicht gedrucktes Fernsehen sein; aber die Bleiwüste ist in Zeiten gewandelter Sehgewohnheiten nur noch in Ausnahmefallen (z. B. 'Neue Zürcher Zeitung') denkbar; daher sollten Printmedien mindestens folgende Regeln berücksichtigen: klare Bild-Text-Zuordnung, qualitativ hochwertige Photos, harmonische Raumauftei-

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lung, eine angenehme Schriftgröße (ζ. B. 9 Punkt), Auflösung komplexer Zusammenhänge in mehrere Text-Bild-Grafik-Blöcke mit Zwischentiteln, ein Potpourri der journalistischen Darstellungsformen, Farbe ins Blatt, Logos, etc. (vgl. Flöper/Raue 1995, 172-174; 177-179); all das führt zu einer unterhaltsameren Lektüre. Und gerade Unterhaltung wird von Zeitungen noch vielfach als unvereinbar mit Information empfunden. Doch kürzere, lebendigere Texte — Stichworte 'Infotainment' (s. ζ. Β. Ruß-Mohl 1992b, 27f.) — müssen nicht immer gleichbedeutend sein mit seichter Information, sondern können auch unterhaltsam aufbereitete hard and soft news bedeuten. Zeitschriften haben dies viel früher begriffen. Nicht nur 'Focus' ist ein Beispiel dafür. Auch viele Programmzeitschriften bieten heute weit mehr als nur 'Programm', besonders seit die etablierten Marktführer in den letzten Jahren durch erfolgreiche neue Titel zu mehrfachen inhaltlichen und optischen Relaunchs gezwungen werden. Hier werden in Zukunft Titel mit inhaltlicher, fachlicher Kompetenz und Unterhaltung gewinnen. „Kompetenz nicht nur in der Bewertung und Empfehlung von Sendungen, sondern auch in der Abrufart der Programminformation als einfache, übersichtliche Führung durch den Dschungel des Fernsehangebotes" (Köring 1994, 8). In absehbarer Zukunft wird es hunderte von Spartenprogrammen geben. Diese aneinanderzureihen und sinnvoll nach Rubriken, Personen, Zeiten und Zielgruppen zu ordnen, kann nicht mehr vornehmste Aufgabe der Programmzeitschriften sein. Entscheidungshilfen durch Wertungen und mehrzellige Einzelkritiken müssen die Auswahl erleichtern — weit mehr als dies heute schon üblich ist (vgl. Gangloff 1994, 76). Um jugendliche Leser für die Programmzeitschrift zu gewinnen, müssen erweiterte Inhalte und neue Informationssysteme entwickelt werden, ζ. B. eine C D - R O M mit aktuellen ausführlichen Programmen, Tips, Hintergründen zur Produktionsweise von Jugendserien und Kinofilmen, Infos zu Moderatoren, Stars und Sternchen, jugendgerechte Gewinnspiele usw. (vgl. Köring 1994, 8). Infotainment sollte aber nicht auf Publikumszeitschriften begrenzt werden. Selbst Fachzeitschriften müssen nicht an Seriosität verlieren, wenn sie ein paar unterhaltende Elemente einfügen: „Und wo steht geschrieben, daß ein Fachartikel in einer Art abgedruckt wird, daß schon das Hinschauen schmerzt? Man 'quält' sich regelrecht durch

viele Fachartikel. Widerspricht es dem Ehrenkodex der Fachzeitschriften, einen seriösen Fachartikel leseleichter, lockerer, gut bebildert und professionell aufzumachen? Eben magazinhaft!" (Meichle 1994, 16). Überwinden Fachzeitschriften ihr Imageproblem, dann werden sie auch für die Werbewirtschaft noch attraktiver, die mit den Fachzeitschriften klar positionierte Werbeträger für deutlich umrissene Zielgruppen vorfinden. Von den Fachzeitschriften zurück zu den Zeitungen: Auch Zeitung-Lesen muß nicht nur Arbeit bedeuten! Und Unterhaltung muß hier nicht reduziert sein auf Rätsel-, Comicund Witzseiten. Unterhaltung kann auch erreicht werden durch eine gut gestaltete Photoseite, eine lebendige Reportage oder eine geistreiche Glosse, durch einen unterhaltsamdurchkomponierten Lokalteil, ein kritischfreches Politikressort, eine publikumsfreundliche Serviceseite, einen übersichtlichen Kleinanzeigenteil usw. (vgl. Rager/Werner 1992, 15—21). Bisher wurden ganze Zielgruppen von den Zeitungen vernachlässigt ζ. B. Frauen, Jugendliche, Singles, Studierende, Alte. Diese zum Teil kaufkraftstarken und damit für die Werbeindustrie interessanten Leser müssen in Zukunft stärker Berücksichtigung finden. Ob durch Extra-Seiten (ζ. B. 'Senioren', 'Lifestyle', 'Zeitung in der Schule' [ZiSch]) — die leicht zur Gettoisierung führen können — oder indem diese Gruppen quer durch alle Ressorts angesprochen werden (vgl. Bundesverband 1996, 137 f.), bleibt der individuellen Entscheidung jedes Verlages überlassen. Jedenfalls haben hier Zeitschriften bislang schneller reagiert als Zeitungen: In Amerika ζ. B. bilden Frauen die „stärkste Gruppe unter den Abonnenten von Spezialzeitschriften. Von ihnen fühlen sie sich offenbar besser verstanden als von den Zeitungen" (Flöper/Raue 155f.). Auch in Deutschland hat es in den letzten drei Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel ζ. B. bei der Frauenerwerbsquote gegeben. Dem müssen auch Printmedien adäquat antworten. 3.3. Publizistische Qualitätssicherung In Zeiten ungewisser Zukunftsentwicklungen ist es für die Printmedien besonders wichtig, ein verlässliches Bewertungssystem journalistischer Leistungen und damit Maßstäbe zu entwickeln. Doch bei aller Forschungsaktivität ist es bis heute nicht gelungen ein ζ. B. der Medizin vergleichbares Wertesystem zu schaffen:

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Publizistische Qualitätssicherung zu definieren, gleiche dem „Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln", so Stephan RußMohl (1992a, 85). Sicher ist, daß sich interne (ζ. B. redaktionelle Selbstkontrolle) und externe Kontrollmechanismen (ζ. B. Expertenurteile oder Publikumsgunst) ergänzen müssen. Dabei wiederum müssen Raster aus indirekten und direkten Qualitätskriterien in einer Art infrastrukturellem Netzwerk in Korrelation treten. U m in etwa eine Ahnung zu geben, was gemeint ist, sei hier ein Bruchteil solcher Kriterien wahllos aneinandergereiht: Auflagenhöhe, Reichweiten, Zielgruppenabdeckung, Beurteilung des journalistischen Produkts (ζ. B. nach dem 'Magischen Vieleck' Ruß-Mohls: Aktualität, Originalität, Transparenz, Objektivität, Komplexitätsreduktion; s. Ruß-Mohl 1992a, 86), Verhältnis zwischen redaktionallem und Anzeigenteil, Zusammensetzung der Redaktion (Bildung, Alter, Geschlecht, Ethonologie usw.), technische Ausstattung, Aus- und Weiterbildungsangebote, zunftinterne Mechanismen (ζ. B. Journalistenpreise, Presserat, Medienforschung) usw. Eine verstärkte Transparenz zwischen Wissenschaft und Praxisjournalismus wird in Zukunft immer wichtiger sein. Der kontinuierliche Austausch von Medienwirkungsdaten, Marktforschungsanalysen und neuesten Forschungsergebnissen einerseits und den redaktionellen, personellen, publizistischen und finanziellen Entwicklungen andererseits wird im Rahmen der journalistischen Aus- und Weiterbildung bzw. im Kontext internationaler Austauschprogramme oder an Europäischen Journalistenkollegs an Bedeutung zunehmen. 3.4. Print Online Trotz aller zielgruppenspezifischen Bemühungen wird es mit herkömmlichen Methoden nicht möglich sein, auf Dauer die heute Jugendlichen an die klassischen Printmedien zu binden. Der Leserschwund bei den Tageszeitungen ist eklatant. Während jugendlich durchgestylte Special-Interest-Zeitschriften mit Zusatzangeboten (ζ. B. mit CD-ROMBeilagen) Konjunktur haben, wenden sich die 14-19jährigen von der Zeitung ab. Hierzulande ist es wenigstens noch gut die Hälfte, die von einer regionalen Abonnementzeitung erreicht wird. In den USA dagegen, die nicht in jeder Hinsicht aber doch in vielen Mediennutzungsgewohnheiten den Europäern ein paar Jahre oder Jahrzehnte voraus sind, ist der Leserschwund dramatisch. Betrug der

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Anteil der 18 —29jährigen Zeitungsleser in den USA 1967 noch gut 60 Prozent, so ist er 1988 auf unter 29 Prozent gefallen. Und der Trend setzt sich fort. Dabei lesen junge Amerikaner mehr Bücher und mehr Zeitschriften denn je (s. Ruß-Mohl 1992b, 17-21). Mit simplen 'ZiSch-Projekten' und Youth-Supplements kann die Masse der nichtlesenden jungen Leute nicht als Zeitungsleser der Zukunft gewonnen werden. Hier setzt die Branche zurecht mittlerweile auf die Online-Angebote. Die Generation der heute über 40jährigen wird die letzte sein, die völlig ohne Computer zuendeleben kann. Nach einer Schätzung des Fachverstandes Informationstechnik besitzen 1996 zwar erst 24 Prozent aller Deutschen einen Computer, doch wird hier dieselbe Entwicklung zu verzeichnen sein wie in den USA, wo es bereits 48 Prozent sind. In nicht allzu ferner Zukunft werden 'homebanking', Virtual shopping', 'booking' usw. den Gang zur Bank, zum Kaufhaus, zum Reisebüro, in die Bücherei etc. ablösen bzw. ergänzen. Die derzeit größten Online-Anbieter CompuServe, T-Online, Microsoft Network und AOL verzeichnen kontinuierlich erhebliche Zuwachsraten (monatlich ca. 50000), in Deutschland beläuft sich die Schätzung auf eins bis eineinhalb Millionen regelmäßige Onlinenutzer. Deswegen tun Zeitungsverlage gut daran, trotz des Btx-Flops vor über einem Jahrzehnt (vgl. Bundesverband 1996, 139) in elektronische Dienste zu investieren, ehe branchenfremde Anbieter — sogenannte 'Content-Provider' (vgl. Bundesverband 1996, 103) — Leser- und Anzeigenmärkte besetzen. Bereits heute veröffentlichen neben Radio- und Fernsehsendern ζ. B. Zigarettenkonzerne als neueste Marketingidee Online-Zeitungen (auch Microsoft hat schon seine Tageszeitung 'slate' im Internet); Anzeigenkunden bieten neben der Werbung redaktionelle Inhalte und News; auch Zeitschriften nutzen ihre Logistik und machen der Tageszeitung Konkurrenz, ζ. B. 'Focus', das zusätzlich zu den Nachrichten am Bildschirmrand auch Service anbietet (z. B. die günstigsten Flüge etc.). Diesmal haben die Zeitungen rasch reagiert: im Oktober 1996 gibt es bereits 60 Tageszeitungen 'online' (Riefler 1996, 540-544). Horst Röper hat darauf hingewiesen, daß mit steigender Reichweite das Internet für das Rubrikengeschäft der Zeitungsverlage immer stärker zum Problem wird (vgl. Röper, 2000, 302). Diese Gefahr, daß ein Teil des für die Verlage bedeutsamen Geschäfts im Internet abwan-

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XL. Mediengegenwart VI: Zeitung und Zeitschrift III: Zukünftige Entwicklungen

dert, werde — so Röper — seit Jahren zwar wahrgenommen, jedoch schreckten die meisten Verlage vor der naheliegenden Maßnahme, dieses Geschäft im Internet selbst zu besorgen, noch zurück (ebd.). Noch ist die Technik nicht so reif, daß Zeitungen formatgerecht ausgedruckt oder auf dem Bildschirm ganzseitig sichtbar gemacht werden können, so daß die traditionelle Print-Ausgabe die nächsten zwanzig Jahre noch nicht um ihre Existenz fürchten muß. In absehbarer Zukunft aber wird für jeden Haushalt ein finanzierbarer Großbild-Wandprojektor bereitstehen, mit dem der Computer, das Telephon, der Fernseher usw. an das digitale Kabelnetz angeschlossen werden. Können mit dieser Technik erst einmal maßstabgerecht Zeitungen projiziert und ausgedruckt werden, dann wird nicht nur der Zeitungsbote überflüssig, sondern ganze Verlagsabteilungen wie Drucktechnik und Vertrieb. Langfristig können also ca. 50 Prozent der Fix- und Investitionskosten eingespart werden (vgl. Paulini/Schramka 1996). Und langfristig bietet der Online-Markt auch für Zeitungen Einnahmemöglichkeiten, wenn ζ. B. Immobilien-, Stellen- oder Autoanzeigen kundenorientiert nutzerfreundlich angeboten werden können — anders als dies in einem Printprodukt je möglich sein wird; dann muß der Leser sich nicht mehr durch einen Wust von Papier durchkämpfen, in dem hunderte von Anzeigen graphisch unterschiedlich präsentiert werden. Dann muß er als User eines Online-Dienstes lediglich seine Wünsche eingeben (ζ. B. Suche: Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Mitte, nicht weniger als 50 qm, nicht über 900 D M warm) und bekommt alle entsprechenden Angebote ausgedruckt; verbünden sich — wie in Amerika schon üblich - Zeitungen zu Anzeigen- und Werbeplattformen, dann kann der Nutzer leicht einen Zugriff auf ζ. B. über 100 000 Stellenanzeigen haben. In einer Zeit, in der ökonomische, geographische, politische und individuelle Grenzen unbedeutender werden, liegen Kommunikationsformen wie das Internet und Onlinedienste im Trend. Ein Trend, der nicht wie eine Mode vergeht, sondern die Zukunft stark beeinflussen wird. Gerade in Hinblick auf die Öffnung der einzelnen Dienste für die Surfer im Internet ergibt sich hier ein Markt mit derzeit unbegrenzten Wachstumsraten. Diesen Anschluß dürfen die Printmedien nicht versäumen, Synergieeffekte sollten genutzt werden und die Ausführlichkeit des einen mit der Schnelligkeit des anderen Mediums ver-

knüpft werden. Zeitungen müssen jetzt ihren Informations- und Erfahrungsvorsprung ausnutzen und flexible Zusatzdienste zur gedruckten Ausgabe - die es für die Fahrt in der U-Bahn oder im Restaurant weiter geben wird — präsentieren, z.B. auf Abruf Hintergrundinformationen, Hausarchiv-Zugänge, aktuelle Programmänderungen, regionale Serviceleistungen (Apothekendienste, fremdsprachige Ärzte, Restauranttests etc.), regionale Events, internationale und nationale Nachrichten ohne Redaktionsschluß, interaktiver Austausch zwischen Redakteuren und Onlinenutzern usw. Noch gibt es kein zuverlässiges Anforderungsprofil an Onlineangebote der Zeitungen. Nach den bisher vorliegenden Umfragen verlangen die heutigen Onlinenutzer zu einem geringeren Teil akkurate und aktuelle Hintergrundinformationen. Die breite Masse dagegen bevorzugt Unterhaltung, aktuelle Kurznachrichten und interaktive Spiele (Riefler 1996, 537). Doch dieser Markt wird sich weiter entwickeln.

