Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich: Verfassungsrechtliche Infiltrationshindernisse und Übertragungsschranken in der Europajudikatur französischer Gerichte [1 ed.] 9783428492510, 9783428092512

Der Autor analysiert - anhand einschlägiger Gerichtsentscheidungen und der rechtswissenschaftlichen Literatur - die Entw

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Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich: Verfassungsrechtliche Infiltrationshindernisse und Übertragungsschranken in der Europajudikatur französischer Gerichte [1 ed.]
 9783428492510, 9783428092512

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Schrüten zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten Band48

JAN HECKER

Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich

Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich Verfassungsrechtliche Infiltrationshindernisse und Übertragungsschranken in der Europajudikatur französischer Gerichte

Von

JanHecker

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Hecker, Jan:

Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich : verfassungsrechtliche Infiltrationshindernisse und Übertragungsschranken in der Buropajudikatur französischer Gerichte I von Jan Hecker.- Berlin: Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 48) Zug!.: Göttingen, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09251-1

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Peinted in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-09251-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Für meine Eltern Klaus und Ursula Hecker

Vorwort Diese Arbeit lag dem Juristischen Fachbereich der Universität Göttingen im Sommersemester 1997 als Dissertation vor. Sie wurde angeregt und betreut von Herrn Prof. Dr. Volkmar Götz. Ihm möchte ich für seine Mühen sehr herzlich danken. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem Zweitberichterstatter im Promotionsverfahren, Herrn Prof. Dr. Andreas Sattler. Weiterhin danke ich Herrn Prof. Dr. Norbert Sirnon für die Aufnahme in das Verlagsprogramm, den Professoren Dr. Siegfried Magiera und Dr. Detlef Merten für die Aufnahme in die Schriften zum Europäischen Recht sowie der Stiftung Gottfried Michelmann für die Gewährung einer Druckbeihilfe. Für ihre freundschaftlichen Hilfen bei der Beschaffung von Literatur bzw. bei der Korrektur danke ich sehr Jennifer Emmerich, Lutz Gehrmann, Levin Holle und Kurt-Christian Scheel. Während des Zeitraums, in dem die Arbeit angefertigt wurde, haben mich vier Personen begleitet, an die ich bei dieser Gelegenheit besonders denke. Mein Bruder, Michael Hecker, war mir ein Ratgeber und Gesprächspartner, wie ich ihn mir besser nicht wünschen konnte. Wo die Arbeit gelungen ist, ist dies auch auf seine Hilfen zurückzuführen. Dorothea von der Wense hat mir durch ihre Zuwendung in sehr lieber Weise den Rücken gestärkt. Meine Eltern, Ursula und Klaus Hecker, standen mir mit jener ungewöhnlichen Anteilnahme und Fürsorge zur Seite, mit der sie ihre Söhne seit jeher begleiten. Sie waren hierdurch ebenso präsent wie durch ihre gelegentlichen - gegen Ende nachhaltigeren - Erkundigungen nach dem Datum der Fertigstellung, um dessen Eintritt sie sich freilich durch eigene Korrekturbeiträge mitbemüht haben. Ihnen die Arbeit zu widmen, ist mir daher eine Freude. Berlin, August 1997

Jan Hecker

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

1. Gegenstand der Arbeit 0.. 0000 00 000o0000 000o00000.. 000o0000000 000000.. 00000000000.. 00 00000.. 000 000000000 17 20 Methode oooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooOooOOOOOOoooooOOOoOOoOooooooooooooooooo 19 30 Gliedenmg oooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooOOOOOO 21 1. Kapitel

Europäische Integration als Verfassungsproblem in der Rechtsprechung der einfachen Gerichte: Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem jüngeren nationalen Gesetz

23

I. Überblick 0000 00 00 0000 00 0000 00 00 00 00000 oo 00000000 0000Oo oo00ooo 00 00 00 00 00 0000000000000000000000000000000000000000000

23

llo Ausgangsbedingung: Die Doktrin der "souverainete de la loi" oOoooOooooooo.·o····o·o

29

1. Die Lehre vom Gesetz als Ausdruck der volonte generale 00000000000000000.0.0.0000 20 Niederschlag in der Rechtsprechung französischer Gerichte 0000000000000000000000 a) Ausschluß der Verfassungskontrolle des Gesetzes: Die ,,Arrighi"Entscheidung von 1936 ooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo.oooo b) Ausschluß der Vertragskontrolle des Gesetzes: Die Entscheidung "Sanchez Co Consorts Gozland" von 1931 ooooooo..o.. ooooooooooooooooooo 00000000000000. c) Nachfolgende Entscheidungspraxis oooooooooooooo·······o...oooooooooooooooooooooo..o.ooooo

29 32

35 38

Illo Verweigenmg des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht vor dem jüngeren nationalen Gesetz: Die "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968 ooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo

43

lo Sachverhalt oooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo 20 Urteil und Schlußanträge der Commisaire du Gouvernement 000000000000000000000 30 Analyse •ooooooooooooooooooooooooooooo•o•oooooOOoooooooooOOoooooooooo:o.o•oooooooooooooooooooooooooooooo•o•ooooo a) Die Gleichstellungsthese Questiaux' 0000000000 oooo. ooooooooooooooooooooooooooooo.oooooooooo b) Das Festhalten an der Doktrin der "souverainete de la loi" 00000000000000000000 c) Gemeinschaftsrechtliche Problemebene OOOOooOOooooOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOoOOO d) Resurne .o.oooooooooooooooooooooooooooo.o.ooooooo.o.ooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo.ooooooo

43 44 48 48 49 52 55

IV. Die Wende in der ordentlichen Gerichtsbarkeit: Die "Jacques Vabre"Entscheidung der Cour de Cassation von 1975oooooooooooooooooooooooooooooooooooooo···oooO•oo

57

1. Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 150 1. 1975 0000 000000000000

57

33

Inhaltsverzeichnis

10

2. Die Reaktion der Cour de Cassation und ihres Procureur General ....... ....... 3. Resurne ........................................................................................................

59 63

V. Beharrung und erste Aufweichungserscheinungen: Die Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975 ................................................................................

64

1. Die unmittelbare Reaktion auf die Entscheidungen von Conseil Constitutionnel und Cour de Cassation: Die Europawahlentscheidungen des Conseil d 'Etat von 1979 ........................................................................... ......... 2. Rechtfertigungsversuche des Conseil d'Etat ............................................... 3. Zunehmende Isolierung des Conseil d'Etat ................................................. 4. Die Entscheidungen des Conseil d'Etat vom 13. 12. 1985 und vom 19. 11. 1986: Konfliktininimierung durch Ausdünnung der Direktionswirkung des Gesetzes .. .. .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. ... .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .... .. .. .. .. .. . 5. Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Direktwirkung von Richtlinien . 6. Die Entwicklung der Vorlagepraxis .............................................................

64 66 68 72 74 78

VI. Die Wende des Conseil d'Etat: Die ,,Nicolo"-Entscheidung von 1989 ...........

83

1. Sachverhalt und Urteilstext ......................................................................... 2. Die Anträge des Commissaire du Gouvernement ........................................ 3. Die Lage nach der ,,Nicolo"-Entscheidung .................................................

84 85 93

VII. Resurne .. ... .... ........ .. ................................. .. .... .. ............ .. .. ......... .......................

96

2. Kapitel

Europäische Integration als Verfassungsproblem in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel: Prüfungsvorbehalte gegenüber bestehendem Gemeinschaftsrecht sowie verfassungsrechtliche Grenzen der Integration

100

A. Kontrollzuständigkeiten des Conseil Constitutionnel (unter besonderer Berücksichtigung von Prüfungsvorbehalten gegenüber bestehendem Gemeinschaftsrecht) ............................................ ........................................... 100 I. Überblick.......................................................................................................... 100

li. Kontrollobjekte

104

1. Europäische Konstitutivakte als "engagements intemationaux" gemäß Art. 54......................................................................................................... 104 2. Zustimmungsgesetze und Gesetze zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen (Art. 61) .................................................................... 110 3. Resurne ........................................................................................................ 115 III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht).......

117

1. Regulierung der Kontrollreichweite durch das Prinzip der "incontestabilite" bestehender Gemeinschaftsnormen .. .. .. ... .. .. .. .. ... .. .. .. .. ... .. .. .. .... .. .. .. ... 11 7

Inhaltsverzeichnis a) Die grundsätzlich präventive Ausrichtung des französischen verfassungsgerichtlichen Kontrollsystems - Prinzip der "incontestabilite'' von Gemeinschaftsnormen .. .. .. .. ....... .. ...... .... ... .. ... ............ ... .... ....... . b) Die grundsätzliche Bekräftigtmg des Prinzips der "incontestabilite" in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel ...................... ...... .... c) Ansätze einer systemwidrigen a-posteriori-Prüfung von Gemeinschaftsnormen in Entscheidungen des Conseil Constitutionnel .. ......... aa) Entscheidung zum Einnahmenersetzungsbeschluß bzw. Haushaltsändertmgsvertrag (1970) .......... ........... ..... ........... ........... bb) Direktwahl-Entscheidung ( 1976) . ...... .... ...... .... ............... ... ........ .. cc) Isoglukose- bzw. Milch-Entscheidungen (1977) .. .............. dd) EWS-Entscheidung (1978) .............. . .. ...... ............ .. ......... .... ...... ee) Mehrwertsteuer-Entscheidung (1978) .................................. ... .... .. fi) Alkoholabgaben-Entscheidung (1980) .. ................................ gg) Entscheidung zum Öffentlichen Dienst (1991) .. .. .. .. .. .. .. ...... .. . hh) Maastricht I-Entscheidung (1992) ..... ...... ... ... ...... ............... ....... 2. Reguliertmg der Kontrollreichweite durch die Rechtskraft früherer Entscheidungen (Maastricht TI-Entscheidung von 1992) .... .......... ..

11

117 11 9 121 121 123 127 130 132 133 136 139 144

IV Bewertung ............ ... ... ...... .. ............................... .. .. .. .......... .... .......

146

Exkurs: Verfahrensfragen ......... .. .. .. .. .......... .. ........... ................... ........... .. .. .. .....

152

1. Antragstellung .. .. .. .. .. .. .. .. ... ..... .... .... .. .. .... . .. . .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. a) Antragsberechtigte ...... ............................ ............... ................ b) Antragsfrist .. .. ..................................... ... ...... .. ....... .. ..... ., ... ....... .. ...... .. .. .. .. ...................... ......... aa) Art. 54....... .. .... ....................... bb)Art. 61 . ............................................ ... .. ... ........................ ...... ... c) Antragsinhalt ............ ................................... .... .. .......... .. .......... ...... .... 2. Verfahrensablauf. ....... .... .... ............... ...... .......... .......................... .. .. 3. Entscheidungsinhalt ...... .. ... .. ........................... .... ........ .... ......... .. ............. a) Aufbau der Entscheidung.. ........................ .... .. .......... .. .................. .. .. b) Entscheidungsergebnis ............................ ............................. . c) Erhöhung der Verwerfungsschwelle? ....... ............................... ... ........ .

152 152 154 154 155 156 157 159 159 162 164

B. Inhalt der Übertragungskontrolle durch den Conseil Constitutionnel (verfassungsrechtliche Grenzen der Integration) .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. 165 I. Einführung

1. Das Prinzip der nationalen Souveränität .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 2. Die Integrationsermächtigtmg des Abs. 14 der Präambel von 1946 .. .. .... .. 3. Frühe Diskussionen in der Literatur.. ................................................. ..... 4. Überblick über die Judikatur des Conseil Constitutionnel ............... ........ II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragtmgsgewa1t .......... ... .....

165 166 169 170 174 178

12

Inhaltsverzeichnis 1. Das Prinzip der nationalen Souveränität ... .... .. .. .................. .. ....... ......... .. a) Die Vor-Maastricht-Judikatur ............ ... ...... ................... ......... ... ........ aa) Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel von 1970 . ..... ........ ( 1) Vorgeschichte ... .. ....... ...... ... .................... . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . (2) Der Text der Entscheidungsgründe ........... ... ................ . (3) Erster Analyseschritt Art. 3 der Verfassung und Absatz 14 der Präambel von 1946 als exklusive Maßstabsnormen tlir Übertragungsakte .......................... . ............................. .. ....... . (4) Erste inhaltliche Konkretisierungen der Übertragungsschranken ........ ............................... ..... .......................... ......... (5) Bewertung ..................................... ..... .... ........................ ........ bb) Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel von 1976 .... .. ..... .. . ( 1) Vorgeschichte ... ............................. . ............................... ........ .. ........................ ......... . (2) Die Entscheidungsgründe ...... (a) Unterscheidung zwischen "transferts" und "limitations" der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Dissoziierung von Wahlmodus und Souveränität ....... ( c) Keine Maßstäblichkeit des innerstaatlichen Organisationsrechts ............. ... .... .. .. ... .... ..... . .... ...................... ..... .......... (d) Maßgaben des Grundsatzes der "indivisibilite de la Republique" ........................... . ....... .. ............... .. (3) Folgerungen ....... .............. ... ...................... ........ .. .. ... . (a) Strukturelles Element der "transfert-limitation"- Formel: Das Postulat einer interetatistischen Gemeinschafts.... .............................. . struktur ....... .. ................... (b) Verbandskompetenzielles Element der "transfert-limitation"-Formel ............... ....... .. . ........ ......... ... ........... ........ (4) Bewertung ..... ... ............................ .. .... .. . .............. .. ...... ... ..... .. cc) Resurne der Vor-Maastricht-Judikatur ...... .................................. .. b) Die aktuelle Fassung des gerichtlichen Souveränitätskonzepts: Die Maastricht I-Entscheidung von 1992 .......... .. ..... ............................... .. aa) Vorgeschichte ...... ....................................... ................ .......... ... ... .. bb) Die Entscheidungsgründe ................... .. ..................... ........ ... ........ ( 1) Die ,,normes de reference" der Prüfung (EG 9-15) ....... .. .. ... ... (2) Die Gegenseitigkeitsprüfung (EG 16) .............................. ....... (3) Das kommunale Wahlrecht tUr EG-Ausländer (EG 21-27) ...... (4) Das Wohnortprinzip beim Wahlrecht zum Europäischen Parlament (EG 28-35) ........................................ .......... .... ...... (5) Die Wirtschafts- und Währungsunion (EG 36-45) .... ........ ....... (6) Die gemeinsame Visapolitik (EG 46-50) ................... ..... ......... cc) Folgerungen .......... ......... ................ ...... ............................ .. ..... ... . (l) Abstufung der verbandskompetenziellen Elemente der Übertragungssehranken .............................. .................... .... .. (2) Abrnilderung des Postulats einer inter-etatistischen Gemeinschaftsstruktur .. .. ........................... .. ............. ... .. .. .. ...... ... ....... (3) Herausbildung von Schranken gegenüber Eingritfen in interne Organisationsstrukturen ... ....... ............. .... ..................... .... ...... dd)Bewertung ............... .. ............... ... ........... .... .. ....... ............... .........

178 178 178 178 179 180 184 187 188 188 190 190 191 193 193 195 195 200 202 207 209 209 212 213 215 216 219 221 223 224 225 22 9 232 233

Inhaltsverzeichnis 2. Die Wahrung der Grundrechte................................ ................. .. .... ...... .. a) Die Vor-Maastricht-Judikatur ................ ..... .. .. .. .................. ..... .. .... .. .. b) Die Maastricht I-Entscheidung .. .. ... ... .. .. ... .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. c) Resurne .... .. .. .. .. .. ... .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... ... .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .... ... ...... .. 3. Die neuen Europa-Artikel in Titel XIV der französischen Verfassung ...... a) Die Verfassungsänderung im Anschluß an die Maastricht I-Entscheidung des Conseil Constitutionnel .. .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . b) Die neuen Europa-Artikel in der Maastricht li-Entscheidung des Conseil Constitutionnel ........ .......... ..... ...... .. ... ... . c) Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel zum neuen Statut der Banque de France (3. 8. 1993) ......... .. .. .. ..... .... ........ .. ... d) Folgerungen. ... .... ........ ..... .. ..... ... ........ .. .. .. . ....... ............. . ......... ...... .

III. Schranken der verfassungsändernden Übertragungsgewalt? ...................... .

13 237 237 241 244 245 246 249 252 254 257

1. Der Diskussionsstand in der Literatur .. .. ... .. ... .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. . 257 2. Die Stellungnahme des Conseil Constitutionnel in der Maastricht liEntscheidung .................. .. ..... .. .... ... .............. ........................

IV Resurne ......................................................................... .................... .........

262

265

Gesamtbetrachtung

270

Anhang: Text und Übersetzung der wichtigsten Verfassungsbestimmungen

275

Entscheidungsregister

281

Literaturverzeichnis

285

Sachregister

298

Abkürzungsverzeichnis a.A.

AFDI AUC

AJDA AöR Art. Aufl. Bd. BVerfG

CAA

Cass.

cc

CDE CE

CEA CECA CEE CMLR D DÖV

DRiZ DVBl.

ECU EDCE EEA EG EGKS EGV

EMRK

EP EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EVG EWG EWGV

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Abkürzungsverzeichnis EWS FN. FS GazPal GG GS Hg. JCP

JDI J.O.

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15

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Einleitung I. Gegenstand der Arbeit

Die vorliegende Arbeit behandelt einen Ausschnitt des Verhältnisses zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und französischem Recht. Ihr Thema ist dabei in zweifacher Weise eingegrenzt. Sie beschränkt sich zum einen auf Verfassungsprobleme europäischer Integration. Außen vor bleiben damit Fragestellungen, die auf das Zusammenspiel von Gemeinschaftsrecht und einfachem französischen Recht bezogen sind 1• Die Konzentration auf europäische Integration als Problem fiir die französische Verfassung bedeutet zum anderen eine Aussparung von Bereichen, in denen die Interaktion zwischen nationaler und gemeinschaftlicher Sphäre rechtlich störungsfrei verläuft2• Es soll nicht global das "Verhältnis" zwischen Verfassung und europäischer Integration beschrieben, sondern ausschließlich Konfliktpunkte beleuchtet werden. Vom französischen "Europaverfassungsrecht"3 wird somit nur derjenige Abschnitt behandelt, der zu rechtlichen Spannungen im Verhältnis zur Gemeinschaft gefuhrt hat. Allgemein lassen sich solche Spannungen danach systematisieren, ob sie auf der "Infiltrations"- oder auf der "Entwicklungsebene" auftreten. Auf der Infil1 Etwa die Frage, inwieweit das französische Verfahrensrecht dem (indirekten) Vollzug von Gemeinschaftsrecht Probleme bereitet. Solche Probleme besitzen im Regelfall keine verfassungsrechtliche Dimension. 2 Dies betrifft beispielsweise die Einbindung des nationalen Parlaments in die europapolitische Regierungsaktivität Seit 1992 enthält die französische Verfassung hierzu eine Regelung (Art. 88-4). Die durch sie festgelegten Konsultationsbefugnisse der Kammern fuhren aber nicht zu rechtlichen Reibungspunkten im Verhältnis zur Gemeinschaft. Die Konzentration auf die konfliktuellen Aspekte des Verhältnisses von Verfassung und Integration bringt desweiteren mit sich, daß die auch auf Ebene des Verfassungsrechts virulente Thematik der zunehmenden Ausrichtung nationaler Rechtslösungen - außerhalb des Bereiches, der das Verhältnis zur europäischen Integration steuert - an europäischen Modellen außen vor bleibt. Zu solchen Rückwirkungsprozessen J. Schwarze, Die europäische Dimension des Verfassungsrechts, FS Everling, Bd. 2, Baden- Baden 1995, S. 1355 ff. (speziell zu FrankreichS. 1365 ff.). 3 Vgl. zur Begrifflichkeil P Häberle, Europaprograrnme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe - der Ausbau von nationalem "Europaverfassungsrecht", FS Everling, Bd. I, Baden - Baden 1995, S. 355 ff.

2 Hecker

18

Einleitung

trationsebene ergeben sich Spannungen aus Verfassungsnorrnen, die Hindernisse gegenüber der innerstaatlichen Durchsetzung des bereits erreichten Integrationsstandes (d. h. der Infiltration von Gemeinschaftsnorrnen) bilden. Dies ist etwa der Fall, wenn das mitgliedstaatliche Verfassungsorganisationsrecht die (einfachen) Gerichte einer unbedingten Bindung an das nationale Gesetz unterwirft und ihnen hierdurch die Anwendung gesetzeswidriger Gemeinschaftsnormen untersagt, oder wenn ein nationales Gericht das Recht zur Prüfung (und ggf. Verwerfung) von Gemeinschaftsakten am Maßstab der Verfassung beansprucht. Auf der Entwicklungsebene ergeben sich Spannungen aus Verfassungsnorrnen, die Hindernisse für ein (primärrechtliches) Fortschreiten der Integration bereiten, d.h. eine Mitwirkung des Mitgliedstaats an bestimmten Vertragsänderungen untersagen. Hier setzt die nationale Verfassung der staatlichen Übertragungsgewalt Schranken, und zwar entweder relative Schranken (soweit sie an die einfachgesetzliche Übertragungsgewalt adressiert sind) oder absolute Schranken (soweit sie auch fUr die verfassungsändernde Übertragungsgewalt gelten). Auf der Infiltrationsebene stellt sich also die Frage nach der verfassungsrechtlichen Toleranz gegenüber dem Anwendungsvorrang von Gemeinschaftsrecht, während sich auf der Entwicklungsebene die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der lntegration4 stellt. Die vorliegende Arbeit orientiert sich gedanklich an diesem Systematisierungsmuster5. Sie behandelt beide Ebenen und versucht auf diese Weise, zu 4 Als "Integration·' in diesem Sinn ist nur die Erweiterung des Primärrechtsbestandes gemeint. Es wäre möglich, auch das Voranschreiten der Sekundärlegislation (oder so-gar der Direktanwendung von Vertragsregeln) als Integration zu bezeichnen, mit der Folge, daß verfassungsrechtliche Infiltrationshindernisse ebenfalls als "verfassungs-rechtliche Grenzen der Integration" erscheinen. Aus Gründen systematischer Klarheit müßte aber auch hier sachlich zwischen Infiltrations- und Entwicklungsebene unter-schieden werden. Sowohl aus Sicht des nationalen Verfassungsrechts wie auch des Gemeinschaftsrechts bestehen auf beiden Ebenen gänzlich verschiedenartige Problemlagen und Ordnungsbedürfnisse. Eine sachliche Verknüpfung beider Ebenen kann nur dann eintreten, wenn es um "ausscherende Akte" geht. Hier ist es möglich, daß das nationale Verfassungsrecht den Gemeinschaftsakt perspektivisch von der Entwicklungsebene her betrachtet und mit ihm die verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen als überschritten ansieht (und zwar im Regelfall die formellen Grenzen, da der Ge-meinschaftsakt nicht mehr von der nationalen Zustimmung zur EG - Rechtsetzung gedeckt ist). Zu dieser Konstellation, die zu schweren Konflikten zwischen Gemeinschaftsrechtsordnung und nationaler Verfassungsrechtsordnung fuhren kann, siehe un-ten im zweiten Kapitel unter A., III., 1., c), cc).

5 Das sich im Verlauf der Arbeit noch weiter entfaltet; so wird etwa bei den Übertragungsschranken der Entwicklungsebene zwischen kompetenziellen Schranken (welche die Begründung neuer Gemeinschaftsbefugnisse in bestimmten Materien untersagen) und strukturellen Schranken (die Anforderungen an die interne Gemeinschaftsorganisation enthalten) zu unterscheiden sein.

Einleitung

19

einem in sich differenzierten Gesamtbild der "konstitutionellen Integrationsresistenz" Frankreichs zu gelangen. Dabei ist sie so angelegt, daß die konstitutionelle Integrationsresistenz nicht nur in ihrem heutigen Stand, sondern auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung abgebildet wird. Dies empfiehlt sich schon deshalb, weil die aktuellen französischen Verfassungsprobleme europäischer Integration zum größten Teil nur auf der Grundlage eines historischen Rückblicks sinnvoll erfaßbar und bewertbar sind. Durch den Einbezug der historischen Dimension läßt sich darüber hinaus nachzeichnen, an welchen Stellen das französische Verfassungsrecht mit der Zeit nachgiebiger geworden ist und wo sich auf der anderen Seite nationale Verfassungspositionen verhärtet haben oder auch ganz neue "Schmerzpunkte" aufgetreten sind. Die Ermittlung solcher verfassungsrechtlichen Perspektivenwandel ist nicht nur aus sich heraus aufschlußreich. Sie bildet auch den passenden Ansatz zur Untersuchung der maßgeblichen Faktoren filr die Herausbildung der heutigen Rechtslage. Die Arbeit will solche Faktoren (europäischer Integrationsdruck, allgemeine innere Verfassungsentwicklung, jeweilige integrationspolitische Meinungskonjunktur) aufdecken, sie so weit wie möglich in ihrer jeweiligen Bedeutung gewichten und so versuchen, zu einem tieferen Verständnis der Rechtsentwicklung zu gelangen.

2. Methode

Konstitutionelle Integrationsresistenz im hier interessierenden Sinn liegt dann vor, wenn sie sich in der Rechtsprechung der Gerichte manifestiert. Die französischen Verfassungsprobleme europäischer Integration waren und sind nur sehr begrenzt Folge einer bestimmten textlichen Fassung von Verfassungsvorschriften. Das französische Europaverfassungsrecht ist überwiegend Richterrecht Die vorliegende Arbeit orientiert sich daher an gerichtlichen Entscheidungen und versucht, diese zu analysieren. Sie stellt ihrer Anlage nach keine dogmatisch vorgehende Untersuchung dar, deren primäre Fragestellung darauf gerichtet wäre, wo und mit welchem Inhalt Verfassungsprobleme europäischer Integration nach Wortlaut, Systematik und Sinn der französischen Verfassung richtigerweise liegen sollten. Sondern es geht ihr um eine empirisch verfahrende Analyse der Judikatur. Dies schließt aber nicht aus, daß die gerichtlichen Entscheidungen hinsichtlich ihrer dogmatischen Stringenz bewertet oder auf ihren ideengeschichtlichen Untergrund hin befragt werden (wobei letzteres nur übersichtsartig geschehen kann). Ebensowenig schließt es aus, daß die angesprochenen rechtlichen wie außerrechtlichen Entwicklungsfaktoren, soweit sie sich in der Judikatur niederschlagen, herausgearbeitet werden.

2*

20

Einleitung

Schon an dieser Stelle ist auf eine bestimmte methodische Schwierigkeit hinzuweisen, mit der Rechtsprechungsanalysen in Frankreich in besonderem Maße konfrontiert sind: Französische Urteile werden äußerst knapp gefaßt, sind meist in einem apodiktischen bis kryptischen Stil geschrieben und beschränken sich streng auf die Angabe der tragenden Entscheidungsgründe. Die zugrundeliegenden juristischen Argumentationslinien werden von den Gerichten im Regelfall nicht aufgedeckt, sondern mehr oder minder nur das Entscheidungsergebnis bekanntgegeben. Der Leser ist daher vor weitaus höhere Interpretationsprobleme gestellt als bei deutschen Urteilen mit ihrer Tradition wissenschaftlicher Entscheidungsbegründung6 . Bei der einfachen Gerichtsbarkeit wird allgemein zum näheren Verständnis der gerichtlichen Positionen auf die Schlußanträge der Generalanwälte (bei der Cour de Cassation) bzw. der Regierungskornmissare (beim Conseil d'Etat) zurückgegriffen. Diese enthalten ausführliche, auch literarische Stimmen verarbeitende Erörterungen des jeweiligen Falles und gleichen damit die Verlautbarungsarmut der gerichtlichen Entscheidungsgründe ein Stück weit aus. Beim Conseil Constitutionnel fehlt eine vergleichbare Institution, so daß hier nur der Weg bleibt, den gerichtlichen Gedankengang aus der Urteilsbegründung selbst- und ihres Vergleiches zu Vorgängerentscheidungen - abzuleiten. Auch wenn sich hierbei zu einzelnen Punkten ein gewisses, zuweilen sogar überraschendes Maß an Aufschluß gewinnen !äße, bleiben die so gewonnenen Erkenntnisse doch in ihrer Mehrheit recht allgemeiner Natur und besitzen insbesondere einen stärker spekulativen Charakter als bei deutschen Entscheidungen. Dies spiegelt sich auch darin wieder, daß die französische Literatur (deren Umfang geringer ist als derjenige der deutschen Literatur zur grundgesetzliehen Problematik) in der Einschätzung von verfassungsgerichtlichen Urteilen häufig ein erstaunlich disparates, zuweilen auch recht diffuses Meinungsbild produziert. Viele Kornmentatoren verzichten gar ganz auf eine systematische Analyse des materiellen Entscheidungskerns und beschränken sich auf eine bloße Reproduktion der Entscheidungsgründe sowie was in Frankreich dank des methodisch weiteren Ansatzes der Verfassungsrechtswissenschaft8 stets sehr ausführlich geschieht - eine Schilderung des 6 Und auch vor höhere Interpretationsprobleme als bei Urteilen des Europäischen Gerichtshofs, deren Begründungsdichte zwar gleichfalls unterhalb derjenigen deutscher Entscheidungen bleibt, jedoch diejenige französischer Entscheidungen deutlich übersteigt. 7 Voraussetzung hierflir ist eine besondere Sorgfalt und Akribie in der Analyse des Wortlauts der Entscheidungen. Um die Untersuchung in diesem Punkt optimal nachvollziehbar zu machen, werden im folgenden französische Urteile bzw. Schlußanträge (und darüber hinaus auch einige sonstige Quellen) in der französischen Originalfassung zitiert (und die deutsche Übersetzung in einer Fußnote beigefligt). 8 Die französische Verfassungsrechtswissenschaft ist aufgrund einer anderen historischen Vorprägung nicht auf eine ,juristische Methode" fixiert und bezieht deshalb

Einleitung

21

politischen und verfahrensmäßigen Kontextes. Diese Rahmenbedingungen fuhren dazu, daß einige Aussagen über die Verfassungsproblematik europäischer Integration in Frankreich weniger konkret bleiben, als es wünschenswert wäre, und sich zuweilen in einer bloßen Richtungs- und Tendenzangabe erschöpfen müssen.

3. Gliederung Die Darstellung gliedert sich in zwei Kapitel. Im ersten Kapitel werden Verfassungsprobleme europäischer Integration behandelt, soweit sie in der Rechtsprechung der einfachen Gerichte 9 , mit der Cour de Cassation und dem Conseil d'Etat an der Spitze, aufgetreten sind. Das zweite Kapitel untersucht die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel. Diese Aufteilung korrespondiert bis zu einem gewissen Grad in inhaltlicher Hinsicht mit dem oben vorgestellten systematischen Schema. Auf Ebene der einfachen Gerichte, deren Aufgabe in der Normanwendung - auch europäischer Normen - liegt, hat die französische Verfassung Infiltrationshindernisse verursacht, also Resistenz auf der Infiltrationsebene bereitet. Insbesondere haben französische Gerichte sich lange Zeit gescheut, dem Gemeinschaftsrecht in Kollisionslagen mit einer nationalen Iex posterior den ihm gebührenden Vorrang einzuräumen. Die Entwicklung bis hin zur Auflösung dieses Verfassungsproblems durch das "Nicolo"-Urteil des Conseil d'Etat aus dem Jahr 1989 bildet den Gegenstand des I. Kapitels. In der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel, der präventive Normprüfungsbefugnisse besitzt - und zwar nicht nur gegenüber innerstaatlichen Gesetzen, sondern auch gegenüber völkerrechtlichen Verträgen - , hat sich vor allem Widerstand gegenüber integrationsvertiefenden Vertragsänderungen, also Resistenz auf der Entwicklungsebene aufgetan. Auf der Basis sehr allgemein gehaltener Verfassungsbestimmungen, zuvorderst der Festschreibung des Prinzips der nationalen Souveränität in Art. 3 und der Integrationsermächtigung in Absatz 14 der Präambel der Verfassung von 1946, hat der Conseil Constitutionnel eine stark rechtsschöpferische Judikatur zu den verfassungsrechtlichen stärker als die deutsche politikwissenschaftliche Aspekte mit ein. Symptomatisch hierflir ist, daß die meisten verfassungsrechtlichen Lehrbücher (und Vorlesungen) den Titel "Droit constitutionnel et institutions politiques" tragen. 9 Der Begriff der einfachen Gerichtsbarkeit ist in Frankreich unüblich. Entsprechend der deutschen Terminologie bezeichnet er hier die Gerichte aller Zweige außer dem Verfassungsgericht, dem Conseil Constitutionnel.

22

Einleitung

Grenzen der Integration entwickelt. Sie gipfelt im Maastricht I-Urteil vom April 1992, mit dem erstmals ein Übertragungsakt als verfassungswidrig eingestuft wurde und das daher erforderlich machte, vor Erlaß des Zustimmungsgesetzes zum Unionsvertrag die Verfassung zu ändern. Die Präzisierung der verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen durch die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel bildet den Gegenstand des Abschnittes B. im zweiten Kapitel. Nur in einer Hinsicht ist der Gleichklang zwischen Gerichtszweig und systematischer Problemebene gestört, nämlich insoweit, wie der Conseil Constitutionnel - wenn auch mit großer Zurückhaltung - bei Befassung mit Gemeinschaftsakten Kontrollansätze gegenüber schon bestehendem Europarecht herausgebildet, also zusätzlich auch auf der Infiltrationssebene gewirkt hat. Diese Rechtsprechung wird im Abschnitt A. des zweiten Kapitels untersucht, wo die Kontrollzuständigkeiten des Conseil Constitutionnel behandelt werden (und insofern zugleich auch der Grund fiir die nachfolgende Darstellung der Übertragungsjudikatur im Abschnitt B. gelegt wird).

1. Kapitel

Europäische Integration als Verfassungsproblem in der Rechtsprechung der einfachen Gerichte: Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem jüngeren nationalen Gesetz I. Überblick

Nach dem bloßen Wortlaut der Verfassungsbestimmungen zum internationalen Recht schienen in der französischen Republik an sich gute Voraussetzungen für ein störungsfreies Einfließen des Rechts der neugegründeten Europäischen Gemeinschaften zu herrschen. Die Verfassung der IV. Republik von 1946, welche bei lokrafttreten sowohl des Pariser Vertrages wie auch der Römischen Verträge in Geltung stand, enthielt einen eigenen Titel über "traites diplomatiques", dessen einleitende Bestinunung (Art. 26) ordnungsgemäß ratifizierten und veröffentlichten Verträgen eine "force de loi dans Je cas meme ou ils seraient contraires a des lois francaises, sans qu'il soit besoin pour en assurer l'application d'autres dispositions legislatives que celles qui auraient ete necessaires pour assurer leur ratification" zusprach 1• Hiermit bekannte sich die Verfassung in Übereinklang mit der mittlerweile in Frankreich dominierenden monistischen Lehre 2 zur Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge als solcher, d.h. zur Entbehrlichkeit staatlicher Transformationsvorschriften. Die Verträge sollten mit Veröffentlichung des Ratifikationsaktes und ohne formelle Inkorporation in die staatliche Rechtsordnung aus sich heraus Wirkungen entfalten und dabei als Träger einer "force de loi" jedwede gesetzliche Vorschrift des nationalen Rechts verdrängen können 3 • Den (hierdurch noch nicht präjudizierten4 ) Vorrang im Verhältnis zu später erlassenen Gesetzen ordnete Art. 28 S. I mit 1 "Gesetzeskraft selbst in dem Falle, daß sie innerstaatlichen französischen Gesetzen entgegenstehen sollten, und zwar ohne daß zu ihrer Anwendung andere gesetzgeberische Bestimmungen nötig wären als diejenigen, die gegebenenfalls zu ihrer Ratifikation erforderlich waren". 2 J. - P Niboyet, La Constitution nouvelle et certaines dispositions de droit international, D 1946, Chr., S. 89 ff., 90; J. Donnedieu de Vabres, La Constitution de 1946 et le droit international, D 1948, Chr., S. 5 ff., 6; C. Rousseau, Le regime actuel de conclusion des traites en France, FS Scelle, Bd. II, Paris 1950, S. 565 ff., 583 f. 3 J. Donnedieu de Vabres (FN. 2), S. 6. 4

J. Donnedieu de Vabres (FN. 2), S. 7.

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

24

den Worten an: "Les traites diplomatiques regulierement ratifies et publies ayant une autorite superieure a celle des lois internes, leurs dispositions ne peuvent etre abrogees, modifiees ou suspendues qu'a Ia suite d'une denonciation reguliere, notifiee par voie diplomatique" 5 (Herv. v. Verf.). Diese Formel von der "autorite superieure a celle des lois", welche die Verfassung von 19586 in ihrem Art. 55 übemahm 7, wandte sich gezielt gegen die Anwendung solcher nationalen Gesetze, durch deren Erlaß sich der Gesetzgeber in Widerspruch zu einem bestehenden völkerrechtlichen Vertrag gesetzt hatte. Zwar enthielt weder die Verfassung von 1946 noch diejenige von 1958 eine speziell dem Europäischen Gemeinschaftsrecht gewidmete Bestimmung (was bei letzterer durchaus verwundem konnte: denn 1958 hatte Frankreich bereits aus Anlaß des EVG-Projekts - eine erste Verfassungsdebatte über europäische Integration hinter sich gebracht, in deren Verlauf ein nicht unbeträchtlicher Klärungsbedarf zutage getreten war8 ). Das Verfassungsrecht vermochte vom Gemeinschaftsrecht trotz dessen Qualität als qualitativ neuartiger Rechtsmasse9 somit nur als Völkerrecht Notiz zu nehmen, mußte es in puncto Anwendbarkeit und Rang wie gewöhnliche völkerrechtliche Verträge behandeln. Aber angesichts der privilegierten Stellung, die Art. 26, 28 Verf. 1946 bzw. Art. 55 Verf. 1958 diesen Verträgen einräumten 10, schien hierin kein praktischer Nachteil zu liegen. Auch auf dem "völkerrechtlichen Ticket" schien dem europäischen ; "Da die ordnungsgemäß ratifizierten und veröffentlichten Verträge einen im Verhältnis zu den innerstaatlichen Gesetzen höheren Rang besitzen, können ihre Bestimmungen nur infolge einer ordnungsgemäßen, auf diplomatischen Wege mitgeteilten Kündigung außer Kraft gesetzt werden". 6 Zum (leicht abgeschwächten) monistischen Bekenntnis auch der neuen Verfassung sowie zu ihrem Verhältnis zur Verfassung von 1946 Nguyen Quoc Dinh, La Constitution de 1958 et le droit international, RDP 1959, S. 515 ff., 551 ff. 7 In seinem vollen Umfang lautet Art. 55: "Les traites ou accords regulierement ratifies ou approuves ont, des leur publication, une autorite superieure a celle des Iois, sous reserve, pour chaque accord ou traite, de son application par l'autre partie." - "Die ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträge oder Abkommen erlangen mit ihrer Veröffentlichung höhere Rechtskraft als die Gesetze, vorausgesetzt, daß das Abkommen oder der Vertrag auch von der anderen Vertragspartei angewandt wird." 8

Näher hierzu unten im zweiten Kapitel unter B., 1., 3.

9

EuGHE 1964, S. 1251 tf. (RS 6 I 64) - Costa I ENEL.

Die zeitgenössische Literatur nahm die betont internationalistische Färbung dieser Vorschriften mit großem Enthusiasmus auf; vgl. etwa die Reaktionen von J. Donnedieu de Vabres (FN. 2), S. 5 ("ces dispositions temoignent dans leur ensemble d'un large esprit international") und M. Mouskhely, Le traite et Ia loi dans le systeme constitutionnel francais de 1946, ZaöRV 13 (1950 I 51), S. 98 ff., 98 (" II n'est pas exagere de dire que Ia nouvelle Constitution francaise inaugure une nouvelle ere dans les rapports entre le droit international et le droit interne"). 10

I. Überblick

25

Recht nach dem Wortlaut der Verfassungsvorschriften ("autorite superieure") der notwendige, gemeinschaftsrechtlich geforderte Vorrang verbürgt zu sein, zumal schnell außer Zweifel stand, daß diese Vorschriften nicht nur das vertragliche Primärrecht, sondern auch das auf seiner Grundlage erlassene Sekundärrecht einschlossen 11 • Vollends zuversichtlich mußte aus europäischer Sicht schließlich stimmen, daß auch die vom Wortlaut der Verfassungsvorschriften offengelassene Frage des Rangverhältnisses zwischen Vertrag (sprich: Gemeinschaftsrecht) und nationalem Verfassungsrecht, so umstritten sie fiir sich war 12, die Anwendung der neuen europäischen Normen von vomeherein nicht belasten konnte: Für eine inhaltliche Prüfung völkerrechtlicher Normen am Maßstab der Verfassung hielten (und halten) sich französische Gerichte aus Gründen der Rollenverteilung zwischen Judikative und Legislative traditionellerweise ebensowenig fiir befugt wie fiir die Verfassungskontrolle eines nationalen Gesetzes13. Eine gerichtliche Vertragskontrolle wird von der herrschenden französischen Doktrin seit jeher als Desavouierung des Parlaments - das dem Vertrag zugestimmt hat- abgelehnt 14 • Der Versuch, über die europäischen Verträge die Aufgabe dieser Position zu initiieren, schlug sogleich fehl: Eine 1961 zur Entscheidung des Conseil d'Etat gelangte Klage, welche die Verfassungsmäßig11 Siehe P de Visscher, La Communaute europeenne du charbon et de l'acier et !es Etats membres, Actes officiels du Congres international d ' etudes sur Ia Communaute europeenne du charbon et de l'acier, Mailand 1957, S. 7 ff., 55. Das in Art. 55 aufgestellte Erfordernis einer Ratifizierung und (nationalen) Veröffentlichung wird auf gemeinschaftliches Sekundärrecht nicht angewandt, sondern die Veröffentlichung im Amtsblatt der Gemeinschaften für ausreichend erachtet; T de Berranger, Constitutions nationales et construction communautaire, Paris 1995, S. 189 f.

12 Sie spielte vor allem beim EVG-Streit, genauer: in der Diskussion um die Notwendigkeit einer der Vertragsratifizierung vorgeschalteten Verfassungsänderung, eine Rolle. Siehe die Darstellung bei J. Schilling, Völkerrecht und staatliches Recht in Frankreich, Harnburg 1964, S. 78 ff. (v.a. S. 86 ff.). Zum EVG-Streit siehe auch unten im zweiten Kapitel unter B., 1., 3.

13 Leitentscheidung flir letzteres ist das Urteil des CE v. 6. 11. 1936, Arrighi, Sir. 193 7, III, S. 33. 14 CE v. 5. 2. 1926, Dame Caracao, Rec. 125; CE v. 3. 7. 1946, Societe A.Lotti et Cie., Rec. 190; Cass. v. 11. 3. 1953, D 1953, Jur., S. 297. Näher hierzu J. - F Henry, Schlußanträge, RGDIP 1961, S. 627 ff. , 628 f. und R. Pinto, Le contröle de Ia regularite des conventions internationales par les jurisdictions francaises, FS Mestre, Paris 1956, S. 437 ff. Zur (hier nicht weiter zu analysierenden) Verschränkung mit der Theorie der Unantastbarkeit von "actes de gouvernement" in diesem Punkt A. Seidel, Die Verfassung der Fünften Französischen Republik im Verhältnis zum Recht der Europäischen Gemeinschaften, München 1966, S. 66 ff. Die einzige Ausnahme bildet der im zweiten Kapitel zu behandelnde Conseil Constitutionnel, dem Art. 54 ausdrücklich die Kompetenz zur - präventiven - Verfassungskontrolle von Verträgen einräumt (und Art. 61 die Kompetenz zur - gleichfalls präventiven - Verfassungskontrolle von Gesetzen).

26

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

keit des EWG-Vertrages bezweifelt hatte, wies das Gericht mit den Worten zurück, sie sei "pas de nature a etre utilement presentee" 15 . Insgesamt lagen also filr das europäische Recht überaus günstige Rahmenbedingungen vor. Und dennoch realisierten sich lange Zeit die hieran anknüpfenden Erwartungen auf störungsfreies Einfließen lediglich bei Konflikten zwischen Gemeinschaftsrecht und untergesetzlichen Normen bzw. Gemeinschaftsrecht und älteren (Parlaments-) Gesetzen. Die Gerichte beider Zweige (Verwaltungsgerichtsbarkeit, ordentliche Gerichtsbarkeit) 16 akzeptierten hier- und zwar mit Rückendeckung schon der frühen Literatur 17 - den Vorrang der europäischen Norm gegenüber entgegenstehenden innerstaatlichen Vorschriften 18 • In der 15 "ihrer Natur nach unzulässig"; CE v. 3. 3. 1961, Sieur Andre et Societe des tissages Nicolas Gaimant, Rec. !54. 16 Zu Aufbau und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit- mit dem Conseil d'Etat an der Spitze - und der ordentlichen Gerichtsbarkeit - mit der Cour de Cassation an der Spitze - wird verwiesen auf die Berichte von M Fromont, Der französische Staatsrat und sein Werk, DVBI. 1978, S. 89 ff. ; H. Reinhard, Der Staatsrat in Frankreich, JÖR N.F. 30 (1981), S. 73 ff.; W Müller, Der Conseil d'Etat, AöR 117 (1992), S. 337 ff. ; ders., Ordentliche Gerichtsbarkeit sowie Ausbildung und Status der Richter und Staatsanwälte in Frankreich, DRiZ 1986, S. 3 ff.; U Hübner I V Constantinesco, Einflihrung in das französische Recht, 3. Aufl., München 1994, S. 15 ff.; K. Zweigert I H. Kötz, Einflihrung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., Tübingen 1996, S. 117 ff. Als grundlegende Besonderheit sei allerdings an dieser Stelle hervorgehoben, daß der Conseil d'Etat aus historischen Gründen institutionell als Teil der Verwaltung angesehen wird. Dies hindert ihn zwar nicht daran, seine Aufgabe als (höchstes) Verwaltungsgericht (schon seit dem 19.Jahrhundert) in richterlicher Unabhängigkeit wahrzunehmen, schlägt sich aber in vielfacher Hinsicht noch heute nieder: funktionell und organisatorisch, da neben der schreitschlichtenden "section contentieux" der Conseil d'Etat noch eine "section administrative" besitzt, deren Aufgabe in der Regierungsberatung (vornehmlich in der Begutachtung von Gesetzesentwürfen) besteht; personell, da die Mitglieder des Conseil d'Etat häufig in die Verwaltung I Regierung (und zurück) wechseln; mentalitätsmäßig, da die formelle Eingliederung in die Exekutive eine skrupulösere Auffassung von den institutionell - kompetenziellen Grenzen der eigenen Befugnisse als bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit entstehen ließ. Speziell zu der Stellung der Commissaires du Gouvernement, deren Funktion als unabhängige Begutachter der Streitfälle im wesentlichen derjenigen der (ihnen nachempfundenen) Generalanwälte beim EuGH entspricht, siehe neben den oben Gennannten noch F Kopp, Die Vertretung des Staates und des öffentlichen Interesses in der französischen Gerichtsbarkeit, in: ders. (Hg.), Die Vertretung des öffentlichen Interesses in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Passau 1982, S. 81 ff. 17 L. Constantinesco, Contribution au problerne desrapportsentre I' ordre juridique de Ia Communaute et !'ordre interne des Etats membres, Actes officiels du Congres internationale d' etudes sur Ia Communaute europeenne du charbon et de l'acier, Mailand 1957, S. 211 ff. (vor allem S. 217 f.); Pde Visscher (FN. II ), S. 47. 18 Etwa CE v. 23. 5. 1969, Sieur Jammes et Federation des Associations viticoles de France, Rec. 266; Cass. v. 7. I. 1972, D 1972, Jur., S. 497 (untergesetzliche Norm);

I. Überblick

27

Konfrontation mit einer innerstaatlichen (Parlaments-) Iex posterior hingegen hatte das Gemeinschaftsrecht kontinuierlich das Nachsehen. Sofern der Normenkonflikt nicht auf interpretatorischem Wege noch irgendwie aus der Welt zu deuten war 19, entschieden sich die französischen Gerichte in dieser Konstellation fiir die Anwendung der nationalen Vorschrift. Diese Rechtsprechung wurde eingeläutet mit dem Urteil des Conseil d'Etat vom I. 3. 1968 über eine Klage des "Syndicat general des fabricants de semoules de France"20 • Der Conseil verweigerte hier unter Berufung auf eine entgegenstehende gesetzliche Bestimmung jüngeren Datums dem Anwendungsbefehl einer europäischen Verordnung den Gehorsam. Erst 1989 nahm der Conseil d'Etat in seiner vielbeachteten "Nicolo"-Entscheidung21 Abschied von dieser Linie. Vorangegangen war ihm, immerhin 14 Jahre vorher, die Cour de Cassation in der Entscheidung "Jacques Vabre"22 • Daß bis hierhin die europäische Norm ihren durch den Wortlaut der Verfassung verbrieften Anspruch auf unbedingte Einräumung einer "autorite superieure" nicht einlösen konnte, hatte seine Ursache in einer tief im französischen Verfassungsverständnis verwurzelten Tradition der Unantastbarkeit des Gesetzes23 . Die Bevorzugung einer älteren Gemeinschaftsnorm wäre aus ihrer Sicht als ein Übergriff gegen den Gesetzgeber erschienen, der durch den Erlaß eines inhaltlich abweichenden Gesetzes zwar gemeinschaftsrechtswidrig und sogar verfassungswidrig (nämlich unter Verstoß gegen Art. 55) gehandelt haben mochte, dessen Willensäußerung man aber nichtsdestoweniger als filr die französischen Gerichte bindend empfand - im Unterschied zur Konfliktlage zwischen Gemeinschaftsrecht und einem älteren nationalen Gesetz, wo mit der Annahme operiert werden konnte, durch das Ausbleiben einer Reaktion auf den europäischen Normerlaß habe der Gesetzgeber sein Einverständnis mit dem Zurücktreten des Gesetzes signalisiert. Der bloße Text der neuen Verfassungsbestimmungen war nicht imstande, diese Tradition aufzubrechen. Die Vorrangregeln aus Art. 28 der Verfassung von 1946 bzw. aus Art. 55 der Verfassung von 1958 wurden dahingehend ausgelegt, daß sie zwar materiell die Supralegislativität von Verträgen statuierten, dieses Gebot aber nicht an die Gerichtsbarkeit, sondern lediglich an das Parlament adressierten, die überlieferte RollenverCass. v. 22. 10. 1970, Ramel, D 1971, Jur., S. 221 ; CE v. 18. 1. 1974, Union des minotiers de Ia Champagne, Rec. 40 (ältere Gesetze). 19 20

Zu dieser Technik siehe sogleich unter II., 2., b) und c). Rec. 149.

CE v. 20. 10. 1989, Rec. 190. Cass. v. 24. 5. 1975, Administration des douanes c. Societe Cafes Jacques Vabre et S.a.r.l. Jean Weigel et Cie. , D 1975, Jur., S. 497. 23 Zum Beleg dieser übersichtsartigen Zusammenfassung wird auf die nachfolgende Untersuchung verwiesen. 21

22

28

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

teilung zwischen beiden Gewalten mithin unberührt ließen. Der mögliche Ausweg einer genuin gemeinschaftsrechtlichen Vorrangkonstruktion - d.h. einer ausnahmsweisen Herauslösung der gemeinschaftlichen Vorrangfrage aus den innerstaatlichen Verfassungskategorien - erschien den französischen Gerichten als ebensowenig gangbar wie die Annahme eines bei Vertragschluß erlassenen nationalen Rechtsanwendungs- und Rechtsvorrangbefehls nach deutschem und vor allem britischem Vorbild24 • Was sich bei der gegen die Verfassungsmäßigkeil der Römischen Verträgen gerichteten Klage von 1961 noch vorteilhaft fiir das europäische Recht ausgewirkt hane, nämlich die kategorische Scheu der Gerichte vor einem Einbruch in die legislative Domäne: beim Konflikt zwischen einer Gemeinschaftsnorm und einer nationalen Gesetzesbestimmung jüngeren Datums erwuchs hieraus ein Infiltrationshindernis ersten Ranges. Der langwierige und verwickelte Prozeß der Lösung dieses historisch ältesten Verfassungsproblems europäischer Integration in Frankreich wird im folgenden nachvollzogen und in seiner Bedeutung bewertet. Ausgegangen wird dabei von einer kurzen Skizze der Ausgangsbedingungen, d.h. dem theoretischen Verständnis des Gesetzes als Ausdruck der volonte generale und seinem Niederschlag in frühen Leitentscheidungen der französischen Gerichte. Sodann folgt als Kern des Kapitels eine Analyse der "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat, der "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation sowie der "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat. Zur Sprache kommen dabei auch einige Determinanten bzw. Randstationen des .Entwicklungsprozesses, nämlich die in der Literatur entwickelten Konzepte, die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel von 1975 sowie die Rechtsprechung des Conseil d'Etat zur Direktwirkung von Richtlinien und zur Vorlagepflicht nach Art. 177 EGV - zwei weiteren klassischen Konfliktpunkten zwischen der französischen (Verwaltungs-) Gerichtsbarkeit und der europäischen Rechtsordnung, deren Einbezug fiir das Verständnis der lex-posterior-Problematik förderlich erscheint.

24 Mit dem Dogma der "sovereignty of Parliament" existierte im Vereinigten Königreich ein durchaus vergleichbares Hindernis ftir die Verwirklichung des gemeinschaftsrechtlichen Vorrangs vor späteren Parlamentsgesetzen. Die britischen Gerichte lösten es dadurch auf, daß sie den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf den anläßlich des Beitritts verabschiedeten European Communities Act von 1972 stützten, der freilich anders als entsprechende Texte in Frankreich ausdrücklich den Vorrang vor "any en-actment passed or to be passee!' (Herv. v. Verf.) vorschreibt. Näher P Craig I G. de Burca, EC Law, Oxford 1995, S. 267 ff.

li. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

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II. Ausgangsbedingung: Die Doktrin der "souverainete de Ia loi" 1. Die Lehre vom Gesetz als Ausdruck der volonte generale

Die traditionelle französische Doktrin der justiziellen Unantastbarkeit des Gesetzes hat in zahlreichen Bestimmungen verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Natur ihren Niederschlag gefunden. Die bekanntesten unter ihnen sind Art. 10 des Gesetzes vom 16. - 24. 8. 1790, welcher dem Richter untersagt, die Anwendung von Gesetzen zu verhindem oder auszusetzen25 , Art. 127 des code penal, welcher die richterliche Anmaßung legislativer Gewalt unter Strafe stelle6 sowie Art. 3 der Verfassung von 1791 ( "il n'y a point en France d'autorite superieure a celle de Ia loi" 27 ). Außer auf das praktische Motiv der Revolutionsära, die weitgehend vom Ancien Regime übernommene Gerichtsbarkeit als machtpolitischen Gegenspieler auszuschalten, ist die Unantastbarkeilsdoktrin wesentlich auf die politische Philosophie Jean Jacques Rousseaus zurückzufiihren28. In ihr ist das Gesetz Ausdruck des Gemeinwillens, der volonte generale29 . Der Gemeinwille ist der Wille der aus dem Naturzustand ausgetretenen, durch Gesellschaftsvertrag zur Republik zusammengeschlossenen Gesamtheit. Anders als die volonte de tous als der Summe der am persönlichen Interesse orientierten Willen der Einzelnen kennzeichnet sich der (vom Einzelnen als Staatsbürger wie vom gesamten Staatskörper gebildete) Gemeinwille durch das Streben nach Gemeininteresse30 • Da der Gemeinwille - fiir Rousseau gleichsam naturgesetzlich - nicht irren kann und nur am allgemeinen Besten

z; "Les juridictions ne pourront, directement ou indirectement, prendre aucune part a l'exercise du pouvoir legislatif, ni empecher ou susprendre l'execution des lois regulierement promulgees" - "Die Gerichte dürfen weder unmittelbar noch mittelbar an der Ausübung der legislativen Gewalt teilhaben, noch die Anwendung der ordnungsgemäß verkündeten Gesetze behindern oder aussetzen".

2• .,Seront coupables de forfaiture ... les juges ... qui seront immises dans l'exercice du pouvoir legislatif.."- "Wegen Amtspflichtverletzung sind diejenigen Richter strafbar, die sich in die Ausübung der legislativen Gewalt einmischen''. 27

"In Frankreich gibt es keine höhere Gewalt als das Gesetz".

C. Rasenack, Gesetz und Verordnung in Frankreich seit I 789, Berlin 1967, S. 21 ff.: C. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, Baden- Baden 1970, S. 128 ff.; V Schlette, Die Konzeption des Gesetzes im französischen Verfassungsrecht, JÖR N.F. 33 (1984) S. 279 ff., 280 ff. 21

29 J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Verlag Philip Reclam jun., Leipzig 1984, S. 67 ff. (v.a. S. 69). 30

J. J. Rousseau (FN. 29), S. 51. Vgl. auch S. 60.

30

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

orientiert ise 1, besitzt notwendig auch das ihn zum Ausdruck bringende Gesetz unbedingte Richtigkeit und Gerechtigkeie 2 und kann folglich einen Status der Unantastbarkeit beanspruchen. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund, der mit Art. 3 der Menschenund Bürgerrechtserklärung vom 26. August 1789 ("Ia loi est l'expression de Ia volonte generale") praktisch in den Rang einer offiziellen Staatsdoktrin erhoben wurde3 \ stellt das Gesetz einen "acte souverain"34 dar. Seine Kontrolle würde nach dieser Doktrin zur Mißachtung der - richtigen, gerechten - volonte generate fuhren und damit die Fundamentalnorm der politischen Ordnung verletzen. Die Rousseausche Lehre fordert daher strikte Gesetzesbindung und eine entsprechende Unterordnung der judikativen Gewalt. Dies schließt neben einer richterlichen Normenkontrolle am Maßstab einer Verfassung auch indirekte Ingerenzformen wie etwa die vorrangige Anwendung eines inzwischen gesetzeswidrig gewordenen älteren völkerrechtlichen Vertrages aus. Hier würde zwar nicht unmittelbar eine Zensur des Gesetzes bezweckt, dieses weder suspendiert noch ausdrücklich als rechtswidrig qualifiert, aber es würde doch sein Geltungswille übergangen und die Befugnis impliziert, Entscheidungen über seine Anwendbarkeit im Verhältnis zu kollidierenden Normen zu treffen. Als Manifestation der volonte generate entzieht sich das Gesetz jedoch prinzipiell jeder externen Begrenzung seines Anwendungsfeldes und jeder Verortung innerhalb einer Normenhierarchie. Es ist als unmittelbare Artikulation des Souveräns selbst souverän, aus sich heraus unbedingte Anwendung gebietend. Dementsprechend liegt von vomeherein außerhalb richterlicher Kompetenz, es zu anderen Normen ins Verhältnis zu setzen oder eine (Vor-) Entscheidung über seine Anwendbarkeit vorzunehmen, kurz: ·ihm gegenüber irgendeine andere AttitUde als diejenige strikter Folgsamkeit an den Tag zu legen. Vertragskontrolle des Gesetzes und Verfassungskontrolle des Gesetzes bilden insoweit zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Beides würde gleichermaßen den Grundsatz strikter Trennung von rechtsetzender und rechtsprechender Gewalt verletzen. Es liegt auf der Hand, daß streng Rousseauschem Gesetzesverständnis auch femläge, eine entsprechende richterliche Ermächtigung durch die Verfassung

31

J. J. Rousseau (FN. 29), S. 60 f.

Vgl. C. Starck (FN. 28), S. 132 ("Hereinnahme des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit in den mit dem Begriff der volonte generale zusammenhängenden Gesetzesbegriff mit der Folge, daß die volonte generale nicht irren und das Gesetz nicht ungerecht sein kann"). 33 Die über den in der Präambel der Verfassung von 1958 enthaltenen Verweis auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 noch immer Aktualität besitzt. 32

34

M H. Fabre, La loi expression de Ia souverainete, RDP 1979, S. 341 ff., 341.

II. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

31

für möglich zu halten. Schon der Begriff einer Verfassung muß ihm fremd erscheinen. Als bereits höchste und souveräne Willensäußerung kann das Gesetz schlecht einer anderen Norm untergeordnet werden, die sein Wirkungsfeld abstecken und ihm inhaltliche Direktiven setzen würde. Die zuerst im amerikanischen Verfassungsdenken entwickelte Vorstellung einer Hierarchisierung von Verfassung und Gesetz ist mit der Lehre von der volonte generate im Grunde inkompatibel. Für eine Bindung des Gesetzgebers an materielle Mindeststandards besteht in der politischen Philosophie Rousseaus kein Raum und gar kein Bedürfuis, da der Gemeinwille nichts wollen kann, was Einzelnen schadetl5 . Die Rousseausche Tradition hat zwar in Frankreich nicht zum vollständigen Verzicht auf Verfassungsgebung geführt. Aber sie hat Inhalt und Verständnis der Verfassungen beeinflußt. Insbesondere führte sie lange Zeit zum Verzicht auf die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit Noch die IV. Republik besaß mit dem Comite Constitutionnel ein Kontrollorgan, dessen Kompetenzen im Vergleich zu denen anderer Verfassungsgerichte äußerst dürftig waren 36. In der Verfassung der V. Republik von 1958 schlägt sich die Tradition des Gesetzesabsolutismus in der rein präventiven Ausgestaltung der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle (Art. 61) nieder; einmal in Kraft getreten, ist das Gesetz für alle Zeiten gegen eine Nachprüfung durch den Conseil Constitutionnel immun. Die in diesen Verfassungen begründeten verfassungsrichterlichen Prüfungsrechte wurden als Durchbrechungen der Rousseauschen Lehre zunächst eng ausgelegt. Und insbesondere ließ diese Lehre anfangs keinen Raum fiir die Aktivierung eines einfachrichterlichen Prüfungsrechts auf der Grundlage solcher Vorschriften, die - wie Art. 28 Verfassung 1946 bzw. Art. 55 Verfassung 1958 lediglich materiellrechtliche Rangaussagen treffen, jedoch keine ausdrückliche Kompetenz zu ihrer justizfOrmigen Umsetzung zusprechen. Zu einem deutlichen Bruch mit der Rousseauschen Tradition ist es nur im Hinblick auf den institutionellen Ursprung der Bildung von volonte generate I Gesetz gekommen. Während Rousseau eine Repräsentation durch ein gewähltes Vertretungsorgan noch ausschloß, da die volonte generate unteilbar sei 37, ist im neueren französischen Staatsdenken im Anschluß an Carre de Malberg38 das 3; 36

J. J. Rousseau (FN. 29), S. 5 I. Vgl. W Buerstedde, 'Le cornite constitutionnel' der französischen Verfassung von

1946, JÖR N.F. 7 (1958), S. 166 ff. 37

J J Rousseau (FN. 29), S. 120 ff.

Contribution a Ia theorie generale de I'Etat, Bd. I, Paris 1920, reed. Paris 1962, S. 285 ff., 326 ff.; La loi, expression de Ia volonte generale, Paris 1931 . Näher J. de Soto, La loi et Je reglernent dans Ia Constitution du 4 octobre 1958, RDP 1959, S. 240 ff., 244 ff.; V Schlette (FN. 28), S. 283 ff. JK

32

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

Parlament zu ihrem Träger und damit zur souveränen Instanz im Staat geworden39. Durch die Wahl des Parlaments sind in ihm alle Bürger repräsentiert. Hierdurch wird es flihig, die volonte generate zu bilden und können seine Akte als ihr Ausdruck gelten. Der eigentliche Kern der Rousseauschen Theorie - der unbedingte Geltungsanspruch des Gesetzes und die Un-Denkbarkeit seiner richterlichen Kontrolle bzw. Nichtanwendung - blieb hiervon jedoch unberührt40 und bildete fur die Durchsetzung des verfassungsrechtlichen Vorranggebots in Art. 28 Verfassung 1946 bzw. Art. 55 Verfassung 1958 eine schwere Hypothek.

2. Niederschlag in der Rechtsprechung französischer Gerichte

Die Doktrin der "souverainete de Ia loi" hat die Rechtsprechung der französischen Gerichte über lange Zeit dominiert. Unter ihrem Einfluß wurden sowohl einer richterlichen Normenkontrolle am Maßstab der Verfassung als auch einer Anwendung völkerrechtlicher Verträge, die im Widerspruch zu einer Gesetzesnorm jüngeren Datums stehen, beharrlicher Widerstand entgegengesetzt. Als insoweit einschlägige Leitentscheidungen gelten in Frankreich das "Arrighi"Urteil des Conseil d'Etat von 193641 (Verfassungskontrolle) sowie das Urteil der Cour de Cassation in der Sache "Sanchez c. Consorts Gozland" aus dem Jahr 1931 42 (Vertragskontrolle). Seide Entscheidungen ergingen auf der Grundlage besonders programmatisch gefaßter Schlußanträge des Commissaire du Gouvernement bzw. des Procureur General und avancierten hierdurch trotz der Existenz einer Reihe älterer Judikate43 zu den bekanntesten Belegen der gerichtlichen Rezeption der Unantastbarkeitsdoktrin.

39 Damit einher ging eine Forrnalisierung des Gesetzesbegriffs: Während bei Rousseau das Gesetz zwingend abstrakt-generellen Charakter haben mußte (FN. 29, S. 68 f.), charakterisierte es sich für Carre de Malberg nicht "par son contenu, mais par sa formeH; Contribution (FN. 38), S. 329.

40 Wiewohl in der institutionellen Radizierung der volonte generale im Parlament, also ihrer Zuordnung auf ein von der Verfassung eingesetztes Organ, gewiß eine notwendige Vorbedingung flir die spätere Durchbrechung der Rousseauschen Gesetzesdoktrin in den - ihrerseits verfassungsstaatlich argumentierenden - Entscheidungen "Jacques Vabre" und "Nicolo" liegt. 41 CE v. 6. II. 1936, Sir. 1937, Ill, S. 33. 42

Cass. v. 22. 12. 1931, Sir. 1932, I, S. 257.

43 Nachweise bei P Laroque, Les juges francais et le contröle de Ia loi, RDP 1926, S.

705 ff., 722.

II. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

33

a) Ausschluß der Verfassungskontrolle des Gesetzes: Die .,Arrighi"-Entscheidung von 1936 Im "Arrighi"-Fall wandte sich der Kläger, ein Beamter, gegen seine durch ministerielle Verfugung erfolgte Versetzung in den Ruhestand. Arrighi argumentierte dabei auf zwei Ebenen. Zum einen hielt er die einschlägige Ermächtigungsgrundlage, ein Dekret vom Mai 1934, fiir unvereinbar mit dem zugrundeliegenden Gesetz vom Februar 1934. Zum anderen verstieß dieses Gesetz seiner Auffassung nach gegen das Verfassungsgesetz vom 25. 2. 1875, da es in einem unzulässigen Umfang Legislativbefugnisse auf die Exekutive übertragen habe. Während der erstgenannte Einwand unter dem Aspekt der gerichtlichen Entscheidungskompetenzen unbedenklich war, richtete sich der zweite Einwand auf die Vomahme einer richterlichen Normenkontrolle und wurde vom Gericht mit dem einzigen Satz zurückgewiesen, "en l'etat actuel du droit public francais, ce moyen n'est pas de nature a etre discute devant Je Conseil d'Etat statuant au contentieux"44 • Die eigentlichen Gründe dieser Entscheidung waren wie üblich nicht dem sparsamen Urteilstext, sondern den Schlußanträgen des Commissaire du Gouvernement Latournerie45 zu entnehmen. Latoumerie stand vor der Situation, daß in die Diskussion um die Zulässigkeit einer "exception d'inconstitutionnalite"46 seit einigen Jahren Bewegung gekommen war, maßgeblich stimuliert durch Fälle ähnlichen Zuschnitts. Die auch im vorliegenden Fall zu bewertende, weitgehend als problematisch empfundene Praxis umfangreicher Verordnungsermächtigungen an die Exekutive hatte immer wieder den Ruf nach judikativer Korrektur erklingen lassen47 . Zudem stand durch ein Urteil des Conseil d'Etat aus dem Jahre 191848 , in dem das Gericht - wenn auch in der extraordinären Lage des Kriegszustandes - die vom Staatspräsidenten nach Ausbruch der Feindseligkeiten 1914 vorgenommene Aussetzung bestimmter beamtengesetzlicher Bestimmungen fiir unbedenklich erklärt hatte, ein sachter Anhaltspunkt flir 44 "dieser Einwand kann nach dem gegenwärtigen Stand des französischen öffentlichen Rechts in einem Verwaltungsstreitverfahren vor dem Conseil d'Etat nicht erhoben werden". 45

Sir. 1937, 111, S. 34 ff.

Der indirekte, d.h. anläßtich der Klage gegen den exekutiven Durchflihrungsakt erhobene Einwand der Verfassungswidrigkeit des ermächtigenden Gesetzes wird als "exception d' inconstitutionnalite" bezeichnet. Eine Klage direkt gegen ein Gesetz kam schon aus verfahrensrechtlichen Gründen niemals in Frage: Die Prozeßordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit von 1872 beschränkte die Anfechtbarkeil auf "actes administratifs"; vgl. A. Mestre, Urteilsanmerkung, Sir. 1937, III, S. 33 ff. 4"

47

Näher zu dieser Praxis V Schlette (FN. 28), S. 285 f.

4M

CE v. 28. 6. 1918, Heyries, D 1919-1920, III, S. 3 I.

3 Hecker

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

34

eine mögliche Aufweichung der traditionellen Gesetzeskonzeption im Raum. Für Latoumerie bestand daher Anlaß, sich nicht mit bloßen Verweisen auf die bisherige Rechtsprechung zu begnügen, sondern die Problematik sachlich aufzurollen und eine erneute argumentative Grundlegung zu entwickeln. Bemerkenswerterweise begann Latoumerie hierbei zunächst mit einer Aufzählung von Gründen, die für die Vomahme einer richterlichen Normenkontrolle sprächen. Er lenkte den Blick auf die Kontrolltätigkeit des amerikanischen Supreme Court sowie ihren Ursprung in der Entscheidung "Marbury vs. Madison" und attestierte ihr, durchaus eine rechtliche Logik auf ihrer Seite zu haben: Man müsse einräumen, daß, "lorsqu'un regime juridique etablit des lors une hierarchieentre des lois, .. .le juge ... ne fait rien que de conforme a sa mission ...en faisant ceder, le cas echeant a Ia loi superieure celle du degre inferieur" 49 . Es sei darüber hinaus juristisch unbefriedigend, so Latournerie, wenn Verstöße gegen ranghöhere Normen gänzlich sanktionslos blieben 50 . Die folgenden Ausführungen distanzierten sich dann jedoch deutlich vom verfassungsstaatlichen Ansatz amerikanischer Provenienz und bekannten sich zum hergebrachten französischen Ansatz: "ce n'est pas dans de telles considerations de logique pure qu'en France .. .la Solution doit etre cherchee"51 • Ihnen sei die geschichtlich begründete ("imprime [par] les circonstances historiques particulieres") Konzeption der "souverainete de Ia loi" entgegenzusetzen, wie sie unter dem Einfluß der "idees du philosophe de Geneve" in der revolutionären Epoche gebildet worden sei und die auch weiterhin maßgeblich bleibes 2; "quelque arteinte qu'aient pu recevoir certaines idees peut - etre trop absolues sur Ia souverainete de Ia loi, il n'en reste moins ..., que dans Ia theorie et aussi dans Ia pratique de notre droit public, Je Parlement reste l'expression de Ia volonte generale et ne releve a ce titre que de lui - meme de cette volonte" 53 • Diese Konzeption stünde nach wie vor im Übereinklang mit "l'ensemble de Ia situation juridique": Weder die zu beobachtende Ausdehnung der richterlichen Befugnisse zur Gesetzesinterpretation, noch die allgemeine Intensivierung der richterlichen Kontrolltätigkeit in den letzten Jahren hätten zu einer grundlegen49 FN. 45, S. 35 - "wenn eine Rechtsordnung eine Rangordnung zwischen Gesetzen errichtet, der Richter sich vollauf im Rahmen seiner Aufgabenstellung bewegt, wenn er gegebenenfalls das rangniedrigere Gesetz dem ranghöheren Gesetz weichen läßt" .

so FN. 45, S. 35.

FN. 45, S. 35 -"aber für Frankreich ergibt sich die Lösung nicht aus solchen Überlegungen rein logischer Natur". SI

52

FN . 45. S. 35.

FN . 45, S. 35 - "bei allen Einbußen. welche die vielleicht zu absoluten Ideen von der Souveränität des Gesetzes haben hinnehmen müssen. bleibt doch in der Theorie und Praxis unseres öffentlichen Rechts das Parlament der Ausdruck der volonte generale und ist in dieser Stellung nur sich selbst und seinem eigenen Willen unterworfen". 5'

ll. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

35

den Veränderung der institutionellen Stellung der Gerichte und ihres Verhältnisses zum Gesetzgeber gefiihrt; die Doktrin der "souverainete de Ia loi" sei unverändert gültig54 • Der Treue zur hergebrachten, weiterhin praktizierten Verfassungstradition maß Latournerie also ein höheres Gewicht bei als der theoretisch durchaus als überzeugend eingestuften Alternative einer konsequenten Umsetzung der Normenhierarchie; "il faut se resigner... , meme aux depens de l'harmonie des plus belles constructions juridiques, meme aux depens parfois de l'apparente equite, a ce que certaines parties du droit restent a l'etat de droit imparfait, a l'etat de droit sans sanctions"55 • Im übrigen, so Latournerie in einem abschließenden praktischen Hinweis, sei auch zweifelhaft, ob der Individualrechtsschutz bei Einführung einer gerichtlichen Normenkontrolle überhaupt signifikant verbessert würde; eine überzeugende, rechtschöpferische Judikatur könne auch ohne dieses · Institut die gesetzgeberische Aktivität beeinflussen - demgegenüber beschwöre eine Normenkontrolle institutionelle Konflikte herauf, die den Bestand der bisherigen Rechtsprechung in Gefahr bringen und das Institut daher unter Rechtsschutzaspekten sogar als kontraproduktiv erweisen könnten 56 .

b) Ausschluß der Vertragskontrolle des Gesetzes: Die Entscheidung "Sanchez c. Consorts Gozland" von 1931 Im Verfahren "Sanchez c. Consorts Gozland" hatte sich bereits einige Jahre vor der "Arrighi"-Entscheidung gezeigt, daß die französische Gerichtsbarkeit sich von der Doktrin der "souverainete de Ia loi" auch in der Konstellation eines Widerspruches zwischen völkerrechtlichem Vertrag und einer gesetzlichen Norm jüngeren Datums leiten ließ. Sofern ein solcher Widerspruch nicht auf interpretativem Wege aus der Welt zu räumen sei, so der Leitsatz der zu diesem Verfahren erstellten Schlußanträge des Procureur General Matter, müsse die Gehorsamspflicht des Richters gegenüber dem nationalen Gesetzgeber über die Pflicht zu völkerrechtskonformen Verhalten obsiegen. Der Kläger des Verfahrens, ein spanischer Staatsbürger namens Sanchez, hatte 1919 in Constantine ein Geschäftslokal zu gewerblichen Zwecken

54

FN. 45, S. 35 f.

FN. 45, S. 36 - "man muß sich damit begnügen, selbst wenn dies auf Kosten der juristischen Logik, unter Umständen sogar der offensichtlichen Gerechtigkeit geschieht, daß bestimmte Bereiche des Rechts im Zustand mangelnder Durchsetzbarkeil bleiben". 55

;r,

FN. 45, S. 36.

36

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

gemietet57 . Als am 30. 6. 1926 ein französisches Gesetz gewerblichen Mietern und Pächtern unter bestimmten Voraussetzungen einen ausnahmsweisen Anspruch auf Verlängerung bestehender Miet- bzw. Pachtverhältnisse zusprach, verlangte Sanchez unter Berufung auf diese Regelung von der Eigentümerin des Geschäftslokals, der Firma Consorts Gozland, die Fortsetzung des Mietverhältnisses über den ursprünglich vereinbarten Zeitraum hinaus. Die Instanzgerichte hatten die Klage Sanchez' jeweils abgewiesen und sich dabei auf Art. 19 des fraglichen Gesetzes gestützt, worin der Verlängerungsanspruch bei Ausländern von der - im Fall nicht erfullten - Bedingung abhängig gemacht wurde, daß in deren Herkunftsland ein entsprechender Anspruch zugunsten französischer Staatsangehöriger existiert. Demgegenüber berief sich Sanchez auf das französisch-spanische Niederlassungsabkommen vom 7. 1. 1862, welches in Frankreich residierenden spanischen Staatsbürgern eine allgemeine Inländergleichbehandlung bei der Anmietung von Gebäuden garantierte. Art. 19 des Gesetzes vom 30. 6. 1926 und das französisch-spanische Niederlassungsabkommen von 1862 enthielten also genau entgegengesetzte Regelungsaussagen. An sich lag damit ein eindeutiger Fall des Konflikts zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einer nationalen Iex posterior vor. Procureur General Matter entschied sich hingegen dafur, diesen Konflikt hinwegzukonstruieren und so einer Vorrangentscheidung aus dem Weg zu gehen. Er legte das Niederlassungsabkommen von 1862 dahin aus, daß es die Befugnis der Vertragspartner zur Gewährung außerordentlicher, befristeter Sonderrechte an eigene Staatsbürger nach Art des Gesetzes vom 30. 6. 1926 habe unberührt lassen wollen. Obwohl Art. 1 des Abkommens vorsah, daß die "sujets des deux pays pourront...Iouer des maisons, magasins et boutiques ...en observant, dans tous ces cas, les conditions etablies par les lois et les n!glements en vigeur pour les nationaux" 58, stellte sich Matter auf folgenden Standpunkt: "on n'y peut trouver nulle promesse aux Espagnols, pour l'avenir, de droits exceptionnels qui seront crees pour les seuls Francais"59 (Herv. V. Verf.). Die Cour de Cassation folgte dieser gewagten Interpretation und wies die Klage Sanchez' ab60 • 57 Der - hier von einigen Nebenaspekten bereinigte - Sachverhalt ist wiedergegeben in den Schlußanträgen Mauers. Sir. 1932. I, S. 257 ff.

5' Zitiert nach der Wiedergabe durch Matter (FN. 57), S. 266 - ,.die Angehörigen beider Staaten können Häuser, Läden und Geschäftsräume unter denjenigen Voraussetzungen anmieten, welche die Gesetze und Verordnungen flir die eigenen Staatsangehörigen aufstellen".

59 FN. 57, S. 268 - "es wird den Spaniern dort nicht ein Anspruch auf Einräumung zukünftiger Sonderrechte, die ausschließlich fiir Franzosen begründet werden, zuerkannt". 60

Sir. 1932, I, S. 269.

II. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

37

Mit dieser Lösung war zunächst eines zum Ausdruck gebracht: Daß, wenn irgend möglich, eine nach erstem Anschein konträre völkerrechtliche Vertragsnorm durch restriktive Auslegung an die nationale Iex posterior anzupassen sei. Zum zweiten aber - und hierin lag die hauptsächliche Bedeutung des Falles vertrat Matter die Auffassung, daß im Falle fehlender Möglichkeit zur interpretatorischen Auflösung des Konflikts dem jüngeren nationalen Gesetz der Vorzug einzuräumen sd'. Hierauf ging der Procureur General zum Ende seiner Anträge gewissermaßen hilfsweise ein: "Enfin, a supposer meme qu' il y efit conflit entre Ia loi du 30 juin 1926 et Ia convention franco-espagnole de 1862 et je viens de vous indiquer qu'il n'en est rien - mais a supposer, quel serait Je devoir du juge ? /ci, aucun doute, vous ne connaissez ou ne pouvez connaitre d'autre volonte que celle de Ia loi. C'est le principe meme sur lequel reposent nos institulians judiciaires"62 (Herv. v. Verf.). Deutlich trat also auch hier das traditionelle Verständnis des Gesetzes als Ausdruck der volonte generale zutage. Der Richter, so Matter, habe das Gesetz in jedem Fall zu befolgen, auch wenn er von dessen "irregularite... dans son application ades rapports deja regis par un traite"63 überzeugt sei. Denn andernfalls überschritte er seine Rolle als "fidele serviteur de Ia loi" 64 , würde sich eine Stellung anmaßen, die mit den Grundprinzipien der institutionellen Ordnung Frankreichs unvereinbar sei: "on ne peut donner au juge Je droit de preferer le traite a Ia loi, car ce serait lui donner Je droit d'enfreindre Ia volonte de Ia loi, ce qu'il n' a pas le droit a faire" 65 .

61 Daß Matter beim Postulat der gesetzesfreundlichen Vertragsauslegung nicht stehenblieb, sondern zusätzlich auch diese Vorrangregel aufstellte, kommt bei G. Ress, Der Rang völkerrechtlicher Verträge nach französischem Verfassungsrecht, ZaöRV 35 ( 1975), S. 445 ff., 487 ("Die Methode besagt genaugenommen, daß der Vertrag durch restriktive Auslegung an das Gesetz anzugleichen sei") nicht zum Ausdruck.

62 Matter (FN. 57), S. 268 - "Schließlich, selbst wenn man unterstellte, das Gesetz vom 30. Juni 1926 und die französisch-spanische Konvention von 1862 widersprächen einander - und ich habe dargelegt, daß das Gegenteil der Fall ist -, aber unterstellt man dies einmal, was wäre dann die Aufgabe des Richters ? Hier dürfen Sie nichts anderem gehorchen als dem Willen des Gesetzes. Dies ist das Grundprinzip, auf dem unsere Rechtsordnung beruht".

63

FN. 57, S. 268- "Vertragswidrigkeit" .

64

FN. 57, S. 269 - "treuer Diener des Gesetzes".

FN. 57, S. 268; "Man kann dem Richter nicht die Befugnis geben, den Vertrag dem Gesetz vorzuziehen, weil dies hieße, ihm die Befugnis zu geben, dem Willen des Gesetzes zuwiderzuhandeln, was ihm j edoch verwehrt ist". Matter zitierte hier eine Stimme aus der zeitgenössischen Literatur. 65

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

c) Nachfolgende Entscheidungspraxis Die mit dem Ziel der Konfliktvermeidung durchgeftlhrte restriktive Vertragsinterpretation im Sinne des ersten Leitsatzes der "Matter"-Doktrin rief naturgemäß diplomatische Proteste von Vertragspartnern Frankreichs hervor, in deren Folge es zum Abschluß einer Reihe zwischenstaatlicher Interpretationsabkommen kam. Diese ftlhrten zu einer Umkehrung der Rechtsprechung. Die Übereinstimmung von Gesetz und Vertrag wurde fortan nicht mehr durch restriktive Auslegung des Letzteren, sondern umgekehrt durch eine vertragfreundliche Gesetzesinterpretation herzustellen versucht66. Neue Gesetze mußten nach Auffassung der Gerichte als "reservant necessairement Je cas ou I' etranger peut invoquer une convention intemationale"67 ausgelegt werden. Der zweite, die Vorrangregel ftlr den Fall des Scheiteros der Konfliktvermeidung formulierende Leitsatz der "Matter"-Doktrin blieb hiervon indes unberührt und wurde weitgehend befolgt68 . Auch die neue Linie basierte auf dem grundsätzlichen Primat der nationalen lex-posterior. Wenn die Vermutung lautete, der Gesetzgeber habe nichts vom Vertrag Abweichendes statuieren wollen, dann implizierte dies, er hätte es - mit Anspruch auf Befolgung durch die Gerichte - tun können69. Immerhin vermochte der Kunstgriff'0 der Annahme eines stillschweigenden Vertragsvorbehalts die praktischen Konsequenzen abzumildern. Der Gerichtsbarkeit, deren Haltung ja durchaus nicht einer bestimmten Vorstellung vom materiellrechtlichen Rangverhältnis zwischen Völker- und nationalem Recht entsprang und die an offenen Konflikten kein Interesse hatte, kam dies nicht ungelegen. Sie stellte sich im übrigen auf den Standpunkt, die Verantwortung ftlr die völkerrechtsfeindlichen Auswirkungen der "Matter"-Linie liege 66 Nachweise bei L. Preuss, Droit international et droit interne dans Ia Constitution Francaise de 1946, RIHPC 1951, S. 199 ff., 218. 67 "notwendig den Fall, daß ein Ausländer sich auf eine internationale Konvention berufen kann, vorbehaltend"; Commission Superieure de Cassation v. 19. I. 1933, Dame veuve Python c. Demoiselle Baumann, D 1933, S. 119. M Vgl. etwa Cour d' Appel de Dijon v. 2. 5. 1933, RCDIP 1933, S. 480: "Ia mission du juge est de rechercher si Ia loi, dont il doit toujours etre le scrupuleux gardien, implique d'une maniere certaine Ia volonte du legislateur de faire ou non echec aux dispositions d'un traite" - "die Aufgabe des Richters besteht darin nachzuprüfen, ob das Gesetz dessen sorgfältiger Wächter er immer sein muß- unzweifelhaft einen Willen des Gesetzgebers aufzeigt, von den Bestimmungen eines Vertrages abzuweichen oder nicht". Weitere Nachweise bei J Schilling (FN. 12), S. 100 sowie L. Preuss (FN. 66), S. 213, der auch (aufS. 216) einige gegenläufige Urteile auffiihrt.

6 ~ L. Kopelmanas, Urteilsanmerkung, Receuil generat periodique et critique des decisions, conventions et Iais relatives au droit international public et prive 1936, lll, S. 85 ff., 86. 70

G. Ress (FN. 61), S. 487.

ll. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

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beim Gesetzgeber, der durch Erlaß eines vertragswidrigen Gesetzes den Konflikt schließlich überhaupt erst hervorgerufen habe7 1. Einzelnen literarischen Versuchen, aus einer systematischen Unterscheidung zwischen Verfassungs- und Vertragskontrolle heraus zu einer Überwindung der "Matter -Doktrin zu kommen, blieb der Erfolg versagt. Hauptverfechter eines solchen Ansatzes war J. - P. Niboyet72 , der den Konflikt zwischen Gesetz und Vertrag - im Unterschied zum Konflikt zwischen Gesetz und Verfassung lediglich als Problem der Auswahl zwischen zwei unverbunden nebeneinander stehenden Rechtsmassen begreifen wollte, wobei die richterliche Entscheidung fiir die eine von ihnen keine Aussage über Rang, Geltung oder Rechtmäßigkeit der anderen mit sich fiihren sollte. Nach Meinung Niboyets beinhaltete die richterliche Anwendung des Vertrages auf Kosten des Gesetzes - anders als in der analogen Situation der Verfassungskontrolle - keine Verletzung von dessen Geltungsanspruch: Vertrag und Gesetzen seien "deux textes ayant chacun une origine distincte ...Chaque a son domaine d'application IimiteLLe seul röle du juge sera de faire Ia demarcation de ces deux domaines ... Dans son application du traite, /e juge ne rencontre pas Ia /oi" 13 (Herv. v. Verf.). Dieser Ansatz geriet naturgemäß spätestens dort in Schwierigkeiten, wo der Gesetzgeber ausdrücklich von einer vertraglichen Bestimmung abweichen wollte 74 • Hier dem Vertrag den Vorzug zu geben, hieß eben doch, sich dem Willen des Gesetzgbers zu entziehen. Und genau dies galt es nach der klassischen Auffassung um jeden Preis zu vermeiden. Ob im Widerspruch zur Verfassung oder zum Vertrag erlassen: Nach ihr manifestierte sich in beiden Fällen im Gesetz eine materiellrechtlich möglicherweise zwar irreguläre, fiir den Richter aber dennoch 71 Vgl. die Formulierung von L. Preuss (FN. 66), S. 213: die vertragswidrige Gesetzesbefolgung "consacre seulement Ia faute initiale du legislateur, ... auquel est confiee Ia responsabilite de maintenir Ia conformite du droit interne a des obligations internationales" - "bilde lediglich den vorausgehenden Fehler des Gesetzgebers ab, dem die Verantwortung für die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch das innerstaatliche Recht obliegt". 72 Vgl. v.a. La separation des pouvoirs et Ies traites diplomatiques, FS Carre de Malberg, Paris 1933, S. 399 ff.; weiter zu nennen sind P Chailley, La nature juridique des traites selon le droit contemporain, Paris 1932, S. 31 S ff. sowie A. Mestre, Les traites et le droit interne, RdC 38 ( 1931-IV), S. 237 ff., 241 ff.

73 J - P Niboyet (FN. 72), S. 413 : "zwei Texte, die einen jeweils ganz anderen Ursprung besitzen ... .Jeder von ihnen hat sein eigenes Anwendungsfeld .... Die Aufgabe des Richters ist es lediglich, zwischen diesen beiden Feldern eine Grenzlinie zu ziehen ..... Bei der Anwendung des Vertrages begegnet der Richter dem Gesetz [überhaupt] nicht". 74 Leichter hatten es demgegenüber die Verfechter eines (radikalen) Monismus mit unbedingtem Primat des Völkerrechts, die auf solche konziliativen Konstruktionen verzichten konnten; Nachweise diesbezüglich bei A. Seidel (FN. 14), S. lOS .

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

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bindende Vorgabe. Der klassischen Auffassung ging es nicht um die Unzulässigkeit bestimmter höherrangiger Kontrollmaßstäbe, sondern um die Unantastbarkeit des Gesetzes als Kontrollobjekt. Insofern konnte sie zwischen Vertragsund Verfassungskontrolle keinen entscheidenden Unterschied ausmachen. Angesichts der tiefen Verankerung der Unantastbarkeitsdoktrin im französischen Rechtsdenken war es wenig überraschend, daß auch Art. 28 der neuen Verfassung von 1946 zu keiner grundlegenden Änderung der Situation fuhrte. Die Stimmen, die in ihm ein Signal zur Abkehr von der "Matter"-Doktrin sahen 75 und durch einige instanzgerichtliche Urteile zunächst Bestätigung zu finden schienen76, mußten durch die mehrheitlich der herkömmlichen Linie treu bleibende Rechtsprechung vor allem der obersten Gerichte 77 schnell enttäuscht werden. Für ein Fortschreiten im bisherigen Sinne wurde neben entstehungsgeschichtlichen Gründen 78 als zusätzliches Argument die Errichtung der (wenn auch äußerst schwachen) Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt des Comite Constitutionnel ins Feld gefuhrt. Der Verfassungsgeber habe hiermit, so wurde argumentiert, die Frage der Gesetzeskontrolle einer abschließenden Regelung zufuhren wollen; Normverwerfungsbefugnisse- und noch dazu nur präventivehabe die Verfassung ausschließlich dem Comite Constitutionnel übertragen, in dessen Zuständigkeiten der einfache Richter eingreifen würde, wenn er das Gesetz einer Vertragskontrolle unterwerfe: "une loi votee et promulgee est censee de respecter Ia Constitution et Je juge ne pourra que l'appliquer. S'il agissait autrement, il empieterait sur les attributions du Comite constitutionnel"79. Insgesamt überwogen in der Literatur diejenigen, welche Art. 28 zwar als materielles Bekenntnis zur Höherrangigkeit des Vertrages auch gegenüber nachfolgenden Gesetzen auffaßten, in ihm aber keine konkrete Ermächtigung der Gerichte zur Umsetzung dieser Regel zu erblicken vermochten 80 . Allein aus 75

J - P Niboyet (FN . 2), S. 90; J Donnedieu de Vabres (FN. 2), S. 8.

76

Nachweise bei J Schilling (FN . 12), S. 112 ff.

77

Nachweise bei L. Preuss (FN. 66), S. 222; J Schzlling (FN. 12), S. 115 ff.

Schilling (FN. 12) S. I 07 berichtet unter Berufung auf die Sitzungsprotokolle der Konstituante von 1946, daß der "rapporteur general" Coste - Floret gemeinsam mit Pierre Cot zunächst eine Bestimmung vorgeschlagen hatte, die staatlichen Gesetzen ausdrücklich die Fähigkeit absprach, vertragliche Bestimmungen zu derogieren. Dieser Vorschlag sei jedoch wieder fallen gelassen worden. 7x J

79 "Ein beschlossenes und veröffentlichtes Gesetz hat als verfassungsmäßig zu gelten und muß vom Richter angewandt werden. Ansonsten würde er in die Zuständigkeiten des Comite Constitutionnel eingreifen"; M. Mouskhely (FN. 10), S. 115.

Ko H. Battifol, Urteilsanmerkung, RCDIP 1947, S. 434; J. Mazeaud, Urteilsanmerkung, JCP 1949, II, 4691; H. Moutulsky, Urteilsanmerkung, RCDIP 1949, S. 58 ff., 63; M. Mouskhely (FN. I 0), S. 115; L. Preuss (FN. 66), S. 219 f.; M. Mignon, Le contröle juridictionnel de Ia constitutionnalite des lois, D 1952, Chr., S. 45 ff., 50; P de Visscher, Les tendances internationales des constitutions modernes, RdC 80 ( 1952 1), S.