4.

Fazit

Zeitschriften sind besser als Zeitungen für den Medienmarkt der Zukunft gerüstet. Sie bedienen weitestgehend die Special-Interests und in Zukunft verstärkt die 'Very-SpecialInterests' der sich immer schneller differenzierenden, verändernden und in neuen Konstellationen zusammensetzenden Zielgruppen. Technisch haben sich Zeitschriften den visuellen Gewohnheiten der Fernsehgesellschaft angepaßt und bieten zum Teil überzeugende Produkte. Viele Kundenzeitschriften gehorchen Moden und Lifestyles, die nur wenige Jahre andauern und besitzen damit eine immer geringer werdende Halbwertzeit. Deshalb sind Zeitschriften gut beraten, auch in Zukunft erst nach umfangreichen Marktanalysen präzise kundenorientiert ihre Blätter zu piazieren. Dies wird die Werbewirtschaft anerkennen und auch in den kommenden Jahren den Zeitschriften ein größeres Stück vom Kuchen zukommen lassen. Zeitungen dagegen stecken nach wie vor in der Krise. Trotz der breiten Einsicht in notwendige Änderungen kamen viele Zeitungen in der Vergangenheit über ein Facelifting nicht hinaus. Zu eingefahren scheinen die Einstellungen der Macher. Mit zunehmender Monopolisierung auch in der Zeitungslandschaft ist zwar vielen Blättern ein Uberleben vorerst gesichert. Wollen Zeitungen aber neue Leser gewinnen,

1765

167. Zukunftsperspektiven von Zeitungen und Zeitschriften

alte halten und für die Werbewirtschaft interessant bleiben, bedarf es dringender struktureller Maßnahmen wie konsequenter Kundenorientierung, eines Medienmanagements, redaktionellen Marketings, eines Infrastrukturnetzes zur publizistischen Qualitätssicherung und eines starken Online-Engagements. Der Hinweis allein, der 'Dinosaurier Zeitung' sei ja auch durch Radio, Fernsehen und Btx nicht substituiert, sondern nur komplementiert worden, reicht nicht mehr aus.

5.

Literatur

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Rager, Günther/Petra Werner (Hrsg.), Die tägliche Neu-Erscheinung. Untersuchungen zur Zukunft der Zeitung. Münster/Hamburg 1992. Riefler, Katja, Zeitungen online - Chance oder Risiko. In: Media Perspektiven H. 10, 1996, 5 3 7 549. Röper, Horst, Zeitungsmarkt 2000. Konsolidierungsphase beendet? Daten zur Konzentration der Tagespresse in der Bundesrepublik Deutschland im I. Quartal 2000. In: Media Perspektiven 7/2000, 297-309. Ruß-Mohl, Stephan, Am eigenen Schöpfe ... Qualitätssicherung im Journalismus - Grundfragen, Ansätze, Näherungsversuche. In: Publizistik, 48, 1992a, 8 3 - 9 6 . — , Der I-Faktor. Qualitätssicherung im amerikanischen Journalismus — Modell für Europa? Osnabrück 1994. —, Zeitungs-Umbruch. Wie sich Amerikas Presse revolutioniert. Berlin 1992b. Schaefer-Dieterle, Susanne: Ohne Marketing keine Zukunft für die Zeitung. Wege aus der Drang- und Tatenlosigkeit von Verlag und Redaktion. In: Redaktion Almanach für Journalisten 1993a. Hrsg. v. von der Initiative Tageszeitung, 23—28. —, Zeitung der Zukunft. In: Journalist, H. 11, 1993b, 11 ff.

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Andreas Kiíbler, Berlin

(Deutschland)

XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen 168. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbeplakats Der Fotograf hat seine Kamera im Hochhaus gegenüber aufgebaut. Er richtet seinen Sucher auf die Billboards. Der Betrachter des Fotos liest auf dem obersten Billboard „Canadian Club", auf dem mittleren „Coca Cola", auf dem unteren „Castro Convertibles". Er wundert sich über die Invasion von Doppelnamen mit C. Er fragt sich kurz, ob es sich bei der Abbildung wirklich um ein Foto handelt. Der Fotorealist H. N. Han malt genau dieses Motiv „Times Square 12.57 Uhr", Acryl auf Leinwand. Werbung als Kunst. Der Besucher der Galerie OK Harris. 383 West Broadway N. Y., kauft eine Kunstpostkarte mit genau dieser Abbildung. U. Cudak, Corneliusstraße 54 — die C-Invasion geht weiter — 4 Düsseldorf West Germany, liest auf der Postkarte: Ein Gruß aus New York von Deinem Michael. Ich sitze am Schreibtisch. Ich schreibe über Plakate. Vor mir liegt das Kärtchen, bläulich, violett bis weinrot. Auf der Karte scheint es, wie jetzt hier, Mittag zu sein. Die Zeitverschiebung nicht mitgerechnet. Von unten kommt leise das Hupen der Wagen. Aus den Billboards am Times Square wurde ein Foto, aus dem Foto ein Gemälde, aus dem Gemälde eine Kunstpostkarte, aus der Kunstpostkarte ein Kartengruß. Aus dem Kapitel über das Medium Plakat wird wohl eins über mehrere Medien werden. Wenn ich hier von Plakaten rede, meine ich die Großflächenplakate, die 2 mal 3 Meter großen Flächen auf den Straßen. Bevor ich darüber rede, was Plakate sind, kurz, was sie nicht sind. Daß Plakate keine Anzeigen sind, klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Früher war es so: Wenn ein Kreativer Plakate machen mußte, nahm er meist eine seiner geliebten Anzeigen und vergrößerte sie auf das Plakatformat. Er wunderte sich auch nicht sehr, daß aus der schönen Anzeige kein schönes Plakat wurde. Da die Anzeige in der Zeitschrift viel besser aussieht als auf der Straße,

war es klar, daß die Kreativen viel lieber Anzeigen machten, und die Plakate ihnen ziemlich egal waren. Warum werden aus guten Anzeigen keine guten Plakate? Die Anzeige ist ein Medium. Das Plakat ist ein anderes. Genau wie der Fernsehfilm ein Medium für sich ist. Bei Anzeige und Fernsehfilm kennt jeder den Unterschied. Das eine ist gedruckt, das andere elektronisch. Bei Anzeige und Plakat kennt man ihn nicht so. Beides ist gedruckt. Der Unterschied zwischen Anzeige und Plakat ist so groß wie der Unterschied zwischen Fernsehfilm und Radiospot. Fernsehen und Radio sind elektronische Medien. Trotzdem unterscheiden sie sich gewaltig. Genauso ist es bei den zwei gedruckten Medien. Aus einer Anzeige ein Plakat zu machen, ist ungefähr so, als ob man aus dem Ton eines Films einen Radiospot macht. Aus dem Radio kommt dann ein Film ohne Bilder. Filme sind im Radio im falschen Medium. Ahnlich geht es Anzeigen auf Plakaten. Sie sind im falschen Medium. Das Medium der Anzeige ist die Zeitschrift. Das Medium des Plakats ist die Außenwelt, das Land, die Stadt, die Straße, die Stelle, an der es steht. Plakate werden woanders aufgenommen als alle anderen Medien. Sie werden deshalb auch anders aufgenommen als alle anderen Medien. Fernsehfilme werden einzeln gesehen. Ein Werbefilm folgt auf den anderen. Jeden kann man in Ruhe aufnehmen, wenn man will. Bei Funkspots ist es entsprechend. Bei den meisten Zeitschriftenanzeigen auch. Bei den meisten Plakaten nicht. Einzelne Plakate sind selten. Oft stehen mehrere nebeneinander. Manchmal sieht man bis zu zwölf Plakate zu gleicher Zeit. Was dazu führen kann, daß man vor lauter Plakaten das Plakat nicht mehr sieht. Eine starke Konkurrenz des Plakats sind also die Plakate daneben. Anzeigen sind umgeben von den redaktionellen Artikeln. Werbung und Redaktion sind der Inhalt des Mediums Zeitschrift. Radio-

168. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbeplakats

Spots sind umgeben vom Radio-Programm. Werbung und Redaktion sind der Inhalt des Mediums Radio. Fernseh-Spots sind umgeben vom Fernseh-Programm. Werbung und Redaktion sind der Inhalt des Mediums Fernsehen. Die Umgebung des Plakats ist die Außenwelt. Begreift man die Außenwelt als Medium des Plakats — so wie das Fernsehen das Medium für die Fernsehwerbung ist - könnte man sagen, die Redaktion des Plakats sind die Häuser, Bäume und Bahnhofsvorplätze drumherum. Draußen ist es anders als im Fernsehen, wo ein Werbefilm nach dem anderen kommt und danach die Tagesschau. Draußen werden mehrere Plakate auf einmal gesendet und gleichzeitig noch die Redaktion vom Bahnhofsvorplatz dazugegeben. Das Plakat muß sich also nicht nur gegen die Konkurrenz der Plakate nebenan durchsetzen, sondern gleichzeitig gegen die Konkurrenz der Dinge drumherum. An den Unterschied zwischen Plakaten und ihrer Umgebung haben wir uns so gewöhnt, daß wir ihn kaum noch sehen. Redaktion und Werbung werden sich immer ähnlicher. Die Redakteure sagen, die Werbeleute würden sie nachmachen. Die Werbeleute sagen, die Redakteure würden sie nachmachen. Tatsächlich machen beide sich nach. Das Ergebnis kann man zum Beispiel in den Frauenzeitschriften sehen: Der redaktionelle Teil unterscheidet sich kaum noch von den Anzeigen im Heft. Draußen ist es wie in den Medien. Der Unterschied zwischen den Plakaten und ihrer Umgebung verschwindet mehr und mehr. Unsere Städte sind Bilderlandschaften. Die Gebäude sehen aus wie die Schriftzüge und Firmenzeichen an ihren Fronten, wie die Dekorationen in den Schaufenstern und die Displays in den Supermärkten, wie die Karosserien der Wagen, wie die Layouts der Plakate. Die Architektur ist eine Reklamearchitektur. Deshalb fallen Plakate in der Plakatlandschaft unserer Städte kaum noch auf. Plakate haben mehr Ähnlichkeit mit Filmen als mit Anzeigen. Das Auto ist die Filmkamera, mit der wir die Straße entlangfahren. Die einzelnen Plakate sind die Einzelbilder des Films. Genausowenig, wie wir Einzelbilder bewußt wahrnehmen, geht es mit den Plakaten. Plakate sind keine Bilder, die man sich anschaut. Es sind Bilder, an denen man vorbeischaut. Plakate werden anders aufgenommen als alle anderen Medien. Sie müssen deshalb auch anders gestaltet werden als alle anderen Medien.

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Nun gibt es überhaupt nur zwei Prinzipien für die Gestaltung. Am Beispiel von zwei Künstlern, die auf verschiedene Art Skulpturen machen, möchte ich die Prinzipien erklären: Das Material des einen ist Lehm. Er nimmt etwas Lehm, formt den Lehm, fügt weiteren Lehm dazu, formt weiter, fügt weiteren Lehm dazu — bis seine Skulptur in voller Größe vor ihm steht. Das Material des anderen ist der Marmorblock. Er nimmt Hammer und Meißel und nimmt ein Stück nach dem anderen vom Marmorblock weg, bis am Schluß die Skulptur übrigbleibt. Das Gestaltungsprinzip des einen ist das Zufügen. Das Gestaltungsprinzip des anderen ist das Wegnehmen. Beim Zufügen kommt etwas anderes heraus als beim Wegnehmen. Wenn ein Zufüger schreibt, wird eine schöne, lange Geschichte draus. Je länger er schreibt, desto länger wird sie. Wenn ein Wegnehmer sich die Geschichte vornimmt und an ihr arbeitet, streicht er alles Unwesentliche weg, bis vielleicht nur noch ein Sätzchen übrig bleibt. Ich sagte: Weil Plakate anders aufgenommen werden als alle anderen Medien, müssen sie auch nach einem anderen Prinzip gestaltet werden als die anderen. Die Frage ist ziemlich rhetorisch, trotzdem stelle ich sie: Welchem Prinzip folgen die anderen Medien? Die Fotografie: Die meisten Fotos, die die Werbung benutzt, sind sehr detailreich, vielschichtig und komplex. Sie sind das Ergebnis aufwendiger Inszenierungen. Wer einmal gesehen hat, was der Werbefotograf in seinem Aufnahmeraum alles aufbaut, begreift, daß die Werbefotografie durch Zufügen und nicht durch Wegnehmen entsteht. Die Anzeige: Das inszenierte Foto wird auf die Anzeigenseite geklebt, eine Überschrift wird dazugegeben, ein längerer Text wird darunter geschrieben, ein Slogan, ein Zeichen, ein Coupon und etliche andere Elemente werden dazugetan, bis die Anzeigenseite voll ist. Anzeigen entstehen durch Zufügen. Der Film: Hält das Werbefoto den Sekundenbruchteil einer Inszenierung fest, zeigt der Werbefilm die Inszenierung in ihrer ganzen Länge. Film ist Zufügen hoch drei. Dem Foto fügt er die Dimension der Zeit hinzu, die Handlung, die Bewegung der Kamera, die Blenden und Schnitte, die Geräusche und die Sprache. Werbefilme entstehen durch Zufügen. Das Plakatmedium Außenwelt ist Film plus Raum. Außenwelt kann man als die Summe aller möglichen Zufügungen begreifen. Wir empfinden sie deshalb oft als ange-