II. Ausgangsbedingung: Doktrin der "souverainete de Ia loi"

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der hierarchischen Abstufung beider Normen folgte fiir diese Autoren eine solche Ermächtigung noch nicht: " ... en appliquant Ia plus forte, il (= der Richter, Anm. d. Verf.) excerce un choix, puisqu'il ecarte l'une au profit de l'autre; or il lui faudrait le pouvoir de choisir, et ce pouvoir, il ne le possede pas"sJ. Da die neue Verfassung von 1958 gleichfalls keine ausdrückliche Zuerkennung von Vertragskontrollkompetenzen enthielt, sondern sich wie ihre Vorgängerio mit einer bloß abtrakten Anerkennung der "autorite superieure" von Verträgen begnügte (Art. 55), versprach auch sie zunächst keine durchgrefende Änderung der Lage. Im Gegenteil: Das Bekenntnis zur Höherrangigkeit von Verträgen war durch die Reziprozitätsklausel des Art. 55 und das Weglassen des in Art. 28 Verfassung 1946 noch enthaltenen Hinweises auf die Unzulässigkeil einseitiger innerstaatlicher Vertragsaufkündigung sogar leicht abgeschwächt worden 82 . Hinzu kam, daß das Argument einer Monopolisierung der Gesetzeskontrolle beim neu geschaffenen Verfassungsgericht hinsichtlich des im Vergleich zum alten Comite Constitutionnel ungleich stärker konzipierten Conseil Constitutionnel noch an Gewicht gewinnen konnte83 • Schließlich konnte man angesichts der Gaullistischen Dominanz im Prozeß der Verfassungsgebung84 davon ausgehen, daß die neuen Vorschriften aus einer allgemein restriktiveren Vorstellung vom Völkerrecht und der ihm zukommenden Stellung im innerstaatlichen Raum heraus entstanden waren85 . Es war daher zunächst nicht überraschend, daß die Gerichte ihre bisherige Linie - Verweigerung ausdrücklichen Vorrangs des Vertrages, Abmilderung durch vertragsfreundliche Gesetzesinterpretation- fortsetzten 86 . Auf der anderen Seite ergaben sich beim Blick auf das Ganze der neuen Verfassung von 1958 aber auch unübersehbare Ansätze fiir eine mittel- oder langfristige Umkehr der Rechtsprechung zum lex-posterior-Problem. Denn sie verschob in bedeutsamer Weise die bisherigen institutionellen Prämissen der 511 ff., 566: G. Burdeau, Droit Constitutionnel et institutions politiques, 7. Autl., Paris 1957. s. 89. KJ "durch die Anwendung des ranghöheren übt (der Richter] eine Wahl aus, weil er das eine zugunsten des anderen zurückstellt; dementsprechend bedürfte er einer Auswahlbefugnis, und diese Befugnis hat er nicht"; H. Battifol (FN. 80), S. 434.

K!

J. Schilling (FN. 12), S. 155; A. Seidel (FN. 14), S. 69.

83

Zu den Unzulänglichkeiten dieses Arguments siehe unten unter III., 3., a).

84

Näher FA. Hermens, Von der vierten zur fiinften Republik, ZfP 1958, S. 193 ff.

Zu weitgehend aber sicherlich J. Schilling (FN. 12), S. 126, der den außenpolitischen Konzeptionen de Gaulies und Debres den Rang "authentischer Interpretationen des Willens des pouvoir constituant" zuspricht. 85

86

Etwa CE v. 7. 4. 1965, Hurni, Rec. 226.

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

Doktrin der "souverainete de Ia loi". Namentlich galt dies fiir die Neuordnung des Verhältnisses der legislativen zur exekutiven Gewalt. Das Parlament erfuhr durch die Verfassung der V. Republik eine deutliche Abwertung, sowohl was die Teilhabe an der politischen Staatsleitung, als auch was die Gesetzgebung im engeren Sinne betra~7 • Als gewichtigste Institution der V. Republik erwies sich schnell diejenige des (seit der Verfassungsänderung von 1962 plebiszitär legitimierten) Staatspräsidenten, der - alleine oder über die von ihm zu ernennende Regierung - über eine Reihe außerordentlich weitgehender Mittel zur Disziplinierung des Parlaments verfilgte 88 • Dieses konnte nur noch während beschränkter Sitzungsperioden zusammentreten (Art. 28) und mußte eine deutliche Minderung seiner Kontrollmöglichkeiten gegenüber Staatspräsident bzw. Regierung hinnehmen89 • Besonders einschneidend war die Beschränkung seiner Gesetzgebungsbefugnisse: Die neue Verfassung enumerierte in Art. 34 bestimmte Gesetzesmaterien und verwies hinsichtlich der übrigen Materien auf den Verordnungsweg (Art. 37), durchbrach also die traditionelle (wenn auch in der Praxis nicht immer voll realisierte) parlamentarische Allzuständigkeit Auch die Aufwertung der Verfassungsgerichtsbarkeit - vor dem Hintergrund der bisherigen Verfassungsgeschichte eine außerordentlich weitreichende Neuerung konnte schließlich als ein Zeichen gesunkener Autorität der gesetzgebenden Gewalt genommen werden. Der neue Conseil Constitutionnel ließ sich bei genauerer Betrachtung nämlich nicht nur für sondern ebensogut gegen die Doktrin der "souverainete de Ia loi" in Anspruch nehmen: mit Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit, so ließ sich argumentieren, sei in exemplarischer (statt abschließender) Weise vom traditionellen Gesetzesverständnis Abstand genommen worden; wenn auf Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit der K? AusfUhrlieh zum Ganzen R. Echterhölter, Die verfassungsmäßige Ordnung der fünften französischen Republik, AöR 84 (1959), S. 330 ff. ; H. W Ehrmann, Die Verfassungsentwicklung im Frankreich der Fünften Republik, JÖR N.F. 10 (1961), S. 353 ff. ; H. - J. Menge/, Die Verfassung der V.Republik Frankreichs. Beispiel einer stillschweigenden Verfassungstransformation, JÖR N.F. 30 (1981), S. 21 ff. sowie vor allem die umfangreiche Arbeit von R. Grote, Das Regierungssystem der V. Französischen Republik. Verfassungstheorie und - praxis, Baden - Baden 1995. 88 Neben dem Auflösungsrecht (Art. 12) das Recht zur Einleitung eines Referendums (Art. II) und die vornehmlich aus den Art. 40, 44, 47, 49 resultierende Möglichkeit zu weitgehender Kontrolle des Gesetzgebungsverfahrens. Diese gipfelt in der Regelung des Art. 49 Abs. 3, wonach bei einer Verbindung von Vertrauensfrage und Gesetzesvorlage letztere als beschlossen gilt, wenn nicht innerhalb von 24 Stunden ein Mißtrauensantrag eingebracht und mit der Mitgliedermehrheit der Nationalsversammlung angenommen wird. 89 Charakteristisch hierflir Art. 49 Abs. 2: danach kann über Mißtrauensanträge erst 48 Stunden nach ihrem Einbringen abgestimmt werden; bei der Abzählung werden nur die für den Antrag abgegebenen Stimmen gezählt; wird der Antrag abgelehnt, können seine Unterzeichner in derselben Sitzungsperiode keinen neuen Antrag einbringen.

III. "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

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herkömmliche Unantastbarkeitsanspruch des Gesetzes aufgehoben werde, dann müsse dies auf die anderen Ebenen abstrahlen. In die französische Tradition des Parlaments- und Gesetzesabsolutismus schlug die neue Verfassung also tiefe Kerben. Hierin lag Sprengstoff für eine Rechtsprechung, die auf der Vorstellung vom Gesetz als heiliger, unantastbarer Emanation der volonte generale und vom Parlament als dem souveränen Ort ihrer Artikulation basierte. Das "ensemble de Ia situation juridique", von dem Latournerie in den Anträgen zur "Arrighi"-Sache gesprochen hatte, war damit in einer Weise verändert worden, die den Abbau der richterlichen Gesetzeshörigkeit - trotz der neuen Monopolisierungsthese - erstmals zu einer realistischen Option machen konnte.

111. Verweigerung des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht vor dem jüngeren nationalen Gesetz: Die "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968 Ungeachtet der in der neuen Verfassung schlummernden Ansatzpunkte für eine Umkehr in der Vorrangfrage blieb der Conseil d'Etat in seiner "Semoules"Entscheidung vom 1. 3. 196890 vorerst auf dem Boden der traditionellen Rechtsprechung. In diesem ersten91 zu ihm gelangten Fall eines Konfliktes zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und einer innerstaatlichen Gesetzesbestimmung jüngeren Datums entschied sich das oberste französische Verwaltungsgericht für die Anwendung der nationalen Norm - und verstieß damit klar gegen das gemeinschaftsrechtliche Vorranggebot

I. Sachverhalt

Gegenstand des Verfahrens war eine Entscheidung des französischen LandwirtschaftsministeTs vom 20. 12. 1963, mit der die Einfuhr von 400.000 Zentnern algerischen Weizengrieß genehmigt worden war. Der Kläger, der Verband der Grießhersteller Frankreichs ("Syndicat general des fabricants de semoules en France"), begehrte die Aufhebung dieser Genehmigung. Zur Be-

90

FN. 20.

G. Olmi, Les hautes juridictions nationales, juges du droit communautaire, Liber amicorum Pierre Pescatore, Baden - Baden 1987, S. 499 ff., 520. 91

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

gründung trug er vor, daß auf die Einfuhr gemäß der EWG-VO 19 I 62 vom 4. 4. 1962, die am 1. 7. 1962 in Kraft getreten und innerstaatlich durch Dekret vom 28. 7. 1962 umgesetzt worden war, eine gemeinschaftliche Abschöpfungsabgabe hätte erhoben werden müssen. Die Beklagtenseite berief sich demgegenüber auf eine französische Ordonnance vom 19. 9. 1962, die mit Hinblick auf die am 3. 7. 1962 eingetretene Unabhängigkeit des bis dahin zum französischen Staatsgebiet gehörenden Algeriens vorerst die Aufrechterhaltung der Einfuhrfreiheit algerischer Waren angeordnet hatte. Dieser Ordonnance war durch Gesetz vom 15. 1. 1963 nachträglich Gesetzeskraft verliehen worden. Aus der nationalen Ordonnance und aus der älteren Gemeinschaftsverordnung ergaben sich somit entgegengesetzte Rechtsfolgen. Anders als im Fall "Sanchez c. Consorts Gozland" war der Widerspruch zwischen der nationalen und der internationalen Norm nicht mehr im Wege der Auslegung aus der Welt zu deuten. Die Gemeinschaftsverordnung ließ sich nicht mit Anspruch auf Seriosität dahingehend interpretieren, daß sie fur den Fall des unabhängig gewordenen Algeriens eine Ausnahme hatte statuieren wollen92 • Ebenso ausgeschlossen war die Annahme, der französische Gesetzgeber habe bei Erlaß der Ordonnance die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen unberührt lassen wollen; denn die Anordnung der Abgabenfreiheit zielte schließlich auf ein bereits gemeinschaftsrechtlich voll belegtes Regelungsfeld93 . Dementsprechend war eine Vorrangentscheidung unausweichlich.

2. Urteil und Schlußanträge der Commissaire du Gouvernement

Der Urteilstext selbst war wie stets äußerst dürr. Der Conseil d'Etat begnügte sich mit der Feststellung, daß nach dem - durch die Ordonnance vom 19. 9. 1962 aufrechterhaltenen - alten Zollregime "l'entn!e en France de produits cerealiers en provenance d' Algerie ... n'etait pas soumise ni aux droits de douane, et ne l'aurait pas ete au prelevement que le decret du 28 juillet 1962 a substitue a ces droits en application du reglement no. 19 de Ia Communaute economique europeenne;... par suite, !es dispositions pn!citees de l'ordonnance du 19 septerobre 1962 font obstacle ace que ce prelevement soit opere'' 94 (Herv. v. Verf. ). 92

Näher L. J. Constantinesco, Urteilsanmerkung, EuR 1968, S. 318 ff., S. 321 f.

L. Dubouis, Le juge administratif francais et Ies regles du droit international, AFDI 1971 , S. 9 ff., 53. 93

94 "auf die Einfuhr von Waren aus Algerien nach Frankreich weder Zölle erhoben wurden, noch hierauf die Abschöpfungsabgabe erhoben worden wäre, welche das Dekret vom 28. Juli 1962 in Ausfiihrung der Verordnung Nr. 19 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an ihre Stelle gesetzt hat; folglich untersagen die genannten

III. ,.Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

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Der nationalen Iex posterior wurde damit stillschweigend, "de maniere discrete"95, der Vorzug vor der EWG-VO 19 I 62 gegeben und der Konflikt zwischen französischer und Gemeinschaftsrechtsordnung nicht einmal offen thematisiert96 . Näheren Aufschluß konnten erneut erst die Schlußanträge der Commissaire du Gouvernement, Nicole Questiaux,97 geben. Questiaux erwog zunächst doch noch die Möglichkeit einer europarechtskonformen Auslegung der Ordonnance vom 19. 9. 1962 oder einer gesetzesfreundlichen Auslegung der europäischen Verordnung, wobei letzteres, wie sie selbst eingestand, eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erforderlich gemacht hätte98 . Der Aussichtslosigkeit einer interpretativen Konfliktlösung konnte allerdings auch sie sich nicht verschließen. Daß die nationale Ordonnance einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung schlechterdings unzugänglich blieb, war nicht zu übersehen. Was die EWG-Verordnung 19 I 62 betraf, so zog Questiaux sich auf den Standpunkt zurück, ihre Auslegung bzw. Vorlage würde sich letztlich erübrigen, wenn die nationale Ordonnance aus übergeordneten kompetenziellen Gründen fiir das Gericht in jedem Fall bindend sein sollte99 . Auf diesem (Um-) Weg war damit die Kernfrage der lex-posterior-Problematik aufgeworfen. Die Antwort, welche Questiaux hierauf gab, bestand aus einer nahtlosen Rezeption der klassischen Doktrin: Zwar gebiete Art. 55 der Verfassung materiell einen Vorrang internationalen Rechts vor innerstaatlichen Gesetzen, "mais Je juge administratif ne peut faire l'effort qui lui est demande sans Bestimmungen der Ordonnanz vom 19. September 1962, daß diese Abschöpfungsabgabe erhoben wird ...". 95 M. L. , Urteilsanmerkung, D 1968, Jur., S. 268 ff., 268. Bei "M.L." handelt es sich, wie allgemein vermutet wird, um Maurice Lagrange, der als Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof Verfasser der Schlußanträge in der "Costa I ENEL"-Sache gewesen ist; vgl. H. P lpsen, Urteilsanmerkung, EuR 68, S. 330 f., 330. Siehe auch die deutliche Anspielung, die Lagrange später selbst vorgenommen hat; Les obstacles constitutionnels a l'integration europeenne, RTDE 1969, S. 240 ff., 151. 96 Vgl. L JConstantinesco (FN. 92), S. 321 ("Das Urteil vermeidet es, den Konflikt ins volle Licht zu rücken und offen gegen Art. 55 der Verfassung Stellung zu beziehen"). 97

Hier zitiert nach dem Abdruck in RCDIP 1968, S. 516 ff.

98

FN. 97, S. 519 ff.

FN. 97, S. 523 I 524. Dieser Standpunkt war an sich angreifbar, denn nach der "Matter"-Doktrin hätten vor Vomahme einer Vorrangentscheidung sämtliche Mittel zur interpretativen Konfliktauflösung - wozu auch das Einholen einer Auslegung der EWGVO durch den EuGH gehört hätte - ausgeschöpft sein müssen. Eine Vorlage an den EuGH wollte Questiaux jedoch offenbar vermeiden - wohl wegen des zu erwartenden negativen Ergebnisses, welches den Eklat, den das Urteil auf Gemeinschaftsebene schließlich hervorrief, noch vergrößert hätte. 99

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

modifier, de sa seule volonte, sa place dans !es institutions" 100. Denn ihm sei strikte Bindung an das Gesetz auferlegt: "II ne peut ni censurer ni meconnaitre une loi. Cette consideration l'a toujours conduit a refuser d'examiner !es moyens tires de l'inconstitutionnalite d'une loi (6 novembre 1936, Arrighi ...)"; "Ia mission de celui-ci reste celle, subordonnee, d'appliquer Ia loi. Le juge n'est pas habilite ... a faire une hierarchieentre les lois" 101 . Dies entsprach nach Inhalt wie Diktion exakt dem, was Latournerie und Matter bereits vor Jahrzehnten ausgefiihrt hatten: Die Gerichtsbarkeit sei wegen der Unantastbarkeit des Gesetzes und der institutionellen Suprematie des Parlaments darauf beschränkt, gesetzgeberische Willensäußerungen ohne Rücksicht auf ihre materielle Richtigkeit umzusetzen. Eine Entscheidung über die Anwendbarkeit des Gesetzes im Verhältnis zu konkurrierenden bzw. übergeordneten Rechtsquellen müsse ihr versagt bleiben: "si Je legislateur a manifeste une volonte precise ... , aucune disposition de Ia Constitution ...ne dispense Je juge de respecter cette volonte"102. Daß mit der institutionellen Abwertung des Parlaments in der Verfassung von 1958 Ansatzpunkte fiir eine Aufweichung dieser schrankenlosen Gesetzeshörigkeit entstanden waren, wurde von Questiaux durchaus erkannt: "il est soutenu que la traditionelle abstention du juge devant les actes du legislateur serait moins justifiee, des le moment ou notre Constitution ne reconnait plus Ia suprematie du Parlement" 103 . Questiaux hielt die Veränderung der verfassungsrechtlichen Rahmendaten jedoch nicht fiir so gravierend, daß sie eine Umkehr in der lex-posterior-Frage erforderlich gemacht hätten. Denn die neue Verfassung erschöpfe sich in der Umordnung "de l'equilibre du pouvojr legislatif et du pouvoir reglementaire, elle n'a pas juge bon de definir d'une nouvelle maniere

100 FN. 97, S. 524 - "Aber der Verwaltungsrichter kann das von ihm verlangte Vorgehen nicht leisten, ohne eigenmächtig seine Stellung innerhalb der Institutionen zu verändern". 101 FN. 97, S. 524 - "Er darf ein Gesetz weder kontrollieren, noch sich seiner Anwendung verweigern. Aus diesem Grund hat er es stets abgelehnt, solchen Vorbringen nachzugehen, die sich auf die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes stützen (6 November 1936, Arrighi ...)"; "seine Aufgabe bleibt eine untergeordnete, nämlich diejenige der bloßen Gesetzesanwendung. Der Richter ist nicht ermächtigt, eine Rangordnung zwischen Gesetzen zu bilden" (mit dem letzten Satz zitierte Questiaux einen zwei Jahre zuvor veröffentlichten Aufsatz von Odent). 102 FN. 97, S. 525 - "Wenn sich ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers manifestiert, dann kann keine Verfassungsbestimmung den Richter aus der Pflicht lösen, diesen Willen zu respektieren".

103 FN. 97, S. 524 - "Es wird vertreten, daß die traditionelle Zurückhaltung des Richters gegenüber Akten des Gesetzgebers nun, wo unsere Verfassung nicht länger den Vorrang des Parlaments festschreibt, weniger zwingend geworden ist".

III. "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

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les pouvoirs du juge" 104 - Schwächung der legislativen Gewalt also nur im Verhältnis zur erstarkten Exekutive und keine Änderung der traditionellen Funktions- und Kompetenzzuweisung an die Gerichtsbarkeit. Im Gegenteil: Questiaux ließ durchschimmern, daß sie der Auffassung zuneigte, mit der Einrichtung einer Normenkontrolle beim Conseil Constitutionnel habe die neue Verfassung sogar noch ein zusätzliches Argument gegen eine (einfach-) richterliche Vertragskontrolle geliefert. Dieses Argument spitzte sie in aufschlußreicher Weise zu. Der entscheidende Satz lautete in diesem Zusammenhang: "Ia Constitution a pn!cisement traite du contröle de la constitutionnalite des lois pour en retenir une conception limitee et le confier au Conseil constitutionnel" 105 • Dies implizierte (und wurde auch so verstanden 106), daß die - im Fall ja allein in Frage stehende - Vertragskontrolle als ein Akt der Verfassungskontrolle einzustufen wäre 107 ; Questiaux hatte ausdrücklich von "contröle de constitutionnalite", nicht allgemein von "contröle de Ia loi" gesprochen. Einen Anflug von Plausibilität erhielt die hiermit vorgenommene Gleichstellung von Vertrags- und Verfassungskontrolle dadurch, daß die Verfassung selbst in Art. 55 die Gewährleistung des vertraglichen Vorrangs festgeschrieben hatte. Erlaß und Anwendung eines vertragswidrigen Gesetzes ließen sich hierdurch zugleich als Verfassungsverletzung begreifen - mit der Folge, daß der Richter, wenn er das Gesetz auf seine Vertragsgemäßheit kontrolliert, automatisch auch seine Verfassungsmäßigkeit mitprüft und damit eine Tätigkeit ausübt, die - insoweit auch unbestreitbar - nur dem Conseil Constitutionnel zusteht. Würde der Conseil d'Etat also im vorliegenden Fall die Ordonnance vom 19. 9. 1962 auf ihre Vereinbarkeit mit dem Römischen Vertrag hin untersuchen, so die Suggestion der Einlassung von Questiaux, dann greife er sogar in die Kompetenzen des Conseil Constitutionnel ein!

104 FN. 97, S. 524- "der Gewichtsverteilung zwischen legislativer und verordnungsgebender Gewalt und hat keinen Anlaß gesehen, den Umfang der richterlichen Gewalt neu zu definieren." 105 FN. 97, S. 524 -"Die Verfassung hat jedoch die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeil von Gesetzen detailliert geregelt und hat sie abschließend dem Conseil Constitutionnel überantwortet".

106 Von den unmittelbaren Kommentatoren der "Semoules"-Entscheidung etwa R. Kovar, Urteilsanmerkung, RCDIP 1968, S. 527 ff., 531 ("serie de variations autour d'un theme unique qu'il est possible de resumer en disant que le juge francais n'est pas competent pour contröler Ia constitutionnalite d'une loi"). In jüngerer Zeit noch G. Jsaac, Urteilsanmerkung, RTDE 1989, S. 787 ff., 789; D. Ludet I R. Stotz, Die neue Rechtsprechung des französischen Conseil d'Etat zum Vorrang völkerrechtlicher Verträge, EuGRZ 1990, S. 93 ff., 94 I 95. Siehe auch D. Baumgartner, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor französischem Recht, DVBI. 1977, S. 70 ff., 73. 107

T de Berranger (FN. II ), S. 218 f.

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte 3. Analyse

a) Die Gleichstellungsthese Questiaux' Vor allem die letztgenannte Argumentationsfigur Questiaux' eröffnete breite Angriffsflächen fiir literarische Kritik 108 • Denn bei näherer Betrachtung verlor die Gleichstellungsthese schnell ihre Überzeugungskraft Da sich Vertrags- und Verfassungskontrolle nicht nur nach ihrem (primären) Prüfungsmaßstab unterscheiden, sondern auch nach wesentlichen Eigenheiten der Kontrolltätigkeit109, ihren verfahrensmäßigen Voraussetzungen und hinsichtlich der jeweiligen Entscheidungsfolgen (begrenzte Anwendungsnachrangigkeit auf der einen, generelle Unwirksamkeit auf der anderen Seite), gab es gewichtige Gründe fiir eine differenzierende Betrachtung. Vor allem litt die These Questiaux' daran, daß sie konsequenterweise eine Zuständigkeit des Conseil Constitutionnel fiir die Prüfung der Völkerrechtsmäßigkeit nationaler Gesetze fordern mußte -weil die Völkerrechtsmäßigkeit nach ihrer Lesart ja qua Art. 55 zur Frage der Einhaltung der Verfassung werden und damit unter die (präventive) Wächteraufgabe des Verfassungsgerichts nach Art. 61 fallen würde. Die Vorstellung, der Conseil Constitutionnel würde sich auf eine solche Prüfung - die sämtliche von Frankreich abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge zu Maßstabsnormen der Verfassungskontrolle gemacht hätte - tatsächlich einlassen, war jedoch alles andere als realistisch und wurde von ihm später (1975) auch zurückgewiesen 110 . Die Gleichstellungsthese war neben dem Bekenntnis zur "souverainete de Ia loi" an sich überflüssiger Ballast. Daß dem als prinzipiell fiir die Gerichtsbarkeit imperativ gedachten Gesetz auch nicht gegenüber einem völkerrechtlichen Vertrag bzw. europäischem Recht seine Anwendbarkeit genommen werden könne, war aus sich heraus perfekt verständlich - und es war rational weit schlechter angreifbar, denn zugrunde lag hier die Behauptung, das geltende Verfassungsrecht in Gestalt von Art. 55 sei hinsichtlich seiner institutionellen Adressierung im Lichte der überkommenen Grundsätze französischer Verfassungstheorie zu interpretieren: eine viel schwerer zu falsifizierende Aussage.

108 Speziell gegen die Gleichsetzungsthese L. J Constantinesco (FN. 92), S. 326 f.; C. Constantinides - Megret, Urteilsanmerkung, RTDE 1968, S. 396 ff., 399; M. L. (FN. I 03), S. 289; R. Kovar (FN. 114), S. 531. 109 M. L. (FN. 95), S. 289 hob beispielsweise hervor, daß die Vertragskontrolle im Unterschied zur Verfassungskontrolle den Richter nicht dazu zwinge, die Verfassung auszulegen (und hierdurch, so wäre hinzuzufligen, in den Kompetenzbereich des Conseil Constitutionnel einzugreifen). 110 Hierzu sogleich unter IV., I.

III. "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

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Der zusätzliche Rekurs auf die Monopolisierung der Verfassungskontrolle beim Conseil Constitutionnel wirkte demgegenüber vernebelnd und schwächte eher die eigene Position. Er verfilhrte Autoren zu dem Mißverständnis, mit der (leicht zu bewerkstelligenden) Entkräftung der Gleichstellungsthese könne man die gerichtliche Position zur Gänze zum Einsturz bringen. Für den ersten, wichtigeren Pfeiler der Argumentation, die Doktrin der "souverainete de Ia loi", war die Frage der Kompetenzabgrenzung gegenüber dem Verfassungsgericht an sich ein völlig belangloser Gesichtspunkt. Für sie war ausschlaggebend die Unantastbarkeit des Gesetzes als Objekt, nicht seine (in der Tat nur gegenüber dem Conseil Constitutionnel durchbrochene) Immunisierung gegen den spezifischen Maßstab "Verfassung". Es war filr sie nicht die Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit, die den entscheidenden Grund filr die Unantastbarkeit des Gesetzes gab. Der neue Conseil Constitutionnel - genauer: die Monopolisierung (gewöhnlicher) Normenkontrollen bei ihm sowie deren begrenzte, sprich: rein präventive Ausgestaltung - konnte allenfalls als ein Ausdruck hiervon gelten 111 • Aus Sicht der Doktrin der "souverainete de Ja Joi" wurden folglich von der Gleichstellungsthese Ursache und Wirkung vertauscht.

b) Das Festhalten an der Doktrin der ,.souverainete de Ia loi " Die im Ergebnis damit eher kontraproduktive Verbreiterung des Begründungsansatzes mußte als Reaktion auf den zunehmenden Druck gedeutet werden, unter den die traditionelle Gesetzesdoktrin infolge der veränderten konstitutionellen Rahmendaten inzwischen doch geraten war. Questiaux konnte nicht übersehen, daß die Doktrin der "souverainete de Ja loi" mittlerweile Gefolgschaft eingebüßt hatte 112 und empfand daher offensichtlich das Bedürfnis nach einer zusätzlichen argumentativen Stütze. Ihre eigenen AustUbrungen 111 Vgl. R. Abraham, Droit international, droit communautaire et droit francais, Paris 1989, S. 166; H. Calvet, Urtei1sanmerkung, JCP 1990 I, 3429, No. 3. Besonders hervorgehoben bei C. Lerche, Ein Sieg für Europa ? - Anmerkung zum Urteil des Conseil d'Etat vom 20. 10. 1989, Fall Nicolo, ZaöRV 50 (1990), S. 610 f 112 Questiaux (FN. 97), S. 524 meinte, "Ia quasi unanimite de Ia doctrine" habe sich mittlerweile von der traditionellen Linie abgewandt. Aus der Literatur nach 1958 hatten sich fiir die Zulässigkeil richterlicher Vertragskontrolle ausgesprochen: Nguyen Quoc Dinh (FN. 6), S. 553; D Vignes, L'autorite des traites internationaux en droit interne, Travaux et recherches de !'Institut de droit compare de I'Universite de Paris, XXIII, Paris 1962, S. 475 ff., 481 f., 483 ; A. Npy, L'art. 177 du Traite de Rome et !es juridictions francaises, RCDIP 1963, S. 475 ff., 695 ff., 695 f ; bereits in der Auflage von 1953 C. Rousseau, Droit International Public, Paris, S. 48. Kritisch dagegen F Batailler, Le juge interne et le droit communautaire, AFDI 1963, S. 735 ff. , 770.

4 Hecker

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

offenbarten unfreiwillig, mit welchen Schwierigkeiten das Durchhalten der traditionellen Position mittlerweile verbunden war. Vor allem der Befund, die Beschneidung der legislativen Gewalt wirke sich nur im Verhältnis zur Exekutive aus, war allzu durchsichtig und beschönigte das wahre Ausmaß der verfassungsrechtlichen Umwälzung in einer Weise, die schon auf Anhieb unplausibel wirkte. Es war schlechterdings nicht zu leugnen, daß die radikale Beschneidung der legislativen Kompetenzen des Parlaments ebenso wie seine allgemeinpolitische Abwertung den hergebrachten Anspruch, die volonte generale zu verkörpern, nachhaltig erschütterten. Daß diese Erschütterung sich nur in einer Richtung bemerkbar machen, um die Judikative gewissermaßen einen Bogen schlagen sollte, war kaum nachvollziehbar. Maurice Lagrange brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: "Ia souverainete nationale ne s'exprime pas seulement par l'election des membres de !'Assemblee, mais aussi, directement, par le referendum et par l'election du President de Ia Republique au suffrage universel. Un nouvel equilibre des pouvoirs s'est etabli, dans lequel Je Parlement n'est plus 'souverain', mais erxerce une fonction ...On ne voit, des lors, pas pourquoi Je juge, qui, de son cote, est egalement investi d'une fonction, celle de juger, ne l'exercerait pas pleinement" 113 • Für Lagrange und andere 114 lagen mit der neuen Verfassung endgültig die erforderlichen Voraussetzungen vor, um Art. 55 beim Wort nehmen zu können. Wenn diese Vorschrift das Prinzip des Vorrangs völkerrechtlicher Verträge aufstelle, so ihr Ansatz, dann gebiete es das Erfordernis einer Effektuierung von Verfassungsnormen, dieses Prinzip auch gerichtlicherseits zu befolgen. Andernfalls verbleibe Art. 55 in dem unbefriedigenden Status einer "lettre morte" 115 • Vor dem Hintergrund der Entmystifizierung des Gesetzes könne Art. 55 unbedenklich dahingehend interpretiert werden, daß er sich auch an die Gerichtsbarkeit wende 11b. Mit ihr sei der Weg fur eine konsequente Umsetzung der

113 "die nationale Souveränität äußert sich nicht mehr alleine in der Wahl der Abgeordneten, sondern ebenso unmittelbar auch im Referendum und in der auf der Basis eines allgemeinen Wahlrechts erfolgenden Wahl des Präsidenten der Republik. Es hat sich ein neues Gleichgewicht zwischen den Gewalten herausgebildet, in dem das Parlament nicht mehr als ' souverän ' gelten kann, sondern eine Funktion innehat...Es liegt daher kein Grund vor, warum der Richter, der seinerseits Träger einer Funktion ist nämlich derjenigen zur Rechtsentscheidung- , diese nicht ebenfalls voll ausüben sollte"; Urteilsanmerkung (FN. 95), S. 288; ähnlich ders., Les obstacles (FN. 95), S. 252. 114 Zuvorderst L. J. Constantinesco (FN. 92), S. 327; C A. Colliard, Le juge administratif francais et le droit communautaire, FS M. Waline, Bd. I, Paris 1974, S. 187 ff., 201.

115

M. L. (FN. 95), S. 289; ähnlich C Rousseau (FN. 112), S. 1129.

M. Lagrange, Les obstacles (FN. 95), S. 252 meinte gar, nur bei Adressierung an die Gerichtsbarkeit mache Art. 55 überhaupt Sinn. Denn daß der Gesetzgeber den Vor116

III. "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

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Nonnenhierarchie nunmehr freigeworden. Mit welchem Recht, so wurde gefragt, könne der Richter unter den neuen Umständen noch ausdrückliche Verfassungsbestinunungen übergehen: "Je juge, mis en presence d'une loi qui est en contradiction avec un Traite, doit, pour se confonner a la Constitution, faire prevaloir celui des deux textes qui possede une autorite superieure ... Sinon, il meconnait ouvertement (autrement dit il viole) l'art. 55" 117 • Es sei nachgerade paradox, wenn die Rechtsprechung Verfassungsrechtssätze (Art. 55) verletze, nur um andere Verfassungsgrundsätze (die Unantastbarkeit des Gesetzes) zu schützen 118 • Diese Autoren dachten verfassungsstaatlich, d.h. im Sinne einer Optimierung materieller Verfassungsgehalte und der Einbindung aller Gewalten. Während die Rechtsprechung sich weiterhin an die (ungeschriebenen) traditionellen Grundsätze über die Abgrenzung der Entscheidungskompetenzen klammerte, plädierten sie gewissermaßen filr den Primat der materiellen Regel - sofern eine seriöse Auslegung dies hergab. Und so wenig sie es filr den Fall gewöhnlicher Nonnenkontrollen (von Gesetzen am Maßstab der Verfassung) tat- denn diese wollte die neue Verfassung unbestreitbar beim Conseil Constitutionnel konzentrieren, was von der Literatur auch nicht in Frage gestellt wurde 119 - , so sehr tat sie es nach Auffassung dieser Autoren im Hinblick auf die lex-posterior-Frage. Mit dieser neuen Verfassung war filr sie die unterschwellige Prophezeiung, welche die "Arrighi"-Entscheidung mit ihrer Wendung vom "etat actuel du droit public" aufgestellt hatte 120, nunmehr zumindest in einem Teilbereich Wirklichkeit geworden - hieraus galt es nun die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Mit diesem Ansatz war eine überzeugende und in sich schlüssige Alternative zum Konzept der Rechtsprechung entwickelt worden, schlüssiger insbesondere als die alte Trennungsthese Niboyets 121 • Mußte diese mangels eines Anhalts im rang völkerrechtlicher Verträge zu respektieren habe, sei seit jeher eine Selbstverständlichkeit gewesen. 117 M. L. (FN. 95), S. 288 - "wenn sich der Richter einem vertragswidrigen Gesetz gegenübersieht, muß er, um der Verfassung gemäß zu handeln, denjenigen beider Texte anwenden, welcher den höheren Rang innehat...Andemfalls verkennt er eindeutig (anders gesagt: verletzt er) Art. 55". 118

119

L. J. Constantinesco (FN. 92), S. 328. M. L. (FN. 95), S. 288: "toute Ia question est de savoir si cette regle [der Unantast-

barkeit des Gesetzes durch die einfache Gerichtsbarkeit - Anm.d.Verf.] ne doit pas souffrir une exception dans Je cas tout a fait special de Ia conformite de Ia loi avec un Traite international" (Herv. v. Verf.). 120 Siehe den Bezug auf diese Wendung bei M. Lagrange, Les obstacles (FN. 95), S. 288. 121 Die allerdings immer noch durch die Kommentare zur "Semoules"-Entscheidung geisterte; vgl. M. L. (FN. 95), S. 289; L. J. Constantinesco (FN. 92), S. 327; R. Kovar

4*

52

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

Verfassungstext (der III. Republik) der traditionellen Linie noch eine Brücke bauen und den Konflikt Vertrag-Gesetz künstlich hinwegdeuteln ("dans son application du traite, le juge ne rencontre pas Ia loi" 122), so konnte der neue Ansatz den Konflikt unbefangen eingestehen und, gestützt auf den neuen konstitutionellen Rahmen, offensiv durchfechten. Der Übergriff in die legislative Sphäre wurde von ihm nicht mehr verschleiert, sondern freimütig zugegeben und verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Damit löste er sich, gestützt auf den verfassungsrechtlichen Kontext der Gegenwart, in rational begründeter Weise vom verfassungshistorischen Traditionsbestand und bot ein Alternativmodell zur Rechtsprechung an, dessen Attraktivität mit der Zeit nur steigen konnte.

c) Gemeinschaftsrechtliche Problemebene

Questiaux ging auf die Frage einer genuin-gemeinschaftsrechtlichen Vorrangbegründung nach dem Muster der "Costa I ENEL"-Entscheidung in ihren Schlußanträgen bezeichnenderweise mit keinem Wort ein, obwohl sie durchaus sah, daß die von ihr propagierte Linie Frankreich in die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens brachte 123 und im übrigen unter gemeinschaftlichen Aspekten alles andere als befriedigend war 124 • Aber, so Questiaux, es sei nicht die Verwaltungsgerichtsbarkeit, von der man eine Problemlösung erwarten dürfe; allenfalls würde die Section Administrative des Conseil d'Etat bei ihrer Beratungshilfe fiir den Gesetzgeber in Zukunft helfen können, Konflikte der vorliegenden Art gar nicht mehr entstehen zu lassen 125 • Auch Questiaux zog sich (FN. 114), S. 531. Was mit Blick auf die Gleichstellungsthese flir die Schlußanträge Questiaux' galt - nämlich daß zur Verteidigung der eigenen Position sämtliche Argumente ohne Rücksicht auf ihre individuelle Tauglichkeit aufgeflihrt wurden - , galt insofern auch flir ihre Opponenten. 122 J. - p Niboyet (FN. 72), S. 413 ff. 123 Die Kommission hatte zunächst erwogen, wegen des "Semoules"-Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einzuleiten, sah aber schließlich davon ab. Vgl. die Antwort der Kommission auf die schriftliche Anfrage eines Mitglieds der Versammlung, abgedruckt in RTDE 1970, S. 378 ff. 124 FN. 95, S. 525. 125 FN. 95, S. 526. Daß mit dem Verfahren präventiver Gesetzesbegutachtung durch die beratenden Abteilungen des Gerichts ein wirksames Mittel zur Gewährleistung von Gemeinschaftsrechtskonformität der französischen Rechtsordnung bereitsteht, ist in der französischen Literatur, vor allem aus Kreisen des Conseil d'Etat, ein stets beliebter Topos. Vgl. J. - C. Bonichot, Convergences et divergences entre le Conseil d' Etat et Ia Cour de Justice des Communautes europeennes, RFDA 1989, S. 579 ff., 579; B. Stirn, Le Conseil d'Etat et le droit communautaire. De l'application a l'elaboration, AJDA 1993, S. 244 ff., 245.

III. "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

53

damit letztlich auf den Standpunkt zurück, die "faute initiale" 126 liege beim Gesetzgeber. Für eine unmittelbar auf den Vertrag gestützte, speziell gemeinschaftsrechtliche Vorrangbegründung sprach immerhin, daß sie die Iex - posterior - Problematik um die Fälle mit dem größten praktischen Konfliktpotential erleichtert hätte. Insbesondere hätte die Zurücknahme des verfassungsrechtlichen Vermittlungsanspruchs die Verteidigungsfähigkeit der herkömmlichen Position gegenüber den verbleibenden völkerrechtlichen Fällen 127 verbessert 128 • Aber sie hätte zugleich ein Zugeständnis an die Logik der Supranationalität bedeutet, hätte die Perspektive eines völlig unkontrollierbaren Einfließens von Gemeinschaftsnormen in den nationalen Rechtsraum eröffnet. Und hierfür schien Questiaux offenbar die Zeit erst recht noch nicht reif zu sein. Sie und das Gericht gingen unbesehen von der Notwendigkeit einer nationalen Vermittlung (und Begrenzung) des Einfließens von Gemeinschaftsnormen aus. In der Literatur stieß dies auf Kritik. Colette Constantinides - Megret etwa, die ein Jahr vor der "Semoules"-Entscheidung in einer vielbeachteten Monographie den europäischen Geltungsgrund der Gemeinschaftsordnung thematisiert hatte 129, warf in ihrer Anmerkung zum "Semoules"-Urteil 130 dem Gericht ausdrücklich vor, daß es die gemeinschaftsrechtliche Vorangkonstruktion nach dem Vorbild der "Costa I ENEL"-Entscheidung übergehe; bei Lektüre des Urteils und der Schlußanträge "on pourrait etre amene a douter que !es structures d'acceuil en France soient actuellement susceptibles de permettre le respect de cette primaute necessaire" 131 • L. J. Constantinesco machte darauf aufmerksam, daß die Wahl zwischen verfassungsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Vorrangkonstruktion nicht ganz ohne praktische Erheblichkeit ist: Frankreich und Algerien hatten den Fortbestand der Zollfreiheit filr algerische Waren

126

Vgl. oben unter II., 2., c).

Daß flir diese die "Semoules"-Linie ebenfalls gälte, beeilte sich der Conseil d' Etat knapp zwei Monate später in der Entscheidung "Heid" vom 19. 4. 1968 festzustellen; Rec. 243. 127

128 Vgl. den werbenden Hinweis von M. L. (FN. 95), S. 286, die europäischen Verträge müßten nicht unbedingt wie andere Verträge behandelt werden. 129 Le droit de Ja Communaute econonomique europeenne et !'ordre juridique des Etats membres, Paris 1967.

°FN. 108, S. 396 ff.

13

FN. 108, S. 398 - "kann man sich wirklich fragen, ob unter den gegenwärtigen Bedingungen in Frankreich dieser Vorrang [des Gemeinschaftsrechts] beachtet wird" . 131

54

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

ursprünglich in einer zwischenstaatlichen Vereinbarung niedergelegt, die als völkerrechtlicher Vertrag einzustufen war, allerdings mangels ordnungsgemäßer Veröffentlichung als unwirksam angesehen wurde und daher den Erlaß der Ordonnance vom 19. 9. 1962 erforderlich gemacht hatte. Wäre die Vereinbarung zwischen Frankreich und Algerien als solche wirksam geworden, so Constantinesco, dann hätte sie sich als späterer Text gegenüber der EWG-VO Nr. 19 durchsetzen müssen - und zwar verfassungsrechtlich völlig unbedenklich, denn einen Vorrang statuiere Art. 55 nur gegenüber Gesetzen; im Verhältnis völkerrechtlicher Akte untereinander und also auch im Verhältnis zwischen Völkerrecht und Gemeinschaftsrecht müsse hingegen die zeitliche Reihenfolge den Ausschlag geben 132 • Die Konsequenz: Auch gegenüber kollidierendem internationalem Recht sei der Vorrang des Gemeinschaftsrechts unsicher, "solange er nicht als solcher festgelegt ist und nur auf dessen Eigenschaften als völkerrechtlicher Vertrag beruht" 133 (Herv. v. Verf.). Im Verhältnis zur verfassungsimmanenten Diskussion nahmen solche Interventionen jedoch einen geringeren Raum ein 134, wobei dies vermutlich weniger auf eine grundsätzliche Opposition der Autoren gegenüber dem gemeinschaftsrechtsrechtlichen Begründungsansatz zurückzufUhren war, als vielmehr darauf, daß die Frage nach der Aktualität der "souverainete de la loi" eine weit höhere prinzipielle Brisanz fur das französische Verfassungsverständnis im Ganzen besaß, über den vorliegenden Anlaß hinauswies und daher einen Großteil der Aufmerksamkeit absorbierte. Eine Rolle mag zudem gespielt haben, daß die von Constantinesco angefiihrte Konstellation einer Kollision von Gemeinschaftsrecht mit späterem Völkerrecht nicht gerade häufig vorzukommen versprach und damit unter praktischen Gesichtspunkten letztlich doch vernachlässigbar war (es vielleicht auch taktisch geschickter war, dem Gericht nicht gleich die supranationale Vorrangkonstruktion zuzumuten). Überhaupt mußte in Frankreich als einem Land mit großer völkerrechtswissenschaftlicher Tradition ein natürlicher Vorbehalt gegen eine Verengung der Vorrangfrage auf Gemeinschaftsrechtsakte bestehen. Die erhoffte Auflösung der lex-posterior-Problematik auch zugunsten des gewöhnlichen Völkerrechts war aber nur zu erreichen, wenn man die Kritik an der verfassungsrechtlichen Ebene ansetzte.

132

FN. 92, S. 319.

133

FN. 92, S. 319.

Eine ausführlichere Würdigung der gemeinschaftsrechtlichen Vorrangkonstruktion nahm von den Kommentatoren des Urteils, soweit ersichtlich, nur noch M. L. (FN. 95) vor. 134

111. "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1968

55

d) Resurne

Unter dem Strich ist somit festzuhalten, daß beim ersten Auftritt der Vorrangproblematik gegenüber europäischem Recht weitgehend der traditionelle verfassungsrechtliche Blickwinkel vorherrschend blieb. Daß mit den fraglichen Gemeinschaftsnonnen eine im Vergleich zum gewöhnlichen Völkerrecht qualitativ neuartige Rechtsmasse ins Spiel gekommen war - die Anlaß geboten hätte, sich von der Frage der Auslegung des Art. 55 ganz zu lösen - , wurde von Gericht und Commissaire du Gouvernement unbeachtet gelassen und auch von der Literatur nicht mit großem Nachdruck thematisiert. Eine Rolle mag hierbei gespielt haben, daß die zeitgenössische integrationspolitische Meinungslage in Frankreich im Jahr 1968 nicht gerade aufgeschlossen gegenüber dem Modell der Supranationalität war (die de Gaulische "Politik des leeren Stuhles" lag nicht einmal drei Jahre zurück). Auf der im Vordergrund belassenen nationalen Problemebene zeigte sich, daß die klassische Doktrin der "souverainete de Ia loi" dem Ansturm der verfassungsstaatlichen Argumentation noch einmal standgehalten hatte. Aber anders als in der Ära der besprochenen Leitentscheidungen aus den dreißiger Jahren hatte diese Argumentation mit den neuen verfassungsrechtlichen Rahmendaten von 1958 nunmehr einen günstigeren Nährboden erhalten. In der Herausbildung einer starken literarischen Gegenposition zur Linie des Conseil d'Etat machte sich dies ebenso bemerkbar wie - gleichsam im negativen - bei den Ausführungen der Commissaire du Gouvernement, die von zunehmender Argumentationsnot geprägt waren und einen leicht defensiven Zug angenommen hatten. Sie strahlten nicht mehr die Selbstgewißheit aus, die ehedem bei Latournerie und Matter zu beobachten gewesen war. Dem Gedanken, daß die neue Verfassung wenigstens für das begrenzte Feld des Vorrangs von Verträgen eine Abkehr von der "souverainete de Ia loi" nahegelegt hatte, konnten sie sich nur noch mit einiger Mühe entziehen. Bemerkenswert ist schließlich, daß weder in den Schlußanträgen von Nicole Questiaux, noch - soweit ersichtlich - in den Urteilsbesprechungen diskutiert wurde, den Anwendungsvorrang von Gemeinschaftsrecht (auch gegenüber dem späteren Gesetz) auf die Konstruktion eines bei Vertragsabschluß vom Parlament implizit erteilten Rechtsanwendungsbefehls zu stützen. Eine solche Lösung wäre methodisch kaum gewagter gewesen als etwa die konfliktvenneidenden Interpretationstechniken der französischen Gerichtsbarkeit in und nach der Entscheidung "Sanchez c. Consorts Gozland". Und sie hätte mit der Integrationsennächtigung in Absatz 14 der (fortgeltenden) Präambel der Verfassung von 1946 135 eine verfassungsrechtliche Grundlage finden 135 Auf die Funktion von Absatz 14 der Präambel von 1946 als "lntegrationshebel" der französischen Verfassung wird ausfUhrlieh im 2. Kapitel bei Erörterung der Kontrolle

56

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

können 136 • Im Vergleich zu den beiden anderen, in der französischen Literatur erörterten Lösungsmodellen wäre diese Konstruktion in mehrfacher Hinsicht salomonisch gewesen. Sie hätte zum einen am Postulat eines nationalen Vermittlungsrahmens festgehalten (also vermieden, das supranationale Faß der "Costa I ENEL" -Doktrin zu öffuen), zum zweiten den Kurswechsel aufs Gemeinschaftsrecht begrenzt (also anders als die "verfassungsstaatliche Lesart des Art. 55" hinsichtlich des Völkerrechts alles beim alten gelassen) - und drittens die Doktrin der "souverainete de Ia loi" in einem gewissen Umfang unbeschädigt gelassen: Denn bei Annahme eines bei Erlaß des Zustimmungsgesetzes erteilten Rechtsanwendungsbefehls wäre die richterliche (EWG-) Vertragskontrolle auf den eigenen Willen des Parlaments zurückzufuhren gewesen und damit als bloße Folge einer parlamentarischen Selbstbindung erschienen. Konzessionen an die Doktrin der "souverainete de Ia loi" wären mit dieser Konstruktion nur insoweit verbunden gewesen, als die Annahme der Selbstbindungsfahigkeit des Parlaments die Möglichkeit einer der traditionellen Vorstellung fremden Herrschaft des einen über die späteren Gesetzgeber eröffuet hätte. Diese Konsequenz ist im englischen Recht, das mit dem Prinzip der "sovereignty of Parliament" vor ähnlichen Problemen stand wie das französische, später (zumindest faktisch) akzeptiert worden 137 . Möglicherweise erschienen diese Konzessionen aus Sicht der "souverainete de Ia loi" als immer noch zu weitgehend und wurde die Konstruktion des Rechtsanwendungsbefehls deshalb in der französischen Diskussion - die sie auch später niemals thematisiert hat - nicht als echte Alternative zu den anderen Lösungsmodellen empfunden. Eine Rolle dürfte zudem gespielt haben, daß in die französischen Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen (anders als im englischen European Communities Act von 1972) keine in Richtung eines Rechtsanwendungsbefehls fruchtbar zu machende Bestimmung über die Verbindlichkeit des neuen Gemeinschaftsrechts eingefugt worden war.

vertragsschließender bzw. vertragsändernder Akte durch den Conseil Constitutionnel eingegangen. 136 Die insofern dieselbe Funktion erfüllt hätte wie Art. 24 I 23 N.F. in der vom Bundesverfassungsgericht favorisierten Vorrangkonstruktion (Vorrang des Gemeinschaftsrechts kraft des bei Vertragsschluß erteilten Rechtsanwendungsbefehls, zu dessen Erteilung Art. 24 I 23 N.F. ermächtigt). 137 Im einzelnen P Craig I G. de Burca (FN. 24}, S. 277 ff., die auch auf die Frage eingehen, ob die englischen Gerichte auch in theoretischer Hinsicht die Bindung nachfolgender Parlamente an den European Community Act bejahen.

IV. "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation von 1975

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IV. Die Wende in der ordentlichen Gerichtsbarkeit: Die "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation von 1975 Nach dieser ersten Standortbestimmung des Conseil d'Etat ging der aktive Part in der Auseinandersetzung um die lex-posterior-Problematik nunmehr auf die ordentliche Gerichtsbarkeit und ihre höchste Instanz, die Cour de Cassation, über. Diese entschied sich- in der feierlichen Besetzung als "Chambre Mixte'' 138 - im ,,Jacques Vabre"-Urteil vom 24. 5. 1975 139 zu einem "kühnen Bruch mit ihrer Tradition" 140 und gab einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimung den Vorrang vor einem französischen Gesetz jüngeren Datums. Zum ersten Mal waren damit die unbedingte Gesetzeshörigkeit der französischen einfachen Gerichte durchbrochen und die infiltrationshemmenden Fesseln der in der Revolutionsära begründeten Verfassungstradition abgestreift worden. Besonders spektakulär wirkte dabei, daß die Urteilsbegründung sich nicht nur auf eine neue Lesart des Art. 55 stützte, sondern zusätzlich auch ein Bekenntnis zur genuin - gemeinschaftsrechtlichen Vorrangbegründung enthielt. Auch insofern trat das Urteil demnach in einen Gegensatz zur "Semoules"-Entscheidung des Conseil d'Etat. Aus den Schlußanträgen des Procureur General, Francois Touffait, ging hervor, daß als maßgebliches Stimulans dieser Rechtsprechungswende eine kurz vorher ergangene Entscheidung des Conseil Constitutionnel gewirkt hatte. Zum besseren Verständnis der "Jacques Vabre"-Entscheidung wird daher zunächst kurz auf dieses Urteil eingegangen.

1. Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 15. 1. 1975 141

Prüfungsgegenstand dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens war das vom Parlament beschlossene Gesetz über den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch ("interruption volontaire de Ia grossesse"), welches fiir Abtreibungen innerhalb der ersten zehn Wochen nach Empflingnis eine weitgehende Straffreiheit vorsah

138 Hierbei handelt es sich um einen die einzelnen Fach-"chambres" umgreifenden Senat, der mit dem Großen Senat beim Bundesgerichtshof vergleichbar ist.

FN. 22. P Goyard, Die Stellung des Gemeinschaftsrechts im französischen Recht, DÖV 1989, s. 259 ff., 261. 141 No.74- 54 DC, Rec. 19. 139

140

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l. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

und damit faktisch eine Fristenlösung einfiihrte 142 • Die Antragsteller, eine Gruppe von 81 Abgeordneten der Nationalversammlung, sahen darin einen Verstoß gegen das Recht auf Leben als allgemeinen Rechtsgrundsatz sowie gegen die Präambel der Verfassung von 1946, welche in einer ihrer Bestimmungen Kindem Gesundheitsschutz durch die Nation zusichert. Zum anderen - und an dieser Stelle gelangte das Verfahren in Berührung zur Iex - posterior - Problematik - rügten sie eine Verletzung von Art. 55 der Verfassung: Das Gesetz sei unvereinbar mit Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und mißachte demzufolge das durch Art. 55 festgeschriebene Prinzip der Höherrangigkeit völkerrechtlicher Verträge. (Frankreich hatte die Menschenrechtskonven tion ein knappes Jahr vorher ratifiziert und sie war somit völkerrechtlich bindend geworden 143 .) Dieser Vorstoß war aus Sicht der einfachen Gerichtsbarkeit deshalb so interessant, weil mit ihm die Gleichstellungsthese Questiaux' auf den verfassungsgerichtlichen Prüfstand gestellt wurde: Läge, wie von dieser These impliziert worden war, in der gesetzgeberischen Mißachtung völkerrechtlicher Verträge zugleich - qua Art. 55 - ein Verfassungsverstoß, der einer Ahndung im Verfahren gewöhnlicher Verfassungskontrolle nach Art. 61 zugänglich wäre ? Wie nicht anders zu erwarten, gab der Conseil Constitutionnel hierauf eine verneinende Antwort. Seine Begründung lautete: Die Vorrangregel aus Art. 55 "presente un caractere a Ja fois relatif et contingent, tenant, d'une part, a ce qu'elle est limitee au champ d'application du traite et, d'autre part, a ce qu'elle est subordonnee a une condition de reciprocite dont Ia realisation peut varier selon le comportement du ou des Etats signataires du traite et le moment ou doit s'apprecier le respect de cette condition" 144 • - M. a. W.: das Zurücktreten des vertragswidrigen Gesetzes hänge von zwei Variablen ab, nämlich der konkreten Reichweite des vertraglichen Anwendungsgebietes sowie der Erfiillung des Gegenseitigkeitsvorbehaltes aus Art. 55. Dementsprechend könne man von Fall zu Fall zu wechselnden Ergebnissen gelangen und dies stünde mit den Strukturmerkmalen des Verfahrens gemäß Art. 61, welches auf "decisions ... revetent 142 Näher M. E. Eissen, Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel zum Gesetz über den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch, EuGRZ 75, S. 69 ff. 143 Pikanterweise hatte sich einer der antragstellenden Angeordneten, Jean Foyer, früher gegen die Ratifizierung der EMRK ausgesprochen. Michel Debre unterzeichnete als eingefleischter Skeptiker supranationaler Einbindungen Frankreichs die Beschwerde wegen ihrer Bezugnahme auf die EMRK nicht; Eissen (FN. 142), S. 71 FN. 5. 144 4.Erwägungsgrund - "[ist] zugleich relativ und ungewiß, wenn man sich vor Augen hält, daß [sie] zum einen auf das Anwendungsgebiet des Vertrages begrenzt und zum anderen dem Erfordernis der Gegenseitigkeit unterworfen ist, dessen Erflillung vom Verhalten des oder der anderen Unterzeichnerstaaten sowie von dem Zeitpunkt abhängt, in welchem jeweils die Erfiillung dieses Erfordernisses zu beurteilen ist".

IV. "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation von 1975

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un caractere absolu et definitif" 45 abziele, nicht im Einklang. Diesen eher verfahrenstechnischen, viele nicht überzeugenden 146 Erwägungen fUgte das Gericht die Feststellung hinzu: "Une loi contraire a un traite ne serait pas, pour autant, contraire a Ia Constitution" 147 . Dies war auch aufmateriellem Felde eine Absage an die Gleichstellungsthese: Dadurch, daß dem Gesetz die verfassungsrechtliche Auflage gemacht werde, das Völkerrecht zu beachten, gewinne jenes noch lange nicht Verfassungsrang 148 ; das vertragswidrige Gesetz mißachte zwar das Gebot des Art. 55 - dennoch werde es hierdurch nicht, wie beim Verstoß gegen sonstige Verfassungsnormen, in einem inhaltlichen Sinne verfassungswidrig149. Somit war klargestellt, daß der Conseil Constitutionnel nicht die Vertragsgemäßheil von Gesetzen kontrollieren würde. Folglich konnte eine Vertragskontrolle durch die einfache Gerichtsbarkeit, anders als von Nicole Questiaux im "Semoules"-Verfahren vertreten worden war, nicht in dessen Zuständigkeiten eingreifen.

2. Die Reaktion der Cour de Cassation und ihres Procureur General

Mit dieser Absage an die Gleichstellungsthese war einer der beiden Pfeiler der "Semoules"-Linie zum Einsturz gebracht - allerdings nur der schwächere, unbedeutendere. Der Kern der gerichtlichen Abwehrfront, die Doktrin der

145 "Entscheidungen [, die] einen unbedingten und endgültigen Charakter [besitzen]" (4.EG).

146 Dem Reichweiten-Argument hielt man entgegen, daß es letztlich auf jede Rechtsquelle Anwendung finden müsse (etwa G. Ress [FN. 61], S. 458 f.). Gegenüber dem Gegenseitigkeits-Argument ließ sich vorbringen, daß die Reziprozitätsklausel aus Art. 55 Klausel jedenfalls bei multilateralen Verträgen mit vertragseigenem Sanktionensystem keine Anwendung finden dürfe; J. Rideau, Le Conseil constitutionnel et l'autorite superieure des traites en France, CDE 1975, S. 608 ff., 617; J. Rivero, Urteilsanmerkung, AJDA 1975, S. 134 ff.,S. 136; zweifelnd auch C. Autexier, Frankreich und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nach der Unterwerfungserklärung (Art. 25) vom 2. Oktober 1981, ZaöRVR 42 (1982), S. 327 ff., 338 f.

147 5.Erwägungsgrund - "Ein vertragswidriges Gesetz [wäre] nicht deshalb zugleich auch verfassungswidrig". Zum Gebrauch der Wendung "pour autant" sowie des Konditionalis siehe P L., Urteilsanmerkung, RCDIP 1975, S. 126 ff., 127. Bei "P.L." könnte es sich um Pierre Lagarde handeln. 148 Vgl. G. Ress (FN. 61), S. 469. 149 J. Rivero (FN. 146), S. 136; kritisch hierzu G. Druesne, Le Conseil constitutionnel

et Je droit communautaire, RMC 1975, S. 378 ff., 387.

60

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

"souverainete de Ia Ioi" blieb hiervon unberührt. Dessen ungeachtet stützte sich Francais Touffait in seinen Schlußanträgen zur "Jacques Vabre"-Sache- was die verfassungsrechtliche Problemebene betraf - fast ausschließlich auf die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel, um die Umkehr in der lex-posterior-Frage zu begründen. Auslöser des Verfahrens, das Touffait zu bewerten hatte, war die Klage eines französischen Kaffeeimporteurs und seines Zollagenten auf Rückzahlung und Schadensersatz wegen bei ilmen erhobener Einfuhrabgaben 150 • Die beklagte französische Zollverwaltung hatte diese Abgaben aufgrund von Art. 265 Code des douanes erhoben, dem durch Gesetz vom 14. 12. 1966 legislativer Rang verliehen worden war 151 . Die Kläger hielten Art. 265 Code des douanes wegen Verstoßes gegen Art. 95 EWGV - also einer älteren Vertragsnorm -, dessen Tatbestandsvoraussetzungen nach Lage des Falles tatsächlich erfiillt waren, fiir unanwendbar. Für Francois Touffait spitzte sich die Lösung der Kollision zwischen diesen beiden Vorschriften auf die Frage zu, ob die vom Kläger verlangte "recherche de Ia conformite d'une Ioi avec un traite ne constitue ... pas Je contröle de Ia constitutionnalite de Ia loi ?" 152 . Schon hierin lag eine Verzerrung, denn aus Sicht der traditionellen Unantastbarkeitsdoktrin hätte sich schließlich auch im Falle einer Vemeinung dieser Frage nicht zwangsläufig der Weg zur richterlichen Vertragskontrolle eröffuet. Denn "l'important n'est pas de savoir au nom de quoi on censure Ia loi francaise, c'est qu'on Ia censure" 153 • Touffait indes nahm diese Differenzierung nicht vor und unterschlug damit den Hauptansatz der traditionellen Linie sowie der "Semoules"-Entscheidung. Folglich konnte er sich mit einem Verweis auf die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel begnügen: "Heureusement, je puis me dispenser de vous proposer un long raisonnement juridique .. ., car depuis Je depöt de ce pourvoi est intervenue une decision du Conseil constitutionnel en date du 15 janvier 1975"150 Zollsachen fallen in Frankreich in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit; M. Fromont, Frankreich und die Europäische Union, DÖV 1995, S. 481 ff., 483. 151 Das Pariser Ausgangsgericht und das Berufungsgericht hatten sich in der Frage des Gesetzesrangs von Art. 265 Code des douanes nicht endgültig entscheiden wollen, diesen aber hypothetisch zugrundegelegt; M. Fromont, Die französische Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht Oktober 1970- Dezember 1971 , EuR 1973, S. 59 ff., 64 f.; ders., Die französische Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht Januar 1972 - Dezember 1974, EuR 1975, S. 334 ff., 340 f. 152 Schlußanträge, D 1975, Jur., S. 497 ff., 502 • "Prüfung der Vertragskonformität eines Gesetzes nicht eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes darstellt". 153 J Foyer I D. Holleaux, Urteilsanmerkung, RCDIP 1976, S. 351 ff., 358 • "Entscheidend ist nicht, an welchem Maßstab man das Gesetz prüft, sondern daß man es überhaupt prüft".

IV. "Jacques Vabre·'-Entscheidung der Cour de Cassation von 1975

61

"On peut donc conclure de cette prise de position du Conseil Constitutionnel qu'il (die praktische Umsetzung des Vorrangprinzips aus Art. 55 - Anm. d. Verf.) doit l'etre par les juridictions auxquelles ce problerne est pose, et il leur appartient, SOUS peine de deni de justice, d'y repondre" 154 . Aus dem Umstand, daß das Verfassungsgericht den Charakter der Vertragskontrolle als Verfassungskontrolle und damit eine eigene Prüfungszuständigkeit verneint hatte, schloß Touffait also unbesehen auf die eigene Prüfungskompetenz der einfachen Gerichtsbarkeit. Mochte er hiennit auch die rechtspolitischen Intentionen des Conseil Constitutionnel richtig getroffen haben 155 : inhaltlich überzeugend war dieses Vorgehen nicht. Eine zufriedenstellende Begründung der Vertragskontrolle hätte nicht über die bloße Negation der Gleichsetzungsthese, sondern über die verfassungsstaatliche Argumentation, wie sie als literarische Gegenposition zur "Semoules"-Linie entwickelt worden war, geführt. Sie hätte darlegen müssen, warum sich - unabhängig vom Kompetenzumfang des Verfassungsgerichts - an der traditionellen Unantastbarkeit des Gesetzes als Objekt etwas geändert hatte. Man stand damit vor dem Befund, daß im "Jacques Vabre"-Fall in verfassungsrechtlicher Hinsicht am Kern der lex-posterior-Problematik vorbei argumentiert wurde, man sich gewissennaßen in den Fallstricken verheddert hatte, die von Nicole Questiaux mit ihrem mißverständlichen Rekurs auf die Gleichstellungsthese (unfreiwillig) ausgelegt worden waren. Hingegen griffen Gericht und Procureur General mit Nachdruck die bislang unterbeleuchteten gemeinschaftsrechtlichen Aspekte auf. Der entscheidende Satz der Urteilsbegründung156 lautete (und schloß sich hierin den Vorinstanzen an): "le traite du 25 mars 1957, qui, en vertu de l'article susvise de Ia Constitution (Art. 55 Anm. d. Verf.), a une autorite superieure a celle des lois, institue un ordre juridique propre integre a ce/ui des Etats membres; ...en raison de cette specifite, /'ordrejuridique qu 'i/ a cree est directement app/icab/e aux ressortis-

1; 4 FN. 152, S. 502 - "Glücklicherweise kann ich mir ersparen, Ihnen langwierige juristische Erörterungen zu unterbreiten, denn nach der Einleitung dieses Verfahrens ist eine Entscheidung des Conseil Constitutionnel mit Datum vom 15. Januar 1975 ergangen" - "Man kann also aus dieser Stellungnahme des Conseil Constitutionnel den Schluß ziehen, daß sie (die praktische Umsetzung des Vorrangprinzips- Anm. d. Verf.) durch die Rechtsprechung der einfachen Gerichtsbarkeit zu gewährleisten ist; es ist diese, für die das Problem sich stellt und diese muß es, will sie nicht Rechtsverweigerung betreiben, selbst angehen".

155 D. Ruzie, La Constitution francaise et Je droit international, JDI 1975, S. 249 ff., 264; J. Rivero (FN. 146), S. 136; G. Ress (FN. 61), S. 478. 156 FN. 22, S. 502.

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

sants de ces Etatsets 'impose a /eurs juridictions" 151 (Herv. V. Verf.). - "Ordre juridique propre": Dies war eine deutliche Referenz an die Vorrangkonstruktion des Luxemburger Gerichtshofs 158, die in den Schlußanträgen von Touffait ausfuhrlieh zitiert 159 und dem Gericht als Vorbild anempfohlen worden war. Touffait selbst hatte eine deutliche Präferenz für eine ausschließlich gemeinschaftsrechtliche Vorrangbegründung zu erkennen gegeben: "II vous serait possible pour faire prevaloir l'application de l'article 95 du Traite de Rome sur Ia loi posterieure de vous appuyer sur l'article 55 de notre Constitution, mais personellement, je vous demande de ne pas Je mentionner pour ne fonder votre argumentation que sur Ia nature meme de I' ordre juridique institue par le Traite de Rome" 160 • Das Gericht ist dem, wie aus der eingemischten Wendung "en vertu de l'article susvise de Ia Constitution" hervorgeht, zwar nicht zur Gänze gefolgt, sondern hat sich fiir eine (eher kuriose 161 als elegante 162) Kombination von verfassungs- und europarechtlicher Begründung entschieden 163 • Aber der Bezug auf die "ordre juridique propre" der Gemeinschaft blieb dennoch beachtlich und wurde in der Literatur zutreffend als Ausdruck eines "integrationspolitischen Tendenzwechsels in Frankreich" 164 gefeiert. 157 FN. 22, S. 506- "der Vertrag vom 25.März 1957, der nach dem erwähnten Artikel der Verfassung (Art. 55 - Anm. d. Verf.) einen höheren Rang als die Gesetze besitzt, errichtet eine eigenständige Rechtsordnung, die sich in diejenige der Mitgliedstaaten einfügt; aufgrund dieser Eigenart ist die von ihm geschaffene Rechtsordnung unmittelbar auf die Angehörigen dieser Staaten anwendbar und bindet ihre Gerichte". 158 A.A. R. Kovar, Urteilsanmerkung, CDE 1975, S. 636 ff., 657: der Satz diene nur der Begründung unmittelbarer Anwendbarkeit, nicht der Vorrangigkeit der EG-Rechtsordnung. 159

FN. 152, S. 504.

FN. 152, S. 504- "Sie könnten sich auf Art. 55 unserer Verfassung stützen, um den Vorrang von Art. 95 des Römischen Vertrages vor dem späteren Gesetz zu begründen, aber ich persönlich fordere Sie auf, nicht diesen heranzuziehen, sondern ihre Argumentation auf die besondere Eigenart der vom Römischen Vertrag errichteten Rechtsordnung zu stützen." 161 J. Boulouis, Urteilsanmerkung, AJDA 1975, S. 569 ff., 570. 160

162

R. Bieber, Urteilsanmerkung, EuR 1975, S. 330 ff., 332.

Eher unwahrscheinlich die Vermutung von D. Ruzie, Urteilsanmerkung, JD1 1975, S. 805 ff., 807 und J. Foyer I D.Holleaw: (FN. 153), S. 356, das Gericht habe Art. 55 ins Spiel gebracht, um den Einbezug auch sonstiger völkerrechtlicher Verträge zu signalisieren. Dies hätte es in einem Nebensatz klarstellen können. 163

164 R. Bieber (FN. 162), S. 331. Positiv auch J. Baulouis (FN. 161); G. Druesne, La primaute du droit communautaire sur Je droit interne. L'arret de Ia Cour de cassation du 24 mai 1975, RMC 1975, S. 378 ff.; F - Ch. Jeantet, La Cour de cassation et I' ordre juridique communautaire, JCP 1975, I, 2743; D. Ruzie (FN. 163), S. 807. Kritisch nur J. Foyer I D. Holleaw: (FN. 153); sie sprachen von einer "veritable revolution de palais" bzw. einem "gouvernement des juges" (S. 359).

IV. "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation von 1975

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3. Resurne

Mit dem Urteil der Cour de Cassation war zumindestens filr einen Zweig der französischen Gerichtsbarkeit die lex-posterior-Problematik im gemeinschaftsfreundlichen Sinn gelöst worden. Der gemeinschaftsrechtlich geforderte Anwendungsvorrang war in der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit nunmehr endgültig gewährleistet. Die Cour de Cassation hatte sich im Gegensatz zum Conseil d'Etat aus dem verfassungsrechtlichen Vermittlungsmodell zum großen Teil gelöst (ihr Procureur General dieses Verfahrens schon ganz) und sich filr den progressiven Weg einer genuin-gemeinschaftsrechtlichen Vorrangbegründung entschieden. Zwischen beiden Gerichtszweigen war damit eine folgenreiche Divergenz entstanden 165 . Es blieb die Frage, ob und wann der Conseil d'Etat aufschließen würde. Eine gewisse Hoffuung ließ sich hier daraus schöpfen, daß Frankreich mittlerweile zu einem schärferen Bewußtsein seiner Rückständigkeit gegenüber anderen Mitgliedstaaten gefunden hatte 166 . Hierin lag. ein Ansporn, der irgendwann auch auf den Conseil d'Etat wirken konnte. Vorerst aber war nicht zu verhehlen, daß sich an den wesentlichen Grunddaten der verfassungsrechtlichen Problemlage nichts geändert hatte, so daß sich die Aussichten für eine außerhalb der "Costa I ENEL"-Doktrin zu vollziehende Kehrtwende (und alleine an eine solche war beim Conseil d'Etat vorerst zu denken) nicht wesentlich verbessert hatten. Die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel zielte, was Touffait nicht erkannte oder nicht hatte erkennen wollen, am eigentlichen Kern der "Semoules"-Argumentation glatt vorbei, da sie zur Doktrin der "souverainete de Ia loi", dem eigentlichen Herzstück des Ansatzes vom Conseil d'Etat, nichts aussagte. Einen zwingenden Anlaß zur Aufgabe der eigenen Position bot sie für den Conseil d'Etat somit nicht. Insofern bestand Grund, mit Prognosen über ein baldiges Aufschließen durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit zurückhaltend zu seini67.

16; Da in Frankreich kein gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe existiert, besteht kein geregeltes Verfahren, um solche Divergenzen zu vermeiden. 166 Deutlich trat dies auch in den Schlußanträgen von Touffait zutage. Touffait hatte ausführlich die Lösungswege in den flinf anderen Gründungstaaten der Gemeinschaft untersucht und war zu dem Ergebnis gekommen, daß allerortens das Vorrangproblem in gemeinschaftsfreundlicher Weise gelöst sei: "il s'est cree....une conscience juridique europeenne au sein de toutes les juridictions nationales interessees pour reconnaitre Ia primaute du droit communautaire"; FN. 152, S. 505. Hierhinter dürfe Frankreich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, nicht zurückstehen. 167 So auch die meisten Autoren; C. Franck, Le Conseil constitutionnel et les n!gles du droit international, RGDIP 1975, S. 1070 ff., 1085; L. Hamon, Urteilsanmerkung,

64

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

V. Beharrung und erste Aufweichungserscheinungen: Die Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975 1. Die unmittelbare Reaktion auf die Entscheidungen von Conseil Constitutionnel und Cour de Cassation: Die Europawahlentscheidungen des Conseil d'Etat von 1979

Daß die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel der "Semoules"-Linie des Conseil d'Etat tatsächlich nicht ihre - verfassungsrechtliche - Grundlage entzogen hatte, beeilte sich das oberste französische Verwaltungsgericht bei nächstbietender Gelegenheit unmißverständlich klarzustellen. In zwei Entscheidungen aus dem Jahr 1979, die beide das Wahlverfahren zum Europäischen Parlament zum Gegenstand hatten, erstickte es alle Hoffnungen auf einen baldigen Positionswechsel im Keime und hielt im Unterschied zur Cour de Cassation der traditionellen Unantastbarkeitsdoktrin die Treue. Unmittelbare innerstaatliche Rechtsgrundlage fiir die Abhaltung der Wahl war ein Dekret vom 28. Februar 1979 gewesen, das seinerseits die Bestimmungen des französischen Europawahlgesetzes vom 7. Juli 1977 umsetzte. Eine der an der Wahl teilnehmenden Parteien, die Union Democratique du Travail (UDT), hatte gegen das Dekret vom 28. Februar 1979 Anfechtungsklage mit der Begründung erhoben, es widerspreche Bestimmungen der französischen Verfassung sowie des EWG-Vertrages. Ebenso wie bei einer Reihe weiterer, vom Gericht zeitgleich zu entscheidender Klagen auf Annulierung bzw. Abänderung der amtlichen Feststellung des Wahlergebnisses, die (unter anderem) ebenfalls die Rechtswidrigkeit des Dekrets geltend machten, war damit zum ersten Mal nach 1975 wieder die Frage der Zulässigkeit einer Vertragskontrolle des späteren nationalen Gesetzes vor den Conseil d'Etat gelangt. Denn die angefochtenen Vorschriften des Dekrets rezipierten lediglich einzelne Regelungen des Wahlgesetzes. Eine Kontrolle der Vertragskonformität des Dekrets hätte also das Gesetz selbst auf den Prüfstand gestellt. Das Gericht- und zwar sein höchster Spruchkörper, die Assemblee pleniere 168 - wies die klägerischen Vorbringen sämtlich zurück. Die Klage der Union Democratique du Travail beschied es mit den Worten: ",es moyens tires de ce que Je decret pourrait etre COntraire a Ja Constitution, aux principes consacres par son preambule et a l'article 138 du traite precite tendent necessairement a faire

D 1975, Jur., S. 530 ff., 531; P. L. (FN. 147), S. 128; J. Rivero (FN. 146), S. 137; D. Ruzie (FN. 157), S. 257, 264. 168 Diese umfaßt die gesamte "section contentieux" (rechtsprechende Abteilung) des Conseil d' Etat.

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach I975

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apprecier par le juge administratif Ia constitutionnalite des dispositions de Ia loi et leur conformite a ce traite" und "ne peuvent donc etre acceuillis" 169 • Bei den Klagen gegen die Feststellung des Wahlergebnisses begründete es die Absage an eine Überprüfung des nationalen Wahlgesetzes am Maßstab des Vertrages damit, "qu'il n'appartient pas au Conseil d'Etat statuant au contentieux de connaitre d'une contestation mettant en cause Ia validite des dispositions legislatives"170. Damit folgte das Gericht im Ergebnis den Schlußanträgen der Commissaires du Gouvemement 171 , wich allerdings in seiner Begründung teilweise in aufschlußreicher Weise von diesen ab. Die Schlußanträge zur "UDT"-Klage hatten noch, allerdings auf der Grundlage einer stark anfechtbaren Konstruktion 172, Raum dafür gesehen, den Konflikt zwischen Vertrag und jüngerer Gesetzesnorm ganz aus der Welt zu deuten und damit eine Vorrangentscheidung umgehen zu können. Der Conseil d'Etat entschied sich demgegenüber, wie die zitierte Passage deutlich macht, gegen diesen bequemeren Lösungsweg und für ein frontales Angehen der Problematik. Ganz offensichtlich war ihm vor dem Hintergrund der "Jacques Vabre"-Entscheidung an einer unmißverständlichen Positionsmarkierung gelegen. Die von ihm hierbei benutzte Formel ("a faire 169 "die Einwände, das Dekret verstoße gegen die Verfassung, die Grundsätze ihrer Präambel sowie gegen Art. I38 des erwähnten Vertrages zielen zwangsläufig darauf ab, daß der Verwaltungsrichter die Verfassungsmäßigkeit und die Vertragsgemäßheil von Gesetzesvorschriften nachprüft" und "sind daher unzulässig" ; CE v. 22. I 0. I979, Union democratique du travail (UDT), Rec. 384. 170 "es steht dem Conseil d'Etat bei seiner rechtsprechenden Tätigkeit nicht zu, über solche Vorbringen zu befinden, welche die Geltung einer Gesetzesvorschrift in Frage stellen"; CE v. 22. I 0. I979, Election des representants a I' Assemblee des communautes europeennes, Rec. 385. 171 Schlußanträge M. Morisot, RDP I980, S. 541 ff. (zur "Election"-Sache); Schlußanträge M. - D. Hagelsteen, RDP I980, S. 53 I ff. (zur "UDT"-Sache).

172 M. - D. Hagelsteen (FN. 17I), S. 537 f. meinte, daß maßgebliche europäische Norm der Direktwahlbeschluß des Ministerrats vom 20. 9. I976 sei. Da nach Art. 16 des Publikationsdekrets vom 30. I. I979 dieser Beschluß innerstaatlich erst am I. Juli I978 - und das bedeute: nach dem nationalen Europawahlgesetz vom 7. 7. I977 - in Kraft getreten sei, könne von vorneherein gar kein Konflikt mit einemjüngeren fran-zösischen Gesetz vorliegen - ein wenig überzeugender Ansatz: Er beruhte zum einen auf der problematischen Annahme, der maßgebliche Zeitpunkt der Wirksamkeit des Direktwahlbeschlusses könne durch nationale Veröffentlichungsakte festgelegt werden; zum anderen implizierte er, daß dieser Beschluß vollständig an die Stelle der zugrundeliegenden - älteren - vertraglichen Vorschrift (Art. I38 EWGV) treten und letztere gleichsam hinter ihm verschwinden konnte. M. Morisot konnte in seinen Schlußanträgen zum "Election"-Fall diesen Weg nicht einschlagen, da hier im Gegensatz zum .. UDT"-Fall auch solche Bestimmungen des französischen Europawahlgesetzes angegriffen worden waren, die nicht auf dem Ministerratsbeschluß vom 20. 9. 1976 beruhten; vgl. Morisot (FN. 171), S. 544.

5 Hecker

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

aprecier.. .Ia constitutionnalite des dispositions de Ia loi et leur conformite a ce traite"; Herv. v. Verf.) unterschied dabei demonstrativ zwischen Verfassungsund Vertragskontrolle. Mit dieser Absage an die Grundräson der Gleichstellungsthese173 - auch hierin lag eine Distanzierung von den Schlußanträgen 174 (und damit übrigens auch vom "zweiten Standbein" der Questiaux-Anträge von 1968)- stellte der Conseil d'Etat klar, warum er in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung von 1975 kein Hindernis fiir eine Beibehaltung seines bisherigen Kurses zu erblicken vermochte. Dieser Kurs beruhe eben, so seine Botschaft, auf der Unzulässigkeit jeglicher Infragestellung des Gesetzes, des lückenlosen Verbots einer "contestation mettant en cause Ia validite de dispositions legislatives", wie es in den Entscheidungsgründen zur zweitgenannten Sache hieß, gleich ob diese sich nun aus der Verfassung oder aus einem Vertrag ableiteten.

2. Rechtfertigungsversuche des Conseil d'Etat

Die Entscheidungen in den nachfolgenden Jahren schrieben die bisherige Linie unverändert fort 175 . Der Conseil d'Etat beharrte weiterhin auf dem Standpunkt, eine Prüfung der "conformite de cette loi aux dispositions du traite" sei unzulässig 176. Eine nähere Erläuterung seiner Position lieferte das Gericht in der 1982 von ihm publizierten Grundsatzstudie 177 zum Verhältnis von Gemeinschafts- und innerstaatlichem Recht 178 • Hierin wurden als Basis der lex-posterior-Rechtsprechung folgende "idees" aufgefiihrt: Zum einen, daß das Ge-

173

So auch C Lerche (FN. 111 ), S. 610 f.; D. Ludet I R.Stotz (FN. 106), S. 97.

174 Vgl. M-D. Hagelsteen (FN. 171), S. 549.

m CE v. 31. 10. 1980, Lahache, Rec. 403; CE v. 13. 5. 1983, S.A. "Rene Moline", Rec. 191; CE v. 23. II. 1984, Roujansky. Rec. 383; CE v. 8. 2. 1985, Association des centres distributeurs Edouard Ledere, Rec. 26. Auft1Ulig ist, daß drei dieser vier Entscheidungen von der "Assemblee pleniere.. des Gerichts gefallt wurden - ein Zeichen daflir, welchen unverändert hohen Stellenwert der Conseil d'Etat der Problematik beimaß. 176 "Konformität dieses Gesetzes mit den Vorschriften des Vertrages·'; CE v. 8. 2. 1985 (FN. 175). Ähnlich CE v. 23. II. 1984 (FN. 175). In den übrigen beiden Entscheidungen begnügte sich der Conseil d'Etat mit der noch kargeren Wendung, der Kläger "ne saurait utilement pretendre" ("kann nicht zulässigerweise behaupten"; CE v. 31. 10. 1980; FN. 175) bzw. "ne peut se prevaloir utilement" ("kann sich nicht zulässigerweise darauf stützen"; CE v. 13. 5. 1983; FN. 175). 177 Der Conseil d'Etat publiziert hin und wieder solche Studien, die wichtigen Aufschluß über die dogmatischen Grundlagen seiner Rechtsprechung geben.

m Droit communautaire et droit francais. Etude du Conseil d'Etat. Paris 1982.

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

67

meinschaftsrecht ebenso wie gewöhnliche völkerrechtliche Verträge "en vertu de Ia Constitution" ("auf der Grundlage der Verfassung") in die innerstaatliche Rechtsordnung eingefilhrt werde - dies war eine Absage an eine genuineuroparechtliche Vorrangbegründung; zum anderen, daß seine eigene "mission est...d'appliquer Ia loi meme si, posterieure ä un accord international, elle est contraire ä celui, des lors que cette loi represente Ia derniere expression de Ia volonte du Iegislateur qu'il est, par definition, oblige de respecter et qu'il n'a aucun pouvoir pour censurer" 179 - dies war die altbekannte Verbeugung vor der traditionellen Unantastbarkeitsdoktrin. Seit der "Semoules"-Entscheidung von 1968 hatte sich in diesem Punkt also nichts geändert. Die mittlerweile entstandene Lage war im Grunde kurios: Auf der einen Seite die Cour de Cassation, die zu einem verfassungsrechtlich wie gemeinschaftsrechtlich zeitgemäßeren Ergebnis gelangt war, deren - verfassungsrechtlicher Begründungsansatz sich aber durch die Fixierung auf die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel in einer argumentativen Schieflage befand; auf der anderen Seite der Conseil d'Etat, der ein differenzierteres Verständnis der - verfassungsrechtlichen - Problematik besaß, sich aber infolge einer Übergewichtung der Traditionsbestände nicht dazu durchringen konnte, den Text der neuen Verfassung beim Wort zu nehmen, zu einer angemessenen Lesart des Art. 55 zu gelangen. Seine Scheu vor einer lngerenz in die legislative Sphäre blieb ungeschmälert. Ihn verfolge, wie es in der genannten Studie von 1982 hieß, "le souci d'eviter d'en venir au systeme du 'gouvernement des juges', proscrit depuis Ia n!volution, ainsi qu'en temoigne l'article 10, toujours en vigeur, de Ia loi des 16 et 24 aoüt 1790" 180 • Daß die Verfassung von 1958 weniger als alle ihre Vorgängerinnen von der Furcht vor einem "gouvernement des juges" durchzogen war, daß sie im Gegenteil sogar, wie der Conseil Constitutionnel in einer Entscheidung vom 22. 7. 1980 181 festgestellt hatte, der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein "statut constitutionnel" und damit eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der Legislative zuwies, vermochte das Gericht nicht zu beeindrucken. Die Gefahr eines ernsthaften institutionellen Konfliktes zwischen Gerichtsbarkeit und Gesetzgeber war - wie die "Jacques Vabre"Entscheidung der Cour de Cassation, die keinesfalls zu einem Sturm der Ent179 "Aufgabe ist es, das Gesetz auch dann anzuwenden, wenn es mit einem älteren Vertrag im Widerspruch steht, denn dieses Gesetz bringt den aktuellen Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck, den er definitionsgemäß zu respektieren hat und zu dessen Kontrolle er nicht befugt ist"; FN. 178, S. 46. Ähnlich eine spätere Studie des Conseil d 'Etat: Droit international et droit francais, Paris 1986, S. 25 f. 180

"die Sorge vor einem ' gouvernement des juges', welches seit der Revolution im

Art. 10 des immer noch gültigen Gesetz vom 16. - 24. August 1790 verboten ist"; FN. 186, S. 47. 181

s•

Nr. 80- 119 DC, Rec. 46.

68

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

rüstung gefuhrt hatte, ja auch deutlich machte - objektiv gering zu veranschlagen. Dem Conseil d'Etat schien indes das Risiko einer Wende immer noch zu hoch zu sein. Wie schon Latoumerie befiirchtete er negative Auswirkungen auf seine hauptsächliche Aufgabe der Verwaltungskontrolle, bei welcher er sich auf die Kooperation mit dem Gesetzgeber angewiesen sah 182 - eine Haltung, die nur daraus zu erklären ist, daß er infolge seiner prekären Mittelstellung zwischen Exekutive I Regierung und Judikative 183 seit jeher eine besondere Sensibilität gegenüber den institutionellen Implikationen seiner rechtsprechenden Aktivität besaß 184 •

3. Zunehmende Isolierung des Conseil d'Etat

Die "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation sowie die literarischen Gegenkonzepte zur traditionellen Doktrin hatten den Conseil d'Etat also nicht etwa zur Modifizierung seines Standpunktes motiviert, sondern eher eine Trotzreaktion hervorgerufen. Die Fronten zwischen den verschiedenen Lagern waren mittlerweile verhärtet: Hier die moderne, verfassungsstaatliche Sichtweise, dort die traditionelle, vom Glauben an die Heiligkeit des Gesetzes durchdrungene Auffassung, die ohne eine ausdrückliche Ermächtigung des Richters im Verfassungstext nicht zu einer Aufgabe ihrer Haltung bewegen zu sein schien 185 • Der Streit ging darum, in welchem Stadium der Verfassungsentwick182 Zu dieser für das Verständnis der Beweggründe des Gerichts wichtigen Erwägung siehe B. Genevois, Le Conseil d'Etat et !'ordre juridique communautaire, EDCE 1979 • 1980, S. 73 ff., 80; ders., Le droit international et le droit communautaire, in: Conseil constitutionnel et Conseil d' Etat, Colloque des 21 et 22 janvier 1988 au Senat, Paris 1988, S. 191 ff, 215. 183

Siehe oben FN. 16.

Vgl. P Sabourin, Le Conseil d' Etat face au droit communautaire, RDP 1993, S. 397 ff., 398. 184

185 Dementsprechend sah B. Genevois, Urteilsanmerkung, AJDA I I 1980, S. 43 ff., 46 die einzige Lösung in einer entsprechenden Verfassungsänderung und meinte noch 1985 (Der Conseil d'Etat und das Gemeinschaftsrecht Antagonismus oder Komplementari· tät? EuR 1985, S. 355 ff.), es sei nicht damit zu rechnen, daß der Conseil d'Etat seine Haltung bald ändere (S. 359). Auch gegenüber der Cour de Cassation gab es übrigens vergebliche - Versuche, die Rechtsprechung durch legislative Interventionen zum Kurswechsel zu zwingen. 1980 wurde in der Nationalversammlung eine parlamentarische Initiative gestartet, die die "abtrünnig" gewordene ordentliche Gerichtsbarkeit wieder in unbedingten Gesetzesgehorsam zwingen wollte; hierzu G. /saac, Apropos de I' 'amendement Aurillac' : vers une obligation pour Ies juges d'appliquer Ies lois contraires aux traites ? GazPal 1980, Doctr., S. 583 ff. Dieselbe Stoßrichtung hatte ein Gesetz vom 30. 12. 1981, welches bestimmte Rechtsstreitigkeiten über indirekte

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

69

Jung man sich gegenwärtig befinde - ein Glaubensstreit, der im Grunde durch argumentativen Austausch nicht mehr zu lösen war. Der Conseil d 'Etat hatte sich mittlerweile in einem Ausmaß festgefahren, daß ein Umschwung kaum noch aus innerer Einsicht kommen konnte, sondern nur noch über eine Intensivierung des Außendrucks, gleichsam als Nachgeben gegenüber latentem Drängen der Umwelt, vorstellbar schien. Und diesbezüglich gab es einen eindeutigen Befund: die allgemeine rechtspolitische Stimmung wurde fiir ihn immer ungünstiger, das Gericht geriet zunehmend in die Isolation 186 . Auf europäischer Ebene wirkte sein schroffer "nationalisme juridique", wie Robert Kovar in seiner Anmerkung zur "Semoules"-Entscheidung geschrieben hatte, schon seit langem anachronistisch. Daß es trotz entsprechender Überlegungen nie zur Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich gekommen war, dürfte ausschließlich integrationspolitischer Rücksichtnahme zu verdanken gewesen sein. Wie bereits die Anträge Touffaits zur "Jacque Vabre"-Sache mit drängendem Unterton hervorgehoben hatten, waren in keinem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft auch nur annähernd vergleichbar gravierende Infiltrationshindernisse gegenüber der europäischen Rechtsordnung aufgebaut worden. Selbst Resistenzen nach Art der deutschen "Solange !"-Judikatur stellten den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts - das Herzstück der supranationalen Rechtsgemeinschaft - weniger gravierend in Frage als die "Semoules"-Doktrin des Conseil d'Etat. Dies alles mußte im Kontext der in den achtziger Jahren neuerwachten Integrationsfreudigkeit, die schließlich zur Einheitlichen Europäischen Akte und zur (auch in Frankreich verbreiteten) Binnenmarkteuphorie fiihrte, noch an Gewicht gewinnen187. Vielleicht noch stärker aber als die Konfrontation mit Europa und namentlich der "Costa I ENEL"-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die man in Kreisen des Conseil d'Etats zwar nicht mehr wie einst Nicole Questiaux mit Schweigen überging 188, sondern mit beschönigenden Verweisen auf die unterschiedlichen Rollen beider Gerichte in ihren jeweiligen RechtsordnunAbgaben von der europafreundlichen ordentlichen Gerichtsbarkeit auf die Verwaltungsgerichte übertrug; näher V Coussirat - Coustere, Le juge administratif et le droit communautaire. Difficultes anciennes et resistances nouvelles, Pouvoirs 46 ( 1988), S. 85 ff., 85. 186

T de Berranger (FN. II ), S. 229 ff.

A. M. Le Bos - Le Pourhiert, Droit communautaire et droit administratif francais, REDP 1991, S. 385 ff., 385 erblickt in diesem Integrationsschub den "veritable detonateur sur Ia reception du droit communautaire par le droit administratiffrancais". 187

188 Die Schlußanträge von Commissaire du Gouvernement Morisot zum "Election"Fall (FN. 171) setzten sich relativ ausführlich mit der Frage einer genuin-europarechtliehen Vorrangbegründung auseinander.

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

gen 189 herunterzuspielen versuchte, wog die zunehmende innerstaatliche Isolierung. Insbesondere die Divergenz zur Cour de Cassation, die den Rang des Gemeinschaftsrechts in Frankreich von den Zuflilligkeiten der internen Kompetenzverteilung zwischen ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit abhängig machte 190, wurde als unbefriedigend empfunden und auch vom Conseil d'Etat selbst mit Sorge wahrgenommen 191 • In seiner Studie von 1982 hieß es hierzu, die unterschiedlichen Verfahrensweisen rechtfertigten sich durch die jeweils unterschiedlichen Entscheidungsfolgen bei Cour de Cassation (Anwendung der einschlägigen Rechtsnorm auf einen Einzelfall) und Conseil d'Etat (Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Aktes) 192 - als wenn sich hieran die prinzipielle Frage nach der vorrangigen Rechtsquelle hätte entscheiden dürfen. Solche Einlassungen offenbarten eine zunehmende Erklärungsnot, die auch noch an anderen Stellen zu beobachten war. Zur Entscheidung des Conseil Constitutionnel von 1975 etwa fiihrte der Conseil d'Etat in seiner Studie von 1982 aus, man sei schlicht zum gleichen Ergebnis wie dieser gelangt, nämlich filr die Gewährleistung einer Beachtung von Art. 55 nicht zuständig zu sein 193 so richtig man in der Einschätzung des theoretischen Gehalts dieser Entscheidung, die keine zwangsläufige Kontrollermächtigung an die einfache Gerichtsbarkeit enthielt, lag: eine Kontrollsperre filr die einfache Gerichtsbarkeit hatte das Verfassungsgericht nun wahrlich auch nicht errichten wollen. Auch die Schlußanträge der Commissaires du Gouvernement bargen eine Reihe von Merkwürdigkeiten. Morisot beispielsweise schloß in der "Election"-Sache von 1979 einen Anschluß an das "Jacques Vabre"-Urteil mit der Begründung aus, der Conseil d'Etat habe, da die Kläger sich auch auf die EMRK beriefen, eine Lösung zu finden, die filr alle völkerrechtlichen Verträge Geltung finden könne - dies unterschlug, daß die Cour de Cassation sich neben der gemeinschaftsrechtlichen Vorrangkonstruktion auch auf eine neue Lesart des Art. 55 gestützt, also ein das gewöhnliche Völkerrecht einschließendes Konzept gefunden hatte. Darüber hinaus verkannte Morisot, daß selbstredend auch eine zwischen Gemeinschafts- und Völkerrecht differenzierende Antwort möglich (und gemeinschaftsrechtlich im Notfall auch geboten) gewesen wäre. Zeichen der zunehmend bedrängten Stimmungslage im Conseil d'Etat waren schließlich 189 B. G., Urteilsanmerkung (FN. 185), S. 45. Man muß aber zur Person Genevois, der selbst Mitglied des Conseil d'Etat ist, darauf hinweisen, daß er in der Entwicklung bis hin zur "Nicolo"-Entscheidung eine bedeutsame Vermittlerrolle gespielt hat und vermutlich zu denjenigen gehört, die intern auf einen Kurswechsel drängten. 100 J. Rideau, La jurisdiction administrative au regard du droit communautaire, in: Repertoire du contentieux administratif, Encyclopedy Dalloz, Paris, Stand: 1991, S. 42.