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XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

füllt, vollgepackt und zugestellt. Alle übrigen Medien sind Außenwelt minus etwas oder etwas, das von der Außenwelt abgezogen ist. Seit dem Krieg, in dem die Umwelt durch Wegnehmen gestaltet wurde, haben wir unsere Städte durch Zufügen so angefüllt, daß wir kaum noch Platz darin haben. In dieser Welt fällt nur das Gegenteil auf: das Weggenommene. Statt wegnehmen können wir auch reduzieren sagen. Reduktion ist das Gestaltungsprinzip guter Plakate. Es gibt eigentlich nur zwei, höchstens drei Dinge, die an Plakaten reduziert werden können: das Bild, der Text und vielleicht noch die Relation zwischen beiden, also die Struktur der Aussage. Das Straßenbild ist das nicht-reduzierte Bild. Es ist voll, glatt und heiß. Das Plakatbild muß das Gegenteil sein: leer, rauh und kalt. Das Straßenbild ist voll bis zum nicht vorhandenen Rand. Plakate, die es noch voller machen, gehen darin unter. Plakat, die es leerer machen, fallen auf. Plakatstellen sind Leerstellen. Sie brauchen die Leere zum Hervorheben. Sie schaffen sich ein Vakuum. Das Plakat ist das Loch in der Leinwand des Straßenbildes. Das Straßenbild ist die Fotografie der Straße. Auf ihr sind die Dinge in Originalgröße und dreidimensional abgebildet. Ist eins dieser Dinge ein Plakat, und ist das Bild darauf eine Fotografie, ist das Plakat nicht mehr als eine Fotografie auf einer Fotografie. Es ist genauso glatt wie die Oberfläche des Straßenbildes, auf der es klebt. Es ist wie sein Lack und verschwindet auf ihm. Soll das Bild sich vom Straßenbild lösen, muß es rauh sein. Der Lack muß ab. Das Foto muß weggeschmirgelt werden, bis fast nichts mehr von ihm übrig ist. Die Straße ist ein heißes Medium. Das Plakat sollte ein kaltes sein. Die Straße gibt dem Passanten ein vollständiges, detailreiches, naturgetreues Bild, auf dem alles drauf ist. Das Plakat sollte den Leuten ein möglichst unvollständiges Bild geben. Statt möglichst viel, sollte es möglichst wenig zeigen. Und dieses wenige sollte es so groß wie möglich zeigen. Plakat ist nahezu null Information. Plakate kann man auf zwei Arten beschreiben. Indem man sagt, was drauf ist: Das sagt nicht allzuviel, weil oft nicht viel drauf ist. Oder indem man sagt, was nicht drauf ist. Das sagt etwas über das Machen von Plakaten, das ja Wegnehmen, Eindampfen, Einschrumpfen, Gefriertrocknen ist. Die Instant-Natur des Plakats kommt dabei raus. Ein heißes Werbefoto und das Bild auf einem Plakat haben ungefähr so

viel Ähnlichkeit wie eine Tasse Kaffee und ein Löffel Kaffeepulver. Plakate sind instant. Was beim Kaffee das Wasser, ist beim Fotografieren das Fleisch oder die Umgebung, die wir wegnehmen. Mit der Umgebung fällt der Hintergrund weg, mit dem Hintergrund die Tiefe, mit der Tiefe der Raum, mit dem Raum alles, was drin ist, einschließlich der Stimmung des Bildes. Vom Foto bleibt dann nicht mehr oder weniger übrig als eins: ein Glas oder eine Hose oder ein Reifen. Es steht auf Weiß, flach, ausgeschnitten, herausgenommen, ausgegrenzt. Je kleiner das Abgebildete, desto größer kann die Abbildung sein. Und je alltäglicher der Gegenstand, desto aufregender ist die Vergrößerung. „For example a publice service anti-malaria campaign had to be developed showing an evil monstrous mosquito 12 inches long. Common response was incredulous: No. This thing does not grow that big in this place." Diese Notiz fand ich in Advertising Age über eine Werbung in Nigeria. Die Reaktion der Nigerianer auf die Vergrößerung ist verständlich. Die Nigerianer sind nicht gewohnt, sich von dem Abgebildeten zur Kamera machen zu lassen. Den Reiz des Ungewohnten im Gewohnten haben Vergrößerungen auch für uns. Die Vergrößerung hebt das Vergrößerte aus der 1:1-Welt. Sie verfremdet das Vergrößerte. Sie macht es überwirklich. Gleichzeitig reduziert sie es. In der Vergrößerung verliert der Gegenstand alle besonderen Merkmale. Je näher wir rangehen, desto weniger sehen wir. Die Texte auf den Plakaten sind noch reduzierter als die Bilder. Plakattexte werden nicht geschrieben, sondern das Gegenteil von geschrieben: gefeilt, weggestrichen, ausradiert, solange ausgedünnt und ausgemagert, bis nur noch das Skelett oder der Schatten oder der Schatten des Schattens bleibt. Eigentlich ist es geschmeichelt, wenn man bei Plakaten von Texten redet. Meist sind es nur Worte. Sounds of Silence. Sie können einen erstaunlichen Lärm machen. Wer mit 50 Stundenkilometern vorbeifährt, ein Auge im Rückspiegel, das andere auf der Straßenbahn vorn, die Ohren voll Musik am frühen Morgen, in Gedanken am Schreibtisch, liest nicht. Plakattexte sind keine Texte zum Lesen, sondern zum Sehen. Sie müssen auf einen Blick und als Ganzes erfaßt werden können. Plakattexte müssen Bilder sein. Textbilder. Viele unserer Plakattexte haben eine Bildstruktur oder eine Textfigur: „Der Käfer der Käfer"

168. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbeplakats

(Abb. 168.1), „Der Welt meister" (Abb. 168.2), „VW. VW. VW. VW" (Abb. 168.3), „Liobe Sokretärin" (Abb. 168.4), „Taille 59. Hüfte 88. Creme 21" (Abb. 168.5), „Bau. Steine. Erden. Conti" (Abb. 168.6), „Rrrmm. Brrmm. Wrrmm. Conti" (Abb. 168.7). Nicht nur Bild und Text, auch die Beziehungen, die sie zueinander haben, können reduziert werden. Zwei Beispiele für reduzierte Bild-Textstrukturen oder Aussagemechanismen möchte ich geben: Aus ein und demselben Bild

1769

Liòbe Sokretärin, die IBM Schreibmaschine 96 c hat eine Korrekturtaste u.v.a. Abb. 168.4

Der Käfer der Käfer Abb. 168.1 Abb. 168.5 U b e r 15.007.033 Stück: der absolute Rekord im Autobau.

Bau. Steine. Erden, conti.

Der Welt meister. Abb. 168.2

Abb. 168.6

VW, VW, VW, VW.

Rrrmm. Brrmm. Wrrmm. Conti.

Das neue Proclaim Fbb, Scirocco, Golf und Fbssaf.

Abb. 168.3

Abb. 168.7

1770

XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

kann man hundert verschiedene machen, man muß nur zu dem gleichen Bild einen jeweils anderen Text schreiben. Jeder neue Text gibt dem Bild eine neue Bedeutung. Aus ein und demselben Text kann man hundert verschiedene machen, man muß nur jeweils andere Bilder dazu setzen. Jedes neue Bild gibt dem Text eine neue Bedeutung. Auftraggeber, denen wir reduziert gestaltete Werbung vorschlagen, fragen meist: Ist da alles drauf? Reicht denn das? Begreift man das? Ist das nicht viel zu steril/puristisch/kalt? Ihnen erklären wir, daß Ausdrucksmittel, auf denen viel ist, die also detailreich sind, viel Information enthalten und dem Publikum viel bieten, das Umgekehrte bewirken: nicht viel, sondern wenig Engagement, weil sie nichts vom Publikum

verlangen. Das Publikum muß nichts dazutun. Es braucht sich nicht persönlich zu beteiligen. Es wird ausgeschlossen. Bei reduzierten Ausdrucksmitteln ist es umgekehrt. Je weniger sie dem Publikum bieten, desto mehr tut das Publikum dazu. Das Reduzierte produziert starke Beteiligung und großes Engagement. Es bezieht das Publikum ein. Wir können den Effekt, den Reduziertes auslöst, auch anders beschreiben: Der Rezipient oder Konsument wird zum Produzenten der Werbung. Er macht es umgekehrt wie wir: Alles, was wir weggenommen haben, fügt er in Gedanken hinzu. Er nimmt am kreativen Prozeß teil. Reduzierte Plakate sind Do-it-yourself-Plakate. Michael Schirner, Düsseldorf

(Deutschland)

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats 1. 2. 3. 4.

5. 6. 7. 8. 9.

1.

Der Wahlkampf als Handlungsrahmen WP-Kommunikation als Massenkommunikation Die Hauptfunktionen des Plakats Die Urheber des Wahlplakats, das Verhältnis zwischen Parteien und Agenturen, kommerzieller Werbung und politischer Werbung Vermutungen über die Wirkung von Wahlplakaten Die sprachliche Komponente des Plakats und ihre Analyse Die bildliche Komponente Ausblick Literatur

Der Wahlkampf als Handlungsrahmen

1.1. Wahlkampf als symbolische Politik „Wahlkampf ist der Ort einer umfassenden Selbstdarstellung politischer Kräfte und ebenso einer intensiven Informationsmöglichkeit für den Wähler; beide bewirken eine demokratische Willens- und Bewußtseinsbildung, die schließlich zu einer verantwortlichen Entscheidungskompetenz führt" (Wolff 1976, 14). Es ist evident, daß es sich hierbei um die Beschreibung des demokratischen Idealbilds handelt und die reale Wahlkampf(WK)-Kommunikation anderen Gesetzen folgt. Eine realistischere Beschreibung von WK-Kommunikation ermöglicht das Konzept der 'symbolischen Politik'. Die Ver-

mittlung von Politik kommt ohne symbolische ('inszenierte') Politik nicht aus. Für Politiker ist symbolische Politik oft auch Surrogat für eingeengte Handlungsspielräume, für die Wähler „Ersatz für die eigene Erfahrung politischer Realität" (Sarchielli 1987, 237; 242). Doch auch als politische 'Ersatzrealität' ist symbolische Wirklichkeit eine politische Realität (Sarcinelli 1987, 241). „Wir nehmen durch symbolische Politik politische Programme, politische Wünsche, politische Zielsetzungen, Forderungen und Kampfansagen [...] in einer verkürzten und verdichteten Form wahr". Symbolische Politik dient der „Vereinfachung politischer Zusammenhänge" (Sarcinelli 1987, 41). Sie erfüllt damit eine politische Orientierungsfunktion (Sarcinelli 1995, 10). So entstehen „politische Weltbilder" als realitätsstrukturierender Rahmen „für die Gesamtorientierung" (Bethscheider 1987, 13). Symbolische Politik richtet sich dabei gleichermaßen an Gefühl und Intellekt des Wählers, sie ist eine „Mixtur aus Information und Emotion", der Wahlkampf als Domäne der symbolischen Politik bietet ein Handlungs- und Deutungsangebot zugleich (Gräfe 1994, 127). Symbolische Politik kann Identifikationen auslösen, Gruppenbewußtsein schaffen, Wir-Gefühle mobilisieren (Sarcinelli 1995,10), der Wahlkampf stellt affektiv stimulierende Identifikationsangebote bereit (Bethscheider 1987, 43). Diese sozial-integrative Funktion wird gerade durch das Wahlpia-

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats

kat optimal erfüllt: durch die Verwendung von „Schlüsselsymbolen" (vgl. 6.1.), Personalisierung (vgl. 6.5.), durch die Vermittlung von Feindbildern (vgl. 3.4., 7.2.), Slogans (vgl. 6.2.) (Sarchielli 1987, 81, 67, 238, 242). 1.2. Kritik an der Symbolisierung in der Politik. Die Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit des Politischen wird durch Verdichtung und Vereinfachung im Wahlkampf auf faßbare Begriffe gebracht oder optisch in Szene gesetzt (Sarcinelli 1987, 41). Dabei besteht die Gefahr der Entpolitisierung, einer „Regression zu einer einfacheren Auffassung von Politik" und der Ritualisierung (Sarcinelli 1987, 241, 85). „Politik verflüchtigt sich, und an ihre Stelle tritt das Symbol und die symbolische Handlung" (Edelmann 1976, 3). In besonderer Weise richtete sich diese Kritik auch gegen die „minimalistische", entpolitisierte Wahlplakatwerbung der großen Parteien seit 1957 (vgl. 8.), die „Gleichförmigkeit, Verflachung, Verlust des politischen Interesses" (Linhart 1971, 25) mit sich gebracht habe. Die Symbolisierung kann dazu führen, daß strategisch eingesetzte positiv oder negativ besetzte Begriffe mit der Sache selbst verwechselt werden (Schlosser 1987, 11). Für Gruner (1990, 165) stellt Wahlkampf heute eine „Degradierung des dem Vorgang der Wahl impliziten Meinungsbildungs- und Mitbestimmungsanspruchs" dar. Die Sprache des Wahlkampfes bezeichnet er als „Gegenstück der Sprache der Aufklärung" (1990, 169). Parteien tendieren nach Hagen (1987, 68) dazu, den vermuteten Wünschen der Wähler nur noch hinterherzulaufen. Diese Antizipation von „demoskopisch ermittelten Dispositionen des adressierten Publikums" ist aber eine unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiche, d. h. wirkungsvolle politische Kommunikation (Sarcinelli 1987, 235).

2.

W P - K o m m u n i k a t i o n als Massenkommunikation

Die Rezeption eines Wahlplakats unterliegt den Bedingungen der Massenkommunikation (im folgenden MK). Das Publikum, das ein Wahlplakat rezipiert, ist ein anonymes, heterogenes und mobiles Massenpublikum (Hagen 1978, 415). In der Μ Κ ist Rückkoppelung kaum möglich, die M K ist asymmetrisch und indirekt, unpersönlich und technisch vermittelt (Müller 1978, 34ff.; Strauß 1976, 56).

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2.1. Die Rolle des Plakats im Wahlkampf Der Rezipient kann aus dem in den Massenmedien vermittelten Angebot auswählen, es aber auch zurückweisen und unbeachtet lassen. Hohe Informations-, aber auch hohe Redundanzwerte sind daher erforderlich, wenn das Plakat seine Wirkung nicht verfehlen soll. Innovation muß in Konventionelles eingebettet werden (Burkhardt 1974, 12ff.; der sich hier auf die Ästhetik Benses bezieht). Überwiegt allerdings das Moment der Innovation, der ästhetischen Differenzierung, kann sich ζ. B. ein Slogan verselbständigen (wie der Slogan 'Wir schaffen die alten Zöpfe ab', der zwar der bekannteste des Wahlkampfes 1969 war, aber nicht mit der F D P in Verbindung gebracht wurde, Müller 1978, 28). Das Plakat ist sozusagen allgegenwärtig und unentrinnbar, ein jederzeit öffentlich zugängliches Kommunikationsmittel (Duvigneau 1971, 45). Es ist das Medium mit maximaler Reichweite. Das Plakat wird auch unwillkürlich aufgenommen (Gruner 1990, 21), es „kann nicht abgeschaltet werden" (Glotz 1984, 934). Wegen der Konkurrenz zu anderen Medienereignissen muß es „Haftwirkung" haben, ein „Blickfang" sein (Hagen 1978, 41), ein „optischer Zwischenfair (Medebach 1968, 3). Mit dem Rezipienten führt es einen „Schnelldialog" (Prakke, nach Brosius 1987, 338). Kroeber-Riel (1993, 53) spricht von „schnellen Schüssen ins Gehirn", das nur ein bis zwei Sekunden brauche, um ein Bild mittlerer Komplexität wahrzunehmen. Gerade durch seine Allgegenwart (immerhin wird es von 94 Prozent der Wahlberechtigten wahrgenommen) entsteht aber auch ein Abnutzungseffekt (Wasmund 1986, 11 f.). Plakate machen Stimmung, vermitteln Atmosphäre (Radunski 1980, 111; Wangen 1983, 242). Genau darin, nämlich in der Ermittlung des atmosphärischen Hintergrunds eines Wahlkampfs sieht Arnold (1972) den Wert von Wahlplakaten als zeitgenössischem Dokument (zum Plakat als zeitgeschichtlichem Zeugnis Toman-Banke (1994, 47). 2.2. Das Plakat im Verhältnis zu anderen Werbemedien Großen Wert, sowohl für die Innen- als auch für die Außenwirkung, legen die Parteien in den letzten Jahren auf die Herausbildung eines einheitlichen wiedererkennbaren Designs und bedienen sich dabei des Begriffs der „Corporate identify" (Kremer 1984, 913). Heute wird die Plakatkonzeption meist in eine Multimediakampagne (Langguth 1995,

1772

XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

11) eingeordnet, bestimmte Elemente tauchen in verschiedenen Medien immer wieder auf (Kroeber-Riel 1993, 304), innovative Elemente werden mit bereits bekannten oder redundanten Elementen verknüpft. Das Plakat dient damit der flankierenden Unterstützung anderer Werbemittel (Oellerking 1988, 207). Anderweitig aufgebaute Werbeinhalte werden im Plakat reaktualisiert (Wangen 1983, 242). Das Plakat kann dies gerade dadurch leisten, daß es sich in der Nachkriegszeit als „genuine Textsorte" herausgebildet hat. Es hat einige Nebenfunktionen, die es früher noch miterfüllte (ausführliche Information über das Programm, ausführliche Auseinandersetzung mit dem Gegner, Reaktion auf aktuelle Ereignisse), an andere Textsorten (Fernsehdiskussion, Anzeige, Flugblatt) abgegeben (zu diesem Prozeß Müller 1978, 252f.).

3.

Die Hauptfunktionen des Plakats

3.1. Die Mobilisierung der eigenen Mitglieder Während die Informationsfunktion des Plakats allgemein sehr gering eingeschätzt wird und auch die Auseinandersetzung mit dem Gegner an Bedeutung verloren hat, bleibt die Funktion der Mobilisierung, vor allem von Parteianhängern und Mitgliedern (Hagen 1978, 434). Die Plakatwerbung gilt für eine Partei als „Gradmesser für die Leistungsfähigkeit ihrer Öffentlichkeitsarbeit" (Kuh 1971, 49). Die flächendeckende optische Präsenz (Bethscheider 1987, 64) ist eine Art Leistungsnachweis der Partei. Riegger (1984, 905) nennt den WK unter diesem Aspekt apologetisch einen „Teil sozialdemokratischer Vertrauensarbeit". Plakate zwingen die Parteien zu einer zentralen Aussage (von Rosenstiel 1971, 76; „Kondensierungszwang", Bach 1985, 41). Damit trägt der Plakatwahlkampf wesentlich zur Schaffung eines einheitlichen Erscheinungsbildes einer Partei bei. 3.2. Die Mobilisierung bestimmter Wählergruppen im Wahlkampf und durch das Wahlplakat Die Mobilisierung von Mitgliedern, Wählern, Anhängern und Wechselwählern im Wahlkampf kann mit „konzentrischen Kommunikationskreisen" beschrieben werden, eine Mobilisierungskampagne soll dabei die nächste in einer Art Dominoeffekt anstoßen (Langguth 1995, 11). Das W P in der BRD wendet sich dabei meist nicht mehr an be-

stimmte Zielgruppen. (Eine Ausnahme wieder bei den Grünen, z. B. 1987 mit einem Plakat an die Zielgruppe der Schwulen). Dies ist aber kein konstitutives Merkmal der Textsorte (so Oellerking 1988, 100), sondern historisch bedingt. In der WR richteten sich nämlich noch zahlreiche Wahlplakate an soziologisch definierte Zielgruppen (Müller 1978, 63 ff.). In dieser Wandlung spiegeln sich neben medienspezifischen Veränderungen auch gesellschaftliche Tendenzen, nämlich die Tatsache, daß die BRD seit den fünfziger Jahren als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Schelsky) verstanden wurde und die großen Parteien sich zu „Volksparteien" entwickelten. Soziologische Kriterien wurden abgelöst durch Kategorien wie „Wechselwähler, Stamm Wähler, Nichtwähler". Diese schlagen sich aber nicht in expliziter Anrede auf Wahlplakaten nieder, sondern bestimmen eher die Auswahl der Strategien. Plakate sollen vor allem Wechselwähler mobilisieren (Oellerking 1988, 221), denn nur etwa 6 von 10 Wählern gelten heute noch als Stammwähler. Es herrscht allerdings Einigkeit darüber, daß Wahlkämpfe keine größeren Wählerverschiebungen bewirken (Bethscheider 1987, 43). So kommt einer Plakatkampagne u. U. die Funktion zu, nicht mehr als 2 bis 3 Prozent der Wähler in ihrer Wahl entscheidend zu beeinflussen (Radunski 1980, 92). So werden auch potentielle Nichtwähler zu einer wichtigen Zielgruppe der Plakatwerbung. Von Rosenstiel (1971, 67) sieht den Sinn der Plakatwerbung in der Erhöhung der Wahlbeteiligung. (In diesem Sinne zitiert Staeck (1973, 6) einen Vertreter der Agentur A R E mit einer Rechtfertigung des finanziellen Aufwandes für die Plakatwerbung). Für die Stammwähler dient die Plakatwerbung zur „Aktivierung einer bereits vorliegenden Präferenz" (Oellerking 1988, 186). Bereits vorhandene Einstellungen werden verstärkt intensiviert (Straßner 1987, 39). Bekannte Politiker werden noch bekannter, Sympathien werden verstärkt (von Rosenstiel 1971, 68). Stammwähler werden durch Plakatwerbung zumindest an die Stimmabgabe erinnert (Palmer 1993, 67). Der Stammwähler mag sich längst vorentschieden haben, der Wahlkampf und speziell dessen Kondensierung im Plakat gibt ihm noch einmal die Möglichkeit der Rationalisierung der Wahlentscheidung vor sich selbst (Straßner 1987, 39). Die Darstellung der Politik wird dabei sprachdramaturgisch so aufbereitet, daß dem Wähler „die Vorstellung vermittelt werden kann, er nehme nicht

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats

eine passive Rolle ein" (Sarcinelli 1987, 75). Typisch dafür ist die Plakatserie der SPD 1983, in der Spitzenkandidat Vogel fiktive Dialoge mit „dem Bürger" führt. Aber schon früher wurden Plakattexte mit dem Wähler als fiktivem „Sprecher" formuliert (Müller 1978, 85 ff.). 3.3. Selbstdarstellung der werbenden Partei im Wahlplakat Wichtigste Funktion der Warenwerbung ist die Produktpräsentation. Die Entsprechung für die politische Plakatwerbung wäre die Präsentation des Programms. Diese Funktion wurde in der Frühgeschichte des W P durchaus noch erfüllt. Die Präsentation programmatischer Inhalte spielte jedoch in der weiteren Geschichte des Plakats eine immer geringere Rolle auf Wahlplakaten, bis in Slogan oft nur noch ein Themenbereich thematisiert wurde ('Es geht um Deutschland') oder die Wahlentscheidung auf die Entscheidung zwischen Kontinuität und Veränderung reduziert wurde (weiter so, vgl. 6.3.; Müller 1978, 149ff.). Eine ausführliche Auflistung von expliziten Programmanforderungen auf einem Plakat findet sich erst wieder bei der SPD 1983 und dann in verstärktem Maße bei den Grünen. Einen ersten Aufschluß über die politische Richtung gibt der Parteiname sowie die politische Richtungsbezeichnung. Politische Richtungsbezeichnungen (rechts/links) werden auf Wahlplakaten selten affirmativ verwendet (eine Ausnahme von der SPD 1953 'Links wo das Herz schlägt', weitere Beispiele bei Müller 1978, 129), häufiger hingegen in der Abgrenzung zum Gegner (Müller 1978, 117). Die konventionelle Erstarrung des Parteinamens, dessen politische Bedeutung kaum noch realisiert wird, wird häufig durch Remotivierungen aufgebrochen, manchmal in affirmativer Absicht ('Fragen — denken — politisch handeln' als Akronym für FDP), in polemischer Absicht bei den Grünen ('Nie wieder Cäsium' mit der graphischen Hervorhebung der Buchstaben CSU). In der Vermeidung des eigenen Parteinamens spiegelt sich auch der nach wie vor bzw. erneut verbreitete Antiparteienaffekt. So versucht sich die F D P durch die Verwendung der Unterzeile Die Liberalen als Gruppe von Individuen statt als Parteikollektiv darzustellen (Klein 1989, 25). 3.4. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, Polarisierungsstrategien Eine wichtige Funktion eines Wahlplakats ist die Auseinandersetzung mit dem politischen

1773

Gegner. Im Vergleich zur Weimarer Republik ist die Zahl von Plakaten, die diese Funktion in den Mittelpunkt stellen, auf weniger als die Hälfte zurückgegangen (Müller 1978, 170). Dies geht einher mit dem Verschwinden reiner Textplakate, die sich besser für die Auseinandersetzung mit dem Gegner eigneten (Oellerking 1988, 228). Dieser Befund gilt allerdings im wesentlichen für die großen Plakate bis etwa 1980, unabhängig ob in der Opposition oder in der Regierung, bei der F D P gab es dagegen bis 1969 'Contra-Plakate', bei den Grünen sind sie zahlreich, und auch bei den großen Parteien spielt in den letzten Wahlkämpfen die Auseinandersetzung mit dem Gegner wieder eine größere Rolle (vgl. ein Plakat der CDU, das aus ironisch gemeinten „Programmforderungen" des Gegners Rot-Grün besteht wie 'Mehr Bürokratie für alle'). Die Zahl von Plakaten, in denen die werbende Partei ihr Programm dem unterstellten des Gegners gegenüberstellt ('ProContra-Plakate'), hat in gleichem Maße abgenommen (Zahlen bei Müller 1978, 170, zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt Wachtel 1988, 101 bei der Analyse von Werbespots der Parteien). Gegenbeispiele in größerer Zahl gab es nur in dem durch die Person Strauß stark polarisierten Wahlkampf von 1980, so ein Pro-Contra-Plakat der SPD mit dem Satz 'Das wollen wir auf keinen Fall', und Contra-Plakate der F D P gegen Strauß. Polarisierung war ein wesentliches Element der Plakatwerbung in der Weimarer Republik, aber auch in den ersten Wahlen der BRD (Müller 1978, 225ff.). Die Polarisierungsstrategie besteht zumeist darin, daß die werbende Partei für sich ein 'Leitwort' (vgl. 6.1.) in Anspruch nimmt und den Gegner entweder mit einem 'Stigmawort' oder einem umstrittenen Wert kennzeichnet, bis hin zu Fundamentalpolarisierungen wie 'Krieg und Frieden', 'Leben oder Tod, 'Demokratie oder Diktatur'. Eine weitere wichtige Polarisierungsstrategie ist 'Diffamierung durch Assoziation'. Darunter wird das Verfahren verstanden, den politischen Gegner in Beziehung zu einer allgemein diskreditierten Feindgruppe zu setzen und den Hörer bzw. Leser von einem einzigen gemeinsamen Merkmal auf generelle Übereinstimmung schließen zu lassen (Dieckmann 1964, 144; Beispiele bei Müller 1978, 200ff.). Selbst auf Contra-Plakaten wird aber der Gegner häufig nicht bei seinem richtigen Namen genannt, Contra-Plakate sind eine Domäne für abwertende Neologismen (vgl. das Kapitel 'Persuasive Wortbildung' bei Müller 1978, 186-197), gerade innovative Meta-

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XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

phern werden vor allem zur Feindbezeichnung eingesetzt (Bachem 1979, 67). Selbst der Verzicht auf jegliche explizite Erwähnung des Gegners bedeutet aber nicht den Verzicht auf Auseinandersetzung mit ihm im Medium des Wahlplakats. Daß der Gegner mitgemeint ist in Slogans wie 'Wir halten fest am Gebet', 'Wir schaffen das moderne Deutschland, kann durch die Analyse der verwendeten Präsuppositionen ermittelt werden (vgl. 6.3.; weitere Beispiele zur impliziten Abgrenzung vom Gegner bei Müller 1978, 237ff.). Diese Auseinandersetzung mit dem Gegner, ob explizit oder implizit, beruht jedoch oft auf iszenierten „Scheinpolarisierungen" (Gräfe 1994, 142; Gruner, 1990, 70), einer „Dramatisierung von Politikdivergenzen" (Sarcinelli 1987, 66). Selbst bei minimalem inhaltlichem Dissens wird die Wahl mitunter als existentielle Entscheidung dargestellt (Bethscheider 1987, 186). Dies geschieht vor allem dann, wenn Schlüsselsymbole wie Demokratie, Freiheit usw. (vgl. 6.1.) in einer Art „Grundwerteokkupation" (Bethschneider 1987, 164) zugleich als Parteisymbol in Anspruch genommen werden (Sarcinelli 1987, 242). Ein Beispiel ist die zunehmende Verwendung nationaler Symbolik durch Farbgebung und Wortwahl in der Plakatwerbung seit 1972 (Bethscheider 1987, 136f.). (Aber schon 1953 warb z.B. die F D P mit dem Slogan ' Wählt FDP, dann wählt ihr Deutschland). Zum weitgehenden Verzicht auf die Auseinandersetzung mit dem Gegner wie auch zum Rückzug auf das sichere Inventar unumstrittener Begriffe hat die Rezeption der amerikanischen 'New Rhetoric' (auch „wissenschaftliche Rhetorik", Hovland), der Fünfziger Jahre, vor allem durch CDU und SPD, wesentlich beigetragen. Eine ihrer 'Erkenntnisse' war, daß Angstbilder (die SPD und CDU noch 1953 einsetzten, SPD und F D P letztmals 1957 mit der Angst vor der Atombombe), ja selbst die bloße Erwähnung von Negativem, also auch des Gegners, kontraproduktiv seien. „In die Werbung gehört auch keine Polemik", so die C D U 1969 (nach Abromeit 1972, 59). Die Werbebotschaft müsse nicht neu, aber in jedem Falle erfreulich sein (Linhart 1971, 25, der allerdings nicht beachtet, daß dies nur für eine bestimmte Phase der WP-Geschichte in der BRD und auch nur für die großen Parteien gilt, dazu Hagen 1978, 425.) Entscheidend ist dabei nicht der empirische Wert der „wissenschaftlichen Rhetorik", sondern relevant wurde sie dadurch, daß die Wahlkampfplaner in den Parteien an die Richtigkeit und

Anwendbarkeit der Ergebnisse der MK-Forschung glaubten und sie in bei der Konzeption des Wahlkampfes und hier vor allem der Plakatwerbung auch praktisch umsetzten. Das Plakat, das sich aggressiv mit dem Gegner auseinandersetzt, das Kampfplakat, für das Medebach (1977, 82) „publizistische Gesetze" aufstellte (er spricht sogar von „Kampfzeichnern"), wurde allerdings vermutlich auch durch die NS-Propaganda diskreditiert.

4.