191 192

193

B. Genevois, Le Conseil d'Etat (FN. 182), S. 81. FN. 176, S. 47. Ebenso B. G., Urteilsanmerkung (FN. 185), S. 45. FN. 176, S. 47.

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

71

auch die immer wiederkehrenden Beschwörungen der Möglichkeiten präventiver Konfliktvenneidung durch die beratende Sektion des Gerichts 194 (die schon bei Questiaux auftauchten) sowie der in Wahrheit verschwindend geringen Anzahl an Fällen, die von der "Semoules"-Doktrin praktisch betroffen seien 195 • Vollends alannierend mußte auf den Conseil d'Etat wirken, daß ab Mitte der achtziger Jahre das Verfassungsgericht deutlicher Stellung gegen ihn bezog. In einem Urteil vom 3. 9. 1986 196 ging der Conseil Constitutionnel einen entscheidenden Schritt über das (inzwischen mehrfach bestätigte 197) Schwangerschaftsurteil von 1975 hinaus und vennerkte in einem obiter dictum: "il appartient aux diverses organes de /'Etat de veiller a l'application de ces conventions dans !'ordre interne et dans Je cadre de leur competences respectives" 198 (Herv. v. Verf.). -"Diverses organes de !'Etat": Schon die Wahl des Pluralließ nur die Deutung zu, daß mit diesem Satz neben dem Gesetzgeber auch die einfache Gerichtsbarkeit, mithin der einzig noch widerspenstige Conseil d'Etat gemeint war 199 • Dies bestätigte sich, als der Conseil Constitutionnel kurze Zeit später in einem Wahlprüfungsverfahren - und damit in einer Funktion, in der er nach französischem Recht keine spezifisch verfassungsgerichtlichen Befugnisse ausübt, sondern wie ein einfaches Gericht urtei!e00 - selbst das im Fall einschlägige Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonventions prüfte201 • Diese Vorgehensweise enthielt die unzweideutige Aufforderung an den Conseil d'Etat, seine Haltung zu revidieren202 .

194

Etwa M. Morisot (FN. 171), S. 550.

195

Conseil d'Etat (FN. 178), S. 49. No. 86-216 DC, Rec. 135.

196

197 CC v. 20. 7. 1977- No. 77-83 DC, Rec. 39; CC v. 18. I. 1978- No. 77-92 DC, Rec. 21. 191 "es obliegt den verschiedenen Staatsorganen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten flir die Anwendung dieser Konventionen im innerstaatlichen Raum Sorge zu tragen". 199 J. Rideau (FN. 190), S. 40.

200 Was der Conseil Constitutionnel selbst auch ausdrücklich klarstellte, indem er eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes mit der Begründung ablehnte, diese Befugnis stehe ihm nur im Verfahren nach Art. 61 der Verfassung zu; siehe P Sabourin (FN. 184), S. 397 ff.

No. 88- 1082-1117 DC, Rec. 183. Zur Frage ob solche verfassungsgerichtlichen Aufforderungen eine Bindungswirkung für die einfache Gerichtsbarkeit besitzen, siehe unten FN. 271 . 201

202

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

72

Von allen Seiten also - und zudem auch in den eigenen lnstanzgerichten203 hatte sich bis Ende der achtziger Jahre eine dem Conseil d'Etat feindlich gesonnene Stimmung aufgebaut, die das Gericht immer stärker in die Defensive trieb 204 • Dies blieb nicht folgenlos. Der Conseil d ' Etat begann endlich zu reagieren, und zwar zunächst mit einer Reihe von Urteilen, die zumindest die praktischen Konsequenzen der "Semoules"-Linie abzumildern versuchten. Hierauf wie auf parallele Rückzüge des Gerichts bei zwei weiteren Konfliktthemen, nämlich der Vorlagefrage und der Frage der Direktwirkung europäischer Richtlinien, wird im folgenden eingegangen, bevor dann anschließend mit der "Nicolo"-Entscheidung die endgültige Kehrtwende des Gerichts besprochen wird.

4. Die Entscheidungen des Conseil d'Etat vom 13. 12. 1985 und vom 19. 11. 1986: Konfliktminimierung durch Ausdünnung der Direktionswirkung des Gesetzes

Der am 13. 12. 1985 ergangenen Entscheidung über die Klage der "Societe International Sales"205 lag ein Sachverhalt zugrunde, der die Gefahr schwerer Konflikte, die aus der "Semoules"-Linie resultierten, besonders augenscheinlich werden ließ. Es ging um eine Entscheidung des französischen Ministers für Finanzen und Wirtschaft, mit der eine Anhebung des Festpreises für Tabakprodukte abgelehnt worden war. Auf der Basis eines Gesetzes vom 24. 5. 1976 existierte in Frankreich ein Instrumentarium staatlicher Preisregulierung für Tabakprodukte, dessen Kernstück die Anordnung eines Einheitspreises für das gesamte Staatsgebiet bildete. Die nähere Ausgestaltung des Verfahrens der Preisbestimmung übertrug das Gesetz der Regelung durch Regierungsdekret Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung hing davon ab, ob das System der staatlichen Preisregulierung mit Gemeinschaftsrecht vereinbar war. Hieran ließ sich deshalb zweifeln, weil ein zwei Jahre altes Urteil des Europäischen Gerichtshofs vorlag, das nur solche Preisfestsetzungen für mit Art. 30 und 37 EWGV vereinbar erklärt hatte, die aufproduktübergreifend konzipierten und auf Inflationsbekämpfung ausgerichteten Rechtsgrundlagen beruhen206 • Damit 203 In der Sache Lahache etwa (FN . 175) hatte das Ausgangsgericht, das Tribunal administratif de Rennes, gegen die Linie des Conseil d' Etat entschieden; siehe C. Autexier (FN. 146), S. 344. 204 Vgl. A. - M. Le Bos - Le Pourhiert (FN. 187), S. 390 ("frustrige de toutes parts et 'pris a Ia gorge" - "von allen Seiten alleine gelassen und 'an der Gurgel gepackt").

205

Rec. 377.

206

EuGHE 1983, S. 2011 ff (RS 90 I 82).

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

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stand der Conseil d'Etat vor einem Dilemma: Wollte er dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs entsprechen, so mußte er an sich das Gesetz vom 24. 5. 1976 - als eigentliche Grundlage des Kontrollsystems - fiir unanwendbar erklären. Dies zu tun war er aber, da das Gesetz ein jüngeres Datum als der EWGVertrag aufwies, durch seine "Semoules"-Doktrin gehindert. Einen Ausweg wiesen die Schlußanträge des Commissaire du Gouvememene07 : Dieser interpretierte das Gesetz vom 24. 5. 1976 dahingehend, daß es sich in der abstrakten Ermächtigung an den Verordnungsgeber, die Bedingungen der Preisfestsetzung festzulegen, erschöpfe. Mit diesem reduzierten Gehalt könne es in Übereinklang mit den Vorgaben des EuGH-Urteils gebracht werden. Der Verordnungsgeber wiederum habe - woran das Gesetz ihn nicht hindere - bei Festlegung der Preisfestsetzungsbedingungen die Regeln des EWG-Vertrages zu beachten, mithin auch die Beschränkung staatlicher Preispolitik auf rein gesamtwirtschaftlich motivierte Interventionen. Dies könne von der Verwaltungsgerichtsbarkeit - da es sich bei dem Dekret um untergesetzliches Recht handele, fiir welches die "Semoules"-Doktrin nicht gelte- problemlos überprüft werden208 . Das Gericht schloß sich dem Vorschlag seines Commissaire du Gouvernement an, differenzierte also zwischen der (in dieser Allgemeinheit europarechtskonformen) "attribution meme du pouvoir" - diese im Gesetz enthalten und damit der Vertragskontrolle entzogen - und den "conditions d' exercice de ce pouvoir" - diese voll auf die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben kontrollierbar209 • Damit war ein Mittel gefunden, die Sperrwirkung, die von gemeinschaftsrechtlich bedenklichen nationalen Gesetzen jüngeren Datums ausging, praktisch erheblich einzuschränken, was den schwierigen Spagat zwischen der verfassungsrechtlich gebotenen Gesetzestreue und der notwendigen Gemeinschaftskonformität praktisch durchfuhrbar machte210. Der Preis bestand in der Ausdünnung des normativen Gehaltes der Gesetze und ihrer Abkoppelung vom auf sie gestützten Verordnungsrecht Da im binnenmarktsrelevanten Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts die Regelungstechnik der Verordnungsermächtigungen häufig vorkommt, bescherte das Urteil der neuen Figur ein breites Anwendungsfeld. Ein knappes Jahr später verfuhr der Conseil d'Etat in einer Entscheidung vom 19. 11. 1986 auf dieselbe Weise211 • Betroffen war hier ein Dekret vom 22. 2. 1982, das es verbot, gefrorenen Joghurt unter der Bezeichnung "Joghurt" zu 207

AJDA 1986, S. 174 ff

208

FN. 207, S. 176 ff.

209

J. C Bonichot (FN. 125), S. 584; V Coussirat- Coustere (FN. 185), S. 92.

210

Vgl. M Azibert IM Boisde./Jre, Urteilsanmerkung, AJDA 1986, S. 681 ff., 685. CE v. 19. II. 1986, Soc. Smanor, Rec. 260.

211

74

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

vertreiben212 • Grundlage hierfilr bildete ein Gesetz aus dem Jahre 1905, in das am l. l 0. 1978 durch Änderungsgesetz eine Bestimmung eingefiihrt worden war, welche die Regierung mit Verordnungsbefugnissen im Bereich der Produktbezeichnung ausstattete. Auch hier stützte sich der Conseil d'Etat darauf, daß auf gesetzlicher Ebene keine näheren materiellen Regeln aufgestellt worden seien, so daß man sich insoweit ausschließlich an das - untergesetzliche und damit uneingeschränkt am Maßstab des EG W-Vertrages kontrollierbare Dekret halten könne. Wiederum also durchtrennte er die Verbindung von Ennächtigungsgrundlage und ausfUhrendem Verordnungsrecht Gewiß: ein ausdrückliches. Abrücken von der "Semoules"-Doktrin selbst hatte das Gericht in keinem der beiden Fälle vorgenommen. Es stellte dies auch im erstgenannten Urteil ausdrücklich klar213 • Aber man konnte immerhin von der neuen Judikatur sagen, daß sie "restreint. .. de maniere significative le champ d'application" 214 dieser Doktrin. Es zeigte sich, daß der Conseil d'Etat nach Wegen suchte, die verhängnisvollen (und ihn selbst breiter Kritik aussetzenden) Konsequenzen der Unantastbarkeilsdoktrin nach Möglichkeit einzudämmen. Trotz der gegenteiligen Beteuerung enthielt die Konstruktion der "International Sales"-Entscheidung im übrigen der Sache nach bereits ein sachte Einschränkung dieser Doktrin. Denn die ausdünnende Auslegung des Preisregulierungsgesetzes war letztlich in einem Maß gewaltsam, das mit der Forderung nach strikter richterlicher Gesetzestreue nicht mehr recht im Einklang stand. Der endgültigen Aufgabe der "Semoules"-Rechtsprechung war man insofern ein Stück näher gerückt.

5. Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Direktwirkung von Richtlinien

Aufweichungserscheinungen nach ähnlichem Muster - verbales Beharren auf einer gemeinschaftsfeindlichen Linie, aber praktische Abmilderung auf der Anwendungsebene - zeigten sich auch bei der Rechtsprechung des Conseil d' Etat zur Direktwirkung von Richtlinien. Von Beginn an war zu erwarten gewesen, daß die vom Europäischen Gerichtshof entwickelte Figur ausnahmsweiser Direktwirkung von Richtlinien von

212

Hierzu erging später die Entscheidung EuGHE 1988, S. 4489 ff. (RS 298 I 87).

Indem es darauf verwies, daß ein direkt gegen das Gesetz gerichtetes Vorbringen "ne saurait...etre acceuilli"; (FN. 207). 214 J. - C. Bonichot (FN. 125), S. 585- "den Anwendungsbereich [dieser Doktrin] erheblich einschränkt". 213

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

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dem souveränitätssensiblen französischen obersten Verwaltungsgericht kühl aufgenommen werden würde. Diese Erwartung bestätigte sich, als der Conseil d'Etat im Jahre 1978 in der Sache "Cohn-Bendit" zu entscheiden hatte. Im Hintergrund des Verfahrens stand eine Ausweisungsverfilgung, die gegenüber dem deutschstämmigen Studentenfilhrer im Zusammenhang mit den Unruhen im Jahre 1968 ergangen war. Cohn-Bendit stellte, nachdem ihm Jahre später eine Arbeitsstelle in Frankreich angeboten worden war, einen Antrag auf Aufhebung der Verfilgung. Dieser wurde am 2. 2. 1976 vom Innenminister abgelehnt, woraufhin Cohn-Bendit Klage beim Verwaltungsgericht Paris erhob. Hierin machte er unter anderem einen Verstoß gegen Art. 6 der EWG-Richtlinie Nr. 64 I 221 geltend, der im Falle einer Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dem Betroffenen einen Anspruch auf Mitteilung der Gründe verleiht. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1975 hatte der Europäische Gerichtshof ausdrücklich die Direktwirkung dieser Vorschrift anerkannt215 . Da Frankreich sie nicht fristgemäß umgesetzt hatte, bestand an ihrer Anwendbarkeit im vorliegenden Fall kein Zweifel. Das Verwaltungsgericht Paris entschied sich am 21. 12. 1977 dafilr, zur Frage der Vereinbarkeil des Verhaltens der französischen Behörden mit der Richtlinie Nr. 64 I 221 sowie zur Frage des Zeitpunkts, in dem nach dieser die Gründe mitzuteilen seien, den Europäischen Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 177 EWGV zu ersuchen. Dieses Ersuchen ist, worin die erste Merkwürdigkeit des Falles lag, vom hiermit betrauten Außenministerium niemals nach Luxemburg weitergeleitet worden216 • Stattdessen nahm die Angelegenheit folgenden Verlauf: Das beklagte Innenministerium legte - nach französischem Prozeßrecht zulässigerweise - gegen den Vorlagebeschluß Beschwerde beim Conseil d'Etat ein. Dieser entschied, trotz der Warnung des Commissaire du Gouvernement Genevois vor einem "guerre des juges"217 , daß "il ressort clairement de l'article 189 du traite du 25 mars 1957, que si ces directives lient !es Etats membres 'quant au resultat a atteindre' et si, pour atteindre Je resultat qu'elles definissent, !es autorites nationales sont tenues d'adapter la legislation et la reglementation des Etats membres aux directives qui leur sont destinees, ces autorites restent seules competentes pour decider de la forme a donner a l'execution des directives et pour fixer elles- memes ...les moyens propres a leur produire effet en droit interne ... ; ...!es directives ne sauraient etre invoquees par

215

EuGHE 1975, S. 1219 ff. (RS 36 I 75) - Rutili.

J. Rideau (FN. 190), S. 51. Deutsche Gerichte adressieren ihre Vorabentscheidungsersuchen direkt an den Europäischen Gerichtshof. 216

217

Schlußanträge, D 1979, Jur., S. I 55 ff., 160.

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

les ressortissants de ces Etats administratif individuel" 218 .

a l'appui

d'un recours dirige contre un acte

Die überaus scharfen Reaktionen, die sich aus der Literatur gegenüber diesem offensichtlichen Bruch mit der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs und der Vorlageverpflichtung nach Art. 177 EWGV erhoben219, hielten den Conseil d'Etat nicht davon ab, auch in nachfolgenden Entscheidungen der Direktwirkung von Richtlinien eigenmächtig seine Anerkennung zu versagen220 • Das Gericht betrachtete, wie seine Formulierungen im "Cohn-Bendit"-Urteil auswiesen, die Frage der Direktwirkung unter dem Blickwinkel der Kompetenzaufteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Art. 189 habe, so offenbar seine Lesart, mit der Adressierung von (lediglich zielverbindlichen) Richtlinien nur an die Mitgliedstaaten diesen einen Raum diskretionärer Gestaltungsbefugnis reservieren wollen, dessen Aufhebung durch die EuGHJudikatur als vertragsübersteigende Auslegung keine Bindungswirkung entfalten könne221 • Eine Vorlage mußte aus dieser Sicht automatisch ausscheiden: sie hätte eingestanden, daß Interpretationsschwierigkeiten bestünden, was ja nach Meinung des Conseil d'Etat, fiir den seine Lesart "clairement" aus dem m Rec. 524 - "aus Art. 189 des Vertrages vom 25.März 1957 ergibt sich eindeutig, daß zwar Richtlinien flir den Mitgliedstaat 'hinsichtlich des zu erreichenden Zieles' verbindlich sind und die nationalen Instanzen verpflichten, zur Erreichung der von ihnen gesetzten Ziele die innerstaatliche Gesetzes- ·und Verordnungslage an die an den Mitgliedstaat gerichteten Richtlinien anzupassen, daß jedoch diese Instanzen daflir zuständig bleiben, über die Form und die Mittel der Umsetzung zu. entscheiden; ein Einzelner kann sich bei einer Klage gegen eine individuelle Verwaltungsmaßnahme nicht auf Richtlinien stützen". 21 9 L. Dubouis, Urteilsanmerkung, RTDE 1979, S. 169; R. Kovar, Urteilsanmerkung, JCP 1979, li, 19518; D. Ruzie, Urteilsanmerkung, GazPal 1979, Jur., S. 213 ff. Auch in Deutschland erntete das Urteil harsche Kritik; R. Bieber, Urteilsanmerkung, EuR 1979, S.294 ff.; C. Tomuschat, La justice - c'est moi. Zum Cohn-Bendit-Urteil des französischen Conseil d'Etat, EuGRZ 1979, S. 257 ff.; H A. Petzold, Urteilsanmerkung, DVBI. 1980, S. 126 f. 220 Nachweise bei J. Rideau (FN. 190), S. 52. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit schwankte die Rechtsprechung zunächst. Mittlerweile wird die Figur der Direktwirkung hier akzeptiert; V Haim, La jurisprudence sur les directives Communautaires, AJDA 1995, S. 274 ff., 275. 22 1 So die Interpretation von B. Goldman, Urteilsanmerkung, JDI 1979, S. 591 ff., 595, und 0. Dutheillet de Lamothe I Y. Robineau, Urteilsanmerkung, AJDA 3 I 1979, S. 27 ff. Letztere zeigten Sympathie flir die Entscheidung des Gerichts und versuchten, die Europafeindlichkeit der Entscheidung herunterzuspielen. Ebenso B Pacteau, Urteilsanmerkung, D 1979, Jur., S. 162 ff., 164 f. und - eingeschränkt - C. Va/lee, Urteilsanmerkung, RGDIP 1979, S. 834 ff., der sich gegen Tomuschats Vorwurf des Rechtsbruchs wendet und lediglich meint, die Entscheidung zeuge von einer "mauvaise inspiration" (S. 48).

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

77

Wortlaut des Art. 189 folgte, gerade nicht der Fall sein durfte222 . Daß das Gericht sein Urteil keinesfalls als generellen Angriff auf das Institut der Vorabentscheidung verstanden wissen wollte, machte ein am selben Tag in einer anderen Sache getroffener Beschluß zur Verfahrensaussetzung und Interpretationsanfrage an den EuGH deutlich 223 • Ähnlich wie in der lex-posterior-Frage hatte der Conseil d'Etat damit eine schroff gemeinschaftsfeindliche Grundposition entwickelt. Wie dort beruhte sie auf einer Höhergewichtung vermeintlicher verfassungsrechtlicher Bindungen, und zwar konkret auf der Auffassung, die Kompetenz zum Erlaß direktwirkender Richtlinien sei in Art. 189 des Vertrages nicht enthalten und der Gemeinschaft somit nicht übertragen worden, eine Anwendung der Richtlinie Nr. 64 I 221 sei daher von Art. 55 der französischen Verfassung nicht gedeckt. Aber auch hier entwickelte der Conseil d'Etat Realitätssinn und Gespür gegenüber den Schwierigkeiten, die aus einer allzu ausufernden Handhabung seines Ansatzes resultiert wären. Er schuf Fallgruppen, welche - wie dort - dessen praktische Wirkung abmilderten. So entschied er mit Urteil vom 28. 9. 1984224 , daß direkt gegen das nationale Umsetzungsdekret mit der Behauptung seiner Richtlinienwidrigkeit geklagt werden könne. Kurze Zeit darauf stellte er klar, daß die zielwidrige Umsetzung einer Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch zur Rechtswidrigkeit und damit zur Aufhebbarkeit des Individualaktes fuhren muß, der auf dem Umsetzungsdekret beruht225 Zu Beginn des Jahres 1989 urteilte er, daß der Verordnungsgeber die Pflicht zur Anpassung bestehender Vorschriften an neuerlassene Richtlinien besitze und daß eine in Mißachtung dieser Pflicht unverändert belassene Verordnung unter dem Gesichtspunkt einer Veränderung wesentlicher rechtlicher Umstände angefochten werden könne226 • Damit waren Wege eröffuet, um zumindestens einige Umsetzungsmängel justitiabei zu machen. Der Conseil d ' Etat wirkte hiermit der im "Cohn-Bendit"-Urteil (trotz des dortigen Hinweises auf die gemeinschaftsrechtliche Umsetzungsverpflichtung227) angelegten Tendenz zur ausschließlichen 222

Vgl. A. Lyon- Caen, Urteilsanmerkung, RCDIP 1979, S. 649 ff., 653.

223

CE v. 22. 12. 1978, Syndicat viticole des Hautes graves de Bordeaux et autres, Rec.

526.

224 Confederation nationale des societes de protection des animaux en France et des pays d'expression francaise, AJDA 1984, S. 695.

m CE v. 7. 12. 1984, Federation francaise des societes de protection de

410. 226

Ia nature, Rec.

CE v. 3. 2. 1989, Compagnie Alitalia, Rec. 44.

Wenig überzeugend ist der immer wieder anzutreffende (etwa J. - C. Bonichot [FN. 125], S. 596) Versuch, die "Abmilderungskasuistik" als bereits in dem Satz von den "autorites nationales...tenues d'adapter Ia legislation et Ia reglementation" angelegt zu deuten. Mit diesem Satz hat der Conseil d'Etat lediglich den unbestreitbaren Inhalt von 227

78

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

Maßstäblichkeit der nationalen Durchfiihrungsebene ein Stück entgegen und schlug der im Hintergrund stehenden Richtlinie wenigstens indirekte Einflußschneisen228. Freilich konnten die Nachteile der "Cohn-Bendit"-Position hierdurch nicht vollständig kompensiert werden. Lücken bestanden außer im Fall vollständigen Ausbleibens nationaler Umsetzungsaktivitäf29 auch dort, wo eine Richtlinie positive Leistungen gewältre30• Versagen mußten die Abmilderungskonstruktionen ferner dann, wenn die Umsetzung per (automatisch jüngerem) Gesetz erfolgte - dies war allerdings eine Nebenwirkung der "Semoules"-Doktrin (mit deren Aufgabe durch die "Nicolo"-Entscheidung das Problem sich dann auch erübrigte231 ) . Abertrotz der verbleibenden Lücken ging auch aus dieser neueren Richtlinien - Rechtsprechung hervor, daß das Gericht seine Europajudikatur wieder näher an die vertraglichen Vorgaben heranzufuhren bereit war.

6. Die Entwicklung der Vorlagepraxis

Die Darstellung der "Cohn-Bendit"-Entscheidung lieferte bereits ein erstes Beispiel: In der Einschätzung, welche gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen als "klar" und demnach nicht vorlagebedürftig einzustufen seien, offenbarten Art. 189 EWGV wiedergegeben. Ihn als Keimzelle der nachfolgenden, konzilianteren Entscheidungen auszugeben, spielt einerseits den Konfliktgehalt des "Cohn-Bendit"-Urteils und andererseits das Ausmaß des Tendenzwechsels herunter, der in diesen Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Dieser übermäßig harmonisierende Interpretationsansatz findet eine Parallele in der u.a. von B. Stirn (FN. 125), S. 245 und A. - M. Le Bos- Le Pourhiert (FN. 187), S. 391 vertretenen Konvergenzthese: Sie besagt, daß in der Frage der Direktwirkung von Richtlinien nicht nur der Conseil d' Etat sondern auch der Europäische Gerichtshof seine ursprüngliche Position abgeschwächt habe, letzterer durch die Absagen an eine horizontale Wirkungsebene bzw. eine Wirkung im Verhältnis Staat-Bürger. Bei diesen Entscheidungen handelt es sich indes wohl eher um Präszisierungen der Judikatur, nicht um Teilrückzüge aus der Ausgangsstellung! m

J. Rideau (FN. 190), S. 55; B. Stirn (FN. 125), S. 245.

Vgl. A. - M. Le Bos - Le Pourhiert (FN. 187), S. 391; L. Dubouis, Urteilsanmerkung, RFDA 1989, S. 417 ff., 420 f. Praktisch wurde diese Lücke im Fall CE v. 13. 12. 1985, Zakine, Rec. 515. 230 Vgl. Y Galmot I J. - C. Bonichot, La Cour de Justice des Communautes europeennes et Ia transposition des directives en droit national, RFDA 1988, S. I ff., 6. 229

231 In den Entscheidungen CE v. 28. 2. 1992, SA Rothmans International France et SA Philip Morris France, AJDA 1992, S. 224 sowie CE v. 28. 2. 1992, Ste. Arizona Tobacco Products et SA Philip Morris France, AJDA 1992, S. 225 wurden ministerielle Entscheidungen annuliert, die auf einem als richtlinienwidrig befundenen Gesetz jüngeren Datums beruhten.

V. Rechtsprechung des Conseil d' Etat nach 1975

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sich in der Rechtsprechung des Conseil d'Etat lange Zeit Eigenmächtigkeiten, die mehr oder minder offen die Anforderungen des Art. 177 EWGV unterliefen. Auch wenn aus anderen Mitgliedstaaten eine breite Palette von Belegen fur nachlässige bis hin zu eindeutig obstruktiven Handhabungen des Instruments der Vorlage überliefert ist und im übrigen auch die Cour de Cassation insoweit nicht immer vollauf den gemeinschaftsrechtlichen Pflichten genügte232: "les atteintes !es plus flagrantes a Ia cooperation juridictionelle sont venues essentiellerneut des juridictions administratives francaises" 233 . Den Ausgangspunkt der Vorlagerechtsprechung des Conseil d'Etat hatte die Entscheidung "Shell-Berre" vom 19. 6. 1964 gebildee 34 • Das Gericht urteilte hier, daß eine Vorlageverpflichtung gemäß Art. 177 EWGV nur dann entstünde, wenn "il existe un doute sur le sens ou Ia portee d'une ou plusieurs clauses du traite'm 5 . Da es den im Fall einschlägigen Art. 37 EWGV fur "clair" hielt, lehnte es eine Vorlage ab und entschied den ihm unterbreiteten Fall selbst durch. Hiermit orientierte sich das Gericht an der sogenannten "acte-clair''- Doktrin. Deren herkömmliche Funktion im französischen Recht hatte in der Abgrenzung der Auslegungszuständigkeit von Gerichtsbarkeit und Außenministerium gelegen. Wenn eine völkerrechtliche Bestimmung "klar" war, konnten die Verwaltungsgerichte sie nach dieser Doktrin ohne weiteres selbst anwenden. Bestanden hingegen Zweifel über ihren genauen Inhalt, mußte die Frage dem Außenministerium vorgelegt werden, da in diesem Fall eine eigenständige gerichtliche Auslegung der exekutiven Prärogative im Bereich der auswärtigen Beziehungen widersprochen hätte236• Übertragen auf die Vorlageverpflichtung 232 Zur Vorlagepraxis der Cour de Cassation: G. Le Tal/ec, La Cour de Cassation et Je droit communautaire, FS J. Boulouis, Paris 1991, S. 363 ff., 364 ff. 233 "Die schärfsten Angriffe auf die gerichtliche Kooperation [zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof] sind von den französischen Verwaltungsgerichten ausgegangen"; J. Rideau (FN. 190), S. 20. 234 CE v. 19. 6. 1964, Societe des petroles Shell-Berre et autres, Societe 'Les garages de France', Societe Esso-Standard, Societe Mobil Oil francaise, Societe francaise des petroles B. P. , Rec. 344.

235 "wenn ein Zweifel über den Sinn oder die Tragweite einer oder mehrerer Vorschriften des Vertrages besteht". 236 Die ersten Anwendungsfälle der "acte-clair"-Doktrin stammen aus dem fiühen 19. Jahrhundert; CE. V. 23 . 7. 1823, Veuve Murat, Rec.gen.des arrets du Conseil d'Etat, hrsg. v. Roche I Lebon, 3. Bd., Paris 1940, S. 389 f.; CE v. 6. 8. 1823, Corsaire Ia Represaille, Rec. gen. des arrets du Conseil d'Etat, hrsg. v. Roche I Lebon, 3. Bd., Paris 1940, S. 394 f. Seitdem wurde sie immer wieder bestätigt (etwa CE v. 3. 7. 1931, Karlet Toto Same, Rec. 722; CE v. 16. 11. 1956, Villa, Rec. 433), bis sich schließlich durch eine spektakuläre Plenarentscheidung vom 29. 6. 1990 (GISTI, AJDA 1990, S. 630 f.) der Conseil d' Etat die uneingeschränkte Befugnis zur Vertragsinterpretation zusprach ein Beleg der allgemeinen Umorientierung des Gerichts im Gefolge der "Nicolo"Entscheidung. Die ordentlichen Gerichte unterscheiden traditionell zwischen Fragen

80

I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

aus Art. 177 EWGV umschrieb die "acte-clair"-Doktrin nunmehr, bis zu welcher Grenze der Conseil d'Etat ohne Anrufung des Europäischen Gerichtshofs die europäische Norm anwenden und den ihm vorgelegten Fall selbst entscheiden durfte. Auch wenn mit dieser Übertragung auf die europäische Rechtsanwendung die rechtspolitische Stoßrichtung der "acte-clair"-Doktrin in ihr Gegenteil verkehrt wurde237 : Die Festlegung, daß nur (im Hinblick auf ihren Inhalt oder ihre Rechtrnäßigkeit) unklare Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vorzulegen seien, enthielt auf dem Papier keinen Widerspruch zu Art. 177 EWGV. Bekanntlich sollte auch der Europäische Gerichtshof später urteilen, daß bei Eindeutigkeit des europäischen Normgehalts ein Vorabentscheidungsverfahren nicht erforderlich sei 238 . Gemeinschaftsrechtlich problematisch war somit nicht der Ansatz des Conseil d'Etat als solcher - problematisch war die Art und Weise, in der er von ihm fortan praktiziert wurde239 . Bereits in der "ShellBerre"-Entscheidung war die Einstufung der "Klarheit" von Art. 37 EWGV juristisch stark anfechtbar gewesen und in der Literatur auf einmütige Kritik gestoßen240 • In den nachfolgenden Entscheidungen zeigte sich dann, daß dieses . Urteil kein Einzelfall gewesen war, sondern den Auftakt zum systematischen Mißbrauch der "acte-clair"-Doktrin gebildet hatte. In zahlreichen Entscheidungen der nächsten Jahre241 fanden sich höchst zweifelhafte Ausfilhrungen "d' ordre prive" (die sie selbst beurteilen) und Fragen "d'ordre public" (die sie vorlegen). Näher zum Ganzen J Schilling (FN. 12), S. 71 tf. 237 In ihrer herkömmlichen Funktion war die Doktrin ein Mittel, um die zeitraubende und aus völkerrechtlicher Sicht zuweilen risikobehaftete Interpretationsanfrage an das Außenministerium im Interesse zügiger und effektiver Anwendung der Verträge zu umgehen, d.h. sie wirkte sich im Ergebnis völkerrechtsfreundlich aus. Angewandt auf das europäische Gemeinschaftsrecht hatte sie hingegen die Tendenz, die Zahl der Vorlageflille zu verringern, und war insofern eher ein Ausdruck nationalrechtlicher Resistenz; vgl. D. Ruzüi, Urteilsanmerkung, JCP 1971, li, 16701.

m

EuGHE 1982, S. 3415 ff. (RS 283 I 81) - CILFIT

M. Fromont, Urteilsanmerkung, D 1971, Jur., S. 577 f., 577 ("appliquant de facon contestable un principe qui est en lui meme incontestable" - "Anwendung eines in sich unbedenklichen Grundsatzes auf bedenkliche Art und Weise"). Ebenso B. Genevois, Le Conseil d'Etat (FN. 182), S. 78, der allerdings später (Der Conseil d' Etat (FN. 185], S. 357) meinte, auch in dogmatischer Hinsicht existiere zwischen den Ansätzen von EuGH und Conseil d 'Etat eine "versteckte Divergenz". 239

240 C. A. Colliard, L'obscure clarte de l'article 37 du Traite de Communaute economique europeenne, D 1964, Chr., S. 263 ff.; J de Soto, Urteilsanmerlung, JDI 1964, S. 800 tf., 805; R. M. Chevallier, Urteilsanmerkung, CMLR 1965 I 1966, S. 100 ff.; E. Schober, Die Lehre vom "Acte clair" im französischen Recht. Ein Beitrag zu Art. 177 EWG-Vertrag, NJW 1966, S. 2252 f. , 2253. 241 Die hierfür am häufigsten aufgeführten Fälle sind: CE v. 27. I. 1967, Syndicat national des importateurs francais des produits Iaitiers et des alcools et Societe Decker et

V. Rechtsprechung des Conseil d'Etat nach 1975

81

zum Gemeinschaftsrecht242 : Europäische Normen wurden trotz offensichtlicher Unklarheiten (Wld nicht selten auch gegen den Rat des Commissaire du Gouvernement) als "clair" deklariert, um einer Vorlage an den Gerichtshof auszuweichen; mit demselben Ziel wurden Analogien zu bereits entschiedenen Fällen gezogen, die hierfiir nicht die erforderlichen Voraussetzungen boten; auch in stilistischer Hinsicht zeigte sich der Conseil d'Etat häufig intransigent und vermied es demonstrativ, in seinen Entscheidungsgründen Verweise auf die einschlägige EuGH-Judikatur aufzufiihren. Die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 177 EWGV wurden so praktisch ausgehöhlt. Die stark restriktive Handhabung des Instruments der Vorlage basierte auf dem Motiv, die Konfliktfalle zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht zu minimieren und die französische Rechtsordnung vor allzu weitgehender europäischer Ingerenz zu bewahren. Eine Reihe der Entscheidungen des Conseil d'Etat erklärte sich aus der offensichtlichen Befurchtung, der Europäische Gerichtshof könnte nationale Bestimmungen fiir gemeinschaftsrechtswidrig erklären 243 • Insbesondere verdeutlichte sich dies in solchen Fällen, in denen in der französischen Waagschale eine gesetzliche Bestimmung jüngeren Datums lag244 : Da hier die "Semoules"-Doktrin das Gericht auf jeden Fall zur Anwendung der nationalen Norm zwang, schien es dem Conseil klüger, von vomeherein auf die Vorlage zu verzichten und hierdurch die Gefahr eines nachfolgenden Eklats schon im Ansatz zu bannen. Wie stark die Vorbehalte des Conseil d'Etat gegenüber Luxemburger "Einmischungen" in die nationale RechtsordnWlg waren, zeigte sich auch unter semantischen Aspekten: Wenn das Gericht sich einmal zu einer Vorlagefrage durchrang, so wurde sie so abstrakt wie irgend möglich formuliert245 ; jeder Anschein, eine konkrete nationale Norm

compagnie, Rec. 41; CE v. 10. 2. 1967, Societe des Etablissements Petitjean et autres, Rec. 63; CE v. 23. 5. 1969, Sieur Jammes et Federations des Associations viticoles de France, Rec. 266. Gegen den ausdrücklichen Rat des Commissaire du Gouvernement entschieden CE v. 27. 7. 1979, Syndicat national des fabricants des spiritueux consommes a l'eau, Rec. 335; CE V. 12. 10. 1979, Syndicat des importateurs des vetements et produits artisanaux, Rec. 374. Die Beharrlichkeit, mit welcher das Gericht auslegungsbedürftige Bestimmungen ftir "klar" ausgab, decouragierte manchen Commissaire du Gouvernement schon im vorhinein; siehe das Zitat bei J. Rideau (FN. 190), S. 26. 242

Eine detaillierte Übersicht findet sich bei J. Rideau (FN. 190), S. 20 ff.

M. Fromont, Die französische Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht März 1968 - Juni 1969, EuR 1970, S. 48 ff., 54; V Coussirat - Coustere (FN. 185), S. 87 f.; J Rideau (FN. 190), S. 22. 243

244

Etwa CE v. 23 . II. 1984, Roujansky, Rec. 383.

245

V Coussirat- Coustere (FN. 185), S. 88.

6 Hecker

82

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

werde direkt auf den europäischen Prüfstand gestellt, sollte vermieden werden246. Parallel zur Entwicklung in den anderen Sektoren der Europarechtsprechung wurde schließlich aber auch die Vorlageproblematik in der neueren Judikatur des Conseil d'Etat mehr und mehr entschärft. Der Beginn des Pendelausschlags in die Gegenrichtung ist bereits auf 1970 zu datieren, als das Gericht zum ersten247 Mal den von Art. 177 EWGV vorgezeichneten Weg beschritt und ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof richtete248 . Ironischerweise war in diesem Fall der Inhalt der europäischen Verordnung - zum Nachteil einer nationalen Ordonnance - ganz "klar" und eine Vorlage somit gar nicht angezeigt gewesen 249 . Die Absicht, eine nationale Vorschrift wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht unangewendet zu lassen, schuf aber offenbar ein gewisses Affirmationsbedürfnis. In der Folgezeit nahm die Zahl der Vorlagen - bei immer wieder auftretenden Rückfiillen250 - stetig zu251 . Es häuften sich (in den achtziger Jahren) die Fälle, in denen der Conseil d'Etat sich bei Verneinung der Vorlagebedürftigkeit wenigstens ausfuhrlieh mit der vorhandenen EuGH-Judikatur auseinandersetzte-statt sie wie früher mit Schweigen zu übergehen252 • Mittlerweile, so die wohl unbestrittene Einschätzung in der Literatur253 , kann eine signifikante Besserung der Lage konstatiert werden und ist der Conseil d'Etat zu einer weitaus korrekteren Anwendung des Art. 177 EGV übergegangen; "progressivement Je dialogue indispensable des juges semble s' instau-

246 Wiewohl dies durchaus den Forderungen des EuGH an die Redaktion von Vorabentscheidungsersuchen - die von den mitgliedstaatliehen Gerichten freilich regelmäßig wenig beachtet werden - entsprach. 241 E. Schaeffer, Le droit communautaire face au droit national, GazPal 1979, Doctr., S. 441 ff., 445 .

24K CE v. 10. 7. 1970, Syndicat national du commerce exterieurdes cereales, Rec. 477. 249 M. Fromont (FN. 239), S. 578. 250 Zuvorderst ist hier natürlich die "Cohn-Bendit"-Entscheidung zu nennen. Siehe aber etwa auch noch CE v. 6. 7. 1990, Comite pour Je developpement industriel et agricole du Chotelais, Rev. jurispr. fisc. 1990, S. 543, wo das Gericht entgegen dem Ratschlag des Commissaire du Gouvernement nicht vorlegte. 25 1 Vgl. etwa M. Fromont, EuR 1975 (FN. 151), S. 345 und G. Ress (FN. 61), S. 493, die beide einen Anstieg der Vorlagen in den letzten Jahren konstatieren. Eine bekannte Entscheidung aus dieser Zeit war CE v. 18. I. 1974, Union des Minoteries de Ja Champagne, Rec. 40, wobei es hier um die Vertragsgemäßheit einer europäischen Verordnung ging, die Antwort des EuGH also aus nationaler Sicht nicht "wehtun" konnte. 252 Nachweise bei J. Rideau (FN. 190), S. 27 f. 253 J. - C Bonichor (FN. 125), S. 592; A. - M. Le Bos- Le Pourhiert (FN. 185), S. 387; J. Rideau (FN. 190), S. 20; B. Stirn (FN. 125), S. 245.

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1989

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rer"254 • Wie auf den anderen Konfliktfeldern wird die Europarechtsprechung auch hier nicht mehr primär vom Gesichtspunkt der "Verteidigung" nationaler Rechtspositionen bestimmt, sondern hat das Gericht seine anflinglichen Vorbehalte überwunden und ist zu einer kooperativeren Haltung gelangt. Parallel zur Abmilderungsjudikatur des Conseil d'Etat in der lex-posterior-Frage sowie in der Direktwirkungsfrage zeichnete sich damit auch in der neueren Vorlagerechtsprechung die "Nicolo"-Wende bereits im Vorfeld ab.

VI. Die Wende des Conseil d'Etat: Die "Nicolo"-Entscheidung von 1989 Auch wenn die "Nicolo"-Entscheidung255 nach den vorangegangen Aufweichungserscheinungen auf allen Feldern der Europarechtsprechung überfällig war und vor dem Hintergrund der schwindenden Akzeptanz der "Semoules"Linie letztlich einen "combat sans espoir" 256 beendete: An ihrer grundlegenden Bedeutung als Zeichen eines historischen Kurswechsels der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ändert dies nichts257 • ln Anbetracht der spezifischen institutionellen Funktion des Conseil d'Etat im französischen öffentlichen Recht, seiner prestigebeladenen Rolle als ureigenster Hüter von dessen Prinzipien kommt ihr eine ungleich höhere Signalwirkung zu als der "Jacques Vabre"-Entscheidung der Cour de Cassation. Für Frankreich ist die "Nicolo"-Entscheidung das bislang wohl tiefgreifendste Beispiel einer europäisch induzierten Umwälzung des innerstaatlichen Verfassungsverständnisses, mag hierfiir auch der neue konstitutionelle Rahmen der V. Republik erst die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben. Sie räumte ein zuletzt in der Gemeinschaft beispiellos gewordenes Infiltrationshindernis gegenüber dem Gemeinschaftsrecht beiseite und polierte hierdurch das durch "Semoules" und "Cohn-Bendit" arg ramponierte Ansehen Frankreichs als

254 B. Stirn (FN. 125, S. 245 - "der unabdingbare Dialog zwischen den Gerichten scheint sich zunehmend zu etablieren". 255 FN. 2 1. 256 G. Jsaac (FN. 106}, S. 788. Vgl. auch D. Simon, Les exigences de Ia primaute du droit communautaire: continuite ou metamorphoses ?, FS J. Boulouis, Paris 1991 , S. 481 ff., 482. 257 Vgl. H. Calvet, (FN. 111), no. 22 ("ere nouvelle"); J. F Touchard, Apropos de I' arret Nicolo, RDP 1990, S. 801 ff., 801 ("portee fondamentale").

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

Mitglied der europäischen Rechtsgemeinschaft wieder au:f 58 . Zwar nahm die "Nicolo"-Entscheidung die Vorrangbegründung nur auf der Basis einer neuen Lesart von Art. 55 statt auf einer genuin-gemeinschaftsrechtlichen Basis vor. Sie deshalb nur bedingt als einen Sieg für Europa anzusehen 259 , würde indes die praktische Tragweite dieses Beharrens auf dem nationalen Vermittlungsmodell überbewerten 260 •

1. Sachverhalt und Urteilstext

Wie bei der "UDT"-bzw. der "Election"-Entscheidung von 1979 (sowie der zwischenzeitlich ergangenen "Roujanski"-Entscheidung von 1984 26 1) gaben auch dieses Mal die Wahlen zum Europäischen Parlament den äußeren Anlaß für die Entscheidung. Der Kläger Nicolo begehrte die Annulierung der Wahlen vom Juni 1989: Da hieran auch Wähler aus überseeischen Departements und Territorien beteiligt worden waren, liege ein Verstoß gegen Art. 227 EWGV vor, wonach diese Gebiete vom Anwendungsbereich des Vertrages ausgeschlossen seien. Daß die Klage N icolos im Ergebnis aussichtslos war, stand von vomeherein außer Zweifel 262 (und hielt den konkreten Preis der Umorientierung

258 G. Jsaac (FN. 106), S. 788 ("restaure de Ia maniere Ia plus eclatante Ia credibilite nationale et internationale du systeme politico-juridictionel francais" - "stellt schlagartig die nationale und internationale Glaubwürdigkeit des französischen juristisch-politischen Systems wieder her"). 259 260

C. Lerche (FN. II I), S. 626. C. Lerche (FN. II!), der besonders über die Absage an einen Vorrang auch vor der

französischen Verfassung besorgt ist (S. 622 ff.), muß entgegengehalten werden, daß eine Kontrolle von Gemeinschaftsrecht am Maßstab französischer Grundrechte oder anderer Verfassungsnormen - dies wäre ja die einzig konstruierbare Gefahr, die aus diesem Vorgehen erwachsen könnte - praktisch nicht vorstellbar ist. Weder der Conseil d'Etat, noch die Cour de Cassation haben je die Monopolisierung des Prüfungsmaßstabes "Verfassung" beim Conseil Constitutionnel prinzipiell in Frage gestellt. Was wiederum den Conseil Constitutionnel selbst betrifft, so wird seine Kontrolltätigkeit gegenüber europäischem Recht nicht durch Art. 55 gesteuert, so daß die Anwendung dieser Vorschrift durch den Conseil d 'Etat - der ohnehin ihm gegenüber keine rechtsverbindliche Festlegung vornehmen könnte - ohne Bedeutung ist. Die Absage an eine genuin-gemeinschaftsrechtliche Vorrangbegründung ist insofern unter praktischen Gesichtspunkten nicht besorgniserregend. FN. 244. Der am Verfahren beteiligte Minister für die überseeischen Departements und Territorien hatte sogar beantragt, das Gericht möge gegenüber Nicolo eine "amende pour 26 1 262

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1989

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niedrig263 ). Aber zu entscheiden war eben, ob Nicolo mit dem Einwand der Vertragswidrigkeit überhaupt zu hören sei. Denn der Einbezug der überseeischen Wähler beruhte auf Art. 4 des französischen Europawahlgesetzes, also einer gesetzlichen Bestimmung jüngeren Datums. Die bejahende Antwort des Gerichts (wiederum: seiner Assemblee) geriet so unprätentiös wie irgend möglich: "!es regles ci-dessus rappelees, detinies par Ia loi du 7 juillet 1977, ne sont pas incompatibles avec /es stipulations claires de I 'article 227-1 precite du traite de Rome" 264 . Mit diesem einen Satz gab das Gericht zu erkennen, daß es die europäische Norm als Kontrollmaßstab einer Gesetzesbestimmung jüngeren Datums akzeptiert, den Einwand Nicolos somit als prinzipiell zulässig eingestuft hatte; eine "message code"265 und insofern eine Parallele zur "Semoules"Entscheidung, die gleichfalls kein Wort zur eigentlichen juristischen Problematik des Falles enthalten hatte. Welche Argumentationslinie dem Urteil zugrundelag, mußte auch hier wieder über die Anträge des Commissaire du Gouvernement, Patrick Frydman, erschlossen werden.

2. Die Anträge des Commissaire du Gouvernement

Patrick Frydman gelang es in eindruckvoller Weise, sämtliche Linien der bisherigen Diskussion aufzunehmen, das Knäuel an Entscheidungen aller Gerichtszweige sowie an literarischen Beiträgen jeglicher Couleur souverän zu entwirren und einen nach allen Seiten abgesicherten Entscheidungsvorschlag zu präsentieren, der das Gericht zur Umkehr in der lex-posterior-Frage aufforderte - und zwar auf der Grundlage der "neuen Lesart" des Art. 55, wie sie von den literarischen Gegnern der "Semoules"-Entscheidung propagiert worden war. Anders als bei den Anträgen Touffaits zur "Jacques Vabre"-Sache, die mit ihrer Verengung auf die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel juristische Lücken aufgewiesen hatten, wurde bei Frydman die gesamte Problematik bis in jede Verästelung minutiös seziert und - was die verfassungsrechtlichen Aspekte betraf- in die zutreffenden Zusammenhänge gesetzt. recours abusif" (Ordnungsgeld wegen rechtsmißbräuchlicher Klage) festsetzen. Vgl. Art. I des Tenors, worin der Conseil d'Etat diesen Antrag abschlägig beschieden hat. 263

J. Bou/ouis, Apropos de I'arret Nicolo, RGDIP 1990, S. 91 ff., 92.

"die oben angesprochenen Bestimmungen des Gesetzes vom 7. Juli 1977 sind mit den eindeutigen Vorschriften des erwähnten Art. 227 Abs. I des Vertrages von Rom nicht unvereinbar". Der Gebrauch der doppelten Verneinung läßt ein Stück erahnen, daß mit diesem Satz der Conseil d' Etat sich von einer über hundertjährigen Tradition verabschiedet hat. 264

265

G. /saac (FN. I 06), S. 790.

86

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

Dies galt zunächst filr die Gleichsetzungsthese Questiaux', die- in Kombination mit der sie entkräftenden und damit vermeintlich automatisch die Kontrollbefugnis des Conseil d'Etat eröffnenden Schwangerschaftsentscheidung jahrelang eine Quelle von Unklarheiten gebildet und in die Irre gefuhrt hatte. Frydman ließ von Beginn an keinen Zweifel, daß er die Gleichsetzung fiir falsch hielt: "quoi qu'en aient dit certains commentateurs, le contröle que le juge pourrait etre amene a exercer sur Ia conformite des normes legislatives aux traites anterieurs ne saurait en tout etat de cause constituer, selon nous, un veritable contröle de constitutionnalite"266 . Die Begründung fiir die fehlende Vergleichbarkeit von Vertrags- und Verfassungskontrolle lag fiir Frydman dabei weniger im "caractere a Ia fois relatif et contingent" der Vorranganordnung des Art. 55 als vielmehr darin, daß "Ia violation de Ia Constitution qui resulterait de Ia meconnaissance d'un traite ... parait trop indirecte pour pouvoir etre censuree en tant que telle ....Adopter Ia these inverse reviendrait d'ailleurs a inclure dans Je bloc de constitutionnalite .. .l'ensemble des traites internationaux"267 . Der entscheidende Schritt Frydmans lag nun darin, daß er sich - anders als Touffait - noch nicht mit dieser Entkräftung der Gleichsetzungsthese begnügte, sondern nachwies, daß der eigentliche Kern der lex-posterior-Problematik woanders (und folglich auch jenseits dessen, was durch das Schwangerschaftsurteil des Conseil Constitutionnel entschieden worden war) lag: "il n'en demeure pas moins qu'envisager Ia possibilite d'ecarter une loi contraire a une norme internationale revient inevitablement a soulever.. .la question du contröle exerce sur Ia validite de Ia loi au regard du traite. Et teile est en fait Ia question essentielle, puisque c 'est bien ce contr6/e de validite dans son ensemble, qui, en principe, vous echappe- Ia question de savoir si celui-ci pourrait s'analyser en un contröle de constitutionnalite n 'ayant en verite d'interet propre que du seul point de vue du Conseil constitutionnel, dont el/e conditionne Ia competence"268 (Herv. v. Verf.). - Gewiß, die Wahl des Begriffes "contröle de

266 "was immer einige Kommentatoren diesbezüglich gesagt haben mögen, eine Kontrolle der Vertragskonformität gesetzlicher Bestimmungen durch den Richter würde nach unserer Auffassung keinesfalls eine echte Verfassungskontrolle darstellen"; Schlußanträge, RTDE 1989, S. 771 ff., 774.

267 "der Verfassungsbruch, der in der Verletzung eines Vertrages läge, zu mittelbar erscheint, um als solcher gerügt werden zu können ..... Sich dem gegenteiligen Standpunkt anzuschließen, würde im übrigen dazu fiihren, die Gesamtheit internationaler Verträge in den Bestand des Verfassungsrechts aufzunehmen"; FN. 266, S. 775. 263 "ein gegen eine internationale Vorschrift verstoßendes Gesetz unangewendet zu lassen, wirft ungeachtet dessen zwangsläufig die Frage nach der Gültigkeit des Gesetzes im Verhältnis zum Vertrag auf. Und hier liegt in Wirklichkeit das eigentliche Problem, denn genau eine solche Gültigkeitskontrolle liegt prinzipiell außerhalb Ihrer Befugnisse - die Frage, ob sie eine Verfassungskontrolle darstellt, ist im Grunde nur aus Sicht des

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1989

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validite" war unglücklich269 • Ansonsten aber legte dieser Satz frei, was die eigentliche Gretchenfrage des vorliegenden Falles war: nicht inwiefern oder inwiefern nicht die vom Kläger gewünschte Vertragskontrolle als Verfassungskontrolle zu begreifen sei, sondern ob das Gericht deshalb an ihrer Durchführung gehindert wäre, weil sie den unbedingten Befolgungsanspruch des Gesetzes, seine generelle Unantastbarkeit durch den Richter verletzen würde. Hiermit wurde von Frydman zugleich klargestellt, warum die Schwangerschaftsentscheidung des Conseil Constitutionnel keine präjudizierende Wirkung für die Entscheidung des Conseil d'Etat besitzen konnte. Die bisherige Haltung von letzterem basierte eben auf der Vorstellung, jegliche Gesetzeskontrolle sei unabhängig vom Kontrollmaßstab - unzulässig270 . Und hierzu enthielt die Schwangerschaftsentscheidung des Verfassungsgerichts, das sich ja nur zum Umfang der eigenen Zuständigkeiten geäußert hatte (und mehr auch nicht hätte tun können271 ), keine bindende Festlegung; aus der vom Conseil Constitutionnel ausgesprochenen Verschiedenheit von Vertrags- und Gesetzeskontrolle hatte

Conseil Constitutionnel von Bedeutung, da sie dessen Zuständigkeiten bestimmt"; FN. 274, S. 776. 269 Kritisch hierzu vor allem L. Favoreu, Urteilsanmerkung, RFDA 1989, S. 993 ff., 997 f. und J. Rideau (FN. 190), S. 44, die beide der Sache nach zu Recht insistieren, es könne nur um die Feststellung der Unanwendbarkeit - statt der Ungültigkeit - des vertragswidrigen Gesetzes gehen. Abgesehen davon allerdings, daß in den Schlußanträgen mit dem Begriff der Gültigkeitskontrolle keine weiteren Konsequenzen verknüpft werden, ist zur Verteidigung Frydmans anzumerken, daß die Wendung der "validite... au regard du traite" (Herv. v. Verf.) die Relativität des Kontrollergebnisses im Grunde schon selbst andeutet. 270 Vgl. die allgemein gehaltene Formulierung Frydmans: "Les fondements theoriques de ces decisions ... doivent etre recherches dans votre volonte de respecter Je principe suivant Iequel il n 'appartient pas au juge administratif d 'exercer un contröle sur Ia validite des lois" - "die theoretischen Grundlagen dieser Entscheidungen liegen in Ihrem Willen, den Grundsatz einzuhalten, daß eine Kontrolle der Gültigkeit von Gesetzen dem Verwaltungsrichter [generell] nicht zusteht"; FN. 266, S. 773 I 774 (Herv. v. Verf.). 271 Dies ist L. Favoreu (FN. 269) entgegenzuhalten, der Frydman zum Vorwurf macht, den Kurswechsel nicht auf die oben erwähnten Entscheidungen des Conseil Constitutionnel aus den achtziger Jahren gestützt zu haben (S. 994 ff.). Wenn Favoreu zur Begründung seiner Kritik auf Art. 62 der Verfassung verweist (S. 995 f.), so ist hierauf zu erwidern, daß die in dieser Vorschrift angeordnete Bindungswirkung der Entscheidungen des Conseil Constitutionnel - die, was in Frankreich seit langem unstrittig ist, nicht nur den Tenor sondern auch die tragenden Gründe umfaßt - nicht über den Streitgegenstand der gerichtlichen Entscheidung hinausreichen kann. Verneint das Verfassungsgericht im Rahmen einer Normenkontrolle seine Zuständigkeit zur Prüfung der Vertragskonformität, so stellt die Aussage, andere Gerichte besäßen diese Zuständigkeit, keinen tragenden Grund der eigenen Entscheidung dar. Von daher bringen Äußerungen dieser Art lediglich rechtspolitische Ansichten oder Wünsche zum Ausdruck.

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1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

sich lediglich eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung fiir die Umkehr in der lex-posterior-Frage ergeben. Diese Vorklärung war nicht nur unter juristischen, sondern auch unter psychologischen Gesichtspunkten von Bedeutung. Denn sie befreite den Conseil d'Etat von dem harten Vorwurf der jahrzehntelangen Schwerhörigkeit gegenüber verfassungsgerichtlichen Vorgaben. Frydman erkannte, daß man dem Conseil d'Etat Brücken bauen, ihn von dem Gefiihl befreien mußte, bislang einem Irrweg gefolgt zu sein. Nur wenn man der bisherigen Rechtsprechung honorige Absicht wie juristische Plausibilität zugestand, so offenbar Frydmans Kalkül, konnte man dem Gericht die Angst vor einem Gesichtsverlust nehmen und seine Bereitschaft zur Umkehr wecken. Dementsprechend vermied er es, das "Semoules"-Urteil und seine Nachfolger einer direkten Kritik zu unterziehen: "notre propos sera nullement de soutenir aujourd'hui que ces decisions seraient critiquables sur Je plan juridique"272 . Im Gegenteil: Sie "etaient a cette epoque, et demeurent encore pour partie, d'une tres grande solidite"273 . Mit dieser Nachsichtigkeit gegenüber der traditionellen Position des Gerichts korrespondierte, daß Frydman auch bei der Erörterung der von ihm propagierten neuen Linie zunächst eher leise Töne anschlug: "il nous semble ...qu'une autre lecture de l'article 55, infiniment souhaitable en opportunite, ...est certainement tout autant concevable en droit"274 . Dies schuf die passende Atmosphäre, um den Conseil d'Etat fiir die eigene Linie einzunehmen. Die neue Lesart des Art. 55 sei gleichermaßen vertretbar- statt unabweisbar zwingend und sie sei unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten - statt aus Rechtsgründen wünschenswert: Hierdurch wurde die Problematik entdramatisiert und die psychologische Schwelle fiir den Kurswechsel so weit wie möglich herabgesenkt. Was zunächst die Opportunitätsebene betraf, so bereitete es Frydman erwartungsgemäß keine Schwierigkeiten, eine ganze Reihe von Argumenten fiir die Umkehr aufzufiihren: Die alte Linie habe es dem Parlament mühelos gestattet, die Anwendung internationaler, insbesondere gemeinschaftsrechtlicher Normen zu vereiteln und hiermit Konflikte heraufzubeschwören, die im Widerspruch zur allgemeinen Völkerrechtsfreundlichkeit der französischen Rechtsordnung stünden; sie habe zu einer unglücklichen Divergenz zwischen Verwaltungs- und ordentlicher Gerichtsbarkeit gefiihrt, deren übliche Rechtfertigung durch die unterschiedlichen Entscheidungsfolgen in beiden Gerichtszweigen "parait, au 272 "unser Vorschlag unterstellt keinesfalls, diese Entscheidungen seien rechtlich anfechtbar"; FN. 266, S. 774. 273

"waren damals, und sind es teilweise heute noch, wohlbegründet"; FN. 266, S. 774.

"uns erscheint heute eine neue Lesart des Art. 55 - die außerordentlich zweckmäßig wäre- juristisch ebenso vertretbar zu sein"; FN. 266, S. 774. 214

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d' Etat von 1989

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moins sur le plan du droit strict, sans importance aucune" (!)275 . Es sei unannehmbar, daß französische Bürger sich, im Unterschied zu anderen Gemeinschaftsangehörigen, nicht auf gesetzeswidersprechende europäische Verordnungen berufen könnten (ein geschickter Appell an das nationale Interesse), was im übrigen auch "difficilement [!] compatible avec les principes memes du droit communautaire" sei276 • Überhaupt mute die "Semoules"- Doktrin vor dem Hintergrund der modernen Rechtsentwicklung anachronistisch an: "l'epoque de Ia Suprematie inconditionelle du droit interne est desormais revolue ... Les normes internationales, et notamment europeennes ont progressiverneut conquis notre univers juridique... Ainsi certains secteurs de notre droit...sont aujourd'hui tres largement issus d'une veritable legislation internationale ... La France ne peut simultanerneut accepter des limitations de souverainete et maintenir Ia suprematie de ses lois devant le juge: il y a Ia un illogisme que votre decision de 1968 nous parait peut-etre avoir sous-estime''277 . Von dieser Beschwörung der neuen übernationalen Realitäten war es im Grunde nicht mehr weit bis zu einem Anschluß an die genuin-gemeinschaftsrechtliche Vorrangbegründung des Europäischen Gerichtshofs, vor der Fcydmann dann aber an späterer Stelle doch zurückschreckte (s.u.). Auf der dogmatischen Ebene war Frydman zunächst daran gelegen, sich von der übergescluneidigen Lehre Niboyets der isolierten Anwendungsbereiche von Gesetz und Vertrag zu distanzieren. Diese Lehre, "selon laquelle le juge, en faisant pn!valoir le traite sur Ia loi ... se bornerait. .. a choisir une norme applicable, sans operer par Ia meme une censure, meme implicite, du texte qu'il ecarte" 278 , stufte Frydman als Verschleierung der wahren Verhältnisse ("specieux") ein: "si le juge ecarte l'application de Ia loi, c'est bien ...parce qu'il considere que celle-ci ne saurait trouver application du fait meme sa sa contrariete au traite. II est donc tout au moins difficile de ne pas voir dans une 275

"zumindest in rein rechtlicher Hinsicht ohne jede Bedeutung erscheint"; FN. 266,

S. 778. 276

266,

"schwierig mit den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu vereinbaren"; FN.

s. 779.

277 "die Epoche des unbedingten Vorrangs des innerstaatlichen Rechts ist mittlerweile verstrichen. Die internationalen und vor allem europäischen Vorschriften haben zunehmend unsere juristische Welt erobert. Bestimmte Bereiche unseres Rechts beruhen heutzutage in sehr großem Umfang auf internationaler Rechtsetzung. Frankreich kann nicht Beschränkungen seiner Souveränität zustimmen und zugleich am Vorrang seiner Gesetze vor Gericht festhalten: hierin liegt ein logischer Widerspruch, den Ihre Entscheidung von 1968 nach unserer Auffassung möglicherweise unterschätzt hat"; FN. 266, S. 779. 278 "wonach der Richter, wenn er dem Vertrag den Vorzug vor dem Gesetz gibt, sich darauf beschränkt, die anwendbare Vorschrift auszusuchen, ohne zugleich eine Rüge nicht einmal implizit- des beiseitegelassenen Textes auszusprechen"; FN. 266, S. 776.

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

teile demarche un contröle exerce sur Ia validite de Ia loi"279 • Statt dessen schloß sich Frydman der verfassungsstaatlichen Lesart des Art. 55 an, wie sie von der literarischen Gegenposition zur "Semoules"-Linie des Conseil d'Etat vorgezeichnet worden war. Der Ausgangspunkt lautete: "il faut bien ... preter aux constituants l'intention d'avoir entendu prevoir une mise en oeuvre effective de Ia suprematie des traites'm0 • "Mise en oeuvre effective" setze voraus, nicht im Gesetzgeber den einzigen Adressaten der Vorschrift zu sehen, denn dies "conduit en effet, en pratique, a priver purement et simplement de toute sanction efficace Ia violation de l'article 55. Or il n'est pas concevable, qu'une disposition constitutionelle demeure ainsi lettre morte"281 • Also: Den Verfassungsgeber beim Wort nehmen, den Text der Verfassung nicht mit einem historisch bezogenen Vorverständnis überdecken, sondern ihn unbefangen so auffassen, wie er geschrieben steht. Hiermit mahnte Frydman, ganz auf der Linie der literarischen Kritiker der "Semoules"-Entscheidung, die Narrnativität der Verfassung an. Hatte Latoumerie in den Anträgen zur "Arrighi"Entscheidung noch davon gesprochen, es sei zu akzeptieren, wenn "certaines parties du droit restent a l'etat de droit imparfait, a l'etat de droit sans sanctions", so war es Frydman nunmehr ganz unbegreiflich, daß eine Verfassungsbestimmung "lettre morte" bleiben sollte. Nichts hätte den Wandel des Verfassungsverständnisses, der sich inzwischen vollzogen hatte, deutlicher machen können. Art. 55 vor dem Schicksal eines "lettre morte" zu bewahren, mußte praktisch heißen, ihn als eine auch an den einfachen Richter adressierte Ranganordung zu interpretieren: "l'article 55 comporte necessairement, par lui - meme, une habilitation donnee implicitement aux juges a l'effet de contröler Ia conformite 279 "wenn der Richter die Anwendung des Gesetzes verwirft, dann deshalb, weil er zu dem Schluß gelangt, dieses dürfe wegen seines Widerspruchs zum Vertrag keine Anwendung finden . Es ist daher äußerst schwierig, in einem solchen Vorgehen nicht eine Kontrolle der Gültigkeit des Gesetzes zu sehen."; FN. 266, S. 776. Wenn Frydman meinte, die Anwendungslehre werde von der "majorite de Ia doctrine" vertreten, dann dürfte er hiermit die wahren Mehrheitsverhältnisse verzeichnet haben. Von den zahlreichen Kommentatoren der "Nicolo"-Entscheidung etwa hängt ihr, soweit ersichtlich, lediglich L. Favoreu (FN. 269), S. 998 an, während die anderen, soweit sie überhaupt auf dogmatische Überlegungen eingehen, Präferenzen fiir den "verfassungsstaatlichen" Ansatz zeigen. Es ist allerdings durchaus vorstellbar, daß Frydman aus rein taktischen Gründen den Eindruck zu vermeiden suchte, mit der von ihm schließlich gewählten Lösung würde der Conseil d'Etat auf die literarische Mehrheitslinie einschwenken und damit in einer seinem Prestige abträglichen Weise gewissermaßen klein beigeben.

280 "man muß dem Verfassungsgeber unterstellen, eine effektive Gewährleistung des Vorrangs der Verträge angestrebt zu haben"; FN. 266, S. 776. 281 "führt praktisch dazu, eine Verletzung des Art. 55 schlicht sanktionslos zu lassen. Es ist jedoch nicht aktzeptabel, daß eine verfassungsrechtliche Vorschrift auf diese Weise ein toter Buchstabe bleibt"; FN. 266, S. 778.

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1989

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des lois aux traites"282 - dies war die angekündigte "autre lecture". Frydman beteuerte, daß mit ihr die hergebrachte Unantastbarkeitsdoktrin nicht generell in Frage gestellt werde ("aucunement remise en cause"283 ). Die Kontrolle auf der Grundlage von Art. 55 wurde von ihm als ein reines Ausnahmeinstitut vorgestellt, das nur auf den Sonderfall völkerrechtlicher Verträge Anwendung finde, keineswegs aber zum allgemeinen Prüfungsrecht (am Maßstab der Verfassung) fiihre; insoweit bleibe es bei dem Grundsatz, daß der Richter sich bedingungslos dem Geltungsanspruch des Gesetzes unterzuordnen habe284 . Freilich bedurfte es auch fiir diese ausnahmsweise Kontrollermächtigung des Nachweises, daß ein Wandel des Gesetzesbegriffs und seines Verhältnisses zur Verfassung (aus deren Art. 55 diese Ermächtigung abgeleitet wurde) eingetreten sei. Hier konnte Frydman gleichfalls auf das zurückgreifen, was bereits seit Jahren in der Literatur erörtert worden war85 , nämlich "Ia profonde remise en cause de sa [des Gesetzes] Suprematie sous Ia vo Republique", insbesondere veranschaulicht in der Aufwertung der Verfassungsgerichtsbarkeit286 . Frydman hielt dem Gericht vor Augen, daß es selbst mit seiner Abmilderungsjudikatur im Gefolge der "International Sales"-Entscheidung einen Beitrag zur Aufweichung der traditionellen Doktrin geleistet habe 287 • Insgesamt habe sich der Kontext in einer Weise verändert, daß das Gesetz "n'est certainement plus, aujourd'hui, .. .la norme 'sacree' qu'elle etait traditionellement aux yeux des juges"288 • War damit auf der verfassungsrechtlichen Problemebene endlich der Durchbruch zu einer modernen, verfassungsstaatlichen Sichtweise gelungen, so bliem "Art. 55 beinhaltet notwendigerweise eine unausgesprochene Ermächtigung an den Richter, die Vertragskonformität von Gesetzen nachzuprüfen"; FN. 266, S. 776. 283 FN. 266, S. 777; das Gericht hat den Ausnahmecharakter der von ihm in der "Nicolo"-Entscheidung vorgenommenen Gesetzeskontrolle dadurch unterstrichen, daß es in einer weiteren Entscheidung zur Europawahl vom seihen Tag den vom Kläger (der schon 1984 gegen die damalige Wahl zu Gericht gezogen war) erhobenen Einwand der Verfassungswidrigkeit als unzulässig zurückwies; CE v. 20. 10. 1989, Roujansky, LPA 1989, n° 137. 4. 284

FN. 266, S. 777.

Und auch jetzt von den Kommentatoren der Entscheidung noch einmal bekräftigt wurde; vgl. H. Calvet (FN. 119, No. 6 ("laiciser Ia loi"); L. Dubouis (FN. 229), S. 1001 ("declin de Ia souverainete de Ia loi et un affermissement de l'importance et de l'autorite de Ia regle constitutionelle") und B. Genevois, Urteilsanmerkung, RFDA 1989, S. 824 ff., 833 (" Ia loi n'exprime Ia volonte generate que dans le respect de Ia Constitution" - diese Formulierung hatte Genevois wohl der Entscheidung No. 85 - 197 DC des Conseil Constitutionnel vom 23. 7. 1985 entnommen). 215

286

FN. 266, S. 780.

287

FN. 266, S. 781.

"ganz sicher heutzutage nicht mehr die 'heilige' Norm ist, die es in den Augen der Richter tradititonellerweise einmal war"; FN. 266, S. 780. 288

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I. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

ben Frydmans Ausruhrungen zur gemeinschaftsrechtlichen Problemebene auf dem bisherigen Stand der Meinungsbildung im Conseil d'Etat stehen. Hier lag denn auch ein Punkt, an dem ihm Teile der - ansonsten wohlgesonnene Literatur die Gefolgschaft versagten289• Frydman behauptete, eine Vorranganordnung könne dem EWG-Vertrag schlicht nicht entnommen werden: "c'est...en vain qu'on chercherait, dans Je Traite du Rome, une teile habilitation'm0. Mit der im "Costa I ENEL"- und später im "Simmenthal"-Urteil beschrittenen Möglichkeit, sie aus der Eigenart der Gemeinschaftsrechtsordnung und dem vertragsimmanenten Postulat der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft abzuleiten, setzte er sich praktisch nicht auseinander, sondern tat beide Entscheidungen kurzerhand als "critiquable" ab. Sie beruhten auf einer "logique, difficilement justifiable, de supranationalite", "a laquelle ne souscrit d'ailleurs pas expresserneut Je Traite de Rome et qui conduirait...a rendre celui tres certainement inconstitutionnel"291 . Frydmann setzte sich hier ohne großes Aufheben über jahrzehntelang in der Rechtsprechung des EuGH etablierte Gemeinschaftsrechtsprinzipien hinweg. Auch aus nationaler französischer Sicht war dieser Satz problematisch, denn die vermeintliche Verfassungswidrigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Vorrangregel liegt außerhalb der Prüfungskompetenz der einfachen Gerichtsbarkeit (und, wegen des Prinzips der Präventivkontrolle, sogar der Verfassungsgerichtsbarkeie92). Wie anfechtbar die Argumentationslinie Frydmans an diesem Punkt insgesamt war, zeigten auch seine rechtsvergleichenden Blicke auf die Lage in Deutschland und Italien. Das Beispiel der dortigen Gerichte beschied er mit dem oberflächlichen Hinweis, die jeweiligen Verfassungen besäßen anders als die französische keine ausdrückliche Vorranganordnung, so daß schlicht nichts anderes übrig bleibe, als sich insoweit auf das Gemeinschaftsrecht zu stützen 293 • Daß der Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht von vorneherein nicht auf verfassungsrechtliche Vermittlung angelegt ist und hierin mit ein Grund fiir die deutschen bzw. italienischen Verfahrensweisen liege94 , wurde von Frydmann 289 Siehe etwa J Baulouis (FN. 263), S. 93, 96, 99 f.; G. /saac (FN. 108), S. 795; D. Simon (FN. 256), S. 482. 290

784.

"eine solche Anordnung sucht man im Römischen Vertrag vergeblich"; FN. 266, S.

291 "schwer zu rechtfertigenden Logik der Supranationalität". "die im übrigen der Römische Vertrag nicht ausdrücklich vorsieht und die diesen mit ziemlicher Sicherheit verfassungswidrig machen würde; FN. 266, S. 785. 292

Hierzu näheres im 2. Kapitel.

293

FN. 266, S. 785.

294 Wobei an dieser Stelle nicht zu vertiefen ist, welche gerichtliche Begründungspraxis sich in Deutschland im Anschluß an die neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entwickelt hat bzw. entwickeln wird.

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1989

93

unterschlagen. Dies alles wirkte wenig überzeugend und stand im übrigen auch im Widerspruch zur zuvor selbst geäußerten Auffassung, die "epoque de Ia suprematie inconditionelle du droit interne" gehöre mittlerweile der Vergangenheit an. Möglicherweise glaubte Frydmann, den Durchbruch bei der Auslegung des Art. 55 durch taktische Rücksichten an anderer Stelle erkaufen zu müssen, das Gericht (und die Integrationsskeptiker unter den politischen Akteuren) nicht überstrapazieren zu dürfen295 .

3. Die Lage nach der "Nicolo"-Entscheidung

In einer Pressemitteilung zur "Nicolo"-Entscheidung hatte der Conseil d' Etat verlautbart, zur Frage des Vorrangs auch sekundären Gemeinschaftsrechts vor einer nationalen Iex posterior noch gesondert Stellung nehmen zu wollen296 . Dies geschah ein knappes Jahr später in der Entscheidung "Boisdet" vom 24. 9. 1990297 . Wie nicht anders zu erwarten298 , entschied sich der Conseil auch hier fiir ein Zurücktreten des gemeinschaftsrechtswidrigen jüngeren Gesetzes. Auch wenn dies ein "prolongement logique" der "Nicolo"-Entscheidung299 war, so verlangte es dem Conseil d'Etat noch einmal ein zusätzliches Stück Selbstüberwindung ab; beim Vorrang auch des derivativen Organrechts wird der Einflußverlust des nationalen Gesetzgebers schließlich noch manifester als beim Primärrecht des Vertrages, der immerhin einmal (in unmittelbarerer Weise) seiner Zustimmung unterlegen hatte. Mit "Nicolo" und "Boisdet" ist der jahrzehntelange Streit um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frankreich nunmehr zu einem vorläufigen Abschluß 295 Innerhalb der politischen Parteien traf der Durchbruch in der Iex - posterior - Frage auf einige Widerstände. In Reaktion auf die "Nicolo"-Entscheidung starteten etwa Mazeaud und Debne eine Initiative zur Änderung des Art. 55 der Verfassung. Nach ihrem Vorschlag sollte der dort vorgesehene Vorrang künftig nur noch vor "Iais anterieures" gelten - was die "Nicolo"-Wende rückgängig gemacht hätte. Hierzu sowie zu einem ähnlichen Versuch der R.P.R.-Fraktion aus dem Jahr 1992 T de Berranger (FN. II), S. 185. 296 J .L. Dewost, Vorrang internationaler Verträge auch vor nachfolgenden nationalen Gesetzen. Zum Urteil Nicolo des französischen Staatsrates vom 20. I 0. 1989, EuR 1990, S. I ff., 3. 297

Rec. 251 .

L Dubouis, Urteilsanmerkung, RFDA 1991, S. 172 ff., 172; E. Honorat I R. Schwartz; Urteilsanmerkung, AJDA 1990, S. 863 f., 863 I 864; R. Stotz, Urteilsanmerkung, EuZW 1991 , S. 119. 291

299 So nach Mitteilung der EuR-Redaktion (1991 , S. 183) der Conseil d'Etat selbst in einer Pressemitteilung.

94

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

gebracht worden - vorläufig deshalb, weil der Conseil weiterhin (wie allerdings auch viele Gerichte anderer Mitgliedstaaten) auf dem verfassungsrechtlichen Vermittlungsmodell beharre00. Ob die Entscheidungen eine Dynamik freisetzen werden, die schließlich auch diesen Ansatz hinwegspülen wird, bleibt abzuwarten. Größere praktische Schwierigkeiten sind jedenfalls mit der verfassungsrechtlichen Vorrangkonstruktion nicht verbunden. Kollisionsprobleme mit jüngerem Völkerrecht werden, sollten sie überhaupt auftreten, im Regelfall durch Auslegung lösbar sein. Daß die französischen Gerichte aus kompetenziellen Gründen gehindert sind, eine Verfassungskontrolle des einfließenden Gemeinschaftsrechts durchzufiihren, wurde bereits erwähntl01 . Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß die - ungeachtet der "Abmilderungsjudikatur'' im Kern bislang immer noch aufrechterhaltene - Haltung des Conseil d'Etat zur Direktwirkung von Richtlinien 302 einem förmlichen Verfassungsvorbehalt zumindest sehr nahe kommt und insofern als Durchbrechung dieses Grundsatzes gelten kann; denn die Einschätzung, mangels eines entsprechenden Inhalts von Art. 189 EGV sei die Direktwirkung unzulässig, stützt sich - zurnal hierzu eine eindeutige Rechtsprechung des EuGH vorliegt - letztlich auf den Gedanken der Grenzen des staatlichen Übertragungsaktes (s.o.) und argumentiert damit von einer verfassungsrechtlichen Ebene her. Bei dieser Haltung handelt es sich jedoch um einen Einzelfall, hinter dem kein systematisches Prüfungskalkül steht. Es liegen keinerlei Anzeichen dafilr vor, daß der Conseil d'Etat sich grundsätzlich von dem Verbot einer Kontrolle des Gemeinschaftsrechts am Maßstab nationalen Rechts abzuwenden beabsichtigt. Auch ist gegenwärtig nicht erkennbar, daß der "Cohn-Bendit"-Position in naher Zukunft ein zweiter Ausnahmefall zur Seite treten könnte. Neuere progressive Rechtsschöpfungen durch den Europäischen Gerichtshof, die hierfiir am ehesten anflillig wären, sind bislang von der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit 300 Daß auch insoweit das Gericht seinem Commissaire du Gouvernement gefolgt war, wurde - außer durch sein vollständiges Schweigen zur Frage der gemeinschaftsrechtlichen Vorrangbegründung - auch dadurch deutlich, daß es in den "visas" zu Beginn der Entscheidungsgründe Art. 55 der Verfassung aufführte. Wie hier B. Genevois (FN. 285), S. 825; E. Honorat I E. Baptiste, Urteilsanmerkung, AJDA 1989, S. 760; C. Lerche (FN. 119), S. 611; T de Herranger (FN. 11), S. 226; anders nur H. Calvet (FN. 111), no. 23 (keine Festlegung des Gerichts). 301 Siehe oben unter I. 302 Entgegen der Prognose von P Lagarde, Urteilsanmerkung, RCDIP 1990, S. 139 ff., 140 beharrt der Conseil d'Etat nach der "Nicolo"-Entscheidung weiterhin auf seiner "Cohn-Bendit"-Position. Er verweigert sich immer noch der Direktwirkung von Richtlinien; J. - P Costa, La prise en compte du droit international et communautaire dans Ia jurisprudence du Conseil d'Etat, FS A. Plantey, Paris 1995, S. 45 ff., 55 f. Anders hingegen die Cour de Cassation; V Haim (FN. 220), S. 275. P Sabourin (FN. 1184, S. 429 ist hinsichtlich der Aussichten auf eine baldige Umkehr des Conseil d ' Etat in der Richtlinien-Frage skeptisch.

VI. Die "Nicolo"-Entscheidung des Conseil d'Etat von 1989

95

nicht beanstandet worden. Insbesondere gilt dies fiir die Erweiterung des europäischen Haftungsrechts bei mitgliedstaatlicher Verletzung individualschützenden Gemeinschaftsrechts im Gefolge der "Francovich"-Entscheidung303 . Sie wurde in Frankreich bislang ohne weiteres akzeptiere 04 • Angesichts des Umstandes, daß in den meisten europäischen Staatshaftungstallen dem mitgliedstaatliehen Gericht ein Urteil über die Irregularität des Verhaltens des nationalen Umsetzungsgesetzgebers abverlangt wird, ist diese Akzeptanz in Frankreich nur vor dem Hintergrund der "Nicolo"-Wende möglich geworden, welche die Tabuisierung der legislativen Sphäre fiir den einfachen Richter gelöst hae05 • Auch die Reziprozitätsklausel des Art. 55 306 dürfte sich schließlich nicht als Infiltrationshemmnis auswirken. Diese Klausel, allgemein als ein unglücklicher Niederschlag der Gaullistischen Völkerrechtsskepsis im Verfassungstext angesehen307, wird von den Gerichten zwar gegenüber gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen durchaus angewandt, wenn auch nicht von Amts wegen und mit gewissen Unterschieden zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeitl08 • Ihrer- vom Wortlaut möglichen309 - Anwendbarkeit in gemeinschaftsrechtlichen Fällen steht indes entgegen, daß die Mitgliedstaaten ein eigenes Streitschlichtungssystem geschaffen haben, das abschließend ist und einseitige nationale Maßnahmen untersagt (Art. 219 EGV)310 • Eine Gegenseitigkeitskontrolle würde von daher gegen den Vertrag verstoßen. Dies wurde von der Cour de Cassation in ihrem "Jacques Vabre"-Urteil ausdrücklich

303

EuGHE 1991, S. I- 5357 ff. (RS C- 6, 9 I 90).

304

CAA Paris v. I. 7. 1992, Soc. Jacques Dangeville, AJDA 1992, S. 768.

305 L. Dubouis, La responsabilite de !'Etat pour les dommages causes aux particuliers par Ia violation du droit communautaire, RFDA 1992, S. I ff., 9. Vgl. aber P Gaia, Le droit constitutionnel national et l'integration europeenne (rapport francais), in: Berichte flir den 17. F.I.D.E.-Kongreß 1996, Baden- Baden 1996, S. 231 ff., 278, der Bedenken hat, ob Art. 55 auch solche Urteile trägt, die anders als in der durch "Nicolo" entschiedenen Vorrangkonstellation eine ausdrückliche Bewertung der gesetzgeberischen Handlungsweise beinhalten. 306 Welche die Vorranganordnung von der Bedingung abhängig macht, daß der Vertrag auch seitens der anderen Partei(en) angewandt wird. 307 Vgl. nur J. Rideau (FN. 190), S. 45 . 308 Vgl. im einzelnen J. - P Jacque, Reciprocite, droit communautaire et droit interne francais, in: GS L. - J. Constantinesco, Köln 1983, S. 325 ff. Durch die "GISTI"-Entscheidung (FN . 236) dürfte die bisherige Praxis des Conseil d'Etat, die Frage der Vertragserfüllung durch die Gegenseite durch das Außenministerium klären zu lassen, überholt sein; J. Rideau (FN. 190), S. 46. 309 J. - P Jacque (FN. 308), S. 333. 310 EuGHE 1964, S. 1219 ff. (RS 90, 91 I 63); 1979, S. 2729 ff. (RS 232 I 78).

96

1. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

anerkannt311 • Der Conseil d'Etat hat bislang keine gegenteilige Auffassung zu erkennen gegeben312 . Es liegen keine Anhaltspunkte vor, daß er insoweit anders als die Cour de Cassation entscheiden würde 313 .

VII. Resurne Die Entwicklung der Rechtsprechung der französischen Gerichte von "Semoules" über "Jacques Vabre" hin zu "Nicolo" markiert einen tiefgreifenden verfassungsrechtlichen Transformationsprozeß. Zu Beginn verharrten die französischen Gerichte auf einem Verfassungsverständnis, das aus einer Verabsolutierung des Gesetzes heraus der richterlichen Gewalt eine streng untergeordnete Rolle zuwies und um des Erhalts dieses kompetenziellen Dogmas willen in Kauf nahm, daß die materielle Verfassungsnorm des Art. 55 unimplementiert blieb. In einem langwierigen, spürbar sehrnerzhaften Prozeß lösten sich die Gerichte aus dieser Position. Den Anfang machte hierbei in ihrer "Jacques Vabre"-Entscheidung die Cour de Cassation, welcher die Abkehr von der Verfassungstradition weniger schwer fiel als dem Conseil d'Etat, der an der Bildung und Ausformung dieser Tradition über beinahe zwei Jahrhunderte hinweg einen maßgeblichen Anteil gehabt hatte und der aufgrund seiner besonders gelagerten institutionellen Stellung eine bedeutend größere Scheu vor der Etablierung richterlicher Autorität über einen Teilbereich der parlamentarischen Aktivität und der darin liegenden Ausdehnung seiner Kompetenzen besaß. Er blieb in seiner "Semoules"-Entscheidung auf der herkömmlichen Linie der Rechtsprechung und nahm dafur einen klaren Bruch des Gemeinschaftsrechts in Kauf. Der mögliche Ausweg der Konstruktion eines parlamen311 "attendu que, dans l'ordre juridique communaitaire, les manquements d' un Etat membre de Ia Communaute economique europeenne aux obligations qui lui incombent en vertu du Traite du 25 mars 1957 etant soumis au recours prevu par I'art. 170 dudit traite, l'exception tiree du defaut de reciprocite ne peut etre invoquee devant les juridictions nationales"- "in der Erwägung, daß im Gemeinschaftsrecht die Nichterfiillung der Pflichten aus dem Vertrag vom 25.März 1957 durch die Mitgliedstaaten der Ahndung im Rechtsweg nach Art. 170 dieses Vertrages unterliegt, mit der Folge, daß das Fehlen der Gegenseitigkeit nicht mehr vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden kann"; hierzu T de Berranger (FN. 11 ), S. 186. 312 Eine Stelle in seiner Studie über "Droit international et droit francais" (FN. 179, S. 17) thematisiert sogar ausdrücklich die Besonderheit multilateraler Vertragssysteme mit eigenen Streitschlichtungsvorrichtungen, allerdings ohne hieraus direkte Konsquenz fiir die Anwendung der Reziprozitätsklausel zu ziehen. 313 G. /saac (FN. 106), S. 796; vgl. auch D. Ludet I R. Stotz (FN. 106), S. 98; J Rideau (FN. 190), S. 46.

VII. Resurne

97

tarisch bei Erlaß des Zustimmungsgesetzes erteilten Rechtsanwendungsbefehls, der bis zu einem gewissen Grade die konfligierenden Loyalitätsanforderungen beider Rechtsordnungen miteinander hätte versöhnen können, wurde von ihm (damals und auch später) nicht in Erwägung gezogen. Zwischen I975 und I989 bestand so eine Phase, in der die Haltungen beider Gerichte voneinander abwichen. Weder diese Divergenz zwischen den Gerichtszweigen, noch der aufkommende Außendruck, namentlich und mit der Zeit immer eindeutiger durch den Conseil Constitutionnel, konnten den Conseil d'Etat zunächst zu einer Aufgabe seiner Haltung bewegen. Mangels Existenz von entsprechenden Verfahrensarten (Richtervorlage bzw. Verfassungsbeschwerde zum Conseil Constitutionnel, Abstimmungsverfahren zwischen den obersten Gerichtshöfen) bestand auch kein Mittel, den Conseil d'Etat hierzu zu zwingen. Erst nachdem das Gericht vollständig in die Isolierung geraten war, vollzog es in seiner "Nicolo"-Entscheidung den überfällig gewordenen Schwenk zur Gewährleistung des Vorrangs des EWG-Vertrages vor dem späteren nationalen Gesetz. Die hierfiir in Anspruch genommene "neue Lesart" des Art. 55 basiert auf einem stärker verfassungsstaatlichen Verfassungsverständnis, das die Verfassung als höchste regulatorische Instanz akzeptiert. Nach ihm unterliegen ihre materiellen Gehalte einem ungeschriebenen Effektuierungsgebot. Dies erlaubt, Art. 55 nicht nur als abstrakte Anordnung einer Rangregel, sondern zugleich als kompetenzielle Ermächtigung der Gerichte zu ihrer konkreten Umsetzung aufzufassen. Der hiermit - im Falle der Konfrontation mit einem jüngeren Gesetz - verbundene Übergriff in die legislative Sphäre wird nunmehr als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen. Die Rousseausche Doktrin der "souverainete de Ia loi", die einen solchen Übergriff stets untersagt hatte, ist damit an einem bedeutsamen Punkt durchbrochen worden. Gegen eine Verfassungskontrolle auch des gewöhnlichen, d.h. nicht gemeinschaftsbezogenen innerstaatlichen Gesetzes bilden diese Doktrin und (hier dann auch zu Recht) die Einrichtung eines Verfassungsgerichts) zwar weiterhin eine Sperre. Aber die stärkere Instrumentalisierung der Verfassung, die mit der "neuen Lesart" des Art. 55 verbunden ist, mag sich auch an diesem Punkt irgendwann auswirken. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß sich ab Ende der achtziger Jahre in Frankreich die Vorstöße fiir die Einfiihrung einer Richtervorlage (und sogar einer Individualbeschwerde) beim Verfassungsgericht vervielfacht haben314 . Von dem mit der "Nicolo"-Entscheidung abgeschlossenen Vorgang der Verfassungseffektuierung (der eine Parallele im enormen Aufschwung der Verfassungsgerichtbarkeit in der V.Republik findetl 15) profitiert das Gemeinschafts314

Vgl. nur P Sabourin (FN. 184), S. 404.

315

Siehe unten im zweiten Kapitel unter A., I.

7 Hecker

98

l. Kap.: Rechtsprechung der einfachen Gerichte

recht. Die aus dem traditionellen Verfassungsverständnis resultierenden Infiltrationshindernisse sind mit dieser Entscheidung abgebaut worden, dem Gemeinschaftsrecht ist nunmehr bei Konflikten mit dem nationalen Recht sein gebotener Anwendungsvorrang garantiert. Der verfassungsrechtliche Transformationsprozeß hat somit zu dem praktischen Ergebnis gefiihrt, daß die französischen Gerichte besser die an sie gestellten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen erfiillen können. Das Gemeinschaftsrecht hat zugleich als wesentliches Stimulans dieses Prozesses gewirkt. Zwar ist unübersehbar, daß die "neue Lesart" des Art. 55 auch eine Frucht der seit 1958 veränderten konstitutionellen Rahmendaten ist, insbesondere der Abwertung des Parlaments durch die Verfassung der V. Republik. Aber erst der europäische Adaptionsdruck, der aus den Beiträgen beinahe sämtlicher Beteiligter spürbar wurde und der die Problematik zwangsläufig immer wieder auf die Tagesordnung setzte, trieb die Gerichte dazu, die durch den neuen konstitutionellen Rahmen eröffneten Möglichkeiten auch wirklich auszuschöpfen. Es waren nicht zufällig durchweg gemeinschaftsrechtliche (und nicht völkerrechtliche) Fälle, an denen sich die Kontroversen zwischen den Verteidigern der traditionellen Position und den Befiirwortern eines Wandels entzündeten und in denen sich der Kurswechsel schließlich auch vollzog; die lex-posterior-Diskussion wurde stets mit einem intensiven Seitenblick auf ihre gemeinschaftsrechtlichen Implikationen gefiihrt. Daß der Wechsel fiir den Fall, daß nur gewöhnliches Völkerrecht im Raum gestanden hätte, ebenso herbeigefuhrt worden wäre, ist schwer vorstellbar. Man steht insofern vor dem durchaus paradoxen Befund, daß Frankreich entlang der gemeinschaftsrechtlichen Vorrangproblematik und maßgeblich unter dem Zwang zur Ausrichtung seiner Rechtsordnung an die neuen gemeinschaftlichen Erfordernisse zu einer Stärkung der normativen Kraft seiner Verfassung gelangt ist. Was den Conseil d'Etat betrifft, so hat seine "Nicolo"-Entscheidung die verfassungsbegründeten Infiltrationshindernisse allerdings nur in praktischer Hinsicht ausgeräumt. Rechtsdogmatisch verweigert er sich im Gegensatz zur Cour de Cassation weiterhin einer genuin-gemeinschaftsrechtlichen Vorrangbegründung. Mit dem Beharren auf der verfassungsrechtlichen Vorrangbegründung betrachtet er das Gemeinschaftsrecht nach wie vor durch eine "völkerrechtliche Brille" und bestreitet ihm damit seine besondere Qualität als neuartige, supranationale Rechtsmasse, die zu ihrer Anwendung der mitgliedstaatlichen Vermittlung nicht bedarf. Die "Costa I ENEL"-Doktrin des Europäischen Gerichtshofs wird also von ihm immer noch nicht akzeptiert. Es erscheint auf den ersten Blick unverständlich, daß das Gericht fiir die praktische Umsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Vorranggebots lieber den so beschwerlichen Weg der Opferung eines der heiligsten Dogmen der französischen

VII. Resurne

99

Verfassungstradition wählte - statt den Vorrang auf das Gemeinschaftsrecht selbst zu stützen und dieses Dogma damit formal unangetastet zu lassen (und bezUglieh gewöhnlicher völkerrechtlicher Fälle weiterhin anzuwenden). Aber die ideologische Preisgabe, die in der supranationalen Vorrangkonstruktion läge, wird von ihm offenbar als ein noch größerer Verlust eingestuft. Das verfassungsrechtliche Vermittlungsmodell verleiht dem einfließenden Gemeinschaftsrecht ein Stück zusätzlicher staatlicher Legitimation. Der Verlust staatlicher Direktionsmacht wird hier nicht ganz so augenfällig wie bei einer vollständigen Rücknahme des Vermittlungsanspruchs und auch theoretisch unbedingten Öffuung des nationalen Rechtsraumes. Die Behauptung solcher ideologischer Positionen spielt in Frankreich im allgemeinen und fiir den Conseil d'Etat im besonderen eine große Rolle316• Beispielhaft trat dies in der "Abmilderungsjudikatur" vor 1989 zutage. Sie beinhaltete faktisch ein weitgehendes Einschwenken auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor der nationalen lex-posterior, erlaubte aber gleichzeitig, an der Unantastbarkeit von letzterer verbal festzuhalten. Dies wiederholt sich nun in einem übergeordneten Sinn bei der "Nicolo"-Entscheidung: Faktisch läßt sie vom staatlichen Vermittlungsanspruch nicht mehr viel übrig und öffuet den Weg zu einem Automatismus der Gemeinschaftsrechtsanwendung, verbal wird er von ihr jedoch aufrechterhalten. Die französische Rechtsordnung mit ihrer starken Prägung durch den Grundsatz nationaler Souveränitätl 17 kompensiert so auf einer ideologischen Ebene ihre real vollzogene Anpassung an die Erfordernisse des Gemeinschaftsrechts.