Die Urheber des Wahlplakats, das Verhältnis zwischen Parteien und Agenturen, kommerzieller Werbung und politischer Werbung

In den Sechziger Jahren begannen die größeren Parteien, Methoden der Konsumwerbung auf die Wahlwerbung zu übertragen, und schalteten verstärkt professionelle Werbeagenturen ein. Die C D U setzte 1965 erstmals politisches Marketing ein (Diederich/Grübling 1989, 163). Der Einfluß der Agenturen nahm seit 1976 wieder ab (Wolf 1980, 111) zugunsten der Parteigremien (Wangen 1983, 21). Die SPD begann 1969 eine eigene Agentur einzurichten, die CDU zog 1973 nach (Radunski 1980, 27). Bei der CDU lagen 1986 Planung und Entscheidung fast ganz beim hauptamtlichen Parteiapparat, während bei der F D P die drei Werbeagenturen, mit denen die Partei zusammenarbeitete, einen größeren Einfluß hatten (Palmer 1993, 193ff.). Ob eine Partei die Wahlkampfplanung auf eine Agentur überträgt, hängt auch davon ab, ob sie politische Werbung und kommerzielle Warenwerbung als gleichartig ansieht. Hierzu gehen die Meinungen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft auseinander. Von der Gleichsetzung von politischer und kommerzieller Werbung (vgl. den Titel einer FDP-Studie für den Wahlkampf 1972 'Die Situation der F D P auf dem Wählermarkt') geht die Untersuchung von Abromeit (1972) aus. In neueren Untersuchungen werden neben Gemeinsamkeiten auch wieder die Unterschiede betont, z.B. Wangen 1983, 67, 84f., 138f., 185ff.; Storck/Wolff 1976 und Radunski 1980. Einige dieser Unterschiede sind: Politische Werbung wird von den Wählern immer als Werbung erkannt. In der Politikwerbung kann eine Person stellvertretend die Funktion eines Produkts übernehmen. Die Regierungspartei hat bessere Möglichkeiten, ihre Versprechungen in die Tat umzusetzen (im Gegensatz zur grundsätzlichen Chan-

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats

cengleichheit gewerblicher Anbieter, weitere strukturelle Vorteile der Regierungsparteien sind Ereignis-Timing und Amtsbonus, Sarcinelli 1984, 22). Politische Werbung ist weitgehend vergleichende Werbung (Oellerking 1988, 222). Eine nur für die Plakate der WR relevante Frage ist, ob der Plakatkünstler sich mit der politischen Richtung, für die er arbeitet, identifizieren können müsse, um ein wirkungsvolles Plakat zu gestalten. Rademacher (1965, 168) hält diese Parteilichkeit (bei ihm im Sinne des Sozialismus verstanden) für unabdingbar. Dagegen sieht Burkhardt (1974, 5) Wahlplakate nicht als Kunstwerke, da künstlerische Mittel nur als Träger außerkünstlerischer Informationen fungieren, ebenso dezidiert stellt Medebach fest (1968, 3f.), daß das Plakat kein Kunstwerk, ja dem Künstlerplakat „diametral entgegengesetzt sei", da es einem politischen Auftrag unterliege, ähnlich Medebach schon 1941, allerdings apologetisch für das nationalsozialistische „Kampfplakat": „Ästhetische Forderungen sind keine Maßstäbe für die graphische Gestaltung von Führungsmitteln" (Medebach 1977, 76). Das Plakat sei „Gebrauchsgraphik für die Massen".

wirken von visuellen und verbalen Kodes (vgl. 7.2.). Nur durch die Verwendung einer Zeichnung statt einer Fotografie konnte es gelingen, Adenauer mit den Zügen der „idealen Vaterfigur" (Diederich/Grübling 1989, 159) auszustatten. Ist die tatsächliche Wirkung bestimmter Plakate auch selten erforscht worden, so wurden verschiedentlich Bedingungsfaktoren der Wirksamkeit zusammengestellt. Oellerking (1988, 227) und Radunski (1980, 103 f.) nennen Verständlichkeit, Glaubwürdigkeit und Relevanz, Ronneberger (1971, 124) semantische Eindeutigkeit, unmißverständliche Zuordnung von Aussage und Urheber. Im Rahmen der Gesamtstrategie müsse das Plakat sich zudem in „Subkampagnen" einordnen lassen (Radunski 1980, 104), d. h. zur Herausbildung einer „corporate identity" der Partei beitragen. Ein besonderes Problem bei der Ermittlung, aber auch bei der Planung von Wirkungen nennt Brosius (1987, 338) „Komplementaritätseffekt": Wirkungen heben sich häufig gegenseitig auf, ein Plus auf der einen Skala geht einher mit einem Minus auf einer anderen (ζ. B. Dynamik häufig zu Lasten der Sympathie).

6. 5.

Vermutungen über die Wirkung von Wahlplakaten

„Der große Effekt der Plakatwerbung ist empirisch bestätigt, wiewohl nicht völlig vorhersagbar" (Bachem 1975, 23). Im Einzelfall ist diese Bestätigung jedoch selten erbracht worden. Nach der Wahl 1983 wurde demoskopisch ermittelt (nach Bach 1985, 31), daß der Slogan 'Jetzt den Aufschwung wählen' den Ausschlag zugunsten der C D U gegeben habe. Häufiger finden solche Tests in der Vorbereitungsphase des Wahlkampfs statt. So wurden verschiedene Fassungen des CDU-Plakats von 1953 'Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau' getestet und die bedrohlichste realisiert (nach Diederich/Grübling 1989, 156). 1976 wurde der Begriff Freiheit als „wichtiges" Thema empirisch ermittelt und in den Mittelpunkt der Kampagne der CDU gestellt ('Freiheit statt Sozialismus', Diederich/ Grübling 1989, 177). Aussagen zur Wirksamkeit von Wahlplakaten sind häufig spelukativ und intuitiv. Ζ. B. erklärt Abromeit (1972, 71) die Wirkung der Adenauer-Köpfe tiefenpsychologisch als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Vaterfigur und des autoritären Charakters. Immerhin veranschaulicht aber dieses Beispiel das untrennbare Zusammen-

1775

Die sprachliche Komponente des Plakats und ihre Analyse

Ein Plakattext kann auf der Ebene des Einzelwortes (6.1.), des Textes, vor allem des Slogans (6.2. und 6.3.) bzw. der gesamten Sprachhandlung (6.4. und 6.5.) analysiert werden. 6.1. Schlagwörter, Schlüsselwörter, Leerformeln, „Besetzung von Begriffen" Wahlkampf als Beispiel symbolischer Politik ist sprachlich angewiesen auf Wörter mit hohem Symbolcharakter („artikulative Legitimationssymbole", Sarcinelli 1987, 86). Besonders das WP mit seiner Reduzierung der Textkomponente auf das Nötigste ist eine Domäne dieses Vokabulars, das in der Sprachwissenschaft mit Begriffen wie Hochwort, Schlüsselwort, Leerformel, Schlagwort, Stereotyp, Miranda und Anti-Miranda (Lasswell), Verdichtungssymbol (Edelman 1976, 3) usw. beschrieben worden ist. Eine genauere Definition und Abgrenzung dieser Begriffe ist schwierig und kann hier nur angedeutet werden. Die Einstufung eines Begriffs in eine der genannten Kategorien ist nicht vom jeweiligen Sprecher zu trennen und von dessen politischem Standort abhängig. Sinnvoll ist daher die Unterscheidung von Leitwort (partei-

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XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

übergreifend positiv konnotiert, eine Operationalisierung wäre die Verneinungsprobe, Sätze wie Gegen Arbeit, gegen Frieden, gegen Zukunft wären für keine Partei ein akzeptabler Slogan, Bach 1985, 43), Fahnenwort (partei-/gruppenspezifisch positiv konnotiert) und Stigmawort (partei/gruppenspezifisch negativ konnotiert) (Degenkolbe 1965, 327ff.). Stereotype sind vorurteilshafte Wortbedeutungen, die gegen Korrektur immun sind (Hannapel/Melenk 1984, 262), „sie haben einen besonderen Effekt für die Stärkung des Wir-Gefühls innerhalb von Gruppen" (Straßner 1987, 61). Ganz im Sinne ihrer Funktion für symbolische Politik haben Schlagwörter orientierende, nicht nur agitatorische Funktion und „sprechen Interpretationen beiläufig aus" (Hannapel/Melenk 1984, 265 f.). Aufgrund ihrer großen Bedeutungsbandbreite überdecken solche Vokabeln eine Vielzahl von unterschiedlichen und sogar widersprüchlichen Meinungen, sind aber gerade dadurch für die Zwecke der WK-Kommunikation bestens geeignet. Denn sie organisieren die Wahrnehmungen zu einer Sinnstruktur und erfüllen damit die Bedingungen politischer Symbole (vgl. 1.2.). (Bergsdorf 1983, 27f.). Die Begriffe 'Miranda' und 'Anti-Miranda' und 'Verdichtungssymbole' gehen allerdings über die Einzelwortebene, ja sogar über die sprachliche Ebene hinaus. Miranda (Begriffe, die die Hochwerte der Ideologie tragen) und Anti-Miranda (Begriffe, die das zu Bekämpfende der Gegenseite beinhalten, beide Definitionen nach Straßner 1987, 53) sind häufig über nicht-verbale Kodes vermittelt (vgl. 7., zu diesen Begriffen auch Bachem 1979, 62—70). Bei verbalen Miranda kann es sich auch um Zitate von Prominenten sowie legitimatorische Texte, z. B. Nationalhymnentext handeln (Müller 1978, 98). Schlagwörter erscheinen auf Plakaten zumeist in reduzierter grammatischer Valenz, d. h. ein Begriff wie Freiheit ohne Füllung der Leerstellen (Freiheit wessen wovon wofür) (Müller 1978, 150 f.). Eine nähere Spezifizierung kann der Empfanger häufig der Bildkomponente entnehmen (z. B. beim Schlagwort Sicherheit aus der Darstellung eines Familienidylls). 6.2. Beschreibung und Analyse von Slogans Die Textkomponente des Wahlplakats hat sich heute im Gegensatz zur WR zumeist auf den reinen Slogan reduziert. Der Slogan als „Ergebnis der Zusammenarbeit von Kommunikation, Demoskopie und Politik" soll die gesamte Kampagne „brennpunktartig zusammenfassen" (Klein 1991, 265; Urban

1994, 176) und läuft dabei wie ein roter Faden durch die gesamte Werbebotschaft. Als seine Qualitätsmerkmale werden genannt: Einfachheit, Prägnanz, Harmonie, Rhythmus, d. h. der Slogan muß ungekünstelt, kurz, wohlklingend und rhythmisch regelmäßig sein (Urban 1994, 177), und verlangt Eingängigkeit und Unverwechselbarkeit. Gleichzeitig ist der Slogan aber in seiner inhaltlichen Aussage notwendigerweise vage. Nur so erfüllt er den Zweck der Stimmenmaximierung. Deswegen überfordert die Zuordnung eines Slogans zu einer Partei die meisten Wähler (Bethscheider 1987, 67). Dem Slogan kommt häufig nur die Zukunft zu, die zentralen Leitbegriffe syntaktisch lose miteinander zu verknüpfen (z. B. ' Z u k u n f t durch Leistung'). 6.3. Präsupposition und Wahlplakat Gerade eine so komprimierte Mitteilung wie ein Wahlplakat kann nur verstanden und analysiert werden, wenn berücksichtigt wird, daß ein Großteil dessen, was übermittelt werden soll, sowohl beim Urheber als auch beim Empfänger unausgesprochen mitgedacht und als selbstverständlich gültig vorausgesetzt, „präsupponiert" wird, ohne daß es ausgedrückt werden muß. Ohne Ubereinstimmung in einer ausreichenden Menge von Situationspräsuppositionen kommt keine Kommunikation zustande (Sarcinelli 1987, 83). Bachem (1979, 20) unterscheidet zwei Arten von Vorannahmen: Solche, die allein aus der sprachlichen Struktur der Äußerung zu machen sind und solche, die aufgrund des Vorwissens der geschichtlichen Situation gemacht werden. So ist die Funktion des Slogans 'Deutschland braucht die Liberalen. Die FDP braucht ihre Zweitstimme'' nur vor dem Hintergrhnd des Wissens um die Wahlprognosen für die F D P 1983 voll verständlich. Erst die Kenntnis von der bevorstehenden Bundestagswahl erschließt die Mehrdeutigkeit von Slogans wie 'Den Frieden wählen' oder 'Mehrheit für...' (es folgen verschiedene politische Forderungen, dieser Slogan war die Basis der Plakatkampagne der SPD 1987). Über semantische und pragmatische Präsuppositionen teilt der Plakattext 'Wir haben nicht nur geredet' (Wolff 1976, 20), auch mit: 'Andere reden nur und handeln nicht' sowie 'Es ist an der Zeit zu handeln'. Das angebliche Nicht-Bestehen eines erwünschten Zustands in der Gegenwart kann genauso präsupponiert werden (mit Formulierungen wie zurück zu ... oder der Forderung nach Wiederherstellung ...) wie die Existenz eines unerwünschten Zu-

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats

stands in der Gegenwart, ζ. B. in 'Keine widernatürliche Gleichmacherei' oder 'Die DM muß stabil bleiben'' oder Parolen mit weg mit ...)· Der bestimmte Artikel präsupponiert darüber hinaus die Unverwechselbarkeit, möglicherweise Einzigartigkeit des Gegenstands (' Wir sind die Partei des Mittelstands', weitere Beispiele bei Müller 1978, 1 1 - 1 6 und 155 f.). Zu den Vorannahmen zählt auch die Kenntnis und Befolgung der Konversationsmaximen (Grice). Ihre prinzipielle Gültigkeit kann der Schlüssel zur Deutung eines Plakatslogans sein. Nur über das Relevanzpostulat wird die abgrenzende Wirkung von Slogans wie 'Wir halten fest am Gebet', 'Wir schaffen das moderne Deutschland ermittelbar (Müller 1978, 9). Dennoch darf die Geltung dieser Maximen nicht ohne weiteres auf die Werbung übertragen werden (vgl. Straßner 1987, 41: „In der Wahlwerbung werden Ernsthaftigkeit und Wahrheitsverpflichtung gerade nicht unterstellt." „Die Sprache des Wahlkampfes steht [...] unter dem permanenten Verdacht der Unglaubwürdigkeit", Gruner 1990, 173). Das Phänomen, daß bisher dominierende Wortfelder ihre Vorherrschaft verlieren, läßt sich als Folge eines permanenten Verstoßes gegen Gricesche Konversationsmaximen („Verschleiß und Gewöhnung, Unglaubwürdigkeit, Irrelevanz und Unverständlichkeit") erklären (Klein 1989, 43). 6.4. Wahlplakatanalyse durch Pragmalinguistik und Textlinguistik Soweit die Sprechakttheorie von der „idealen Kommunikation" ausgeht, ist sie auf WKKommunikation nur begrenzt anwendbar. In ihrer Fortentwicklung zu einer umfassenden Theorie sprachlichen Handelns, die auch Zielund Wirkungsorientiertheit einer Äußerung einbezieht (Tillmann 1989, 21), kann WKKommunikation jedoch als Abfolge verschiedener Muster von sprachlichen Handlungen beschrieben werden. So lassen sich sowohl in der Warenwerbung als auch in der WP-Werbung Empfehlungs-, Behauptungs-, Präskriptions-, Versicherungs-, Beurteilungs- und Präsentationshandlungen feststellen (Flader 1974, 71 ff.). Die ursprüngliche Sprachhandlung eines Wahlplakats ist natürlich die Aufforderung zur Wahl. Gerade sie wird aber auf Wahlplakaten kaum noch direkt thematisiert. WP-Kommunikation zeichnet sich gerade durch das Fehlen der charakteristischen performativen und illokutiven Indikatoren, ζ. B. der grammatischen Indikatoren der Appellfunktion, aus (Brinker 1985, 83,102). Aber andere grammatische Formen werden als appel-

1777

lativ nur deutlich, wenn man die Werbestrategie kennt, bzw. weiß, daß es eine gibt (Brinker 1985,108). Performative Verben finden in Plakattexten praktisch keine Verwendung (Straßner 1987,41, statistischer Nachweis bei M üller 1978, 134, dort auch zu Varianten der Wahlaufforderung. So kommt das Verb wählen noch auf 70,8 Prozent der WR-Plakate, meist in imperativischer Form, aber nur noch auf 20,9 Prozent der BRD-Plakate vor, ähnliche Ergebnisse bei Wachtel (1988, 101) für Werbespots). 6.5. Beschreibungen und Analyse von Textstrategien Die Formulierung eines Wahlplakats besteht natürlich nicht in einer Anwendung von Einzelelementen, sondern ist Teil einer bestimmten Strategie. Dabei ist die Wahl einer Strategie abhängig von der jeweiligen Situation der Partei, dem gesamten politischen Kontext und vielen anderen äußeren Faktoren. Dennoch soll im folgenden eine Liste von Strategien („Handlungsmuster" bei Tillmann 1989, 184) zusammengestellt werden, die in Plakatanalysen ermittelt worden sind. In einer systematischen Analyse von Wahlplakaten und anderen politischen Werbetexten unter handlungstheoretischem Aspekt müßten diese Strategien in jedem Falle noch hierarchisiert und differenziert werden, dies kann hier wiederum nur als Desiderat formuliert werden. (i) Plakattexte als Problemlösungsschema (Brinker 1985, 109): Hierbei wird das Eintreten eines erwünschten Ergebnisses als Resultat der Wahlhandlung suggeriert bei Verschweigen alternativer Begründungen („suggerierte Verursachung", Schwitalla, zit. nach Bach 1985, 46), z.B. in 'Wer SPD wählt, wählt den Aufbau', oder 'Damit unsere Kinder leben können' (SPD 1987), hier auch die Strategien der Dramatisierung und der Berufung auf das Mitgefühl. (ii) Der Alltagsmensch als Identifikationsangebot (nach Hagen 1978, 420 seit 1976, Adressatengruppen als fiktive Sprecher einzusetzen ist aber eine alte und häufig gebrauchte Strategie (Müller 1978, 84).) (iii) der Vertrauensappell (mit Rekurs auf bekannte Leistungen, aber auch durch Personalisierung, Genaueres zur Vertrauenswerbung bei Wachtel 1988). Bethscheider (1987, 83ff.) differenziert verschiedene Personalisierungsstrategien: Suggestion von Bürgernähe, Verwendung persönlicher Eigenschaften als politisches Argument, Übertragung privater Problemlösungsstrategien auf den politischen

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XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

Bereich u. a. Die Vermittlung des Gefühls einer Vertrauensrelation zwischen Partei und Wähler stand im Mittelpunkt des CDUWahlkampfes von 1983 (Bach 1985, 38). Personalisierung gilt als ein wesentliches Merkmal der BRD-Plakatwerbung im Unterschied zur W R (Staeck 1973, 21). Ihren Höhepunkt erreichte sie im Wahlkampf 1976 mit überdurchschnittlich vielen Kopfplakaten. Vertrauensbildung kann bis zur fiktiven Vertraulichkeit gesteigert werden wie in der Bezeichnung des SPD-Spitzenkandidaten von 1990 als Oskar. Der Erfolg von Personalisierungsstrategien ist aber immer auch abhängig vom jeweiligen Ansehen der Spitzenkandidaten. (iv) der Werteappell (mit Rekurs auf anerkannte Normen, vgl. 6.1.), (v) der Prestigeappell (mit Rekurs auf berühmte Persönlichkeiten, z. B. die Berufung auf Adenauer und Erhard auf CDU-Plakaten, Bethscheider 1987, 93) (vi) der Solidaritätsappell (mit Rekurs auf das Gruppengefühl) (Wolff 1976, 193, ähnlich auch Sarcinelli 1987, 88f.: Jedem dieser 'Legitimationsakte' können die entsprechenden 'Sprachsymbole' zugeordnet werden: Sprachsymbole mit issue-Bezug (Staatsverschuldung), wertorientierende (Freiheit) und personalisierte Sprachsymbole (Glaubwürdigkeit).) (vii) Bei Regierungsparteien heute verbreitet bloße Prolongierungsaufforderungen (z. B. Slogans mit weiter so). Diesen „verordneten Optimismus" hat Gruner (1990, 80) als Parallele zwischen dem CDU-Wahlkampf 1987 und dem von 1957 ermittelt. Zukunft mutiert dabei zum Ideologiebegriff (Gruner 1990, 84, vgl. 'Die Zukunft wählen'), die Wahlentscheidung wird auf die Dichotomie Kontinuität—Veränderung reduziert (Müller 1978, 152ff.), die negative Vergangenheit wird dem politischen Gegner zugeordnet und die Zukunft als „lineare Prozeßverlängerung" suggeriert (Gruner 1990,163).

7.

Die bildliche Komponente

7.1. Wahlplakat und Semiotik, Visuelle Rhetorik Wahlplakate zeichnen sich durch das Zusammenwirken von sprachlichen und visuellen Elementen aus. Die Bildkomponente wird dabei immer wichtiger (Kroeber-Riel 1993, 3). Nach Hagen (1978, 415) ist das Textplakat nur eine „Sonderform der Wortpropaganda". Außergewöhnlich lange Texte finden sich auf

vielen Wahlplakaten der NSDAP. Deren Wahlplakate weichen ohnehin in charakteristischer Weise von den Plakaten der anderen Parteien ab, z. B. durch Plakate, in denen die Leser geradezu beschimpft werden (Müller 1978, 70), durch überdurchschnittlich häufige Thematisierung des Gegners (Müller 1978, 172) und durch die Verwendung von Ironie und Sarkasmus (Müller 1978, 91). Zur Analyse der Bildkomponente bietet sich die Semiotik an als eine umfassende Zeichentheorie, die sämtliche als Informationsträger geeignete Einheiten, also auch nicht-konventionalisierte Zeichen, z. B. spontan erfundene, beschreiben kann (Bachem 1979, 23). Die Semiotik kann Auskünfte geben über die tiefere Bedeutung von Bildern, die sich einer direkten empirischen Feststellung entzieht (Kroeber-Riel 1993, 31). Der visuelle Code wird wegen seiner logischen Unstrukturiertheit als „schwacher Code" bezeichnet. Dennoch erreicht das Bild erhöhte Glaubwürdigkeit, es ist „ontologisch wahr". Aufgrund seiner Vieldeutigkeit wirkt es emotional-affektiv (Baumhauer 1976, 48 f.). Aber gerade diese Ambiguität macht es geeignet für die Zwecke der Μ Κ (Burkhardt 1974, 20). Zumindest in der politischen Werbung bedarf das Bild der Ergänzung durch die verbale Aussage (Baumhauer 1976, 50, doch selbst dies gilt angesichts des Erfolges von W P in Nordrhein-Westfalen, die lediglich das Porträt des Spitzenkandidaten Rau ohne jeden Text zeigten, nicht mehr ohne Einschränkung). Bei der Analyse des visuellen Kodes von Werbung wurde meist versucht, die Analysemittel für lautsprachliche Zeichen, also die Kategorien der Linguistik, Pragmatik und Rhetorik, auch auf bildhafte Zeichen zu übertragen. Diese Ubertragbarkeit ist umstritten, da visuelle Zeichen in geringerem Maße konventionalisiert sind. Burkhardt (1974, 5) nennt das Plakat einen „optischen Text", wodurch sich auch die Analysemethoden angleichen dürften. Kroeber-Riel (1993, 25 ff.) spricht von einer „räumlichen Grammatik, die Bilder im Gedächnis besser speichern könne als sprachliche Informationen", und bezeichnet diesen Prozeß der Entstehung, Verarbeitung, Speicherung und Verhaltenswirkung innerer Bilder als „Imagery". Eco (1972, 242ff.) unterscheidet eine ikonische, tropologische, topische und ethymemische Ebene. Die Komplexität visueller Botschaften macht aber eine Anwendung dieser Kategorien auf konkrete Beispiele schwierig. Selbst das Bild eines Politikers auf einem WP ist nicht nur ein Ikon,

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats

d. h. ein bloßes Abbild der Person, sondern immer mit der Übermittlung weiterer Informationen und Emotionen verbunden. (Beispiele sind das Vertrauen signalisierende Bild Brandts auf SPD Plakaten 1972 und das Bild des telefonierenden Außenministers Genscher 1987, das z.B. auch internationale Weltgeltung Deutschlands vermitteln sollte). Bei der Analyse der tropologischen Ebene stützt sich Eco auf die Begrifflichkeit der antiken Rhetorik und verwendet auch für visuelle Phänomene Begriffe wie Metapher, Antithese, Metonymie, Hyperbel (ähnlich Bonsiepe 1968, 5 f.). Diese ließen sich auch auf Bilder von Wahlplakaten anwenden, aber neben der Schwierigkeit der Abgrenzung (Ist z. B. das Bild einer Industrielandschaft eine Metapher oder eine Metonymie?) ist durch die bloße Etikettierung mit einem rhetorischen Begriff noch wenig über die Strategie des Bildeinsatzes ausgesagt. Darüber könnte die Analyse der topischen Ebene Aufschluß geben. Auf ihr leitet der Betrachter aus einem Bild „allgemeine Überzeugungen, Prämissen und geläufige Argumentationen" ab (Bachem 1979, 28). Diese Ebene wäre bei einer semiotischen Analyse von Wahlplakaten die ergiebigste, Beispiele wären z. B. die zahlreichen Wahlplakate mit idyllischen Familienszenen, vor allem in den Fünfziger Jahren, häufig verbunden mit der Strategie des fiktiven Sprechens („Werbung durch Kindermund") (Müller 1978, 89 f.), aber auch Bilder bedrohlichen Inhalts. Der Zusammenhang eines solchen Bildes mit der Werbebotschaft der Partei wäre für den Betrachter schwer zu verbalisieren, wirkt aber durch die Bildkomponente u. U. zwingend, das Bild fungiert als „visuelles Beweismittel". Auch die Farbgestaltung eines Plakats kann Zeichenfunktion haben, so z. B. die schwarz-weißen Plakate der SPD 1983, die für Versachlichung und den Versuch einer Repolitisierung des Wahlkampfes stehen sollten, ein Effekt, der wiederum durch den Text verstärkt werden sollte: ein Frageund Antwort-Spiel zwischen Spitzenkandidat Vogel und „dem Wähler". Selbst die Wahl eines bestimmten Schrifttyps kann unter bestimmten historischen Voraussetzungen ein politisches Zeichen sein. Die Häufigkeit der Verwendung von Antiqua stand in der WR in deutlicher Relation zur Einordnung auf der politischen Rechts-links-Skala (Müller 1978, 131). Schließlich versuchen die Parteien heute, ihren Parteilogos einen ikonischen Zug zu geben, z. B. kann die Schriftart Dynamik, Stabilität, Extravaganz oder Konventionalität si-

1779

gnalisieren (vgl. die Einführung der drei Abkürzungspunkte in den Parteinamen F. D. P. seit 1968). 7.2. Politische Ikonographie Peirce versteht das Zeichen als eine triadische Relation aus Zeichenmittel, Objekt und Interpretationssystem (nach Baumhauer 1976, 39). Dem Betrachter wird die Entschlüsselung einer visuellen Botschaft dann erleichtert, wenn er sich dabei auf einen konventionalisierten Code, ein gültiges Interpretationssystem stützen kann. Ein solches Bildsystem mit einer langen Tradition existierte noch in der WP-Werbung zur Zeit der Weimarer Republik. Sie arbeitete, vor allem im Bereich der Negativstereotype, mit einer erzählenden Symbolsprache, einer gleichnishaften Metaphorik unter Verwendung allegorischer Figuren, die ihre Vorbilder in der politischen Karikatur hat (Wolbert 1980, 14f.). Eine Durchsicht von Untersuchungen zum Plakat in der Weimarer Republik (Malhorta 1987, 31; Rademacher 1965, 168ff.; Hagen 1978, 421) ergibt eine lange Liste von Symbolen, deren jedes einzelne eine gesonderte Untersuchung wert wäre: Der 'Riese Proletariat', die ausgestreckte Bruderhand als Zeichen der Solidarität, die Ballonmütze zur Identifizierung der politischen Linken, die Personifizierung der bolschewistischen Gefahr in einer Figur mit asiatischen oder jüdischen Zügen, der Ritter mit dem Schwert oder zu Pferde, die aufgehende Sonne über einer Industrielandschaft, die Fahne, die Brandfackel, der Dolch, verschiedene Todesallegorien, der Gegner in Tiergestalt, z. B. als Schlange oder Ungeziefer (Belege für die Bezeichnung und Darstellung des politischen Gegners als Krankheit, Ungeziefer usw. auch bei Müller 1978, 246), Schutzgeister und Drachentöter, der Adler, elementare Naturgewalten, nackte Heroen usw. (Wolbert 1980, 17, der an dieser Stelle eine „Ikonographie bürgerlicher Ideologien" aufstellt). Am Beispiel der 'bolschewistischen Bestie' läßt sich dabei eine historische Kontinuität in der antikommunistischen Bildpropaganda nachweisen (Diederich/Grübling 1980, 26f. und zu den einschlägigen Plakaten in der BRD Müller 1978, 204f.). Auf Plakaten der Nachkriegszeit läßt sich die Verwendung dieser Ikonographie bis 1953 weiterverfolgen, dann verschwindet sie unter dem Einfluß der „neuen wissenschaftlichen Rhetorik". So sind u. a. Heroisierung und Karikatur als Gestaltungsmittel „der Vergessenheit anheimgefallen" (Duvigneau 1971, 48). Aller-

1780

XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

dings gilt auch, daß ein Bildelement seinen ikonischen Charakter verlieren kann, nicht alles, was in der Vergangenheit ein politisches Symbol gewesen ist, muß es auch bleiben (Baumhauer 1976, 40). Glotz fordert zur Wiederbelebung des Plakats die Besinnung auf die große Tradition der figürlichen Malerei" (Glotz 1984, 936). Verdrängt wurde diese Tradition natürlich auch durch die Fortschritte der Werbephotographie. Die CDU war aber 1957 davon überzeugt, daß die Zeit der Photographien vorbei ist (Grulich 1971, 10), die in Wahrheit noch gar nicht begonnen hatte. Erst in den Achtziger Jahren entwickelten die Grünen eine neue Art politischer Ikonographie und griffen, wohl auch aus finanziellen Gründen, wieder auf gezeichnete und gemalte Plakate zurück. 7.3. Politische Farben Parteien werden häufig mit „politischen" Farben (rot, schwarz, grün und braun) identifiziert. Diese spielen aber in der Farbgestaltung von Wahlplakaten eine untergeordnete Rolle. Häufiger ist die Thematisierung dieser Farben im verbalen Kode, meist in der Abgrenzung, z. B. Bayerisch weiß-blau gegen russisch-rot (Müller 1978, 131), ' Z u k u n f t statt rot-grün', affirmativ und abgrenzend zugleich in 'Nicht schwarz sehen: Grün wählen', vgl. auch der Hauptslogan 'Farbe bekennen. Die Grünen'. Ohne Rücksicht auf parteipolitische Zeichenhaftigkeit waren 1918—1933 Rot (als Ausdruck der Anklage und als „Fanal", Kuh 1971, 48) und Schwarz vorherrschend. Farben dienen also oft nur der ästhetischen Differenzierung. 1957 griff die F D P auf Rot als Hintergrundfarbe ihrer Plakate nur zurück, weil die anderen Parteien kein Rot verwendeten (Ulzhöfer 1982, 41). Rot wurde hingegen 1957 von der SPD als zu aggressiv, nicht mehr zur Neuen Rhetorik passend durch das beruhigende Blau ersetzt, das keinerlei Tradition in der SPD hatte. Die Statistik bei Medebach (1968, 6) weist, weitgehend unabhängig von den jeweiligen Parteien, für die WR die Dominanz von Schwarz, Rot, Weiß und Gelb in dieser Reihenfolge nach. Zwischen SPD und C D U gab es in den Fünfziger Jahren geradezu einen Austausch der Farben Rot und Blau (Diederich/Grübling 1989, 162). Ästhetische Aufmerksamkeitswerte (wie im BlauGelb der FDP) und Gefühlswerte dürften also für die Farbgestaltung wichtiger sein als der politische Standort, diese Gefühlswerte zu beschreiben wäre eine Aufgabe der Farbpsychologie.