316 Vgl. P. Sabourin (FN. 184), S. 429, wonach es bei dem Widerstand des Conseil d' Etat gegen das Gemeinschaftsmodell des EuGH nicht nur um juristische Erwägungen gehe. 317 Näheres unten im Teil B. des zweiten Kapitels.

7*

2. Kapitel

Europäische Integration als Verfassungsproblem in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel: Prüfungsvorbehalte gegenüber bestehendem Gemeinschaftsrecht sowie verfassungsrechtliche Grenzen der Integration A. Kontrollzuständigkeiten des Conseil Constitutionnel (unter besonderer Berücksichtigung von Prüfungsvorbehalten gegenüber bestehendem Gemeinschaftsrecht) I. Überblick

Beim Conseil Constitutionnel' handelt es sich um die erste Einrichtung der französischen Verfassungsgeschichte mit wirklich bedeutenden verfassungsgerichtlichen Funktionen2 • Nach der Konzeption der Gaullistischen Verfassungsväter war er ursprünglich nur als ein komplementäres Disziplinierungsmittel im Rahmen des sog. "rationalisierten Parlamentarismus" gedache - eine Rollenbe1 Die deutsche Literatur zum Conseil Constitutionnel ist recht umfangreich. Grundlegend P E. Goose, Die Normenkontrolle durch den französischen Conseil Constitutionnel, Berlin 1973. Ausneuerer Zeit H. W Ehrmann, Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Frankreich der fiinften Republik, Der Staat 20 (1981 ), S. 3 73 ff.; M. Fromont, Der französische Verfassungsrat, in: C. Starck I A. Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband I, Baden - Baden 1986, S. 309 ff.; A. Spies, Verfassungsrechtliche Normenkontrolle in Frankreich: der Conseil Constitutionnel, NVwZ 1990, S. 1040 ff. Grundlegende französische Arbeiten: L. Favoreu, Le Conseil constitutionnel regulateur de l'activite normative des pouvoirs publics, RDP 1967, S. 5 ff.; F Luchaire, Le Conseil constitutionnel, Paris I 980. 2 Zu der schwachen Vorgängerinstitution in der IV. Republik W Buerstedde, 'Le comite constitutionnel' der französischen Verfassung von 1946, JÖR N.F. 7 (1958), S.l66ff. 3 Vgl. M. Debre, La nouvelle Constitution, RFSP 9 (1959), S. 7 ff., 16 (Wiedergabe einer Rede vor dem Staatsrat vom 27. 8. 1958, in der Debre den Verfassungsentwurf erläuterte). Debre fiihrte hier aus, es widerspräche an sich der französischen Tradition, den Wert (Ja valeur) von Gesetzen gerichtlich überprüfen zu Jassen; der Conseil Constitutionnel sei lediglich geschaffen worden, um einer neuerlichen "deviation du regime parlementaire" vorzubeugen.

I. Überblick

101

grenzung, der er sich zunächst auch fiigte. Seit der grundlegenden Entscheidung vom 16. 7. 1971 hat er jedoch schrittweise Umfang wie Intensität seiner Kontrolltätigkeit zu steigern vermocht und aus eher verstreuten grundrechtliehen Normbeständen, einigen organisatorischen Bestimmungen sowie den "principes reconnus par les lois de Ia Republique" einen beachtlichen, ausdifferenzierten "bloc de constitutionnalite" geschmiedet. Mittlerweile nimmt er eine bedeutsame, vor dem Hintergrund des insoweit dürftigen französischen Traditionsbestandes bemerkenswert gewichtige Stellung im InstitutionengefUge der V. Republik ein4 . Im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht sind die Zuständigkeiten des Conseil Constitutionnel freilich immer noch begrenzt: Neben kleineren, hier nicht weiter interessierenden Befugnissen5 besitzt er als große, klassische verfassungsgerichtliche Kompetenz nur diejenige der abstrakten Normenkontrolle . . Im Gegensatz zur einfachen Gerichtsbarkeit ist damit bei ihm die traditionelle Unterordnung der französischen Judikative unter das Gesetz ein Stück weit aufgehoben. Die Normenkontrolle ist geregelt in Art. 61 der Verfassung. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift müssen Organgesetze6 und parlamentarische Geschäftsordnungen eine Vorkontrolle durch den Conseil Constitutionnel durchlaufen, "qui se prononce sur leur conformite a Ia Constitution"7. Absatz 2 erweitert diese Prüfungsmöglichkeit - allerdings fakultativ auf alle Gesetze:

4 Näher L Philip, Le developpement du contröle de constitutionnalite et l'accroisement des pouvoirs du juge constitutionnel, RDP 1983, S. 401 ff; A. Kimme!, Der Verfassungsrat in der V. Republik. Zum ungewollten Erstarken der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich, ZParl 17 ( 1986), S. 530 ff. Zur Entscheidung vom 16. 7. 1971 - der Verfassngsrat zog hier zum ersten Mal die Grundrechte aus der Präambel von 1946 bzw. der Menschenrechtserklärung von 1789 sowie die "Grundsätze, die durch die Gesetze der Republik anerkannt sind", als Kontrollmaßstab heran - G. Ress, Der Conseil constitutionnel und der Schutz der Grundfreiheiten in Frankreich, JÖR N.F. 23 (1974), S. 121 ff. Zum mittlerweile weitgehend verstummten Streit um den Gerichtscharakter des Conseil Constitutionnel vgl. die Darstellung bei F Luchaire (FN. I), S. 41 ff.

5 Art. 7 (Feststellung der Verhinderung der Amtsausübung des Staatspräsidenten), 16 (Konsultation bei Staatsnotstand), 37, 41 (Abgrenzung Gesetz-Verordnung), 58 - 60 (Wahlprüfung). 6 Es handelt sich bei ihnen um eine besondere Rechtsquelle, die rangmäßig zwischen der Verfassung und einfachen Gesetzen steht und gewöhnlich verfassungsergänzende Inhalte regelt. Die Verfassung ermächtigt an mehreren Stellen zum Erlaß eines Organgesetzes, etwa in Art. 6 (Präsidentenwahl), Art. 13 (Emennungsrechte von Präsident und Ministerrat), Art. 25 (Abgeordnetenstatus), 63 (Organisation und Verfahren des Conseil Constitutionnel). Organgesetze werden in einem besonderen Verfahren (Art. 46) verabschiedet, in welchem dem Senat eine stärkere Rolle als sonst üblich zufällt.

7

"der über ihre Vereinbarkeil mit der Verfassung befindet".

102

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

"Aux m~mes fins, les lois peuvent ~tre deferees au Conseil constitutionnel, avant leur promulgation, par Je President de Ia Republique, Je Premier Ministre, Je President de I' Assemblee Nationale, Je President du Senat ou soixante deputes ou soixante senateurs "8. Hiermit sind die Zuständigkeiten des Conseil Constitutionnel, soweit sie auf den innerstaatlichen Raum ausgerichtet sind, bereits erschöpft. Die Verfassung überträgt dem Gericht weder die Befugnis zur Entscheidung in Organstreitigkeiten, noch zur Annahme von Individualbeschwerden, noch zur Durchfilhrung einer konkreten Normenkontrolle auf Vorlage einfacher Gerichte. Ein föderales Streitverfahren käme im immer noch weitgehend zentralistischen Frankreich ohnehin nicht in Betracht. Die Normenkontrollkompetenz des Conseil Constitutionnel wird dadurch, daß ihm Gesetze gemäß Art. 61 Abs. 2 nur vor ihrer Verkündung vorgelegt werden können ("avant leur promulgation"), in zeitlicher Hinsicht bedeutsam eingeschränkt. Die Normenkontrolle ist hiermit als reine Präventivkontrolle ausgestaltet. Dies hat weitreichende Folgen: Einmal in Kraft getreten, befmden sich Gesetze grundsätzlich in einem Status verfassungsjustizieller Unantastbarkeit. Unterbleibt die Präventivkontrolle, können später auch offensichtliche verfassungsrechtliche Mängel nicht mehr judiziert werden. Das Verfassungsgericht hat lange Zeit diese klar im Wortlaut der Verfassung verankerte (einen Ausfluß des tradionellen Verständnisses vom Gesetz als Ausdruck der volonte generale bildende) Beschränkung seines Zugriffs respektiert. Erst seit einigen Jahren deuten sich hier vorsichtige Absetzbewegungen an9 (die im übrigen belegen, daß der Ausbau des verfassungsgerichtlichen Kontrollsystems mehr und mehr auch aufverfahrensrechtliches Terrain übergreift). Im hier interessierenden Konfliktfeld zwischen nationalem Verfassungsrecht und Europäischem Recht erwachsen dem Conseil Constitutionnel Prüfungskompetenzen zum einen aus Art. 61 Abs. 2 : Seit geraumer Zeit ist anerkannt, daß der Anwendungsbereich dieser Vorschrift sich nicht auf gewöhnliche, 8 "Zum gleichen Zweck können die Gesetze vor ihrer Verkündung dem Conseil Constitutionnel vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten von einer der beiden Kammern oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren zugeleitet werden". Die Anrufungsberechtigung der Parlamentarier wurde durch Verfassungsänderung vom 29. 10. 1974 eingefiihrt. 9 In Aufgabe der Entscheidung vom 27. 7. 1978 (No. 78- 96 DC, Rec. 29) hat das Gericht am 25. 1. 1985 (No. 85 - 187 DC, Rec. 43) geurteilt, bereits in Kraft befindliche Gesetzesbestimmungen könnten indirekt, nämlich "a l'occasion de l'examen de dispositions legislatives qui Ia modifient, Ia comph!tent ou affectent son domaine" einer nachträglichen Kontrolle unterzogen werden - mit allerdings nur der möglichen Folge der Verwerfung des vorliegenden Änderungs- bzw. Ergänzungsgesetzes. Hierzu näher unten unter A., III., 1., c)., hh).

I. Überblick

103

innerstaatlich gerichtete Gesetze beschränkt, sondern hierüber auch Zustimmungsgesetze zu Verträgen sowie alle diejenigen nationalen (Parlaments-) Legislativakte, die in Umsetzung europarechtlicher Verpflichtungen ergehen, auf den verfassungsgerichtlichen Prüfstand gelangen können 10 • Zum anderen kann eine verfassungsgerichtliche Prüfung auf der Grundlage einer zweiten Vorschrift, nämlich Art. 54 der Verfassung betrieben werden. Diese Vorschrift richtet ein speziell auf internationale Verpflichtungen zugeschnittenes, gleichfalls präventiv ausgestaltetes Kontrollverfahren ein 11 • Art. 54 lautet: "Si Je Conseil constitutionnel, saisi par le ?resident de Ia Republique, par le Premier ministre, par Je ?resident de l'une ou l'autre assemblee ou par soixante deputes ou soixante senateurs, a declare qu'un engagement international camporte une clause Contraire a Ia Constitution, l'autorisation de ratifier ou d'approuver l'engagement internationalen cause ne peut intervenir qu'apres Ia revision de Ia Constitution" 12

Auf der Basis dieser beiden Bestimmungen hat der Conseil Constitutionnel begleitet von einer Reihe literarischer Systematisierungsbemühungen 13 - eine recht umfangreiche Kontrollaktivität im Schnittbereich von nationalem Verfassungsrecht und europäischem Recht entfaltet. In einem knappen Dutzend von Entscheidungen formte das Gericht die ihm vom Verfassungstext eröffneten Kontrollzuständigkeiten näher aus und entwickelte sie schließlich auch qualitativ weiter - dies zum Teil in einer Weise, die sich (parallel zur Judikatur der 10

Näheres hierzu im Anschluß an diese Einleitung.

Eine Verfassungskontrolle internationaler Verträge war im Regierungsentwurf flir die neue Verfassung zunächst nicht vorgesehen worden. Sie wurde erst auf Initiative des parlamentarischen "Comite consultatif constitutionnel" aufgenommen. Näher L. Favoreu, Le droit international, in: D. Maus I ders. I J. L. Parodi, L'ecriture de Ia Constitution de 1958, Paris 1989, S. 577 ff., 584. 11

12 "Wenn der vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten einer der beiden Kammern oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Mitgliedern des Senats angerufene Conseil Constitutionnel erklärt hat, daß eine internationale Verpflichtung eine verfassungswidrige Klausel enthält, so kann die Ermächtigung zu deren Ratifizierung oder Genehmigung erst nach einer Verfassungsänderung ergehen". Die Anrufungsberechtigung der Parlamentarier wurde 1992 eingeftihrt. 13 V.a. Nguyen Quoc Dinh, Le Conseil constitutionnel francais et !es regles du droit public international, RGDIP 1976, S. 1001 ff.; L. Favoreu, Le Conseil constitutionnel et Je droit international, AFDI 1977, S. 95 ff.; C. Blumann, L'article 54 de Ia Constitution et Je contröle de Ia constitutionnalite des traites en France, RGDIP 1978, S. 537 ff.; R. Abraham, Droit international, droit communautaire et droit francais, Paris 1989 (v.a. S. 37 ff.); J Rideau, Constitution et droit international dans !es Etats membres des Communautes europeennes, RFDC 1990, S. 259 ff., 425 ff. Grundlegend nunmehr P Gaia, Le Conseil constitutionnel et l'insertion des engagements internationaux dans !'ordre juridique interne, Paris 1991 sowie die Frankreich behandelnden Abschnitte bei T de Berranger, Constitutions nationales et construction communautaire, Paris 1995.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel/ A. Kontrollzuständigkeiten

einfachen Gerichte) von traditionellen Verfassungsprinzipien absetzte. Insbesondere hat der Conseil Constitutionnel in einzelnen Fällen den präventiven Zusclmitt der verfassungsrechtlich eingerichteten Kontrollverfahren durchbrachen und - bislang allerdings höchst zurückhaltend gehandhabte - Prüfungsansätze gegenüber bestehendem Gemeinschaftsrecht gezeigt; hierauf wird in der folgenden Darstellung ein besonderes Augenmerk gelegt werden. Im Zentrum seiner Europajudikatur stand freilich die (Übertragungs-) Kontrolle neuer Vertragsänderungen (d.h. seine Rechtsprechung zur "Entwicklungsebene"), deren bisheriger Inhalt in Teil B. dieses Kapitels behandelt wird. Die hier im Teil A. folgenden Erörterungen zeigen, in welchen Fällen es nach der Verfassung sowie der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel zu verfassungsgerichtlichen Verfahren mit gemeinschaftsrechtlichen Bezügen kommt und wie diese Bezüge im einzelnen aussehen. Unter II. wird dabei dargestellt, anband welcher Kontrollobjekte der Conseil überhaupt in Gemeinschaftsberührung gelangt, bevor dann unter III. näher der Frage nach der von ihm hierbei praktizierten Kontrollreichweite - unter welchem Stichwort die bisherigen Fälle des Übergriffs auf existente europäische Normen untersucht werden - nachzugehen ist. In einem abschließenden Exkurs wird ein Überblick über Verfahrensfragen gegeben.

II. Kontrollobjekte 1. Europäische Konstitutivakte als "engagements internationaux" gemäß Art. 54

Was unter einem vorlagefähigen "engagement international" im Sinne des Art. 54 zu verstehen ist, wird im Verfassungstext nicht näher erläutert. Auch der Conseil Constitutionnel, der bislang fiinfrnal in Anwendung von Art. 54 ein Prüfungsverfahren durchfUhren mußte 1\ hat bislang keine konkrete Definition des Begriffes geliefert. Die vorliegende Rechtsprechung ermöglicht immerhin eine gewisse Negativauslese: Keine "engagements intemationaux" sind jedenfalls Vereinbarungen zwischen Parteien, von denen die eine gar keine Völker-

14 1970 (Haushaltsverfassung der EG; Einnahmenersetzungsbeschluß), 1976 (Direktwahlbeschluß und -akt), 1985 (6. Zusatzprotokoll zur EMRK), 1992 (Maastricht I, Maastricht 11).

II. Kontrollobjekte

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rechtssubjektivität besitzt15 • Gleichfalls ausgeschlossen sind Akte ohne unmittelbar rechtserzeugende Wirkung 16• Unproblematisch dem Begriff zuzuordnen sind dagegen Verträge bzw. Abkommen im gewöhnlichen völkerrechtlichen Sinne des Art. 2 WVRK. Demnach stellen insbesondere europäische Gründungsverträge bzw. Änderungsverträge zu Gründungsverträgen "engagements intemationaux" im Sinne von Art. 54 dar und sind somit grundsätzlich vom Conseil Constitutionnel vor ihrem Inkrafttreten auf ihre Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung überprüfbar. Immer dann, wenn die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sich auf völkerrechtlicher Ebene begegnen und als Herren der Verträge über den Bestand an europäischen Primärnormen verfugen, mithin erweiternd oder modifizierend auf ihn einwirken ("europäische Konstitutivakte"), agiert die französische Republik im Anwendungsbereich des Art. 54 17 • Wird gegen einen europäischen Konstitutivakt ein Verfahren vor dem Conseil Constitutionnel angestrengt und verneint das Gericht seine Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung, darf die Ratifizierung folglich nur nach Vomahme einer Verfassungsänderung erfolgen. Jüngstes Beispiel fiir die Verfassungskontrolle eines europäischen Konstitutivaktes ist das 1992 durchgefiihrte Verfahren zur Überprüfung des Maastricht- Vertrages 18 • 15 CC v. 19. 7. 1983- No. 83- 160 DC, Rec. 43 . Der Conseil Constitutionnel bekräftigte hier, daß die "convention fiscale" vom 31. 3. u. 5. 5. 1983 zwischen der französischen (Zentral-) Regierung und dem Regierungsrat des zu Frankreich gehörenden Überseeterritoriums Neu-Kaledonien lediglich "regles de pur droit interne" enthalte. Die Antragsteller hatten Art. 54 fiir anwendbar gehalten. 16 In diesem Sinne interpretiert P Gaia (FN. 13), S. 27 ff. die Entscheidung des CC v. 29. 12. 1978 - No. 78 - 99 DC, Rec. 36. Der CC hatte hier hinsichtlich der Resolution des Europäischen Rates vom 5. 12. 1978 über die Einrichtung des Europäischen Währungssystems geurteilt, sie besäße einen "caractere po1itique" und stelle nicht "au sens des articles 52 et 53 de Ia Constitution, un traite ou accord international ayant par lui meme des effets juridiques" dar. Angesichts der - noch aufzuzeigenden - Verwandtschaft zwischen Art. 54 und Art. 53 ist Gaia darin zuzustimmen, wenn er dieser Entscheidung Aussagekraft auch im Hinblick auf Art. 54 beimißt 17 L. Favoreu, Quelques perspectives de l'integration europeenne apres Ia decision du Conseil constitutionnel des 29 - 30 decembre 1976, Revue de droit prospectif 1977, no. 3 I 4, S. 79 ff., 81 ; F Luchaire, Le contröle de constitutionnalite des engagements internationaux et ses consequences relatives a Ia Communaute europeenne, RTDE 1979, s. 391 ff., 426. 18 Im Einzelnen gelangte der Maastricht-Vertrag dreimal vor den Conseil Constitutionnel: Zum ersten Mal im Frühjahr 1992 auf Antrag des Staatspräsidenten; hierauf erging die (grundlegende) Entscheidung vom 9. 4. 1992- No. 92- 308 DC, Rec. 55, die einige Vorschriften des Vertrages ftlr unvereinbar mit der Verfassung und diese insofern flir revisionsbedürftig erklärte. Nach erfolgter Verfassungsänderung wurde der Conseil Constitutionnel durch eine Reihe von Senatoren erneut angerufen. Mit Entscheidung vom 2. 9. 1992- No. 92- 312 DC, Rec. 76 erklärte dieser, daß nunmehr der Vertrag verfassungskonform sei. Einen schließlich (diesmal auf der Grundlage von Art. 61)

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2. Kap.: Conseil Constitutionnell A. Kontrollzuständigkeiten

Nachdem weder die Römischen Verträge in den filnfziger Jahren noch die Einheitliche Europäische Akte in den achtziger Jahren vor den Conseil Constitutionnel gelangt waren, stand hiermit das erste Mal einer der "großen" europäischen Integrationsschritte auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand. Neben diesen klassisch-völkerrechtlichen Akten der Mitgliedstaaten unterfallen dem Art. 54 auch die "Beschlüsse der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten", deren völkerrechtlicher Grundcharakter durch eine institutionell vermittelte Gemeinschaftsnähe schon etwas abgeschwächt, allerdings nicht aufgehoben ist 19 • Ein praktischer Anwendungsfall ist insoweit indes noch nicht zu verzeichnen. Liegt dem Conseil Constitutionnel ein primärrechtsverfügender Gründungsbzw. Änderungsvertrag vor, so erstreckt er seine Kontrolle pragmatisch auch auf sämtliche beigefugte Protokolle, Erklärungen usw., ohne die - zuweilen komplizierte - Frage ihrer rechtsförmlichen Einbeziehung in den Vertrag (vgl. Art. 239 EGV) näher zu problematisieren. In der Maastricht I-Entscheidung bezog der Conseil Constitutionnel sich in den Erwägungsgründen 3 und 4 neben dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Union ausdrücklich auch auf die beigefugten 16 Protokolle sowie die anläßlich der Vertragsunterzeichnung verabschiedeten 33 Erklärungen der Vertragsparteien20 • Einigkeit besteht darüber, daß derivative Organakte internationaler Organisationen und damit insbesondere europäische Sekundärakte nicht als "engagements intemationaux" im Sinne von Art. 54 einzustufen sind21 • Verordnungen, gegen das im Wege eines Volksentscheids beschlossene Zustimmungsgesetz erhobenen Prüfungsantrag wies das Gericht in der dritten Maastricht-Entscheidung vom 23. 9. 1992 -No. 93 - 313 DC, Rec. 94 als unzulässig zurück. 19 Hierzu P Gaia (FN. 13), S. 39, 40 FN. 54. Diese Beschlüsse sind von den im Vertrag selbst bereits projektierten Beschlüssen nach Art. 138 Abs. 3, 201 EGV zu unterscheiden, die sogleich behandelt werden. 20 Soweit sich die Kommentatoren hierzu äußern, interpretieren sie diese Bezugnahme im Sinne eines Einschlusses der betreffenden Texte in die Prüfung. Siehe R. Etien, Urteilsanmerkung, Rev. Adm. 1992, S. 126 ff., 126; P Gaia, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 398 ff. , 400; J. - P Jacque, Commentaire de Ia decision du Conseil constitutionnel no. 92 - 308 du 9 avril 1992, RTDE 1992, S. 251 ff. , 252 f. Auch die SehengenEntscheidung vom 25. 7. 1991 -No. 91 - 294 DC, Rec. 91 bezog in ihrem 2. Erwägungsgrund die einschlägigen Annextexte ("un acte final, un proces-verbal complementaire et une declaration commune") ein. 21 L. Favoreu I L. Philip, Election au suffrage universei direct des membres de I' Assemblee europeenne, RDP 1977, S. 129 ff., 134; C. Blumann (FN. 13), S. 555, 558 I 559; V. Constantinesco I J. - P Jacque, L'application du droit international et communautaire au regard de Ia Constitution francaise, in: P. Koenig I W. Rüfuer (Hg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Deutschland und Frankreich, Köln 1985, S. 175 ff., 182; P Gaia (FN. 13), S. 35. Unklare, eher in die Gegenrichtung weisende Äußerung

II. Kontrollobjekte

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Richtlinien und Entscheidungen im Sinne von Art. 189 EGV sind somit nicht taugliche Objekte einer Kontrolle durch den Conseil Constitutionnel im Rahmen des Verfahrens nach Art. 54. Zwar weisen sie die Merkmale der unmittelbar rechtserzeugenden Wirkung sowie der Völkerrechtssubjektivität der "Beteiligten" (Gemeinschaft-Mitgliedstaat) auf. Ihnen fehlt jedoch der für "engagements internationaux" notwendige "caractere conventionnef'22 : Sie werden nicht im Verhandlungswege vereinbart, sondern einseitig oktroyiert. Ihre (unmittelbare) Grundlage bildet nicht die souveräne völkerrechtliche Handlungsmacht der beteiligten Staaten, sondern ein bereits abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag, der Umfang und Grenzen des Tätigwerdens der Organe definiert und zudem eine eigens zu ihrer Kontrolle vorgesehene Gerichtsbarkeit schafft. Eine Kontrolle von Sekundärrechtsakten würde zugleich zur Kontrolle der ihnen zugrundeliegenden vertraglichen Ermächtigungsvorschrift, also unter Umständen zur Prüfungswiederholung führen können23 . Der Versuch einer (Direkt-)Vorlage europäischer Sekundärakte an den Conseil Constitutionnel im Rahmen des Art. 54 ist daher nie unternommen worden. Er wäre zweifelsohne bar jeder Erfolgsaussichtl4 • In einer Mittellage zwischen europäischen Konstitutivakten kontraktueller Natur auf der einen und derivativen, unilateralen Sekundärakten europäischer Organe auf der anderen Seite befinden sich Ratsbeschlüsse, die im Vertrag selbst schon projektierte Vertragsänderungen/-ergänzungen realisieren. Hierzu gehören die auf der Grundlage von Art. 201 EGV ergehenden Einnahmenersetzungsbeschlüsse sowie Beschlüsse gemäß Art. 138 Abs. 3 EGV über das Wahlverfahren zum Europäischen Parlament. Beide Vorschriften stellen primärrechtliche Ermächtigungsgrundlagen dar, so daß auf sie gestützte Maßnahmenjedenfalls in einem rein logischen Sinn sekundär erscheinen25 • Andererseits enthalten sie einen - in seiner Tragweite zunächst nicht ganz klaren Verweis auf die "Annahme" durch die Mitgliedstaaten "gemäß ihren verfasbei D. Ruzie, Urteilsanmerkung, JDI I 979, S. 8 I ff., 82. Rein terminologisch anders F Luchaire (FN. I 7), S. 408, 410, 427, der zwar derivative Organakte internationaler Organisationen als "engagements internationaux" ansieht, ihnen indes die Überprüfbarkeit im Rahmen von Art. 54 abspricht.

P Gaia (FN. 13), S. 35, FN. 34; ähnlich C. Blumann, (FN. 13), S. 559. Dies würde insbesondere den Präventivcharakter des Kontrollverfahrens nach Art. 54 aushöhlen. Hierzu näher unten unter A., III., I., a). 22

23

24 Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle "ausbrechender Akte" der Gemeinschaftsorgane ist von daher niemals im Verfahren nach Art. 54, sondern allenfalls - und dann Ober den Anknüpfungspunkt eines innerstaatlichen Umsetzungsgesetzes - im Verfahren nach Art. 61 denkbar; siehe auch unten unter A., IV. 25 Hinzu kommt im französischen ein terminologischer Aspekt: Die Beschlüsse gemäß Art. 138 bzw. Art. 201 werden gleichermaßen wie die gewöhlichen sekundärrechtlichen Entscheidungen iSv Art. 189 EGV als "decisions" bezeichnet.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

sungsrechtlichen Vorschriften", was sie ebenso wie ihre vertragsmodifizierende Wirkung in die Nähe gewöhnlicher Vertragsänderungen und damit des Kontrollverfahrens nach Art. 54 bringt. Die daher problematisch gewesene Frage ihrer Zuordnung zum Begriff des "engagement international" ist in den siebziger Jahren vom Conseil Constitutionnel im positiven Sinne entschieden worden. Das Gericht hatte sich in diesem Zeitraum in zwei Verfahren mit Beschlüssen gemäß Art. 201 bzw. Art. 138 Abs. 3 EWGV zu befassen: 1970 auf Initiative des Premierministers mit dem 1. Einnahmenersetzungsbeschluß vom 21. 4. 1970 sowie sechs Jahre später, diesmal auf Antrag des Staatspräsidenten, mit dem Direktwahlbeschluß vom 20. 9. 1976. Beide Male befand sich der Conseil Constitutionnel zur Vomahme einer Prüfung fiir zuständig und traf eine Sachentscheidung, allerdings ohne die Kontrollfähigkeit beider Akte näher zu begründen26 • Für die Prüfungsbefugnisse gegenüber gemeinschaftsbezogenen Akten im Rahmen des Art. 54 lediglich am Rande von Belang ist die (klassische) Frage nach dem Verhältnis zwischen Art. 54 und Art. 53 27 der Verfassung. Sie wurde schon früh aufgeworfen und mehrheitlich dahingehend beantwortet, daß Prüfungskompetenz des Conseil Constitutionnel gemäß Art. 54 und Zustimmungskompetenz des Parlaments gemäß Art. 53 einander entsprechen28 • Damit sind alle diejenigen "engagements intemationaux" verfassungsjustiziell freigestellt, die sich nicht in den von Art. 53 enumerativ aufgefiihrten Materien bewegen29 • 26 CC v. 19. 6. 1970- No. 70-39 DC, Rec. 15; CC v. 30. 12. 1976- No. 76-71 DC, Rec. 15; hierzu näher P Gaia (FN. 13), S. 38 ff. Zur Problematik, daß mit diesen Prüfungen an den Vertragsinhalt noch einmal die Meßlatte nationalen Verfassungsrechts angelegt wurde, siehe unten unter A., III., 1., c), aa) und bb). 27 Art. 53 legt fest, daß bestimmte Verträge nurkrafteines parlamentarischen Gesetzes ratifiziert werden dürfen. Hierunter fallen "Friedensverträge, Handelsverträge, Verträge oder Abkommen über die internationale Ordnung, ferner solche, die Bestimmungen gesetzlicher Art ändern, die den Personenstand betreffen oder die Abtretung, den Tausch oder Erwerb von Gebieten enthalten". 28 L. Trotabas, L'attribution des competences a caractere international dans Ia Constitution du 4 octobre 1958, FS Basdevant, Paris 1960, S. 489 ff., 496; M. Lesage, Les procedures de conclusion des accords internationaux de Ia France sous Ia Veme Republique, AFDI 1962, S. 873 ff., 882. Eine frühe Gegenposition vertrat A. Cocatre Zilgien, Constitution de 1958, droit international, relations exterieures et politique etrangere, AFDI 1958, S. 645 ff., 651. 29 Die Befiirworter der synchronisierenden Auslegung berufen sich darauf, daß der Verfassungsgeber nur die wichtigsten internationalen Vereinbarungen einer Verfassungskontrolle habe unterwerfen wollen; auch die von Art. 54 vorgesehene Folge eines negativen Prüfungsergebnisse (keine Ermächtigung zur Ratifizierung) lasse auf einen Konnex zwischen verfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Zuständigkeit schließen. Vgl. neben den bereits Genannten G. Berlia, Le juge et Ia politique etrangere, FS Waline, Paris 1974, S. 139 ff., 143; V Coussirat- Coustere, Le Conseil constitution-

li. Kontrollobjekte

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Ist ein "engagement international" also gemäß Art. 53 nicht zustimmungsbedürftig, besitzt auch das Gericht keine Kontrollbefugnis. Dieser Fall dürfte indes bei "engagements internationaux" mit Gemeinschaftsbezug kaum vorstellbar sein. Gründungs- bzw. Änderungsverträge betreffen stets "1 'organisation internationale" im Sinne von Art. 53, jedenfalls nach der mittlerweile herrschenden extensiven Lesart dieses Begriffs30 • Häufig erfiillen sie zugleich die Voraussetzungen weiterer Tatbestandsalternativen31 • Auch die Beschlüsse von 1970 und 1976 unterfielen nach überwiegender Literaturauffassung der Zustimmungskompetenz des Parlaments gemäß Art. 53 32 (und wurden diesem später auch vorgelegt). Der Conseil Constitutionnel selbst betonte hinsichtlich des Einnahmenersetzungsbeschlusses 1970, daß "l'adoption des dispositions prevues par ladite decision, qui ... porte sur des matieres de nature legislative telles

nel et l'election au suffrage universei direct de I' Assemblee europeenne, AFDI 1977, S. 805 ff., 811; D. Ruzie, Urteilsanmerkung, JDI 1977, S. 68 ff., 74; C Blumann (FN. 13), S. 555; F Luchaire, Kommentierung Art. 54, in: ders. I G. Conac (Hg.), La Constitution de Ia Republiqe francaise, 2. Aufl., Paris 1987, S. 1059 ff., 1060. Die- minoritäreGruppe der Beflirworter einer Abkoppelung beider Vorschriften argumentiert vor allem mit dem Bestreben der Verfassung von 1958, die französische Rechtsordnung vor internationalen Einbrüchen jedweder Art zu schützen; wenn der Verfassungsgeber einen Konnex hätte ziehen wollen, hätte er dies ausdrücklich klargestellt. Vgl. J. Boulouis, Urteilsanmerkung, CDE 1977, S. 459 ff., 467; A. Cocatre - Zilgien, Oe l'election du 'Parlement europeen' au suffrage universei direct, AFDI 76, S. 787 ff., 795. 30 Ursprünglich bezog die völkerrechtliche Praxis Frankreichs diesen (im übrigen mißverständlich formulierten, da eigentlich mit "internationale Ordnung" statt "internationale Organisationen" zu übersetzenden) Begriff nur auf bestimmte Arten von Gründungsverträgen; vgl. die Darstellung bei A. Pellet, Kommentierung Art. 53, in : F. Luchaire I G. Conac (Hg.), La Constitution de Ia Republique francaise, 2. Aufl., Paris 1987, S. 1005 ff., 1013 f. Inzwischen bezieht man alle Vereinbarungen ein, die- auch wenn sie bereits existierende internationale Organisationen betreffen - souveränitätstangierende Wirkung für die französische Republik besitzen; V Coussirat - Coustere (FN. 29), S. 812; C Blumann (FN. 13), S. 563; F Luchaire (FN. 17), S. 405. So nunmehr auch ausdrücklich für den Maastricht-Vertrag der Conseil Constitutionnel (12. Erwägungsgrund der Maastricht I-Entscheidung).

31 Z.B. weil sie im Sinne von Art. 53 Verpflichtungen für die Staatsfinanzen nach sich ziehen oder Bestimmungen gesetzlicher Art ändern. 32 Näher- mit allerdings z.T. voneinander abweichenden Begründungen - C Blumann (FN. 13), S. 563; M. Fromont, Le Conseil constitutionnel et les engagements internationaux de Ia France, FS Mosler, Berlin 1983, S. 221 ff., 224; D. Ruzie, L'autonomie financiere des Communautes europeennes et l'accroisement des pouvoirs budgetaires du Parlement europeen, JCP 1970, I, 2354, No. 6 (Entscheidung von 1970); V Coussirat Coustere (FN. 29), 811 ff.; M. de Villiers, Le Conseil constitutionnel et l'election au suffrage universei direct ou les pieges de politique, JCP 1978, I, 2859, no. II (Entscheidung von 1976).

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel/ A. Kontrollzuständigkeiten

qu'elles sont definies a l'art. 34 de Ia Constitution, soit subordonnee, conformement a l'art. 53, a l'intervention d'une loi" 33 (6. Erwägungsgrund)34 .

2. Zustimmungsgesetze und Gesetze zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen (Art. 61)

Daß die französische Verfassung neben dem speziellen Art. 54 mit Art. 61 Abs. 2 einen zweiten Ansatz zur Kontrolle internationaler Vereinbarungen bereithalten könnte, ist bis in die Mitte der siebziger Jahre in Frankreich zunächst kaum diskutiert worden 35 • Art. 61 schien, schon wegen seiner systematischen Stellung außerhalb des Titels VI (Internationale Verträge und Abkommen), ausschließlich auf den staatsinternen Raum zugeschnitten. Zudem sah die traditionelle französische Lehre im parlamentarischen Zustimmungsgesetz zu einer internationalen Vereinbarung - dem einzig möglichen Ansatzpunkt fiir eine Kontrolle im Rahmen des Art. 61 - kein Gesetz im materiellen Sinne, sondern lediglich "une simple autorisation en forme legislative", welche "n'a d'une loi que le nom"36 - ein Ausfluß der in Frankreich herrschenden monistischen Theorie. Auch dies sprach gegen eine Heranziehung dieser Vorschrift. Auslöser fiir eine breitere Diskussion der Anwendungsmöglichkeiten von Art. 61 im internationalen bzw. europäischen Ben::ich war eine Bemerkung im 4 . Erwägungsgrund der Direktwahlentscheidung von 1976: Der Conseil Constitutionnel äußerte hier, daß weitere "transformations ou derogatio~s [der Gemeinschaftszuständigkeilen- Anm.d.Verf.] ne pourraient resulter que d'une nouvelle modification des traites, susceptible de donner lieu a l'application des articles

33 "die Umsetzung der in dem genannten Beschluß enthaltenden Bestimmungen, die Materien mit Gesetzescharakter gemäß Art. 34 der Verfassung betreffen, nach Art. 53 auf gesetzlichem Wege herbeizufiihren [ist]". 34 V. Coussirat- Coustere (FN. 29), S. 812 wertete den Bezug auf die "articles figurant au titre VI" im 4. Erwägungsgrund als Hinweis auf die Befiirwortung der Verbindungsthese durch den Conseil Constitutionnel. 35 Noch G. Ber/ia (FN. 29) beschränkte sich (1974) bei seiner breit angelegten Studie über Verfassungskontrolle im internationalen Bereich auf den Art. 54. Eines der wenigen Gegenbeispiele für frühe Reflektionen über eine Instrumentalisierung von Art. 61 gegenüber Zustimmungsgesetzen zu internationalen Vereinbarungen ist der Beitrag von A. Cocatre - Zilgien (FN. 28), S. 650 f. 36 "eine Ermächtigung in lediglich legislativer Form"; "mit dem Gesetz nichts als den Namen gemein hat"; C. Rousseau, La Constitution de 1958 et les traites internationaux, FS Basdevant, Paris 1960, S. 463 ff., 469.

II. Kontrollobjekte

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figurant au titre VI que de l'art. 61 de Ia Constitution"37 (Herv. v. Verf.). Dieser Satz mußte als Hinweis darauf verstanden werden, daß "engagements intemationaux" vom Gericht nicht mehr nur nach dem (in Titel VI der Verfassung plazierten) Art. 54, sondern künftig auch nach Art. 61 als vorlagefähig betrachtet würden38 - über das jeweilige Zustimmungsgesetz und folglich trotz der Bedenken ob dessen bloß formellen Gesetzescharakters39 . Der praktische Ertrag dieser Neuerung lag darin, daß sie auch den (damals nur nach Art. 61 anrufungsberechtigten) Abgeordneten die Möglichkeit gab, das Verfassungsgericht mit internationalen Akten zu befassen40. Es war von vomeherein schwer vorstellbar, daß der Conseil Constitutionnel mit seiner Bemerkung lediglich auf das Zustimmungsgesetz selbst, genauer: die bloße Kontrolle seines ordnungsgemäßen Zustandekoromens hatte abheben wollen. Sinn konnte sie nur machen, insbesondere nur dann als Signal einer substantiellen Erweiterung der Anrufungsmöglichkeiten gewertet werden, wenn man sie zusätzlich auch auf das Zustimmungsobjekt, also die jeweilige internationale Vereinbarung selbst bezog. Die Literatur hat nicht gezögert, die Entscheidung in diesem Sinne zu interpretieren41 • Im I. Erwägungsgrund der Entscheidung vom 17. 7. 198042 über eine Zusatzvereinbarung zur deutschfranzösischen Konvention über Rechtshilfe in Strafsachen von 1959 hat der Conseil Constitutionnel diese Lesart ausdrücklich bestätigt. Er führte hier aus, die "demande doit s'entendre comme concemant Ia loi autorisant Ia ratification et entraine, par voie de consequence, l'examen de Ia Convention franco-allemande"43 (Herv. v. Verf.). 37 "Veränderungen oder Abweichungen [der Gemeinschaftszuständigkeiten] sich nur aus einer neuen Änderung der Verträge ergeben können, die sowohl zur Anwendung der Artikel in Titel VI als auch des Art. 61 der Verfassung fUhren kann". 3H So J Baulouis (FN. 29), S. 464 f.; V. Coussirat- Coustere (FN. 29), S. 813 f.; L. Favoreu I L. Philip (FN. 21), S. 143; L. Favoreu (FN. 13), S. 103 f.; F Luchaire (FN. 17), s. 397.

39 Kritisch hierzu J Baulouis (FN. 28), S. 464 f.; immer noch deutliche Zurückhaltung bei V. Constantinesco I J. - P Jaque (FN. 21 ), S. 179 und J. Rideau, Problematique general des rapports entre droit constitutionnel et droit international, in: Droit constitutionnel et Droits de I'Homme. Rapport francais au Ileme congres mondial de I'Association internationale de droit constitutionnel, Paris 1987, S. 205 ff., 227. 40 Nachdem die Verfassungsänderung von 1992 eine Anrufungsberechtigung der Abgeordneten auch fiir die Verfahren nach Art. 54 einfiihrte, ist dieser Unterschied zwischen Art. 54 und Art. 61 wieder entfallen.

41

Siehe nur V. Coussirat- Coustere (FN. 29), S. 815; L. Favoreu (FN. 13), S. 104.

No.80 - 116 DC, Rec. 36. 43 "Anrufung des Gerichts ist dahin auszulegen, daß sie das Zustimmungsgesetz betrifft, und sie fiihrt konsequenterweise auch zur Überprüfung der französisch - deutschen Konvention selbst". 42

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Die mit diesen Entscheidungen etablierte Kontrollbefugnis nach Art. 61 kennt eine, anläßlich der Ratifikationsprozedur zum Maastricht-Vertrag auch praktisch gewordene Ausnahme: Der Conseil Constitutionnel nimmt keine Überprüfung vor, wenn das Zustimmungsgesetz nicht auf parlamentarischem Wege, sondern durch Referendum nach Art. 11 der französischen Verfassung beschlossen wird44 . Dies ist eine Konsequenz der traditionellen französischen Auffassung über die verfassungsjustizielle Kontrollfreiheit von Referenden als direkter Verlautbarungen des Volkswillens, die vom Conseil Constitutionnel bereits in der Entscheidung vom 6. 11. 1962 über das de Gauliesche Referendum zur Direktwahl des Staatspräsidenten anerkannt worden war45 • Als ihm am 20. 9. 1992 das durch Volksentscheid beschlossene Zustimmungsgesetz zum Maastricht - Vertrag vorgelegt wurde46 , lehnte er mit weitgehend identischen Wendungen zu denjenigen aus dem Jahr 1962 die Überprüfung ab47 . Im dritten Erwägungsgrund dieser Entscheidung stellte der Conseil Constitutionnel überdies klar, daß eine Prüfungskompetenz gegenüber Referenden auch nicht aus Art. 60 abgeleitet werden könne48 • (Kein Problem sieht der Conseil Constitu44 Art. II sieht die Möglichkeit vor, daß der Staatspräsident auf Vorschlag der Regierung oder der Kammern auch solche Gesetzentwürfe zum Volksentscheid bringt, die auf Ratifizierung eines Vertrages abzielen und die Auswirkungen auf das "Funktionieren der Institutionen" besitzen (was bei europäischen Änderungsverträgen stets der Fall sein dürfte). 45 No.62- 20 DC, Rec. 27. 46 Obwohl das Gericht schon - in der Maastricht II-Entscheidung, die im Verfahren nach Art. 54 ergangen war- den Vertrag für vereinbar mit der (geänderten) Verfassung erklärt hatte. 47 Entscheidung v. 23 . 9. 1992- No. 92- 313 DC, Rec. 94. Die maßgebliche, der Entscheidung von 1962 entnommene Passage findet sich im im 2. Erwägungsgrund: "Ies lois que celle-ci (die Verfassung- Anm.d.Verf.) a entendu viser dans son article 61 sont uniquement les lois votees par Je Parlement et non point celles qui, adoptees par Je Peuple francais a Ia suite d'un referendum ... constituent l'expression directe de Ia souverainete nationale"- "die von Art. 61 genannten Gesetze (können] nur solche sein, die vom Parlament beschlossen werden, nicht hingegen solche, die vom französischen Volk im Wege eines Referendums beschlossen werden und daher ein direkter Ausdruck der nationalen Souveränität sind" . Charakteristisch flir das im Vergleich zu 1962 gewandelte Verständnis des Conseil Constitutionnel von der eigenen Rolle ist es aber, daß er zur Begründung seiner Unzuständigkeit auf das "equilibre des pouvoirs etabli par Ia Constitution" abstellte, wohingegen 1962 (im 2. Erwägungsgrund) noch "I'esprit de Ia Constitution qui a fait du Conseil constitutionnel un organe n!gulateur de l'activite des pouvoirs publics" bemüht worden war - inzwischen ist er selbst zur "pouvoir public" erwachsen und nicht mehr nur ein "organe regulateur"! 48 Nach Art. 60 wacht der Conseil Constitutionnel über die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens bei Volksentscheiden und gibt deren Ergebnisse bekannt. Die Vorschrift war früher von einigen Autoren als Ansatz für eine Prüfungsermächtigung erwogen worden, weil sie als einzige Handhabe gegen einen unerlaubten Einsatz des Art. II zur Verab-

II. Kontrollobjekte

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tionnel hingegen in der präventiven Kontrolle von "engagements intemationaux" vor Durchfiihrung des Referendums; diese kann sich allerdings zwangsläufig nicht im Rahmen des - zeitlich dem Gesetzeserlaß nachfolgenden - Verfahrens nach Art. 61 Abs. 2, sondern nur des Verfahrens nach Art. 54 vollziehen49.) Aus den Entscheidungen von 1976 und 1980 folgt also, daß die Mitwirkung Frankreichs an europäischen Vertragsänderungen nicht nur nach Art. 54, sondern zusätzlich auch im Verfahren nach Art. 61 der Verfassung kontrollierbar ist. Außer in prozeduraler Hinsicht (Anrufungsbefugnis der Parlamentarier) waren hiermit freilich keine weiteren Konsequenzen verbunden. Die Unterschiede zwischen beiden Verfahren beschränken sich darauf, daß bei Art. 54 das "engagement international" direkt zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle gelangt, während bei Art. 61 ihr formaler Anknüpfungspunkt das Zustimmungsgesetz ist. In der Sache aber sind die dem Conseil Constitutionnel eröffneten Prüfungsmöglichkeiten in beiden Verfahren identisch 50 . Weitaus bedeutsamer als der Einbezug gewöhnlicher Zustimmungsgesetze in den Kreis zulässiger Kontrollobjekte nach Art. 61 ist hingegen der Einsatz dieser Vorschrift gegenüber solchen Gesetzen, die der nationale Gesetzgeber in Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen erlassen hat. Hier können Fallkonstellationen in den verfassungsgerichtlichen Entscheidungssog geraten, bei denen es im Rahmen eines Verfahrens gemäß Art. 54 von vomeherein an schiedung von Zustimmungsgesetzen zu bewußt verfassungswidrigen Verträgen zu bieten versprach - Art. I I beschränkt ausdrücklich ratifikationsermächtigende Referenden auf verfassungsgemäße Verträge und will hierdurch die Umgehung des förmlichen Verfahrens zur Verfassungsänderung gemäß Art. 89 verhindern. Da aber der Conseil Constitutionnel Referenden grundsätzlich nicht kontrolliert und seine Befugnis aus Art. 60 ausdrücklich nicht als "fonction juridictionelle" auffaßt (Entscheidung vom 3. 4. 1962, Rec. 63), bleibt Art. II insoweit nicht mehr als eine "barriere de papier" (F Luchaire, [FN. 17], S. 397; vgl. auch C. Blumann [FN. 13], S. 564 ff.). Es besteht aber mittlerweile wohl kein Zweifel mehr, daß die Einleitung eines Referendums über verfassungswidrige Verträge, auch wenn sie sanktionslos bliebe, dennoch einen materiellen Verfassungsverstoß darstellen würde. Der Staatspräsident ist verpflichtet, bei entsprechenden Zweifeln (freiwillig) zunächst eine Entscheidung des Conseil Constitutionnel im Rahmen eines Präventivkontrollverfahrens nach Art. 54 - herbeizuflihren; P Gaia (FN. 13), S. 112 f. 49 So urteilte der Conseil Constitutionnel in seiner zweiten Maastricht-Entscheidung vom 2. 9. 1992 über die Vereinbarkeil des Unionsvertrages mit der - inzwischen geänderten - französischen Verfassung, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits festand, daß die Zustimmung zum Vertrag zum Volksentscheid gebracht werden würde. Die Literatur hatte bereits früher keine Bedenken gegen eine präventive Kontrolle vor Veranstaltung eines Referendums gehabt; C. Blumann (FN. 13), S. 566; J. Rideau (FN. 13), S. 269.

°F Luchaire (FN. 17), S. 397.

5

8 Hecker

114

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

der Vorlagefähigkeit fehlen würde 51 • Da Art. 61 nicht nur die Zustirnmungsaktivität, sondern auch die Umsetzungsaktivität des Gesetzgebers umgreift, kann das Gericht hier insbesondere leichter in Berührung zu geltendem Gemeinschaftsrecht (das entweder - soweit es sich um Sekundärrecht handelt - schon nicht den Begriff des "engagement international" ausfiillt oder bei dem zumindest - soweit es sich um vertragliches Primärrecht handelt - der Zeitpunkt zur Präventivkontrolle nach Art. 54 verstrichen ist) gelangen. Dies zeigt bereits ein kurzer Überblick der Fälle mit gemeinschaftsrechtlichem Bezug, die bisher im Rahmen des Art. 61 zur Entscheidung des Conseil Constitutionnel gelangt sind52 : -

Den ersten dieser Fälle bildete das Verfahren zur Überprüfung des letzten Nachtragsgesetzes zum Haushaltsgesetz 1977 ("loi de finances rectificative") sowie des Haushaltsgesetzes 197853 • Hierin hatte der französische Gesetzgeber (durch Verweis auf das nationale Gesetz über indirekte Steuern) das Verfahren zur Erhebung einer Einfuhrabschöpfung und einer Produktionsabgabe fiir Isoglukose geregelt. Beide Abgaben besaßen eine europarechtliche Grundlage, nämlich die Verordnung des Rates Nr. 111 I 77 vom 17. 5. 1977. Diese hatte die Bemessungsgrundlage und die Höhe der Abgabe selbst festgelegt, die Regelung der Einzelheiten des Erhebungsverfahrens hingegen den Mitgliedstaaten überlassen. Die Antragsteller hielten den Ausschluß des französischen Parlaments von der Beschlußfassung über Bemessungsgrundlage und Höhe der Abgaben fiir verfassungswidrig. Weiterhin bemängelten sie, daß eine - ebenfalls durch Verordnung des Rates (Nr. 1079 I 77 vom 17. 5. 1977) eingefiihrte - Mitverantwortungsabgabe fiir Milch nicht als staatliche Einnahme im Finanzgesetz ausgewiesen, sondern innerstaatlich durch Dekret und damit unter Auschluß parlamentarischer Mitwirkung geregelt worden war.

-

Den zweiten Fall einer Berührung europäischen Sekundärrechts - im allerdings weiteren Sinne - bildete das Verfahren, das zur Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 29. 12. 1978 fiihrte 54 . Zugrunde lag hier eine Klage gegen das Haushaltsgesetz 1979. Die Antragsteller waren der Auffassung, daß eine Reihe von Bestimmungen dieses Gesetzes durch die Resolution des Europäischen Rates vom 5. 12. 1978 über die Einfiihrung eines

P Gaia (FN. 13), S. 165: "entraine une diversification de l'objet meme de contröle". Eine detailliertere Erörterung dieser Entscheidungen wird im Anschluß unter dem Gesichtspunkt der Prüfungsreichweite vorgenommen. Hier wird dann zu klären sein, inwieweit der Conseil Constitutionnel in seine Kontrolle auch den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund der nationalen Gesetze einbezogen hat. 51

52

53 Entscheidungen vom 30. 12. 1977, No. 77-89 DC, Rec. 46 sowie No. 77-90 DC, Rec. 44. 54

No. 78- 99 DC. Rec. 36.

II. Kontrollobjekte

115

europäischen Währungssystems hinfiillig geworden war; im übrigen hätte die Einfilhrung des EWS parlamentarisch gebilligt werden müssen, so daß die fraglichen Vorschriften des Haushaltsgesetzes auch insofern verfassungswidrig seien. -

Drittens hatte der Conseil Constitutionnel in einer Entscheidung vom 29. 12. 197855 über eine Klage gegen das letzte Nachtragsgesetz zum Haushaltsgesetz 1978 zu befinden. Dieses Nachtragsgesetz setzte Bestimmungen der 6. EG- Mehrwertsteuerrichtlinie in nationales Recht um.

-

In zwei weiteren Verfahren nach Art. 61 stand im Unterschied zu den drei erstgenannten Fällen nicht die nationale Umsetzung europäischer Sekundärakte, sondern die Anpassung der nationalen Gesetzgebung unmittelbar an primärrechtliche Vorgaben im Raum. Auch hier gelangte der Conseil Constitutionnel in einer Weise mit europäischem Recht in Kontakt, die im Rahmen der Präventivkontrolle nach Art. 54 nicht möglich gewesen wäre. Im ersten Fall, der vom Conseil Constitutionnel am 30. 12. 1980 entschieden wurde 56, ging es um eine Änderung des Rechts der Alkoholabgaben. Der französische Gesetzgeber hatte mit dieser Änderung das nationale Recht an die Erfordernisse des Art. 95 EWGV angepaßt, nachdem dieses zuvor vom Europäischen Gerichtshof im Verfahren nach Art. 169 EWGV fiir gemeinschaftsrechtswidrig erklärt worden war. Die Antragsteller dieses Verfahrens rügten einen Verstoß gegen Art. 55 der Verfassung sowie gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 8 der (in die Verfassung über einen Verweis in der Präambel inkorporierten) Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. In der zweiten Entscheidung, die jüngeren Datums ist (23. 7. 1991 57), befaßte sich sich das Gericht mit einer Klage gegen die Anpassung des französischen Beamtenrechts an Art. 48 Abs. 4 EWGV. Auch hier stellten sich die Antragsteller auf den Standpunkt, die Gesetzesnovelle verstoße gegen Vorschriften der nationalen Verfassung.

3. Resurne

Mögliche Kontrollobjekte mit Gemeinschaftsbezug sind nach dem Gesagten zum einen europäische Gründungsverträge bzw. Änderungsverträge. Diese können entweder unmittelbar (Art. 54) oder über das Zustimmungsgesetz (Art. 61) vor den Conseil Constitutionnel gelangen. Eine zweite Kategorie gemeinschaftsrelevanter Kontrollobjekte bilden nationale Gesetze, die europarechtliche 55

56 57

No. 78 - 100 DC, Rec. 38. No. 80- 126 DC, Rec. 53. No. 91 - 293 DC, Rec. 77

116

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Verpflichtungen umsetzen. Mit ihnen kann das Gericht nur im Verfahren nach Art. 61 befaßt werden. Die Kontrolle der ersten Kategorie von Akten (Vertragsabschlüsse I - änderungen) fuhrt zu einer vollinhaltlichen Prüfung am Maßstab der französischen Verfassung. Die Problematik einer solchen Prüfung liegt primär darin, daß sie sich hemmend auf das Fortschreiten der Integration auswirken, d.h. Resistenz auf der "Entwicklungsebene" produzieren kann. Wenn der Conseil Constitutionnel zu dem Schluß gelangt, bestimmte Vorschriften eines ilun unterbreiteten Vertragsentwurfs überschritten die verfassungsrechtlichen Übertragungsgrenzen (wann dies der Fall ist, wird im Teil B. dieses Kapitels näher erörtert), darf das Parlament nicht die Zustimmung zur Ratifizierung erteilen (Art. 54) bzw. ist die Verkündung und Anwendung des (bereits beschlossenen) Zustimmungsgesetzes untersagt (Art. 61, 62 Abs. 158). Eine Teilnalune Frankreichs an dem Integrationsprojekt ist dann nur noch auf der Grundlage einer Verfassungsänderung möglich (ob auch solchen Verfassungsänderungen Grenzen gesetzt sind, wird gleichfalls im Teil B. untersucht). Die Verfassungskontrolle der zweiten Kategorie von Akten (gemeinschaftsbezogene Umsetzungsgesetze), die nur im Ralunen von Art. 61 möglich ist, setzt per definitionem unterhalb der Ebene der primärrechtlichen Konstitutivakte an, d.h. sie kann die Fortschreibung der Verträge durch neue Konstitutivakte nicht behindern. Ihre Problematik liegt darin, daß sie - wie die aufgefuhrten Fälle illustrieren - das Gericht der Versuchung aussetzen, Normen des bereits geltenden Gemeinschaftsrechts auf ihre Vereinbarkeit mit französischem Verfassungsrecht zu überprüfen. Da die Umsetzungslegislation in weiten Teilen gemeinschaftsrechtlich programmiert ist, birgt ihre Kontrolle automatisch die Gefahr, den Anwendungsanspruch der zugrundeliegenden europäischer Normen in Frage stellen (und die gemeinschaftsrechtliche Monopolisierung von Verwerfungskompetenzen beim EuGH zu verletzen). Die Verfassungskontrolle der Umsetzungsaktivität kann damit Resistenz auf der "lnfiltrationsebene" produzieren. Inwieweit es in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel tatsächlich zu infiltrationshemmenden Übergriffen auf geltende gemeinschaftsrechtliche Normen gekommen ist, wird im folgenden untersucht. Hierbei werden vor allem die Verfahren gegenüber französischen Umsetzungsgesetzen in den Blick genommen. Daneben ist aber auch auf die - gleichfalls schon angesprochenen Prüfungsverfahren gegenüber dem Einnalunenersetzungsbeschluß von 1970 und dem Direktwahlbeschluß von 1976 einzugehen. In ihnen trat zutage, daß die

;s Art. 62 Abs. I lautet in deutscher Übersetzung: "Eine flir verfassungswidrig erklärte Bestimmung darfnicht verkündet oder angewandt werden".

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

117

Infiltrationsproblematik ausnahmsweise auch bei bei der klassischen Prüfung neuer "engagements intemationaux" gemäß Art. 54 auftreten kann.

111. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht) l. Regulierung der Kontrollreichweite durch das Prinzip der "incontestabilite" bestehender Gemeinschaftsnormen

a) Die grundsätzlich präventive Ausrichtung des französischen verfassungsgerichtlichen Kontrollsystems - Prinzip der .. incontestabilite" von Gemeinschaftsrechtsnormen

Nach der strukturellen Anlage des französischen verfassungsgerichtlichen Kontrollsystems muß die Reichweite der Kontrolle europabezogener Akte durch den Conseil Constitutionnel auf den rein nationalen Normbereich beschränkt werden. Ein Übergriff auf gemeinschaftsrechtliche Normen bzw. durch solche determinierte nationale Normen ist dem Gericht an sich nicht möglich. Gemeinschaftsnormen genießen, ebenso wie gewöhnliche völkerrechtliche Normen, vor dem Gericht eine "immunite juridictionelle"59, sie dürfen also keiner Prüfung auf ihre Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung unterworfen werden; weder direkt, noch indirekt, d.h. durch eine Prüfung gemeinschaftsrechtsdeterminierter nationaler Normen. Insofern harmoniert der Zuschnitt des verfassungsgerichtlichen Kontrollsystems vom Ansatz her mit den gemeinschaftsrechtlichen Erfordemissen60 • Der Grund hierfiir liegt in dem streng präventiven Zuschnitt der vom Verfassungsgeber eingerichteten Prüfungsverfahren nach Art. 54 und Art. 61 . Nach beiden Vorschriften können Verträge nur vor ihrem lnkrafttreten vor den Conseil Constitutionnel gelangen (s.o.). Zu einem späteren Zeitpunkt ist eine Vorlage unzulässig. Sie würde zu einer a-posteriori-Prüfung des Vertrages fuhren und damit dem präventiven Charakter der Verfassungskontrolle widersprechen61. Hierbei spielt keine Rolle, ob der fragliche Vertrag geprüft oder P Gaia (FN. 13), S. 73. P Gaia, Le droit constitutionnel national et l'integration europeenne (rapport francais), in: Berichte fiir den 17. F.I.D.E. -Kongreß, Baden ·Baden 1996, S. 231 ff., S. 262. 61 Eine ganze Reihe von Autoren sieht den präventiven Zuschnitt der Verfassungskontrolle internationalen Rechts als Ausfluß eines Verfassungsbekenntnisses zur monistischen Völkerrechtskonzeption an (Nguyen Quoc Dinh, [FN. 14] S. 553 f.; C. Rousseau ;9

60

118

2. Kap.: Conseil Constitutionne1 I A. Kontrollzuständigkeiten

ungeprüft in Kraft getreten war. Auch die nachträgliche Prüfung ungeprüft zur Geltung gelangter Verträge würde eine Umgehung der Präventivkontrolle bedeuten und gegen den in Art. 54 und 61 niedergelegten Grundsatz verstoßen, daß Verträge nur vor ihrem Inkrafttreten Gegenstand einer Verfassungskontrolle sein können. Einmal zur Geltung gelangt, wird internationales Vertragsrecht also genauso wie das gewöhnliche innerstaatliche Gesetzesrecht in jedem Fall verfassungsgerichtlich "incontestable"62 , die französische Verfassung hat ihm gegenüber ein filr alle Mal ihre Maßstäblichkeit verloren63 • Weder der Pariser Vertrag oder die Römischen Verträge64 , noch die nachfolgenden Änderungsverträge könnten dem Conseil Constitutionnel somit noch zur Kontrolle ihrer Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden. Sie sind - unabhängig von ihrer materiellen Konformität mit der Verfassung - dem verfassungsgerichtlichen Zugriff endgültig entronnen65 • [FN. 36], S. 468; L. Trotabas [FN. 28], S. 496; D. Ruzie [FN. 32], No. 2; V. CoussiratCoustere [FN. 29], S. 807; C. Blumann [FN. 13], S. 545). Die Verfassung untersagt die nachträgliche Kontrolle nach ihnen deshalb, weil sie sich nicht mit der rangmäßigen Überlegenheit - des dann ja bereits in Kraft getretenen - internationalen Rechts vertrüge. Demententsprechend fassen diese Autoren Art. 54 auch nicht als Kontrollverfahren im eigentlichen Sinne auf, sondern als einen besonderen Bestandteil der internen Ratifikationsprozedur: Art. 54 diene nicht der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des internationalen Aktes, sondern umgekehrt der Untersuchung der Adaptionsbereitschaft der nationalen Verfassung. Trete ein internationaler Akt ungeprüft in Kraft, dann sei nach Art. 54 "Ia Constitution.... presumee etre en harmonie avec !es clauses de l'engagement international" (Gaia, [FN. 13), S. 73). Die Diskussion hierüber ist noch immer im Gange. Dagegen aus neuererZeitbeispielsweise R. Abraham (FN. 13), S. 34 ff.; gegen ihn wiederumJ. Rideau (FN. 13), S. 264 ff. 62 Diese ist in der Literatur ganz unstreitig; siehe nur L. Favoreu (FN. 13), S. 105; F Luchaire (FN. 17), S,392; P Gaia (FN. 13}, S. 73. 63 Da das völkerrechtliche Inkrafttreten (gegenüber Frankreich) Voraussetzung flir die Anwendung des Grundsatzes der "incontestabilite" ist, bleibt allerdings Raum flir die Prüfung der Formalia des Vertragsschlusses sowie der Ratifikationsprozedur; hierzu P. Gaia (FN. 13), S. 89 ff. Der Conseil Constitutionnel hat in einer Entscheidung vom 30. 12. 1975 (No. 75- 60 DC, Rec. 28) nachgeprüft, ob zwei frühere Abkommen mit Chile durch parlamentarische Zustimmung gedeckt sind (und dies mit einer umstrittenen Begründung bejaht); zu dieser Entscheidung vgl. die Urteilsanmerkungen von J. - M. Bolle, JCP 1976, II, 18368; C. Franck, GazPal1976, Jur.,S. 387 ff.; L. Hamon, D 1976, Jur., S. 462 f.; P Py, AJDA 1976, S. 309 ff.; D. Ruzie, JDI 1976, S. 407 ff. Für das Europäische Recht besitzt diese Thematik naturgemäß keine Relevanz, denn die formelle Ordnungsgemäßheil der bisherigen Vertragsschlüsse und ihrer Ratifizierungen steht außer Frage. 64 "lncontestable" sind auch solche Verträge, die bereits vor Verabschiedung der Verfassung von 1958 in Kraft getreten sind; Nguyen Quoc Dinh, La Constitution de 1958 et le droit international, RDP 1959, S. 515 ff., 554; F Luchaire (FN. 17), S. 426; P. Gaia (FN. 13), S. 73. 65

T. de Berranger (FN. 13), S. 131.

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

119

Konsequenterweise muß dieser Grundsatz der "incontestabilite" auch im Rahmen der Kontrolle eines gemeinschaftsbezogenen Umsetzungsgesetzes nach Art. 61 Beachtung fmden66. Würden hier solche Vorschriften geprüft, die lediglich das innerstaatliche Recht an eine Vertragsbestimmung anpassen, dann liefe dies gleichfalls auf eine verbotene a-posteriori-Kontrolle des selbst bereits immun gewordenen Vertrages hinaus. Der Vertrag würde hier zwar nicht mehr als solcher und nicht mehr in seiner Gesamtheit, aber doch indirekt und in einzelnen Teilen - nämlich den umzusetzenden Vorschriften, soweit sie vom nationalen Gesetz reproduziert werden - nachträglich auf den verfassungsgerichtlichen Prüfstand gestellt und damit das Präventivprinzip umgangen. Entsprechendes gilt, wenn das nationale Gesetz sekundärrechtliche Bestimmungen umsetzt. Diese müssen als bloße Ableitung des Vertrages gemeinsam mit ihm vom Zugriff der Verfassung befreit sein. Ihre Kontrolle (via des Umsetzungsgesetzes) würde unweigerlich die Kontrolle des Vertrages - der die Sekundärrechtssetzung ja deckt, ihr rechtliche Grundlage und Maßstäbe vermittelt - durch die Hintertür wieder einfiihren67 • Die Rücknahme der Verfassungsmaßstäblichkeit gilt somit nicht nur fiir europäisches Primärrecht, sondern schließt gleichermaßen die von diesem ermächtigte Sekundärlegislation mit ein68 •

b) Die grundsätzliche Bekräftigung des Prinzips der .. incontestabilite" in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel Das Prinzip der "incontestabilite" ist vom Conseil Constitutionnel schon im ersten Verfahren nach Art. 54, der Entscheidung von 1970 zum Einnahmenersetzungsbeschluß bzw. zum Haushaltsänderungsvertrag, verbal akzeptiert worden. Im 5. Erwägungsgrund fiihrte das Gericht hier aus, das System eigener Mittel sei bereits durch die "dispositions tant du traite de Paris du 18 avril 1951 ... , que des traites de Rome du 25 mars 1957" vorgezeichnet und "lesdits traites ont ete regulierement ratifies et publies et sont, des lors, entres dans Je champ d'application de l'art. 55 de Ia Constitution"69 . Die Botschaft dieses Satzes war T de Berranger (FN. 13), S. 131. T de Herranger (FN. 13), S. 131. 68 V Coussirat- Coustere (FN. 29), S. 809; F Luchaire (FN. 17), S. 427; L. Philip, La jurisprudence financiere. Les saisines du printemps 1978, RDP 1979, S. 465 ff., 473 ; M Fromont (FN. 32), S. 237; M Darmon, Juridictions constitutionelles et droit communautaire, RTDE 1988, S. 217 ff., 232. 69 FN. 26; "Bestimmungen sowohl des Vertrages von Paris vom 18. April 1951, als auch der Verträge von Rom vom 25. März 1957"- "diese Verträge [sind] ordnungsge66 67

120

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

folgende: Die - längst inkraftgetretenen - europäischen Verträge gehörten zum unantastbar gewordenen Bestand fiir Frankreich verbindlicher Völkerrechtsnonnen im Sinne des Art. 55, daher sei auch das in ihnen vorgesehene System eigener Mittel nicht mehr beanstandbar70 • Im nachfolgenden 6. Erwägungsgrund stellte das Gericht in konkreter Umsetzung dieses Grundsatzes fest, der Einnahmenersetzungsbeschluß besitze nur "Je caractere d'une mesure d'application des dispositions sus-rappelees des traites instituant Jes Communautes europeennes" 71 (Herv. v. Verf.). - Weil der Einnahmenersetzungsbeschluß lediglich Durchfiihrungsakt zu den EG-Verträgen sei, partizipiere er an deren "incontestabilite" - nur dahingehend konnte dieser Satz des Gerichts interpretiert werden72 . Verbale Referenzen des Conseil Constitutionnel an das Prinzip der "incontestabilite" finden sich daneben noch in der Maastricht I-Entscheidung von 1992 73 sowie - besonders deutlich - im 4. Erwägungsgrund der IsoglukoseEntscheidung von 1977 74 • Hier hieß es im Hinblick auf die von den Antragstellern gerügte legislative Entmachtung des Parlaments zugunsten des gemeinschaftlichen Verordnungsgebers, sie sei lediglich "Ia consequence d'engagements intemationaux souscrits par Ja France qui sont entres dans Je champ de l'art. 55 de Ia Constitution"75 • Dies war ebenfalls eine offene Anerkennung der "incontestabilite" der europäischen Verträge und ihrer Erstreckung auch auf das abgeleitete Organreche6 .

mäß ratifiziert und veröffentlicht worden und [fallen] daher in den Anwendungsbereich des Art. 55". 70 So auch die- späteren - Kommentatoren; siehe M. Darmon (FN. 68), S. 229 f.; P Gaia (FN. 13 ), S. 75; T. de Berranger (FN. 13), S. 136. Die zeitgenössischen Kommentatoren äußerten sich zu diesem Punkt nicht.

71 "den Charakter einer Durchfiihrungsmaßnahme zu den oben erwähnten Bestimmungen der Verträge über die Gründung der Europäischen Gemeinschaften". 72

P Gala (FN. 13), S. 75.

73

FN. 18; 7. Erwägungsgrund. Näher hierzu unten unter A., III., 1., c), hh).

74

FN. 53.

"die Folge der von Frankreich eingegangenen internationalen Verpflichtungen, die unter Art. 55 der Verfassung fallen". 75

76 Vgl. M. Darmon (FN. 68), S. 232: "il est donc confirme que ... la question de leur constitutionnalite est sans objet. L'acquis constitutionnel des engagements communautaires de Ia France deja ratifies 'profite' aux normes du droit derive". Ähnlich V Constantlnesco I J. - P Jacque (FN. 21 ), S. 180; J. Rideau (FN. 39), S. 234; L. Dubouls, Le juge francais et le conflit entre norme constitutionnelle et norme europeenne, FS Baulouis, Paris 1991, S. 205 ff., 209; P Gala (FN. 13), S. 80 f.; T. de Berranger (FN. 13), S. 133.

Ill. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

121

Die nachfolgende Untersuchung der bisher vorliegenden Buropajudikatur des Conseil Constitutionnel zeigt allerdings, daß sich das Gericht trotz dieser verbalen Referenzen nicht immer strikt an den Grundsatz der "incontestabilite" gehalten hat. In einigen seiner Entscheidungen lassen sich Ansätze fiir eine systemwidrige a-posteriori-Kontrolle von Gemeinschaftsnormen nachweisen.

c) Ansätze einer systemwidrigen a-posteriori-Prüfung von Gemeinschaftsnormen in Entscheidungen des Conseil Constitutionnel aa) Entscheidung zum Einnahmenersetzungsbeschluß bzw. Haushaltsänderungsvertrag (1970)77 Erstes Beispiel einer systemwidrigen a-posteriori-Kontrolle bildete bereits die Entscheidung von 1970 zum Einnahmenersetzungsbeschluß vom 21 . 4. 1970 (diese Entscheidung betraf desweiteren auch den zeitgleich vorgelegten Haushaltsänderungsvertrag vom 22. 4. 197078). Der Conseil Constitutionnel begnügte sich zur Begründung der Klageabweisung nicht mit dem oben wiedergegebenen Hinweis auf die Unangreifbarkeit der Gründungsverträge sowie den Charakter des Einnahmenersetzungsbeschlusses als bloßer "mesure d'application". Stattdessen fugte er im 8. Erwägungsgrund hinzu, daß der Beschluß kein "valeur de principe" besitze (was wäre die verfassungsrechtliche Folge im Falle des Gegenteils gewesen ?) und schloß dann im 9. Erwägungsgrund mit den Worten: "elle (der Beschluß vom 21. 4. 1970- Anm. d. Verf.) ne peut porter atteinte, ni par sa nature, ni par son importance, aux conditions essentielles d' exercice de Ia souverainete nationale'm. - Dies war nichts anderes als eine Aussage zur Vereinbarkeit des Einnahmenersetzungsbeschlusses mit der Verfassung im Hinblick auf seinen sachlichen Gehalt, seinen lnhalt80• Das System eigener Mittel der Gemeinschaft verstoße nicht gegen das Prinzip der nationalen Souveränität, weder seiner Bedeutung noch seiner Natur nach- dabei konnte ein Verstoß gegen das Prinzip der nationalen Souveränität oder gegen irgendeine andere Verfassungsvorschrift vom Conseil Constitutionnel überhaupt nicht zulässigerweise in Erwägung gezogen werden, denn der Einnahmenersetzungs77

FN. 26.

Dieser stellte als Vertragsänderung ein gewöhnliches "engagement international" im Sinne von Art. 54 dar. 78

79 "sie [kann] weder ihrer Art noch ihrer Bedeutung nach die Grundbedingungen fiir die Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigen". 80 Vgl. auch den Entscheidungstenor. Er läßt keinen Zweifel daran, daß der Conseil Constitutionnel eine Sachentscheidung gefällt hat.

122

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

beschluß realisierte lediglich einen bereits zur Geltung gelangten, unantastbar gewordenen Vertragsinhalt und war mithin von vornherein "incontestable". Statt auf diese Weise den Beschluß- und durch ihn Art. 201 EWGV- auf seine Verfassungskonformität, seine Vereinbarkeit mit dem Prinzip der nationalen Souveränität zu untersuchen, hätte der Conseil Constitutionnel die Prüfung nach Identifikation des ihm vorgelegten Aktes als bloße "mesure d'application" sogleich abbrechen müssen. Die Fortsetzung der Prüfung stellte eine Durchbrechung des Prinzips der "incontestabilite" dar81 • Gaia hat die Entscheidung des Conseil Constitutionnel - deren Charakter als Sachentscheidung er nicht . bestreitet - mit dem Argument zu rechtfertigen versucht, Art. 201 EWGV sehe selbst die Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten vor und stelle somit einen materiellen Verfassungsvorbehalt aufS2 • Diese Ansicht kann nicht überzeugen. Art. 201 EWGV unterwirft die Einfilhrung eines Systems eigener Gemeinschaftsmittel lediglich einem politischen Vorbehalt. Er schaffi ein im Vergleich zur förmlichen Vertragsänderung vereinfachtes Verfahren, schreibt jedoch den Beschlußinhalt schon im vorhinein als Gemeinschaftsprinzip fest. Seine Realisierung soll nur noch davon abhängen, daß der entsprechende politische Wille in den Mitgliedstaaten gebildet wird. Der Zweck des Art. 20 I EWGV, einen vereinfachten Weg zum Umbau des gemeinschaftlichen Finanzierungssystems zu schaffen, wäre hinfiillig, wenn der Vertrag den Mitgliedstaaten das Vorbringen verfassungsrechtlicher Bedenken zubilligte: Hierdurch würde die 81 Wie hier M. Fromont (FN. 32), S. 238; J Rideau (FN. 13), S. 273; T de Berranger (FN. 13), S. 132. Die zeitgenössischen Kommentatoren der Entscheidung äußerten sich zu diesem Problem nicht; siehe C. Emeri I C. Gautron, Urteilsanmerkung, RDP 1971 , S. 172; C. Rousseau, Urteilsanmerkung, RGDIP 1971 , S. 241 ff. Erstaunlich war das Schweigen zu diesem Punkt bei D. Ruzie (FN. 32). Ruzie merkte selbst an, der Einnahmenersetzungsbeschluß "se rattache au droit communaute derive" (N° 7), ließ die naheliegende Frage seiner Kontrollfähigkeit im Rahmen von Art. 54 hingegen aus. 82 FN. 13, S. 75 f. Gegen ihn J Rideau (FN. 13), S. 273. Entfernte Ähnlichkeit zu Gaias Position wies diejenige von C. Blumann (FN. 13), S. 570 f. auf. Blumann stellte darauf ab, daß Art. 201 EWGV die Mitgliedstaaten zur Einftlhrung eines Systems eigener Mittel nicht verpflichte; daher liege ein neues "engagement international" vor, das ohne Verstoß gegen das Prinzip der "incontestabilite" inhaltlich auf seine Verfassungskonformität geprüft werden könne. Diese Begründung ist noch weniger überzeugend als diejenige Gaias. Die Freiwilligkeit der Beschlußfassung - die ja bei fast jedem Sekundärakt gegeben ist - änderte nichts daran, daß der Beschluß im Vertrag inhaltlich bereits vorgezeichnet war. Abzulehnen ist schließlich auch der Ansatz von L. Favoreu I L. Philip (FN. 21), S. 135, die das Vorgehen des Conseil Constitutionnel damit erklärten, daß "Ia Decision etait tellement liee au traite (d.i. der- unbestritten kontrollfähige - Haushaltsänderungsvertrag vom 22. 4. 1970 - Anm. d. Verf.] qu' elle participait de sa nature". Eine Verknüpfung beider Akte bestand nur in politischer, nicht aber in rechtlicher Hinsicht.

Ill. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

123

Einnahmenersetzung faktisch doch auf einen der förmlichen Vertragsänderung angenäherten, beinahe ebenso schwerfälligen und im übrigen hinsichtlich der Geweiligen verfassungsgerichtlichen) Erfolgsaussichten auch ungewissen Weg verwiesen. Art. 201 besäße damit keinen über einen bloßen Programmsatz hinausreichenden Gehalt. Der Verweis auf die Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten kann daher nur so zu verstehen sein, daß er die Mitwirkung der mitgliedstaatliehen Parlamente zugesteht, um die politische Basis der Beschlußfassung zu verbreitern83 • Das Prinzip eigener Einnahmen der Gemeinschaft an sich ist dagegen bereits Bestandteil des Vertrages geworden. Frankreich hat diesem Prinzip 1957 zugestimmt und es mit lokrafttreten des Römischen Vertrages, gemeinsam mit dessen übrigen Vorschriften, in den Zustand verfassungsjustizieller Unantastbarkeit versetzt. Von hier ab durfte seine Verfassungsmäßigkeit nicht mehr geprüft werden. Es gibt im übrigen auch keine Anzeichen dafilr, daß der Conseil Constitutionnel selbst Art. 201 EWGV als einen materiellen Verfassungsvorbehalt interpretiert hat. Für diesen Fall hätte es der verbalen Zugeständnisse an den Grundsatz der "incontestabilite" ja auch gar nicht bedurft. Der Hinweis auf den bloßen Durchfil.hrungscharakter des Beschlusses belegte deutlich, daß das Gericht durchaus die inhaltliche Vorprogrammierung - und folglich prinzipielle Unantastbarkeit- der Einnahmenersetzung durch den EWG-Vertrag gesehen hat. Im ersten, dem Haushaltsänderungsvertrag gewidmeten Entscheidungsteil (Erwägungsgründe 2 - 4)- dieser war unstreitig ein neues, inhaltlich voll nachprüfbares "engagement international" - sucht man bezeichnenderweise vergeblich nach einer vergleichbaren Passage.

bb) Direktwahl-Entscheidung (1976)84 Im Prüfungsverfahren zum Beschluß bzw. Akt85 über die Direktwahl ,im Jahre 1976 ließ sich der Conseil Constitutionnel ebenfalls auf eine Sachprüfung am Maßstab der französischen Verfassung ein und durchbrach damit zum zweiten Mal das Prinzip der "incontestabilite" existenter Gemeinschaftsnormen. Anders als im Jahre I 970 lag hier in den vertragsändernden Komponenten des Aktes (Änderung der Abgeordnetenkontingente, mitgliedstaatlich bestimmte Wahlver83

Vgl. J. Rideau (FN. 13), S. 273.

FN. 26. Das Gericht hat bei seiner Prüfung nicht zwischen Beschluß und Akt (die ja auch formell ineinander verzahnt waren) unterschieden; hierzu A. Cocatre - Zilgien (FN. 29), s. 793 . 84

85

124

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

fahren 86) zwar ein legitimer Ansatzpunkt zur Durchfiihrung einer Kontrolle vor. Denn insoweit er Art. 138 EWGV änderte, stellte er ein neues und folglich unbegrenzt prüfungsfahiges "engagement international" dar. Konsequenterweise hätte der Conseil Constitutionnel sich jedoch auf diese vertragsändernden Komponenten beschränken und die inhaltlich bloß vertragswiederholenden Abschnitte der ihm unterbreiteten Texte außen vor lassen müssen. Insbesondere galt dies fiir das Prinzip der Direktwahl selbst. Art. 138 Abs. 3 EWGV hatte es bereits klar ausformuliert und in den Rang eines gemeinschaftsrechtlichen Organisationsgrundsatzes erhoben. Seine Realisierung war lediglich einem weiteren politischen Willensakt überlassen worden - insoweit war die Konstellation vergleichbar mit derjenigen von 1970, mit vielleicht sogar dem einen Unterschied, daß die Eindeutigkeit des Vorhabens "Direktwahl" noch weniger als bei Art. 201 EWGV Raum fiir die Annahme ließ, der Vertrag habe hier (d.h. bezüglich des Prinzips als solchem) noch einen nennenswerten inhaltlichen, die Durchfilhrung mitgliedstaatlicher Verfassungskontrollen möglicherweise rechtfertigenden Konkretisierungs- und Ausformungsbedarf gesehen87 • Die Lektüre der Entscheidungsgründe erbringt jedoch deutliche Belege dafiir, daß vom Gericht eine Sachprüfung von Beschluß und Akt insgesamt vorgenommen worden war88 • Bereits im 2. Erwägungsgrund offenbarte der Conseil Constitutionnel seine Absicht zur Vomahme einer vollen inhaltlichen Verfassungskontrolle, indem er mit Absatz 14 der Präambel von 1946 (Beschränkung nationaler Souveränität zugunsten internationaler Organisationen) eine materielle Verfassungsnorm zum Ausgangspunkt seiner weiteren Überlegungen wählte. Im 4. Erwägungsgrund fand sich dann folgender Satz: "l'elec~ion au suffrage universei direct des representants des peupJes des Etats membres a I' Assemblee des comrnunautes europeennes n'a pour objet de creer ni une souverainete ni des institutions dont Ia nature serait incompatibJe avec Je respect de Ja souverainete nationale, non plus que de porter atteinte aux pouvoirs et attributions des institutions de Ia Republique et, notarnment, du Parlement"89• - Wie in der

86 Vgl. aber R. Bieber, Urteilsanmerkung, EuR 1977, S. 53 ff., 55, der den Direktwahlakt als erste Etappe auf den Weg zu einem einheitlichen Wahlverfahren im Sinne des Art. 138 EWGV begriff und deshalb insoweit das Vorliegen einer Vertragsänderung verneinte. 87 Vgl. auch C. Blumann (FN. 13), S. 571, der auf die sprachlich imperativere Fassung des Art. 138 Abs. 3 im Vergleich zu Art. 201 hinwies. 88 Das gestehen auch diejenigen ein, die das Vorgehen des Conseil Constitutionnel ftir gerechtfertigt halten, etwa V Coussirat- Coustere (FN. 29), S. 810 und- wiederum- P Gaia (FN. 13), S. 78. H9 "die allgemeine und unmittelbare Wahl der Abgeordneten der Völker der Mitgliedstaaten in die Versammlung [beinhaltet] weder die Schaffung von Souveränität oder von Institutionen, deren Wesen mit der Wahrung der nationalen Souveränität unvereinbar

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

125

Entscheidung von 1970 verneinte der Conseil Constitutionnel hier einen Verstoß gegen das Prinzip der nationalen Souveränität, gestand dadurch aber auch implizit ein, daß die Frage nach einem solchen Verstoß geprüft worden war. Statt von vomeherein die Klage mit Hinweis auf die vertragliche Vorentschiedenheit des Prinzips der Direktwahl abzuweisen, nahm er eine Sachprüfung vor und handelte somit dem Grundsatz der "incontestabilite'' zuwider90 . Anders als 1970 fanden sich in den Entscheidungsgründen nicht einmal Verbalkonzessionen an diesen Grundsatz. Die Brisanz dieses Vorgehens hatten im Gegensatz zu 1970 einige der zeitgenössischen Kommentatoren durchaus gespürt91 , allerdings überwiegend entdramatisiert: Z. T. wurde - in Vorwegnahme der später von Gaia verwandten Argumentationsfigur- in Art. 138 Abs. 3 EWGV ein materieller Verfassungsvorbehalt hineininterpretiert92, z.T. die Vomahme einer Sachprüfung damit gerechtfertigt, daß Direktwahlbeschluß und -akt die Absichtserklärung des Europäischen Rates vom Dezember 1975 umsetzten93 • Einen besonders durchsichtigen Versuch, das Vorgehen des Conseil Constitutionnel herunterzuspielen, wäre noch [beeinträchtigt sie] die Befugnisse und Zuständigkeiten der Institutionen der Republik und insbesondere des Parlaments". 90 Wie hier C. Blumann (FN. 13), S. 575; V Constantinesco I J - P Jacque (FN. 21), S. 180, FN. II ; J.Rideau(FN.I3),S.273;T deBerranger(FN.13), S. 132.

91 Wiewohl die Anzahl derer, die sich hierzu nicht äußerten, immer noch überwog. Dies erstaunt beispielsweise bei D. Ruzie (FN. 29), der durchaus sah, daß das Prinzip der Direktwahl zum nicht mehr revidierbaren Vertragsinhalt gehört (S. 75), die somit naheliegende Frage nach seiner verfassungsjustiziellen Kontrollierbarkeit jedoch nicht stellte, auch nicht bei Diskussion des 4. Erwägungsgrundes (S. 77). Ähnlich P Rambaud, L' approbation par Ia France des dispositions sur l'election du Parlement europeen au suffrage universei direct, AFDI 77, S. 884 ff., der ebenfalls auf die vertragliche Verankerung der Direktwahl hinwies (S. 887), überdies die vorliegenden Texte als Durchfiihrungsmaßnahmen identifizierte (S. 895), gleichfalls aber die Problematik der Prüfungsreichweite nicht thematisierte. Das weitgehendste Beispiel einer solchenunbewußten Annäherung an die Problematik bot A. Cocatre - Zilgien (FN. 29): Dieser äußerte sich ausfiihrlich zur Zuständigkeit des Conseil Constitutionnel (v.a. S. 793 ff.), allerdings nur unter dem Gesichtspunkt, ob begrifflich ein "engage~ent international" im Sinne von Art. 54 vorliege. Die Reichweite der Kontrolle, insbesondere die Frage nach einem Verstoß gegen den Grundsatz der "incontestabilite" wurde indes nicht beleuchtet - obwohl (wie bei Rambaud) der Durchfiihrungscharakter von Beschluß und Akt erkannt und (im Gegensatz zu Rambaud) in Beziehung zum 6. Erwägungsgrund der Entscheidung von 1970 gesetzt wurde (S. 794), jedoch ohne dessen Bedeutung als Verbalreferenz an das Prinzip der "incontestabilite" aufzudecken.

92 So M. de Vil/iers (FN. 32), no. 15. Auch P Gaia (FN. 13), S. 79 hat später in Art. 138 Abs. 3- ähnlich wie in Art. 201 (s.o.)- eine "reserve de constitutionnalite" niedergelegt gesehen. 93 So V Coussirat- Coustere (FN. 29), S. 810, wobei dieser zusätzlich die Unterzeichnung durch die Repräsentanten der Mitgliedstaaten hervorhob.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

lieferten Favoreu und Philip: Sie verwarfen zwar ausdrücklich die Interpretation des Art. 138 Abs. 3 als mitgliedstaatliehen Verfassungsvorbehalt94 , waren aber der Auffassung, das Gericht habe in seiner Entscheidung die Direktwahl selbst gar nicht in Frage gestellt, sondern lediglich "les modalites", "les dispositions concemant l'organisation de l'election et non Ie principe de l'election" geprüft95 (Herv. v. Verf.). Dagegen wandte sich zu Recht C. Blumann: "une Jecture meme rapide de Jadecision du 30 decembre 1976 montre a l'evidence que Je Conseil constitutionnel ne s'est guere attache a resoudre des questions techniques de droit parlementaire ou electoral. Au contraire, il s'en est tenu a des questions de principe, examinant si l'election au suffrage universei direct risquait de porter atteinte a des principes ausssi fondamentaux que celui de Ia souverainete nationale"96 (Herv. v. Verf.). In der Tat kann kein Zweifel bestehen, daß der Conseil Constitutionnel das Prinzip der Direktwahl als solches, nicht lediglich untergeordnete Details ihrer Durchfiihrung auf den Prüfstand gestellt hat. Dies kann schon sprachlich belegt werden: Im 4. Erwägungsgrund beispielsweise war schlicht von "l'election" statt von der spezifischen Weise ihrer "organisation" bzw. ihren besonderen "modalites" die Rede. Schwer vorstellbar ist im übrigen, daß ausgerechnet verfahrensmäßige Details "incompatible(s)" mit einer so grundlegenden verfassungsrechtlichen Forderung wie der Wahrung der nationalen Souveränität hätten sein können. An der Einsicht, der Conseil Constitutionnel habe hier "exerce... son contröle sur un traite regulierement conclu et entre en vigeur"97 und somit "une breche dans Je systeme de contröle purement preventif instaure par l'article 54 de la Constitution"98 geschlagen, kam man daher auch bei diesem Verfahren nicht vorbei.

94 Daher ist auch die Bezugnahme auf sie durch Gaia (FN. 13), S. 79, FN. 173 zumindest mißverständlich.

95 "die Modalitäten", "die Vorschriften über die Organisation der Wahl, nicht den Grundsatz der Wahl an sich"; FN. 21, S. 142. 96 "schon eine oberflächliche Lektüre der Entscheidung vom 30. Dezember 1976 offenbart eindeutig, daß der Conseil Constitutionnel sich nicht darauf beschränkt hat, technische Fragen des Parlaments- oder Wahlrechts zu lösen. Er hat sich im Gegenteil mit prinzipiellen Fragen beschäftigt und geprüft, ob die allgemeine und direkte Wahl so fundamentale Grundsätze wie denjenigen der nationalen Souveränität verletzt"; C. Blumann (FN. 13), S. 574 I 515.

97 "seine Kontrolle auf einen ordnungsgemäß abgeschlossenen und in Kraft getretenen Vertrag erstreckt"; C. Blumann (FN. 13), S. 575. 9" "eine Bresche in den rein präventiven Zuschnitt des durch Art. 54 der Verfassung eingerichteten Kontrollsystems"; C. Blumann (FN. 13), S. 576.

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

127

cc) lsoglukose- bzw. Milch-Entscheidungen (1977)99 In den Entscheidungen vom 30. 12. 1977 zur gemeinschaftlichen lsoglukosebzw. Milch-Abgabe fmden sich keine Belege fUr einen Ausgriff der Verfassungskontrolle auf die europäischen Verordnungen, welche den angegriffenen Bestimmungen aus den nationalen Haushaltsgesetzen zugrundelagen. Im Gegenteil: Wie gesehen 100 hob der Conseil Constitutionnel ausdrücklich hervor, daß die souveränitätsbeschränkende Auswirkung der Verordnungen bloße Konsequenz des Abschlusses der einschlägigen Primärrechtsakte sei. Anders als in den Verfahren von 1970 und 1976 wurde vom Gericht die europäische Norm auch nicht erst nach Vomahme einer entsprechenden Prüfung fUr verfassungskonform erklärt. Jedes Wort, das die lsoglukose- bzw. Zucker-VO in einen näheren inhaltlichen Zusammenhang zu französischen Verfassungsnormen gestellt hätte, vermied der Conseil Constitutionnel in seinen Entscheidungen sorgfliltig 101 • Bei sehr genauer Betrachtung werfen abe.r auch diese Entscheidungen - und zwar die ersten beiden Erwägungsgründe der Entscheidung No. 77 - 90 102 Fragen nach der vom Gericht gezogenen Kontrollreichweite auf. Im I. Erwägungsgrund stellte der Conseil Constitutionnel nämlich fest, daß die IsoglukoseVerordnung vom Ministerrat der Gemeinschaften "en vertu des pouvoirs qu'il tient de l'article 145 du traite du 25 mars 1957 instituant Ia Comrnunaute economique europeennne" 103 erlassen worden sei. Im 2. Erwägungsgrund hieß es dann: "Ia decision, en date du 21 avril 1970 [d.i. der Einnahmenersetzungsbeschluß - Anm. d. Verf.] ... range en son article 2 a, au nombre des ressources propres des comrnunautes '!es cotisations et autres droits prevus dans le cadre de I' organisation comrnune des marches dans le secteur du sucre ...'; .. .Ia cotisation a Ia production d'isoglucose, instituee en vue de regulariser le marche 99

FN. 53.

100

Siehe oben unter A., III., 1., b).

Vgl. G. Isaac I G. Molinier, Urteilsanmerkung, RTDE 1979, S. 145 ff., 148 I 149: " Je Conseil ne se borne pas a confirmer sa decision du 19 juin 1970 par laquelle il avait precisement reconnu Ia compabilite avec Ia Constitution de cette decision du 21 avril 1970, il admet apres coup Ia realite du transfert du pouvoir d 'ediction des normes fiscales au profit des organes communautaires sur leque/ il avait a/ors evite de se prononcer au fonff' (Herv. v. Verf.). Ebenso M. Fromont, Frankreich und die Europäische Union, DÖV 1995, S. 481 ff., 483. 101

102 Die dem Haushaltsgesetz 1978 geltende Entscheidung No. 77- 89 vom seihen Tag verweist in ihrem 7. Erwägungsgrund auf diese Entscheidung und ist insofern mitbetroffen. 103 "auf der Grundlage der ihm gemäß Art. 145 des Vertrages vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zustehenden Befugnisse".

128

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

de ce produit dans Je cadre de l'organisation du secteur du sucre, a Je caractere d'une ressourcepropre cornmunautaire" 104• Das Gericht nahm mit diesen Sätzen also eine knappe Begründung sowohl der Organ- als auch der (europäischen) Verbandskompetenz fiir die in Frage stehende Verordnung vor, ließ sich demnach zu ihrer gemeinschaftsrechtlichen Rechtmäßigkeit aus 105 • Beide Erwägungsgründe enthielten mehr als eine bloße Identifizierung der gemeinschaftsrechtlichen Determination des vorgelegten Gesetzes (die ja stets notwendig ist, um überhaupt zu der Feststellung, daß die Prüfungsreichweite ausnahmsweise durch das Prinzip der "incontestabilite" eingeschränkt ist, gelangen zu können). Jedenfalls der zweite Erwägungsgrund beschäftigte sich fiir französische Verhältnisse, die durch strenge Konzentration auf die wirklich tragenden rechtlichen Gesichtspunkte gekennzeichnet sind, so detailliert mit der Qualität der Isoglukoseabgabe als Eigenmittel der Gemeinschaft im Sinne des Beschlusses vom 21. 4. 1970, daß er das zur bloßen Identifikation notwendige Maß überschritt. Hierfiir wäre ausreichend gewesen, die- in Bezeichnung und Form ja bereits zum Ausdruck kommende- Natur der Verordnung Nr. 1111-77 als Verordnung im Sinne von Art. 189 EWGV kenntlich zu machen. Der Erwähnung von Art. 145 des Vertrages, von Art. 2a des Einnahmenersetzungsbeschlusses hätte es nicht bedurft, schon gar nicht der vom Conseil Constitutionnel gemachten Andeutung einer Subsumtion (" .. Ia cotisation a Ia production d'isoglucose, instituee en vue de regulariser Je marche de ce produit dans le cadre de l'organisation du secteur du sucre, a le caractere d'une ressource propre..."; Herv. v. Verv.). Die Frage ist, welche Schlüsse man aus diesem Vorgehen des Conseil Constitutionnel zu ziehen hat. Es ist an sich ein durchaus normaler Vorgang, wenn ein 104 "[stuft] in seinem Art. 2 a 'Abgaben und andere Beiträge, die im Rahmen der gemeinsamen Marktordnung fiir Zucker vorgesehen sind' unter die Eigenmittel der Gemeinschaft [ein]; die zur Regelung des Marktes für dieses Produkt im Rahmen der Marktordnung fiir Zucker eingefiihrte Abgabe auf die Produktion von Isoglukose [besitzt] den Charakter eines gemeinschaftlichen Eigenmittels".

105 Dies ist in der Literatur allerdings streitig; dafiir M. Fromont (FN. 32 ), S. 237 f.; V Constantinesco I J.- P Jaque (FN. 21), S. 180 ff.; J. Rideau (FN. 13), S. 277 f.; P Gaia (FN. 13), S. 57 f. Dagegen L. Philip (FN. 68), S. 470 ff. Einzuräumen ist allerdings, daß diese Prüfung höchst oberflächlich war und durchaus gemeinschaftsrechtliche Detailprobleme überging. Art. 2 a des Einnahmenersetzungsbeschlusses von 1970 spricht von "Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation fiir Zucker vorgesehen sind". Die Isoglukoseabgabe beruhte jedoch auf der (speziellen) VO Nr. 1111 I 77 und nicht auf den (allgemeinen) Verordnungen über die Zuckermarktordnung. Bei enger Interpretation des Art. 2 a hätte man insofern Bedenken gegen die Abgabe erheben können; vgl. R. Bieber, Urteilsanmerkung, EuR 1978, S. 367 ff., 369 f. Mehrere mitgliedstaatliche Gerichte hatten im übrigen gern. Art. 177 EWGV die Frage nach einer Verletzung des Diskriminierungsverbots vorgelegt; R. Bieber, ebda.

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

129

mitgliedstaatliches Gericht die Vertragskonformität einer fallrelevanten europäischen Verordnung prüft. Die Gemeinschaftsrechtsordnung ist im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtsanwendung geradezu darauf angewiesen, daß die nationalen Gerichte sich der Legalität von Gemeinschaftsakten vergewissern. Nach der Rechtsprechung des EuGW 06 ist lediglich das europäische Verwerjimgsmonopol zu respektieren, d.h. das mitgliedstaatliche Gericht darf, wenn seine Prüfung eine Vertragswidrigkeit des Sekundärakts ergibt, diesen Akt nicht ohne eine entsprechende Vorabentscheidung des EuGH von sich aus als unbeachtlich behandeln 107 (sieht man vom Ausnahmefall des vorläufigen Rechtsschutzes einmal ab 108}. Gegen die Vomahme einer diese Grenze respektierenden Vertragskontrolle ist auch unter dem Aspekt des Grundsatzes der "incontestabilite" nichts einzuwenden. Dieser verbietet nur die Verfassungskontrolle europäischen Rechts, nicht hingegen die Ausnutzung gemeinschaftsrechtlich eröffneter Spielräume zur Vertragskontrolle 109 • Bedenken könnten sich allerdings dann erheben, wenn die Prüfung des Conseil Constitutionnel mit dem Vorsatz unternommen worden wäre, notfalls die europarechtlichen Grenzen der Vertragskontrolle zu überschreiten und die fraglichen Verordnungen fiir den Fall ihrer Vertragswidrigkeit eigenmächtig - und zwar als aus dem konsentierten Integrationsprogramm "ausbrechend" und damit vermeintlich verfassungswidrig- zu verwerfen 110. Ob das Gericht bei Abfassung der ersten beiden Erwägungsgründe tatsächlich eine solche Option anvisiert hat, EuGHE 1987, S. 4199 ff. (RS 314 I 85) - Foto-Frost. Dies hoben einige Kommentatoren der Entscheidung auch hervor; R. Kovar I D. Simon, A propos de Ia decision du Conseil constitutionnel francais du 30 decembre 1976 relative a l'election de !'Assemblee parlementaire europeenne au suffrage universei direct, RTDE 1977, S. 665 ff., 693; G. lsaac I G. Molinier (FN. 101), S. 156; F Luchaire (FN. 17), S. 424. 106

107

108 EuGHE 1991, S. I - 415 ff. (RS C - 143 I 88; C - 92 I 89) - Zuckerfabrik Süderdithmarschen. 109 Zu weitgehend daher G. lsaac I G. Molinier (FN. 101), S. 149 ("Je seul fait qu'un prelevement de nature fiscale a son origine dans un reglement communautaire suffit pour ecarter cette competence [des Conseil Constitutionnel - Anm. d. Verf.] sans qu'il soit besoin de rechercher s'il a ou non Je caractere d'une ressource propre"). Wie jedes mitgliedstaatliche Gericht hat auch der Conseil Constitutionnel eine Prüfungskompetenz (nur eben keine Verwerfungskompetenz) hinsichtlich der Gemeinschaftsrechtsmäßigkeit einer europäischen Verordnung. 110 Vgl. D. Ruzie (FN. 29), S. 75, der (am Beispiel der Direktwahlentscheidung) eine solche Verfassungsdimension vertragswidriger Akte impliziert, wenn er schreibt: "il s'averait precisement necessaire de permettre auch Conseil constitutionnel de s'assurer que Iadite decision entrait bien dans Je champ d'application des Traites de Pariset Rome et si, en modifiant de facon indirecte Iesdits traites, eile n 'etait pas susceptible de se trouver en contradiction avec certaines dispositions de Ia Constitution francaise".

9 Hecker

130

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

ist jedoch nicht verifizierbar 111 • Da der Conseil die Verordnungen fiir gemeinschaftsrechtlich unbedenklich hielt, konnte es insoweit nicht zum Schwur kommen. Ob eine Verfassungskontrolle auf "ausbrechende Gemeinschaftsakte" - von der gemeinschaftsrechtlichen Fragwürdigkeit einmal abgesehen - mit dem Grundsatz der "incontestabilite" vereinbar wäre, muß jedenfalls bezweifelt werden. Das französische System der Verfassungskontrolle ist darauf ausgerichtet, internationale Normen endgültig aus der nationalen Verfassungssphäre auszusondern. In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es, die internationale Legalität abschließend durch die dazu geschaffenen internationalen Organe beurteilen zu lassen und eine Kontrollreserve der nationalen Verfassung auch gegenüber "ausbrechenden Akten" zu verneinen 112 • Die Isoglukose-Entscheidung stieß zu dieser Frage noch nicht vor. Sie machte aber deutlich, daß sie sich potentiell im Rahmen der Kontrolle nationaler Umsetzungsgesetze nach Art. 61 einmal stellen könnte.

dd) EWS-Entscheidung ( 1978) 113 Ohne direkte Relevanz filr den hier behandelten Fragenkreis bleibt die Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 29. 12. 1978 zur EWS-Resolution des Europäischen Rates. Diese Resolution erging zu einem Sachbereich (Währungspolitik), der ebenso wie das handelnde Organ zum damaligen Zeitpunkt außerhalb der Verträge angesiedelt war. Eine Verfassungskontrolle förmlicher 111 V gl. L. Dubouis (FN. 76), S. 209: "Ia forrnule laisse un doute sur ce que pourrait etre l'attitude du Conseil au cas ou Je reglement, outout autre decision communautaire, excederait Ia competence de Ia Communaute et, par suite, Ia portee de l'engagement international souscrit par Ia France". 112 A.A. offenbar F Luchaire (FN. 17), der bereits mit Blick auf die Direktwahlentscheidung (allerdings ohne nähere Erörterung) notierte, im Falle der Vertragswidrigkeit des Aktes "Je Conseil aurait pu Je declarer Contraire a Ia Constitution" (S. 424). Man muß allerdings Luchaire in der Tat zugestehen, daß aus Sicht der französischen Verfassung eine Kontrolle auf "ausscherende Akte" eine andere Qualität hätte als eine Verfassungskontrolle im Stil der Entscheidungen von 1970 und 1976. Letztere unterwirft den bereits konsentierten Gemeinschaftsakt noch einmal einer vollen Prüfung auf seine Vereinbarkeil mit materiellen Verfassungsstandards, wohingegen erstere hierzu gar nicht vorstößt, sondern die Prüfung auf den kompetenziellen Aspekt reduziert. Der "ausscherende Akt" würde nicht wegen seines inhaltlichen Gehalts sanktioniert, sondern weil der Mitgliedstaat der Gemeinschaft insoweit keine Handlungsbefugnis übertragen hat (obwohl er es- materiell- möglicherweise hätte tun können). 113

FN. 54.

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

131

Gemeinschaftsnonnen war von daher gar nicht möglich 114 • Allenfalls unter atmosphärischen Gesichtspunkten ist die Entscheidung deshalb von Interesse. Der Conseil Constitutionnel verwarf das Vorbringen der Antragsteller schon im Ansatz. Diese hatten argumentiert, in Anbetracht der im Rahmen des EWS zu erwartenden Finanzoperationen wären die Etatansätze im "compte 'pertes et benefices de change" 115 des vorgelegten Haushaltsgesetzes flir 1979 nicht mehr realistisch 116• Das Gericht stellte sich demgegenüber (im 5. Erwägungsgrund) auf den Standpunkt, die künftigen Kursstützungsoperationen im Rahmen des EWS würden sich nicht grundlegend von denen unterscheiden, die schon bisher im Rahmen des nationalen Wechselkursstabilisierungsfonds durchgefUhrt und im "compte 'pertes et benefices de change" ausgewiesen worden seien, sie trUgen "Je meme caractere imprevisible et aleatoire" 117 wie diese. Obwohl diese Ausfilhrungen zur Klageabweisung bereits vollauf genügt hätten 118, stellte das Gericht noch die mangelnde juristische Verbindlichkeit der Resolution heraus (2. Erwägungsgrund) - und verneinte hiermit zugleich die von den Klägern hilfsweise behauptete parlamentarische Zustimmungsbedürftigkeit gemäß Art. 53 der Verfassung. Schließlich wies es (3. Erwägungsgrund) auf die künftigen nationalen Umsetzungsmaßnahmen - und damit auch auf mögliche spätere Kontrollansätze - hin: "a Ia suite de cette resolution c'est aux autorites de Ia Communaute economique europeenne et, Je cas echeant, aux autorites nationales qu'il appartient de prendre !es mesures necessaires a l'instauration du nouveau systeme monetaire dans Je cadre de leurs competences respectives et selon !es procedures appropriees" 119 (Herv. v. Verf.). Der Conseil Constitutionnel begutachtete somit das ihm vorgelegte Gesetz entgegen seinem sonstigen Habitus rechtlich sehr umfassend - ein Signal der Wachsamkeit gegenüber der europäischen Ebene 120 •

114

Vgl. D. Ruzie (FN. 21), S. 81/82.

115

"Konto 'Verluste und Gewinne aus Wechselkursoperationen".

116

V gl. die Wiedergabe ihres Antrags im ersten Erwägungsgrund der Entscheidung.

117

"denselben Charakter der Unvorhersehbarkeit und Ungewißheit".

118

L. Philip (FN. 68), S. 477.

"im Anschluß an diese Resolution [ist] es Sache der Gemeinschaftsorgane und gegebenenfalls der nationalen Instanzen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und nach den dafilr jeweils geltenden Verfahren die notwendigen Maßnahmen zur Errichtung des neuen Währungssystems zu ergreifen". 119

120 L. Philip (FN. 68), S. 477. Vgl. auch L. Hamon, Urteilsanmerkung, D 1979, Jur., S. 543 ff., 546.

9•

132

2. Kap.: Conseil Constitutionnel/ A. Kontrollzuständigkeiten

ee) Mehrwertsteuer-Entscheidung (1978) 121 Ebenfalls im hiesigen Zusammenhang ohne direkte Erheblichkeit ist das Urteil des Conseil Constitutionnel vom 29. 12. 1978 zur 6. EG-MehrwertsteuerRichtlinie122. Die Antragsteller dieses Verfahrens hatten die Umsetzung dieser Richtlinie im Nachtragsgesetz zum Haushaltsgesetz fiir 1978 nicht unter inhaltlichen Gesichtspunkten angegriffen, sondern lediglich einen Verstoß gegen parlamentarisches Verfahrensrecht, genauer: gegen Art. 42 der "Ioi organique" vom 2. I. 1959 über die Haushaltsgesetzgebung gerügt 123 • Diese Bestimmung untersagt finanzwirksame Änderungsanträge in "letzter Minute": Beim Pienarbeschluß über den Haushalt dürfen keine "articles additionnels" zur Abstimmung gelangen, die zu einer Einnahmenverminderung oder Ausgabensteigerung fuhren. Der Conseil Constitutionnel hielt im vorliegenden Sachverhalt Art. 42 der "loi organique" vom 2. 1. 1959 fiir tatbestandlieh nicht einschlägig und wies den Antrag daher als unbegründet zurück. Dem Plenum seien in Wahrheit keine "articles additionnels" vorgelegt worden, sondern ein regulärer Gesetzesvorschlag (in allerdings der ungewöhnlichen Gestalt eines "lettre rectificative" des Premierministers). Dieser habe, bevor er zur Schlußabstimmung gelangte, den üblichen Weg durch die Ausschüsse genommen; damit sei das vorgeschriebene Verfahren eingehalten und gegen das Verbot des Art. 42 folglich nicht verstoßen worden. Zu Fragen des Zusammenspiels von Gemeinschafts- und nationalem Recht, namentlich des Umfangs verfassungsjustizieller Unantastbarkeit von ersterem, stieß das Gericht bei dieser Sachlage gar nicht vor. Anders als in den Entscheidungen von 1970 und 1976 war nicht zu monieren, daß zur Klageabweisung mit der nationalen Rechtslage argwnentiert worden war. Auch wenn die in Frage stehenden Bestimmungen in ihrem wesentlichen materiellen Gehalt durch die Mehrwertsteuer-Richtlinie vorherbestimmt und somit von deren "immunite juridictionelle" mitumfaßt waren, so war der Gesetzgeber beim Erlaß des Umsetzungsaktes doch selbstverständlich nicht der Beachtung nationaler Verfahrensregeln enthoben; insoweit macht die Richtlinie dem Mitgliedstaat ja (im Regelfall) keine Vorgaben. Eine nur auf die Verfahrensebene bezogene Kon121

FN. 55.

In dieser Entscheidung ging es neben der Umsetzung der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie (Erwägungsgründe 9 - 12) auch noch um die staatliche Kapitalbeteiligung an dem Flugzeughersteller Dassault. 122

123 Seit der Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom ll. 8. 1960, Nr. 60 - 8 DC, Rec. 25 steht fest, daß im Normenkontrollverfahren gemäß Art. 61 auch die Einhaltung der Vorschriften von Organgesetzen geprüft werden kann. Ob dies auch fiir das Verfahren gemäß Art. 54 gilt, ist nicht ganz unumstritten; vgl. F. Luchaire (FN. 17), S. 411 ff.; R. Abraham (FN. 13), S. 49 ff.

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

133

trolle bewegt sich demnach nicht im europarechtlich determinierten Bereich. Die gerichtliche Prüfung des Umsetzungsgesetzes auf seine Vereinbarkeit mit parlamentarischem Verfahrensrecht konnte die im Hintergrund stehende Mehrwertsteuer-Richtlinie nicht tangieren und warf folglich keine spezifisch europaverfassungsrechtlichen Probleme aufl 24 •

fl) Alkoholabgaben-Entscheidung (1980) 125 Bei dem Verfahren zum Haushaltsgesetz 1981 war ein Fall der Anpassung nationalen Rechts unmittelbar an primärrechtliche europäische Normen vor den Conseil Constitutionnel gelangt. In dem Urteil des Gerichts vom 30. 12. 1980 finden sich indes, entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung, keine Belege filr einen Übergriff der Prüfung auf die europarechtlich determinierten Teile des vorgelegten Gesetzes. 124 Dementsprechend finden sich in der Literatur zumeist auch keine diesbezüglichen Erörterungen; vgl. zB die Urteilsanmerkung von L. Philip (FN. 68), S. 479 f. Eine der wenigen Ausnahme bildet P Gaia (FN. 13), S. 92 f., 94 ff. Nach ihm zog der Conseil Constitutionnel dadurch, daß er sich auf eine Prüfung des Verfahrens einließ, nicht die volle Konsequenz aus dem europarechtlichen Hintergrund des Gesetzes. Gaia ordnet die Mehrwertsteuer-Entscheidung daher der "contröle a posteriori de Ia constitutionnalite des mesures nationales d'application du droit communautaire" zu und faßt sie als "remise en cause partielle" des Prinzips der "incontestabilite" auf. Dies verkennt den beschränkten Programmiergehalt von Richtlinien. Wenn die mitgliedstaatliche Verfassung bzw. verfassungsergänzende Normen vom Typ einer "loi organique" die Umsetzung der Richtlinie dem nationalen Kompetenz- und Verfahrensrecht unterwerfen - und dessen Einhaltung der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung eröffnen - , stellt dies den materiellen Gehalt der Richtlinie nicht in Frage und bewegt sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle im nicht - determinierten Bereich. An dieser Kontrolle ist weder europarechtlich noch unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der "incontestabilite" etwas zu beanstanden. Von daher besteht auch kein Anlaß, eine "difference de raisonnement" zwischen der Mehrwertsteuer- und den Isogklukose-Entscheidungen von 1977 zu konstatieren (so Gaia aufS. 93). Wenn der Conseil Constitutionnel in den letzteren nicht die Einhaltung von Art. 34 der Verfassung (parlamentsvorbehaltene Materien) geprüft hat, dann wegen des Verordnungscharakters der in Frage stehenden europarechtlichen Bestimmungen. Da europäische Verordnungen im Außenverhältnis zum Bürger verbindlich und unmittelbar anwendbar sind und das Parlament damit per definitionem bereits "entmachtet" ist, besitzt die nationale Umsetzungsaktivität - so sie überhaupt vonnöten ist - nur eine untergeordnete Bedeutung. Aus Sicht der Verfassung bestehen daher keine Bedenken gegen ihre Entbindung vom innerstaatlichen Kompetenz- und Verfahrensrecht. Ein Vergleich beider Entscheidungen kann somit keine unterschiedliche Handhabung des Prinzips der "incontestabilite" belegen. Wie hier J. Rideau (FN. 13), S. 278. 125

FN. 56.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Der dem Conseil Constitutionnel vorgelegte Art. 13 des Haushaltsgesetzes 1981 126 sah eine Erhöhung indirekter Abgaben auf bestimmte alkoholische Getränke vor. Zu dieser Erhöhung hatte sich das Parlament infolge einer Verurteilung Frankreichs gemäß Art. 169 EWGV durch den EuGH veranlaßt gesehen. Der EuGH 127 hatte das bisherige Abgabensystem ftir Branntweine als Verstoß gegen Art. 95 EWGV eingestuft, weil es einige Sorten typischerweise ausländischer Herkunft proportional deutlich höher belastete als traditionell französische Sorten. In Absatz 5 von Art. 13 des Haushaltsgesetzes wurde eine Einschränkung des Rückerstattungsanspruches ftir die bisher zu Unrecht erhobenen Abgaben vorgenommen (keine Rückerstattung ftir den Fall, daß die Abgabe auf die Käufer preislich abgewälzt worden ist). Diese Einschränkung sollte auch gegenüber solchen Personen gelten, die bereits vor Erlaß des Gesetzes Rückerstattungsanträge gestellt hatten. Hierin erblickten die Antragsteller 128 einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 8 der Menschenrechtserklärung von 1789. Andererseits rügten sie (bezüglich der Gesamtregelung des Art. 13) eine Verletzung der Gegenseitigkeitsklausel in Art. 55 der Verfassung; zur Begründung verwiesen sie insoweit auf fortdauernd diskriminierende Praktiken anderer Mitgliedstaaten. Das letztgenannte Vorbringen war von vorneherein aussichtslos. Der Conseil Constitutionnel hatte bereits 1975 im Schwangerschaftsurteil entschieden, daß Art. 55 als Rangregel lediglich die innerstaatliche Anwendbarkeit internationaler Normen betreffe, als Ansatz zur Verfassungskontrolle von nationalen Umsetzungsgesetzen dagegen ausscheide 129• Er konnte sich dementsprechend jetzt mit der kurzen Feststellung begnügen, "que Ia regle de reciprocite posee a l'article 55 de Ia Constitution, si eile affecte Ia superiorite des traites ou accords sur !es lois, n'est pas une condition de Ia conformite des lois a Ia Constitution" (6. Erwägungsgrund) 130. Von größtem Interesse mußte dagegen die Antwort des Conseil Constitutionnel auf den Einwand des Verstoßes gegen Art. 8 der Menschenrechtserklärung 126 Zur Prüfung vorgelegt waren auch einige andere Vorschriften des Gesetzes, die indes keinen Zusammenhang mit europäischem Recht aufwiesen. Dem Art. 13 gelten die Erwägungsgründe 3 - 8 der Entscheidung. 127 EuGHE 1980, S. 347 ff. (RS 168 I 78) - Kommission ./. Frankreich. 128

Ihr Standpunkt ist in den Erwägungsgründen 4 und 7 wiedergegeben.

Entscheidung vom 15. I. 1975- No. 74- 54 DC, Rec. 19 (siehe oben im ersten Kapitel unter IV., I.). 129

130 "daß die Erftlllung des Gegenseitigkeitsvorbehalts aus Art. 55, auch wenn sie die rangmäßige Überlegenheit der Verträge oder Abkommen gegenüber den Gesetzen berührt, keine Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bildet".

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

135

sein. Dieser Einwand konfrontierte ein zur Anpassung an eine europäische Primärnorm ergangenes Gesetz mit einer nationalen Grundrechtsposition und zielte somit auf den Kern der hier erörterten Problematik der Kontrollreichweite gegenüber Gemeinschaftsakten bzw. nationalen Akten mit Gemeinschaftsbezug. Der Conseil Constitutionnel prüfte ihn in den Erwägungsgünden 7 und 8 sachlich durch, kam allerdings zu einem negativen Ergebnis: Die Einschränkung des Rückerstattungsanspruchs "n'est pas relative au droit penal, seul conceme par l'article 8 de la Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen et n'est, des lors, pas contraire au principe de non-retroactivite pose par cet article" 131 • Das Vorbringen der Antragsteller wurde also mit einem aus dem nationalen Recht bezogenen Sachargument zurückgewiesen: Die in Frage stehende Materie gehöre nicht zum Strafrecht, folglich könne sie gegen das nur im Strafrecht geltende Verbot der Rückwirkung gern. Art. 8 der Menschenrechtserklärung nicht verstoßen - was den Schluß zuließ, daß im Falle eines strafrechtlichen Charakters der rückwirkenden Regelung diese ftlr verfassungswidrig erklärt worden wäre 132 • Während die zeitgenössischen Kommentierungen der Entscheidung sich hierzu nicht weiter äußertenm, werten spätere Beiträge dieses Vorgehen des Gerichts als eine das Prinzip der "incontestabilite" durchbrechende Kontrolle der dem Gesetz zugrundeliegenden europäischen Normen auf ihre Vereinbarkeil mit einer französischen Verfassungsvorschrift 134 • Der Conseil Constitutionnel habe außer acht gelassen, daß das Gesetz lediglich die Konsequenz aus der vom EuGH festgestellten Unvereinbarkeit der bisherigen nationalen Rechtslage mit Art. 95 EGWV ziehe; der - im Fall nicht eingetretene - Ausspruch eines Verstoßes gegen französisches Verfassungrecht "aurait constitue un manquement a l'autorite des decisions de la Cour et, a travers eile, a l'article 95 du traite CEE"IJS. Daß diese Kritik angebracht ist, muß indes bezweifelt werden. Gewiß: Das Gericht hatte ein Gesetz, welches das nationale Recht dem europäischen Primärrecht anpaßte, sachlich durchgeprüft. Bei näherer Betrachtung zeigt sich 131 "ist nicht dem Strafrecht zuzuordnen, das alleine von Art. 8 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung erfaßt wird, und widerspricht folglich nicht dem Grundsatz des Rückwirkungsverbots aus diesem Artikel". 132 J. Rideau (FN. 13), S. 278. 133 E. Decaux, La decision du Conseil constitutionnel du 30 decembre 1980, RGDIP 1981, S. 60 I ff.; L. Phi/ip, La decision du 30 decembre 1980 relative a Ia loi des finances pour 1981, Le contentieux electoral de 1981, RDP 1982, S. 127 ff. 134 M. Fromont (FN. 32), S. 238; J. Rideau (FN. 13), S. 278. Etwas zurückhaltender L. Dubouis (FN. 76), S. 210 ("vraisemblable"). 135 "hätte eine Verletzung der Entscheidungen des [Europäischen] Gerichtshofs und damit zugleich des Art. 95 des EWG-Vertrages dargestellt"; J. Rideau (FN. 13), S. 278.

136

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

jedoch, daß diese Prüfung einem Gesetzesteil galt, der gemeinschaftsrechtlich gar nicht determiniert war. Die EinschränkWlg des Rückerstattungsanspruchs und allein an diesen, nicht auch an die vom EuGH geforderte Anhebung der Abgaben war ja, in Gestalt von Art. 8 der Menschenrechtserklärung, die Meßlatte nationalen Verfassungsrechts angelegt worden 136 - war durch Art. 95 EWGV nicht gefordert, ebensowenig durch irgendeine andere Gemeinschaftsrechtsnorm. Auch das Urteil des EuGH enthielt keine diesbezüglichen Aussagen137. Im Gegenteil: Unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten war diese Einschränkung sogar nicht Wlbedenklich 138, so daß ihre Aufhebung durch den Conseil Constitutionnel das innerstaatliche Recht eher wieder näher an die vertraglichen Vorgaben herangefiihrt, jedenfalls aber Art. 95 EWGV nicht verletzt hätte. Anders als 1970 und 1976 lag damit nicht die Konstellation vor, daß das Gericht eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift auf ihre Vereinbarkelt mit dem nationalen Verfassungsrecht geprüft hätte. Weder aus europarechtlicher Sicht noch unter dem Blickwinkel des Prinzips der "incontestabilite" konnten sich folglich gegen das Vorgehen des Conseil Constitutionnel Bedenken erheben.

gg) EntscheidWlg zum Öffentlichen Dienst ( 1991 ) 139 Etwas über zehn Jahre später gelangte zum zweiten Mal ein Fall der Anpassung nationalen Rechts an primärrechtliche Vorgaben vor den Conseil Constitutionnel. Bei seiner Entscheidung vom 23. 7. 1991 lag dem Conseil Constitutionnel ein Antrag vor, der sich gegen die Öffimng des öffentlichen Dienstes fiir 136 Die Ausführungen des Gerichts zu Art. 55 konnten nicht als Vomahme einer Verfassungskontrolle des europäischen Rechts angesehen werden. Der Conseil stellte in ihnen lediglich klar, daß insoweit von vorneherein keine Sachprüfung vorgenommen werden könne, da dem Gericht hier die Prüfungszuständigkeit fehle. Eine solche Aussage verletzt nicht die "immunite juridictionelle" europäischer Normen. Die zitierten Autoren beziehen sich im übrigen auch - bis auf Dubouis, der das Urteil nur mit einem Satz streift - ausdrücklich auf die gerichtliche Prüfung einer Verletzung von Art. 8 der Menschenrechtserklärung. 137

Dies hebt auch P Gaia (FN. 13), S. 94, FN. 199 hervor.

EuGHE 1980, S. 501 ff. (RS 68 I 79)- Just (diese Entscheidung erging am selben Tag wie die oben [FN. 127] genannte Entscheidung zum französischen Abgabenrecht) hatte die Einschränkung von Rückerstattungsausschlüssen nur unter der Bedingung zugelassen, daß hiermit der Anspruchsteller nicht ungünstiger gestellt werde als in vergleichbaren innerstaatlichen Konstellationen und daß hierdurch die Realisierung des gemeinschaftsrechtlichen Anspruchs nicht "praktisch unmöglich" gemacht werde. 138

139

FN. 57.

111. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

137

Ausländer wandte. Im Zuge einer Novellierung des Gesetzes vom 13. Juli 1983 über die "droits et obligations des fonctionnaires" hatte der französische Gesetzgeber diesem Gesetz einen Artikel 5 (bis) eingefllgt, der in seinem ersten Absatz festlegte, daß "!es ressortissants des Etats membres de Ia Communaute economique europeenne autres que Ia France ont acces, dans les conditions prevues au statut general, aux corps, cadres d'emplois et emplois dont les attributions soit sont separables de l'exercise de Ia souverainete, soit ne comportent aucune participation directe ou indirecte l'exercise des prerogatives de puissance publique de !'Etat ou des autres collectivites publiques'" 40 . Hiermit sollte das öffentliche Dienstrecht an die vertraglich gewährleistete Arbeitnehmerfeiheit, insbesondere an die restriktive Interpretation von Art. 48 Abs. 4 EWGV durch die Rechtsprechung des EuGH, angepaßt werden. Der EuGH hatte bekanntlich schon früher judiziert, daß lediglich solche Tätigkeiten, die hoheitlichen Charakter besitzen oder auf die "Wahrung der allgemeinen Belange des Staates" gerichtet sind, fUr eigene Staatsangehörige reserviert werden dürfen 141 • 1986 war Frankreich bereits wegen Verstoßes gegen Art. 48 Abs. 4 durch den EuGH verurteilt worden 142 •

a

Die Kläger rügten zum einen, ähnlich wie 1980, den Verstoß gegen Art. 55 der Verfassung, diesmal mit einer etwas anders gelagerten, indes gleichfalls gänzlich aussichtslosen Begründung 143 • Wie 1980 verweigerte der Conseil Con140 "die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten neben Frankreich haben unter den im allgemeinen Statut aufgestellten Bedingungen Zugang zu den 'corps', 'cadres d'emplois' und 'emplois', soweit zu deren Zuständigkeiten weder die Ausübung souveränitätsrelevanter Befugnisse noch die direkte oder indirekte Teilhabe an der Ausübung hoheitlicher Gewalt des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gehört". Die einzelnen Absätze des neuen Art. 5 (bis) sind wiedergegeben im 2. Erwägungsgrund der Entscheidung des Conseil Constitutionnel. 141 EuGHE 1982, S. 1845 ff. (RS 149 I 79) - Kommission ./. Belgien. Die bis heute streitige Frage, ob diese Kriterien kumulativ vorliegen müssen, kann hier dahingestellt bleiben. 142 EuGHE 1986, S. 1725 ff. (RS 307 I 84)- Kommission./. Frankreich. Das Urteil richtete sich gegen Beschäftigungsbeschränkungen fiir EG-Ausländer im Bereich der Krankenpflege. 143 Die Kläger hielten Art. 5 (bis) flir europarechtswidrig, da der EWG-Vertrag die öffentliche Verwaltung vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreiheit ausgenommen habe; dementsprechend verstoße der Gesetzgeber gegen eine in Art. 55 verankerte Pflicht, nur vertragskonforme Regelungen zu erlassen (vgl. die Wiedergabe der klägerischen Argumentation im 4. Erwägungsgrund der Entscheidung). Hier wurde schon verkannt, daß - wie von Art. 5 (bis) berücksichtigt - eben nur bestimmte hoheitliche Kernbereiche von Art. 48 Abs. 4 erfaßt werden, wobei selbst diese Ausnahmen aus europarechtlicher Sicht nur ein "Dürfen", nicht aber ein "Müssen" darstellen; öffnete ein Mitgliedstaat freiwillig den gesamten öffentlichen Dienst flir EG-Ausländer, wäre dies nicht als europarechtswidrig zu beanstanden. Letztlich ging es den Klägern hier wohl nicht um die Sache, sondern nur darum, dem Conseil Constitutionnel eine wenigstens

138

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

stitutionnel die Erschließung des Art. 55 zur Vornahme einer Normenkontrolle (5. Erwägungsgrund), wenn auch mit dem leicht nebulösen Zusatz, ilun verbleibe die Aufgabe "de s'assurer que Ia loi respecte le champ d'application de l'article 55" 144 • Im hiesigen Zusammenhang interessanter ist die zweite Angriffslinie der Klage. Die Antragsteller waren der Auffassung, die Verfassung reserviere in Art. 6 der (durch die Präambel in die Verfassung einbezogenen) Menschenrechtserklärung von 1789 den Zugang zum öffentlichen Dienst französischen Staatsangehörigen, jedenfalls aber dürften nicht solche Funktionen Ausländern übertragen werden, die "interessent Ia souverainete de Ia Nation" 145 • -Dies war wiederum eine Argumentation, die ein nationales Gesetz europarechtlichen Hintergrunds direkt mit dem Vorhalt einer materiellen Verfassungsnorm konfrontierte 146• Der Conseil Constitutionnel wies auch dieses Vorbringen zurück. Dabei stUtzte er sich zur Klageabweisung aber ausschließlich auf innerstaatliches Recht. Im 8. Erwägungsgrund hielt er den Antragstellern entgegen, daß Art. 6 der Menschenrechtserklärung nur Zugangsgleichheit zum öffentlichen Dienst garantiere, hingegen kein Inländerprivileg aufstelle 147 • Im II. Erwägungsgrund fiihrte das Gericht aus, wegen der im neuen Art. 5 (bis) vorgesehenen Beschränkung der fiir Ausländer zugänglichen Ämter auf souveränitätsirrelevante

verbale Aufgabe der Rechtsprechung vom 15. 1. 1975 (Absage an Vertragskontrolle von Gesetzen auf der Basis des Art. 55) zu entlocken; vgl. L. Dubouis, L'ouverture de Ia fonction publique aux ressortissants des autres Etats membres de Ia Communaute euro penne, Je legislateur entre juge communautaire et juge constitutionnel, RFDA 1991, S. 903 ff., 907. 144 "sich zu vergewissern, daß das Gesetz [grundsätzlich] den Anwendungsbereich von Art. 55 beachtet"; dies wurde als Hinweis darauf gewertet, daß möglicherweise Gesetze künftig der Kontrolle auf offene und absichtliche Vertragsverletzungen unterliegen; F Luchaire, Le Conseil Constitutionnel et Ia souverainete nationale (III), RDP 1991, S. 1499 ff., 1500; T de Berranger (FN. 13), S. 184. Ob das Gericht hierauf wirklich hinauswollte, ist bis jetzt noch ungeklärt. 145 Vgl. die Wiedergabe dieser Begründung im 6. Erwägungsgrund. 146 P Gaia, Urteilsanmerkung, RFDC 1991, S. 699 ff., 702: dies "etait en fait une maniere de remettre en cause, au travers de Ia loi contestee, Ia compabilite du droit communautaire lui-meme, et notamment de l'art. 48 du traite CEE, au regard de Ia Constitution." 147 Die Bestimmungen dürften nicht "etre interpretees comme reservant aux seuls citoyens l'application du principe qu'elles enoncent"- "dahingehend ausgelegt werden, daß sie die Annwendung dieses Grundsatzes lediglich auf [französische] Bürger beschränken wollen".

III. Kontrollreichweite (Prtifungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

139

Bereiche sei die Möglichkeit einer Verletzung des Prinzips der nationalen Souveränität sachlich ausgeschlossen 148 • Daß Art. 5 (bis) -jedenfalls in den hier wiedergebeneo Teilen - vollständig durch europäisches Primärrecht vorprogrammiert war, wurde vom Conseil Constitutionnel nicht herausgestellt. Hierin lag indes ein Verstoß gegen das Prinzip der "incontestabilite" 149• Dadurch, daß Art. 5 (bis) (anders als Art. 13 Abs. 5 des Haushaltsgesetzes 1981) europarechtlich determiniert war, lediglich die Konsequenzen aus einer vertraglichen Verpflichtung Frankreichs zog, hätte die Frage nach seiner Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung gar nicht mehr gestellt und geprüft werden dürfen. Ähnlich wie in den Entscheidungen von 1970 und 1976 implizierte die vorgenommene Kontrolle anband materieller Verfassungsnormen, daß diese vom Grundsatz her anwendbar waren und im Falle eines Verstoßes gegen sie das vorgelegte Gesetz als verfassungswidrig zu verwerfen gewesen wäre. Dabei hatte sich Frankreich durch den Abschluß des EWG-Vertrages der Möglichkeit beraubt, dem Zugang von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, soweit er durch Art. 48 garantiert wird, noch irgendwelche Einwände verfassungsrechtlicher Art entgegenzuhalten. Die Verfassungskontrolle der entsprechenden nationalen Durchfiihrungsbestimmungen stellte europarechtlich gesprochen - den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und verfassungsrechtlich gesprochen - das Prinzip der "incontestabilite" in Frage.

hh) Maastricht I-Entscheidung (1992Y 49' Fragen nach der Tragweite des Prinzips der "incontestabilite" spielten überraschenderweise auch im ersten Verfahren zur Überprüfung des Maastricht-Vertrages zur Gründung der Europäischen Union eine Rolle - überraschend deshalb, weil dieses Verfahren auf eine gewöhnliche Präventivkontrolle eines noch nicht in Kraft getretenen, neuen "engagement international" abzielte und die Gefahr nachträglicher Infragestellung existenter Gemeinschaftsnormen von daher eigentlich ausgeschlossen schien. Daß die Thematik dennoch auch hier auf die Tagesordnung gelangen konnte, war auf eine Entscheidung des Conseil 148 "que se trouve par la-meme exclue taute atteinte aux conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" - "daß hierdurch automatisch jegliche Beeinträchtigung der wesentlichen Bedingungen fiir die Ausübung der nationalen Souveränität ausgeschlossen wird". 149 So auch P Gaia (FN. 146), S. 703; T de Berranger (FN. 13), S. 133. Die Kommentatoren des Urteils äußerten sich zu dieser Frage nicht; L. Dubouis (FN. 143); L. Hamon, Urteilsanmerkung, D 1991, Jur., S. 622 f.; F Luchaire (FN. 144). 149a FN. 18.

140

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Constitutionnel vom 15. I. 1985 150 zurückzufilhren. Das Gericht hatte hierin (in einem Fall ohne europarechtlichen oder völkerrechtlichen Bezug) davon gesprochen, daß "si Ia regu/arite, au regard de Ia Constitution, des termes d 'une foi promu/gee, peut etre uti/ement COntestee Q f'occasion de f'examen des dispositions legislatives qui Ia modifient, Ia completent ou affectent son domaine, il ne saurait en etre de meme lorsqu'il s'agit de Ia simple mise en application d'une teile Ioi" 151 (Herv. v. Verf.). Hiermit wurde, zum ersten Mal in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel, die prinzipielle Möglichkeit der nachträglichen Kontrolle eines bereits in Kraft getretenen und somit nach herkömmlicher französischer Auffassung an sich filr alle Zeiten unangreifbaren Gesetzes eröffuet - nicht im Sinne direkter Prüfung und ggf. Verwerfung des früheren Gesetzes als solchem, sondern durch Prüfung eines späteren Gesetzes auch in denjenigen Bestimmungen, die auf - unangreifbar gewordenen Regelungen des früheren Gesetzes aufbauen und deshalb nach herkömmlicher Lesart ebenfalls jeglicher Kontrolle enthoben waren. Eine solche einredeweise Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit früherer Gesetze anläßtich der Kontrolle von sachlich an sie anknüpfenden späteren Gesetzen war noch 1978 vom Conseil Constitutionnel ausdrücklich abgelehnt worden 152; die Kläger hatten sich damals gegen gesetzliche Bestimmungen, die Verletzungen des Rundfunkmonopols unter Strafe stellten, mit dem Argument gewandt, jenes (seit Jahrzehnten existierende) Rundfunkmonopol verstoße gegen die Verfassung. Einwände dieser Art, so nun die Botschaft der Entscheidung vom 15. I. 1985, würden künftig zulässigerweise erhoben werden können und vom Gericht einer Sachprüfung unterzogen werden 153 • Abgesehen von der Unklarheit, wo die Grenze zwischen einerseits (prüfungsfahigen) Bestimmungen, welche ein früheres Gesetz "modifient, complt!tent ou affectent son domaine", und andererseits einer unprufbaren "mise an application" verlaufen sollte, war allerdings von Anfang an höchst fraglich, ob die Figur der "exception d'inconstitutionnalite" auf die Kontrolle im Bereich internationaler bzw. europäischer Akte übertragbar wäre 154 • Neben dogmatischen Erwägun150

No. 85- 187, Rec. 43.

"die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen eines bereits geltenden Gesetzes bei Prüfung eines [späteren] Gesetzes, welche dieses ändern, ergänzen oder dessen Anwendungsbereich berühren, [ebenfalls] nachgeprüft werden [kann], es sei denn, sie enthalten eine bloße Durchführungsregelung". 151

152

Entscheidung vom 27. 7. 1978- No. 78-96 DC, Rec. 29.

So, mit ausdrücklichem Bezug auf die Konstallation des Rundfunk-Falles von 1978, R. Abraham (FN. 13), S. 55. 154 Zweifelnd R. Abraham (FN. 13), S. 55 f.; P Gaia (FN. 13), S. 74, FN. 159; bejahend dagegen L. Dubouis (FN. 76), S. 210. Eine Festlegung wird vermieden von M. Darmon (FN. 68), S. 236; B. Genevois, Le droit international et le droit communautaire, 153

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

141

gen (Suprematie in Kraft getretener völkerrechtlicher Verträge nach momstischer Auffassung) sprachen dagegen vor allem (im Vergleich zum innerstaatlichen Bereich hier noch gewichtigere) Gesichtspunkte der Rechtssicherheit, im europäischen Kontext dazu noch die Verpflichtung Frankreichs zur Gemeinschaftstreue, die auch nicht mit dem Hinweis auszuräumen war, die Kontrolle im Stile der 1985-er Entscheidung würde den bestehenden "acquis communautaire" formal unangetastet lassen und ihn lediglich in seinem Entwicklungspotential einschnüren 155 • Daß der Conseil Constitutionnel sich offen zu einer Verfahrensweise bekennen würde, deren systematische Durchftlhrung zu unabsehbaren Konsequenzen fiir die Integrationsfähigkeit Frankeichs hätte fiihren müssen, war wenig wahrscheinlich. Einen konkreten Anlaß filr den Conseil Constitutionnel, sich im MaastrichtVerfahren zur Übertragbarkeit der 1985-er Rechtsprechung zu äußern, bot die Fassung des verfahrenseinleitenden Prüfungsantrags des Staatspräsidenten. Dieser zielte, wie das Gericht am Beginn des Entscheidungstextes wiedergab, darauf, "de savoir si, campte tenu des engagements souscrits par Ia France et des modalites de leur entree en vigeur, l'autorisation de ratifier Je traite sur I'Union europeenne signe a Maastricht Je 7 fevrier 1992 doit etre precedee d'une revision de Ia Constitution" 156 (Herv. V. Verf.). - Prüfung des Unionsvertrages unter Berücksichtigung der bereits eingegangenen Verpflichtungen: Das erinnerte an die Konstruktion in der Entscheidung von 1985 und wurde auch allgemein als Wink in diese Richtung, als Aufforderung zur Präzisierung ihrer Tragweite verstanden 157, zumal Äußerungen des Staatspräsidenten bekannt waren, die - aus welchen Motiven auch immer - die Verfassungsmäßigkeit der Römischen Verträge problematisiert hatten 158 .

in: Conseil constitutionnel et Conseil d'Etat, Colloque des 21 et 22 janvier 1988 au Senat, Paris 1988, S. 191 ff., 206;J Rideau (FN. 13), S. 272. 155 Die Figur hätte ja nur bei der Überprüfung neuer Akte Anwendung gefunden und nur deren Inkrafttreten verhindert. /

"feststellen zu lassen, ob der Ermächtigung zur Ratifizierung des in Maastricht am 7. Februar 1992 unterzeichneten Unionsvertrages unter Berücksichtigung der von Frankreich bereits eingegangenen [internationalen] Verpflichtungen und der Modalitäten ihres Inkrafttretens eine Verfassungsänderung vorauszugehen hat". 156

157 P Avril I J Giquel, Urteilsanmerkung, Pouvoirs 62 ( 1992), S. 180 ff., 181 ; F Luchaire, L'Union europeenne et Ia Constitution (I), RDP 1992, S. 589 ff., 590; X. Pretot, La non-conformite a Ia Constitution du traite sur !'Union europeenne, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 327 ff., 336. 158 In einer Fernsehsendung von "TFI" am 15. 12. 1991 hatte Präsident Mitterrand erklärt: "il y a deja eu des transferts de souverainete en 1957 lors de Ia signature du Traite de Rome, mais Ies constituants de 1958... ne s' en sont pas occupes. On vit depuis cette epoque-la avec des dispositions qui ne sont pas constitutionnelles".

142

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Im 5. Erwägungsgrund seiner Entscheidung griff der Conseil Constitutionnel die Formulierung aus dem Prüfungsantrag des Staatspräsidenten auf und widmete ihr sodann die drei nachfolgenden Erwägungsgründe 6 - 8. Betitelt wurde dieser Abschnitt mit den Worten "Sur Je fait que Je traite sur !'Union europeenne modifie !es engagements internationaux anterieurs" 159 , was den Bezug zur Entscheidung von 1985 sprachlich noch deutlicher herausstellte, als es der Antrag des Staatspräsidenten ("compte tenu des engagements souscrits par Ia France") getan hatte. Im 6. Erwägungsgrund stellte der Conseil Constitutionnel fest, daß der Unionsvertrag "porte modification d'engagements internationaux anterieurement souscrits par Ia France et introduits dans son ordre juridique en vertu de l'effet conjuge de lois qui en ont autorise Ia ratification et de leur publication" 160 • Im 7. Erwägungsgrund zitierte das Gericht zum einen Absatz 13 der Präambel von 1946 ("La Republique francaise ... se conforme aux regles de droit international public") und merkte hierzu an, "qu'aux nombre de celles - ci (der Regeln des Völkerrechts - Anm. d. Verf.) figure Ia regle Pacta sunt servanda qui implique que tout traite en vigeur lie les parties et doit etre execute par elles de bonne foi" 161 ; zum anderen referierte es den Wortlaut von Art. 55 der Verfassung. Im 8. Erwägungsgrund schließlich vermerkte es, daß es ihm im Rahmen des Verfahrens gern. Art. 54 der Verfassung obliege "de determiner Ia portee du traite soumis a son examen en fonction des engagements internationaux que ce traite a pour objet de modifier ou completer" 162 • Damit hatte der Conseil Constitutionnel, wie üblich etwas verklausuliert, die Einführung der "exception d'inconstitutionnalite" im Sinne der 85-er Entscheidung in die Verfassungskontrolle internationaler Vereinbarungen zurückgewiesen. Hinter diesen Erwägungsgründen verbarg sich folgende Aussage: Die bisherigen europäischen Verträge seien ratifiziert und veröffentlicht (6. Erwägungsgrund) - also wirksam; fi1r sie gelte daher, über Absatz 13 der Präambel von 1946, die Regel "Pacta sunt servanda" (7. Erwägungsgrund) - dementsprechend seien sie bindend, der einseitigen nationalen Disposition entzogen, nicht mehr revidierbar. Damit verbiete sich jede nachträgliche Prüfung, jedes erneute 159 "Zur Tatsache, daß der Vertrag über die Europäische Union frühere internationale Verpflichtungen ändert". 160 "früher eingegangene internationale Verpflichtungen Frankreichs abändert, die durch die gemeinsame Wirkung der Zustimmungsgesetze und ihrer Veröffentlichung Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden sind". 161 "daß zu diesen Regeln der Grundsatz Pacta sunt servanda gehört, der besagt, daß jeder geltende Vertrag die Parteien bindet und von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen ist". 162 "die Tragweite des seiner Prüfung unterliegenden Vertrages unter Berücksichtigung der internationalen Verpflichtungen zu ermitteln, welche dieser Vertrag ändert oder ergänzt".

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

143

Aufrollen ihrer Verfassungskonfonnität, sei es direkt, sei es indirekt auf dem Umweg über die Kontrolle späterer Änderungsverträge wie dem vorliegenden Unionsvertrag. Eine solche nachträgliche Infragestellung würde das Gebot "Pacta sunt servanda" verletzen; eine Übertragung der innerstaatlich anwendbaren Figur der "exception d'inconstitutionnalite" auf Verträge, die wegen der Rangordnung des Art. 55 einen grundsätzlich anderen Status als gewöhnliche Gesetze besitzen (dies der Sinn der Erwähnung dieser Vorschrift), scheide aus 163 • Der Conseil Constitutionnel hatte hiermit also das Prinzip der "incontestabilite" grundsätzlich bestätigt und es abgelehnt, bei Prüfung der ihm vorgelegten Änderungen des EWG-Vertrages noch einmal dessen Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung zu problematisieren. Etwas unklar bleibt lediglich, welchen Sinn die Bemerkung im letztgenannten 8. Erwägungsgrund besitzt, wonach die Bedeutung des vorgelegten Vertrages anhand der durch ihn geänderten bzw. ergänzten früheren Verträge zu bestimmen sei. Luchaire 164 und Gaia165 sehen sie auf einer Linie mit den vorangehenden Aussagen: Daß der vorliegende Vertrag unter Berücksichtigung der früheren Verträge zu betrachten sei, heiße, daß nur wirklich neue Bestimmungen zu kontrollieren seien; insoweit, als existente Bestimmungen lediglich wiederholt würden, stünde er von vomeherein nicht auf dem verfassungsge163 Wie hier die Mehrzahl der Kommentatoren; P Avri/ I J. Giquel (FN. 157), S. 181; L. Favoreu, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 340 ff., 342; P Gaia (FN. 20), S. 402 ff.;

B. Genevois, Le Traite sur l'Union europeenne et Ia Constitution. A propos de Ia decision du Conseil constitutionnel no. 92 - 308 DC du 9 avril 1992, RFDA 1992, S. 373 ff., 379 ff.; F Luchaire (FN. 157), S. 590 ff.; X Pretot (FN. 157), S. 336 f.; J. Rideau, France, in: J. - C. Masclet I D. Maus (Hg.), Les constitutions nationales I' epreuve de l'Europe, Paris 1993, S. 67 ff., 69 f.; wohl auch J C. Gautron, Apropos de Ia decision du Conseil constitutionnel du 9 avril 1992: Je dit et le non-dit, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 344 ff., 345. Anders nur J. - P Jacque (FN. 20), S. 254 und D. Simon, Le Conseil constitutionnel francais et Ie Traite sur l'Union europeenne, Europe 1992, Heft 5, S. 1 ff., 2. Diese erwogen überhaupt nicht die - doch offensichtliche - Verbindung zu der Entscheidung von 1985, sondern interpretierten die Erwägungsgründe 5 - 8 als Annäherung an die früher vom Conseil Constitutionnel verworfene Position, wonach vorgelegte Verträge auf ihre Konformität mit früheren Verträgen überprüft werden können. Abgesehen davon, daß das Gericht nur neun Monate vorher in seiner Sehengen-Entscheidung (25. 7. 1991 -No. 91 - 294 DC, Rec. 91) Konstruktionen dieser Art eine eindeutige Absage erteilt hatte (60. Erwägungsgrund), muß dieser Auslegung entgegengehalten werden, daß eine Kontrolle internationalen Rechts am Maßstab anderen internationalen Rechts nur dort überhaupt sinnvoll angedacht werden kann, wo Normhierarchisierungen existieren. Im Verhältnis zwischen dem Maastricht-Vertrag und den früheren europäischen Verträgen ist dies augenscheinlich nicht der Fall und dementsprechend war die Vorstellung, der Conseil Constitutionnel habe sich zu diesem Punkt äußern wollen, wenig überzeugend.

a

164

FN. 157, S. 590 ff.

165

FN. 20, S. 405.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

richtlichen Prüfstand. Diese Lesart sah also im achten Erwägungsgrund eine Art Resumee der vorausgegangenen Ausfiihrungen - was ihm einen eigenständigen sachlichen Gehalt absprach und überdies die Frage aufwarf, warum das Gericht hierzu den Begriff des "determiner Ia portee du traite" (Bestimmung der Tragweite, Bedeutung) statt von "examiner", "apprecier Ia conformite a Ia Constitution" verwandt hatte. "Determiner Ia portee" deutet terminologisch weniger auf die Markierung einer Prüfungsbeschränkung hin, als vielmehr in diejenige Richtung, die von Genevois 166 aufgezeigt wird. Danach ist der 8. Erwägungsgrund als Aussage über die Interpretationsmethode des Gerichts zu verstehen: Die Auslegung des Vertrages - und damit die Ermittlung des genauen Bezugsobjekts der Verfassungskontrolle - dürfe sich nicht auf seinen Wortlaut konzentrieren, sondern müsse einbeziehen, in welchen Kontext er hineingestellt werde; erst hieraus könne seine wahre "portee" ermittelt werden 167 •

2. Regulierung der Kontrollreichweite durch die Rechtskraft früherer Entscheidungen (Maastricht II-Entscheidung von 1992)

Auch die zweite, am 2. September 1992 ergangene Entscheidung 168 zum Maastricht-Vertrag - mit der inzwischen geänderten Verfassung als neuem Prüfungsmaßstab - erwies sich als aufschlußreich fiir die Frage der Kontrollreichweite: Sie umriß im einzelnen die Grenzen, innerhalb derer die Prüfung sich in der (bis dahin unerprobten) Konstellation eines zweiten Kontrolldurchgangs zu bewegen hat. Die vorlegenden Senatoren hatten zum einen geltend gemacht, daß die durchgefilhrte Verfassungsänderung noch nicht ausreichend gewesen sei; einige der im Frühjahr judizierten Widersprüche zwischen Vertrag und Verfassung bestünden trotz der neu eingefUgten Vorschriften fort. Dies war ein zulässiger, wenn auch letztlich sachlich unbegründeter Einwand. Bedenken im Hinblick auf das Prinzip der "incontestabilite" konnten sich hier nicht erheben. Der Vertrag über die Europäische Union war noch nicht in Kraft getreten, auch hatte Frankreich ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht ratifiziert. Die Möglichkeit zur Kontrolle darüber, ob dem gemäß Art. 54 der Verfassung ergangenen Spruch ausreichend Folge geleistet wurde, ist - soweit vor Ratifizierung bzw. Ermächti166

FN. 163, S. 381.

Genevois fuhrt beispielhaft an, die verfassungsrechtliche Beurteilung einer Kompetenzübertragung müsse die aus den bisherigen Verträgen vorgegebenen Vorschriften über Mehrheitsentscheidungen im Rat in Rechnung stellen. Ähnlich T de Berranger (FN. 13), S. 132. 167

168

FN. 18.

III. Kontrollreichweite (Prüfungsvorbehalte I Gemeinschaftsrecht)

145

gung hierzu durchgefiihrt - von dieser Vorschrift ohne weiteres gedeckt. Eine entsprechende Einschränkung ist weder dem Text entnehmbar, noch aus der Natur des Kontrollverfahrens abzuleiten. Würde man Art. 54 auf eine einmalige Anwendung beschränken, bliebe keine Handhabe, die Nichtbefolgung eines vom Conseil Constitutionnel erlassenen Negativbescheids zu sanktionieren. Eine Zweitkontrolle steht daher nicht im Widerspruch zu dieser Vorschrift, sondern ist im Gegenteil ein Mittel, sie überhaupt erst zu effektuieren. Der Conseil Constitutionnel bereitete dem klägerischen Vorbringen insoweit auch keinerlei Hindernisse. Er erklärte es im 5. Erwägungsgrund ausdrücklich filr zulässig: Für eine unbeschränkte "Zweitkontrolle" bleibe Raum "s'il apparait que Ia Constitution, une fois revisee, demeure Contraire a une Oll plusieurs stipulations du traite" 169 (Herv. v. Verf.). Darüber hinaus, so das Gericht, könne eine Kontrolle auch dann stattfmden, wenn "est insere dans Ia Constitution une disposition nouvelle qui a pour effet de creer une incompabilite avec une ou des stipulations du traite dont s'agit" 170• Mit dieser Hypothese der "nouvelle contrariete" 171 ist der Fall des bewußt vertragsvereitelnden Parlaments anvisiert, das willentlich neue Widersprüche schafft, um den Vertrag so zum Scheitern zu bringen. Diese Hypothese spielte im konkreten Verfahren naturgemäß keine Rolle 172 • Über diese beiden Fallgruppen hinaus erteilte der Conseil hingegen der Zweitkontrolle eine Absage: "Ia procedure de contröle de contrariete a Ia Constitution de cet engagement...ne peut etre a nouveau mise en oeuvre, sauf a meconnaitre l'autorite qui s'attache a Ia decision du Conseil constitutionnel" 173 (Herv. v. Verf.). Dies zielte gegen den von den Antragstellern unternommenen Versuch, auch bereits in der ersten Entscheidung filr unbedenklich erklärten Bestimmungen des Maastricht-Vertrages erneut ihre Verfassungsmäßigkeit zu bestreiten und das Gericht auf diese Weise zur Prüfungswiederholung zu veranlassen. Der Conseil Constitutionnel verweigerte sich diesem Vorstoß und hielt ihm vor, daß er "se heurte a Ia chose jugee" 174 . Dabei bezog er sich sowohl 169 "wenn die Verfassungtrotz der Änderungen unvereinbar mit einer oder mehreren Vertragsvorschriften bleibt". 170 "in die Verfassung eine neue Bestimmung eingefUgt worden ist, welche zu einer (neuen] Unvereinbarkeit mit dem Vertrag fUhrt". 171 P Gaia, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 729 ff., 732. 172 F Luchaire, L'Union europeenne et Ia Constitution (IV), RDP 1992, S. 1585 ff., 1590.

173 "das Verfahren der Verfassungskontrolle dieser Verpflichtung [kann ansonsten] nicht erneut in Gang gesetzt werden, ohne die Rechtskraft der Entscheidung des Conseil Constitutionnel zu durchbrechen". 174 "die Rechtskraft [der ersten Entscheidung] mißachtet"; 18. und 43. Erwägunggrund. Ähnliche Formulierung im 36. und 41. Erwägungsgrund.

10 Hecker

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

auf im Frühjahr ausdrücklich und detailliert untersuchte Vertragsbestimmungen, als auch auf solche, deren Vereinbarkeil mit der Verfassung damals nur indirekt, nämlich durch den (vorletzten) 51. Erwägungsgrund zum Ausdruck gebracht worden war, welcher sonstige Bestimmungen ohne weitere Prüfung pauschal fiir vereinbar erklärte ("... aucune des autres diposition...n'est contraire ...") 175 • Damit ist klargestellt, daß die Zweitkontrolle kein Mittel zum erneuten vollständigen Aufrollen der Verfassungsmäßigkeit des vorliegenden Vertrages darstellt, sondern daß Prüfungsgegenstand lediglich die Frage ist, ob die Verfassungsänderung in dem nach der ersten Entscheidung notwendig gewordenen Ausmaß vorgenommen wurde. Der Conseil Constitutionnel darf also erneut prüfen, "mais il ne peut le faire que dans les limites des modifications apportees a Ia Constitution" 176• Der Bereich außerhalb dieser Grenzen bleibt ihm versperrt - nicht als Konsequenz aus dem Prinzip der "incontestabilite", sondern aufgrund der Figur der verfassungsgerichtlichen Rechtskraft, die somit von einer zweiten Seite her die Kontrollreichweite gegenüber vor den Conseil Constitutionnel gelangten internationalen Akten begrenzt 177 .

IV. Bewertung Der Conseil Constitutionnel hat im Verlaufe seiner Europajudikatur die von der Verfassung eröffueten Kontrollmöglichkeiten extensiv ausgeschöpft und teilweise ausgedehnt. Der allgemeine Aufschwung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der V. Republik macht sich insofern auch hier bemerkbar. Schon in der Erschließung von Art. 61 fiir die Prüfung von Zustimmungsgesetzen zu Verträgen trat ein sehr selbstbewußter Umgang mit den verfassungstextlichen Vorgaben zutage 178 • Vieles spricht dafiir, daß der Verfassungsgeber von 1958 die in Art. 54 getroffene Zuweisung von Kontrollkompetenzen

175 Ein Beispiel ftlr ersteres bietet der Art. I 00 c EGV betreffende 41. Erwägungsgrund der Maastricht II-Entscheidung; Beispiele ftlr letzteresbieten die Erwägungsgründe 42 und 43. Näher B. Genevois, Le Traite sur !' Union europeenne et Ia Constitution revisee. A propos de Ia decision du Conseil constitutionnel no. 92 - 312 DC du 2 septerobre 1992, RFDA 1992, S. 938 ff., 943 f. 176 "aber er darf dies nur innerhalb der Grenzen tun, die durch die Verfassungsänderung gesetzt wurden"; F Luchaire (FN. 172), S. 1590. 171 V gl. P Gaia (FN. 171 ), S. 731: auch die Figur der Rechtskraft "se presente ... comme un moyen de Iimitation du recours a l' article 54".

178 Vgl. auch V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 21), S. 227 ("audacieuse") und P Gaia (FN. 13), S. 32 ("tres liberale").

IV. Bewertung

147

im internationalen Bereich als abschließende Regelung verstanden hatte 179• Mit seinen Entscheidungen von 1976 und 1980 setzte sich das Gericht insbesondere über den in Art. 54 zum damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Ausschluß der Parlamentarier vom Kreis der anrufungsberechtigten Organe hinweg (den der verfassungsändernde Gesetzgeber 1974 bei EinfUhrung der parlamentarischen Anrufungsberechtigung im Rahmen des Art. 61 nicht korrigiert hatte). Der Conseil Constitutionnel zeigte desweiteren keine Scheu, Art. 61 auch fiir die Prüfung des neuartigen Typs der europabezogenen Umsetzungsgesetze heranzuziehen. Ein solcher Einsatz der Vorschrift lag gewiß gleichfalls außerhalb des Erwartungshorizonts des Verfassungsgebers, der Art. 61 filr den rein innerstaatlichen Raum konzipiert und als außenpolitische Rolle des Parlaments vor allem diejenige des Zustimmungsakteurs und weniger diejenige eines Umsetzungsakteurs im Blick gehabt haben dürfte. Auch hier offenbarte das Gericht den Wille~, die im verfassungsgerichtlichen Kontrollsystem schlummernden Prüfungsreserven weitestmöglich, notfalls über die Intentionen der Verfassungsgeber hinaus zu aktivieren, um so keinerlei potentielle Prüfungsräume verschenken zu müssen. Noch bemerkenswerter sind die in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel bei drei Gelegenheiten - 1970, 1976, 1991 - aufgetretenen Durchbrechungen des Prinzips der "incontestabilite'' in Geltung befindlicher internationaler bzw. gemeinschaftlicher Normen"0• Der vom Grundsatz her gemeinschaftsrechtsfreundlichen Anlage des französischen Verfassungskontrollsystems zum Trotz schälten sich hier Ansätze einer Prüfung bestehender Gemeinschaftsnormen am Maßstab der nationalen Verfassung heraus. In den Fällen von 1970 und 1976 war die Durchbrechung des Prinzips der "incontestabilite" letztlich bereits 179 C. Blumann (FN. 13), S. 549 ff.; J. de Villiers, Norme constitutionnelle et norme internationale, Rev. adm.1981, S. 143 ff., 143 f.; kritisch auch R. Abraham (FN. 13), S. 50 f. 180 Von den neueren französischen Gesamtbetrachtungen zur Europajudikatur des Conseil Constitutionnel kommen zum seihen Ergebnis L. Dubouis (FN. 76), S. 209 ("Le contröle a priori de Ia constitutionnalite des engagements internationaux se double en realite de possibilites de contröles exerces a posteriori que le Conseil n'hesite pas en ouvre"), J. Rideau (FN. 13), S. 268 ("potentialites de contröle posterieur indirect des engagements internationaux en vigeur a travers le contröle anterieur des actes internationaux ou nationaux d'app1ication"). Anders hingegen M. Darmon (FN. 68), S. 235 ("le Conseil estime que Ia question de constitutionnalite d' engagements communautaires regulierement ratifies ou approuves n'a plus a 8tre pose. Il considere ensuite qu'elle na pas davantage a 1'8tre a l'egard des normes edictes par les instances communautaires"). P Gaia (FN. 13), S. 96 kommt zu dem Ergebnis, daß "dans son ensemble, le systeme francais ...reste fidele au principe du contröle a priori", gesteht aber "certaines hesitations qui ont pu effectivement creer quelques doutes" ein. T de Berranger (FN. 13), S. 132 f. sieht wie hier in den Entscheidungen von 1970, 1976 und 1991 Durchbrechungen des Prinzips der "incontestabilite".

148

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

dadurch vorprogrammiert, daß das Gericht den Einnahmenersetzungsbeschluß und den Direktwahlakt als "engagements intemationaux" im Sinne von Art. 54 einstufte, statt sie als bloße Durchftlhrungsakte eines bereits konsentierten Vertragsprogramms wie gewöhnliches Sekundärrecht vom Anwendungsbereich dieser Vorschrift von vomeherein auszunehmen. Hierdurch setzte es sich selbst unter den Zwang, die Akte als Vertragsänderungen zu behandeln und einer sich als präventiv ausgebenden Verfassungskontrolle zu unterziehen. Dies beschwor nicht nur automatisch Übergriffe auf die "immunite juridictionelle" der den Akten zugrundeliegenden Vertragsnormen herauf, sondern verschaffte dem Conseil im übrigen auch die Gelegenheit, sich zum Umfang der verfassungsrechtlichen Übertragungsschranken zu äußern, also zur konstitutionellen Integrationsresistenz der "Entwicklungsebene" zu judizieren. In der Entscheidung von 1991 war der "Sprung" auf die "Entwicklungsebene" - den eine Durchbrechung des Prinzips der "incontestabilite" stets mit sich bringt 181 - weniger gravierend, weil die sachliche Begrenztheit des Entscheidungsgegenstandes eine nennenswerte Entfaltung des gerichtlichen Übertragungskonzepts ausschloß und das Gericht zudem nur eine sehr summarische Prüfung vornahm. In allen diesen Fällen überging der Conseil Constitutionnel den Umstand, daß - wegen des Prinzips der "incontestabilite" - die jeweils geprüften Gemeinschaftsvorschriften (Art. 201, 138, 48 Abs. 4 EWGV) durch ihr Inkrafttreten sich in einem Status verfassungsjustizieller Immunität befanden und die Schablone innerstaatlicher Verfassungsnormen aus französischer verfassungsrechtlicher Sicht folglich nicht mehr über sie gelegt werden durfte. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht verstieß die Prüfung gegen das Prinzip des Anwendungsvorrangs von Gemeinschaftsnormen, wonach gegen die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht keinerlei innerstaatliche Vorschriften, auch nicht solche der Verfassung, geltend gemacht werden dürfen 182• Strukturell nahm der Conseil Constitutionnel jeweils eine materielle Prüfung vor, d.h. er untersuchte, ob die Gemeinschaftsregel inhaltlich mit den Vorschriften der französischen Verfassung übereinstimmt. Eine formelle Prüfung, ob der fragliche Gemeinschaftsakt aus dem bei Vertragsschluß konsentierten Integrationsprogramm "ausschert" (hierbei wäre aus französischer Sicht statt der inhaltlichen Übereinstimmung mit den nationalen Verfassungsvorschriften entscheidend, ob insoweit der Übertra181 Wenn das Gericht prüft, ob eine existente Norm des Gemeinschaftsrechts mit Vorschriften der nationalen Verfassung vereinbar ist, muß es dieselben Maßstäbe zugrundelegen, die es bei einer präventiven Übertragungskontrolle verwenden würde. Dies wurde in den Entscheidungen von 1970, 1976 und 1991 darin deutlich, daß vom Conseil das Prinzip der nationalen Souveränität - das der Integrationsermächtigung aus Absatz 14 der Verfassung von 1946 Schranken setzt - zum Ausgangspunkt seiner Prüfung gemacht wurde. 182 EuGHE 1970, S. 1125 ff. (RS 11 I 10) - Internationale Handelsgesellschaft.

IV. Bewertung

149

gungsgesetzgeber den nationalen Rechtsraum fiir Gemeinschaftsakte geöffnet hat) stand bislang nur einmal, nämlich bei der Isoglukose-Entscheidung aus dem Jahr 1977, als Möglichkeit im Raum, die sich dann allerdings nicht realisierte. Es wäre falsch, das Auftreten dieser Prüfungsvorbehalte in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel als eine Art Ersatz fiir die mit der "Nicolo"Entscheidung endgültig abgebauten Infiltrationshemmnisse aus der Judikatur der einfachen Gerichte zu bewerten. Der Conseil Constitutionnel hat zum einen in keinem der betrachteten Fälle einer systematischen Verfassungskontrolle von Gemeinschaftsnormen offen das Wort geredet, sondern im Gegenteil dem Prinzip ihrer "incontestabilite" verbal stets die Stange gehalten. In der Maastricht I-Entscheidung hat er noch einmal jedem Anflug eines durchgängigen Wiederaufrollens der Verfassungsmäßigkeit des bestehenden "acquis communautaire" eine deutliche Absage erteilt. Hinter seiner Rechtsprechung verbirgt sich, anders als hinter derjenigen des Conseil d'Etat bis 1989 (oder auch der Solange I-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts) keine explizite, dogmatisch begründete Doktrin. Zwar können die Prüfungsvorbehalte angesichts des kommuniqueartigen, jedes Wort sorgfiiltig abwägenden Verlautbarungsstils des Gerichts andererseits auch nicht auf das Konto redaktioneller Nachlässigkeiten gebucht werden. Aber sie sind kein Ausdruck eines regelrecht programmatischen Kalküls. Dies zeigt sich auch darin, daß sie vom Gericht relativ unscheinbar präsentiert wurden: in allen Fällen untersuchte der Conseil die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Gemeinschaftsregeln in einer Weise, die mit keinem Deut die eigentliche Signifikanz der Prüfung preisgab und den Vorgang hierdurch entdramatisierte. Zum zweiten ist es bislang nicht zur VerwerjUng gekommen, sondern im Ergebnis die Verfassungsmäßigkeit der Gemeinschaftsregeln stets bejaht worden. Auch wenn bereits die bloße Prüfung unvereinbar mit der "immunite jurisdictionelle" des Gemeinschaftsrechts war, so besaß sie doch eine andere Qualität als die ausdrückliche Weigerung der Gemeinschaftsrechtsbefolgung nach dem Muster der "Semoules"-Entscheidung. Nicht zuletzt kann hier zugunsten des Conseil Constitutionnel ins Feld gefiihrt werden, daß in einigen Verfahren (namentlich 1970 und 1976) die Durchfiihrung eines verfassungsgerichtlichen Kontrollverfahrens der fraglichen Gemeinschaftsvorhaben deren politische Akzeptanz in Frankreich nachweislich stärkte 183 , so daß die gerichtliche Kontrolle sich im Ergebnis integrationsfördernd auswirkte. Angemessener erscheint es, die vereinzelten Prüfungen von Gemeinschaftsrecht als Manifestation einer vom Gericht beanspruchten ausnahmsweisen

183

Vgl. unten S. 125, 132.

150

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Kontrollreserve fi1r "Notfälle" 184 aufzufassen. Diese Reserve wird vom Gericht gegenüber besonders souveränitätssensiblen Gemeinschaftsakten aktiviert, wo es politisch inopportun wäre, sich mit einem bloßen Hinweis auf die gemeinschaftsrechtlichen faits accomplis zu begnügen 185 • Der "Notfall" ist also in Wahrheit nicht rechtlicher, sondern rechtspolitischer Natur. Es geht nur darum, durch den Nachweis der national-verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit bestimmte Affrrmationsbedürfnisse in der (politischen) Öffentlichkeit, die den Gemeinschaftsakt nicht ungefiltert anzunehmen vermag, zu befriedigen. Die Kontrollreserve ist praktisch eine Begründungs- oder Akzeptanzreserve und erfiillt damit eine ähnliche psychologische Funktion wie das vom Conseil d'Etat weiterhin bevorzugte nationale Vermittlungsmodell fi1r das Einfließen von Gemeinschaftsrecht Wie mit diesem nimmt das Verfassungsgericht, das unbefangener als in anderen Ländern auch von seiner Funktion als "institution politique" her begriffen wird und entsprechenden Umwelterwartungen ausgesetzt ist, auf ideologische Sperren (evtl. auch in eigenen Reihen) gegenüber einer rein supranationalen Entscheidungsbegründung Rücksicht - und dafiir die rechtsdogmatische Anfechtbarkeit dieses Vorgehens pragmatisch in Kauf. Es ist freilich nicht auszuschließen, daß die nationale Kontrollreserve sich auch einmal als VerwerfUngsreserve realisieren kann, d.h. bei wirklichen rechtlichen "Notfällen" genutzt wird, in denen ein Gemeinschaftsakt aus Sicht des Gerichts in unzumutbarer Weise nationalen Verfassungspositionen widerspricht. Die Hemmschwelle gegenüber einer solchen Einsatzart ist durch die Präzedenzfalle von 1970, 1976 und 1991, wo der Vorhalt des nationalen Verfassungsrechts schon einmal eingeübt werden konnte, gewiß herabgesenkt. Praktisch vorstellbar dürfte allerdings der offene Konflikt mit der Gemeinschaft nur bei wirklich gravierenden Eingriffen in interne Verfassungsstrukturen sein, bei denen möglicherweise bereits die gemeinschaftseigene Kontrolle durch den EuGH versagt hatte. Am ehesten vorstellbar ist dies bei Fällen "ausscherender Akte", bei denen nicht so sehr die materielle Vereinbarkeit mit französischem Verfassungsrecht (namentlich den Grundrechten 186) als vielmehr die kompeten184 Von daher ist der Terminologie von L. Dubouis (,,possibilites de contröle) und J. Rideau (,,potentialites de contröle") durchaus zuzustimmen. 185 Dieses Kriterium war in allen drei bisherigen Fällen der Verfassungskontrolle von Gemeinschaftsrecht erfilllt. Im Isoglukosefall von 1977 war es bezeichnenderweise nicht erfiillt. 186 Vgl. aber etwa den Beitrag von A. Meyer- Heine, Le droit constitutionnel francais, instrument de remise en cause de Ia proposition de directive communautaire relative a Ia protection des personnes physiques a l'egard du traitement et de Ia circulation des donnes a caractere personnel, RFDC 1995, S. 637 ff., die potentielle Konflikte zwischen dem Entwurf der gemeinschaftlichen Informationsrichtlinie und der Konzeption des Conseil Constitutionnel eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung skizziert.

IV. Bewertung

151

zielle Deckung durch das vertragliche Primärrecht problematisch ist. Man hat den Eindruck, daß es diese Konstellation ist, die in Frankreich derzeit am kritischsten gesehen wird 187. Eine gewisse Bremse gegenüber dem Anschwellen solcher Konfliktszenarien bildet allerdings die begrenzte Anzahl von verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten (Fehlen von Richtervorlagen und Verfassungsbeschwerden), infolge derer der Conseil Constitutionnel seltener in Berührung zu Gemeinschaftsrecht gelangen kann, als etwa das Bundesverfassungsgericht. Mit nationalem Verfassungsrecht kann ein Gemeinschaftsakt in Frankreich (sieht man von den Beschlüssen gern. Art. 138, 201 EGV ab) nur dann konfrontiert werden, wenn er durch ein innerstaatliches Gesetz umgesetzt wird und damit in den Prüfungsraum des Art. 61 eintritt. Auf die (zahlreichen) Akte, die nicht der Vermittlung durch nationales Gesetzesrecht bedürfen, hat der Conseil Constitutionnel von vomeherein keinen Zugriff. Zum anderen hat mit dem Maastricht I-Verfahren vermutlich die Epoche regelmäßiger Vorlagen der "großen" Vertragsänderungen an den Conseil Constitutionnel begonnen, welche das Gericht in die Lage versetzen, künftige Integrationsschritte präventiv auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu begutachten und damit einige Konflikte bereits im Vorfeld auszuräumen188. Die sich dem folgenden Exkurs über Verfahrensfragen anschließende Untersuchung des Inhalts der bisherigen präventiven Verfassungskontrollen durch den Conseil Constitutionnel - zuvorderst im Maastricht - Verfahren, davor in den (vom Gericht flilschlich als präventive Kontrolle gehandhabten) Verfahren von 1970 und 1976 - wird aufzeigen, daß das Gericht auf der "Ent-

187 Vgl. P Gaia (FN. 60), S. 283 ff., der von verbreiteten Sorgen vor einer schleichenden Verfassungsaushöhlung durch die progressive, sich am Rande einer vertretbaren Vertragsauslegung bewegende Praxis der gemeinschaftlichen Sekundärrechtssetzung berichtet. Der Europaausschuß der Nationalversammlung hat mittlerweile die Einrichtung eines Verfahrens vorgeschlagen, mit dem präventiv die Verfassungsmäßigkeit von Sekundärrechtsentwürfen durch den Conseil Constitutionnel geprüft werden soll, dessen Urteil dann die Regierungsvertreter bei Verhandlung und Abstimmung im Ministerrat bindet (Gaia, ebda., S. 286). 188 Eine präventive Kontrolle des alten EWG-Vertrages hätte vermutlich den verfassungsrechtlichen Bedenken, die 1970 bzw. 1976 gegen die Einnahmenersetzung und die Direktwahl laut wurden, von vorneherein den Boden entzogen. Anders Jagen die Dinge hingegen bei der Anpassung des Beamtenrechts im Jahr 1991. Die verfassungsrechtliche Kritik richtete sich hier nicht gegen die einschlägige Vertragsvorschrift als solche, sondern gegen die spezifische inhaltliche Fassung, die ihr in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gegeben wurde und die in einem präventiven Prüfungsverfahren naturgemäß nicht hätte antizipiert werden können. Das vertragskonkretisierende, dynamische Richterrecht des EuGH dürfte daher auch in Zukunft stärker als die Vertragsvorschriften selbst anflUlig filr a-posteriori-Kontrollen durch den Conseil Constitutionnel sein.

!52

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

wicklungsebene" immer noch bedeutend mehr Integrationsresistenz aufgehäuft hat als auf der bis hierhin betrachteten "Infiltrationsebene".

Exkurs: Verfahrensfragen

Art. 54 und Art. 61 regeln das Verfahrensrecht der Verfassungskontrolle durch den Conseil Constitutionnel nur fragmentarisch. Eine Reihe verfahrensrechtlicher Bestimmungen findet sich in der "loi organique sur Je Conseil constitutionnel" von 1958. Zum Teil entschieden sich Verfahrensfragen auch erst durch die spätere Rechtsprechung des Gerichts. Zweimal, nämlich 1974 und 1992, schaltete sich der verfassungsändernde Gesetzgeber mit verfahrensrechtlichen, genauer: den Kreis der Antragsberechtigten erweiternden Änderungen ein.

I. Antragstellung

a) Antragsberechtigte

Berechtigt zur Einleitung eines Verfahrens nach Art. 54 waren zunächst nur der Staatspräsident, der Premierminister sowie die Präsidenten beider Kammern des Parlaments, also der Nationalversammlung und des Senats (d.h. faktisch die politischen Kammermehrheiten). Dieselben Amtsträger waren auch in Art. 61 aufgeführt, so daß der Kreis der Antragsberechtigten in beiden Prüfungsverfahren identisch war. Dies entsprach auch durchaus der Absicht des Verfassungsgebers. Der Text des ursprünglichen Verfassungsentwurfes enthielt im (späteren) Art. 54 sogar zunächst statt einer gesonderten Aufzählung einen bloßen Verweis auf Art. 58 (den späteren Art. 61): "Si le Conseil constitutionnel, saisi par /'une des autorites enumerees a/'artic/e 58, a declare ..." 189 (Herv. V. Verf.); erst eine rein redaktionell motivierte Intervention des bei der Verfassungsgebung konsultierten Conseil d'Etat fiihrte dazu, die Antragsberechtigten in Art. 54 eigens aufzufuhren 190 •

1K9 190

"Wenn der Conseil auf Antrag einer der in Art. 58 genannten Stellen erklärt hat, ..." L. Favoreu (FN. 11), S. 584.

Exkurs: Verfahrensfragen

153

Die parallele Regelung dieses Punktes durch Art. 54 und Art. 61 endete 1974, als die Antragsberechtigung bei letzterem auf Gruppen von jeweils 60 Abgeordneten oder Senatoren ausgedehnt wurde. Warum die Reform den Art. 54 ausließ, ist nicht genau geklärt191 • Die praktische Auswirkung der von nun ab vorherrschenden Divergenz in der Antragsberechtigung hielt sich freilich in Grenzen. Zum einen war der Typus der gemeinschaftsbezogenen Umsetzungsgesetze ohnehin nur nach Art. 61 vorlagefähig, und zum anderen eröffneten die oben genannten Entscheidungen von 1976 und 1980 das Prüfungsverfahren nach dieser Vorschrift alsbald auch filr Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen. Die Lücke, welche der verfassungsändernde Gesetzgebers von 1974 gelassen hatte, war damit von judikativer Seite weitgehend geschlossen worden. Nur in einer Hinsicht blieben die Parlamentarier benachteiligt: Sie mußten, um eine Kontrolle des "engagement international" herbeizufilhren, den Abschluß der parlamentarischen Zustimmungsprozedur abwarten, da Art. 61 filr die Antragstellung auf den Zeitraum nach der endgültigen Abstimmung verweist. Das konnte den politisch-taktischen Manövrierraum einengen und die Kammern insbesondere unter den unangenehmen Zwang setzen, dem filr verfassungswidrig gehaltenen Vertrag zunächst einmal ihre Zustimmung zu geben 192 • Die privilegierten, d.h. auch nach Art. 54 antragsberechtigten Amtsträger verfUgten demgegenüber über eine größere Dispositionsfreiheit und konnten den Zeitpunkt der Einschaltung des Conseil Constitutionnel - vor oder nach parlamentarischer Abstimmung - frei wählen. 1992, als durch die Verfassungsänderung im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag den Parlamentariern nunmehr auch die Antragsberechtigung im Rahmen von Art. 54 zuerkannt wurde, ist schließlich auch dieser Unterschied geschwunden. In der Praxis der Antragserhebungen war zunächst ein Übergewicht der exekutiven Amtsträger zu verzeichnen. Das Verfahren zur Prüfung des Hausha1tsänderungsvertrags bzw. Einnahmenersetzungsbesch1usses von 1970 kam auf Initiative des Premierministers, das Direktwahl-Verfahren 1976 auf Initiative des Staatspräsidenten zustande. Die Dominanz der Exekutive erschien

191 C. B/umann (FN. 13), S. 547, berichtet, die Kammern hätten 1974 "pratiquement pas envisage Ia question". Er selbst äußert die Vermutung, der Staatspräsident, welcher 1974 den Anstoß zur Verfassungsänderung gab, hätte eine Antragsberechtigung der Parlamentarier als unpassende Ingerenz der Legislative in die präsidentielle "domaine reserve" der auswärtigen Politik empfunden. Hinzu käme (S. 547 I 548), daß ein Anschwellen von Kontrollverfahren befilrchtet wurde. Letzteres ebenso bei P Gaia (FN. 13), S. 103. F Luchaire (FN. 17), S. 393 und C. B/umann, ebda., S. 547 bewerteten die Auslassung von Art. 54 als "regrettable"; letzterer wies darauf hin, daß die vier in Art. 54 genannten Antragsberechtigten durchaus derselben politischen Mehrheitsformation entstammen könnten, die Opposition also unter Umständen benachteiligt wäre. 192 Vgl. P Gaia (FN. 13), S. 103.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel/ A. Kontrollzuständigkeiten

zunächst überraschend, wurde gar als "paradoxale" 193 empfunden. Plausibler wäre ein Übergewicht der Kammerpräsidenten gewesen, denn Staatspräsident und Premierminister waren kraft ihrer Kompetenzen ohnehin "maitre du jeu" im Bereich der Außenpolitik und konnten kein Interesse an der Gefahrdung von ihnen selbst ausgehandelter Vereinbarungen haben 194 . Politisch gesehen waren die Prüfungsanträge von 1970 und 1976 freilich kein Ausdruck eigener Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Akte oder gar Zeichen politischer Vorbehalte gegen sie, als vielmehr eine bloße Reaktion auf politischen Druck (namentlich aus parlamentarischen Kreisen), denen sich Präsident bzw. Regierung mit den Vorlageentscheidungen beugten, bzw. einer Suche nach politischer Affirmation 195 • Ab Mitte der siebziger Jahre glichen sich die Verhältnisse dann auch formell stärker aus. Die Reihe der zwischen 1977 und 1991 ergangenen Verfahren über europabezogene Umsetzungsgesetze kam ausschließlich auf parlamentarische Vorlagen hin zustande. Das "große" Maastricht I-Verfahren im Frühjahr 1992 wurde wieder auf Antrag des Staatspräsidenten durchgefiihrt, die nachfolgenden Maastricht II- und Maas-tricht lliVerfahren im Sommer I Herbst 1992 auf Antrag von Parlamentariern.

b) Antragsfrist aa) Art. 54 Aus Art. 54 folgt, daß der Kontrollantrag nach Unterschrift des "engagement international" und vor der abschließenden parlamentarischen Abstimmung gestellt werden muß. Eine entsprechende Bestätigung lieferte jüngst die Maastricht II-Entscheidung 196• Vor Unterschrift existiert das "engagement inter193

P Gaia (FN. 13), S. 102.

Vgl. P Gaia (FN. 13), S. 102 sowie aufS. 136; L. Favoreu (FN. 13), S. 99. Allenfalls war erwartet worden, daß Staatspräsident und Premierminister Art. 54 nutzen würden, um interne Meinungsverschiedenheiten und politische Konflikte auszufechten; P.Gaia, ebda.; C. Blumann (FN. 13), S. 546. Die Kammerpräsidenten haben noch nie die Kontrolle eines internationalen Aktes bzw. Aktes mit internationalem Bezug herbeigefiihrt. 195 Vgl. unten unter B., II., 1., a), aa) und bb). 196 Im 10. Erwägungsgrund heißt es dort: "Considerant...qu'un engagement international peut etre soumis au Conseil constitutionnel sur Je fondement de l'article 54 de Ia Constitution des lors qu' il a ete signe au nom de Ia Republique francaise et avant que ne soit adopte, dans !'ordre juridique interne, Je texte qui en autorise Ia ratification ou I'approbation; ..."- "In der Erwägung, daß eine internationale Verpflichtung dem Conseil Constitutionnel nach Art. 54 der Verfassung vorgelegt werden kann, nachdem sie im 194

Exkurs: Verfahrensfragen

155

national" juristisch gesehen nicht 197 • Der definitive Inhalt der Vereinbarung ist noch unsicher und der Prüfungsgegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens somit nicht konkret bestimmt. Eine vorherige Prüfung würde auf eine gutachterliehe Stellungnahme hinauslaufen - eine Aufgabe, die dem Conseil Constitutionnel von der Verfassung nicht zugewiesen ist198 • Daß der Kontrollantrag vor der parlamentarischen Abschlußabstimmung gestellt sein muß, ergibt sich aus der von Art. 54 vorgesehenen Rechtsfolge (Unzulässigkeit parlamentarischer Zustimmung bei gerichtlicher Feststellung der Verfassungswidrigkeit) 199•

Wann innerhalb des Zeitraumes zwischen Unterschrift und Abschlußabstimmung der Conseil Constitutionnel befaßt wird, ist dem freien Belieben der Anrufungsberechtigten überlassen. Möglich ist eine Antragserhebung ebenso vor wie nach Einleitung des parlamentarischen Verfahrens. 1970 beispielsweise waren die fraglichen Akte dem Parlament bereits einen Monat vor Anrufung des Gerichts durch den Premierminister zugeleitet worden. 1976 hingegen schaltete der Staatspräsident das Gericht zu einem Zeitpunkt ein, als der Direktwahlbeschluß dem Parlament noch nicht vorlag200• Wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung das parlamentarische Verfahren bereits im Gang ist, wird dieses gemäß Art. 129 der Geschäftsordnung der Nationalversammlung bis zur Veröffentlichung der Entscheidung des Conseil Constitutionnel im Journal Officiel unterbrochen.

bb) Art. 61 Die Vorlage gemäß Art. 61 kann frühestens nach der abschließenden parlamentarischen Abstimmung (vorher existiert noch keine "loi") erfolgen201 und muß (nach Absatz 1 der Vorschrift) spätestens bis zur Verkündung des Gesetzes Namen der französischen Republik unterzeichnet und bevor innerstaatlich der Text verabschiedet worden ist, welcher zu ihrer Ratifikation oder ihrer Genehmigung ermächtigt". 197 L. Favoreu (FN. 13), S. 100. 198 F Luchaire (FN. 17), S. 393. 199 R. Abraham (FN. 13), S. 45. L. Favoreu (FN. 17), S. 100 nennt als zusätzliches Argument, daß eine Kontrolle nach Abstimmung die "validite de Ia loi" in Frage stellen würde, "et ceci n'est pas possible que par Ia procedure de l'article 61, alinea 2". 200

Vgl. die Schilderung der Geschehensabläufe bei P Gaia (FN. 13), S. 105 f.