8.

Ausblick

Die Kommerzialisierung und Professionalisierung der Wahlkämpfe seit 1957, verbunden mit der Rezeption der M K-Forschung durch die Parteien, hat das Bild des W P stark verändert. Die Neue Rhetorik schien zugeschnitten auf die Entwicklung der großen Parteien zu Volksparteien (Wolff 1976, 190). Mindestens für die Zeit zwischen 1957 und 1969, für die großen Parteien z. T. auch darüber hinaus, kann man von einer „minimalistischen Tendenz" in der Plakatwerbung sprechen (Diederich/Grübling 1989, 163). Glotz (1984, 936) spricht gar von einem „Vereinfachungsfaschismus". Der Wahlkampf wurde entpolitisiert, so kritisierte 1965 die SPD ihre Werbeagenturen, daß sie „zu politische Plakate" wollten (Abromeit 1972, 63). Hinter dieser „scheinbaren Entideologisierung" darf allerdings durchaus besonderes „ideologisches Raffinement" vermutet werden (so Reimann 1961, 33). Diese Entpolitisierung und Minimalisierung hat zu der verbreiteten Vorstellung geführt, daß das Plakat jegliche politische Bedeutung verloren habe. Ronneberger (1971, 101) stellt eine Tendenz zur „Reprimitivisierung" bei „steigendem Perfektionsgrad bei der äußeren Gestaltung" fest, was zu einem Antiplakateffekt führt, und dieser wiederum zur Herausbildung einer Plakatsubkultur (Ronnneberger 1971, 104). Medebach (1968, 30) erhoffte sich daher von der Plakatkunst der APO geradezu einen „Impuls für die etablierten Parteien, sich auf die ursprünglichen Funktionen der Plakatwerbung zurückzubesinnen." Die Grünen griffen diesen Impuls durchaus auf, indem sie deutlich und bewußt gegen alle „Regeln" der WPWerbung verstießen. Eine Analyse der Plakatwerbung der Grünen steht noch aus (Material bei Holtbrügge 1986). Zumindest für die Phase bis einschließlich 1990 wird man aber feststellen können, daß sich die Plakatwerbung der Grünen als eine Art „Fundamentalalternative" zur Plakatwerbung der herkömmlichen Parteien verstand, vor allem im völligen Verzicht auf Personalisierungsstrategien, der bewußten Infragestellung von „Miranda", ζ. Β. in Plakaten, die sich ironisch mit nationalen Symbolen oder dem Verehrungsobjekt Auto beschäftigen, sowie in der Verwendung der von den meisten politischen Werbepraktikern lange verabscheuten Ironie. Allerdings stieß die Plakatkampagne von 1990, die auf der Ironisierung von Werbeslogans (Aber; aber, wer wird denn gleich in

169. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Wahlplakats

die Luft gehen ... Mit uns für die Energiewende) und anderen Zitaten (Der deutsche Bauer: im Felde unbesiegt) basierte, auch innerhalb der Partei auf Kritik. Die großen Parteien sind von solchen Innovationsschüben wie auch von neuen Impulsen aus der Konsumwerbung bisher noch kaum erreicht worden. Vieles allerdings, was als „Verfall der Plakatkunst" (Glotz 1984, 936) bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Wandel der Funktionen des Wahlplakats.

9.

Literatur

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Gerd Müller; Calw

(Deutschland)

170. Kommunikative und ästhetische Leistungen von Bild und Sprache im Plakat

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170. Kommunikative und ästhetische Leistungen von Bild und Sprache im Plakat 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitung Reduktion auf das Wesentliche Visuelle Gestaltung Sprachliche Gestaltung Plakatkunst Literatur

1.

Einleitung

Die Absicht der Hersteller oder Verbreiter von Plakaten ist es, gezielt eine Handlung bei den Betrachtern auszulösen, ζ. B. eine Kaufoder Wahlhandlung. Dabei müssen die Designer und Texter davon ausgehen, daß der Werbekontakt bei Plakaten flüchtig, die Aufmerksamkeit der Betrachter selten ungeteilt ist, die Wahrnehmung oft nicht einmal bewußt vorgenommen wird (Stroschein 1971, 219). Obwohl inzwischen durch Großflächen (Megaposter) wie durch beleuchtete und hinterleuchtete Werbeträger die Betrachtungsdauer verlängert wird, lauten die elementaren Forderungen für die Plakatgestaltung: Einfachheit, Übersichtlichkeit, Einprägsamkeit. Diese Forderungen zwingen den Gestalter, Plakatmotive auf schnell aufzunehmende Elemente zu reduzieren. Ob dazu Fotos, Illustrationen oder rein typographische Lösungen gewählt werden, entscheidet allein der Charakter der Werbekampagne, in die das Plakat als Teil der werblichen Maßnahmen eingebettet wird. Die wesentlichen Aussagen sollten im oberen Plakatbereich Platz finden, da parkende Autos oder Passanten häufig den Blick auf den unteren Bereich verstellen. Weiter sollen relevante Elemente der Aussage nicht über die Schnittkanten gelegt werden, an denen das Plakat zusammengeklebt wird. Allzuleicht entstehen dabei ungewollte und unwirksame Effekte.

2.

Reduktion auf das Wesentliche

Werbung ist immer Reduktion auf die wesentlichen Elemente der Aussage, damit diese von den Zielpersonen leicht aufnehm- und behaltbar ist. Für das Plakat gilt das in ganz besonderem Maß. Für den Text bedeutet es, daß er kurz ist, leicht lesbar und eingängig. Deshalb wird er sich im allgemeinen auf eine sloganartige Zeile beschränken, auf den Produktnamen, auf knappste Angaben zum Produkt selbst sowie eventuell noch auf Hin-

weise zur Herstellerfirma. Bei der Wahlwerbung steht neben dem Slogan der Parteiname auf dem Plakat, bei Personendarstellungen auch noch der Name des oder der Dargestellten. Wichtig ist, daß die Typographie den Gesetzen des Plakats zu gehorchen hat. Schriftgröße, Schriftart und Farbgebung dienen dem Ziel, auch auf größere Entfernung noch lesbar zu sein. Zudem sind sie in den Rahmen des gestalterischen Charakters der Gesamtkampagne einzugliedern. Im Zeitalter der Corporate Identity, des Corporate Design ist dem Plakat sogar eine ganz besondere Bedeutung beim Kommunizieren des Erscheinungsbildes eines Produkts, einer Dienstleistung, einer Partei oder eines Unternehmens beizumessen.

3.

Visuelle Gestaltung

Bilder sind schnelle Schüsse ins Gehirn. Sie werden mit geringerer gedanklicher Anstrengung verarbeitet als Wörter und Sätze. Sie eignen sich deswegen dazu, Empfänger mit geringem Involvement zu erreichen. Außerdem werden sie besser erinnert als Sprache und haben einen außergewöhnlich starken Einfluß auf das Verhalten der Betrachter. Für den Gestalter eines Plakats ist es deshalb notwendig, zuerst bildlich zu denken. Uber das Bild soll eine Firma, eine Marke, ein Produkt, eine Partei, ein Politiker usw. bekannt gemacht, im Gedächtnis der Zielgruppe, der Konsumenten oder Wähler verankert werden. Daneben gilt es, Sympathie auszulösen, weshalb der Bildreiz auf die Empfänger angenehm zu wirken hat. Weiter soll ein sachliches oder emotionales Profil für die Marke, Firma, Partei usw. aufgebaut werden. Dazu muß das Bild entweder über sachliche Eigenschaften informieren oder emotionale Erlebnisse vermitteln. Diese Aufgaben kann das Bild erfüllen, wenn es über seine Inhalte, über das ausgewählte Motiv wirkt oder über seine aktivierende Gestaltung, d. h. durch die Art, wie es den Konsumenten dargeboten wird. Vor allem durch Kontrast und Farbe, durch überraschende oder überzeugende Komposition läßt sich die Bildwirkung verstärken. Informiert wird vor allem, indem reale Eigenschaften, vor allem sachliche Vorteile und

1784

XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

Nutzungsmöglichkeiten einer Marke, Firma, eines Produkts, einer Partei oder eines Politikers abgebildet oder herausgestellt werden. Diese Abbildung oder Herausstellung ist im allgemeinen simplifiziert gegenüber der Realität, da das Bild abstrakte Eigenschaften nicht zeigen kann. Gerade diese Simplifizierung, kann aber wesentlich wirkungsvoller, d. h. einprägsamer und verhaltenswirksamer sein, als die präzisere und abstraktere Information über einen Text. Besser als dieser sind Bilder geeignet, emotionale Eindrücke zu vermitteln und Erlebnisse auszulösen. Über Bildmotive werden die Empfanger dann besonders aktiviert, wenn diese vorhandenen emotionalen Schemata entsprechen. Dabei gibt es biologisch vorprogrammierte und kulturübergreifend wirkende Schemata, etwa das Babyschema (Kindchen-Schema) oder das Schema des Helden (Superman), kulturell geprägte Schemata, etwa das Tropen- oder Mittelmeer-Schema, sowie lokal und zielgruppenspezifisch verbreitete Schemata, wie die Skyline von New York oder Frankfurt am Main oder das Tennisspieler- bzw. FußballspielerSchema (Sportlerschema). Schemata können sich im Laufe der Zeit verändern. So wurde das ursprünglich kulturell geprägte Schema 'Cowboy' zum kulturübergreifenden. Solche Schemata werden von den Werbern wissenschaftlichen (kulturanthropologischen, kulturpsychologischen oder soziologischen) Untersuchungen abgeleitet und dann auf Plakaten, Anzeigen etc. verwendet. Die Schemata wirken unterschiedlich stark. Biologisch vorprogrammierte wie das Kindchen-Schema (Baby-Schema), Augenschema, nackte männliche oder weibliche Körper wirken auch noch dann sehr stark, wenn vereinfachte Abbildungen (Zeichnungen, Skizzen etc.) eingesetzt werden. Zwischen Bild und Wirklichkeit kann es eine 'magische Verwandtschaft' geben, denn ein Betrachter kann im Bild geheimnisvolle Begegnungen erleben, etwa exotische Länder oder Weltraumabenteuer. In der Werbung angebotene Bilder werden von den Betrachtern früher erfaßt als ein beigegebener Text, und sie werden länger betrachtet als der Text. Dabei ist zu beachten, daß Plakate überhaupt nur flüchtig ausgenutzt werden, daß die Betrachtungszeit durchschnittlich bei wenigen Sekunden liegt. Um Aufmerksamkeit zu erregen, müssen Bilder so ausgewählt werden, daß sie die Aufmerksamkeit der Betrachter auf das Zentrum der Werbeaussage, auf das Produkt richten. Konturen, Fluchtlinien, Farbelemente etc.

sind also so auszurichten, daß der Blick hingelenkt wird zur zentralen Werbebotschaft. Im visuellen Zentrum des Bildes muß etwas sein, was die Aufmerksamkeit ganz besonders anzieht. In einem Umfeld farbiger Plakate kann ein Schwarz-weiß-Bild möglicherweise besonderes Interesse erregen. Sonst muß die Blicklenkung innerhalb des Bild-Plakats erfolgen. Eine Kochmütze auf einem Kopf kann den für leiblichen Genuß Aufgeschlossenen signalisieren, daß für eine Delikatesse geworben wird. Wichtig ist, daß Bildmotive, die den Empfänger persönlich ansprechen, zur Beschäftigung mit den Bildern animieren. Die Abbildung eines High-Tech-Gerätes wird den technisch Interessierten ansprechen, während das Bild einer Trauminsel den Urlaubsbedürftigen motiviert. Bilder mit interessierenden Motiven werden intensiver ausgewertet und auch behalten als andere. Besonders starke Wirkung haben Bilder, die mit 'inneren' Bildern der Betrachter assoziiert werden können. Detailreichtum und gute räumliche Organisation bei Bildern fördern die Einprägsamkeit. Prägen sich die Bilder ein und werden zu 'Gedächtnisbildern', so beeinflussen sie die Handlungsweise der Konsumenten oder Wähler. Bilder aktivieren Menschen, sich mit ihnen zu beschäftigen, wenn sie psychisch intensive Reize, emotionale Reize oder überraschende Reize aussenden. Die im Betrachter ausgelöste Aktivierung seiner Aufmerksamkeit sorgt für eine Hinwendung zum Bild, zum Bildkontakt, zur Verarbeitung und Speicherung der aufgenommenen Reize. Es ist aber gefährlich zu überreizen, denn 'visual distraction' bewirkt die Ablenkung vom Inhalt der Botschaft. Farbige Bildmotive haben bei Plakaten höhere Sympathiewerte als schwarzweiße, es sei denn, ein Schwarz-weiß-Plakat sticht in einer Umgebung von vielen anderen farbigen besonders hervor. Farben sind optimale Komponenten für die Orientierung. Sie sind die wichtigsten Ordnungsmerkmale bei der Plakatgestaltung in bezug auf die Zuordnung und damit Deutung der Informationen und Botschaften. Farben transportieren deren emotionale Werte. Farben schaffen Klarheit, erzeugen Emotionen, wecken Assoziationen, rufen Erinnerungen hervor. Farben gehören weiter zu den Argumentationselementen. Farben können zu Symbolen werden, zu Haus-, Firmen-, Produkt-, Parteifarben. Dann werden sie Fakten, um Inhalte

170. Kommunikative und ästhetische Leistungen von Bild und Sprache im Plakat

und Botschaften deutlich erkennbar zu machen. Bei Plakaten sind Farben Signalgeber, die auf weite Distanzen wirken müssen. Auch in der Dämmerung oder bei Licht müssen die Farben noch unterscheidbar sein. Deshalb sind einfache und/oder kontrastreiche Töne zu bevorzugen. Menschen verbinden Vorstellungen mit Farben. Blau wirkt auf sie abstrahierend, beruhigend, Souveränität, Aufrichtigkeit, Treue signalisierend, Rot dagegen emotionalisierend, gefühlsbetont, Liebe oder Haß, Blut oder Feuer, Dramatik, Erotik, Aktivität, Spontaneität, Macht ausdrückend. Gelb assoziiert Lebenskraft, Hoffnung, Intellekt, Produktivität, Grün Kühle, Gift, aber auch Natürlichkeit, Umwelt und Umweltbewußtsein. Orange zeigt Auffälligkeit um jeden Preis, Eindringlichkeit, Selbstbewußtsein, Rosa Zartheit, Eitelkeit, Lila Zwitterdasein, Narzißmus, Einsamkeit. Weiß bedeutet traditionell Unschuld, Reinheit, Schwarz dagegen Trauer, Zauberei, Distanz, Geheimnis, aber auch Eleganz. Die Auflistung läßt erkennen, daß Farben wie Rot oder Schwarz stark emphatisch wirken. Grelle Farben werden eingesetzt, um jugendlich, modern, avantgardistisch zu erscheinen. Bei der Verwendung von Schriften ist die Auswahl von Farben wichtig. Schwarze Schrift auf gelbem Grund hat die beste Fernwirkung. Als Schockfarbe genießt Rot besondere Aufmerksamkeit der Gestalter. Rote Schriften haben aber keinen besonders hohen Aufmerksamkeitseffekt. Rotgedruckte Texte werden sogar weniger gelesen als schwarzweiß gedruckte. Schwarz-weiß Gedrucktes wird als seriös und informativ empfunden. Insgesamt gilt: Je farbiger ein Text, desto schwieriger ist er zu lesen, desto unwichtiger erscheint er im Sinne der Werbebotschaft.