Einer früheren Vorlage von Gesetzen nach Art. 61 ist der Conseil Constitutionnel in einer Entscheidung vom 8. II . 1976 -No. 76 - 69 DC, Rec. 37 ausdrücklich entgegengetreten; die vorgelegten Gesetz müßten "definitivement adoptes dans l'ensemble de leur dispositions par les deux chambres du Parlement" sein. 201

156

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

bei Gericht eingehen. Die Periode der Vorlageflihigkeit nach Art. 61 schließt sich damit nahtlos an diejenige nach Art. 54 an; ab dem Zeitpunkt, in dem ein Verfahren nach Art. 61 zulässig ist, scheidet Art. 54 aus202 . Für die Verkündung von Gesetzen schreibt Art. 10 der Verfassung dem Staatspräsidenten eine Frist von höchstens 15 Tagen nach Übermittlung des beschlossenen Textes an die Regierung vor. Die überwiegende Auffassung in der Literatur gesteht dem Staatspräsidenten fiir den Sonderfall der Zustimmungsgesetze zu internationalen Verträgen die Möglichkeit zu, diese Frist nach eigenem Ermessen auszudehnen203. Hierdurch liegt es in der Hand des Staatspräsidenten, den Zustand der Angreifbarkeil des Zustimmungsgesetzes beliebig zu verlängern (er kann aber auch durch zügige Verkündung dafür sorgen, daß dieser Zustand sich nicht allzulange ausdehnt).

c) Antragsinhalt Weder die Verfassung, noch die "loi organique sur Je Conseil constitutionnel" schreiben vor, daß der Antrag auf Einleitung eines Prüfungsverfahrens zu begründen ist. Insbesondere ist nirgends gefordert, daß der Antragsteller von der Verfassungswidrigkeit des vorgelegten "engagement international" bzw. Gesetzes überzeugt sein oder zumindestens entsprechende Zweifel hegen und darlegen müßte203" • 1970 und 1976 beschränkten sich die Prüfungsanträge des Premierministers bzw. des Staatspräsidenten auf die bloße Fragestellung. Der Vorlage des Maastricht - Vertrages durch Präsident Mitterand" im März 1992 war, wie gesehen, eine etwas gezieltere Fragefassung beigegeben. In denjenigen Fällen, in denen die Vorlage durch Parlamentarier erfolgte, waren mit dem Antrag auf Verfahrenseinleitung durchwegs inhaltliche Stellungnahmen zur Verfassungswidrigkeit des betreffenden Textes verbunden204 (die das Gericht in seinen Entscheidungsgründen auch jeweils wiedergab).

202

B. Genevois (FN. 175), S. 940.

C. Rousseau (FN. 36), S. 469 FN. 6; G. Berlia (FN. 29), S. 146; L. Favoreu (FN. 13), S. 104; C. Blumann (FN. 13), S. 553; M de Villiers (FN. 179), S. 144; V Constantinesco I J.- P Jacque (FN. 21), S. 179. Anderer Auffassung sind F Luchaire (FN. 17), 203

S. 396 und P Gaia (FN. 13), S. 140.

203• In diesem Punkt zeigt das Prüfungsverfahren allerdings eine gewisse Ähnlichkeit zu einem gutachterliehen Verfahren (von dem es sich allerdings hinsichtlich der Entscheidungsfolgen letztlich doch deutlich unterscheidet, weil es bei negativem Prüfungsergebnis zur Verkündungssperre [bei Art.61J bzw. zur Ratifikationssperre [bei Art. 541 fiihrt). 204

p Gaia (FN. 13), S. 114.

Exkurs: Verfahrensfragen

157

2. Verfahrensablauf

Das Verfahren vor dem Conseil Constitutionnel ist nichtkontradiktorisch und schriftlich. Es wird keine mündliche Verhandlung durchgefilhrt205 • Bei Eingang eines Prüfungsantrags gibt das Gericht gemäß Art. 18 Abs. 1 der "loi organique sur le Conseil constitutionnel" hierüber allerdings Nachricht an die übrigen Antragsberechtigten (die Abgeordneten und Senatoren werden von den Kammerpräsidenten unterrichtet). Diese können gemäß Absatz 2 der Vorschrift Stellungnahmen abgeben206 • Der Conseil Constitutionnel berät- auf der Grundlage der Vorschläge eines vom Präsidenten bestimmten Berichterstatters207 - in nichtöffentlicher Sitzung. Er entscheidet mit einfacher Mehrheit; die Abstimmungsergebnisse bleiben geheim208 • Durch die Möglichkeit des Antragstellers sowie der übrigen in Art. 61 bzw. 54 genannten Amtsträger, inhaltliche Stellungnahmen zur Frage der Vereinbarkeit des betroffenen Aktes mit der Verfassung abzugeben, können sie faktisch Einfluß auf den Streitstoff nehmen, insbesondere gerichtliche Stellungnahmen zu bestimmten einzelnen Punkten stimulieren. Das Gericht ist allerdings nicht darauf angewiesen, daß die Beteiligten sich äußern. Es kann auch von Amts wegen alle Vertragsklauseln - auch die nichtmonierten - prüfen und zwar unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten 209 • Hinsichtlich der Frist, innerhalb derer der Conseil Constitutionnel seine Entscheidung zu treffen hat, enthält Art. 61 Abs. 3 eine Regelung filr die gewöhnlichen Verfahren der Gesetzesüberprüfung nach dieser Vorschrift. Danach muß das Gericht innerhalb eines Monats zu entscheiden. Auf Verlangen der Regierung wird diese Frist in dringenden Fällen auf acht Tage verkürzt. Für die 205

L. Favoreu, La decision de constitutionnalite, RIDC 1986, S. 611 ff., 613.

Soweit ersichtlich, ist von dieser Möglichkeit erstmals in den Maastricht-Verfahren Gebrauch gemacht worden. Für die Zeit davor P Gaia (FN. 13), S. 117; F Luchaire (FN. 17), S. 394. In den Entscheidungen Maastricht I und Maastricht II wurde zu Beginn in den "Visas" der Art. 18 Abs. 2 aufgeführt. 206

207 L. Favoreu (FN. 205), S. 613 . Im Maastricht I-Verfahren gab es ausweislich der Mitteilung des Gerichts am Ende der "Visas" erstmals und bislang einmalig zwei Berichterstatter. 208 L. Favoreu (FN. 205), S. 613 f. Die Abstimmungsergebnisse sickern dennoch hin und wieder durch. Nach P Rambaud (FN. 91 ), S. 896 etwa gab es nach der Direktwahlentscheidung 1976 Presseberichte, wonach der Conseil Constitutionnel nur mit 5:4 abgestimmt habe. 209 V gl. den seit 1977 standardmäßig am Ende der Entscheidungserwägungen auftauchenden Hinweis, daß "il n'y a pas lieu pour le Conseil constitutionnel de soulever d'office, aucune question de conformite a Ia Constitution, en ce qui conceme les autres dispositions". Hierzu L. Favoreu (FN. 205), S. 616.

158

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

Verfahren gemäß Art. 54 fehlt eine vergleichbare Vorschrift. Art. 19 der "loi organique sur le Conseil Constitutionnel" verweist filr die Fristen nur allgemein auf Art. 61 Abs. 3, ohne hierbei das Verfahren nach Art. 54 ausdrücklich einzuschließen. Dies veran1aßte früher einige Autoren, den Conseil Constitutionnel bei Kontrollen eines "engagement international" als von der Einhaltung einer Entscheidungfrist ganz entbunden anzusehen 210 • Das Gericht selbst scheint demgegenüber von Beginn an davon ausgegangen zu sein, daß die Fristen des Art. 61 Abs. 3 auch in Verfahren gemäß Art. 54 Anwendung finden. 1970 urteilte es über Haushaltsänderungsvertrag bzw. Einnahmenersetzungsbeschluß innerhalb von acht Tagen211 • 1976 bat das Gericht den Staatspräsidenten am 5. 11., den angekündigten Prüfungsantrag aufzuschieben, da zwei Richter erkrankt seien und bei einem Aufschub mehr Prüfungszeit zur VerfUgung stehe212 . Dem wurde seitens des Staatspräsidenten entsprochen; er stellte den Prüfungsantrag erst am 3. 12., und das Gericht entschied dann noch im Dezember. Diese Bitte um Aufschub konnte nur dahingehend gedeutet werden, daß das Gericht sich an die Monatsfrist des Art. 61 Abs. 3 gebunden fiihlte. In den "Visas"213 der Entscheidungen Maastricht I und Maastricht li wurde schließlich Art. 19 der "loi organique sur le Conseil constitutionnel" eigens ausgefiihrt. Damit hatte das Gericht ausdrücklich über die Geltung des Fristerfordernisses entschieden214 • Angesichts der juristischen Schwierigkeiten, die mit der Verfassungskontrolle europabezogener Akte verbunden sein können, ist die Monatsfrist (und erst Recht die 8-Tages-Dringlichkeitsfrist) des Art.. 61 Abs. 3 knapp bemessen. Die Bitte um Aufschub anläßlich des Direktwahlverfahrens 1976 belegt dies eindrücklich. Auch wenn man einbezieht, daß sich in einigen Fä!Jen (namentlich 210 L. Favoreu I L. Philip (FN. 21), S. 147; F Luchaire (FN. 17), S. 395. Für diese Auffassung sprach insbesondere, daß der hauptsächliche Zweck des Art. 61 Abs. 3 Minimierung der durch die Einschaltung des Conseil Constitutionnel bedingten Verzögerung des Inkrafttretens - im Falle von "engagements internationaux" nicht greift: Die Exekutive kann hier nach freiem Belieben über die Ratifizierung entscheiden, so daß das Wirksamwerden des Aktes - im Gegensatz zu gewöhnlichen Gesetzen, für die Art. 10 eine Promulgationsfrist aufstellt - ohnehin keinem Automatismus unterliegt; vgl. P Gaia(FN. 13), S. 119. 211 Vgl. die Angabe über das Datum der Antragstellung am Beginn sowie das Datum der Entscheidung selbst am Ende der Entscheidungsveröffentlichung. Ob 1970 eine Dringlichkeitserklärung des Premierministers vorlag, ist allerdings nicht bekannt; P Gaia (FN. 13), S. 120. 212 Zu diesen Vorgängen L. Favoreu I L. Philip (FN. 21), S. 146. Diese beziehen sich ihrerseits auf Äußerungen des damaligen Präsidenten des Conseil Constitutionnel in "Le monde" vom 2. 12. 1976.

213 Dies ist eine Angabe der vom Gericht für einschlägig gehalteneneo Rechtsvorschriften, die am Beginn der Entscheidungsgründe steht; näheres sogleich. 214

Vgl. B. Genevois (FN. 175), S. 939.

Exkurs: Verfahrensfragen

159

1992) die Antragstellung schon im voraus abzeichnete und dem Gericht hiermit die Möglichkeit eröffnet wurde, informelle Vorüberlegungen anzustellen215 , bleibt die Frist problematisch und dürfte letztlich nur dadurch verantwortbar sein, daß die französische Gerichtspraxis den Conseil Constitutionnel der Notwendigkeit enthebt, eine detaillierte Entscheidungsbegründung abzugeben. Unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten kritisch wird die Fristenbestimmung des Art. 61 Abs. 3 dann, wenn das Gericht vor Fragen der Gültigkeit oder Auslegung europäischer Normen und folglich in der durch Art. 177 EGV begründeten Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof steht. Dies betrifft nicht die Präventivkontrolle europäischer Konstitutivakte - hier existieren noch keine europäischen Normen, die auszulegen wären - als vielmehr die Kontrolle europabezogener Umsetzungsgesetze216• Wie in einem solchen (bislang noch nicht aufgetretenen) Fall vorzugehen wäre, ist aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht klar: Die nationale Fristenregelung dürfte, da ihre Anwendung zur Vereitelung einer europäischen Norm (hier des Art. 177 EGV) ftlhren würde, nicht befolgt werden217 •

3. Entscheidungsinhalt

a) Aufbau der Entscheidung

Der Entscheidungsautbau folgt einem feststehenden Muster, das in Verfahren nach Art. 54 und nach Art. 61 gleichermaßen Anwendung fmdet. Zu Beginn nennt das Gericht das Datum des Antrags, Namen bzw. Funktion des Antragstellers, das eingeschlagene Verfahren (Art. 54 oder Art. 61) sowie den Antragsgegenstand218. Es folgen dann die "Visas", d.h. eine Aufzählung derjenigen Bestimmungen verfassungsrechtlicher, gesetzlicher oder auch europarechtlicher Natur, deren Anwendung oder Einbezug nach Auffassung des Conseil Constitutionnel fiir die Lösung des vorliegenden Falles notwendig ist. Teilweise können

215 Nach M. Fromont (FN. 101), S. 484 war der Conseil Constitutionnel bereits seit Monaten auf das Maastricht 1-Verfahren vorbereitet gewesen. 216 P. Gaia (FN. 13), S. 157. 217

So auch P. Gaia (FN. 13), S. 158.

m Beispiel (Maastricht II-Entscheidung): "Le Conseil constitutionnel a ete saisi, le 14 aout 1992, par MM. Charles Pasqua...[und über 60 anderen Senatoren- Anm. d. Verf.], en application de l'article 54 de Ia Constitution dans sa redaction issue de l'article 2 de Ia loi constitutionnelle no. 92 - 554 du 25 juin 1992, a I' effet de 'se prononcer sur Ia conformite du traite de Maastricht a Ia Constitution".

160

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

hieraus schon wichtige Schlüsse gezogen werden219 • Hieran schließt sich als Herzstück der Entscheidungsbegründung die Darlegung der "motifs" an. Diese umfassen, neuerdings amtlich durchnumeriert, die inhaltlichen Erwägungsgründe (eingeleitetjeweils mit einem "Considerant"), von denen das Gericht sich bei seiner Entscheidung hat leiten lassen. Die Entscheidung endet mit dem Tenor, dem "dispositif', der in zwei bis drei Sätzen das Ergebnis der Prüfung mitteilt (Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des vorgelegten Textes mit der Verfassung). Charakteristisch fiir die Entscheidungsbegründung ist die Kürze und Oberflächlichkeit der Erwägungsgründe. Der Conseil Constitutionnel begnügt sich in ihnen - wie bereits deutlich geworden sein dürfte - mit einer überaus dürren, häufig nebulös gehaltenen Skizze der zugrundegelegten Argumentation, die auf wenig mehr als auf eine thesenartige Zusammenfassung von Zwischenergebnissen hinausläuft. Ob das Gericht zu seinem Standpunkt wie selbstverständlich gelangt ist oder selbst gewisse Zweifel gehegt hat, ob es in kritischen Fragen literarische Erörterungen verarbeitet hat, warum es letztlich so und nicht anders entschieden hat, bleibt häufig im dunkeln. Dogmatische Überlegungen, Auslegungsversuche, Literaturzitate, Abwägungen - alles das, was die Entscheidung konkret nachvollziehbar machen würde, sucht man vergebens. Die Begründungsdichte der Entscheidungen des Conseil Constitutionnel unterscheidet sich damit grundlegend von derjenigen deutscher Gerichte; sie liegt immer noch deutlich unter derjenigen des Europäischen Gerichtshofs. Entsprechend schwankend ist der Boden, auf dem sich der Entscheidungsinterpret bewegen muß, wiewohl sich in Frankreich eine sehr ausgefeilte Interpretationspraxis entwickelt hat, die aus dem schmalen empirischen Material ein- zuweilen erstaunliches- Optimum an inhaltlichen Folgerungen zu ziehen versteht. Es gibt Stimmen220, die in der jüngeren Praxis ein allmähliches Abrücken vom traditionellen, durch den Conseil d'Etat geprägten Stil und eine Wendung zur detaillierteren, transparenteren Entscheidungsbegründung beobachten wollen. In der Tat sind einige Veränderungen erkennbar: Die Angabe der "Visas" ist deutlich umfangreicher geworden221 , die Zahl der Erwägungsgründe umfaßt mittlerweile (etwa in den Entscheidungen Maastricht I und Maastricht II) mehr als das Vierfache der Entscheidungen von 1970 oder 1976, der 219 V gl. etwa die oben erwähnte Nennung von Art. 19 der "loi organique sur Je Conseil constitutionnel" in den "Visas" der Entscheidungen Maastricht I und Maastricht II, die ohne daß die Entscheidungserwägungen hierzu etwas ausdrücklich geäußert hätten - die alte Streitfrage nach den Entscheidungsfristen im Rahmen von Art. 54 einer endgültigen Antwort zufiihrte. 220 L. Favoreu (FN. 205), S. 615. 221

Vgl. v.a. die Entscheidung Maastricht I mit beinahe zwei Seiten "Visas".

Exkurs: Verfahrensfragen

161

Verlautbarungsstil besitzt stärker als früher eine "forme pedagogique"222, d.h. das Gericht leitet die einzelnen Abschnitte mit der Wiedergabe der von den Antragstellern vorgetragenen Rügen ein und nennt ausdrücklich im Text die Vorschriften, auf die. es sich selbst jeweils bezieht. Ein durchgreifender Wandel kann hierin jedoch noch nicht gesehen werden. Es dominiert weiterhin ein fragmentarischer, sybillinischer Stil. Was das angeschwollene Begründungsvolumen betrifft, so erklärt sich dieses eher aus der Länge der vorgelegten Texte (v.a. in den Maastricht-Entscheidungen). Die "forme pedagogique" macht zwar das Lesen bequemer, gewährt aber letztlich auch keinen tieferen Einblick in den Argumentationshorizont der Richter. Der fragmentarische Begründungsstil des Conseil Constitutionnel hat mehr als eine nur stilistische Bedeutung. Er erlaubt es dem Gericht, inhaltlich präzise Festlegungen zu vermeiden und hierdurch fiir die Zukunft in einem hohen Maße flexibel zu bleiben, die weitere Entwicklung der Rechtsprechung nach allen Seiten offen zu halten. Insbesondere bleiben künftige Anpassungs- oder gar Umkehroperationen möglich, die bei ihrer Vornahme als solche gar nicht voll erkennbar sind und dementsprechend ohne großen Prestigeverlust vollzogen werden können. Hinzu kommt ein psychologisch-politisches Moment. Da die eigentlich tragenden Gründe des Entscheidungsergebnisses nur begrenzt offengelegt werden, bleibt die Entscheidung verschiedenen Deutungen zugänglich: integrationsfreundlichen, ausgewogenen oder auch souveränitätsbetonten. Etwas überzeichnet ausgedrückt kann jeder das herauslesen, was ihm (politisch) angenehm ist, wodurch das Gericht offene Konflikte vermeidet und niemanden zur Gänze verprellt. Insbesondere die Entscheidungen von 1970 und 1976 vermochten auf diese Weise, trotz ihres integrationsfreundlichen Ergebnisses, bis zu einem gewissen Grade auch die Europagegner im Lande einzubinden223 • Die Begründungsarmut befiihigt das Gericht so - ähnlich wie die zur Akzeptanzsteigerung vereinzelt eingesetzte a-posteriori-Prüfung von Gemeinschaftsrecht- zu Moderationsleistungen zwischen integrationsfreundlichen und integrationsfeindlichen Kreisen in Frankreich. Darüber, inwieweit sie zugleich auch Folge eines innerhalb des Gerichts bestehenden Moderationsbedürfnisses ist, kann nur spekuliert werden.

222

L. Favoreu (FN. 205), S. 615.

223

Vgl. unten unter B., Il., 1., a), aa) und bb).

11 Hecker

162

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

b) Entscheidungsergebnis Wenn das vorgelegte "engagement international" bzw. das Umsetzungsgesetz keine mit der Verfassung unvereinbaren Bestimmungen enthält, ergeht eine positive Feststellungsentscheidung durch den Conseil Constitutionnel. Sie fiihrt dazu, daß sämtliche Bestimmungen des Aktes rechtskräftig (Art. 62 Abs. 2) ftir verfassungsgemäß gelten und nicht noch einmal Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung werden können. Wenn die Entscheidung im Rahmen des Verfahrens nach Art. 54 erging, kann die internationale Vereinbarung (qua Zustimmungsgesetz) auch nicht mehr nach Art. 61 vorgelegt werden, es sei denn, es würden bloß formelle Mängel des Zustimmungsgesetzes gertigt224 • Der Ratifizierung des "engagement international" bzw. der Verkilndung des Umsetzungsgesetzes stehen nach positivem Bescheid durch den Conseil Constitutionnel keine Hindernisse mehr im Wege. Entscheidet der Conseil Constitutionnel, daß verfassungswidrige Bestimmungen vorliegen, so stellt er fest, daß der Ratifizierung eine Verfassungsänderung vorauszugehen hat225 bzw. daß das Gesetz nicht angewandt oder verkündet werden kann (Art. 62 Abs. 1). Die Ratifizierungs- bzw. VerkUndungssperre ergreift den gesamten Akf26 . Der Regierung steht es in der Folge frei, das Verfahren einer Verfassungsänderung (Art. 89) einzuleiten227 und sich auf diese Weise um die Rettung des Aktes zu bemühen oder aber diesen fallen zu lassen. Eine besonders bemerkenswerte Entscheidungsvariante ist die "decision de non-contrariete sous reserve" 228 • Das Gericht stellt hierin, wie der Begriff andeutet, die Vereinbarkeil des vorgelegten Textes mit der Verfassung unter den Vorbehalt der künftigen Erftillung einer bestimmten Bedingung. Ein Beispiel ftir ein solches Vorgehen bietet die Direktwahlentscheidung von 1976. In Art. 1 des Tenors erklärte der Conseil Constitutionnel hier: ,,saus /e benejice des conside224

P Gaia (FN. 13), S. 122.

Vgl. den Wortlaut von Art. I des "dispositif' (Tenors) des Maastricht I-Urteils, der bisher einzigen Unvereinbarkeitsentscheidung gegenüber europabezogenen Akten. 225

226 P Gaia (FN. 13), S. 127; tur die Möglichkeit einer bloßen Teilsuspension und der Ratifizierung unter einem völkerrechtlichen Vorbehalt bezüglich der für unvereinbar erklärten Bestimmungen dagegen offenbar V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 21), S. 184. 227 Nicht zulässig ist die bloße Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes mit verfassungsändernder Mehrheit; L. Favoreu, Le contröle de constitutionnalite du Traite de Maastricht et le developpement du 'droit constitutionnel international', RGDIP 1993, S. 39 ff., 44. Davon scheint auch der Conseil Constitutionnel auszugehen: In der Maastricht I-Entscheidung heißt es im Tenor, der Erlaß des Zustimmungsgesetzes dürfe erst "apres revision de Ia Constitution" erfolgen.

228

P Gaia (FN. 13), S. 123 in Anlehnung an L. Favoreu (FN. 205), S. 622.

Exkurs: Verfahrensfragen

163

rations qui precedent, la decision...ne comporte pas de clause contraire ..." 229 (Herv. v. Verf.). Mit den "considerations qui precedent" bezog sich das Gericht auf den ftlnften Erwägungsgrund, in dem von ihm bestimmte Vorgaben ftlr die Ausgestaltung des französischen Buropawahlgesetzes gemacht worden waren, um die Rolle der französischen Nation als legitimatorischen Bezugspunkt der Buropaabgeordneten festzuschreiben230 • Ein weiteres, wenn auch weniger markantes Beispiel ftlr die Technik der Vereinbarkeitsentscheidung unter Vorbehalt hatte bereits vorher die Entscheidung über Haushaltsänderungsvertrag und Einnahrnenersetzungsbeschluß von 1970 geliefert. Im sechsten Erwägungsgrund hieß es dort: "l'application de ces regles (gemeint sind die in Art. 201 EWGV genannten 'regles constitutionnelles des Etats membres' - Anm. d. Verf.) exige que l'adoption... soit subordonne a une loi"231 • Damit zielte das Gericht auf Art. 53 der Verfassung; es betonte noch einmal, daß die Annahme der fraglichen Akte innerstaatlich einen Parlamentsbeschluß voraussetzt. Die Erfilllung dieser Voraussetzung erhob es sodann zur fOrmliehen Bedingung der Vereinbarkeil des Einnahmenersetzungsbeschlusses mit der Verfassung: "en consequence, et sous reserve de son approbation par la loi, .. .ladite decision n'est pas en contradiction avec Ia Constitution"232 (Herv. v. Verf.). Dieser, im Gegensatz zu 1976 rein prozeduraleVorbehalt wurde zwar im Tenor der Entscheidung nicht mehr wiederholt, nahm aber dennoch an der Rechtskraft der Entscheidung teil, da diese auch diejenigen Gründe umfaßt, welche "en sont le soutien necesssaire et en constituent le fondement meme"233 • Mit der "decision de non-contrariete sous reserve" legt der Conseil Constitutionnel die umsetzenden Instanzen auf eine bestimmte Auslegung des von ihm kontrollierten Aktes fest. Nur unter dem Vorbehalt, daß sie berücksichtigt wird (was erneuter Kontrolle zugänglich isf34) ist dieser Akt mit der Verfassung vereinbar und fllr seine Inkraftsetzung grünes Licht gegeben. Diese ,ja-aberTechnik" trug 1976 zum Ausgleich zwischen den an der Direktwahlfrage entzweiten politischen Lagern bei: Den Befilrwortern wurde die Direktwahl 229 "unter dem Vorbehalt der vorangehenden Erwägungen besitzt die [Direktwahl-] Entscheidung keine unvereinbaren Vorschriften". 230

Näher unten unter B., II., 1., a), bb), (2), (d).

231

"die Umsetzung dieser Regelungen [ist] auf gesetzlichem Wege herbeizufiihren".

"Demnach [ist] der fragliche Beschluß - unter der Voraussetzung seiner Billigung durch Gesetz- nicht verfassungswidrig". 232

233

CC v. 16. 1. 1962- No. 62- 18, Rec. 31. Wie hier P Gaia (FN. 13), S. 125.

P Gaia (FN. 13), S. 124. Ein deutliches Signal fiir die Wiedervorlagefliliigkeit des den Direktwahlakt umsetzenden nationalen Gesetzes im Hinblick auf die Frage, ob es den vom Conseil Constitutionnel gemachten Vorbehalt respektiert, dürfte insbesondere die Einleitung des Tenors mit dem Wort "declare" statt wie üblich "decide" sein. Vgl. zu dieser Terminologie auch L. Favoreu I L. Philip (FN. 21), S. 148 f. 234

164

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I A. Kontrollzuständigkeiten

ihrer Substanz nach erhalten, ihren Gegnern die Garantie gegeben, daß die konkrete Ausgestaltung so souveränitätsfreundlich wie möglich vonstatten geht. Auch die Technik der "decision de non-contrariete sous reserve" unterstreicht damit die besondere Moderatorenrolle des Conseil Constitutionnel im europapolitischen Entscheidungsprozeß Frankreichs.

c) Erhöhung der Verwerfungsschwel/e? In der französischen Literatur werden zuweilen Überlegungen darüber angestellt, ob der Conseil Constitutionnel sich bei der Verfassungskontrolle von "engagements intemationaux" mit einem geringeren Grad an Übereinstimmung begnügt als bei der Prüfung gewöhnlicher innerstaatlicher Gesetze. Nahrung finden solche Erwägungen durch den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Art. 54 und Art. 61. Ersterer untersagt die Ratifizierung, soweit das "engagement international" eine "clause contraire" beinhaltet; letzterer hingegen fordert eine "conformite" des Gesetzes mit der Verfassung. Nach allgemeinem Sprachgebrauch könnte die "non-contrariete" ein geringeres Maß an Übereinstimmung als die "conformite" bezeichnen235 • Gegen die Annahme, diese terminologische Diskrepanz zwischen Art. 54 und Art. 61 sei nur zufallig, läßt sich immerhin eine Begebenheit aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung anfuhren: In der Beratung des Art. 54 nämlich war die Ersetzung von "clause contraire" durch das rigidere "clause incompatible" erwogen und wieder verworfen worden236. Indessen finden sich in der vorliegenden Judikatur des Conseil Constitutionnel, wie auch allgemein eingestanden wird237 , keine Belege dafiir, daß das Gericht auf dem Boden dieser sprachlichen Nuancierungen mit verschieden hohen Verwerfungsschwellen hantiert. Es gebraucht im Gegenteil die Begriffe "incompatible" und "contraire" wahllos durcheinander und fiigt weitere hinzu (etwa "porter atteinte", "mettre en cause"). Ob der Conseil Constitutionnel im Zuge weiterer Verfeinerung seiner Prüfungs- und Entscheidungstechnik irgendwann einen systematischen Unterschied zwischen "contrariete" und "inconformite" herausarbeiten wird, kann zur Zeit nicht sicher prognostiziert werden238, ist aber angesichts seiner Reserven gegenüber rechtsdogmatischen Subtilitäten eher unwahrscheinlich. 235 So J. Baulouis (FN. 29), S. 470; V Constantinesco I J. - P Jacqw! (FN. 21), S. 178; P Gaia (FN. 13), S. 292 f. 236

L. Favoreu (FN. II), S. 585.

237

V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 21 ), S. 178; P Gaia (FN. 13 ), S. 294 f.

238

P Gaia (FN. 13), S. 294 hält dies fiir denkbar.

I. Einführung

165

B. Inhalt der Übertragungskontrolle durch den Conseil Constitutionnel (verfassungsrechtliche Grenzen der Integration) I. Einführung

Mangels spezieller Bestimmungen zur europäischen Integration war der Conseil Constitutionnel zunächst vor die Aufgabe gestellt, den Inhalt seiner Übertragungskontrolle aus einer Reihe allgemeiner Verfassungsvorschriften zu schöpfen'. Es war absehbar, daß hiervon vor allem zwei Normen bzw. Normkomplexe fiir die Ableitung konkreter Aussagen über die Zulässigkeit von Übertragungsakten fruchtbar zu machen sein würden: einerseits das in Art. 32 und an weiteren Stellen3 direkt oder indirekt niedergelegte Bekenntnis der Verfassung zur "souverainete nationale", andererseits die in Absatz 144 der Präambel von 1946 enthaltene Regelung, daß "sous reserve de reciprocite, Ia France consent aux limitations de souverainete necessaires a l' organisation et a Ia defense de Ia paix"5 • Der (national-) staatsbetonte Art. 3 sowie der integrationsbetonte Absatz 14 der Präambel von 1946, dessen Fortgeltung durch die Präambel der Verfassung von 1958 angeordnet (und vom Conseil seit 1970 ausdrücklich akzeptiert6) wird, leiten ihren Ursprung aus verschiedenen

1 Vgl. T. de Berranger, Constitutions nationales et construction communautaire, Paris 1995, S. 66.

2 "La souverainete nationale appartient au peuple qui l'exerce par ses representants et par Ia voie du referendum ... " - "Die nationale Souveränität liegt beim Volk, das sie durch seine Repräsentanten und durch Volksentscheid ausübt". 3 Präambel, Art. 1, 4, 5, 16, 89. 4 Einige Autoren verwenden eine andere Zählweise. Sie fassen die beiden ersten Sätze der Präambel von 1946 in einem Absatz zusammen und numerieren demzufolge den Absatz 14 als Absatz 13, so beispielsweise P H. Teitgen, Kommentierung Präambel, in: F. Luchaire I G. Conac (Hg.), La Constitution de Ia Republique francaise, 2.Aufl., Paris 1987, S. I 04 ff., 104. Eine amtliche Numerierung enthält der Verfassungtext nicht. 5 "Unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit stimmt Frankreich den zur Organisation und zur Bewahrung des Friedens notwendigen Beschränkungen seiner Souveränität ZUH. 6 CC v. 19. 6. 1970- No. 70- 39 DC, Rec. 15, worin zugleich der früher nicht unbestrittene (vgl. etwa J. de Soto, La loi et le reglement dans Ia Constitution du 4 octobre 1958, RDP 1950, S. 240 ff., 290 f.) Verfassungsrang der Präambel bestätigt wird; deutlicher noch in der Entscheidung vom 16. 7. 1971 -No. 71 - 44 DC, Rec. 29. Vom Wortlaut der Präambel von 1958 her ist der Einbezug des Absatzes 14 der Präambel von 1946 nicht zwingend und wurde von einigen Autoren (etwa R. Pelloux, Quelques re-

166

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Verfassungsepochen her und bilden somit nicht nur inhaltliche Gegenpole, sondern zeugen auch von einem historischen Spannungsbogen im französischen Verfassungsrecht, der die Problematik der Integrationsteilnahme Frankreichs bis heute dominiert.

1. Das Prinzip der nationalen Souveränität

Das Prinzip der Souveränität, wesentliches Rückgrat der neuzeitlichen Verfassungstradition Frankreichs7, besitzt seinen historischen Ausgangspunkt in der Staatstheorie des Ancien Regime, wo es in den Arbeiten Bodins8 , Loyseaus9 und Vattels 10 mit machtpolitischer Stoßrichtung gegen die Kirche, das Feudalherrenturn und das (deutsch-) römische Kaisertum als Legitimationsgrundlage fUr die absolute (französische) Königsherrschaft konzipiert wurde 11 • Es postulierte nach der bis heute maßgeblichen 12 Analyse Carre de Malbergs den "caractere supreme d'un pouvoir'' nach innen wie nach außen 13 ; vom Qualitativen ins Quantitative gewendet umschrieb es die positive Summe der Herr-

tlexions sur le preambule de Ia Constitution francaise de 1958, FS Basdevant, Paris 1960, S. 389 ff., 398) auch in Frage gestellt. Nach der Untersuchung von L. Favoreu, Le droit international, in: D. Maus I ders. I J. - L. Parodi (Hg.), L'ecriture de Ia Constitution de 1958, Paris 1988, S. 577 ff., 581 ist nach dem Gang der Verfassungsberatungen 1958 davon auszugehen, daß die Autoren des Textes einen Einbezug des Absatzes 14 intendierten. 7 P Gaia, Le droit constitutionnel national et l'integration europeenne (rapport francais), in: Berichte fiir den 17.F.I.D.E.-Kongreß, Baden- Baden 1996, S. 237. 8

Six Jivres de Ia Republique, 1576.

9

Traite des Seigneuries, 1606.

10 Le droit des gens ou principes de Ia loi naturelle appliquee a Ia conduite et aux affaires des nations et des souverains, 1758. 11 G. Vede/, Les racines de Ia quereHe constitutionnelle sur l'election du Parlement europeen, Pouvoirs 2 I 1977, S. 23 ff., 27; J - P Jacque, La souverainete francaise et l'election du Parlement Europeen au suffrage universei direct, in: G. Ress (Hg.), Souveränitätsverständnis in den Europäischen Gemeinschaften, Baden- Baden 1979, S. 71 ff., 72 f. Historischer Überblick bei P Gaia, Le Conseil Constitutionnel et l'insertion des engagements internationaux dans l'ordrejuridique interne, Paris 1991, S. 308 ff. 12

Vgl. J. - P Jacque (FN. 11), S. 71; P Gaia (FN. 7), S. 238 FN. 4.

Contribution 70 ff. 13

a Ia theoriegenerate de !'Etat, Bd.l, Paris 1920, reed. Paris 1962, S.

I. Einftihrung

167

schaftsbefugnise des Souveränitätsträgers 14 und schließlich, auf einer dritten Bedeutungsebene, dessen Stellung innerhalb des Staates 15 • In der vom Bemühen um Machtkonsolidierung bestimmten revolutionären Verfassungstheorie wurde das Souveränitätskonzept des Ancien Regime übernommen und lediglich auf der dritten Bedeutungsebene dahingehend umgeschichtet, daß die - voluntaristisch definierte 16 - Nation als neuer Inhaber der Souveränität begriffen wurde 17 - die Souveränität wandelte sich so zur nationalen Souveränität. Mit diesem demokratischen Gehalt 18 fand sie Eingang in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ("Le principe de toute souverainete reside essentiellemene 9 dans Ia nation" 20 , Art. 3) sowie in die Verfassung von 1791 ("La Souverainete est une, indivisible, inalienable et imprescriptible. Elle appartient aIa Nation"21 , Titel III, Art. 1). Sowohl in der Verfassung von 1946, als auch in der Verfassung von 1958 wurde im jeweiligen Art. 3 an das Souveränitätskonzept in seiner revolutionären Form angeknüpff2, in beiden Fällen mit einer Mischformel ("La souverainete

14

R. Carre de Malberg (FN. 13 ), S. 81: "somme des droits de puissance active".

R. Carre de Malberg (FN. 13), S. 83: "caracterise Ia position qu'occupe dans !'Etat le detenteur supreme du pouvoir politique". 15

16 Näher hierzu E. Buhmann, Die nationale Souveränität Frankreichs als Schranke flir eine Kompetenzerweiterung des französischen Parlaments, Diss. Regensburg, 1982, S. 41 f. 17 G. Vedel (FN. II ), S. 27: "il s'agit de conserver intacte Ia souverainete... , mais de Ia fairepasserde Ia tete du roi a celle de Ia nation". Ix V Constantinesco I J. - P Jacque, L'application du droit international et communautaire au regard de Ia Constitution francaise, in: P. Koenig I W. Rüfner (Hg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1985, S. 175 ff., 187; F Luchaire, Kommentierung Präambel, in: ders. I G. Conac (Hg.), La constitution de Ia republique francaise, 2. Aufl., Paris 1987, S. 87 ff., 100; G. Vedel, L'attitude des juridictions francaises envers !es traites europeens (Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa Institut der Universität des Saarlandes I Nr.85), Saarbrücken 1987, S. 13; P Gaia (FN. II ), S. 312. 19 "Essentiellement" ist nicht im Sinne von "hauptsächlich" zu verstehen, sondern im wortwörtlichen Sinne als "wesenhaft"; F Luchaire (FN. 18}, S. 100. 20 ,;Der Ursprung aller Souveränität liegt wesenhaft in der Nation". 21 "Die Souveränität ist einheitlich, unteilbar, unveräußerlich und unantastbar. Sie liegt bei der Nation". 22 Vgl. R. Chapus, Les fondements de l'organisation de l'Etat definis par Ia Declaration de 1789 et 1eurs prolongements dans Ia jurisprudence du Conseil constitutionnel et du Conseil d ' Etat, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 360 ff., 361 , wonach Art. 3 der Verfassung "substantiellement identique" mit Art. 3 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 sei. Im gleichen Sinn P Gaia (FN. 11}, S. 311.

168

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

nationale appartient au peuple"), die die im Ansatz konträren23 , im Hinblick auf die staatliche Abgrenzung nach außen indes identischen demokratietheoretischen Positionen Rousseauscher und Montesquieuscher Prägung in einem (Formel-) Kompromiß vereinte24 • Die zentrale Bedeutung des Prinzips der nationalen Souveränität filr die Verfassungsordnung der V. Republik wird bereits durch die prominente Stellung des Art. 3 weit vorne im Verfassungstexf5 sowie vor allem durch die Überschrift des ersten Titels ("De Ia souverainete") belegt. Daß innerhalb dieses Titels daneben weitere Regelungen, insbesondere zur "indivisibilite de Ia Republique" (Art. 2 26 ), getroffen werden, dokwnentiert zugleich seine enge, in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel auch deutlich zutage getretene Verbindung zu anderen Verfassungsnormen, die von ihm mit beeinflußt werden27 bzw. mit ihm in einem systematischen Zusammenhang stehen. Sein positiver verfassungsrechtlicher Gehalt umfaßt zwei Kernelemente, die folgende Optimierungsgebote28 enthalten: zum einen die Zuweisung öffentlicher Gestaltungsmacht an das in der Nation unteilbar (Art. 2) vereinte französische Volk, das sie durch Wahlen und Volksentscheid ausübt (Art. 3) - und zwar in jegliche konkurrierende interne Gewalt ausschließender Weise29 ; zum anderen - und dies ist fiir die hier zu behandelnden Fragen von besonderem Interesse - die Freiheit von äußerer Fremdbestimmung, also die "independance nationale", wie sie insbesondere in Art. 5 der Verfassung erwähnt wird30 • Nur solche Hoheitsgewalt soll danach in Frankreich ausgeübt 23

p Gaia (FN. 7), S. 239.

Näher zur direktdemokratischen Konzeption Rousseaus einer "souverainete du peuple" sowie zur repräsentativen Konzeption Montequieus einer "souverainete de Ia nation" J.- P Jacque (FN. 11), S. 73 ; E. Buhmann (FN. 16), S. 35 f. 24

21 L. Hamon, La souverainete nationale, Ia Constitution et les negociations 'europeennes' en cours, D 1991, Chr., S. 301 ff., 301. 26 "La France est une Republique indivisible... " - "Frankreich ist eine unteilbare Republik".

27 Vgl. P Gaia (FN. 11), S. 308: "il influence tous Ies autres principes ou regles a valeur constitutionelle"; siehe auch F Luchaire (FN. 18), S. 99, der den entsprechenden Abschnitt im Plural mit "Les principes de Ia souverainete nationale" überschreibt. 28 Zum Verständnis bestimmter Normen als Prinzipien und ihrer Struktur als Optimierungsgebote, das auf das Prinzip der nationalen Souveränität in seinem Verhältnis zum ihm gegenläufigen Prinzip aus Absatz 14 der Präambel von 1946 übertragbar ist, siehe R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1986, S. 71 ff. 29 Vgl. Carre de Malberg (FN. 13), S. 79 ff.

°

3 F Luchaire, Le contröle de constitutionnalite des engagements internationaux et ses consequences relatives a Ia communaute europeenne, RTDE 1979, S. 391 ff., 415; V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 18), S. 187. Ob diese äußere Stoßrichtung des Souveränitätsbegriffs erst mit der Verfassung von 1946 auftrat - so F Luchaire, ebda., S. 413 - oder ob sie nicht schon in der revolutionären Epoche angelegt worden ist - so mit beachtlichen Argumenten V Constantinesco I J. - P Jacque, ebda., S. I 88 und J.

I. Einfiihrung

169

werden dürfen, die auf den exklusiven Willen des französischen Volkes - der sich im homogenen Rahmen der Nation gebildet hat - zurückgefilhrt werden kann31 • Das Prinzip "souverainete nationale" fordert also eine nationale Demokratie.

2. Die Integrationsermächtigung des Abs. 14 der Präambel von 1946

Die ausdrückliche Regelung der Zulässigkeit von "limitations de souverainete" in Abs. 14 der Präambel von 1946 war ein Niederschlag der politischen Perspektive der Nachkriegsperiode, die unter dem frischen Eindruck der Weltkriege auf die Etablierung effektiver Formen internationaler Kooperation zur Vermeidung künftiger Konflikte gerichtet war und sich dementsprechend vor die Notwendigkeit einer Adaption des staatlichen Souveränitätsverständnisses gestellt sah32 • Mit der neugegründeten UNO stand ein Gebilde vor Augen, das offensichtlich innerhalb der Zielrichtung von Absatz 14 lag ("organisation et...defense de Ia paix") und von zeitgenössischen Autoren auch als primärer Anwendungsfall dieser Vorschrift eingestuft wurde33 , ohne indes andere Formen von Staatenverbindungen auszuschließen. Insbesondere schien Absatz 14 der Präambel auch im Hinblick auf die Schaffung europäischer Institutionen - deren Bestimmung zur Friedenssicherung durch einen ökonomischen Charakter ihrer Tätigkeitsfelder nicht in Frage gestellt werden konnte34 - instrumentalisierbar

Rideau, Problematique generale des rapports entre droit constitutionnel et droit international, in: Droit constitutionnel et Droits de I'Homme. Rapport francais au Iieme congres mondial de I' Association internationale de droit constitutionnel, Paris 1987, S. 205 ff., 206 - ist hier nicht weiter zu vertiefen; fiir die letztgenannte Auffassung spricht jedenfalls der von Rideau erwähnte Art. 119 der Verfassung von 1793, der sich u. a. gegen äußere Einmischungen in innere Angelegenheiten Frankreichs wandte. 31 M. Fromont, Frankreich und die Europäische Union, DÖV 1995, S. 481 ff., 481; P Gaia (FN. 7), S. 239. 32

T de Berranger (FN. 1), S. 84.

33

R. Pe/loux, Le preambule de Ia Constitution du 27 octobre 1946, RDP 1947, S. 347

ff., 388. 34 Daß diesbezüglich Absatz 14 der Präambel weit zu interpretieren ist, ist in der französischen Literatur niemals auf ernsthafte Einwände gestoßen; vgl. C. Blumann, L'article 54 de Ia Constitution et Je contröle de constitutionnalite de traites en France, RGDIP 1978, S. 537 ff., 596; T de Berranger (FN. 1), S. 68, 108. Soweit ersichtlich, wurde bislang nur einmal die Bestimmung eines Integrationsaktes zur Friedenssicherung im Sinne von Absatz 14 der Präambel von 1946 bestritten: 1985 wandte sich Michel Debre mit diesem Argument gegen den Abschluß des EMRK-Zusatzprotokolls über die Abschaffung der Todesstrafe; T de Berranger, ebda., S. 68. Der Conseil Constitutionnel

170

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

zu sein35, zumal seitens der Schöpfer des Verfassungstextes keine eingrenzenden Vorstellungen bekannt waren36 • Im Gegenzug blieb allerdings gänzlich offen, bis zu welchem Grad Absatz 14 der Präambel die politischen Gewalten im Hinblick auf die Teilnahme Frankreichs an Kooperations- bzw. Integrationsgemeinschaften eigentlich ermächtigen sollte. Aus dem verfassungsrechtlich bis dato unbelegten Begriff der "Iimitation" selbst waren nähere Aussagen nicht abzuleiten. Das problematische Verhältnis zwischen Absatz 14 einerseits und der Souveränitätsbekräftigung in Art. 3 andererseits wurde durch die Verfassung nicht geklärt. Mit der Zulassung von "Beschränkungen" der Souveränität stand lediglich fest, daß dem Optimierungsgebot des Art. 3 überhaupt eine Grenze gesetzt, ihm ein gegenläufiges Prinzip zur Seite gestellt worden war. Wo diese Grenze allerdings konkret verlaufen sollte, an welchem Punkt beide Prinzipien einen Zustand praktischer Konkordanz erreichen würden, war dem Verfassungstext nicht zu entnehmen und mußte daher der Klärung durch die nachfolgende Verfassungspraxis überlassen bleiben.

3. Frühe Diskussionen in der Literatur

Die frühe Literatur der IV. Republik hat die Frage der Auslegung von Absatz 14 der Präambel kaum thematisiert, sondern ihr Augenmerk statt dessen hauptsächlich dem klassischen (und zunächst praktisch relevanteren) Problem der Rangordnung zwischen internationalem und innerstaatlichem Recht gewidmee 7 . Nachdem auch der Abschluß des EGKS-Vertrages nicht zu einer ist dem in seiner Entscheidung vom 22. 5. 1985- No. 85- 188 DC, Rec. 15 nicht gefolgt. 35 R. Mouskhely, Le traite et Ia loi dans le systeme constitutionnel francais de 1946, ZaöRVR 13 (1950 I 51), S. 98 ff., 100: Absatz 14 "ecarte.. .l'obstacle constitutionnel a l'integration de l'Etat francais dans une Federation europeenne" (!). Die Bestimmung der Europäischen Gemeinschaft zur Friedenssicherung wird in der Präambel des Vertrages ja auch ausdrücklich erwähnt. 36 A. Philip, dem neben P. Coste - Floret die Endredaktion der Vorschrift oblag, hat später ausdrücklich hervorgehoben, daß damals keine präzisen Vorstellungen vorhanden waren; Le traite abroge automatiquement ce qui est incompatible avec lui et n'a pas besoin d, etre introduit dans I, ordre juridique interne, Le monde V. 9. 6. 1954. 37 J. - P Niboyet, La Constitution nouvelle et certaines dispositions de Droit international, D 1946, Chr., S. 89 ff.; J. Donnedieu de Vabres, La Constitution de 1946 et le droit international, D 1948, Chr., S. 5 ff.; C. Rousseau, Le regime actuel de conclusion de traites en France, FS Scelle, Paris 1950, S. 565 ff.; L. Preuss, Droit international et droit interne dans Ia Constitution francaise de 1946, RIHPC 1951, S. 199 ff.

I. Einfilhrung

171

nennenswerten Beschäftigung mit Abs. 14 der Präambel gefilhrt hatte38, entzündete sich schließlich aus Anlaß des politisch heiß umstrittenen Projektes einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in den Jahren 1953 und 1954 zum ersten Mal eine nennenswerte Debatte über die Reichweite der verfassungrechtlichen lntegrationsermächtigung. Sie brachte zwei unterschiedliche Interpretationsansätze hervor, die zwar noch gering ausdifferenziert erscheinen, aber doch schon einige grobe Linien filr den späteren Diskussionsverlauf markierten39• Einen Pol der EVG-Diskussion bildete ein Beitrag des Buropaskeptikers und engsten Mitarbeiters de Gaulles, Michel Debre40. Debre hielt die mit dem EVGVertrag vorgesehene Aufgabe militärischer Kompetenzen Frankreichs filr einen Verstoß gegen das Verfassungsprinzip der nationalen Souveränität und sah dementsprechend seine (von ihm politisch nicht gewünschte) Ratifizierung nur auf der Basis eines verfassungsändernden Gesetzes filr zulässig an41 . Er gewann filr diese These Rückendeckung durch einen Aufsatz sechs bekannter Pariser Professoren in der Zeitung "Le monde". Auch sie forderten unter Berufung auf das Prinzip der nationalen Souveränität die Vorschaltung einer Verfassungsänderung42. Gegen die Verfassungswidrigkeit einer einfachgesetzlichen Ratifizierung des EVG-Vertrages wandten sich hingegen der Völkerrechtler Scelle (dieser aus einer monistischen Grundsatzposition heraus)43 sowie die Staatsrechtier Vedel44 und Philip45, die anders als Dehn~ den EVG-Beitritt von der

31 Vgl. J. Schilling, Völkerrecht und staatliches Recht in Frankreich, Harnburg 1964, S. 79, der von lediglich ganz vereinzelten Zweifeln in der Nationalversammlung an der Verfassungsmäßigkeit der Montanunion berichtet. Aus der wissenschaftlichen Literatur werden keine Vorbehalte gegen die Verfassungsmäßigkeit des EGKS-Vertrages ersichtlich. 39 Vgl. P Gaia (FN. 7), S. 236: die EVG-Debatte "a fait emerger un fonds commun d'arguments dans lequelles confrontations posterieures viendront largement puiser leurs racines".

°Contre l'armee europeenne, Politique etrangere 1953, S. 367 ff. 41 M Debre (FN. 40), S. 398 f. 42 S. Bastid I G. Burdeau I R. Capitant I C. Eisenmann I P Lampue I M Sibert: Le traite modifie !es elements fondamentaux de Ia Constitution. Sa ratification doit donc etre autorisee par une loi constitutionnelle, Le monde v. 2. 6. 1954. 43 Oe Ia pretendue inconstitutionnalite interne des traites (a propos du Traite sur Ia 'Communaute europeenne de defense), RDP 1952, S. 1012 ff. ("notion d'inconstitutionnalite interne du traite est. ..impensable", S. 1015). 44 Apropos de Ia Communaute europeenne de defense, Le monde v. 15. 6. 1954. 45 FN. 36. 4

172

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

neuen verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung in Absatz 14 der Präambel als gedeckt ansahen46 • Damit hatten sich zum ersten Mal Standpunkte gebildet, waren zum ersten Mal zwei gegensätzliche Verständnismöglichkeiten des Absatz 14 der Präambel aufgezeigt worden. Die eine Auffassung fiillte die Vorschrift mit Leben und sah in ihr unbefangen einen Integrationshebel, der zu weitreichenden, selbst die Aufgabe kernhoheitlicher Kompetenzen (Verteidigungswesen) zulassenden Durchbrechungen des Prinzips der Souveränität autorisiert. Die andere hingegen versuchte, ihren verfassungsrechtlichen Gehalt so weit wie möglich zu reduzieren47 (die Sechsergruppe hatte ihn nicht einmal ausdrücklich erwähnt), wobei als Mittel hierzu die Abgrenzung (zulässiger) "limitations" gegenüber (unzulässigen) "transferts" diente48 - eine Unterscheidung, die die spätere Terminologie (allerdings nicht die inhaltliche Position) des Conseil Constitutionnel vorwegnahm. Beide Auffassungen tendierten ins Extreme und eröffneten hierdurch breite Angriffsflächen: Die reduktionistische Lesart49 des Absatz 14 der Präambel mußte sich vorhalten lassen, die neue Bestimmung praktisch dahingehend zu entleeren, daß sie lediglich zum Abschluß gewöhnlicher völkerrechtlicher Verträge ermächtige (denn jeder Vertrag fuhrt zu einer "autolimitation de l'Etat"50) und damit nur die schon vorher geltende Verfassungsrechtslage fortschreibe 51 • Die Schwäche der integrationsfreundlichen Richtung lag andererseits darin, daß sie kein schlüssiges Konzept von Übertragungsschranken anbot, im Grunde Souveränitätsverzichte als grenzenlos zulässig suggerierte - dies war mit Text und Geist der Verfassung, so sehr diese auch internationalistisch inspiriert sein mochte, ebensowenig vereinbar. Jedenfalls mit der Einfiihrung des Kontrollverfahrens durch Art. 54 der neuen Verfassung von 1958, der ausdrücklich die Möglichkeit verfassungswidriger Verträge erwähnte, wurde deutlich gemacht, daß oberhalb einer bestimmten Schwelle die Teilnahme an Integrationsprojekten tatsächlich eine Verfassungsänderung voraussetzt, das 46 Zu nennen ist insoweit auch noch P Reuter, La Communaute europeenne du charbon et de l'acier, Paris 1953, S. 97 f.

47 V gl. auch die später (1965) von de Gaulle verkündete Auffassung, das Prinzip der nationalen Souveränität dulde keinerlei Ausnahmen; nachgewiesen bei P Gaia (FN. 7), s. 248. 4" M. Debni (FN. 40), S. 398; ebenso die 6 Professoren in einer Stellungnahme zu den Beiträgen Vedels und Phillips: Loi ordinaire ou revision constitutionnelle, Le monde v. 30. 7. 1954. 49 Vgl. P Gaia (FN. 7), S. 248, der von einem "approche minimaliste" und einer "conception maximaliste" spricht. 50 T de Berranger (FN. 1), S. 97.

51

Vgl. G. Vedel (FN. 44).

I. Einführung

173

Prinzip der nationalen Souveränität also keine grenzenlosen Durchbrechungen duldet52 . Eine akzeptable Lösung konnte nur zwischen beiden Extremen liegen und mußte einen Ansatz schaffen, der nicht jeweils eine der konträren Verfassungsnormen vollständig neutralisiert, sondern sie in ein konkordantes Verhältnis zueinander setzt. Für die Entwicklung eines solchen mittleren Ansatzes war freilich bei der EVG-Debatte die Zeit noch nicht reif, fehlte insbesondere das notwendige Maß an praktischer Anschauung der spezifischen Eigenart supranationaler Integrationsprozesse und des aus ihnen folgenden Gefahrenspektrums fi1r die nationale Verfassungsordnung. Eines trat allerdings schon zum damaligen Zeitpunkt hervor: Keine Auffassung, auch nicht die die souveränitätsbetonte, stellte in Frage, daß sich aus der Verfassung Übertragungsschranken nur gegenüber der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt ergeben können. Eine Bindung auch der verfassungsändernden Übertragungsgewalt war allen Meinungslagern in Übereinklang mit der französischen Tradition, die durch die Vorstellung der grenzenlosen Souveränität auch des pouvoir constituant derive 53 geprägt ist, gleichermaßen fremd. Schon im EVG-Streit kam damit die Beschränkung der Übertragungsproblematik auf die einfachgesetzliche Ebene zum Ausdruck, die bis zum Ende der achtziger Jahre fi1r die französische Diskussion charakteristisch bleiben sollte. Nach diesem ersten Aufflackern politischer wie literarischer Zuwendung kehrte in den Folgejahren wieder weitgehende Ruhe ein. Hieran änderte sich auch anläßlich des Abschlusses der Römischen Verträge - der einfachgesetzlich bewerkstelligt wurde 54 - nichts 55 . Diese waren in der französischen Öffentlichkeit politisch weit weniger umstritten als das schließlich gescheiterte EVGProjekt56, womit ein fUr die Verfassungsdebatte von 1953/54 wichtig gewesenes 52

T de Berranger (FN. I), S. 85; P. Gaia (FN. 7), S. 247.

Entsprechend der französischen Begriffiichkeit ist im folgenden unter "pouvoir constituant derive" der (von der Verfassung eingesetzte) verfassungsändernde Gesetzgeber gemeint und unter "pouvoir constituant originaire" die (unverfaßte) verfassungsgebende Gewalt. 54 r de Berranger (FN. 1), S. 67. 53

55 Nur ganz vereinzelt finden sich Erörterungen der Verfassungsmäßigkeit der Verträge, etwa bei R. Capitant, La constitutionnalite des traites europeennes, L' Annee politique et economique 1957, S. 274 ff.

56 Vgl. A. Cocatre- Zilgien, Les traites de Rome devant le Parlement francais, AFDI 1957, S. 517 ff, 528 f, wonach in den Ratifizierungsdebatten der parlamentarischen Körperschaften nur ganz vereinzelt verfassungsrechtliche Einwände erhoben wurden (u.a. seitens M. Debres), im Vordergrund dagegen die technisch-politischen Fragen standen. Diesen Eindruck vermitteln auch die Berichte von P. Vigar, Les problemes du Marche commun a I' Assemblee Nationale, Revue politique et parlementaire 222 (1957), S. 161 ff. und von G. Fischer, Euratom, AFDI 1956, S. 695 ff., 701 ff. T de Berranger.

174

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Stimulans entfiel57 • Ein weiterer wesentlicher Grund fiir die während der filnfziger und bis Ende der sechziger Jahre äußerst spärlich gebliebene Anteilnahme der Verfassungsrechtswissenschaft an der Übertragungsproblematik58 dürfte aber vor allem in dem Fehlen gerichtlicher Kontrolle während dieser Periode zu sehen sein. Der - ohnehin ein Schattendasein fristende - Comite Constitutionnel der Verfassung von 1946 besaß keine im vorliegenden Problemkreis nutzbaren Prüfungskompetenzen59 • Der Conseil Constitutionnel der Verfassung von 1958 hatte demgegenüber zwar stark erweiterte Zuständigkeiten, insbesondere die Kontrollkompetenz nach Art. 54 der Verfassung, jedoch konnte sich wegen des Prinzips der Präventivkontrolle nicht mehr die Gelegenheit zur Prüfung der drei existenten Gemeinschaftsverträge ergeben. Die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit war mit ihrem Inkraftreten daher jeder praktischen Relevanz beraubt60 • Der Mangel an gerichtlichen Entscheidungen bzw. Entscheidungsmöglichkeiten konnte auf die literarische Diskussion nicht gerade belebend wirken. Und daß umgekehrt das Einsetzen einer Kontrolltätigkeit durch den Conseil Constitutionnel ab 1970 die Wissenschaft spürbar beflügelte, zeigt die große Zahl der ab diesem Zeitpunkt erschienenen Beiträge aller Gattungen.

4. Überblick über die Judikatur des Conseil Constitutionnel

Ein noch weitgehend unausgeleuchtetes Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der nationalen Souveränität einerseits und der Integrationsermächtigung (FN. 1), S. 67 erklärt das Fehlen von Kontroversen bei Abschluß der Römischen Verträge damit, daß die Aufmerksamkeit der politischen Klasse weitgehend vom Algerienkrieg absorbiert wurde. 57 Die Bedeutung des politischen Streits als Nährfaktor ftir die juristische Debatte bildete sich dort nicht zuletzt in dem Umstand ab, daß diese vornehmlich in einer Tageszeitung (Le monde) und nicht in wissenschaftlichen Publikationsorganen geftihrt wurde. 58 Symptomatisch hierfiir M. Lagrange, Les obstacles constitutionnels a l'integration europeenne, RTDE 1969, S. 240 ff., worin - anders als der Titel vermuten ließe - nicht die verfassungsrechtlichen Übertragungsschranken sondern ausschließlich die verfassungsbegründeten Infiltrationshindernisse, zuvorderst die "Semoules"-Doktrin des Conseil d'Etat, behandelt wurden. 59 Näher zu den Kompetenzen des Comite Constitutionnel W Buerstedde, 'Le comite constitutionnel' der französischen Verfassung von 1946, JÖR N.F. 7 (1958), S. 167 ff., 179 ff. 60 Vgl. P Gaia (FN. 7), S. 248. Eineuropabezogenes "Umsetzungsgesetz" wurde vor 1977 nie vorgelegt.

I. Einführung

175

des Absatzes 14 der Präambel von 1946 andererseits, dazu mit Art. 54 der Verfassung von 1958 eine deutliche Einladung, zumindestens fUr die Kontrolle zukünftiger Integrationsschritte aus diesen Normen einen operablen Prüfungsmaßstab zu schmieden61 : Die vom Conseil Constitutionnel vorgefundenen Ausgangsbedingungen bildeten einen günstigen Nährboden fUr eine reichhaltige, rechtschöpferische Judikatur zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeil von Übertragungsakten. Die vagen textlichen Vorgaben der beiden Vorschriften eröffneten eine breite Palette von Dezisionsmöglichkeiten62 , und das Gericht scheute sich ab Einsetzen seiner Buropajudikatur im Jahre 1970 nicht, die ihm hierdurch zufallende Definitionsmacht auch zu benutzen. Ähnlich wie auf der Ebene der Kontrollzuständigkeiten zeigte der Conseil Constitutionnel auch hinsichtlich des Kontrollinhalts eine für französische Verhältnisse bemerkenswerte Neigung zur extensiven Wahrnehmung seiner Jurisdiktionsmöglichkeiten. Dies trat bereits dadurch zutage, daß die erste Entfaltung des gerichtlichen Übertragungskonzepts in den Entscheidungen von 1970 und 1976 weitgehend durch obiter dicta erfolgte63 • In beiden Fällen, vor allem im letzteren, enthielten die Entscheidungsgründe deutlich mehr Ausführungen, als zur Bejahung der Zulässigkeit von Haushaltsänderungsvertrag bzw. Einnahmenersetzungsbeschluß ( 1970) sowie der Direktwahl des Europäischen Parlaments (1976) notwendig und angesichts der französischen Tradition möglichst knapper Entscheidungsgründe zu erwarten gewesen wäre. Dem Gericht kam es offensichtlich darauf an, zwar nicht eine detaillierte Übertragungsdogmatik von bundesverfassungsgerichtliehen Ausmaßen zu entwickeln, aber doch einige über die konkreten Fälle hinausweisende Leitlinien fUr die Zukunft aufzustellen64 (deren Erfassung allerdings immer noch eines hohen Entschlüsselungsaufwands bedurfte). Kernpunkt dieser Leitlinien war nach der Entscheidung von 1976 die von Michel Debn\ terminologisch vorgeprägte Unterscheidung von "transferts" und "limitations" der Souveränität, welche die in der Entscheidung von 1970 benutzte Formel von den "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete nationale" ablöste (zu der das Gericht schließlich später wieder zurückkehr61 Vgl. Nguyen Quoc Dinh, La Constitution de 1958 et Je droit international, RDP 1959, S. 515 ff., 544: "il est hors de doute que les auteurs de I'article 54 ont eu surtout en vue ce phenomeme 'd'integration de souverainetes'". Vgl. auch F Luchaire (FN. 30), S. 414 m. w. N.

V Constantinesco I J.- P Jacque (FN. 18), S. 189. V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 18), S. 190. 64 Vgl. nur R. Abraham, Droit international, droit communautaire et droit francais, Paris 1989, S. 60, der die Entscheidung von 1976 als "arret de reglement" charakterisiert hat. 62 63

176

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

te). Hiermit balancierte65 der Conseil die konträren Prinzipien aus Art. 3 und Absatz 14 der Präambel 1946 gegeneinander aus und konkretisierte sie zu einer Reihe sowohl quantitativer, an Umfang und Bedeutung der Kompetenzdelegation anknüpfender, als auch qualitativer, auf die interne Gemeinschaftsstruktur abhebender Anforderungen an Übertragungsakte. Auf der Grundlage dieser Judikatur wurde 1992 in der Maastricht I-Entscheidung, die zugleich eine weitere Verfeinerung des Übertragungskonzepts vornahm, zum ersten Mal eine europäische Integrationsvertiefung vom Gericht als mit der französischen Verfassung unvereinbar erklärt. Zugleich vollzog sich in der Maastricht IEntscheidung erstmals eine Aufspaltung der Übertragungsschranken66 : Dem Prinzip der nationalen Souveränität, das bislang als einziges Integrationsgrenzen markiert hatte, wurde mit der Forderung nach Wahrung der Grundrechte eine weitere Schranke zur Seite gestellt. Die Maastricht I-Entscheidung fiihrte zur Notwendigkeit einer Verfassungsänderung. Um den Unionsvertrag verabschieden zu können, erhielt die Verfassung einen neuen Titel XIV "Des Communautes Europeennes et de l'Union Europeenne", der neben einer Programmvorschrift zur Integrationsteilnahme (Art. 88-1) und einer auf die Einbindung der parlamentarischen Körperschaften in den europapolitischen Willensbildungsprozeß der Regierung abzielenden Bestimmung (Art. 88-4) mit den Art. 88-2 und Art. 88-3 Ermächtigungsgrundlagen fUr die durch den Conseil Constitutionnel verworfenen unionsvertraglichen Regelungen über die Wirtschafts- und Währungsunion, das kommunale Wahlrecht fUr Gemeinschaftsbürger sowie die gemeinsame Visapolitik gegenüber Drittstaaten eintuhrte67 • Diese neuen Verfassungsbestim65 M. Fromont, Le Conseil Constitutionnel et !es engagements internationaux de Ia France, FS H. Mosler, Köln 1983, S. 221 ff., 222. 66 Vgl. P Gaia (FN. 7), S. 233. 67 Art. 88-1: La Republique participe aux Communautes europeennes et a !'Union europeenne, constituees d'Etats qui ont choisi librement, en vertu des traites qui !es ont instituees, d'exercer en commun certaines de leurs competences. -Die Republik wirkt an den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union mit, die aus Staaten bestehen, die sich kraftder Gründungsverträge freiwillig entschlossen haben, bestimmte ihrer Kompetenzen gemeinsam auszuüben. Art. 88-2: Sous reserve de reciprocite et selon !es modalites prevues par Je Traite sur I'Union europeenne signe Je 7 fevrier 1992, Ia France consent aux transferts de competences necessaires a l'etablissement de !' Union Economique et Monetaire europeenne ainsi qu'a Ia determination des regles relatives au franchissement des frontieres exterieures des Etats membres de Ia Communaute europeenne. - Vorbehaltlich der Gegenseitigkeit und gemäß den Modalitäten des am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrages über die Europäische Union stimmt Frankreich der Übertragung der notwendigen Kompetenzen zur Schaffung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Festlegung der Bestimmungen über das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu.

I. Einfiihrung

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mungen dehnten fiir den Spezialfall des Maastricht-Vertrages die Übertragungsgewalt des Parlaments in einer dann vom Conseil Constitutionnel in der Maastricht II-Entscheidung fiir ausreichend erachteten Weise aus, ließen aber im übrigen die bisherige Verfassungsrechtslage unangetastet. Für die Mitwirkung des (einfachgesetzlichen) Übertragungsgesetzgebers an künftigen Vertragsänderungen ist daher weiterhin das in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte richterrechtliche System der Übertragungsschranken maßgeblich 68 • Die Entfaltung dieses Systems in der Europajudikatur des Conseil Constitutionnel soll im folgenden näher dargestellt werden (unten II.). Der anschließende Abschnitt (unten III.) wird sodann von der französischen Diskussion über die Existenz von Übertragungsschranken fiir den verfassungsändernden Gesetzgeber berichten, die in den letzten Jahren - entzündet am Thema Europa ! - zum ersten Mal in der französischen Verfassungsgeschichte die Frage nach der konstitutionellen Einbindung des pouvoir constituant derive auf die Tagesordnung gebracht hat.

Art. 88-3: Sous reserve de reciprocite et selon les modalites prevues par le Traite sur I'Union europeenne signe le 7 fevrier 1992, le droit de vote et d' eligibilite aux elections municipales peut etre accorde aux seuls citoyens de I'Union residant en France. Ces citoyens ne peuvent excercer les fonctions de maire ou d'adjoint ni participer a Ia designation des electeurs senatoriaux et a l'election des senateurs. Une loi organique votee dans les memes termes par les deux assemblees determine les conditions d'application du present article. - Vorbehaltlich der Gegenseitigkeit und gemäß den Modalitäten des am 7. Februar /992 unterzeichneten Vertrages über die Europäische Union kann das aktive und passive Wahlrecht bei Gemeindewahlen den Unionsbürgern mit Wohnsitz in Frankreich gewährt werden. Diese Bürger dürfen weder das Amt des Bürgermeisters oder eines Beigeordneten innehaben, noch an der Nominierung der Wahlmänner zum Senat oder an der Wahl der Mitglieder des Senats teilnehmen. Das Nähere regelt ein durch beide Kammern in gleicher Fassung beschlossenes Organgesetz.

Art. 88-4: Le gouvernement soumet a I' Assemblee et au Senat, des leur transmission au Conseil des Communautes, les propositions d'actes communautaires comportant des dispositions de nature legislative. Pendant les sessions ou en dehors d'elles, des resolutions peuvent etre votees dans le cadre du present article, selon des modalites determinees par le reglement de chaque assemblee. Die Regierung leitet der Nationalversammlung und dem Senat unmittelbar nach deren Übermittlung an den Rat der Gemeinschaften die Vorschläge von Gemeinschaftsregelungen zu, die Bestimmungen mit Gesetzescharakter enthalten. Während oder außerhalb der Sitzungsperioden können Resolutionen im Rahmen dieses Artikels nach den Bestimmungen der Geschäftsordnungen beider Kammern gejaßt werden. 68

r de Berranger (FN. 1), S. 87.

12 Hecker

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt 1. Das Prinzip der nationalen Souveränität

a) Die Vor-Maastricht-Judikatur

aa) Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel von 197069 (1) Vorgeschichte

Der die Budgetrechte des Europäischen Parlaments stärkende Vertrag zur Änderung des gemeinschaftlichen Haushaltsverfahrens vom 22. April 1970 sowie der Einnahmenersetzungsbeschluß des Rates vom Tag danach wurden in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs mit großer Anteilnahme begleitet. Der Berichterstatter in der Nationalversammlung bezeichnete die Schöpfung der neuen europäischen Finanzverfassung als "l'acte Je plus important intervenu depuis Ia signature des traites initiaux"70 • Anders als bei Abschluß der Römischen Verträge stand fiir die inzwischen sensibilisierten, zum Teil noch im Bann der Buropafeindlichkeit de Gaulles stehenden (und insoweit mit den kommunistischen Abgeordneten eine unheilige Allianz bildenden71 ) Abgeordneten die Frage nach den Auswirkungen der Akte auf die Wahrung der nationalen Souveränität stark im Vordergrund und beherrschte die Ratifizierungsdebatte72 . Die neuen Budgetrechte des Europäischen Parlaments - immerhin ging es hier, so embryonal diese auch waren, um ein klassisches Parlamentsattribut symbolisierten fiir viele einen ersten Schritt zur europäischen politischen Einigung73 , und der mit ihnen verbundene Beschluß gemeinschaftseigener Einnahmen durch den Rat illustrierte deutlich, welche Gefahren ein solches Szenarium fiir die fiskalischen Befugnisse der nationalen Parlamente - und darüber hinaus - beinhaltete.

CC v. 19. 6. 1970- No. 70-39 DC, Rec. 15. "den bedeutsamsten Akt seit der Unterzeichnung der Gründungsverträge"; J.O., Debats parlementaires, Assemblee Nationale, 1ere et 2eme seances du 23 juin 1970, n° 57, S. 2912. 69

70

71 72

C. Emeri I J.- C. Gautran, Urteilsanmerkung, RDP 1971, S. 157 ff., 159. C. Emeri I J. - C. Gautran (FN. 71), S. 168; D. Ruzie, L'autonomie financiere des

Communautes europeennes et l'accroisement des pouvoirs budgetaires du Parlament europeen, JCP 1970, I, 2354. 73

C. Emeri I J. -C. Gautran (FN. 71), S. 160 ff.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

179

Das weitverbreitete Unbehagen, das nur durch das starke französische Interesse an den günstigen Implikationen des Einnahmenersetzungsbeschlusses fiir die europäischen Agrarfmanzen noch gezäumt wurde7\ kanalisierte sich in einem Vorstoß von Jean Foyer, dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses der Nationalversammlung und ehemaligen Justizminister. Foyer war der Auffassung, die Akte stünden im Widerspruch zur französischen Verfassung und legte - eine Desavouierung der Regierung, die die Änderungen auf der Haager Gipfelkonferenz 1969 mitgetragen hatte75 - am 10. Juni 1970 den Entwurf eines verfassungsändernden Gesetzes vor, ohne das sie in seinen Augen parlamentarisch nicht gebilligt werden durften. Foyer sah in den Akten einen Verstoß gegen Art. 34 der Verfassung - der dem Parlament die Steuerhoheit zuweist -, gegen das Prinzip der nationalen Souveränität sowie gegen das republikanische Prinzip (Art. 2 Abs. 1)- nach dem Steuern nur durch gewählte Körperschaften beschlossen werden dürfen -76 • In dieser zugespitzten Lage sah sich der Premierminister am 11. 6. veranlaßt, dem Conseil Constitutionnel Haushaltsänderungsvertrag sowie Einnahmenersetzungsbeschluß vorzulegen, um hierdurch die Debatte zumindest in ihren juristischen Elementen zu entschärfen.

(2) Der Text der Entscheidungsgründe

Das Gericht gliederte seine Entscheidung in zwei Abschnitte. Der erste, den Haushaltsänderungsvertrag betreffende Abschnitt umfaßte drei Erwägungsgründe. Der Conseil stellte hier fest, daß der Vertrag lediglich "des dispositions relatives au fonctionnement interne des Communautes modifiant Ia repartition des competences entre !es diverses organes de celle-ci"77 treffe, ohne hingegen "l'equilibre des relations entre !es Communautes europeennes ...et les Etats membres" 78 zu berühren (2. EG). Im nachfolgenden dritten Erwägungsgrund hob er hervor, die neuen Bestimmungen würden erst nach Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde wirksam und besäßen folglich einen "caractere

74 C. Emeri I J - C. Gautran (FN. 71 ), S. 172. Der Conseil Constitutionnel zielte wohl auch auf die Agrarpolitik der Gemeinschaft ab, als er im achten Erwägungsgrund von dem "etablissement d'une politique commune" sprach; ebda. , S. 174. 75 C. Rausseau, Urteilsanmerkung, RGDIP 1971, S. 241 ff., 243.

76

C. Emeri I J -C. Gautran (FN. 71), S. 167; R. Abraham (FN. 64), S. 57 f.

"Bestimmungen über die interne Funktionsweise der Gemeinschaften, welche die Zuständigkeitsverteilung unter ihren verschiedenen Organen verändern" . 78 "die Gewichtsverteilung im Verhältnis zwischen den Europäischen Gemeinschaften ... und den Mitgliedstaaten". 77

12*

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2. Kap.: Conseil Constitutionne1 I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

d'engagements reciproques" 79 . Im vierten Erwägungsgrund schloß das Gericht mit der nicht weiter ausgefilhrten Feststellung, "en consequence" könne keine Verfassungsbestimmung verletzt sein. In den Erwägungsgründen filnf bis neun zum Einnahmenersetzungsbeschluß hob der Conseil Constitutionnel, wie erwähnt, zunächst dessen Charakter als "mesure d'application" (6. EG) der Gründungsverträge hervor. Es folgten dann in den beiden abschließenden Erwägungsgründen die gleichfalls bereits angesprochenen, unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der "incontestabilite'' sehr bedenklichen Feststellungen, daß der Beschluß keine Grundsatzbedeutung ("valeur de principe"; 8. EG) besitze und deshalb "ne peut porter atteinte, ni par sa nature, ni par son importance, aux conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale"80 (9. EG).

(3) Erster Analyseschritt: Art. 3 der Verfassung und Absatz 14 der Präambel von 1946 als exklusive Maßstabsnormen für Übertragungsakte

Mit der letztgenannten Bemerkung nahm der Conseil Constitutionnel zum ersten Mal in seiner Rechtsprechung die ausdrückliche Festlegung vor, daß das Prinzip der nationalen Souveränität der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt bestimmte Grenzen setzt, die Verfassung also keinesfalls unbeschränkt zur Teilnahme an Integrationsgemeinschaften ermächtigt. Übertragungen dürften, so lautete der Rückschluß aus dem neunten Erwägungsgrund, nicht dazu fUhren, daß die "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" beeinträchtigt werden. Eine Bekräftigung dieser prinzipiellen Existenz von Übertragungsschranken konnte darüber hinaus auch aus der Prüfung des Haushaltsänderungsvertrages im ersten Abschnitt der Entscheidungsgründe abgelesen werden: Denn die Feststellung, der Vertrag betreffe nicht das Außenverhältnis zu den Mitgliedstaaten und sei daher ("en consequence") verfassungsmäßig, implizierte, daß im gegenteiligen Falle verfassungsrechtliche Bedenken hätten bestehen können 81 •

79

"Charakter von wechselseitigen Verpflichtungen".

go "weder seiner Art, noch seiner Bedeutung nach die wesentlichen Grundbedingungen

flir die Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigen kann".

81 R. Kovar I D. Simon, Same reflections on the decision of the french constitutional council of december 30, 1976, CMLR 1977, S. 525 ff., 546. V gl. auch L. Hamon (FN. 25), s. 301.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

181

Auf der anderen Seite erkannte das Gericht an, daß die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber nicht jede Übertragung verbietet, sondern solche zuläßt und hierbei auch bis zu einem gewissen Grad Eingriffe in die internen Verfassungsstrukturen gestattet82• Nur eben dann seien die mit Übertragungsakten einhergehenden Eingriffe verboten, wenn sie die wesentlichen Bedingungen für die Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigten; unterhalb dieser Schwelle eröffue die Verfassung hingegen Integrationsspielräume. Als insoweit einschlägige Ermächtigungsnorm identifizierte der Conseil dabei Absatz 14 der Präambel von 1946. Zwar wurde diese Vorschrift in dem Urteil nicht ausdrücklich benannt. Aber es waren doch sowohl die Bezugnahme auf "Ia Constitution, et notamment son preambule" in den "Visas" als auch die im dritten wie im sechsten Erwägungsgrund angestellten Vergewisserungen über die - in Absatz 14 geforderte - Gegenseitigkeit der neuen Verpflichtungen als Hinweis hierauf zu verstehen83 • Wandte man diesen Ansatz auf den konkreten Fall an, so ergaben sich folgende (vom Conseil Constitutionnel freilich ebensowenig ausdrücklich gemachte) strukturelle Begründungsschritte, die hier beispielhaft am Einnahmenersetzungsbeschluß nachvollzogen seien: Durch diesen Beschluß, der die Finanzierung der Gemeinschaft von mitgliedstaatliehen Mitteltransfers auf ein Mischsystem umstellte, das mit Zoll- und Agrarabschöpfungseinnahmen auch eigene 82 So bereits H. J Schlenzka, Die Europäischen Gemeinschaften und die Verfassungen der Mitgliedstaaten, Diss. jur.Bonn 1967, S. 179. 83 So die ganz herrschende Meinung; F Luchaire (FN. 30), S. 413, 419; J. - P Jacque, Reciprocite, droit communautaire et droit interne francais, GS L. - J. Constantinesco, Köln 1983, S. 325 ff., 327; V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 18), S. 190; F Goguel, A propos du Conseil constitutionnel, Projet 204 ( 1987), S. 85 ff., 87; P - H. Teitgen (FN. 4), S. 104; B. Genevois, Le droit international et le droit communautaire, in: Conseil Constitutionnel et Conseil d'Etat, Colloque des 21 et 22 janvier 1988 au Senat, Paris 1988, S. 191 ff., 200; M. Darmon, Juridictions constitutionnelles et droit communautaire, RTDE 1988, S. 217 ff., 245; J. Rideau, Constitution et droit international dans les Etats membres des Communautes europeennes, RFDC 1990, S. 259 ff., 285; P Gaia (FN. II), S. 321; T de Berranger (FN. 1), S. 76, 136. Anderer Auffassung warD. Ruzie (FN. 72), der hierin einen Bezug auf Art. 55 der Verfassung, der ebenfalls ein Gegenseitigkeitserfordernis enthält, sah; ebenso E. - W. Fuß, Souveränitätsdenken als Fessel des lntegrationsfortschritts, DVBI. 1980, S. 98 ff., 99. Diese Interpretation macht wenig Sinn, da es um die Prüfung neuer, noch nicht in Kraft getretener "engagements internationaux" ging, auf die Art. 55 keine Anwendung findet. Allenfalls ließe sich darüber streiten, ob nicht die zweite, im sechsten Erwägungsgrund auftauchende Erwägung der Gegenseitigkeit auf Art. 55 bezogen sein könnte. Dafür spricht, daß sie sich im Kontext der den Römischen Verträgen geltenden "incontestabilite"-Bekräftigung befindet; dagegen spricht allerdings, daß das Gericht hier die Worte "reciprocite susmentionnee" verwandte, also auf den 3. Erwägungsgrund verwies, worin eben eindeutig keine Referenz auf Art. 55 enthalten sein kann.

182

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Mittel der Gemeinschaft beinhaltete84, war zwar in den Gewährleistungsbereich des Prinzips der nationalen Souveränität eingegriffen geworden. Denn mit der Etablierung einer auf französischem Boden neuen Steuergewalt, die direkt gegenüber französischen Staatsbürger ausgeübt wird, wurde öffentliche Gewalt begründet, die sich nicht auf den exklusiven Willen der französischen Nation zurückfUhrt und folglich dem Postulat einer nationalen Demokratie widersprach85. Dieser "Eingriff" war jedoch durch die mit dem Prinzip der nationalen Souveränität kollidierende Integrationsermächtigung aus Absatz 14 der Präambel von 1946 "gerechtfertigt", da er einen Bedeutungsgrad aufwies, der sich noch innerhalb der erlaubten Skala bewegte, keine "condition essentielle d'exercice de la souverainete nationale" beeinträchtigte. Für den Conseil Constitutionnel defmierte also das Prinzip der nationalen Souveränität einen bestimmten Schutzbereich (keine Ausübung öffentlicher Gewalt, die sich nicht auf den exklusiven Willen der französischen Nation zurückfUhrt), dem durch die Integrationsermächtigung aus Absatz 14 Präambel 1946 eine Schranke gesetzt wird, die ihrerseits durch die Schranken-Schranke der "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" begrenzt wird86 . Daß der Einnahmenersetzungsbeschluß zugleich auch einen Eingriff in die parlamentarischen Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 34 (Steuern und

s4 Zum genauen Inhalt des Einnahmenersetzungsbeschlusses C. Emeri I J. - C. Gautran (FN. 71), S. 165. 85 Die Gemeinschaftszölle und -abgaben, die vor 1970 auf französischem Boden erhoben wurden, hatten keine Finanzierungsfunktion, sondern eine Lenkungsfunktion (Durchfilhrung der Zoll- und Agrarpolitik), und flossen dementsprechend auch nicht in den Gemeinschaftshaushalt Sie begründeten keine "gemeinschaftliche Steuergewalt". die in Konkurrenz zur französischen hätte treten können. Die durch den Einnahmenersetzungsbeschluß vollzogene "Umwidmung" der Gemeinschaftszölle und -abgaben stellte insofern eine erneute Verkürzung des Rechts der französischen Nation auf exklusive Selbstbestimmung und folglich einen Eingriff in den Gewährleistungsbereich des Prinzips der nationalen Souveränität dar (wenn man, wie der Conseil Constitutionnel, von der hier als problematisch eingestuften Voraussetzung ausgeht, daß der Einnahmenersetzungsbeschluß eine neue internationale Verpflichtung darstellte, die nicht bereits in dem 1957 in Kraft getretenen und verfassungsjustiziell unangreifbar gewordenen Integrationsprogramm festgeschrieben worden war). 86 Oder, was sachlich keinen Unterschied macht: Absatz 14 der Präambel ermächtigt zu Übertragungsakten, wobei die "conditions essentielles" eine Schranke bilden. Die dreistufige Konstruktion "Schutzbereich - Schranken - Schranken-Schranke" fängt allerdings besser den Umstand ein, daß die Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Übertragungsakten sich in einem dialektisch strukturierten Abwägungsprozeß vollzieht, in dem der Blick fortwährend zwischen Integrationszweck (Schranke) und Auswirkung auf die nationale Verfassungsidentität (Schranken-Schranke) hin- und herwandert

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

183

Abgaben) darstellte 87, wurde vom Conseil Constitutionnel nicht eigens erwähnt88. Die Entscheidungsgründe orientierten die Prüfung ausschließlich an der aus Art. 3 geschöpften Übertragungsschranke (bzw. Schranken-Schranke89) der "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete". Die Konzentration auf diese Vorschrift machte freilich auch Sinn. Denn die Frage, ob eine mit der Begründung gemeinschaftlicher Befugnisse einhergehende Beschneidung der parlamentarischen Kompetenzen verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, kann aus Art. 34 nicht geklärt werden. Art. 34, der zur Regelung der inneren Staatsorganisation konzipiert ist, hält zur Klärung dieser Frage keine Maßstäbe bereit. Die Vorschrift verbietet ftir sich genommen jede Schmälerung der parlamentarischen Gesetzgebungsrechte, was im Umfeld einer Verfassung, die an anderer Stelle zur Teilnahme an Integrationsgemeinschaften (die zwangsläufig stets eine Schmälerung der Befugnisse nationaler Parlamente mit sich bringen) ermächtigt, nicht das letzte Wort sein kann. Aufschluß über die Zulässigkeit einer solchen Schmälerung ergibt sich nur nur Art. 390 , der mit den "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" von der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung einen unantastbaren Kernbereich nationaler Verfassungsidentität ausnimmt und somit als spezielle Querschnittsvorschritt zur Regelung der Übertragungsgrenzen die Vorschrift des Art. 34 gleichsam mediatisiert. Ein durch Übertragungsakte vorgenommener Eingriff in Art. 34 kann also nur dann ein kritisches Ausmaß erreichen, wenn er zugleich an die von Art. 3 defmierten Ermächtigungsgrenzen stößt. Diese Mediatisierung anderer Verfassungsvorschriften, die in der Entscheidung von 1970 zum ersten Mal zum Ausdruck gebracht wurde, darf allerdings sinnvollerweise nur so weit reichen, wie der Schutzgehalt dieser Vorschriften vom Schutzgehalt des Prinzips der nationalen Souveränität mitumfaßt wird. Denn andernfalls eröffnen sich Räume, in denen gegenüber den durch Übertragungsakten bewirkten Eingriffen in nationale Verfassungsstrukturen keinerlei Sperren mehr bestehen. Zwischen Art. 34 und Art. 3 besteht eine solche hinreichende Deckungsgleichheit des Schutzgehalts: Hinter der Zuordnung von n Bis 1970 wurde über die Finanzzuwendungen an die Gemeinschaft jährlich vorn Parlament im "loi des finances" beschlossen. 88 Der Eingriff in die parlamentarische Steuerhoheit gemäß Art. 34 der Verfassung machte den Einnahrnenersetzungsbeschluß lediglich nach Art. 53 der Verfassung zustirnrnungspflichtig. Dieses Erfordernis wurde vorn Conseil Constitutionnel im 6. Erwägungsgrund allerdings hervorgehoben. Vgl. C. Emeri I J. - C. Gautron (FN. 71), S. 174. 39 Auch wenn die "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" hier dogmatisch als Schranken-Schranke aufgefaßt werden (s. o.), werden sie im folgenden aus Gründen sprachlicher Vereinfachung zuweilen als "Übertragungsschranke" bezeichnet. 90 Ähnlich J. Rideau (FN. 83), S. 280.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Kompetenzen an das französische Parlament steht der - eben auch von Art. 3, und hier global, geschützte - Anspruch des französischen Volkes darauf, in einem bestimmten Kompetenzbereich nur solchen Akten unterworfen zu werden, die durch von ihm direkt gewählte Abgeordnete beschlossen werden, die also auf seinen (und nur seinen) Willen zurückzufuhren sind91 • Das "normative Anliegen" des Art. 34 ist zugleich auch dasjenige des Prinzips der nationalen Souveränität (welches lediglich einen im Vergleich zu Art. 34 erweiterten Regelungsbereich hat, weil es dieses Anliegen auch im thematischen Kontext der Integration Frankreichs in eine internationale Gemeinschaft zur Geltung bringt). Anders verhält es sich hingegen beispielsweise im Bereich der Grundrechte: Diese garantieren in ihrer Mehrzahl dem französischem Volk Freiheitsräume gegenüber der staatlichen Gewalt und stehen mit dem durch Art. 3 gewährleisteten Anspruch auf national-demokratische Selbstbestimmung (der dem status activus zuzuordnen ist) in keinem Zusammenhang, fallen also anders als Art. 34 aus dem Schutzbereich von Art. 3 heraus. Soweit daher ein Übertragungsakt grundrechtlich kritische Gemeinschaftsbefugnisse begründen würde, ergäben sich aus Art. 3 keine passenden Maßstäbe zur Beurteilung seiner Zulässigkeit. Folglich wäre eine Mediatisierung hier inadäquat und müßten etwaige Schranken der Integrationsermächtigung aus dem betroffenen Grundrecht selbst abgeleitet werden. Art. 3 kann hier nicht mehr die Rolle einer exklusiven Maßstabsnorm fur Übertragungsakte spielen. Zu diesen Fragen vorzustoßen bestand allerdings fur den Conseil Constitutionnel im vorliegenden Fall noch kein Anlaß92 ; dennoch wurde dem Betrachter hier zum ersten Mal sichtbar, daß sie sich einmal stellen könnten.

(4) Erste inhaltliche Konkretisierungen der Übertragungsschranken

Mit der Herausschälung des Spannungsbogens93 zwischen dem Prinzip der nationalen Souveränität und der Integrationsermächtigung aus Absatz 14 der 91 Ähnlich verhält es sich bei anderen Organisationsnormen wie der Festlegung der Regierungskompetenzen (Art. 20, 38) oder auch der Beschränkung des Wahlrechts zum Parlament auf französische Staatsbürger (Art. 3 Abs. 4). Auch hinter ihnen steht jeweils der von Art. 3 global geschützte Anspruch der französischen Nation, nur solcher öffentlicher Gewalt ausgesetzt zu werden, die auf ihren - und nur ihren - Willen zurückgeführt werden kann.

92 Im Vorgriff auf späteres sei an dieser Stelle aber bereits bemerkt, daß der Conseil Constitutionnel in nachfolgenden Entscheidungen die Mediatisierungsfunktion des Art. 3 doch so weit vorantrieb, daß er zeitweise auch das Erfordernis der Grundrechtswahrung als "condition essentielle d'exercice de Ia souverainete nationale" ausgab. 93

PE. Goose, Urteilsanmerkung, EuR 1971, S. 62 ff., 68.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

185

Präambel von 1946 hatte der Conseil Constitutionnel einen strukturellen Ansatz filr die Übertragungskontrolle aufgezeigt. Weniger deutlich blieb die Entscheidung hingegen in der Angabe des genauen Inhalts der Übertragungsschranken94 • Wie weit Absatz 14 der Präambel den französischen Gesetzgeber zu Eingriffen in die nationalen Verfassungsstrukturen ermächtigen würde, wo genau die Grenzen der Integrationsgewalt liegen, ließ sich anband der Entscheidungsgründe nur in relativ groben Umrissen bestimmen. · Die Formel von den "conditions essentielles" der Ausübung der nationalen Souveränität machte deutlich, daß nach Auffassung des Gerichts jedenfalls nur eine besonders gravierende Aufgabe nationaler Gestaltungsbefugnisse unzulässig sein würde. Aus der im 8. Erwägungsgrund vorgenommenen Erwähnung des fehlenden "valeur de principe" des Einnahrnenersetzungsbeschlusses ließ sich die Vermutung ableiten, daß dies die Übertragung bestimmter hoheitlicher Kernkompetenzen (etwa im militärischen Sektor), zumindest sofern diese einen quantitativ bedeutsamen Umfang aufweisen sollten, betreffen könnte. In diesem Sinne ließ sich auch das im neunten Erwägungsgrund folgende Resurne auslegen, weder nach der "Natur" (zu lesen: nach dem Grad seiner Nähe zu hoheitlichen Kembereichen), noch nach der "Wichtigkeit" (zu lesen: nach seiner quantitativen Bedeutung) des Beschlußinhalts seien die wesentlichen Bedingungen filr die Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigt. Einen zweiten Ansatzpunkt zur Interpretation bot der zum Haushaltsänderungsvertrag vom Conseil gegebene Hinweis, betroffen sei nur die Kompetenzverteilung zwischen verschiedenen Gemeinschaftsorganen und das Außenverhältnis zu den Mitgliedstaaten nicht berührt (2. EG)95 • An sich war es naheliegend, hierin ein Bekenntnis zur verfassungsrechtlichen Irrelevanz der gemeinschaftlichen Binnenstruktur und damit zur Beschränkung der Übertragungsgrenzen auf den (verbands-) kompetenziellen Aspekt zu erblicken96 - die französische Verfassung würde demnach Direktiven nur im Hinblick auf Art und Umfang der übertragenen Kompetenzen setzen, hingegen die Frage ihrer Ausübung auf Gemeinschaftsebene gänzlich ausblenden. Angesichts der engen Korrelation zwischen der Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse und dem hieraus jeweils folgenden Maß an mitgliedstaatliehen Einwirkungsmöglichkeiten war aber einer solchen Interpretation, die denn auch 94

M. Darmon (FN. 83), S. 241.

Das Gericht erwähnte in diesem Teil der Prüfung die Integrationsschranke der "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete" gar nicht, sondern begnügte sich mit dem Hinweis, es seien - wegen der Beschränkung auf die gemeinschaftsinnere Sphäre und wegen der Gegenseitigkeit der Verpflichtungen - keine Verfassungsvorschriften verletzt (s. o.} Ob dies auf redaktioneller Nachlässigkeit beruhte oder darauf, daß es nicht einmal den Schutzbereich des Art. 3 für tangiert hielt, bleibt unklar. 96 So PE. Goose (FN. 93), S. 64, 66; vgl. auch E. W Fuß (FN. 83), S. 100. 95

186

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

von den nachfolgenden Entscheidungen widerlegt wurde, von vomeherein mit Skepsis zu begegnen. Aus Sicht des Prinzips der nationalen Souveränität muß es einen fundamentalen Unterschied ausmachen, ob der intergouvernemental besetzte (und nach damaliger Praxis mitgliedstaatliche Vetomacht konservierende) Rat oder die stärker supranational strukturierten Organe Parlament bzw. Kommission als Kompetenzträger auftreten97 • Mit der internen Befugnisverteilung entscheidet sich die Frage der grundsätzlichen Ausrichtung der Gemeinschaft als eher zwischenstaatliche oder eher supranationale Organisation - und damit der Grad verbleibender nationaler Mitbestimmungsrechte, d.h. letztlich des Maßes, in dem das französische Volk Einfluß auf die Ausübung auf französischem Boden ausgeübter öffentlicher Gewalt behauptet. Daß in den Augen des Conseil Constitutionnel die französische Verfassung dieser Frage gegenüber indifferent sei, war äußerst unwahrscheinlich. Die im zweiten Erwägungsgrund enthaltenen Ausfilhrungen waren plausibler damit zu erklären, daß auch nach dem Vertrag vom 22. April 1970 die parlamentarischen Letztentscheidungsbefugnisse sachlich begrenzt98 und überdies mit prozeduralen Hemmnissen versehen99 blieben- vor allem aber damit, daß mit der Feststellung des Gemeinschaftshaushalts keine unmittelbaren Rechtswirkungen gegenüber den Mitgliedstaaten bzw. ihren Bürgern verbunden sind. Adressaten des gemeinschaftlichen Haushaltsplanes sind ausschließlich die Gemeinschaftsorgane, und so wichtig dieser in allgemeinpolitischer Hinsicht als Verteilungs- und damit Steuerungsinstrument sein mag: Er greift, anders als die (vorwiegend in der Hand des Rates bleibenden) Rechtssetzungsakte des Art. 189 EWGV, nicht direkt in die mitgliedstaatliche Freiheit ein und fUhrt nicht zur Ausübung öffentlicher (repressiver) Gewalt gegenüber den einzelnen Bürgern. Nur in diesem Sinne durfte die gerichtliche Aussage, lediglich die gemeinschaftsinterne Sphäre sei betroffen, aufgefaßt werden - einen generellen Freibrief fUr die innere Gemeinschaftsorganisation, genauer: die organkompetenzielle Binnenstruktur wollte der Conseil Constitutionnel hiermit wohl kaum ausstellen.

97 V gl. hierzu D. Baumgartner, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor französischem Recht, DVBJ. 1977, S. 70 ff., 75. 98 Nämlich auf die nichtobligatorischen Ausgaben; näher T Oppermann, Europarecht, München 1991, RN. 735. 99 Durch den Zwang zur qualifizierten Mehrheit im Falle einer zweiten Ratsvorlage; näher r Oppermann (FN. 98), RN. 735.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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(5) Bewertung

Mit der Entscheidung von 1970 setzte der Conseil Constitutionnel die grundlegenden dogmatischen Ausgangsbedingungen der Übertragungsprüfung fest und deutete in noch groben, seinen zukünftigen Entscheidungsspielraum weit haltenden Umrissen bestimmte verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrenzen fiir einfachgesetzliche Übertragungsakte an. Damit legte er einen bedeutenden Grundstein filr die kommende Europajudikatur 100• Es bestätigte sich, daß der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt durch das Prinzip der nationalen Souveränität, das insoweit einige andere Verfassungsvorschriften - wie im vorliegenden Fall den Art. 34 - mediatisiert, prinziell Grenzen gesetzt sind. Daß diese Grenzen in kompetenzieller Hinsicht, aufgeflichert nach Art und Umfang der jeweils in Frage stehenden Befugnisse, zu suchen sind, trat dabei in dem Urteil klarer hervor als im Hinblick auf die interne Gemeinschaftsstruktur, wo jedoch die Aussagen im zweiten Erwägungsgrund zumindest nicht als Absage an verfassungsrechtliche Vorgaben zu diesem Punkt interpretiert werden durften. Ob sich auch aus weiteren Verfassungsnormen neben dem Prinzip der nationalen Souveränität Übertragungsschranken ergeben können, wurde in der Entscheidung nicht geklärt. Das Gericht machte in jedem Fall deutlich, daß es bei der Kontrolle von Übertragungsakten die Gemeinschaften als gewöhnliche internationale Organisationen zu behandeln 101 , also keinen "europäischen Bonus" einzuräumen gewillt sei. Auch gegenüber der Gemeinschaft müsse der Grundsatz der nationalen Souveränität - in ·den durch Absatz 14 der Präambel von 1946 gezogenen Schranken - zur Geltung gebracht werden 102 • Der Conseil gestand zwar zu, daß im Rahmen der Beteiligung an Integrationsgemeinschaften Eingriffe in innerstaatliche Verfassungsstrukturen - in diesem Fall: in die parlamentarische Steuerhoheit - vorgenommen werden dürfen. Keinesfalls aber decke die Verfassung die Aufgabe essentieller nationaler Positionen. Die nationalstaatliche Identität - als Anspruch des französischen Volkes auf national-demokratische Selbstbestimmung - stehe jedenfalls filr die einfache Übertragungsgewalt von Verfassungs wegen nicht vollständig zur Disposition. Hand in Hand mit dieser verbalen Festigkeit ging allerdings eine nicht zu übersehende Geschmeidigkeit im praktischen Vorgehen 103 • Denn wenn der 100 Angesichts dessen ist es verwunderlich, daß die Entscheidung nur so spärlich kommentiert wurde und auch in späteren Arbeiten verhältnismäßig unterbeleuchtet blieb.

101 Nguyen Quoc Dinh, Le Conseil constitutionnel francais et !es regles du droit public international, RGDIP 1976, S. 1001 ff., 1005. 102 J. Rideau (FN. 83), S. 280. 103

Vgl. G. Vedel (FN. 18), S. 14.

188

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Schaffung eigener Einnahmequellen ein "valeur de principe" abgesprochen und die Begründung parlamentarischer Budgetrechte als Gemeinschaftsinternum abgetan wurden, dann spielte dies doch die Bedeutung beider Schritte beträchtlich herunter 104 • Die neue Finanzverfassung stärkte unzweifelhaft den supranationalen Charakter der Gemeinschaft und stellte einen qualitativen Integrationssprung dar, der (wie die Parlamentarier zu Recht erkannten) deutlicher als bisher die Perspektive einer politischen Einigung und damit Gefahren fiir die Wahrung nationaler Souveränität aufzeigte. Das Gericht entdramatisierte diesen Punkt und signalisierte damit einen Pragmatismus, der Befiirchtungen vor einer zukünftigen integrationspolitischen Bremserrolle des Gerichts zunächst einmal zerstreuen mußte.

bb) Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel von 1976 105 (1) Vorgeschichte

Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel zur Direktwahl des Europäischen Parlaments erging ebenfalls vor dem Hintergrund politischer wie juristischer Kontroversen 106, die allerdings noch um einiges heftiger als 1970 ausfielen 107 und beim Betrachter Assoziationen an den EVG-Streit der Jahre 1953 I 1954 auslösen mußten 108 • Wie damals prallten Gegner und Befiirworter der Integration hart aufeinander und legten das unveränderte Fehlen eines Grundkonsenses über den europapolitischen Kurs Frankreichs offen - inzwischen beinahe ein "Guerre de trente ans'" 09 , dessen Fronten mitten durch die Mehrheitsparteien unter Einschluß der im R.P.R. neuformierten gaullistischen

104

C. Emeri I J. - C. Gautron (FN. 71), S. 174; B. Genevois (FN. 83), S. 200.

s CC v. 30. 12. 1976- No. 76-71 DC, Rec. 15.

10

106 V gl. v.a. die Artikelfolge in der Zeitung "Le monde" mit zahlreichen Beiträgen von Staatsrechtlern und Politiker; nachgewiesen bei R. Bieber, Urteilsanmerkung, EuR 1977, S. 53 ff., 54 FN. 7. Vgl. auch M - C. Lienard, Autour de Ia decision du Conseil constitutionnel du 30 decembre 1976, Revue de droit prospectif3, 4 I 1977, S. 84 ff. 107

J. Boulouis, Urteilsanmerkung, CDE 1977, S. 459 ff., 460.

W Neumann, Die französische Staatsauffassung und die Europäische Einigung, Dokumente 1977, S. 105 ff., 110; P Rambaud, L'approbation par Ia France des dispositions sur I' election du Parlement Europeen au suffrage universei direct, AFDI 1977, S. 884 ff., 884. 108

109

G. Vedel (FN. 11), S. 23.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

189

Bewegung verliefen 110• Auch in personeller Hinsicht ergaben sich Kontinuitäten zur EVG-Debatte: Meinungsfilhrer der europaskeptischen Fraktion war wiederum der (zwischenzeitlich Premierminister gewesene) Michel Debn~ 111 • Angesichts der tiefgreifend aufgewühlten politischen Szenerie war von Beginn an vorgezeichnet, daß der Conseil Constitutionnel die ihm angetragene Befriedungsaufgabe 112 nur würde erfiillen können, wenn er das Placet zur Direktwahl mit einem deutlichen Markieren der verfassungsrechtlichen Grenzen zukünftiger Integrationsschritte verbinden würde, um auf diese Weise auch den Buropagegnern etwas an die Hand zu geben. Daß dem Gericht dies trotz seiner sehr weitgehenden, vom konkreten Entscheidungsgegenstand stark abstrahierenden obiter dicta nur teilweise gelang, zeigte nicht nur die nachfolgende, weiterhin kontroverse Ratifizierungsdebatte im Parlament 113 , sondern auch die unmittelbar auf den Erlaß des Urteils folgende Gründung eines "Comite pour l'unite et l'independance de Ia France" durch Michel Debre 11 \ mit dem der Kampf gegen das siegreiche Mehrheitslager fortgesetzt werden sollte. Das Direktwahlprojekt, auch wenn es in den Gründungsverträgen von Beginn an festgeschrieben (und daher nach der hier vertretenen Auffassung an sich bereits "incontestable") war, traf die integrationspolitischen Vorbehalte der europafeindlichen Fraktion in ihrem innersten Kern. Es sollte mit dem Parlament zum zweiten Mal 115 nach 1970 gerade dasjenige Organ gestärkt werden, das am deutlichsten die supranationale Mission der Gemeinschaft und ihr föderales Entwicklungspotential verkörperte. Daß die Stärkung diesmal gar nicht in kompetenzieller, sondern lediglich in legitimatorischer Hinsicht intendiert war, machte die Sache in den Augen dieser Fraktion nur noch schlimmer. Der mit der Direktwahl einhergehende Aufbau einer "autorite proprement communautaire" besaß fiir sie weit mehr als der eine oder andere Kompetenzzuwachs Dammbruchcharakter und erschien als unbedingt zu bannende Gefahr filr das nationalstaatliche Souveränitätsmodell 116 • Die Vorbehalte der Direktwahlgegner bezogen ihre konkrete juristische Nahrung aus der beinahe mythischen 117 Verwehung zwischen allgemeiner und 110 J Bou/ouis (FN. 107), S. 464. Wiederum bildeten sich so Allianzen mit den Kommunisten; P Rambaud (FN. 108), S. 885. 111 Vgl. von ihm v.a. Souverainete et legitimite, Le monde v. 9. 12. 1976. 112 J Bou/ouis (FN. 107), S. 460. 113

J Bou/ouis (FN. 107), S. 460.

P Rambaud(FN. 108), S. 884. Bzw. zum 3.Mal, wenn man die Finanz-Reform von 1975 einbeziehen will. 116 Vgl. P Rambaud (FN. 108), S. 885. 117 P Rambaud(FN. 108), S. 885. 114 115

190

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

direkter Wahl ("suffrage universei direct") und dem Prinzip der nationalen Souveränität in der französischen Verfassungstradition. Der "suffrage universei direct" gilt der französischen Verfassungstheorie seit der revolutionären Epoche als das klassische Instrument, mit dem die Nation ihre Souveränität ausübtl 18 ; der im Wege des "suffrage universei direct" Gewählte gewinnt hierdurch eine besondere Legitimität und die Fähigkeit, als Repräsentant der französischen Nation aufzutreten 119• Die entscheidende gedankliche Operation der Direktwahlgegner bestand darin, aus dieser notwendigen eine hinreichende Bedingung zu machen und sie auf die europäische Ebene zu übertragen: Bei einer Wahl des Europäischen Parlaments auf der Basis eines "suffrage universei direct", so lautete ihr Ansatz, würden dessen Abgeordnete automatisch zu Trägem einer neuen - zwangsläufig europäischen - Souveränität, was mit dem Prinzip der nationalen Souveränität unvereinbar sei 120 • Diese These einer unauflösbaren Verklammerung von Wahlmodus und Souveränität war das Herzstück der juristischen Kritik am Direktwahlakt, mit der der Conseil Constitutionnel sich auseinanderzusetzen hatte. Sie zwang das Gericht zu einer Befassung mit der Institution des Europäischen Parlaments und damit dazu, in der 1970 noch weitgehend offen gebliebenen Frage nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben an die interne Gemeinschaftsorganisation Farbe zu bekennen.

(2) Die Entscheidungsgründe (a) Unterscheidung zwischen "transferts" und "limitations" der Souveränität Angelpunkt 121 der Entscheidung war der gleich zu Beginn im zweiten Erwägungsgrund enthaltene Satz, daß zwar die Präambel von 1946 "dispose que, sous reserve de reciprocite, Ia France consent aux limitations de souverainete necessaires a l'organisation et a Ia defense de Ia paix" 122 , daß jedoch "aucune (FN. 11), S. 71 I 72. Das geltende französische Verfassungsrecht macht hiervon eine Ausnahme, indem es fiir den Senat eine mittelbare Wahl vorschreibt (Art. 24 Abs. 3). 120 Zu diesem Ansatz L. Favoreu I L. Philip, Election au suffrage universei direct des membres de I' Assemblee europeenne, RDP 1977, S. 129 ff., 153. 121 J. Boulouis (FN. 107), S. 475; M. de Vi/liers, Le Conseil constitutionnel et l'election de I' Assemblee europeenne au suffrage universei direct ou Ies pieges du politique, JCP 1978, I, 2895, n° 28 f.; C. B/uman (FN. 34), S. 589. 122 "bestimmt, daß Frankreich unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit den zur Organisation und Verteidigung notwendigen Souveränitätsbeschränkungen zustimmt". m J.- P Jacque

119

li. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

191

disposition de nature constitutionnelle n'autorise des transferts de tout ou partie de Ia souverainete nationale aquelque organisationinternationale que ce soit" 123 (Herv. v. Verf.). Diese Festlegung war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie hob zunächst die prinzipielle Existenz des verfassungsrechtlichen Spannungsbogens zwischen - dem diesmal ausdrücklich benannten - Absatz 14 der Präambel von 1946124 und der Souveränitätsbekräftigung in Art. 3 noch einmal hervor 125 • Insoweit bekräftigte der Conseil seinen Ansatz aus der Entscheidung von 1970. Mit der Differenzierung zwischen zulässigen "limitations" und unzulässigen "transferts" goß das Gericht allerdings die aus dem Nebeneinander beider Vorschriften abzuleitenden Übertragungsschranken in eine neue Formel, die an die Stelle der Wendung von den "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete nationale" von 1970 trat. Ob hiermit eine inhaltliche Verschärfung intendiert war, machte diese Formel selbst zunächst nicht deutlich. Aber in atmosphärischer Hinsicht war es ein aufschlußreiches Signal, daß der Conseil Constitutionnel die Entscheidungsgründe mit einer solch abstrakten Grundsteinlegung einleitete. Anders als 1970, als das Gericht der neuen Finanzverfassung mit einer Formulierung grünes Licht gegeben hatte, die sich hart am vorgelegten Fall orientierte, wollte es diesmal von vomeherein die Prüfung in ein Gesamtpanorama einbetten, das auch die Grenzen der konstitutionellen Integrationsermächtigung deutlich herausstellt.

(b) Dissoziierung von Wahlmodus und Souveränität Der konkreten Fallfrage, ob die Direktwahl als verbotener "transfert" von Souveränität einzustufen sei, widmete sich der Conseil in den anschließenden Erwägungsgründen drei und vier. Er hielt hier zunächst fest, daß mit der Direktwahl kein Zuwachs der "competences et pouvoirs limitivements attribues 123 "keine verfassungsrechtliche Bestimmung die Übertragung der gesamten nationalen Souveränität oder eines Teils derselben auf eine internationale Organisation gleich welcher Art gestattet". 124 Dessen Gegenseitigkeitsvorbehalt warf im vorliegenden Fall keine Probleme auf und wurde vom Gericht auch nicht geprüft; V Coussirat - Coustere, Le Conseil constitutionnel et l'election au suffrage universei direct de I' Assemblee europeenne, AFDI 1977, S. 805 ff., 817; J.- P Jacque (FN. 83), S. 327. Insbesondere konnte der Verzicht auf die Einführung des in Art. 138 EWGV vorgesehenen einheitlichen Wahlverfahrens unter diesem Gesichtspunkt nicht problematisch sein, denn die Dispositionsfreiheit des nationalen Gesetzgebers wurde hierdurch ja gerade gestärkt - die Souveränitätsbeschränkung aus diesem Grund filr unzulässig zu erklären, wäre daher absurd gewesen; vgl. M de Vil/iers (FN. 121), n° 19; T de Berranger, ebda.

125

T de Berranger (FN. 1), S. 137.

192

2. Kap.: Conseil Constitutionnell B. Inhalt der Übertragungskontrolle

dans Je texte des traites aux communautes et, en particulier, a leur Assemblee"126 verbunden sei (3. EG). Mit Blick auf die juristische Argumentation der Europagegner äußerte das Gericht dann, die Direktwahl verändere auch nicht "Ia nature de cette Assemblee qui demeure composee de representants de chacun de peuples de ces Etats" 127 (3. EG); sie habe nicht "pour effet de creer ni une souverainete ni des institutions dont Ia nature serait incompatible avec Je respect de Ia souverainete nationale" 128 (4. EG). Mit diesen dürren Worten hatte der Conseil der Verklammerungsthese der Direktwahlgegner eine Absage erteilt und Wahlmodus sowie Souveränität voneinander dissoziiert 129. Die beiden Erwägungsgründe waren folgendermaßen zu verstehen: Auch wenn der "suffrage universei direct" ein "mode constitutionnel d'exercice de Ia souverainete nationale" 130 sei, das Souveränitätsprinzip also für die Wahl der Repräsentanten der französischen Nation eine unmittelbare Wahl fordern möge, so mache umgekehrt eine unmittelbare Wahl die so Gewählten nicht automatisch zu Trägem von Souveränität 131 - einer Souveränität, die im Falle der Europaabgeordneten zwangsläufig europäisch und damit ein Verstoß gegen Art. 3 der Verfassung wäre. Die Direktwahl für sich genommen könne eine solche Verschiebung des legitimatorischen Bezugsrahmens öffentlicher Gewalt nicht bewirken 132 • Sie selbst verändere nicht den Charakter ("Ia nature") der Versammlung und führe nicht zur Bildung einer neuen "souverainete". Das Gericht ließ an anderer Stelle keinen Zweifel daran, daß jeder Entwicklung zu einer "europäischen Souveränität" prinzipiell ein verfassungsrechtliches Hindernis im Weg stünde: "Ia souverainete ... ne peut etre que nationale et...seuls peuvent etre regardes comme participant a l'exercice de cette souverainete les representants du peuple francais elus dans Je cadre des institutions de Ia Republique" 133 (6. EG). Mit dem vorliegenden Akt sei das

126 "den Europäischen Gemeinschaften und insbesondere ihrer Versammlung in den Vertragstexten begrenzt zuerkannten Kompetenzen und Befugnisse". 127 "das Wesen dieser Versammlung, die sich weiterhin aus Vertretern der jeweiligen Völker dieser Staaten zusammensetzt". 128 "zur Folge, eine Souveränität oder Institutionen zu begründen, deren Wesen mit der Wahrung der nationalen Souveränität unvereinbar wäre". 129 J Boulouis (FN. 107), S. 479; L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. 163; C. Franck, Urteilsanmerkung, JCP 1977, II, 18074, n° III. 130 V Coussirat- Coustere (FN. 124), S. 819. 131 L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. !56; P Gaia (FN. II ), S. 314. 132 p Gaia (FN. 7), S. 253. 133 "die Souveränität kann nur nationaler Art sein und als an der Ausübung dieser Souveränität beteiligt können nur die im Rahmen der Institutionen der Republik gewählten Repräsentanten des französischen Volkes angesehen werden".

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

193

Stadium verbotener "europäischer Souveränität" aber noch nicht erreicht. Die Direktwahl blieb fiir den Conseil somit unterhalb der "transfert"-Schwelle.

(c) Keine Maßstäblichkeit des innerstaatlichen Organisationsrechts Das Gericht vermochte auch keine Verstöße gegen Art. 23 (Inkompabilität zwischen Regierungsamt und Abgeordnetenmandat) und Art. 34 (parlamentarische Kompetenz zur Wahlgesetzgebung) der Verfassung festzustellen. Diese Vorschriften waren von den Direktwahlgegnern zusätzlich zu Art. 3 der Verfassung in die Diskussion gebracht worden 134• Der Conseil nahm hierzu am Ende der Entscheidungsgründe, im siebten Erwägungsgrund, den verständlichen Standpunkt ein, die Art. 23 und 34 würden ausschließlich fiir "l'amenagement des competences et des procedures concernant !es institutions participant a l'exercice de Ia souverainete francaise" 135 gelten. Sie seien also gewissermaßen "internationalement irrelevant" 136 und könnten dementsprechend dem Direktwahlakt nicht entgegengehalten werden. Es wäre in der Tat absurd gewesen, die französischen lnkompabilitätsgrundsätze bzw. die parlamentarische Kompetenz zur Wahlgesetzgebung zum Maßstab einer rechtlichen Prüfung des vorliegenden Integrationsaktes zu machen. In beiden Fällen handelt es sich um Regelungen der inneren Staatsorganisation (lnkompabi!itätfranzösischer Ämter, Kompetenz zur Regelung französischer Wahlen), die qua definitionem nicht auf der internationalen Ebene zur Geltung zu bringen sind.

(d) Maßgaben des Grundsatzes der "indivisibilite de Ia Republique" Schließlich enthielten die Entscheidungsgründe noch Aussagen zur Ausgestaltung des Verfahrens der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Gericht bezog sich hiermit auf im Vorfeld der Entscheidung angestellte Erörterungen darüber, ob sich aus dem Grundsatz der "indivisibilite de Ia Republique" (Art. 2 Abs. 1) Vorgaben fiir den Zuschnitt der (Europa-) Wahlkreise ergeben könnten. Im Raum stand dabei die Behauptung, ein zu kleiner (bzw. ein gar grenzüber-

134 Das Vorbringen von Art. 23 zielte darauf, daß der Direktwahlakt flir die Europaabgeordneten keine entsprechende lnkompabilitätsregelung aufwies. 135 "die Regelung der Kompetenzen und Verfahren flir die an der Ausübung der französischen Souveränität beteiligten Institutionen". 136 V Coussirat- Coustere (FN. 124), S. 820.

13 Hecker

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

schreitenderm) Zuschnitt der Wahlkreise würde den Bezug der in Frankreich zu wählenden Europaabgeordneten zur gesamten - eben unteilbaren - Republik verblassen lassen, was wiederum auch unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der nationalen Souveränität - als dessen Ableitung der Unteilbarkeilsgrundsatz begriffen werden kann 138 - problematisch sei: Denn jede Abschwächung des (gesamt-) staatlichen Bezugspunktes müsse die Abgeordneten stärker auf eine genuin gemeinschaftliche Legitimationsgrundlage stellen - und damit zwangsläufig in eine nach Art. 3 der Verfassung kritische Zone vorstoßen. Die Vorstellung lautete hier praktisch, bei der Wahl auf der Basis einer das gesamte Staatsgebiet umspannenden Liste würden die französischen Europaabgeordneten ihre Legitimation noch von der französischen Nation ableiten können wohingegen diese Möglichkeit bei kleinerem Zuschnitt der Wahlkreise versperrt wäre, mit der Folge, daß als Legitimitätsrahmen nur die Gemeinschaft selbst übrig bliebe 139 • Das Grundthema der Europaskeptiker, die Direktwahl könne zur Etablierung einer "europäischen Souveränität" fuhren, tauchte hier also unter einem etwas veränderten Gewand wieder auf. Da allerdings der Direktwahlakt selbst überhaupt keine Regelung des Wahlverfahrens enthielt, konnten sich solche Probleme zum Entscheidungszeitpunkt eigentlich noch gar nicht stellen. Das Gericht erkannte dies zwar auch an 140, dekretierte dann aber mit Blickrichtung auf das sowohl in Art. 138 Abs. 3 EWGV als auch in Art. 7 des Direktwahlaktes vorgesehene künftige einheitliche europäische Wahlverfahren: "!es termes de 'procedure electorale uniforme' ...ne sauraient etre interpn\tes comme pouvant permettre qu'il soit portee atteinte a ce principe [d.i. der Grundsatz der der Unteilbarkeit der Republik - Anm. d. 137

Etwa das Elsaß mit Baden vereinender.

Das Prinzip der nationalen Souveränität fordert, daß die Ausübung öffentlicher Gewalt auf den Willen der Nation als Willens- und Wirkeinheit zurückgeführt wird. Vgl. M. de Vi/liers (FN. 121), n° 8; P Gaia (FN. II), S. 328; L. Dubouis, Lejuge francais et le conflit entre norme constitutionelle et norme europeenne, FS Boulouis, Paris 1991, S. 205 ff., 215. 138

139 Ob ein solcher Konnex zwischen Wahlkreiszuschnitt und legitimatorischem Bezugspunkt schlüssig war, ist durchaus fraglich. Schließlich werden auch die Abgeordneten der Nationalversammlung in kleineren Wahlkreisen gewählt und können dennoch als Repräsentanten der - unteilbaren - ganzen französischen Nation auftreten, werden also nicht zu Vertretern nur ihres Wahlkreises. 140 "I' engagement international du 20 septembre 1976 ne contient aucune Stipulation fixant, pour I' election des representants francais a I' Assemblee des communautes europeennes, des modalites de nature a mettre en cause l'indivisibilite de Ia Republique" (5. EG) - "die internationale Verpflichtung vom 20. September 1976 enthält keine Bestimmung, die fiir die Wahl der französischen Repräsentanten der Versammlung der Europäischen Gemeinschaften Modalitäten festlegt, durch die die Unteilbarkeit der Republik in Frage gestellt wird".

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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Verf.]; ... de facon generale, les textes d'application de cet acte [des Direktwahlaktes vom 20. 9. 1976- Arun. d. Verf.] devront respecter les principes enonces ci dessus ainsi que tous autres principes de valeur constitutionelle" 141 (5. EG). Damit hatte der Conseil Vorgaben sowohl fUr einen etwaigen Erlaß einer europäischen Wahlordnung (die bis heute nicht existiert) als auch, wie die Erwähnung der "textes d'application" des Aktes zeigte, fUr die bevorstehende Verabschiedung des nationalen Buropawahlgesetzes aufgestellt 142 ; auf beiden Ebenen müsse bei Erlaß entsprechender Regelungen der Unteilbarkeitsgrundsatz beachtet werden. Man verstand diese Ausfllhrungen mehrheitlich dahingehend, daß die Wahl der französischen Abgeordneten auf der Grundlage einer nationalen Liste erfolgen müsse - weil nur so die französischen Abgeordneten als Vertreter Frankreichs in der Versammlung statt als Repräsentanten eines europäischen Volkes auftreten könnten 143 • Auch wenn das Gericht nicht ausdrücklich von einer nationalen Liste sprach, so war dies doch - vor dem Hintergrund der Diskussion im Entscheidungsvorfeld - die plausibelste Auslegung des filnften Erwägungsgrundes. Der französische Gesetzgeber hat ihn ebenfalls in diese Richtung interpretiert und fUr die Buropawahl ein nationales Listensystem eingetUhrt144•

(3) Folgerungen

(a) Strukturelles Element der "transfert-limitation"-Formel: Das Postulat einer interetatistischen Gemeinschaftsstruktur Mit seiner Entscheidung hatte der Conseil Constitutionnel sämtliche der konkreten rechtlichen Einwände der Direktwahlgegner zurückgewiesen. Weder 141 "der Ausdruck 'einheitliches Wahlverfahren' ... darf nicht dahingehend interpretiert werden, daß er die Verletzung dieses Grundsatzes gestattet; ... allgemein müssen die Durchfiihrungstexte zu diesem Akt die oben genannten Grundsätze sowie alle anderen Grundsätze verfassungsrechtlicher Art wahren". 142 L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. 154; C. Franck (FN. 129), n° IV; M. de Villiers (FN. 121), n° 32; P Gaia (FN. 11), S. 330. 143 V Coussirat - Coustere (FN. 124), S. 819; L. Favoreu, Quelques perspectives de l'integration europeenne apres Ia decision du Conseil constitutionnel des 29 - 30 decembre 1976, Revue de droit prospectif 1977, S. 79 ff., 81 ; J - P Jacque (FN. 11 ), S. 79; M. Fromont (FN. 65), S. 229; P Gaia (FN. 11), S. 330; T de Berranger (FN. 1), S. 260; a.A. (kein zwingendes Verbot kleinerer Wahlkreise) C. Franck (FN. 129), n° 4; L. Hamon, Urteilsanmerkung, D 1977, Jur., S. 201 ff., 204. 144

!3•

T de Berranger (FN. 1), S. 261.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

die These eines unauflösbaren Konnexes zwischen Wahlmodus und Souveränität, noch das Vorbringen der Art. 23 und 34, noch schließlich der Hinweis auf den Grundsatz der "indivisibilite de Ia Republique" vermochten beim Gericht die Überzeugung einer Verfassungswidrigkeit der Direktwahl zu begründen. Auf der anderen Seite ließen sich aber bei genauerer Analyse der Entscheidungsgründe zwischen den Zeilen eine ganze Reihe von Vorbehalten gegen eine mögliche weitere Parlamentarisierung der Gemeinschaft erkennen, mit denen das Gericht den Grundpositionen der Direktwahlgegner letztlich doch ein gutes Stück entgegenkam. Der Conseil hatte zwar das Direktwahlprojekt akzeptiert, zugleich aber in seiner Entscheidung deutliche Grenzen gegenüber einem weiteren Ausbau der Stellung des Europäischen Parlaments markiert und hiermit eine Sperre gegenüber bestimmten zukünftigen Änderungen der internen Gemeinschaftsstruktur errichten wollen. Am auffälligsten traten die Vorbehalte des Gerichts bei den oben wiedergegeben Ausführungen zum Grundsatz der "indivisibilite de Ia Republique" zutage. Die Forderung, bei Ausgestaltung des Wahlverfahrens müsse der Grundsatz eines mitgliedstaatliehen Bezugs beachtet werden, konnte nur auf der Vorstellung aufbauen, die Legitimität der Buropaabgeordneten werde über die nationale Ebene vermittelt 145 • Das Gericht wies dem Abgeordneten die Rolle eines staatlichen Sendbotens zu, der zwar formal Mitglied eines Gemeinschaftsorgans sein mochte, in dieses aber nur kraft nationaler Designation gelangen konnte. "Nationale Designation" hatte dabei mehr als eine nur technische Bedeutung. Es meinte, daß das parlamentarische Mandat nicht nur (territorial) in Frankreich erteilt werde, sondern von der (gesamten, unteilbaren) französischen Nation, und daß es für diese auszuüben sei. Der Abgeordnete sollte nicht als Sachwalter eines europäischen Gemeinwohls auftreten, sondern als "representant francais", wie es der Conseil im 5.Erwägungsgrund formulierte. Das Gericht hatte damit das Bild eines Parlaments als einer Konferenz von Staatenvertretern und nicht dasjenige als eines supranationalen Organs vor Augen. Dies schlug sich auch in der Wortwahl nieder. Im 3. Erwägungsgrund hieß es, das Parlament sei "compose de representants de chacun des peuples [des] Etats"; an zwei Stellen (3. und 5. Erwägungsgrund) sprach das Gericht von "Assemblee". Diese Begriffe spitzten den Wortlaut der damaligen Vertragsfassung entweder zu (Art. 137 EWGV sprach nur von "peuples", nicht von "chacun des peuples") bzw. gaben ihn zwar formal korrekt wieder ("Assemblee"), grenzten sich aber damit vom weitgehend bereits üblich gewordenen allgemeinen Sprachgebrauch ("Parlement") demonstrativ ab 146 • 145 V Coussirat- Coustere (FN. 124), S. 818: "representation mediatisee par l'interposition des Etats". 146

L. Favoreu (FN. 143), S. 81.

ll. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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Bedeutsamer noch als die bloße Existenz eines solchen Parlamentsbildes waren die rechtlichen Implikationen, die hierin verborgen lagen. Den Charakter einer Konferenz von Staatenvertretem, die aufgrund und nach Maßgabe "nationaler Designation" agieren, konnte das Parlament nämlich nur dann einigermaßen wahren, wenn es ohne echte Entscheidungsbefugnisse blieb. Eine Aufwertung zum regelrechten Entscheidungsträger wäre (wie die nachfolgende Entwicklung dann ja auch bestätigte) zwangsläufig mit einer Abnabelung von den nationalen Legitimationsstrukturen einhergegangen und hätte zum Aufziehen eines europäischen Legitimationsrahmens geführt. Der Grund hierfür liegt in der Typik einer körperschaftlichen Entscheidungsfindung. Da das Europäische Parlament mit Mehrheit entscheidet und noch dazu die Mehrheitsbildung zumeist entlang von Fraktionslinien (und nicht nach Staatengruppen) verläuft, besitzt die Beschlußfassung einen supranationalen Charakter. Der staatliche Einfluß zerstreut sich (auf verschiedene Fraktionen) bzw. wird marginalisiert (bei Überstimmung); der französische Abgeordnete kann seine Rolle als "representant francais" an sich nicht mehr erfüllen. Solange die Beschlüsse des Parlaments nur deliberativer Natur sind, tritt diese Auswirkung supranationaler Entscheidungsfindung jedoch noch nicht vollständig zutage. Da Stellungnahmen, nichtbindende Resolutionen usw. keine Ausübung öffentlicher Gewalt beinhalten, wird hier der Anspruch der französischen Nation, nur solchen Akten unterworfen zu werden, die auf ihren - exklusiven - Willen zurückzuführen sind, nicht vereitelt. Die Fiktion einer "nationalen Designation" der Abgeordneten d.h. letztlich eines Handeins in Orientierung am Gemeinwohl der französischen Nation - greift hier nicht völlig an der Realität vorbei, weil es gewissermaßen gar nicht zum "Handeln" und damit nie zum Schwur der nationalen Ioteressenswahrung kommen kann. Sobald hingegen das Parlament regelrechte Entscheidungsbefugnisse (etwa Legislativkompetenzen) ausübt, kann es zur Bindung der französischen Nation an Akte kommen, bei deren Bildung kein oder kein einheitlicher französischer Wille mehr, sondern nur noch ein europäischer Wille wirksam wurde; die "nationale Designation" der französischen Abgeordneten kommt hier in der politischen Realität nicht mehr zur Geltung und wird somit vollends zur leeren Hülle. Das Parlamentsbild, das der Conseil Constitutionnel gezeichnet hatte, besaß insofern eine eminent normative Funktion: es zog die juristischen Konsequenzen, die sich aus dem Prinzip der nationalen Souveränität ergaben. Die Frage war nun, ob das Gericht diese mit einer etwaigen parlamentarischen Kompetenzerweiterung verbundenen Folgen noch als eine bloße "Iimitation de souverainete" hinzunehmen bereit wäre, oder ob es so weit gehen wollte, sie als einen bereits verbotenen "transfert de souverainete" einzustufen. Und hierbei wiesen mehrere Anhaltspunkte in die letztgenannte Richtung. Da war zunächst der Umstand, daß der Conseil die Verfassungsmäßigkeit der Direktwahl darauf gestützt hatte, daß sie die "nature" des Parlaments unverän-

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

dert lasse (3. EG). Dies legte nahe, daß jede vertragliche Reform, die zur substantiellen Wandelung der bisherigen "nature" (als eben einer entscheidungsarmen Konferenz von Staatenvertretem) ftihren würde, die verfassungsrechtlichen Ermächtigungsschranken überschreiten, zu dem ftihren würde, was im 4. Erwägungsgrund als Bildung einer "souverainete [ou] des institutions dont Ia nature serait incompatible avec Je respect de Ia souverainete nationale" bezeichnet worden war. Und da war vor allem der Umstand, daß das Gericht (ebenfalls im 3. EG) so ausdrücklich hervorgehoben hatte, der Direktwahlakt ftihre nicht zur Erweiterung der parlamentarischen "pouvoirs". Vor dem Hintergrund der normativen Implikationen des gerichtlichen Parlamentsbildes mußte dieser Satz zu dem Umkehrschluß ftlhren, daß der Conseil eine kompetenzielle Aufwertung des Parlaments ftlr verfassungsrechtlich unzulässig halten würde 147 • Ein mit regelrechten Entscheidungsbefugnissen ausgestattetes Parlament, so war das Gericht zu verstehen, würde zur Herausbildung einer genuin "europäischen Souveränität" beitragen und damit einen verbotenen "transfert" von nationaler Souveränität darstellen 148 • Die Direktwahlentscheidung lief demnach auf die Forderung nach einer interetatistischen Gemeinschaftsstruktur 149, mithin auf einen Erhalt der zentralen Position des Rates hinaus. Sie bezog Position gegenüber solchen zukünftigen Vertragsänderungen, die zu seinen Lasten Kompetenzen auf das Parlament verschieben oder neue Gemeinschaftskompetenzen zugunsten des Parlaments begründen würden. Dahinter mußte die Erwägung stehen, daß nur im Rat die Möglichkeit existierte, Gemeinschaftsentscheidungen auf den Willen des Mitgliedstaates (d.h. letztlich der französischen Nation) zurückzuftlhren und hieraus zu legitimieren. Jedenfalls nach der damaligen Entscheidungspraxis blieb es dem Mitgliedstaat hier möglich, durch Berufung auf den Luxemburger Kompromiß vom Februar 1966 eine Beschlußfassung gegen ein von ihm als 147 So auch die fast einhellige Schlußfolgerung in der Literatur, ausdrücklich bei L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. 161; C. Sasse, Integration und Verfassungsjustiz, FS H. P. Ipsen, Tübingen 1977, S. 701 ff., 718; C. Blumann (FN. 34), S. 602; G. Vede/ (FN. 18), S. 14; implizit bei G. 0/mi, Les rapportsentre droit communautaire et droit national dans les arrets des juridictions superieures des Etats membres, RMC 1981, S. 178 ff., 184; M Darmon (FN. 83), S. 243; R. Abraham (FN. 64), S. 60. Anderer AuffassungJ.P. Jacque (FN. 11), S. 86 ff., der diesjedoch später revidierte; FN. 83, S. 328. Auch der französische Gesetzgeber interpretierte die Entscheidung des Conseil Constitutionnel in der hier aufgezeigten Weise. Er fugte in das Zustimmungsgesetz eine Bestimmung ein, wonach jede Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments "le cas echeant" eine Verfassungsänderung erfordere; vgl. hierzu P. Rambaud (FN. 108), S. 897 f. 148 L. Harrnon (FN. 143), S. 205; C. Blumann (FN. 34), S. 602; C. Sasse (FN. 147), S. 717; G. Olmi (FN. 147), S. 183; R. Abraham (FN. 64), S. 60. 149 L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. 159; C. Blumann (FN. 34), S. 602; C. Sasse (FN. 147), S. 720; G. Olmi (FN. 147), S.183.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

199

vital eingestuftes Interesse zu verhindern. Die filr das Parlament typische Zerstreung und Marginalisierung der nationalen Stimmabgabe gab es hier (noch) nicht; ein Agieren aufgrund und nach Maßgabe einer "nationalen Designation" blieb demnach politisch realistisch. Zwar weicht auch ein Ratsbeschluß von der Idealforderung ab, die französische Nation nur durch solche Akte zu binden, die auf ihren - exklusiven - Willen zurückgefilhrt werden können. Denn insofern, als an diesem Beschluß auch die Ratsvertreter anderer Mitgliedstaaten mitwirken, ist die Willensbildung nicht länger exklusiv französisch - und kommt es folglich zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität. Da jedoch in die Beschlußfassung zumindestens auch der Wille der französischen Nation eingeflossen ist (und zwar, anders als im Parlament, als Wille der französischen Nation), nämlich entweder in einem positiven Sinne (durch Stimmabgabe filr den Beschluß) oder zumindestens durch Verzicht auf eine Verhinderung der Beschlußfassung gemäß dem Luxemburger Kompromiß, kann dieser Eingriffnoch als bloße "Iimitation" der nationalen Souveränität eingestuft und verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Dies war offenbar der Gedankengang, von dem sich das Gericht bei seinem Postulat einer interetatistischen Gemeinschaftsstruktur leiten ließ. Das gerichtliche Souveränitätskonzept erlaubte demnach im Interesse einer Integration Frankreichs in eine Staatengemeinschaft den Verzicht auf die nationale Exklusivität der Ausübung öffentlicher Gewalt, aber nur um den Preis, daß die Entscheidungstindung innerhalb dieser Staatengemeinschaft zwischenstaatlich strukturiert ist und die Möglichkeit eines nationalen Vetos beläßt. Damit schwenkte der Conseil Constitutionnel beträchtlich auf den Ansatz der Direktwahlgegner ein. Wie diese sah er im Europäischen Parlament grundsätzlich eine Gefahr filr die nationale Souveränität Frankreichs; wie diesen war ihm daran gelegen, seine Investitur mit klassischen parlamentarischen Befugnissen zu hemmen und es nicht über die Rolle einer einflußlosen Versammlung von Staatenvertretern hinauswachsen zu lassen. Unterschiede traten nur in der Beurteilung der konkreten Auswirkungen der Direktwahl zu Tage: während die Direktwahlgegner hierin einen ersten, entscheidenden Schritt zur Parlamentarisierung der Gemeinschaft sahen, hielt das Gericht sie - weil es den Einfluß des Wahlmodus anders bewertete - filr nicht erheblich genug. Dies war aber nicht viel mehr als eine Differenz in der Subsumtion, hinter der sich ein weitgehendes Ausmaß an Übereinstimmung in den normativen Prämissen verbarg: nämlich dem Konzept einer Gemeinschaft, die nicht nur in ihrer Gründung, sondern auch in ihrer späteren Aktivität auf mitgliedstaatlicher Bestimmungsmacht fußt und ihre Legitimation von dort bezieht.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

(b) Verbandskompetenzielles Element der "transfert-limitation"-Formel Mit der Formulierung dieser Vorbehalte gegen eine Parlamentarisierung der Gemeinschaft waren dem gerichtlichen Übertragungskonzept auch bestimmte strukturelle Elemente zugewachsen. Die Entscheidung beförderte zutage, daß die französische Verfassung nach Auffassung des Conseil Constitutionnel nicht nur die 1970 erstmals entwickelten verbandskompetenziellen (absoluten) Grenzen fur die Begründung von Gemeinschaftsbefugnissen setzt, sondern darüber hinaus auch Vorgaben hinsichtlich ihrer organkompetenziellen Zuordnung an die verschiedenen Gemeinschaftsinstitutionen enthält. Mit der Zulässigkeil einer Übertragung als solcher, so mußte man aus der Direktwahlentscheidung entnehmen, ist noch kein Freibrief darüber verbunden, wie die neubegründete Gemeinschaftsbefugnis intern ausgeübt wird. Zur Präzisierung der verbandskompetenziellen Elemente der "transfertlimitation"-Formel, unter welcher das gerichtliche Übertragungskonzept nunmehr firmierte, hatte der konkrete Entscheidungsgegenstand dem Gericht keinen Anlaß gegeben. Da der Direktwahlakt den gemeinschaftlichen Kompetenzumfang unberührt ließ, brauchte der Conseil sich hierzu nicht auszulassen. Die "transfert-limitation"-Formel selbst operierte mit Begriffen, die in der bisherigen Verfassungspraxis noch nicht näher konturiert worden waren, so daß sich hieraus kein weiterer Aufschluß ergab 150 • Jedenfalls war das Verbot von "transferts de souverainete" nicht als gleichbedeutend mit einem vollständigen Verbot weiterer Kompetenzübertragungen aufzufassen 151 ; das Gericht hatte (wohl bewußt) nicht von "transferts de competence" gesprochen. Auf der anderen Seite gab es aber auch keinen Anlaß daran zu zweifeln, daß die 1970 entwickelten verbandskompetenziellen Übertragungsschranken prinzipiell weiterhin fortbestünden. Die Direktwahlentscheidung enthielt keinerlei Anhaltspunkt dafur, daß künftig Kompetenzübertragungen grenzenlos möglich wären, solange sie nur zugunsten der Institution des Rates vorgenommen würden. Eine weitverbeitete Auffassung in der Literatur interpretierte die gerichtliche Unterscheidung zwischen "transferts" und "limitations" allerdings dahingehend, daß statt auf Art und Gewicht der Kompetenz selbst auf die Qualität des Kompetenzempfängers abzustellen sei. Im Anschluß an die Urteilsbesprechung von Favoreu und Philip 152 stellte diese Auffassung als maßgeblichen Gesichts150

Vgl. J. Baulouis (FN. 107), S. 477; D. Ruzie, Urteilsanmerkung, JDI 1977, S. 68

ff., 76; R. Kovar I D. Sirnon (FN. 81), S. 544. 151

F Luchaire (FN. 30), S. 391 ; T de Berranger (FN. 1), S. 258.

152

FN. 120, S. 161.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

201

punkt heraus, ob Kompetenzen auf eine "entite non souveraine" oder auf eine "entite souveraine ou en voie de Je devenir'' 153 übertragen würden und damit vom Staat definitiv aufgegeben seien154 • Dieser Ansatz machte auf den ersten Blick insofern Sinn, als die Übertragung auf eine "entite souveraine" einen endgültigen Verlust der staatlichen (Mit-) Bestimmungsmacht zur Folge hätte. Sie würde eine Einwirkung in den staatlichen Raum auch gegen den Willen des Staates 155 ermöglichen und damit zu genau demjenigen Szenarium fuhren, welches den Conseil Constitutionnel zu seiner Opposition gegenüber einer qualitativen Aufwertung des Europäischen Parlaments motiviert hatte. Ein erster gravierender Vorbehalt gegen diesen Ansatz ergab sich jedoch schon daraus, daß das Gericht im zweiten Erwägungsgrund von "transferts...a quelque organisation internationale que ce soit" gesprochen und mit dieser Formulierung auf die Adressatenschaft des Verzichts gerade kein besonderes Gewicht gelegt hatte 156• Vor allem aber sprach gegen diesen Ansatz, daß er konsequenterweise dazu filhren mußte, eine Übertragung auf solche Organisationen, die nach ihrer inneren Struktur mitgliedstaatliche Mitbestimmungs-, vor allem Vetomacht konservieren (also noch als "entite non souveraine" durchgehen können), fiir praktisch grenzenlos zulässig zu halten. Dies reduzierte die "transfertlimitation"-Formel letztlich doch auf ihren strukturellen Aspekt und war daher nicht überzeugend. Die Entscheidung von 1970 hatte mit der Wendung von dem "valeur de principe" relativ eindeutig anklingen Jassen, daß - unabhängig vom strukturellen Aspekt - eine gegenständliche Betrachtung, d.h. eine Beurteilung der Übertragung nach der Gewichtigkeit der in Frage stehenden Kompetenz anzustellen sei 157 • Und aus Sicht des Prinzips der nationalen Souveränität ergab dies auch weiterhin Sinn: Denn selbst im Falle einer Zuordnung auf interetatistisch strukturierte Organe kann eine Kompetenzübertragung den Mitgliedstaat in hohem Maße diskretionärer Gestaltungsbefugnisse berauben, jedenfalls dann, soweit sie sich als nationale Kompetenzsperre auswirkt. Wenn auch die interetatistische Struktur der internationalen Organisation eine Bindung des Staates gegen seinen Willen verhindert, so ändert sie doch nichts an dem Umstand, daß sich der positive Spielraum fiir eine nationale Politik bedeutend verringern kann. Wenigstens hinsichtlich kernhoheitlicher Regelungsfelder (etwa Verteidigung, Währung usw.) war unwahrscheinlich - und wie gesagt L. Favoreu l L. Philip (FN. 120), S.16l. V. Coussirat- Coustere (FN. 124), S. 819; M. Fromont (FN. 65), S. 229; C. Sasse (FN. 147), S. 717; P Gaia (FN. II), S. 317 ff.; ähnlich auch J. Baulouis (FN. 107), S. 477. 155 Hervorgehoben von L. Hamon (FN. 25), S. 302. 156 C. Blumann (FN. 34), S. 591. 157 C. Blumann (FN. 34), S. 591 ; F Luchaire (FN. 30), S. 416; V. Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 18), S. 193. 153

154

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

nicht belegbar -, daß das Gericht demgegenüber seine Vorbehalte hatte aufgeben wollen. Plausibler war die Annahme, daß der neue Begriff der "transferts de souverainete'' auch die verbandskompetenziellen, absoluten Schranken der Übertragungsgewalt einfangen sollte, deren Existenz das Gericht 1970 aufgezeigt hatte.

(4) Bewertung

Mit seiner Entscheidung gab der Conseil Constitutionnel grünes Licht fiir die Direktwahl, verband dies aber mit restriktiven Vorgaben fiir den Erlaß des nationalen Wahlgesetzes und vor allem fiir eine zukünftige Fortentwicklung der Gemeinschaft. Es handelte sich um eine "autorisation conditionelle" 158, was auch dadurch deutlich wurde, daß der Vereinbarkeitsausspruch im Tenor "sous Je benefice des considerants qui precedent" erging. Das Gericht zielte hiermit ausdrücklich auf eine Bindung des Gesetzgebers bei zukünftigen Akten ab 159 • In der Sache wurden die verfassungsrechtlichen Übertragungsschranken dahingehend präzisiert, daß sie mit den oben aufgezeigten Grenzen einer Parlamentarisierung auch Vorgaben an die interne Gemeinschaftsstruktur beinhalten. Die verbandskompetenziellen Übertragungsschranken, hinsichtlich deren Fortbestand die Direktwahlentscheidung keinen Anlaß zum Zweifeln gab, wurden somit durch strukturelle Übertragungsschranken ergänzt. Damit war eine von der Haushaltsentscheidung von 1970 noch weitgehend offengelassene Frage nunmehr entschieden, wenn auch nicht in einer Detailliertheit, die die Beurteilung zukünftiger Vertragsänderungen bis in die letzte Facette hinein möglich machte. Als gesichert konnte lediglich gelten, daß das Gericht der Investitur des Parlaments mit Rechtssetzungsbefugnissen - also praktisch einen Rollentausch mit dem Rat - als unzulässigen "transfert" von Souveränität ansehen wUrde. Welche Spielräume hingegen fiir eine Erweiterung der Parlamentsbefugnisse unterhalb dieser Schwelle blieben, wie insbesondere die diversen Möglichkeiten einer bloßen Einbindung in den gemeinschaftlichen Legislationsprozeß (bis hin zur Kodezision) eingestuft würden, konnte ebensowenig eindeutig geklärt werden wie die Frage nach der Zulässigkeit einer Stärkung der parlamentarischen Kontroll- und Kreationsbefugnisse 160 • Der 158 P. Rambaud (FN. 108), S. 896. Ähnlich J. Rideau (FN. 83), S. 281 ("declaration de confonnite sous reserve"). 159 R. Bieber (FN. 106), S. 55. 160 Diese Fragen wurden in der Literatur kaum thematisiert. Daß jedenfalls im Grundsatz die Entscheidung hier Spielräume lasse, wurde von C. Blumann (FN. 34), S. 603 vertreten.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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Conseil Constitutionnel, dessen Entscheidung ohnehin schon die Grenzen des konkret vorliegenden Streitgegenstandes weit hinter sich gelassen hatte 161 und der im übrigen auch ein Interesse haben mußte, fur die Zukunft Manövrierräume zu erhalten 162, scheute hier vor Präzisierungen zurück. Aber angesichts der in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen massiven Vorbehalte gegen Änderungen der "nature" des Parlaments war auch in dieser Hinsicht eine gehörige Portion Skepsis angebracht. Anders als vielfach behauptet wurde 163 , kann man im Grunde nicht davon sprechen, daß die Direktwahlentscheidung das gerichtliche Souveränitätskonzept im Vergleich zur Entscheidung von 1970 verschärft hatte. Solche Aussagen beruhten auf der irrigen Voraussetzung, daß die Entscheidung von 1970 in einem positiven Sinne die gemeinschaftliche Binnenstruktur insgesamt fur verfassungsrechtlich irrelevant erklärt hätte. Dies war jedoch nicht der Fall: Zur Frage der strukturellen Elemente der Übertragungsschranken war 1970 vom Gericht noch nicht abschließend Stellung genommen worden (s. o.). Insofern wurde mit der Direktwahlentscheidung von der bisherigen Linie der Rechtsprechung nicht abgewichen, sondern diese lediglich weiter präzisiert und ausdifferenziert164. Allenfalls in atmosphärischer Hinsicht konnte man (etwa bei der sprachlich rigideren "transfert-limitation"-Formel) eine etwas größer gewordene Distanz zur Gemeinschaft ausmachen, wobei hierbei allerdings in Rechnung zu stellen war, daß der Conseil Constitutionnel auf diesem Feld den notwendigen Tribut an die lntegrationsskeptiker, deren Enttäuschung über den Ausgang des Verfahrens absehbar war, entrichten konnte. Ungeachtet dessen mußte die Aufdeckung der strukturellen Übertragungsschranken aus Sicht der Integrationsbefilrworter eine Enttäuschung darstellen. Auch wenn es übertrieben gewesen sein mag, von einem "Phyrrussieg" filr Europa 165 zu sprechen oder eine geradezu "lähmende Wirkung" fi1r den weiteren Integrationsfortschritt zu prognostizieren 166 - schließlich blieb die Möglichkeit verfassungsändernder Übertragungsakte, fi1r die das Gericht bislang keinerlei Grenzen signalisiert hatte 167 - , war die Entscheidung unter dem Strich auch 161 P Rambaud(FN. 108), S. 895. 162 J. - p Jacque (FN. 83), S. 328; J. Rideau (FN. 83), S. 281. 163 C. Blumann (FN. 34), S. 588 ("tournant"), S. 589 ("conception nouvelle"); G. 0/mi, Les hautes jurisdictions nationales, juges du droit communautaire, Liber amicorum Pierre Pescatore, Baden- Baden 1987, S. 499 ff., 507.

164 J. Rideau (FN. 83), S. 280. Siehe auch M. Darmon (FN. 83), S. 241 ("expliciter Ia reserve annoncee en 1970"). 165 J. Baulouis (FN. 107), S. 476; C. Blumann (FN. 34), S. 588; beide m. w. N. 166

C. Sasse (FN. 147), S. 714.

167

G. Vede/ (FN. 18), S. 9.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

nicht gerade "tres favorable aux progres de l'integration communautaire" 168 • Mit dem Europäischen Parlament betrafen die strukturellen Übertragungsschranken ausgerechnet diejenige Institution, in die seitens der proeuropäischen Fraktion die meisten integrationspolitischen Hoffnungen gesetzt wurden und die von ihr als Keimzelle der gewünschten föderativen Gemeinschaftsordnung auserkoren war. Besonders ernüchternd mußte weiterhin stimmen, daß der Conseil Constitutionnel wiederum mit keinem Wort die besondere Natur der Gemeinschaft e!Wähnt, sondern sie stattdessen sogar (im zweiten EIWägungsgrund) implizit mit gewöhnlichen anderen internationalen Organisationen auf eine Stufe gestellt hatte 169• Die bisherige Strategie einer gleitenden supranationalen Evolution, einer Politik der sukzessiven lntegrierung der Gemeinschaftsstruktur war damit für die Zukunft erheblichen Unsicherheiten ausgesetzt; jede einfachgesetzlich herbeigeführte - Reform in diese Richtung mußte fortan die bange Frage aufWerfen, ob damit die gerichtlich gesetzten Ermächtigungsgrenzen überschritten würden 170 . Es ist insgesamt bemerkenswert, wie stark das Souveränitätskonzept des Conseil Constitutionnel von den "poids de J'histoire" belastet war 171 . Zweifellos ließ es Spielräume für die Teilnahme Frankreichs an der Gemeinschaft und erlaubte mit der Einbindung in einen gemeinsamen, sich dynamisch fortentwikkelnden Binnenmarkt sowie der damit verbundenen systematischen Entlassung ganzer Rechtssetzungssektoren aus nationaler Regie letztlich weit mehr als nur den Abschluß völkerrechtlicher Verträge klassischen Zuschnitts 172 • Aber dadurch, daß diese Teilnahme durch die Möglichkeit nationaler Mitbestimmung, jedenfalls nationaler Vetomacht, kompensiert werden mußte, war auf der anderen Seite dem für die Zukunft der Gemeinschaft so wichtigen Quantensprung in genuin kommunitäre Entscheidungsstrukturen eine deutliche Grenze gesetztl 73 • Für den Conseil Constitutionnel hatte eine Kommunitarisierung dort 168

L. Favoreu, Le Conseil constitutionnel et Je droit international, AFDI 1977, S. 95

ff., 120.

169 Kritisch hierzu V Constantinesco I J. - P Jacque (FN. 18), S. 194 f.; vgl. auch C. Bluman (FN. 34), S. 598; J. Rideau (FN. 83), S. 281. 170 T. de Berranger (FN. 1), S. 260. 171 P Gaia (FN. II) S. 327. 172 Von daher ging die vor allem von C. Blumann (FN. 34), S. 590 und F Luchaire (FN. 30), S. 420 geäußerte Kritik fehl, hinter den "limitations de souverainete" verberge sich nichts anderes als die selbstverständliche Befugnis, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen.

173 Dies betraf allerdings nicht die supranationalen Organe der Kommission und des Gerichtshofs. Da diese als Exekutionsorgan bzw. Jurisdiktionsorgan einer (freilich zuweilen eher theoretisch anmutenden) Bindung an den Vertragstext bzw. an die vom Rat erlassene Rechtssetzung unterliegen, können ihre Akte als determiniert aufgefaßt

li. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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ihr Ende zu finden, wo sich eine Gemeinschaftsregelung nicht mehr (zumindestens indirekt) an dem im nationalen Rahmen gebildeten Willen des französischen Volkes legitimieren ließ. Für ihn gab es entweder eine - zulässige - nationale oder eine - unzulässige - gemeinschaftliche Souveränität 174 • Für ein intermediäres, hierzu das Parlament aktivierendes Mischsystem der gemeinschaftlichen Legitimationsbildung blieb dabei kein Raum 175 • Ob dies noch von einem zeitgemäßen Demokratieverständnis zeugte, wurde von einigen Autoren bezweifelt 176• Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang jedenfalls, daß sich damit fitr den Conseil Constitutionnel die Frage eines gemeinschaftlichen Demokratiedefizits unter genau umgekehrten Vorzeichen wie fi1r weite Teile der deutschen Verfassungsrechtslehre - und zum damaligen Zeitpunkt wohl auch des Bundesverfassungsgerichts - stellte 177 . Das französische Verfassungsgericht ordnete die Gemeinschaft als Problem nationaler Demokratie ein und bezog hieraus die Forderung nach einer unmittelbaren Anhindung der Gemeinschaftsaktivität an die nationalen Legitimitätsstrukturen. Aus Sicht des Optimierungsgebotes des Art. 3 war dies beinahe eine Maximalposition: man konnte sich durchaus fragen, ob nicht das Prinzip nationaler Souveränität Spielraum dafilr gelassen hätte, die notwendige Anhindung an nationale Legitimitätsstrukturen auf den Gründungsakt zu konzentrieren. Der Anspruch der französischen Nation, nur solcher öffentlicher Gewalt ausgesetzt zu werden, die auf ihren Willen zurückgeht, wäre hier praktisch dadurch eingelöst worden, daß die französische Republik durch den Vertragsabschluß in freiem Willen der Inlaufsetzung eines Integrationsprogramms zugestimmt hat. Die auf der Grundlage des Primärrechts erfolgende Gemeinschaftsaktivität wäre auch so als auf den Willen der französischen Nation zurückgehend darstellbar gewesen. Diese Konstruktion einer mittelbaren Vermittlung national-demokratischer Legitimation hätte nicht nur Sperren gegenüber einer Parlamentarisierung der Gemeinschaftsstruktur gar nicht erst aufkommen lassen, sondern sie hätte die nationale Verfassungsrechtslage auch stärker in Einklang mit dem gemeinschaftsrechtlichen Modell einer eigenständigen, von den Mitgliedstaaten abgenabelten Gemeinschaftsordnung im Sinne der "Costa I ENEL"-Doktrin werden. Die Forderung des Prinzips der nationalen Souveränität, die französische Nation keiner Fremdbestimmung zu unterwerfen, wird insofern nicht ausgehöhlt. 174 J. - P Jacque (FN. II), S. 83. 175 J. - P Jacque (FN. II ), S. 83. 176 R. Bieber (FN. 106), S. 57; C. Sasse (FN. 147), S. 716. 177 Es war daher auch ein wenig beschönigend, wenn L. Favoreu I L. Phi/ip (FN. 120), S. 158 und M. Fromont (FN. 65), S. 223 einen Zusammenhang mit der SolangeJudikatur des Bundesverfassungsgerichts herstellten. Denn diese wandte sich (in ihrem damaligen Stadium) wahrlich nicht gegen eine Positionsverstärkung des Europäischen Parlaments bzw. allgemein gegen einen Aufbau genuin gemeinschaftlicher Legitimitätsstrukturen.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

gebracht. Aber ähnlich wie der Conseil d'Etat bei der Frage des Vorrangmodells entschied sich der Conseil Constitutionnel gegen eine Hannonisierungsstrategie und nutzte die verfassungsrechtlichen Spielräume relativ weitgehend im Sinne einer nationalstaatliehen Selbstbehauptung, die hier freilich nicht nur in ideologischer Hinsicht von Bedeutung war, sondern die Gefahr in sich barg, zum realen Hemmnis fiir die Teilnahme Frankreichs am weiteren Ausbau der Integration zu werden. Abschließend konnte man indes wie schon 1970 konstatieren, daß mit der Rigidität der rechtlichen Vorgaben des Gerichts eine gewisse Milde in der tatsächlichen Beurteilung einherging. Wie hinsichtlich der neuen Finanzverfassung von 1970 wurden auch diesmal die faktischen Konsequenzen des vorgelegten Aktes vom Conseil heruntergespielt. Anders als die Entscheidung suggerierte - nach ihr schien die Wahl ja am Charakter des Parlaments als gleichsam diplomatischer Konferenz nichts zu ändern - war die symbolische Bedeutung der Direktwahl doch außerordentlich hoch, handelte es sich hierbei keineswegs nur um eine bloß technisch neue Designationsform 178 • Die Direktwahl mußte das institutionelle Gewicht des Parlaments nicht unbeträchtlich steigern 179, verkörperte durchaus, wie ihre Gegner richtig erkannten, den Einstieg in eine neue Gemeinschaftsära 180• Auch wenn der Conseil Constitutionnel die durch die Direktwahl dann auch tatsächlich ausgelöste politische Dynamik in seiner Entscheidung schlecht antizipieren und sie nicht zur Grundlage einer rechtlichen Beurteilung der ihm vorgelegten Texte machen konnte 181: Daß er sich zu diesem Punkt gar nicht ausließ, stattdessen die Wahl regelrecht bagatellisierte, war doch auffiillig 182 • Wiederum konnte dahinter nur das Motiv stehen, auf dem Wege einer sachten Tatbestandskorrektur die (zunächst verbal hoch angesetzte) Latte fiir die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeitserklärung faktisch doch wieder ein Stück niedriger zu hängen 183 -wiederum also die Offenbarung einer

178 J.

Boulouis (FN. 107), S. 473.

V Coussirat- Coustere (FN. 124), S. 819; J. Darras I 0. Pirotte, Ladecision du Conseil constitutionnel du 30 decembre 1976. Peut-elle freiner le processus de l'integration politique europeenne? RTDE 1977, S. 695 ff., 713. 180 C. Blumann (FN. 34), S. 594; E. W Fuß (FN. 83), S. 101. 179

M. de Villiers (FN. 121), n° 23. V Coussirat- Coustere (FN. 124), S. 819; J. Bou/ouis (FN. 107), S. 473 f. ; vgl. auch D. Ruzie (FN. 150), S. 77, wonach der Conseil den in Wahrheit bereits supranationalen Charakter des Parlaments in seiner Analyse unterschlage; ähnlich M. de Villiers (FN. 121), n° 30. 183 G. Vedel (FN. 18), S. 14: "les analyses minorants de Ia portee des innovations communautaires ont permis de !es regarder comme ne meconnaisant ni Ia souverainete nationale ni l'interdiction des transferts de competence". 181

182

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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pragmatischen Geschmeidigkeit und Sensibilität fiir politische Opportunitäten, die die Botschaft der Entscheidung doch noch etwas entschär:fte 184 •

cc) Resurne der Vor-Maastricht-Judikatur Die Vor-Maastricht-Judikatur des Conseil Constitutionnel löste den Spannungsbogen zwischen Art. 3 der Verfassung und Absatz 14 Präambel 1946 in ein System konkreter Übertragungsschranken auf, mit denen der Umfang der Integrationsgewalt des einfachen französischen Gesetzgebers zum ersten Mal näher konturiert wurde. Der einfache Übertragungsgesetzgeber war danach zu Eingriffen in den Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität - d.h. in den Anspruch der französischen Nation, nur solchen Akten öffentlicher Gewalt ausgesetzt zu werden, die auf ihren exklusiven Willen zurückgehen berechtigt, solange nicht der Kern nationalstaatlicher Identität ("conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" bzw. "transfert de souverainete") berührt wird. Dieser Kern wurde zum einen verbandskompetenziell definiert, d.h. er umfaßte ein Bündel besonders souveränitätssensibler Hoheitsrechte, auf deren Ausübung die französische Nation unter keinen Umständen (einfachgesetzlich) verzichten kann. Soweit ein Übertragungsakt nicht bereits unter dieses Verbot fiel, mußte er zum anderen einer strukturell definierten Anforderung genügen: die durch ihn begründete Gemeinschaftsbefugnis durfte, jedenfalls solange sie zur Einwirkung in die mitgliedstaatliche Rechtssphäre fiihren kann, nicht beim supranational organisierten Parlament angesiedelt werden. Die Prüfung der Zulässigkeil von Übertragungsakten durchlief damit zwei verschiedene Stufen. Auf der ersten Stufe wurden "nature" und "importance" der in Frage stehenden Kompetenz gemessen, auf der zweiten Stufe ihre organkompetenzielle Zuordnung auf Gemeinschaftsebene betrachtet. Wenn ein Übertragungsakt beide Prüfungsstufen "bestanden" hatte, durfte es zum Erlaß von Akten öffentlicher Gewalt gegenüber der französischen Nation kommen, die nicht mehr auf ihren exklusiven Willen zurückgehen, sondern an denen sie nur noch mitgewirkt hat. Unterhalb der Schwelle besonders souveränitätssensibler Hoheitsrechte wurde also auf die Exklusivität der nationalen Willensbildung verzichtet und die bloße Beteiligung Frankreichs am Zustandekommen der Akte öffentlicher Gewalt als ausreichend erachtet. Ein Verzicht auch hierauf - d.h. ein Übergang zu einer Gemeinschaftsgewalt, die nicht mehr 1K4 Etwas unausgeglichen daher auch die Reaktionen von R. Bieber (FN. 106), S. 56 ("enthüllt das ganze Dilemma staatsrechtlichen Denkens in Frankreich"; "Verbeugung vor einem verfassungsrechtlichen Fetisch") und von C. Sasse (FN. 147), S. 716 ("hochgradige Irrationalität").

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

gesamthänderisch durch die Mitgliedstaaten (im Rat) ausgeübt wird, sondern einen genuin gemeinschaftlichen Charakter besäße - war hingegen in keinem Fall zulässig. Da die Gemeinschaftsaktivität an die nationalen Legitimitätsstrukturen angebunden bleiben sollte, durfte die französische Nation nicht solchen Akten ausgesetzt werden, die aus einer supranationalen, den im nationalen Rahmen gebildeten Willen des Mitgliedstaates verflüchtigenden bzw. marginalisierenden Entscheidungstindung (wie im Parlament) hervorgehen. Offen ließ die Vor-Maastricht-Judikatur des Conseil Constitutionnel zum einen die Frage der konkreten Reichweite beider Übertragungsschranken. Was im einzelnen zu den kernhoheitlichen Kompetenzen der ersten Stufe zu zählen war, konnte den Entscheidungen von 1970 und 1976 nicht eindeutig entnommen werden. Nicht eindeutig geklärt war daneben, ob das grundsätzliche Verbot einer Parlamentarisierung der Gemeinschaft noch Spielräume fiir eine stärkere Einbindung des Parlaments in die gemeinschaftlichen Entscheidungstindung neben dem Rat ließ, wiewohl diesbezüglich nach der Direktwahlentscheidung ernsthafte Zweifel angebracht waren. Unausgeleuchtet blieb desweiteren die Frage der Entscheidungstindung innerhalb des Rates. In der Logik des gerichtlichen Ansatzes lag es, hier eine einstimmige Beschlußfassung bzw. eine Beschlußverhinderungsmöglichkeit im Stile des Luxemburger Kompromisses von 1966 zu fordern, da es anderenfalls auch in diesem Organ zur Verflüchtigung des mitgliedstaatliehen Willens kommen könnte. Einstimmigkeit bzw. Beschlußverhinderungsmöglichkeit entsprachen auch der Praxis, die der Conseil zum Zeitpunkt der Direktwahlentscheidung vor Augen hatte. Andererseits lief das gerichtliche Souveränitätskonzept aber auch nicht völlig zwangsläufig darauf hinaus, eine nach dem Mehrheitsprinzip organisierte Entscheidungstindung im Rat der verbotenen parlamentarischen Entscheidungstindung gleichzustellen. Selbst bei Mehrheitsentscheidung bleibt im Rat die mitgliedstaatliche Stimme (nicht zuletzt wegen der Praxis von "package deals") stärker als solche artikulierbar und verflüchtigt sich daher der im staatlichen Rahmen gebildete Wille der französischen Nation nicht im gleichen Ausmaß wie im Parlament; der intergouvernementale Charakter der Entscheidungstindung wird nicht vollständig aufgehoben. Dementsprechend war es nicht gänzlich abwegig andererseits aber auch beileibe nicht zwingend - an diesem Punkt gewisse Spielräume zu vermuten. Zum anderen klärte sich in den Entscheidungen von 1970 und 1976 noch nicht die Frage, ob sich neben dem Prinzip der nationalen Souveränität aus der französischen Verfassung noch weitere Übertragungsschranken ergeben. Die Entscheidung von 1970 hatte dem Prinzip der nationalen Souveränität eine Mediatisierungsfunk.tion gegenüber anderen Verfassungsnormen zugewiesen allerdings nur solchen, deren Schutzgehalt vom Prinzip der nationalen Souveränität mitumfaßt ist. Ob dort, wo die Gemeinschaft zu qualitativ völlig

ll. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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andersgearteten Herausforderungen für die Wahrung der nationalen Verfassungsidentität führen kann (v.a. im grundrechtliehen Bereich), diese Mediatisierungsfunktion endet und das Prinzip der nationalen Souveränität einer anderen, eigenständigen Übertragungsschranke Platz macht, blieb der Klärung durch die weitere Judikatur überlassen, d.h. der Maastricht I-Entscheidung, mit der das Übertragungskonzept des Conseil Constitutionnel seine heute gültige Fassung gefunden hat.

b) Die aktuelle Fassung des gerichtlichen Souveränitätskonzepts: Die Maastricht I-Entscheidung von 1992 185

aa) Vorgeschichte Im Vorfeld der ersten Maastricht-Entscheidung hat sich einmal mehr das aus der bisherigen Europajudikatur des Conseil Constitutionnel schon bekannte Bild geboten: Die politischen Kräfte - und, wie sich später am knappen Ausgang des Referendums zeigen sollte: auch und sogar in einem noch stärkerem Maße das französische Volk 1s6 - waren entzweit über den neuerlich anstehenden lntegrationsschritt 1s7, und wiederum hat man 1ss mit der Anrufung des Conseil Constitutionnel die Absicht verbunden, zumindest auf juristischem Terrain Klarheit herzustellen und hierdurch die Akzeptanz des Vorhabens zu stärken 1s9 • Anders als 1970 und 1976 hat diesmal allerdings unter Politikem 190

185

CC v. 9. 4. 1992- No. 93-308 DC, Rec. 55.

Das Referendum erbrachte lediglich eine Mehrheit von 51, 04% fiir die Ratifizierung des Maastricht-Vertrages, wobei hinsichtlich dieser Zahl allerdings berücksichtigt werden muß, daß ein Teil der Wähler wohl aus rein innenpolitisch motiviertem Protest mit Nein stimmte; M. Fromont, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Frankreich, in: U. Battis I 0. Th. Tsatsos I D. Stefanou (Hg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, Baden- Baden 1995, S. 127 ff., 129. Was die Parteien betrifft, so waren diese zwar sämtlich fiir die Verabschiedung des Maastricht-Vertrages, hatten jedoch alle in ihren Reihen auch prominente Maastricht-Gegner; M. Fromont, ebda. 187 X Pretot, Le principe constitutionnel de Ia souverainete national et l' Europe, in: La Constitution et l'Europe, Paris 1992, S. 33 ff., 33. 186

Iss D.h. der Staatspräsident, der hiermit einer drohenden Anrufung durch Parlamentarier zuvorkam; L. Favoreu, La boite de Pandore, Le Figaro v. II. 4. 1992 (abgedruckt in: La Constitution et l'Europe, Paris I 992, S. 353 ff.; dort: S. 354). 189 D. Simon, Le Conseil constitutionnel francais et Je Traite sur !'Union europeenne, Europe 5 I 1992, S. I ff., I.

14 Hecker

210

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

und Verfassungsrechtlern 191 die allgemeine Erwartung bestanden, das Gericht werde das ihm vorgelegte "engagement international" in Teilen fur unvereinbar mit der französischen Verfassung erklären 192 • Es ist insbesondere hinsichtlich der tiefgreifend in die bisherigen mitgliedstaatliehen Kompetenzen einschneidenden Bestimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion absehbar gewesen, daß der Conseil Constitutionnel insoweit die Übertragungsgrenzen fur den einfachen Gesetzgeber fur überschritten ansehen würde 193 • Zweifel hat daneben auch die in Art. 8 b EGV vorgesehene Einftlhrung des kommunalen Wahlrechts ftlr EG-Ausländer wecken müssen 194• Die politische Führung Frankreichs hat sich dennoch nicht fi1r eine dem Vertragsschluß vorausgehende Verfassungsänderung entschieden. Sie hat zunächst abgewartet, wo im einzelnen der (vom Staatspräsidenten selbst eingeschaltete) Conseil Constitutionnel lnkompabilitäten zwischen Vertrag und Verfassung feststellen würde, um auf diese Weise eine konkrete Richtschnur fi1r die anstehende Verfassungsänderung zu erhalten. Es war also keine verfassungsrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung des "engagement international", die man diesmal vom Conseil Constitutionnel erwartet hat, sondern eine detaillierte Anweisung über den notwendigen Umfang der anstehenden Verfassungsänderung 195 - womit die Vorraussetzungen fur eine juristisch unanfechtbare, risikolose Ausgestaltung des weiteren Ratifizierungsprocederes geschaffen werden sollten. Aus Sicht der Verfassungsrechtswissenschaft hat sich mit dem MaastrichtVerfahren die Hoffuung verknüpft, ein noch detaillierteres Konzept der verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen geliefert zu bekommen. In dieser 190 Vgl. F Luchaire, L'Union europeenne et Ia Constitution (1), RDP 1992, S. 589 ff., 589, wonach Präsident Mitterrand am 10. 2. 1992 erklärt hatte, der Unionsvertrag mache eine Verfassungsänderung notwendig. B. Genevois, Le Traite sur I'Union europeenne et Ia Constitution. Apropos de Ia decision du Conseil constitutionnel no. 92 - 308 DC du 9 avril 1992, RFDA 1992, S. 373 ff., 374 berichtet über eine Antwort der französischen Europarninisterin vom 22. 4. 1992 auf eine parlamentarische Anfrage, worin diese angab, die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung sei in der Regierung schon vor Aufnahme der Vertragsverhandlungen einkalkuliert worden. 191 Vgl. den Zeitungsaufsatz von L. Favoreu über "Les accords de Maastricht et Ia Constitution" im Figaro vom 7. 4. 1992, also zwei Tage vor der Entscheidung des Gerichts (abgedruckt in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 352 f.; dort: S. 352). 192 T. de Berranger (FN. I), S. 139; M. Fromont (FN. 31 ), S. 484. 193 B. Genevois (FN. 190), S. 396; J. - P Jacque, Commentaire de Ia decision du Conseil constitutionnel No. 92 - 308 DC du 9 avril 1992, RTDE 1992, S. 251 ff., 262; X Pretot, La non-conformite a Ia Constitution du traite sur !'Union europeenne, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 327 ff., 333; D. Sirnon (FN. 189), S. 3. 194 X Pretot (FN. 193), S. 333; J. Rideau, France, in: J. - C. Masclet I D. Maus (Hg.), Les constitutions nationales a l'epreuve de I'Europe, Paris 1992, S. 67 ff. 195

T. de Berranger (FN. 1), S. 139.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

211

Hinsicht war die zwischenzeitlich ergangene Judikatur des Conseil eher enttäuschend gewesen. Die gemeinschaftsbezogenen Entscheidungen von 1977, 1978, 1980 und 1991 hatten zur Übertragungsproblematik nichts beigetragen (auch diejenige von 1991 nicht, die - entgegen dem Prinzip der "incontestabilite" - als einzige zu dieser Ebene überhaupt vorgestoßen war). Auch die Rechtsprechung zu außergemeinschaftlichen Akten hatte unter dem Strich eher Verwirrung gestiftet. Die Entscheidung von 1985 über die im EMRK-Rahmen vereinbarte Abschaffung der Todesstrafe 196 hatte die Unterscheidung von "transferts" und "limitations" der Souveränität fallen gelassen und war zu der 1970 geschöpften Formel von den "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete" zurückgekehrt197 - allerdings ohne diese näher zu explizieren und ohne Anhalt darüber zu geben, ob sie als Ersatz oder als Ergänzung zum Ansatz von 1976 gedacht war 198 • Die Sehengen-Entscheidung von 1991 199 hatte sogar beide Formeln erwähnt200 und zudem noch mit "abandon de souverainete"201 eine dritte kreiert, war hingegen inhaltlich genauso dürftig wie diejenige von 1985 geblieben. Entsprechend groß waren die Unsicherheiten in der Literatur02 • Allgemein als bedauerlich ist empfunden worden, daß mit der Nichteinschaltung des Conseil Constitutionnel bei Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 eine gute Gelegenheit zur weiteren Präzisierung der Übertragungsjudukatur ungenutzt verstrichen war03 . Mit dem Maastricht-Vertrag ist nun endlich ein umfangreicher, die Gemeinschaft sowohl in kompetenzieller als auch in struktureller Hinsicht

196 197

CC v. 22. 5. 1985- No. 85- 188 DC, Rec. 15. 3. EG.

198 Für letzteres J. - P Jacque (FN. 193), S. 255; X Pretot (FN. 187), S. 44; J. Rideau, La recherche de l'adequation de Ia constitution francaise aux exigences de !'Union europeenne, RAE 1992, S. 7 ff., 12. 199

CC v. 25. 7. 1991- No. 91-294 DC, Rec. 91.

200

35. EG, 39. EG.

58. EG. Von der 1985er-Entscheidung meinte beispielsweise B. Genevois (FN . 83 ), S. 202, sie deute auf ein offeneres Konzept des Conseil Constitutionnel hin. G. lsaac, Les obstacles constitutionnels au developpement futur des Communautes, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 365 ff., 365 war demgegenüber der Auffassung, die Anforderungen an Übertragungsakte seien von Mal zu Mal gestiegen. Nach R. Abraham (FN. 64), S. 63 war es noch zu früh flir eine solche Beurteilung. 203 J. Rideau (FN. 83), S. 284. Eine Reihe von Autoren hielt die EEA, insbesondere wegen der systematischen Ausdehnung des Mehrheitsprinzips im Rat, flir unvereinbar mit der Verfassung; F Goguel (FN. 83), S. 95 f.; R. Chapus (FN. 22), S. 362; X Pretot (FN. 187), S. 45. 201

202

14*

212

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

reformierender und somit auf allen Feldern reichlich Erörterungsstoff bietender Integrationsakt auf den verfassungsgerichtlichen Prüfstand gelange04 •

bb) Die Entscheidungsgründe Auf den ersten Blick scheinen die Entscheidungsgründe die Hoffnungen auf eine ausfUhrliehe und transparente Prüfung durch den Conseil Constitutionnel vollauf zu erfilllen. Die Entscheidung ist die bislang mit Abstand längste zur europäischen Integration: Sie umfaßt 52 Erwägungsgründe205 und wird durch die hohe Zahl von 20 "visas" eingeleitee06 • Auffällig ist auch der sorgfältige Aufbau: Das Gericht hat mit einer ausfUhrliehen Aufzählung des Inhalts des vorliegenden Vertrages und seiner Anhänge (EG 1 - 4) begonnen und sich nach der bereits besprochenen207 Passage "sur le fait que le traite sur !'Union europeenne modifie des engagements internationaux anterieurs" in immerhin sieben Erwägungsgründen zu den "normes de reference du contröle" ausgesprochen, um dann anschließend systematisch die aus seiner Sicht kritischen Vorschriften des Unionsvertrages durchzugehen. Bei genauerer Betrachtung tritt aber freilich doch zutage, daß der Conseil in weiten Teilen bei seiner üblichen Methode äußerst dürrer, teilweise versteckter Andeutungen geblieben ist, so daß es auch diesmal wieder eines hohen Interpretationsaufwandes bedarf, um das hinter der Entscheidung stehende gerichtliche Konzept zu entschlüsseln208 . Die Länge der Entscheidungsbegründung resultiert nicht daraus, daß der Conseil umfangreiche und instruktive juristische Erörterungen angestellt hätte, sondern erklärte sich vielmehr aus den ausfUhrliehen Zitaten von Vorschriften des Unionsvertrages. Von den zehn Erwägungs204

J - P Jacque (FN. 193), S. 251 ("occasion unique de preciser sajurisprudence").

Die Entscheidung von 1970 umfaßte neun, diejenige von 1976 sogar nur sieben Erwägungsgründe. 205

206 Anders als in den bisherigen Entscheidungen ftlhren die "visas" nicht die diversen Gemeinschaftsverträge bzw. -beschlüsse selbst auf, sondern nur die jeweiligen innerstaatlichen Zustimmungsakte. Welches Motiv dahinter steht, bleibt indes verborgen; L. Favoreu, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 340 ff., 340. Auffällig ist desweiteren, daß die Verfassung von 1958 und die Präambel von 1946 getrennt aufgeftlhrt werden; L. Favoreu, ebda. ; P Avril I J Gicquel, Urteilsanmerkung, Pouvoirs 62 ( 1992), S. 180 ff., 180. 207 Oben unter A., III., 1., c), hh). 208 Dies hat in der Literatur zu Enttäuschungen geführt. J - P Jacque (FN. 193) etwa spricht angesichts der geringen Ausführlichkeit des Gerichts von einem "sentiment de frustration".

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

213

gründen zur Wirtschafts- und Währungsunion etwa bestehen sieben aus einer bloßen Wiedergabe des Inhalts der einschlägigen Vertragsbestimmungen und zwei weitere in der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses; die eigentliche Prüfung konzentriert sich in einem einzigen Erwägungsgrund. Ähnliches gilt auch hinsichtlich der Erörterung der Vertragsbestimmungen über das Kommunal- und Europawahlrecht (Art. 8 b EGV) sowie die gemeinsame Visapolitik (Art. 100 c EGV). Nimmt man noch die Passagen über die Gegenseitigkeit der Verpflichtung (EG 16) sowie den Grundrechtsschutz (EG 17 - 18) hinzu, so ist hiermit bereits die gerichtliche Untersuchung erschöpft. Alle übrigen Vorschriften des Unionsvertrages hat der Conseil (im 51. EG) pauschal mit dem einen Satz abgehandelt, daß keine von ihnen im Widerspruch zur Verfassung stünde (was durchaus nicht in jedem Fall evident gewesen ise09). Die einzelnen Passagen der Entscheidung werden im folgenden überblicksweise besprochen und im Anschluß (unter cc.) näher auf das ihnen zugrundeliegende Übertragungskonzept analysiert.

(1) Die "normes de reference" der Prüfung (EG 9 - 15)

Noch am dichtesten sind die Ausführungen zu den "normes de reference", die das Gericht in den Erwägungsgründen 9 - 15 vorgenommen hat. Der Conseil hat hier sämtliche Verfassungsvorschriften aufgezählt, die nach seiner Auffassung für die Übertragungsprüfung maßstäblich sind. Zutage tritt hierbei wiederum der Spannungsbogen zwischen einerseits dem Prinzip der nationalen Souveränität, das vom Conseil diesmal nicht nur in Art. 3 der Verfassung, sondern zusätzlich auch in Art. 3 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 geortet worden ist (10. EG)210 , und andererseits Absatz 14 der Präambel von 1946 (11. EG). Letzterem werden noch die Art. 53 der Verfassung von 1958 bzw. Art. 27 der Verfassung von 1946 zur Seite gestellt (12. EG), diebeideden Abschluß von "traites ou accords re1atifs a I' organisation internationale" anerkennen. Ihre Erwähnung bekräftigt ausdrücklich, daß die "limitations de souverainete" aus Absatz 14 der Präambel von 1946 gerade auch in solchen Verzichten bestehen können, die sich im Rahmen einer organisierten Staatengemeinschaft institutionell verfestigen.

209

J. Rideau (FN. 194), S. I 03; T de Berranger (FN. 1), S. 140 f.

Womit es wiederum deutlich macht (9. EG), daß diese Erklärung in den Grenzen des Verweises in der Präambel von 1958 Verfassungsrang genießt. 210

214

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Die rechtliche Synthese aus diesem Textmaterial hat der Conseil Constitutionnel im 13. und 14. Erwägungsgrund gezogen: "il resulte de ces textes de valeur constitutionelle que le respect de Ia souverainete nationale ne fait pas obstacle a ce que .. .la France puisse conclure, SOUS reserve de reciprocite, des engagements intemationaux en vue de participer a Ia creation ou au developpement d'une organisation internationale permanente, dotee de Ia personnalite juridique et investie de pouvoirs de decision par /'effet de transferts de competences consentis par /es Etats membres"211 (13. EG; Herv. v. Verf.). "toutefois .. au cas des engagements intemationaux souscrits a cette fin contiennent une clause contraire a Ia Constitution ou portant atteinte aux conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete, l'autorisation de !es ratifier appelle une revision constitutionnelle"212 (14. EG; Herv. v. Verf.). Diese beiden Sätze lassen bereits erste kleinere Schlußfolgerungen zu. Die letztgenannte Bemerkung aus dem 14. Erwägungsgrund stellt klar, daß der Conseil Constitutionnel sich unter den mehreren bislang kursierenden Kurzformeln zur Kennzeichnung seines Souveränitätskonzepts nunmehr endgültig fiir diejenige der "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainite" entschieden, von der "transfert-limitation"-Formel aus dem Jahr 1976 also Abstand genommen hat. Vor dem Hintergrund der literarischen Kritik, die sich nach 1976 an der strengen "transfert-limitation"-Formel entzündet hatte, kann die Rückkehr zur sprachlich milderen "conditions essentielles"-Formel bereits als erstes Zeichen einer gestiegenen gerichtlichen Konzessionsbereitschaft gedeutet werden213 • Das Gericht dürfte die "conditions"-Formel im übrigen auch deshalb bevorzugt haben, weil sie besser auf solche Integrationsschritte paßt, die (wie etwa die Einfiihrung des Kommunalwahlrechts fiir EG-Ausländer) nicht in der Delegation staatlicher Befugnisse auf die Gemeinschaft bestehen, sondern einen Eingriff in staateninterne Organisationsstrukturen beinhalten214 • Auch die 211 "aus diesen Vorschriften mit Verfassungsrang folgt, daß die Achtung der nationalen Souveränität Frankreich nicht daran hindert, auf der Grundlage der... Bestimmungen der Präambel der Verfassung von 1946 und unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit, internationale Verpflichtungen mit dem Ziel einer Beteiligung an der Gründung oder Weiterentwicklung einer dauerhaften internationalen Organisation einzugehen, die Rechtspersönlichkeit besitzt und infolge von den Mitgliedstaaten zugestandener Kompetenzübertragungen mit Entscheidungsgewalt ausgestattet ist". 212 "indes erfordert die Erlaubnis zur Ratifizierung zu diesem Zweck unterschriebener internationaler Verpflichtungen in dem Fall, daß diese eine mit der Verfassung unvereinbare Bestimmung enthalten oder die wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigen, eine Verfassungsänderung". 21 3 Vgl. J- P Jacque (FN. 193), S. 256. 214 L. Favoreu (FN. 206), S. 342 I 343; ders., Le contröle de constitutionnalite du Traite deMaastrichtet Je developpement du 'droit constitutionnel international ', RGDIP 1993, S. 39 ff., 53.

li. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

215

ausdrückliche Hervorhebung der Zulässigkeit von "transferts de competences" ist als semantischer Fortschritt zu werten, desgleichen die Wendung von der "Organisation internationale permanente, dotee de Ia personnaHte juridique et investie de pouvoirs de decision". Mit diesen Wendungen hat das Gericht zwar nicht ausdrücklich den Ansatz von 1976 korrigiert (vor der Zulassung von "transferts de souverainete" ist es zurückgescheut und ein Verbot von "transferts de competence" war 1976 nicht ausgesprochen worden), aber es hat doch den eigenständigen Charakter der Gemeinschaft stärker hervorgehoben, das supranationale auf Kosten des interetatistischen Elements weiter in den Vordergrund geschoben215 • Insbesondere der Begriff der "pouvoirs de decision" ist jedenfalls sprachlich voll und ganz offen fiir die prinzipielle Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit nach der Entscheidung von 1976 zumindest zweifelhaft gewesen war. Schon an dieser Stelle der Entscheidungsgründe zeigt sich somit, daß die Linie des Conseil Constitutionnel im Vergleich zu 1976 geschmeidiger geworden ist2 16, der Entscheidung eine "nouvelle doctrine"217 zugrundeliegt Auffiillig ist schließlich, daß der Conseil Constitutionnel im 14. Erwägungsgrund nicht nur von Bestimmungen "portant atteinte aux conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete", sondern daneben noch von anderen "clause[s] contraire[s] a Ia Constitution" gesprochen hat. Hierin deutete sich (was durch die gesonderte Grundrechtsprilfung in den Erwägungsgrilnden 17 und 18 dann auch bestätigt wird) eine Ausdifferenzierung des Prilfungsmaßstabs an: Dem Prinzip der nationalen Souveränität, das bislang andere Verfassungsnormen bei der Übertragungskontrolle mediatisiert hatte, werden noch weitere Übertragungsschranken zur Seite gestellt2 18 •

(2) Die Gegenseitigkeitsprüfung (EG 16)

Das Gericht hat zum Nachweis des Vorliegens der (in Absatz 14 der Präambel von 1946 geforderten) Gegenseitigkeit auf Art. R des Unionsvertrages verwiesen, wonach dieser nach Hinterlegung aller Ratifizierungsurkunden in Kraft tritt. Zusätzlich hat der Conseil erwähnt, daß diese Vorschrift auch im Hinblick auf die dem Vertrag beigefugten Protokolle und Erklärungen gelte. Das Gericht 215 J. - P Jacque (FN. 193), S. 253 ("approfondissement de Ia reconnaissance de Ia specifite communautaire depuis 1976"). 216 r de Berranger (FN. I), S. 141. 217 D. Sirnon (FN. 189), S. 2. 218

P Gaia (FN. 7), S. 233. Näher hierzu unten unter B., II., 2., b).

216

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

hat sich demnach auf die Feststellung des einheitlichen Inkrafttretens der Vereinbarungen beschränkt und die unterschiedliche inhaltliche Geltung einiger seiner Vorschriften außer Betracht gelassen219; bekanntlich sind Dänemark und das Vereinigte Königreich vom Anwendungsbereich bestimmter Regeln ausgeschlossen und steht ferner auch eine weitere Ausdifferenzierung beim Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion im Raum. Der Conseil nimmt also den Standpunkt ein, daß mit dem Ausschluß einzelner Staaten vom Anwendungsbereich bestimmter Vorschriften noch nicht die Gegenseitigkeit des "engagement international" in Frage gestellt wird220 . DafUr, daß Absatz 14 der Präambel von 1946 eine lückenlos den gesamten Vertrag umschließende Gegenseitigkeit fordern würde, geben Text und Sinn der Vorschrift auch nichts her. Absatz 14 will lediglich - ganz und gar - einseitige Souveränitätsverzichte Frankreichs verhindern, nicht aber eine absolute Gleichheit der Beteiligungsstufen aller Vertragspartner fordern (fUr das Modell der abgestuften Integration ist das französische Verfassungsrecht insofern offen).