4.

Sprachliche Gestaltung

Die durch das Bild im Plakat angebotene visuelle Botschaft ist oft mehrdeutig oder begrifflich nicht klar zu fassen. Außerdem vermittelt das Bild eher konkrete Information als abstrakte. Zudem kann es mehrere Hersteller ähnlicher Produkte geben, können abgebildete Menschen nicht einer Firma oder Partei zugeordnet werden. Es ist deshalb Aufgabe eines dem Bild beigegebenen Textes bzw. sprachlicher Elemente, die Bildaussage eindeutig(er) zu machen, dem Produkt oder

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Menschen einen Namen zu geben, der vielleicht zum Markennamen wird, eine Firma, ein Unternehmen, eine Organisation oder eine Partei zu benennen. Zudem kann der sprachliche Kontext eines Bildes die Einstellung, das Involvement oder Interesse des Betrachters zu diesen bestimmen oder verändern, die Aufmerksamkeit auf das Bild selbst, auf einen Bildausschnitt oder einzelne Details lenken, die gedankliche Verarbeitung und Speicherung der Information beeinflussen. Werden die Gedanken der Empfänger durch sprachliche Hinweise bereits vor der Wahrnehmung eines Bildes in eine den Bildinhalt betreffende Weise gelenkt, so wird die Aufnahme und Verarbeitung des Bildes erleichtert (Priming-Effekt). Wird der Text ergänzend zum Bild konsumiert, so wird zuerst der mögliche Interpretations- oder Assoziationsspielraum eingeschränkt (Labeling). Eine Wanderin oder Spaziergängerin auf einem Wiesen weg, der in den blauen Horizont hineinführt, kann sportliche Gefühle oder Natureindrücke bzw. -erlebnisse vermitteln. Zusammen mit dem Text 'Wir machen den Weg frei' gewinnt der Betrachter den Eindruck, das Bild vermittle persönliche Unabhängigkeitsgefühle und solche der Freiheit, was der Auftraggeber, die Deutschen Genossenschaftsbanken, intendiert. Dies an sich 'offene' Bild wird in seiner Aussage eingeengt, präzisiert, in seiner Aussage für den Betrachter 'verständlich'. Der Text zwingt dem Betrachter seine Ausdeutungsmöglichkeit auf. Erleichtert werden Bildverständnis und Erinnerungsmöglich keiten. Ein das Bild begleitender Text kann als 'Rahmen' (Frame) betrachtet werden, der den Bildinhalt zur Geltung bringt. Hat ein Bild keinen Text-Rahmen, so spricht man in der Werbeforschung von einem 'ungerahmten' Bild. Wird ein solches Bild verwendet, so ist die Werbebotschaft entweder im Bild enthalten, braucht also keine Interpretation, oder die Werber nutzen nicht die Möglichkeit, über den Text die visuelle Wirkung zu steigern. Gerade bei der Voraussetzung für das Plakat, nur flüchtig betrachtet zu werden, ist die präzise Abstimmung von Bild und Text dringendst erforderlich. Eine exotische Landschaft als Bildhintergrund mit einem darin integrierten Marmeladenglas oder einem Auto wird sofort verständlich, wenn der Betrachter den Text liest. „Schmeckt verboten nach Paradies" (Zentis Fruchtaufstrich) bzw. „Made in Paradise" (Renault Clio).

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XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

Ist der Text umfangreicher gehalten, so ist es wichtig, daß er eine redundante Wiederholung der bildlichen Aussage enthält, oder daß es zumindest Überlappungen zwischen der bildlichen und der textlichen Aussage gibt. Korrespondiert der Text nicht mit dem Bild, so konzentrieren sich die Betrachter vor allem auf das Bild und ignorieren den Text, werden also bei der Bildauswertung nicht unterstützt. Besonders, wenn anschauliche Bilder von zu abstrakter Information begleitet werden, bleibt letztere meist unbeachtet. Von einem abstrakten Begriff, Satz oder Text gilt es, Brücken zum Bild zu schlagen. Zeigt das Bild einen Mann, der dem Betrachter seine durchlöcherten Schuhe präsentiert, so gibt der Begleittext „Ich geh' meilenweit für eine Camel" (Slogan der Zigarettenmarke Camel) die Assoziierungsmöglichkeit, daß das 'meilenweit Gehen' durch den Zigarettengenuß belohnt werde. Einprägsam wird Plakatwerbung dann, wenn neben ausdrucksstarken 'sprechenden' Bildern auch eine ausdrucksstarke bzw. bildhafte Sprache verwendet wird. Bildhafte Sprache kann innere Bilder erzeugen, sie kann, länger innerhalb einer Werbekampagne oder mehrerer Kampagnen eingesetzt, bildliche Vorstellungen von einem Produkt, einer Marke, einer Partei oder ihren Politikern verfestigen. Gleichbleibende 'Schlüsselformen' prägen ebenso wie Schlüsselbilder eine Marke, die als einprägsamer Nenner bei den Konsonanten immer wieder aktiviert wird. Es müssen längerfristig immer wieder die gleichen grundlegenden Werbebotschaften vermittelt werden. Das ist besonders wichtig bei einem gesättigten Markt, bei dem die Produkte und Dienstleistungen weitgehend austauschbar sind.

5.

Plakatkunst

Neben der informierenden und zu einer Handlung anreizenden Funktion wird dem Plakat auch eine solche des den Betrachter emanzipierende, ästhetisch bildende und gesellschaftliche Widersprüche scheinbar versöhnende zuerkannt. Neben dem Anspruch auf Massenwirksamkeit und Allgemeinverständnis wohnt dem künstlerisch orientierten Plakat inne, Individualität auszudrücken. In der Koexistenz mit der Wirtschaft, mit den Parteien oder allgemeiner mit allen Auftraggebern entwickeln die Plakatgestalter ein produktives Kreativitätspotential, das auch

von der Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte nicht übersehen wird. Erkannt wird, daß die Werbung immer schon ihr Material aus den Traditionen der Pathosformeln und Prägungen, der Figurenbildungen und Rahmenthemen, der vielfaltig für Anwandlungen offenen Konzeptionen und Bilder holte. Die Werbung macht für ihre Zwecke verfügbar, was in anderen Kontexten und mit anderen Bedeutungsabsichten gefertigt oder formuliert wurde. Spätestens mit der Pop Art verschwindet die Möglichkeit, Grenzen zwischen der Kunst und der Werbung zu ziehen. Etwa bei Michael Schirner hat die Übernahme der avanciertesten Ideen der Konzeptkunst Methode. Schirner propagiert, die Werbung sei die wahre Kunst der Gegenwart. Damit wird die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufgehoben. Dem Werber gehe es darum, die Vermitteltheit, die wechselseitige Verbindung, die Permanenz sich verzahnender, sich überlagender und verknotender visueller und sprachlicher Zeichen wahrnehmbar zu machen. Die Plakatwände in den Straßen sind für Schirner Kunst, „die ausgestellt wird in dem Museum, das alle zehn Tage mit einer neuen Ausstellung eröffnet wird [...] Das Schöne an dieser Kunst ist, daß sie für alle Leute gemacht wird, daß sie jedem etwas sagt, daß sie hilft, schöner zu essen, zu wohnen, zu waschen. Die Kunstwerke sind immer modern. Sie haben keine Zeit zu veralten, weil sie alle zehn Tage neu überklebt werden. Der flotte Wechsel macht sie zu der modernsten Kunst, die es gibt" (Schirner 1988, 19). Das Medium des Plakats ist die Außenwelt, die Umgebung, in der es aufgestellt oder aufgehängt wird. Wollen Plakate in einer Umgebung auffallen, die sich ihnen immer stärker nähert, weil die Städte zu Bilderlandschaften geworden sind, so müssen Bild, Text und die Relation zwischen beiden reduziert werden. Wenn das Straßenbild voll glatt und heiß ist, muß das Plakatbild leer, rauh und kalt sein. „Plakat ist nahezu null Information." Das Machen von Plakaten sei „Wegnehmen, Eindampfen, Einschrumpfen, Gefriertrocknen empfohlen [...] Die Instant-Natur des Plakats komme dabei raus. Ein heißes Werbefoto und das Bild von einem Plakat haben ungefähr so viel Ähnlichkeit wie eine Tasse Kaffee und ein Löffel Kaffeepulver. Plakate sind instant. Was beim Kaffee das Wasser, ist beim Fotografieren das Fleisch oder die Umgebung, die wir wegnehmen. Mit der Umgebung fällt der Hintergrund weg, mit dem Hintergrund die

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Tiefe, mit der Tiefe der Raum, mit dem Raum alles, was drin ist, einschließlich der Stimmung des Bildes. Vom Foto bleibt dann nicht mehr oder weniger übrig als eins: ein Glas oder eine Hose oder ein Reifen. Es steht auf Weiß, flach, ausgeschnitten, herausgenommen, ausgegrenzt. Je kleiner das Abgebildete, desto größer kann die Abbildung sein. Und je alltäglicher der Gegenstand, desto aufregender ist die Vergrößerung. Die Texte auf den Plakaten sind noch reduzierter als die Bilder. Plakattexte werden nicht geschrieben, sondern das Gegenteil von geschrieben: gefeilt, weggestrichen, ausradiert, solange ausgedünnt und ausgemagert, bis nur noch das Skelett oder der Schatten oder der Schatten des Schattens bleibt. Eigentlich ist es geschmeichelt, wenn man bei Plakaten von Texten redet. Meist sind es nur Wörter. Sounds of Silence. Sie können einen erstaunlichen Lärm machen [...] Plakattexte sind keine Texte zum Lesen, sondern zum Sehen. Sie müssen auf einen Blick und als Ganzes erfaßt werden können. Plakattexte müssen Bilder sein. Textbilder. Viele unserer Plakattexte haben eine Bildstruktur oder eine Textstruktur: 'Der Käfer der Käfer', 'Der Welt Meister', 'VW, VW, VW, VW', 'Liebe Sekretärin', 'Taille 59, Hüfte 88, Creme 21', 'Bau, Steine, Erden. Conti', 'Rrrmm, Brrmm, Wrrmm. Conti'. Nicht nur Bild und Text, auch die Beziehungen, die sie zueinander haben, können reduziert werden. Zwei Beispiele für reduzierte Bild-Textstrukturen oder Aussagemechanismen möchte ich geben: Aus ein und demselben Bild kann man hundert verschiedene machen, man muß nur zu dem gleichen Bild einen jeweils anderen Text schreiben. Jeder neue Text gibt dem Bild eine neue Bedeutung. Aus ein und demselben Text kann man hundert verschiedene machen, man muß nur jeweils andere Bilder dazu setzen. Jedes neue Bild gibt dem Text eine neue Bedeutung." Je weniger Ausdrucksmittel ein Plakat besitzt, umso mehr aktiviert es bei den Betrachtern Beteiligung und Engagement. „Der Rezipient oder Konsument wird zum Produzenten der Werbung." Es macht es umgekehrt wie der Werber. „Alles, was wir weggenommen haben fügt er in Gedanken dazu. Er nimmt am kreativen Prozeß teil. Reduzierte Plakate sind Do-it-yourself-Plakate" (Schirner 1988, 23f.). Mit seinen Plakaten von Aidstoten, Mafiaopfern, der blutgetränkten Kleidung eines toten bosnischen Soldaten usw. hat der italienische Fotograf Oliviero Toscani einen ehe-

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mals unbekannten Strickwarenhersteller aus dem Hinterland von Venedig zu einer der fünf bekanntesten Marken der Welt emporgeworben. Toscani verwendet für seine Benetton-Kampagnen nicht nur eigene Kunstfotos, sondern auch solche, die die Firma ankauft. So stammt das Bild des sterbenen Aids-Kranken von der Künstlerin Therese Frare, das im 'Life-Magazin' zuerst erschien, dann mit einem Fotopreis ausgezeichnet in einer Ausstellung in Amsterdam präsentiert wurde. Erst dann wurde es von Toscani ausgewählt und mit dem Firmen-Logo U N I T E D COLORS O F BENETTON versehen, weil es im Rahmen der Kampagne die Gesellschaft und die Menschen in ihr in extremster Weise auf Krieg, Tod und Krankheit aufmerksam machen kann. Provoziert wird bei den umworbenen Jugendlichen eine Anti-Haltung gegenüber gesellschaftlichen Traditionen. Für die Plakate hat Toscani eine ähnliche Devise wie Schirner: „Sie sind immer sehr einfach, denn alles andere ist nebensächlich". Ein besonderer Stellenwert kommt in der deutschen Plakatszene den Arbeiten des Münchner kreativen Doppel Pierre Mendell und Klaus Oberer zu. Ihre Arbeiten haben internationalen Rang und hängen als 'Collection Pierre Mendell' im Museum of Modern Art in New York. Die Plakate sind klassisch, kühl, zeitlos und reduziert auf das Wesentliche gestaltet. Auch hier ergibt die hochentwickelte Kunst des Weglassens die expressive Kraft der Aussage. Durch die fehlenden Teile wird ein Vakuum erzeugt, das das Interesse des Betrachters ansaugt und ihn zur Auseinandersetzung mit dem Thema motiviert. Das Plakat eröffnet den Dialog mit einem möglichen und erwünschten Partner, bemüht sich als Kunstform intensivst um den Rezipienten oder Konsumenten. Es ist die höchste Fähigkeit des Plakatkünstlers, komplexe Botschaften in komprimierter Form exakt und doch allgemeinverständlich zu vermitteln. Kunstplakate bieten sich an als kostenlose Schule des Sehens. Sie tragen zur ästhetischen Sensibilisierung und Erziehung einer breiten Öffentlichkeit bei. Sie erfüllen die so häufig gestellte Forderung, den Elfenbeinturm der Museen und Galerien zu verlassen und die Kunst auf die Straße zu bringen. Indem gute und künstlerisch gestaltete Plakate sich nicht anbiedern, sondern fordern, öffnen sie dem Betrachter neue Wege des Sehens und Verstehens, bringen Menschen mit Kunst und Ästhetik in Verbindung, die sich sonst damit nicht auseinandersetzen.

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6.

XLI. Mediengegenwart VII: Plakat I: Kommunikative und ästhetische Analysen

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Plakatkunst

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Berlin

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Erich Straßner, Tübingen

(Deutschland)