(3) Das kommunale Wahlrechtfür EG-Ausländer (EG 21- 27) Der Conseil Constitutionnel hat sich davon, daß Art. 8 b Abs. 1 EGV die konkrete EinfUhrung des kommunalen Wahlrechts fUr EG-Ausländer bis zum Erlaß von DurchfUhrungsbestimmungen durch den Rat aufschiebt, nicht von einer Prüfung abhalten lassen. Dieses "ne s' oppose pas a ce que Je Conseil constitutionnel exerce son contröle sur Je point de savoir si Ia clause ... n'enonce pas un principe qui par lui-meme contrevient a une disposition de valeur constitutionelle"221 (23. EG; Herv. v. Verf.). Für dieses Vorgehen spricht, daß die DurchfUhrungsbestimmungen gern. Art. 8 b Abs. I EGV nur noch die "Einzelheiten" der Wahl zu regeln haben und überdies der Rat hierfUr vertraglich an einen festen Zeitpunkt gebunden worden ist (31. 12. 1994). Eine Verschiebung der Prüfung auf ihren Erlaß hätte das Gericht sogar dem Vorwurf ausgesetzt, einen späteren Verstoß gegen den Grundsatz der "incontestabilite" in Kraft getretener Vereinbarungen heraufzubeschwören. Aufmerken läßt hinge219 B. Genevois (FN. 190), S. 385; J. Rideau (FN. 194), S. 85; kritisch hierzu X Pretot (FN. 193 ), S. 342.

220 T de Berranger (FN. I), S. 75, 78; J. Boulouis, Le juge constitutionnel francais et I' Union europeenne, CDE 1994, S. 505 ff., 515; M. Fromont (FN. 31), S. 484. 22 1 "steht nicht entgegen, daß der Conseil Constitutionnel die Kontrolle dahingehend ausübt, ob die Vorschrift...schon für sich ein einer Bestimmung mit Verfassungsrang zuwiderlaufendes Prinzip festlegt" .

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

217

gen, daß der Conseil den Rat im 22. Erwägungsgrund darauf festgelegt hat, die Zuerkennung des Wahlrechts vom Nachweis staatsbürgerlicher Rechte im Herkunftsstaat und einer Mindestaufenthaltsdauer abhängig zu machen sowie ein Verbot doppelter Stimmabgabe im Herkunfts- und Gaststaat aufzustellen. Ähnlich wie 1976 kommt es dem Gericht hier darauf an, die zukünftige gemeinschaftliche Regelungsaktivität durch frühzeitiges Aufzeigen verfassungsrechtlicher Schmerzpunkte in bestimmte Bahnen zu lenken. Zwar ist diesmal anders als I 976 kein förmlicher Vorbehalt in den Entscheidungstenor aufgenommen worden. Dennoch bleibt festzuhalten, daß der Conseil Constitutionnel hier das Risiko potentieller Konflikte zwischen dem französischen Verfassungsrecht und den Durchfilhrungsbestimmungen zu Art. 8 b EGV eingegangen ist222 • Dem eigentlichen Kernproblem des Ausländerwahlrechts hat sich der Conseil Constitutionnel im 24. Erwägungsgrund genähert. Hier ist zunächst der Wortlaut von Art. 3 der Verfassung wiedergegeben, wonach die nationale Souveränität "appartient au peuple qui l'exerce par ses representants ou par Ia voie du referendum"223 . Sodann hat das Gericht die Wahlgrundsätze (der Allgemeinheit, Gleichheit usw.) in Absatz 3 sowie den Absatz 4 von Art. 3 zitiert ("sont electeurs ...tous !es nationaux francais" 224). Diese Ausfiihrungen können den Eindruck erwecken, als wolle das Gericht die Wahlen zu kommunalen Vertretungsorganen schlechthin Art. 3 der Verfassung unterstellen und so fiir französische Staatsangehörige reservieren. Dies hätte auch durchaus auf der Linie der bisherigen Gemeindejudikatur des Gerichts gelegen: In zwei Entscheidungen aus dem Jahr 1982225 hatte der Conseil den Charakter der Kommunalwahlen als "elections politiques" herausgestrichen und sie in einen scharfen Gegensatz zu "elections corporatives" (zu berufsständischen Vertretungskörperschaften u. ä.) gestellf26 - ein Ausschluß von Ausländern wäre als logische Konsequenz dieser Rechtsprechung erschienen. Überraschenderweise227 hat der Conseil Constitu222 Da die Kommunalwahlrichtlinie des Rates von 1994 allerdings Regelungen der vom Conseil Constitutionnel angesprochenen Art trifft, hat sich dieses Risiko nicht realisiert. 223 "beim Volk [liegt], das sie durch seine Repräsentanten oder im Wege des Volksentscheids ausübt".

"alle französischen Staatsbürger genießen das Wahlrecht". CC v. 18. II. 1982- No. 82- 146 DC, Rec. 66 (Quotas par sexe); CC v. 25. 2. 1982 -No. 82- 138 DC, Rec. 41 (Statut de Ia Corse). 224

225

226

Näher L. Favoreu, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 389 ff., 390 ff.

J. Rideau (FN. 194), S. 90. Vor der Entscheidung ging die Literatur wie selbstverständlich davon aus, der Conseil Constitutionnel würde das EG-Ausländerwahlrecht ausschließlich auf der Grundlage der Gemeinde-Rechtsprechung aus dem Jahr 1982 verwerfen; so N. Cata/a, La decision du Conseil constitutionnel sur Je traite de Maastricht, Le quoitidien de Paris v. 6. 4. 1992 (abgedruckt in: La Constitution et l'Europe, Paris 1992, S. 349 ff.; dort: S. 349 I 350); L. Favoreu (FN. 191), S. 352. In beiden 227

218

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

tionnel nun jedoch einen anderen Ansatz gewählt: Er leitet die Verfassungswidrigkeit von Art. 8 b Abs. l EGV ausschließlich aus der Auswirkung der Kommunalwahlen auf die Bildung des Senats ab228 . Nach dem geltenden (einfachgesetzlich geregelten) französischen Wahlsystem werden die Senatoren von Wahlmännern gewählt, die ihrerseits von den kommunalen Vertretungskörperschaften bestimmt werden. Von daher besitzt, wie der Conseil festgestellt hat, die "designation des conseillers municipaux...une incidence sur l'election des senateurs"229 (26. EG). Da der Senat wiederum "en sa qualite d'assemblee parlamentaire ...participe a l'exercice de Ia souverainete nationale"230 (26. EG), müsse Art. 3 der Verfassung auch auf Kommunalwahlen Anwendung finden, mit der Folge, daß auch bei ihnen "seuls les 'nationaux francais' ont le droit de vote et d'eligibilite"231 (26. EG). Das Gericht stellt sich also nicht auf den Standpunkt, Kommunalwahlen seien per se dem französischen Volk vorbehalten. Vielmehr seien sie es nur insofern, als ihr Ausgang auf die Zusammensetzung des Senats - der alleine an der Ausübung der nationalen Souveränität teilhabe - durchschlage232 ; nur wegen dieser "incidence" auf die Senatsbildung verstoße die Teilnahme von Ausländern an den Kommunalwahlen gegen das Prinzip der nationalen Souveränität. Anders als das Bundesverfassungsgericht sieht damit das französische Verfassungsgericht die Tätigkeit der kommunalen Gebietskörperschaften nicht als Ausübung hoheitlicher Staatsgewalt an, die sich ebenso wie die Tätigkeit der Zentralebene am Willen des Staatsvolkes in den Gemeinden legitimieren lassen müsse. Der vom Conseil Constitutionnel eingeschlagene Lösungsweg, der in der Literatur auf Kritik stößf33 , läßt den Rückschluß zu, daß im Falle einer Eliminierung der Gemeinderäte aus der Wahlprozedur zum Senat ein kommunales Ausländerwahlrecht als verfassungsrechtlich unbedenklich einzustufen Beiträgen, die jeweils kurz vor der Entscheidung des Conseil Constitutionnel erschienen, wurde die Verknüpfung zwischen Kommunal- und Senatswahlen mit keinem Wort erwähnt. 228 L. Favoreu (FN. 226), S. 395; F Luchaire (FN. 190), S. 598; J. Rideau (FN. 194), S. 90; D. Sirnon (FN. 189), S. 3. "Wahl der Gemeinderäte.. eine Auswirkung auf die Wahl der Senatoren" . "in seiner Eigenschaft als parlamentarische Körperschaft... an der Ausübung der nationalen Souveränität teilhat". 229 230

231 "ausschließlich die französischen Staatsangehörigen das aktive und passive Wahlrecht besitzen". 232 Ein bemerkenswerter Unterschied zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der sich wohl aus der zentralistischen Staatsauffassung Frankreichs erklärt; vgl. hierzu M. Fromont (FN. 31), S. 484. 233 L. Favoreu (FN. 226), S. 396; F Luchaire (FN. 190), S. 598; J. Rideau (FN. 194),

s. 91.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

219

gewesen wäre. Ein leises Fragezeichen in diesem Punkt ergibt sich allenfalls aus dem 25. Erwägungsgrund. Das Gericht hat hierin Art. 24 der Verfassung erwähnt, wonach der Senat "assure Ia representation des collectivites territoriales"234. Hieraus wird vereinzelt gefolgert, daß die Einbindung der Gemeinderäte in die Senatswahl von Verfassungs wegen gefordert, eine Eliminierung also gar nicht möglich sei235 • Zwingend ist diese Lesart jedoch keineswegs: Die vom Gericht angesprochene Repräsentation der Gebietskörperschaften im Senat wäre auch dergestalt denkbar, daß die Senatswahlmänner - im kommunalen Rahmen - direkt vom Volk gewählt werden236 . Hierfiir wären sowohl der Wortlaut von Art. 24 offen - als auch letztlich derjenige der Entscheidungsgründe: denn das Gericht hat im nachfolgenden 26. Erwägungsgrund die allgemeine Formulierung gewählt, der Senat müsse "etre elu par un corps electoral qui est lui-meme l'emanation de ces collectivites"237 • Es hat sich also nicht konkret auf die Gemeinderäte als Organe der Wahlmännerkür festgelegt.

(4) Das Wohnortprinzip beim Wahlrecht zum Europäischen Parlament (EG 28- 35) Stärker als beim kommunalen Ausländerwahlrecht, wo jedenfalls vom Ergebnis her die Entscheidung des Conseil vorhersehbar gewesen ist, hat man auf die gerichtliche Reaktion zum neuen Art. 8 b Abs. 2 EGV gespannt sein dürfen. Die praktische Tragweite des neu in das europäische Wahlrecht eingefiihrten Wohnortprinzips ist zwar angesichts der verhältnismäßig geringen Zahl von im Ausland lebenden Gemeinschaftsbürgern begrenzt. Aber es streicht doch in symbolischer Hinsicht deutlicher den Charakter des Parlaments als genuin europäische Versammlung heraus und besitzt damit eine hohe integrationstheoretische Bedeutung. Die von Art. 8 b Abs. 2 EGV ermöglichte transnationale Durchmischung der Wählerschaft weicht vor allem den im Vertrag (Art. 137 EGV) formal beibehaltenen Bezug zu den einzelnen Völkern der Mitgliedstaaten auf und stößt damit aus französischer Sicht in eine seit 1976 ("indivisibilite de Ia Republique") verfassungsrechtlich äußerst kritische Zone vor. Die - im Aufbau recht unsystematische - Argumentation des Gerichts zum neuen Wohnortprinzip gleicht in mancher Hinsicht derjenigen zum Direktwahl234

"die Repräsentation der [kommunalen] Gebietskörperschaften gewährleistet".

235 So etwa X Pretot (FN. 193), S. 331. 236 L. Favoreu (FN. 226), S. 394; F. Luchaire (FN. 190), S. 598.

237 "von einer Wahlkörperschaft gewählt werden, die ihrerseits aus diesen Gebietskörperschaften hervorgeht".

220

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

akt von 1976. Der Conseil hat zum einen festgehalten, daß das Parlament sein "fondement juridique" in den europäischen Verträgen besitze (32. EG), also außerhalb der "ordre institutionnel de Ia Republique francaise" stehe (34. EG). Hieraus ergibt sich zunächst, daß Art. 8 b Abs. 2 nicht vorgehalten werden kann, daß innerstaatlich (nach Art. 3 Abs. 4 der Verfassung) nur französische Staatsangehörige wahlberechtigt sind (33. EG). Insoweit entspricht der Ansatz des Conseil Constitutionnel demjenigen von 1976: Regelungen der inneren Staatsorganisation (wie 1976 die französische lnkompabilitätsbestimmung bzw. die Zuordnung des Wahlgesetzgebungsrechts an das französische Parlament) können keinen Maßstab zur Beurteilung eines Aktes bilden, der die innere Staatsorganisation gar nicht betrifft. Auf der anderen Seite hat das Gericht wiederum geprüft, ob infolge der veränderten Wahlgrundsätze die "nature" des Parlaments in unzulässiger Weise geändert werde. Das Gericht hat diese Frage auch diesmal verneint, wobei es vor allem den Beibehalt des (schon im 32. EG angesprochenen) Prinzips der begrenzten Einzelzuständigkeit hervorgehoben haf38 ; der Unionsvertrag "n'a pas pour consequence de modifier Ia nature juridique du Parlement; .. ce dernier ne constitue pas une assemblee souveraine dotee d'une competence generale et qui aurait vocation a concourir a l'exercice de Ia souverainete nationale"239 (34. EG). Daß mit der Teilnahme von Ausländern an den auf französischem Staatsgebiet abgehaltenen Urnengängen die 1976 so ausdrücklich geforderte Repräsentation der französischen Nation im Buropaparlament in Frage gestellt wird, hat das Gericht hingegen mit keinem Wort erörtert. ·Hierin liegt nun allerdings ein bedeutsamer Unterschied zur Entscheidung von 1976. Denn der Conseil ist hiermit von der damals vertretenen Auslegung des Grundsatzes der "indivisibilite de Ia Republique"abgerückf40 . Nach den 1976 herangezogenen Maßstäben ist die transnationale Durchmischung des Wahlvolkes inakzeptabel. Wegen des Wohnortprinzips repräsentieren die in Frankreich gewählten Buropaabgeordneten nicht mehr die französische Nation, sondern die in Frankreich lebende Bevölkerung; sie können nicht mehr als "representants francais" gelten. Da die Maßstäbe von 1976 Ausfluß der Vorbehalte des Gerichts gegen eine Parlamentarisierung der gemeinschaftlichen Binnenstruktur gewesen waren, liegt die Vermutung nicht fern, daß ganz allgemein diese 238

Auch hierin liegt eine Parallele zur Direktwahlentscheidung von 1976.

"hat keine Änderung der Rechtsnatur des Europäischen Parlaments zur Folge; dieses stellt nicht eine souveräne, mit Allzuständigkeit ausgestattete Versammlung dar, die dazu berufen wäre, an der Ausübung der nationalen Souveränität teilzuhaben". 239

240 P Avril I J. Gicquel (FN. 206), S. 183; L. Favoreu (FN. 226), S. 397; B. Genevois (FN. 190), S. 390 f.; F Luchaire (FN. 190), S. 600; J. Rideau (FN. 194), S. 94; P Gaia (FN. 7), S. 253; L. Favoreu I L. Philip, Les grandes decisions du Conseil constitutionnel, 7. Aufl., Paris 1993, S. 821.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

221

Vorbehalte nun nicht mehr in gleicher Form aufrechterhalten werden. Dafiir spricht im übrigen auch, daß das Gericht bei der Würdigung der "nature" des Parlaments die durch den Vertrag vorgenommene Aufwertung seiner Position im gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahren ebenso außer Betracht gelassen hat wie die Erweiterung seiner Kontrollbefugnisse in den Art. 138 c, 138 d, 138 e EGV sowie seiner Investiturrechte in Art. 158 EGV241 • Keine dieser Reformen hat der Conseil auch nur mit einem Wort erwähnt. Dies alles deutet daraufhin, daß die bislang geltenden strukturellen Elemente der Übertragungsschranken vom Gericht modifiziert worden sind - wie weit, wird sogleich unter cc. im Zusammenhang analysieren sein.

(5) Die Wirtschafts- und Währungsunion (EG 36- 45) Der mit der Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) einhergehende fast vollständige Verlust nationaler Währungshoheit steht offenbar aus Sicht des Conseil Constitutionnel derart evident im Widerspruch zum Prinzip der nationalen Souveränität, daß ihm eine nähere BegrUndung seiner Verfassungswidrigkeit überflüssig erschienen ise42 . Das Gericht hat sich jedenfalls diesbezüglich weitgehend mit einer Beschreibung des vertraglichen Regelwerks begnügt und im Anschluß, wie bereits angedeutet, die eigentliche Subsumtion in einem einzigen Satz vorgenommen. Den Schwerpunkt seiner Vertragsreferierung hat das Gericht auf die Vorschriften gelegt, welche die währungspolitischen Elemente der WWU regeln. Dies kommt schon in der vom Conseil gewählten Überschrift dieses Entscheidungsabschnitts ("sur l'etablissement d'une politique monetaire et d'une politique de changes uniques") zum Ausdruck. Bei diesen Vorschriften wiederum hat sich das Gericht auf diejenigen konzentriert, welche die dritte Stufe der WWU betreffen243 • Die zweite Stufe ist nur ganz oberflächlich behandelt (39. EG). Hingegen sind die in Art. l 09 J EGV geregelten Modalitäten des Eintritts in die dritte Stufe (40. EG) sowie die Inhalte der in ihr bestehenden Gemeinschaftsbefugnissein der Geldpolitik (4l.EG) und in der Wechselkurspolitik (42. EG) sehr ausfUhrlieh dargestellt. Dabei hat der Conseil besonderes Augenmerk auf die institutionellen Regelungen (Unabhängigkeit von Europäischer Zentral241 Vgl. hierzu J. - C. Gautron, Apropos de Jadecision du Conseil constitutionnel du 9 avril 1992: Je dit et Je non-dit, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 344 ff., 347; F Luchaire (FN. 190), S. 600; J. Rideau (FN. 194), S. 94. 242 J. Rideau (FN. 194), S. 98 I 99; J. Baulouis (FN. 220), S. 518 (,jugee en soi suffisament demonstratif'). 243 J.- C. Gautran (FN. 241), S. 348.

222

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

bank und Europäischem System der Zentralbanken) sowie die Regelung der Entscheidungsprozeduren (Notenausgabe, Festsetzung des ECU-Wertes und der Umrechnungskurse, Wechselkursfestlegung nach außen) gelegt. Aus der Beschreibung der Eintrittsmodalitäten in die dritte Stufe wird im übrigen deutlich, daß der Conseil Constitutionnel hier von einem Automatismus ausgehf44 ; jedenfalls fehlten jegliche Anhaltspunkte dafiir, daß das Gericht den Übergang in diese Stufe von einer nochmaligen mitgliedstaatliehen Willensbetätigung - wie sie aus dem Text des Art. 109 J, wenn auch mit Mühe, herauszulesen wäre - abhängig ansieht. Im 43. Erwägungsgrund hat der Conseil dann schließlich resümiert, "il n!sulte des dispositions applicables a compter du debut de Ia troisieme phase de l'Union economique et monetaire, que Ia realisation d'un semblable objectif se traduira par Ia mise en oeuvre d'une politique monetaire et d'une politique de change unique suivant des modalites telles qu'un Etat membre se trouvera prive de competences propres dans un domaine ou sont en cause /es conditions essentielles d'exercice de Ia souverainet€"245 (Herv. v. Verf.). Entsprechend dem Schwerpunkt seiner vorherigen Ausruhrungen begrenzt das Gericht den Verfassungsverstoß also ausdrücklich auf Regelungen der dritten Stufe der WWU246 • Nochmals bestätigt wird dies durch die im 45. Erwägungsgrund vorgenommene Einzelaufzählung der verworfenen EGV-Vorschriften247 • Bei ihnen handelt es sich sämtlich um solche, die der dritten Stufe der WWU zuzuordnen sind. Das Gericht hat dieser Aufzählung zwar die kassatorische Klausel hinzugefiigt, daß weiterhin auch diejenigen "dispositions des chapitres II, III et IV du titre VI ajoute au traite instituant Ia Comrnunaute europeenne ainsi que celles des protocoles nos. 3 et 10" mit der Verfassüng unvereinbar seien, die ,,sont indissociab/es des artic/es precites" (Herv. v. Verf.). Dies stellt aber die Beschränkung auf die dritte Stufe der WWU nicht in Frage. Namentlich die die mitgliedstaatliche Haushaltswirtschaft in der zweiten Stufe regulierenden Vorschriften der Art. 104 - 104c EGV (Verbot von Kreditfazilitäten und von bevorrechtigtem Zugang zu Finanzinstituten fiir öffentliche Einrichtungen, 244 P Gaia, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 719 ff., 722; B. Genevois (FN. 190), S. 395; J. Rideau (FN. 194), S. 98. 245 "aus den ab Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion anwendbaren Bestimmungen folgt, daß die Verwirklichung des entsprechenden Zieles durch die Einführung einer gemeinsamen Währungs- und Wechselkurspolitik erfolgt, [und zwar] in einer Weise, die dem Mitgliedstaat eigene Kompetenzen in einem Bereich nimmt, in welchem die wesentlichen Bedingungen fiir die Ausübung der nationalen Souveränität betroffen sind".

M. Fromont (FN. 31), S. 133; P Gaia (FN. 7), S. 241. Art. 3 a Abs. 2, 105 Abs. 2, 105 a, 107, 109, 109 b Abs. 2, 109 g Abs. 2, 100 I Abs. 4EGV. 246

247

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

223

Haftungsausschlüsse fiir Verbindlichkeiten untergeordneter Körperschaften, Vermeidung übermäßiger Defizite) sind zwar politisch-fmal auf die dritte Stufe bezogen248 , rechtlich aber von dieser klar zu trennen. Daß sie von der Verwerfungsentscheidung des Gerichts nicht miturnfaßt sind249 , belegt auch die ausdrückliche Beschränkung der kassatorischen Klausel auf die Kapitel 2 bis 4 des 6. Titels (die Art. 104 - 104 c EGV sind im Kapitel 1 plaziert). Im Maastricht II-Verfahren hat der Conseil Constitutionnel die Rüge der Verfassungswidrigkeit von Art. 104 c EGV dann auch mit dem Argument zurückgewiesen, die Unbedenklichkeit dieser Vorschrift sei in der Maastricht IEntscheidung rechtskräftig festgestellt worden250 .

(6) Die gemeinsame Visapolitik (EG 46- 50)

Die (Teil-) Verwerfung der gemeinsamen Visapolitik durch den Conseil Constitutionnel ist im Gegensatz zu derjenigen des kommunalen EGAusländerwahlrechts sowie der dritten Stufe der WWU recht überraschend251 • Im Hinblick auf die Analyse des gerichtlichen Souveränitätskonzepts ist dieser Entscheidungsteil außerordentlich aufschlußreich, denn der Conseil stützt sich hier maßgeblich auf die Einfilhrung der Mehrheitsentscheidung im Rat ab dem 1. 1. 1996252 • Das Gericht hat zu Beginn im 47. Erwägungsgrund wiedergegeben, daß nach Absatz 1 des Art. 100 c die Bestimmung visumspflichtiger Drittländer durch den Rat zunächst einstimmig erfolgen würde. Im 48. Erwägungsgrund wird dann berichtet, "qu'a compter du ler janvier 1996, le Conseil adoptera 'a Ia

248

Bzw. werden teilweise sogar erst hier operabel. Dies betrifft beispielsweise nach

Art. 109 e Abs. 3 die Absätze 1, 9, 11, 14 des Art. I 04 c, also namentlich das Bußgeld-

verfahren bei Verstößen gegen die nach dem Vertrag vorgeschriebene Haushaltsdisziplin. 249 Hiervon gehen auch die Kornmentatoren aus; J. - C. Gaufron (FN. 241 ), S. 349; J. Rideau (FN. 194), S. 104. 250 31., 36. Erwägungsgrund. Zwischen den verschiedenen Absätzen des Art. 104 c ist hierbei vorn Gericht nicht differenziert worden. Dies bestätigt noch einmal, daß auch die Regelungen derjenigen Absätze von Art. 104 c in der Maastricht I-Entscheidung unbeanstandet geblieben sind, die nach Art. 109 e Abs. 3 erst in der dritten Stufe der WWU operabel werden. 251 J. - C. Gaufron (FN. 241), S. 345. 252 R. Etien, Urteilsanrnerkung, Rev. adrn.1992, S. 126 ff. , 131; B. Genevois (FN. 190), S. 399; M Fromonf (FN. 186), S. 133.

224

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

majorite qualifiee les decisions visees au paragraphe 1"253 • Im 49. Erwägungsgrund hat der Conseil die Bestimmungen des Art. I 00 c hinsichtlich der Periode bis zum I. I. I996 fi1r mit der Verfassung noch vereinbar erklärt, dann aber ausgefiihrt, "qu'en revanche, /'abandon de Ia regle de /'unanimite a compter du ler janvier I996 ...pourrait conduire ... a ce que se trouvent affectees des conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale"254 (Herv. v. Verf.); somit sei Art. I 00 c Abs. 3 nach der gegenwärtigen Lage verfassungswidrig (EG 50). Es ist also gerade der Wechsel des Entscheidungsmodus im Rat ab I996, der vom Conseil Constitutionnel als unzulässiger Eingriff in die wesentlichen Bedingungen fiir die Ausübung der nationalen Souveränität gewertet worden ist.

cc) Folgerungen Wie in den Entscheidungen von I970 und 1976 hat der Conseil Constitutionnel auch in der Maastricht I-Entscheidung seiner Prüfung keine genaue AufschlüsseJung über Umfang und Struktur der Übertragungsschranke des Prinzips der nationalen Souveränität vorangestellt. Auch diesmal hat er sich insoweit mit der Angabe einer abstrakten Formel ("conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale") begnügt und dann die Untersuchung des vorgelegten "engagement international" in einer Weise vorgenommen, die sich weitgehend in der Kundgabe des Untersuchungsergebnisses erschöpft und wesentliche gedankliche Zwischenschritte unausgesprochen läßt. Umfang und Vielfliltigkeit der behandelten unionsvertraglichen Bestimmungen zum einen sowie zum anderen der Umstand, daß es erstmals zu einer Verwerfungsentscheidung kam, ergeben allerdings eine ganze Reihe von Ansatzpunkten fi1r Rückschlüsse auf den näheren Inhalt des gerichtlichen Souveränitätskonzepts. Anhand der hier wiedergegebenen Passagen der Entscheidungsgründe läßt sich aufdecken, daß der Conseil Constitutionnel vom Grundsatz her an die Rechtsprechung von 1970 und 1976 angeknüpft, diese Rechtsprechung aber weiter ausdifferenziert und in einzelnen Punkten modifiziert hat255 •

253 "daß ab dem l. Januar 1996 der Rat 'Entscheidungen im Sinne des Absatzes I mit qualifizierter Mehrheit' treffen wird". 254 "daß hingegen die Aufgabe des Einstimmigkeitserfordernisses ab dem I. Januar 1996 dazu führen könnte, daß die wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigt werden". 255

L. Favoreu (FN. 206), S. 342.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

225

(1) Abstufung der verbandskompetenziellen Elemente der Übertragungsschranken

Anband der Ausruhrungen zur WWU bestätigt sich zunächst die seit 1970 vorhandene Erkenntnis, daß gewisse kernhoheitliche Befugnisse256 als "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete" einer einfachgesetzlichen Übertragung auf die Gemeinschaft absolut unzugänglich sind257 • Das Gericht sieht diese Befugnisse als so bedeutsam an, daß ihre Aufgabe durch den Staat unabhängig von der Frage des Verfahrens der gemeinschaftlichen Entscheidungsfmdung nur auf der Grundlage einer Verfassungsänderung vorgenommen werden darf. Die fehlende Beanstandung der unionsvertraglichen Regelungen über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres macht allerdings deutlich, daß es nicht nur auf die kernhoheitliche Natur des jeweiligen Kompetenzfeldes ankommt, sondern auch auf den inhaltlichen Grad der Vergemeinschafiung. Solange dieser niedrig bleibt, d.h. solange Gemeinschaftsbefugnisse nur ganz punktuell bestehen oder nur konsultativer bzw. koordinierender Art sind (wie in diesen beiden Bereichen), ist die kernhoheitliche Natur des betreffenden Kompetenzfeldes unschädlich. Maßgebliche Kritierien sind also im Sinne der Terminologie von 1970 neben der "nature" auch die "importance" der Zuständigkeit. Die staatliche Währungshoheit hat nach Auffassung des Conseil Constitutionnel deshalb nicht einfachgesetzlich auf die Gemeinschaft übertragen werden können, weil sie - als klassisches Attribut souveräner Staatlichkeiess zum einen ihrer Natur nach kernhoheitlich ist und zum zweiten die unionsvertraglichen Regelungen über die dritte Stufe der WWU inhaltlich so umfassend sind, daß der Französischen Republik praktisch sämtliche Befugnisse im Währungsbereich genommen werden259 • Hingegen hat das Gericht die Vorschriften über die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik sowie über die Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz trotz ihrer kernhoheitlichen Natur (stillschweigend260) passieren lassen, weil hier auf Gemeinschafts256 M. Fromont (FN. 186), S. 144 ("wesentlicher Kern der traditionellen Aufgaben des Staates"); P Gaia (FN. 7), S. 242 ("competences regaliennes"). 257 P Gaia (FN. II), S. 406; ders. (FN. 7), S. 242.

m Hervorgehoben von P Gaia (FN. 244), S. 720; B. Genevois (FN. 190), S. 396; J. Rideau (FN. 194), S. 98; D. Sirnon (FN. 189), S. 3. N. Catala (FN. 227), S. 351 und X Pretot (FN. 193), S. 333 weisen daraufhin, daß diese Einstufung der Währungshoheit schon durch die FMI-Entscheidung vom 29. 4. 1978 - No. 78 - 93 DC, Rec. 23 vorgezeichnet war. 259 P Gaia (FN. 244), S. 721 mit dem Hinweis, daß der 43 . Erwägungsgrund diesen Umstand durch die Wendung "suivant des modalites telles..." kenntlich macht. 260 M. Fromont (FN. 186), S. 133.

15 Hecker

226

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

ebene keine bedeutsame Regelungsmacht begründet wird261 und der Aktionsradius des Mitgliedstaates somit im wesentlichen ungeschmälert bleibt262 . Die Vorgehensweise des Gerichts bei der gemeinsamen Visapolitik enthüllt ein weiteres wichtiges Kriterium, das unterhalb der Ebene der kernhoheitlichen Befugnisse zum Tragen kommt: nämlich die Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Entscheidungsprozedur im übertragenen Kompetenzfeld263 . Bestimmte Kompetenzen, so die Lehre aus den Erwägungsgründen 46 - 50, können nur dann übertragen werden, wenn sie im Rat im Wege einstimmiger Beschlußfassung ausgeübt werden, dem Mitgliedstaat also praktisch eine Vetomacht verbleibt. In diese Kategorie fallen Kompetenzen, die einen mittleren Bedeutungsgrad aufweisen264, wozu das Gericht die Visapolitik gegenüber Drittstaaten zählt. Ihre Vergemeinschaftung wird vom Gericht akzeptiert, solange sie auf der Grundlage des Einstimmigkeitsprinzips betrieben wird. Mit dem Übergang zum Mehrheitsprinzip sieht der Conseil Constitutionnel hingegen die verfassungsrechtlichen Übertragungsgrenzen als überschritten an. Die Übertragung von Kompetenzen mit einem hohen Bedeutungsgrad, also kernhoheitliche Kompetenzen, kann hingegen selbst bei Einfiihrung einstimmiger Entscheidungsprozeduren nicht mehr auf einfachgesetzlichem Wege erfolgen. Dies zeigte die ausdrückliche Verwerfung des Art. 109 EGV durch den Conseil, also einer Vorschrift, die in Absatz l eine Befugnis des Rates zu einstimmigen Beschlüssen (über Vereinbarungen von Wechselkurssystemen mit Drittstaaten) begründee65. Die dem Mitgliedstaat verbleibende Vetomacht kann hier nach Auffassung des Gerichts anders als bei den als "mittelbedeutsam" eingestuften Kompetenzen nach Art der Visapolitik den Verlust positiver eigener Gestaltungsmacht nicht mehr kompensieren266 . Mit der Verwerfung des Art. 109 EGV bestätigt sich zugleich, daß der Conseil Constitutionnel die dritte Stufe der WWU nicht lediglich deshalb beanstandet hat, weil hier wesentliche Kompetenzen durch eine vom Mitgliedstaat unabhängige Zentralbank ausgeübt werden. Wenn schon bezüglich der Wechselkursvereinbarungen mit Drittstaaten 261 M. Fromont (FN. 186), S. 133. 262 D. Sirnon (FN. 189), S. 3. 163

p Gaia (FN. 244), S. 722.

J. Rideau (FN. 194), S. 101 und X. Pretot (FN. 193), S. 335, der allerdings die Abgrenzung nach oben zu den kernhoheitlichen Kompetenzen nicht eindeutig thematisiert. 264

265 Diese Vorschrift übersieht M. Fromont (FN. 31 ), S. 485, der die Verwerfung der Regelungen zur dritten Stufe der WWU darauf zurückfuhrt, daß von dort ab Mehrheitsentscheidungen getroffen werden. Wie hier P Gaia (FN. 7), S. 270. 266 P Gaia (FN. 244), S. 722; F Luchaire (FN. 190), S. 603. Vgl. auch T de Berranger (FN. I), S. 292, der hervorhebt, daß die Verwerfung des Art. I 00 c Abs. 2 auf der Kombination von Kompetenznatur und Entscheidungsmodus beruht.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

227

es auf die Frage der staatlichen Beteiligung an der Beschlußfassung gar nicht mehr ankommt - weil eben der Verlust nationaler Gestaltungsmacht filr sich schon die "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" beeinträchtigt -, dann kommt es dies erst Recht nicht bezüglich der geld- und währungspolitischen Kernfelder. Schließlich verbleiben als dritte Kategorie unterhalb der hoheitlichen, ohne Verfassungsänderung schlechthin unübertragbaren Kernkompetenzen und der "mittelbedeutsamen", nur gegen den Preis einstimmiger Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Entscheidungsprozedur übertragbaren Kompetenzen diejenigen Kompetenzen, die der Gemeinschaft auch zur mehrheitlichen Beschlußfassung übertragen werden können267 • Hierunter hat das Gericht etwa die Bestimmungen der Art. 73 c Abs. 2, 104 a Abs. 2, 104 c, 130 s Abs. 1 EGV gefaßt. Diese Vorschriften fallen sämtlich unter die Feststellung im 51. Erwägungsgrund, daß keine der übrigen Vorschriften des Vertrages mit der Verfassung unvereinbar sei. Das Gericht hat sie ohne nähere Prüfung als verfassungsgemäß eingestuft und sich nicht daran gestoßen, daß bei ihnen der Verlust staatlicher Gestaltungsmacht nicht einmal mehr durch eine effektive, durch Vetomacht abgesicherte Mitbestimmungsmacht auf Gemeinschaftsebene kompensiert, sondern die Möglichkeit einer Überstimmung durch die anderen Ratsmitglieder eröffnet ist. Mit diesem 3-Stufen-System268 sind die verbandskompetenziellen Elemente der Übertragungsschranken in eine klare rechtliche Struktur gefaßt. Die Kriterien des Bedeutungsgrads - nach Art und Umfang - der jeweiligen Kompetenz sowie der Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Entscheidungsprozedur fitehern die vage Formel von den "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" in rational nachvollziehbarer Weise auf und machen damit die Übertragungsproblematik transparenter. Geklärt ist durch die Entscheidung zur Visapolitik insbesondere, daß auch die verbandskompetenziellen Übertragungsschranken eine strukturelle Subkomponente besitzen. Soweit eine Kompetenz übertragen werden soll, die von erhöhtem Gewicht ist, muß die Gemeinschaft einstimmig handeln (wenn es sich nicht um eine kernhoheitliche Kompetenz der 1. Stufe handelt, wo selbst dies nicht mehr ausreichend ist, weil ihre Übertragungper se die "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete" beeinträchtigt). Insoweit ist vom Conseil Constitutionnel der gedankliche Ansatz, welcher der Übertragungsschranke des Verbots einer Parlamentarisierung zugrundeliegt, auch im Kontext der verbandskompetenziellen Übertra267

270.

J.- C. Gautran (FN. 241), S. 346; J. Rideau (FN. 194), S. 105; P Gaia (FN. 7), S.

268 Die hier vorgenommene Systematisierung taucht, soweit ersichtlich, in dieser expliziten Form bei den Kommentatoren der Entscheidung nicht auf. Ansätze hierzu finden sich bei J. Rideau (FN. 194); P Gaia (FN. 224) und F Luchaire (FN. 190).

15*

228

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

gungsschranken aufgegriffen worden: der Verzicht auf die Exklusivität der nationalen Willensbildung (d. h. der Eingriff in den Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität) muß durch eine Beteiligung Frankreichs an der gemeinschaftlichen Willensbildung, die durch Vetomacht abgesichert ist, kompensiert werden (andernfalls die Schranken-Schranke der "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" überschritten wird); hierdurch soll einer Verflüchtigung bzw. Marginalisierung des Willens der französischen Nation entgegengewirkt werden. Der Transfer dieser Sperre auf das verbandskompetenzielle Element der Übertragungsschranken ist notwendig geworden, weil sich seit 1976 die Entscheidungspraxis innerhalb des Rates merklich in Richtung des Mehrheitsprinzips verschoben (und damit dem Vertragswortlaut wieder angenähert) hat. Das Verflüchtigungs- bzw. Marginalisierungsproblem kann folglich nicht mehr alleine durch die strukturelle Übertragungsschranke eines Verbots der Parlamentarisierung aufgefangen werden, sondern bedarf auch auf Ebene der verbandskompetenziellen Schranken einer entsprechenden Lösung. Bemerkenswerterweise hat das Gericht diesen Ansatz jedoch nicht verabsolutiert. Indem es die der dritten Stufe zuzuordnenden Kompetenzen geringerer Bedeutung von der Beachtung des Einstimmigkeitsprinzips vollständig freigestellt, läßt es hier eine Verflüchtigung bzw. Marginalisierung des Willens der französischen Nation zu. Es dürfen auch solche Akte öffentlicher Gewalt erlassen werden, an deren Bildung die französische Nation unter Umständen keinerlei Anteil mehr hatte, ja die möglicherweise sogar gegen den erklärten Willen ihres Repräsentanten zustandegekommen sind. Eine Anhindung an die nationalen Legitimätsstrukturen besteht hier nur noch hinsichtlich des Gründungsaktes, d. h. insofern, als Frankreich mit dem Vertragsschluß der Inlaufsetzung des entsprechenden Integrationsprogramms zugestimmt hat. Im übrigen, d. h. hinsichtlich der konkreten Anwendung und Umsetzung dieses Integrationsprogramms, wird hingegen die Vermittlung einer weitgehend genuin-gemeinschaftlichen Legitimation2688 fiir ausreichend erachtet. Das Konzept einer auch im Gemeinschaftskontext zur Geltung zu bringenden nationalen Demokratie wird also auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlicher Rigorosität verfolgt: mit hoher Rigorosität hinsichtlich der kernhoheitlichen Befugnisse der ersten Stufe, mit mittlerer Rigorosität hinsichtlich der mittelbedeutsamen Befugnisse der zweiten Stufe und mit geringer Rigorosität hinsichtlich der verbleibenden Befugnisse der dritten Stufe. Im Vergleich zur Direktwahlentscheidung offenbart die Maastricht I-Entscheidung damit eine größere Geschmeidigkeit der gerichtlichen Haltung. Gab die Direktwahlentscheidung noch Anlaß zu ernsthaften Zweifeln darüber, ob überhaupt Mehr268• Dazu, daß die "nationale Stimme" wegen der intergouvernementalen Zusammensetzung des Rates in diesem Organ allerdings immer noch stärker vernehmbar ist als im Parlament, siehe sogleich unter (2).

li. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

229

heitsentscheidungen im Rat verfassungsrechtlich zulässig sein würden, so sind diese Zweifel nunmehr zerstreut worden.

(2) Abmilderung des Postulats einer inter-etatistischen Gemeinschaftsstruktur

Eine stärkere Geschmeidigkeit des gerichtlichen Souveränitätskonzepts kann auch bei der strukturellen Übertragungsschranke des Verbots der Parlamentarisierung der Gemeinschaft festgestellt werden. Das Gericht hat hier seine Vorbehalte aus der Direktwahlentscheidung eindeutig abgemildert. Wegen des relativ geringen Raums, den die Entscheidungsgründe dieser Frage widmen, können allerdings zum konkreten Ausmaß der Positionsveränderung nur begrenzt gesicherte Aussagen getroffen werden. Am klarsten zeigen sich Veränderungen darin, daß der Conseil Constitutionnel in den Erwägungsgründen 28 - 35 die 1976 vertretene Auslegung des Prinzips der "indivisibilite de Ia Republique" aufgegeben hat. Die Zulassung des Wohnortprinzips für die Wahlen zum Europäischen Parlament gesteht diesem vom Grundsatz her die Rolle eines Repräsentationsorgans der europäischen Bevölkerung zu, löst es aus dem vormals postulierten Bezug zu den einzelnen Völkern der Mitgliedstaaten269 • Dem in Frankreich gewählten Abgeordneten wird vom Gericht nicht länger die Rolle eines staatlichen Sendbotens zugewiesen, der kraft "nationaler Designation", als "representant francais" agiert. Er kann stattdessen als Repräsentant der in seinem Wahlgebiet wahlberechtigten europäischen Bürger auftreten, wodurch vom für das Prinzip der nationalen Souveränität entscheidenden Merkmal der nationalen Exklusivität der Willensbildung Abstand genommen wird. Der Conseil akzeptiert nunmehr eine genuin kommunitäre Legitimation des Europäischen Parlaments und sieht dieses nicht mehr als bloße Konferenz von Staatenvertretern an. Hierin liegt eine Parallele zur Zulassung der Mehrheitsentscheidung in den Kompetenzen der dritten Stufe: wie dort wird der Anspruch auf eine unmittelbare Legitimation der Gemeinschaft am Willen der französischen Nation zurückgeschraubt. Ausdruck einer gestiegenen Konzessionsbereitschaft des Conseil ist zum zweiten das anstandslose Passieren der im Maastricht-Vertrag eingeführten Weiterungen der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments in der Rechtssetzung (Mitentscheidungsverfahren nach Art. 189 b EGV, Ausdehnung dieses Verfahrens sowie des Verfahrens nach Art. 189 c EGV auf weitere Sachberei269

J. - P Jacque (FN. 193), S. 262; L. Favoreu (FN. 226), S. 397.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

ehe, Initiativrecht gern. Art. 138 b Abs. 2 EGV), in der Besetzung der Kommission (Art. 158) sowie in der Kontrolle der anderen Organe (Art. 138 c - e EGV)270 • Keine dieser Reformen wurde in den Entscheidungsgründen auch nur erwähnt, sondern sie wurden (mit dem 51. Erwägungsgrund) ohne weiteres für verfassungsgemäß erklärt. Der Conseil hat damit die Einwebung parlamentarischer Elemente in die gemeinschaftlichen Entscheidungsprozeduren hingenommen - und folglich auch in diesem Punkt die von der Direktwahl-Entscheidung aufgebrachten Zweifel zerstreut. Die Frage ist, inwieweit in der Maastricht I-Entscheidung auch Modifikationen der bisherigen Haltung zur möglichen Etablierung parlamentarischer (Allein-) Legislativgewalt angelegt sind. Direkte Aussagen hierzu finden sich in den Entscheidungsgründen nicht, da die Vertragspartner vor der Übertragung regelrechter (Allein-) Entscheidungsbefugnisse auf das Parlament zurückgeschreckt sind und somit in den Erwägungsgründen 28 - 35 kein entsprechender Prüfungsanlaß bestanden hat. Geht man von den Merkmalen des gerichtlichen Souveränitätskonzepts aus, wie es in den übrigen Teilen der Entscheidung zutage tritt, dürfte allerdings bei dieser Frage eher Vorsicht angezeigt sein. Spielräume filr eine regelrechte parlamentarische Legislativgewalt können in jedem Fall nur unterhalb der Ebene der kernhoheitlichen Kompetenzen der ersten Stufe bestehen (da insoweit nicht einmal die Übertragung zugunsten des Rates zulässig ist). Was die zweite Stufe der mittelbedeutsamen Kompetenzen betrifft, so dürfte ihrer Zuordnung an das Parlament entgegenstehen, daß der Conseil Constitutionnel hier am Prinzip einstimmer Beschlußfassung - also dem Erhalt nationaler Vetomacht- festhält Diese Bedingung ist bei einer Entscheidungsfmdung im Parlament zwangsläufig nicht erfilllbar. Von daher sind einem vollständigen Rollentausch zwischen Rat und Parlament weiterhin prinzipiell Grenzen gesetzt. Es kann nicht damit gerechnet werden, daß eine Verschiebung bedeutender Entscheidungskompetenzen (der 2. Stufe) an letzteres vom Gericht akzeptiert werden würde271 • In diesem Sinne muß auch die im 34. Erwägungsgrund enthaltene Feststellung verstanden werden, der Unionsvertrag verändere nicht die "nature" des Parlaments - wie 1976 (wo die gleiche Terminologie verwandt wurde) wollte der Conseil hier gegenüber einer grundlegenden Parlamentarisierung des gemeinschaftlichen Regierungssystems eine Sperre errichten272 • Weiterhin enthält das gerichtliche Konzept der Übertragungsschranken über die verbandskompetenziellen Elemente hinaus also auch bestimmte Anforderungen an die interne Gemeinschaftsstruktur, ist mit der Erlaubnis einer KompetenzUbertragung an die Gemeinschaft noch nicht 270 J.

Rideau (FN. 194), S. 94 mit Betonung des Art. 189 b EGV.

C. Bluman, La ratification par Ia France du traite de Maastricht, RMC 1994, S. 393 ff., 395. 272 Vgl. T de Berranger (FN. 1), S. 260. 271

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

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automatisch ein Freibrief hinsichtlich der organkompetenziellen Zuordnung erteile73 • Denkbar ist allerdings, daß die Maastricht I-Entscheidung die Möglichkeit einer parlamentarischen Legislativgewalt bei den weniger bedeutsamen Kompetenzen der dritten Stufe eröffnet hat. Dafilr spricht, daß der Conseil bei diesen Kompetenzen keine Vorbehalte gegenüber einer mehrheitlichen Beschlußfassung im Rat hegt; der Verflüchtigung bzw. Marginalisierung des Willens der französischen Nation ist insoweit grünes Licht gegeben - und damit auch der wesentliche Grund, der bislang einer Begründung parlamentarischer Befugnisse entgegenstand, entfallen. Bedenken können allenfalls daraus folgen, daß selbst bei Mehrheitsentscheidungen die nationale Stimme im Rat immer noch stärker als solche manifest wird und im vielschichtigen "bargaining process" dieses Organs (nicht zuletzt im Entscheidungsvorfeld) auch größeren Einfluß behält als im Parlament. Aber solche Erwägungen eher praktischer Art dürften doch aus Sicht des (zu relativ grobmaschigen Prüfungsansätzen neigenden) Conseil Constitutionnel geringer wiegen als die prinzipielle Frage nach dem Erhalt formaler nationaler Mitbestimmung und Legitimation. Die Zulassung von Mehrheitsentscheidungen im Rat läßt - gerade auch vor dem Hintergrund der oben am Stichwort "indivisibilite de la Republique" hervorgetretenen Positionsveränderung in der Frage der Legitimationsbasis des Parlaments - insofern die Vermutung berechtigt erscheinen, daß eine begrenzte parlamentarische Legislativgewalt auf der dritten Kompetenzstufe künftig nicht als Beeinträchtigung der "conditions essentielles d'exercice de la souverainete nationale" eingestuft würde. Dafilr spricht schließlich auch, daß der Conseil im oben zitierten 34. Erwägungsgrund zugleich bekräftigt hat, der Unionsvertrag forme das Parlament nicht zu einer "assemblee souveraine dotee d'une competence generale" um. Nach dem Sprachcode des Gerichts läßt dies den Rückschluß zu, daß unterhalb dieser Schwelle (d. h. bezüglich "competences speciaux") ein gewisser Raum filr eigene Entscheidungsbefugnisse besteht. Insgesamt ist daher die Einschätzung zulässig, daß die MaastrichtEntscheidung weit stärkere Möglichkeiten filr eine Aktivierung des Parlaments läßt als die Direktwahl-Entscheidung von 1976274 • 273 J - P Jacque (FN. 193), S. 261 I 262 meint, der Conseil bleibe insoweit "prisonnier de sa decision des 29 - 30 decembre 1976". 214 Wie hier F Luchaire (FN. 190), S. 600; J Rideau (FN. 194), S. 93 f.; J- P Jacque (FN. 193), S. 262; a.A. P Avril I J Giquel (FN. 206), S. 183; X Pretot (FN. 193), S. 332; D. Sirnon (FN. 189), S. 3. Ihnen ist entgegenzuhalten, daß sie die Bedeutung der Nichtbeanstandung der neuen parlamentarischen Befugnisse durch das Gericht nicht ausreichend würdigen und auch die Konsequenzen der Zulassung bestimmter Mehrheitsentscheidungen im Rat nicht ausleuchten. Zudem operieren sie implizit mit der fragwürdigen Annahme, die - von ihnen nicht bestrittene - Positionsveränderung in der

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

(3) Herausbildung von Schranken gegenüber Eingriffen in interne Organisationsstrukturen Mit der Verwerfung des kommunalen EG-Ausländerwahlrechts hat der Conseil Constitutionnel erstmals klargestellt, daß das Prinzip der Souveränität nicht nur Sperren im Hinblick auf die Delegation bzw. Aufgabe staatlicher Kompetenzen sowie bezüglich der Ausgestaltung der Gemeinschaftsbinnenstruktur setzt, sondern auch gegenüber Integrationsakten, deren Wirkung in der Aushöhlung staatsinterner Organisationsstrukturen besteht. Der Eingriff in den Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität liegt bei solchen Akten auf einer anderen systematischen Ebene. Sie filhren nicht zur Ausübung europäischer, nicht mehr alleine auf dem exklusiven Willen der französischen Nation beruhenden öffentlichen Gewalt, sondern sie brechen die Monopolisierung der verbleibenden französischen Staatsgewalt durch die französische Nation auf. In die mitgliedstaatliche Verfassungsidentität wird also hier gewissermaßen von "innen" und nicht von "außen" eingegriffen; wie bei den Eingriffen von "außen" kommt es aber im Ergebnis zur Bindung der französischen Nation an Akte, die nicht auf ihren - exklusiven - Willen zurückgefilhrt werden können. Die Teilnahme von EG-Ausländern an kommunalen Wahlen hat - wegen der Auswirkungen dieser Wahlen auf die Bildung des Senats - eine zur Ausübung der nationalen Souveränität berufene nationale Körperschaft von ihrem exklusiven Bezug an die französische Nation ein Stück zu lösen und damit ein Moment der Fremdbestimmung der französischen Nation (diesmal von "innen" statt von "außen") zu ermöglichen gedroht; die Wählerstimmen filr die Senatoren sind hierdurch transnationaler Durchmischung ausgesetzt. Diese Einschränkung der nationalen Souveränität hat das Gericht als Beeinträchtigung der "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" eingestuft275 (Entsprechend müßte es etwa bei Einfilhrung eines Ausländerwahlrechts filr die Wahlen zur Nationalversammlung verfahren).

Frage der "indivisibilite" würde ohne Konsequenzen für die Frage des zulässigen Umfangs der parlamentarischen Befugnisse bleiben können. Dabei ist es doch sehr viel plausibler, daß mit dem Abbau der Bedenken gegen eine genuin kommunitäre Legitimation des Parlaments sich auch die Bedenken gegen einen Zuwachs seiner Kompetenzen verringern. 275 Obwohl die Formel von den "conditions essentielles d 'exercice de Ia souverainete nationale" vom Gericht in den Erwägungsgründen 21 - 27 nicht ausdrücklich benutzt worden ist, sind die dort hervorgetretenen Schranken gegenüber Eingriffen in interne Organisationsstrukturen doch als Ausfluß des Prinzips der nationalen Souveränität einzuordnen (so wohl auch P Gaia [FN. 7], S. 241 ). Denn der Conseil hat den Einfluß ausländischer Stimmen auf die Senatsbildung ja deshalb verurteilt, weil dieses Organ "participe a I'exercice de Ia souverainete nationale" (26. EG).

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

233

Die Verfassung ermächtigt also nach Auffassung des Conseil lediglich dazu, unter Wahrung der erwähnten Strukturanforderungen bestimmte Kompetenzen auf eine supranationale Organisation zu übertragen, also zur begrenzten Fremdbestimmung von außen. Eingriffe in staateninterne Organisationsstrukturen sind von dieser Ermächtigung nur miterfaßt, wenn sie (wie der Abbau der Legislativmacht des französischen Parlaments) völlig zwangsläufig mit solchen Kompetenzübertragungen einhergehen276 . Soweit sie jedoch nicht zwingende Kehrseite von Übertragungen, sondern wie das kommunale Ausländerwahlrecht Folge eines eigenständigen, speziell auf die verbleibende "innere" Staatlichkeit ausgerichteten Integrationsziels sind, ist ihre Vomahme der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt versagt. Insoweit scheint die Haltung des Conseil Constitutionnel im übrigen rigider zu sein als bei den "klassischen" Übertragungsakten, wo der Eingriff in den Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität nicht automatisch, sondern nur bei Überschreitung einer ultimativen Grenze unzulässig ist. Bei den Eingriffen in interne Organisationsstrukturen sind solche Spielräume nicht sichtbar geworden; die Entscheidung des Gerichts zum kommunalen Ausländerwahlrecht erörtert nicht, ob dieses trotz des Eingriffs in den Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität noch gerechtfertigt sein könnte. Der Conseil hat aus dem Vorliegen eines Einbruchs in die nationale Exklusivität der Willensbildung unmittelbar auf die Unzulässigkeit des Ausländerwahlrechts geschlossen. Die Perspektive einer Umwälzung auch der inneren Staatlichkeit Frankreichs scheint filr ihn bedrohlicher zu sein als die Perspektive eines bloßen Kompetenzverlustes, der das Gestaltungsmonopol der französischen Nation in den verbleibenden Befugnissen unangetastet läßt.

dd) Bewertung Das gerichtliche Souveränitätskonzept in der Maastricht I-Entscheidung knüpft mit der grundsätzlichen Unterscheidung von verbandskompetenziellen und strukturellen Übertragungsschranken an die vorausgegangenen Entscheidungen von 1970 und 1976 an. Insoweit durchzieht die bis heute vorliegende Europajudikatur des Conseil Constitutionnel ein Element der Kontinuität. Den konkreten rechtlichen Gehalt dieser Übertragungsschranken hat das Gericht 276 Dieser Kategorie zuzuordnen wären auch Eingriffe in die föderale Struktur des Mitgliedstaates, die mit Übertragungsakten einhergehen können. Da Frankreich immer noch weitgehend zentralistisch aufgebaut ist, können allerdings hier schon von vomeherein keine Probleme entstehen; U. Batfis I D. Stefanou I D. Tsatsos, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht ein rechtsvergleichender Überblick, in: dies. (Hg.), Nationale Integration und nationales Verfassungsrecht, Baden- Baden 1995, s. 469 ff., 505.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

jedoch im Laufe der Zeit ausdifferenziert und modifiziert. Auf beiden Ebenen existieren nunmehr einerseits Fundamentalvorbehalte (keine Übertragung kernhoheitlicher Kompetenzen, keine durchgreifende Parlamentarisierung der Gemeinschaft), mit denen besonders gravierenden Verlusten des Selbstbestimmungsrechts der französischen Nation entgegengewirkt werden soll. Andererseits hat der Conseil Constitutionnel Freiräume eröffnet (Übertragbarkeit mittelbedeutsamer Kompetenzen, Mehrheitsentscheidung bzw. sogar parlamentarisches Legislativrecht bei Kompetenzen der dritten Stufe), in denen die bloße Mitbestimmung an die Stelle der Selbstbestimmung treten oder sogar ganz auf nationalen Einfluß in der gemeinschaftlichen Regelungsaktivität verzichtet werden kann. Das gerichtliche Souveränitätskonzept geht heute von einem Mischsystem aus. Auf den ersten beiden Kompetenzstufen wird - mit in sich unterschiedlicher Rigorosität - am Postulat einer nationalen Demokratie festgehalten. Gemeinschaftsbefugnisse dürfen hier entweder gar nicht oder nur so begründet werden, daß die Gemeinschaftsentscheidungen sich (wegen der Beschlußfassung durch den nach Einstimmigkeit verfahrenden Rat) am Willen der französischen Nation legitimieren lassen. Auf der dritten Kompetenzstufe hingegen darf der Legitimationsstrang in den nationalen Bereich gekappt werden und die Entscheidung genuin kommunitär legimiert werden. Insoweit läßt das Gericht ein Anwachsen europäischer Demokratie zu, die nur noch hinsichtlich des Gründungsaktes auf einem Fundament nationaler Demokratie fußt. Im darüber liegenden Bereich nationaler Demokratie wird desweiteren zumindestens die Beimischung europäischer Demokratie gestattet (Mitentscheidung des Parlaments). Der streng dichotomische Ansatz aus der Direktwahlentscheidung hat somit in verschiedener Hinsicht einer stärker synthetischen Betrachtungsweise Platz gemacht. Dieser "neuen Linie" des Conseil Constitutionnel kann Plausibilität und innere Kohärenz im Ganzen nicht abgesprochen werden. Sie bringt stärker als die vorausgegangene Judikatur Aufgeschlossenheit gegenüber der Einbindung Frankreichs in die Gemeinschaft und den Erfordernissen supranationaler Organisation zum Ausdruck. Vor allem macht sie die Verfassungsrechtslage stärker kalkulierbar. Auch wenn die Zuordnung zukünftiger Kompetenzübertragungen auf die verschiedenen Stufen nicht mit letzter Sicherheit prognostizierbar sein wird, so ist doch ein Großteil der Unsicherheiten, die im Vorfeld der Maastricht I-Entscheidung bestanden, nunmehr beseitigt. Eine gedankliche Schwäche des Maastricht I-Urteils tritt allerdings bei der Prüfung der gemeinsamen Visapolitik zu Tage. Es macht hier bei näherer Betrachtung nicht recht Sinn, den Wechsel des Abstimmungsmodus zum entscheidenden Gesichtspunkt dafilr zu machen, ob "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" beeinträchtigt sind oder nicht. Ob bei einstimmiger oder bei mehrheitlicher Beschlußfassung: die Begründung der

li. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

235

Gemeinschaftsbefugnis, "die dritten Länder [zu bestimmen], deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen" (Art. 100 c Abs. 1 EGV), beschneidet dem Mitgliedstaat in jedem Fall die Möglichkeit zur Regulierung der Zuwanderungsströme in eigener Regie277 . Der zusätzliche Verlust fiir den Staat beim Übergang zum Mehrheitsprinzip besteht lediglich darin, daß nun auch die BegrUndung von Visumspflichten für neue Drittländer nicht mehr blockiert werden kann278 . Diese Blockademöglichkeit - also die Möglichkeit, Drittländer visumsfrei zu halten - ist jedoch gegenüber der Befugnis zur positiven Eindämmung von Zuwanderungsströmen - also der Befugnis, Drittländer visumspflichtig zu machen - von weit untergeordnetem Gewicht279 ; die Regulierungsmacht ist hier aus staatlicher Sicht mit Abstand bedeutender als eine Regulierungsverhinderungsmacht Mit dem Abstellen auf den Entscheidungsmodus stellt das Gericht damit einen Gesichtspunkt ins Zentrum, der zwar in vielen Politikbereichen ein tauglicher Gradmesser ftlr das praktische Gewicht des Souveränitätsverlustes sein mag, fUr die Betrachtung dieses Bereichs aber inadäquat erscheint. Schlüssiger wäre es gewesen, entweder die Visapolitik als Teil der staatlichen Immigrationspolitik den hoheitlichen Kernkompetenzen und damit der ersten Stufe zuzuordnen280, oder aber Art. 100 c EGV in beiden Absätzen passieren zu lassen. Der Mangel der gerichtlichen Position besteht hier letztlich in einer zu holzschnittartigen Betrachtung des Vorgangs der Kompetenzübertragung. Der Conseil hat nicht zwischen den verschiedenen Wirkungsebenen, die eine Primärrechtssetzung aufweisen kann, differenziert: sie kann entweder zu einer mitgliedstaatliehen Kompetenzsperre führen oder zur BegrUndung einer gemeinschaftlichen Handlungsbefugnis oder (wie meist) zu beidem gleichzeitig281. Die Beschränkung nationaler Selbstbestimmung kann je nach Wirkungsebene unterschiedlich gewichtig ausfallen; im Falle der Visapolitik ist eindeutig der kompetenzsperrende Effekt des Übertragungsaktes gewichtiger. Das Gericht hat dies bei Abfassen seiner Entscheidung nicht systematisch281 • 277 J - P Jacque (FN. 193), S. 263; P Gaia (FN. 244), S. 724, der (aufS. 723 f.) ebenso wie J Rideau (FN. 194), S. 102 und B. Genevois (FN. 190), S. 399 I 400 darauf verweist, daß die Ausnahmetatbestände in Absatz 4 und 5 nicht als Erklärung ftir das Passieren des Art. 100 c Abs. I in Frage kommen können, da diese auch auf Art. 100 c Abs. 2 Anwendung finden. 278 P Gaia (FN. 7), S. 242 weist daraufhin, daß nach Einftihrung der Einstimmigkeitsregel es ftir Frankreich sogar noch schwieriger wird, neue Visumspflichten filr Drittländer durchzusetzen.

J Rideau (FN. 194), S. I 02. 280 P Gaia (FN. 244), S. 724; D. Sirnon (FN. 189), S. 3. 281 Vgl. die Typologisierung bei P Gaia (FN. 7), S. 239 f. 281 • Bei Behandlung der WWU ist der Effekt der Kompetenzsperre durchaus mitbe279

rücksichtigt worden. Die Verwerfungsentscheidung wurde hier schließlich ausdrücklich

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

verinnerlicht282 • Hierin liegt wohl auch der Grund dafilr, daß einige Regelungen der zweiten Stufe der WWU, insbesondere der Art. 104 c EGV, nicht beanstandet worden sind283 . Art. 104 c betrifft mit der Haushaltspolitik einen der Natur nach wohl unstreitig kernhoheitlichen Bereich, und die in seinem Absatz 1 und 2 geregelten Verhaltenspflichten sowie die in Absatz 5 bis Absatz 11 geregelte Beanstandungsprozedur, die im Extremfall zu empfindlichen Auflagen (Einlagenhinterlegung, Geldbußen) filhren kann, stellen weitreichende Eingriffe in die bisherige mitgliedstaatliche Autonomie auf diesem Feld dar. Von daher hätte es nicht ferngelegen, Art. 104 c EGV gemeinsam mit den Regelungen der dritten Stufe der WWU284 als Beeinträchtigung der "conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete" einzustufen. Die gerichtliche Entscheidung beruht wohl darauf, daß Art. I 04 c EGV dem Mitgliedstaat nur Handlungsverbote auferlegt bzw. Zwangsmittel bereitstellt, um deren Einhaltung zu sichern, nicht aber84' zugleich eine regelrechte Kompetenzübertragung vornimmt, d.h. keine eigenen gemeinschaftlichen Gestaltungsbefugnisse begründet (entsprechendes gilt wohl auch filr die fehlende Beanstandung des gleichfalls nur ein Handlungsverbot - keine Beschränkung des Kapitalverkehrs - aufstellenden Art. 73 b EGV). Auch hier hat der Conseil also die Wirkungsebene der Kompetenzsperre nicht berücksichtigt und damit die Gewichtigkeit der Souveränitätseinbuße nicht angemessen bestimmt. Die Maastricht IEntscheidung hat also insoweit noch nicht zur notwendigen Verfeinerung der vorausgegangenen Rechtsprechung gefilhrt. Gänzlich über die Bahnen der bisherigen Judikatur hinaus filhrt aber schließlich die Etablierung der neuen Übertragungsschranke des Verbots von Eingriffen in staatsinterne Organisationsstrukturen. Mit diesem Verbot. hat der Conseil Constitutionnel die notwendige Konsequenz daraus gezogen, daß mit dem qualitativ neuartigen Integrationsziel eines allgemeinen europäischen Bürgerstatus eine gleichfalls qualitativ neuartige Herausforderung filr die Wahrung der darauf gestützt, daß "dem Mitgliedstaat eigene Kompetenzen in einem Bereich [genommen werden], in welchem die wesentlichen Bedingungen flir die Ausübung der nationalen Souveränität betroffen sind" (Herv. v. Verf.). Gerade wegen des kompetenzsperrenden Effekts der WWU-Vorschriften ist es hier sogar auf die Frage des Entscheidungsmodus auf Gemeinschaftsebene gar nicht mehr angekommen. 282 Vgl. auch M Fromont (FN. 31), S. 484: der Conseil mache keinen Unterschied zwischen regelrechten Kompetenzübertragungen und bloßen Ausübungsverzichten.

283

P. Gaia (FN. 7), S. 270; J.- C. Gautran (FN. 241), S. 349.

Daß die Sanktionsmöglichkeiten des Art. 104 c Abs. II (anders als andere Regelungen dieser Vorschrift) gemäß Art. 109 e Abs. 3 erst mit der dritten Stufe operabel werden, wurde oben [unter B., II., 1., b), bb), (6)) bereits ebenso erwähnt wie der Umstand, daß Art. I 04 c dennoch nicht von der Verwerfungsentscheidung eingeschlossen und insofern (zur Gänze) fiir verfassungsgemäß erklärt worden ist. 284

284•

Wie die Vorschriften über die WWU.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

237

nationalen Verfassungsidentität entstanden ist. Hier wie bei der nachfolgend zu untersuchenden Rechtsprechung zu den grundrechtliehen Übertragungsschranken läßt sich beobachten, daß das Gericht seine Europajudikatur schrittweise an den Fortgang des Integrationsprozesses und den Wandel von dessen "verfassungsrechtlichen Gefahrenpotential" anzupassen bemüht ist.

2. Die Wahrung der Grundrechte

a) Die Vor-Maastricht-Judikatur

Die Problematik grundrechtlicher Anforderungen an Übertragungsakte stand bis zur Maastricht I-Entscheidung des Conseil Constitutionnel stets deutlich im Schatten der Souveränitätsdiskussion285 • Die Ursache hierfiir dürfte nicht so sehr in der (vor allem im Vergleich zum Grundgesetz) wenig prominenten Stellung der Grundrechte im Text der französischen Verfassung286 gelegen haben. Denn dies hat den Conseil nicht daran gehindert, seit 1971 eine umfangreiche, rechtschöpferische Grundrechtsjudikatur zu entwickeln287 und damit den Grundrechten in der Verfassungspraxis durchaus zu einem hohen Stellenwert zu verhelfen. Ausschlaggebend war wohl eher der Inhalt der bis dato vorgelegten Übertragungsakte (Finanzverfassung, Direktwahl), die keine direkt gegenüber dem Bürger auszuübenden gemeinschaftlichen Handlungsbefugnisse begründet und daher keinen zwingenden Anlaß geboten hatten, sich über Art und Umfang grundrechtlicher Anforderungen an Übertragungsakte näher auszulassen. Überhaupt ist daran zu erinnern, daß die nationalen Verfassungsrechtswissenschaften lange Zeit als grundrechtlich kritische Ebene nicht so sehr diejenige der allgemein formulierten primärrechtlichen Ermächtigungsnormen angesehen haben, sondern vielmehr diejenige der in den innerstaatlichen Raum einwirkenden legislatorischen bzw. administrativen Umsetzungsmaßnahmen der Gemeinschaftsorgane. Mit diesen wiederum konnte der Conseil Constitutionnel infolge des FehJens entsprechender Verfahrensarten (Verfassungsbeschwerde, Richter-

P Gaia (FN. 7), S. 243; X Pretot (FN. 187), S. 38. Die Verfassung von 1958 enthält selbst keine grundrechtliehen Gewährleistungen, sondern verweist insoweit in ihrer Präambel auf die Präambel der Verfassung von 1946 sowie auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Dort finden sich zwar thematisch umfangreiche Grundrechtsverbürgungen, jedoch beispielsweise keine differenzierten Schrankenregelungen wie in den Art. I bis 19 des Grundgesetzes. 285

286

287

Siehe oben unter A., I.

238

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

vorlage) nicht so häufig in Berührung kommen wie etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht288. Erste Ansätze einer Grundrechtskontrolle internationaler Verträge traten während der achtziger Jahre in Fällen ohne Gemeinschaftsbezug auf 89 . In seiner Entscheidung vom 17. 7. 1980 zur deutsch-französischen Rechtshilfekonvention290 prüfte und verneinte der Conseil im 5. Erwägungsgrund, ob die Konvention das Grundrecht auf Asyl verletzt. In der Entscheidung vom 22. Mai 1985 zum 6. Zusatzprotokoll zur EMRK (Abschaffung der Todesstrafe)291 sprach das Gericht im 2. Erwägungsgrund davon, daß der vorgelegte Akt "n'est pas incompatible avec Je devoir pour !'Etat d'assurer Je respect des institutions de Ia Republique, Ia continuite de Ia vie de Ia Nation et Ia garantie des droits et libertes des citoyens"292 (Herv. v. Verf.). - Dieser Satz bestätigte in allgemeiner Form die prinzipielle Existenz grundrechtlicher Übertragungsschranken293 , wobei im nächsten Erwägungsgrund allerdings deutlich wurde, daß das Gericht diese Schranken als Bestandteil seiner Souveränitätsdoktrin begriff94 • Es fuhr hier nämlich fort, "des Iors" (deswegen) seien die wesentlichen Bedingungen für die Ausübung der nationalen Souveränität nicht verletzt - mit dieser verknüpfenden Wendung implizierte es, daß die Wahrung der Grundrechte eine dieser Bedingungen sei 295 • Die Schengen-Entscheidung296 blieb auf dieser Linie und prüfte den Einwand der Grundrechtsverletzung durch Art. 2 der Konventi288 Was die oben im Teil A. dieses Kapitels referierten Fälle der Kontrolle nationaler Umsetzungslegislation zu Gemeinschaftsakten im Rahmen des Verfahrens nach Art. 62 der Verfassung betrifft, so gelangten nur zweimal grundrechtliche Fragen auf die Tagesordnung: in der Alkoholabgaben-Entscheidung vom 30. 12. 1980 (No. 80 - 126 DC, Rec. 53) wies der Conseil Constitutionnel den Einwand einer Verletzung des Rückwirkungsverbots aus Art. 8 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 zurück; in der Entscheidung zum öffentlichen Dienst vom 23 . 7. 1991 (No. 91 - 293 DC, Rec. 77) verneinte das Gericht einen Verstoß gegen Art. 6 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 (Zugangsgleichheit zu öffentlichen Ämtern). Da der Conseil in beiden Fällen schon den Schutzbereich der von den Antragstellern aufgeführten Grundrechte nicht als betroffen ansah, trugen diese Entscheidungen nicht zur näheren Erhellung der Problematik grundrechtlicher Anforderungen an Gemeinschaftsakte bei.

219

P Gaia (FN. 7), S. 243 .

290

No. 80 - 116 DC, Rec. 36.

291 No. 85- 188 DC, Rec. 15. "nicht unvereinbar mit der staatlichen Aufgabe ist, den Schutz der republikanischen Institutionen, den Fortbestand der Nation sowie die Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der Bürger zu sichern". 292

293

P Gaia (FN. II), S. 333.

P Gaia (FN. 7), S. 243. 295 M. Darmon (FN. 83), S. 243; B. Genevois (FN. 83), S. 202.

294

296

CC v. 25. 7. 1991 -No. 91 -294 DC, Rec. 91.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

239

on unter dem Obersatz "en ce qui conceme l'argumentation suivant laquelle l'article 2 porterait atteinte aux conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete"297 (EG 16 - 18)298 . Auch bei den Grundrechten zeigte sich also zunächst das bereits andernorts zutage getretene mediatisierende Konzept des Prinzips der nationalen Souveränität. Das Gericht faßte die Beachtung der Grundrechte nicht als systematisch eigenständige Übertragungsschranke auf, sondern als "une des manifestations particulieres"299 der Souveränitätswahrung. Diese Konstruktion verwischte, daß das Gebot der Grundrechtswahrung eine strukturell völlig andersartige Anforderung enthäle00 : Es zielt im Gegensatz zum Souveränitätsprinzip nicht auf den Erhalt staatlicher Selbst- bzw. Mitbestimmungsmacht, sondern auf die Sicherung eines heimischen materiell-rechtsstaatliehen Standards, den es auf die übernationale Ebene übertragen sehen will. Geschützt wird hier nicht der status activus der französischen Nation, sondern der negative Freiheitsstatus des Einzelnen. Durch die Integration in das Souveränitätskonzept wurde die Grundrechtsfrage unter einen kompetenziellen Aspekt gestellt, zur Frage der politischen Selbstbestimmung statt der individuellen Freiheit gegenüber öffentlicher Gewalt gemacht und damit dogmatisch schief beleuchtet. 291 "was die Meinung betrifft, wonach Artikel 2 die wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität beeinträchtigt".

298 In der Sehengen-Entscheidung erklärte das Gericht im 32. Erwägungsgrund den in Art. 29 Abs. 3 der Schengener Konvention aufgestellten Asyl-Mechanismus (Alleinverantwortlichkeit des ersten Staates, in dem ein Antrag gestellt wird) für verfassungsmäßig, hob hierbei allerdings hervor, daß nach Art. 29 Abs. 4 der Konvention jede Vertragspartei auch im Falle der Verantwortlichkeit eines anderen Staates das Recht behalte, in besonderen Fällen doch noch selbst Asyl zu gewähren. 1993 verabschiedete das französische Parlament ein Einwanderungsgesetz, das in Umsetzung der Schengener Konvention solchen Ausländern, die zuvor in ein anderes Land der Gemeinschaft eingereist sind oder deren Asylantrag von einem solchen Land bereits abgelehnt worden ist, das Recht auf Prüfung ihres Asylantrags in Frankreich versagte (näher T de Berranger [FN . I], S. 269). Der Conseil Constitutionnel verwarf diese Regelung in einer Entscheidung vom 13. 8. 1993 (No. 93- 325 DC, Rec. 224) als Verstoß gegen das Grundrecht auf Asyl nach Absatz 4 der Präambel von 1946. Im 88. Erwägungsgrund dieser Entscheidung führte er aus, die Sehengen-Entscheidung von 1991 habe die durch internationale Vereinbarung vorgenommene Einführung einer Alleinverantwortlichkeit des ersten Antragsstaates nur unter der Voraussetzung anerkannt, daß eine solche Vereinbarung den Vertragsparteien das Recht zur ausnahmsweisen Prüfung von Asylanträgen vorbehalte (näher T de Berranger, ebda., S. 269 ff.). Daraufhin fügte das französische Parlament mit verfassungsändernder Mehrheit einen neuen Art. 53-I in die Verfassung ein, um flir das Einwanderungsgesetz eine Ermächtigungsgrundlage zu schaffen (hierzu T de Berranger, ebda., S. 271 ff.). 299 300

P Gala (FN. II), S. 335. Siehe schon oben unter B., II., 1., a), aa), (3).

240

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Führt man sich die verfassungsrechtliche Funktion der mediatisierenden Rolle des Souveränitätsprinzips vor Augen, so mußte ihre Ausdehnung auf die Grundrechtsgewährleistung zu inhaltlichen Unklarheiten fuhren. Bei Organisationsnormen vom Typ des Art. 34 der Verfassung, der die parlamentarische Gesetzgebungskompetenzen regelt, hat eine Mediatisierung durchaus Sinn. Fast jeder Übertragungsakt enthält zwangsläufig einen Eingriff in diese Kompetenzen, kann aber deswegen noch nicht unzulässig sein, weil andernfalls die Übertragungsgewalt auf Null reduziert würde ( s. o. ). Hier den Übertragungsakt nicht direkt an Art. 34 zu messen, sondern am Prinzip der nationalen Souveränität, bedeutet eine Konzentration auf die wirklich schwerwiegenden und damit untragbaren Eingriffe in den· nationalen Verfassungskanon. Mediatisierung heißt insofern Etablierung eines reduzierten Prüfungsmaßstabs, ohne den die Einbindung Frankreichs in übernationale Strukturen nicht zu realisieren ist. Die Frage war, ob das Gericht mit dem Einbau der grundrechtliehen Übertragungsschranken in das Souveränitätskonzept gleichfalls auf eine Absenkung des innerstaatlich geltenden Maßstabs hinauswollte, der Adressat einer Kompetenzübertragung also nur auf einen grundrechtliehen Minimalstandard verpflichtet werden sollte. Anders als bei Normen wie Art. 34 wäre eine solche Absenkung allenfalls aus Gründen der Flexibilität wünschenswert, jedoch nicht im Interesse der lntegrationsfahigkeit Frankreichs unabdingbar notwendig gewesen. Aber mangels näherer Anhaltspunkte in den Entscheidungsgründen blieben solche möglichen Implikationen des gerichtlichen Ansatzes unausgeleuchtet. Der Conseil Constitutionnel besaß offensichtlich noch keine klare Linie in der Grundrechtsfrage (die übrigens von Seiten der Literatur gleichfalls außerordentlich sparsam thematisiert wurde301 ). Dies zeigte sich auch im gerichtlichen 301 Eine Ausnahme bildet P Gaia (FN. II). Die Kommentatoren der Entscheidungen von 1980, 1985 und 1991 erwähnen die Grundrechtsprüfung überhaupt nicht oder beschränken sich auf eine schlichte Wiedergabe der zitierten Passagen aus den Entscheidungsgründen, problematisieren sie jedoch nicht; M. de Villiers, Norme constitutionnelle et norme internationale, Rev. adm.l981, S. 143 ff., L. Favoreu, Lajurisprudence du Conseil constitutionnel en 1980, RDP 1980, S. 1627 ff., 1643; C. Va/lee, A propos de Ia decision du Conseil constitutionnel du 17 juillet 1980, RGDIP 1981, S. 202 ff.; B. Genevois, Urteilsanmerkung, AIJC 1985, S. 430 ff., 432; L. Favoreu, La decision du Conseil constitutionnel du 22 mai 1985 relative au protocole n° 6 additionnel a Ia Convention europeenne des Droits de l'Homme, AFDI 1985, S. 868 ff., 873; G. Vedel, Sehengen et Maastricht, RFDA 1992, S. 173 ff. X. Pretot, La conformite a Ia Constitution de Ia loi autorisant l'approbation de Ia Convention d'application de I' Accord de Schengen, RTDE 1992, S. 194 ff., 200 ff. bespricht zwar ausfUhrlieh die Grundrechtsprüfung durch den Conseil Constitutionnel, widmet sich aber nicht den Fragen des generellen Umfangs der grundrechtliehen Übertragungsschranken bzw. der Absenkung des Standards. Zu letzterem äußerte sich bezeichnenderweise (noch dazu bereits im Jahr 1967) ein deutscher Autor, nämlich H. J. Schlenzka (FN. 82), S. 222, der meinte, eine Absenkung des Grundrechtsstandards wäre durch Absatz 14 der Präambel von 1946 gedeckt.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

241

Sprachgebrauch. Hier wurde durch den Umstand Verwirrung gestiftet, daß das Gericht in seiner Rechtsprechung nur die "droits et Iibertes des citoyens" erwähnte, statt, wie es der seit 1789 klassischen französischen Terminologie entsprochen hätte, von den "droits (et libertes) de l'Homme et des citoyens" zu sprechen. Als Erklärung hierfilr bot sich an, daß der personale Schutzbereich des Prinzips der nationalen Souveränität sich nur auf die Angehörigen der französischen Nation erstreckt. Die Beschränkung auf "Citoyens" wäre insofern als Konsequenz der Integration der Grundrechtsfrage in die Souveränitätswahrung zu begreifen gewesen. Angesichts des Umstandes, daß in der Entscheidung vom 17. 7. 1980 sowie später auch in der Sehengen-Entscheidung eine Verletzung des Asylrechts - also eines Ausländerrechts - geprüft wurde, war es jedoch unwahrscheinlich, daß der Conseil auf den Grundrechtsschutz nur der eigenen Staatsangehörigen hinauswollte302. Letzte Gewißheit konnte aber mangels klarer Ausftlhrungen des Gerichts auch hier nicht erlangt werden.

b) Die Maastricht I-Entscheidung Wie bereits erwähnt, widmet die Maastricht I-Entscheidung den Grundrechten einen eigenen Prüfungsabschnitt Im 17. Erwägungsgrund hat der Conseil Constitutionnel zunächst die programmatische Vorschrift des Art. F Abs. 2 EUV303 zur Achtung der Grund- und Menschenrechte wiedergegeben und hinzugefilgt: "leur respect est assure par Ia Cour de Justice des Communautes europeennes notamment a Ia suite d'actions engagees a l'initiative des particuliers"304. Im folgenden 18. Erwägungsgrund ist dann ausgeftihrt, die Bestimmungen des Art. F Abs. 2 EUV "conjugees avec l'intervention des juridictions nationales statuant dans le cadre de leurs competences respectives sont a meme de garantir !es droits et libertes des citoyens; ... a cet egard, l'engagement intemational...ne porte pas atteinte aux regles et principes de valeur constitutionnelle"305.

302 So auch P Gaia (FN. 11), S. 333, der meint, das Gericht orientiere sich bei seiner Übertragungsprüfung an der "charte jurisprudentielle" in ihrem vollen Umfang. 303 "Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der...Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen VerfassungsOberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben". 304 "ihre Beachtung [wird] durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gesichert, namentlich aufindividualklagen einzelner BOrger hin". 305 "sind zusammen mit der Tätigkeit nationaler Gerichte, die im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten entscheiden, gleichermaßen dazu bestimmt, die Grundrechte

16 Hecker

242

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Die entscheidende dogmatische Neuerung dieser Passage liegt darin, daß mit ihr der Conseil das Erfordernis der Grundrechtswahrung als eine systematisch eigenständige Übertragungsschranke etabliert hat. Das Gericht hat die grundrechtliche Prüfung des Unionsvertrages verselbständigt und damit die Konsequenz aus der im 14. Erwägungsgrund mit der Wendung "clause Contraire a Ia Constitution ou portant atteinte aux conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale" grundgelegten Aufspaltung des Übertragungskonzepts gezogen: Die Wahrung der Grundrechte wird vom Gericht nicht länger als eine der "conditions essentielles" der Souveränitätsausübung begriffen, sondern dem Souveränitätsgebot als gleichrangige weitere Anforderung an den Übertragungsakt zur Seite gestellt306 • Damit ist die dogmatisch schiefe Konstruktion aus der Entscheidung von 1985 korrigiert worden. Unklar - und auch von der Literatur nicht aufgeworfen - ist hingegen weiterhin die Frage nach einer möglichen Absenkung des nationalen Grundrechtsstandards bei Übertragungsakten. Das Gericht hat sich hierzu ebensowenig ausgelassen wie zu der Frage, ob mit der wiederum gebrauchten Wendung "droits et libertes des citoyens" ein Teil des innerstaatlich geltenden Grundrechtskatalogs von der Übertragungsprüfung auszunehmen sei307• Die höchst pauschale Fassung beider Erwägungsgründe läßt insoweit keine näheren Rückschlüsse auf die konkreten gerichtlichen Vorstellungen zu. Es wird auch nicht deutlich, welche der Vorschriften des EUV bzw. EGV überhaupt Anlaß fur eine Grundrechtsprüfung gegeben hat. Die Konzentration beider Erwägungsgründe auf Art. F Abs. 2 EUV ist bemerkenswert insofern, als diese Vorschrift selbst keine grundrechtlich kritischen Handlungsbefugnisse begründet und im übrigen nach Art. L EUV ihrerseits nicht der Gerichtsbarkeit des EuGH unterliegtl08 • Das Gericht hat offenbar das Maastrichter Vertragswerk im Ganzen als grundrechtlich unbedenklich angesehen und sich daher mit einer Wendung begnügen wollen, die lediglich in allgemeiner Form Existenz und Durchsetzbarkeit ("assure par Ia Cour de Justice ...a Ia suite d'actions engagees a !'initiative des particuliers") von Gemeinschaftsgrundrechten attestiert. Viel und -freiheiten der Bürger zu gewährleisten; ... in dieser Beziehung [verletzt] die .. .internationale Verpflichtung keine Regeln oder Grundsätze mit Verfassungsrang". 306 P Gaia, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 398 ff., 405, 407; F Luchaire (FN. 190), S. 593, 597; J. Rideau (FN. 194), S. 86. Viele Kommentatoren thematisieren diese Ablösung nicht ausdrücklich, vollziehen sie aber in ihrem Erörterungsgang implizit nach; J. - P Jacque (FN. 193), S. 255; Nguyen Van Tuong, Urteilsanmerkung, JCP 1992, II, 21943, S. 160; D. Sirnon (FN. 189), S. 3; P Avril I J. Gicquel (FN. 206), S. 182. 307 J Rideau (FN. 194), S. 86 meint, das Gericht ziele auf die "Droits des citoyens" ebenso wie auf die "Droits de I'Homme", bleibt aber konkrete Belege hierftir schuldig. 308

J. - p Jacque (FN. 193), S. 257.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

243

mehr als ein diffuses Signal künftiger Wachsamkeit ist damit aus den Erwägungsgründen 17 bis 18 unter dem Strich nicht herauszulesen. Etwas nebulös ist auch der Hinweis auf die Prüfungskompetenzen der nationalen Gerichte ("conjugees avec l'intervention des juridictions nationales"). Angesichts des im Vergleich zu Deutschland stark eingeschränkten Umfangs verfassungsgerichtlicher Verfahrensarten in Frankreich (s. o.) ist es schwer vorstellbar, daß der Conseil Constitutionnel sich hiermit einen Vorbehalt der Kontrolle von Gemeinschaftsakten arn Maßstab nationaler Grundrechte nach dem Vorbild der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reservieren will. Eine solche Kontrolle könnte sich in Frankreich prozessual allenfalls über eine Aktualisierung der oben im Abschnitt A. dieses Kapitels herausgearbeiteten "Not-Kontrollreserve" nationaler Umsetzungslegislation realisieren lassen309 - ob das Gericht hierauf wirklich hinauswill, ist pure Spekulation. Auch als Aufforderung zur Etablierung eines entsprechenden Vorbehalts an die Adresse der ordentlichen Gerichte kann der Satz des Conseil nicht ernsthaft ausgelegt werden 310 • Plausibler ist die Vermutung, der Conseil habe schlicht auf die Selbstverständlichkeit aufmerksam machen wollen, daß Rechtsschutz gegen Gemeinschaftsakte nicht nur - wie im 17. Erwägungsgrund ausdrücklich herausgestellt - vor dem Europäischen Gerichtshof gesucht werden kann, sondern darüber hinaus auch vor den nationalen Gerichten, die bei Klagen gegen gemeinschaftsrechtsdeterminierte Akte der französischen öffentlichen Gewalt ihre Prüfung eben auch auf den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund erstrecken (und gegebenenfalls gern. Art. 177 EGV vorlegen 311 ). Die Erwähnung der "intervention des juridictions nationales" muß also in einem Atemzug mit dem Hinweis auf den Rechtsschutz durch den EuGH im 17. Erwägungsgrund gelesen werden; es ist lediglich die klassische, vertraglich vorgesehene Form des "Kooperationsverhältnisses" nach Art. 177 EGV zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit, die der Conseil Constitutionnel im Visier gehabt und - ihrer beruhigenden Wirkung wegen - der Erwähnung fiir wert befunden hat312 • 309 Diese Möglichkeit Obersieht A. Weber, Zur Kontrolle grundrechts- bzw. kompetenzwidriger Rechtsakte der EG durch nationale Verfassungsgerichte, FS Everling, Bd. I , Baden - Baden 1995, S. 1625 ff., 1635. 310 311

J. Rideau (FN. 194), S. 87. In diese Richtung J. Baulouis (FN. 220), S. 517 und J. - P Jacque (FN. 193), S.

253, die die Wendung als allgemeinen Hinweis auf die Kooperation zwischen EuGH und nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens interpretieren. 312 L. Favoreu (FN. 214), S. 62 interpretiert die "intervention"-Wendung hingegen als Ausdruck einer Unzufriedenheit des Conseil Constitutionnel mit dem Stand des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes. Daflir sind konkrete Anhaltspunkte aber nicht ersichtlich. Unklar bleibt der Sinn des Kommentars von P Gaia (FN. 7), S. 254, wonach

16•

244

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

c) Resurne Mit der Ablösung vom Souveränitätsprinzip und der verhältnismäßig ausführlichen (wenn auch inhaltlich wenig ertragreichen) Erwähnung in der Maastricht I-Entscheidung hat der Stellenwert der Grundrechte in der Übertragungsjudikatur des Conseil Constitutionnel zugenommen. Die hier vollzogene Aufspaltung der Übertragungsschranken spiegelt eine differenzierter gewordene Sicht der aus der europäischen Integration potentiell erwachsenden Herausforderungen filr die nationale Verfassung wiederm. Der Conseil ist sich bewußt geworden, daß die mitgliedstaatliche Verfassungsidentität nicht nur durch den Verlust von Kompetenzen (sprich dem Abbau nationaler Demokratie), sondern auch durch den Verlust materiell-rechtsstaatlicher Standards geflihrdet werden kann. Hierauf reagiert er mit dem· Gebot einer strukturellen Homogenität, welches dem - seinerseits differenzierter auf das Integrationsphänomen antwortenden - Souveränitätspostulat zur Seite tritt. Der Sache nach sind die grundrechtliehen Übertragungsschranken durch die Maastricht I-Entscheidung noch nicht präzisiert worden. Das Gericht hat sich sich mit der schlichten Feststellung ihrer Existenz begnügt, ohne im Stil der Direktwahlentscheidung Grenzen fiir zukünftige Integrationsschritte zu markieren. Unklar bleibt insbesondere, ob die verfassungsrechtliche Integrationsermächtigung einschließt, daß auf Gemeinschaftsebene ein im Vergleich zur innerstaatlichen Situation niedrigerer Grundrechtsstandard herrscht. Die Hervorhebung des bestehenden Umfangs an Rechtsschutz deutet daraufhin, daß der Conseil bei aller Bereitschaft zur Wachsamkeit die Frage des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft als auf absehbare Zeit nicht übermäßig kritisch bewertet. Er sieht deshalb zum jetzigen Zeitpunkt keinen Anlaß, die grundrechtlichen Anforderungen an Übertragungsakte näher zu entfalten. Dies und der Umstand, daß grundrechtlich bedenkliche Vertragsänderungen schwer vorstellbar sind, läßt die Prognose zu, daß in der französischen Verfassungsjudikatur die Grundrechte - anders als die Souveränitätsdoktrin - auch in Zukunft keine dominante Rolle spielen werden. Wegen des FehJens einer Verfassungsbeschwerde ist im übrigen ausgeschlossen, daß der Conseil Constitutionnel wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Verfahren mit Klagen Einzelner befaßt wird, welche die Frage der Souveränitätswahrung individualrechtlich einkleiden.

der Conseil hier eine "competence initiale (et concurrente)" der nationalen Gerichte proklamiert habe. 313

B. Genevois (FN. 190), S. 402; J. Rideau (FN. 194), S. 86.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

245

3. Die neuen Europa-Artikel in Titel XIV der französischen Verfassung

Die Maastricht I-Entscheidung des Conseil Constitutionnel hat die französische Republik vor die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung gestellt, um die fiir die Ratifizierung des Unionsvertrages erforderliche konstitutionelle Ermächtigungsgrundlage zu schaffen. Mit der Verwerfung der Regelungen über die Wirtschafts- und Währungsunion, die gemeinsame Visapolitik sowie das kommunale EG-Ausländerwahlrecht war vom Conseil vorgegeben worden, wo diese Verfassungsänderung konkret anzusetzen habe. Das Ergebnis des sofort im Anschluß an das Urteil eingeleiteten Revisionsverfahrens 3 14 ist der neue Titel XIV der französischen Verfassung, der mit den Art. 88-1 bis 88-4 vier neue Vorschriften zur europäischen Integration enthäte 15 • Hiermit ist neben dem Prinzip der nationalen Souveränität und den Grundrechten ein dritter Normenkomplex entstanden, der die einfachgesetzliche Übertragungsgewalt - allerdings nur fiir den speziellen Fall des Maastricht-Vertrages- reguliert (unten a.). In dem auf Antrag einer Gruppe von Senatoren eingeleiteten Maastricht liVerfahren hat das Gericht umgehend Gelegenheit bekommen, sich näher zur Tragweite der neuen Europa-Artikel zu äußern (unten b.). Vom Conseil Constitutionnel war zu klären, ob mit diesen Artikeln die verfassungsrechtlichen Hindernisse ftlr eine Ratifizierung des Unionsvertrages nunmehr beseitigt, die Verfassungsrevision also ausreichend gewesen sei. Zugleich hat sich in diesem Verfahren erstmals ein Anlaß ergeben, auf die (später unter 111. behandelte) Frage nach etwaigen Grenzen der verfassungsändernden Übertragungsgewalt einzugehen; denn die Antragsteller hatten sich nicht nur auf den Standpunkt gestellt, trotz der neuen Artikel seien die Widersprüche zwischen Unionsvertrag und Verfassung nicht beseitigt, sondern das Gericht darüber hinaus ersucht, sich zu etwaigen "limites d'une adequation de Ia Constitution a Ia construction europeenne" 316 zu äußern. 1993 sind die neuen Europa-Artikel, genauer die Vorschrift des Art. 88-2 über die Ermächtigung zur Übertragung der notwendigen Kompetenzen zur Schaffung der WWU, zum zweiten Mal auf den verfassungsgerichtlichen Prüfstand gelangt. Der Conseil Constitutionnel ist hier mit der Frage befaßt worden, ob das zur Anpassung an die Maastrichter Regelungen über die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken erlassene neue Statut der Banque de France von Art. 88-2 gedeckt sei (unten c.).

314 Des bisher längsten in der V. Republik; B. Francois, Maastricht, Ia Constitution et Ia politique, RFDC 1992, S. 469 ff., 470. 315 Siehe oben FN. 67 (2. Kapitel, Teil 8.). 316 "Grenzen der Anpassungstahigkeit der Verfassung an die europäische Integration".

246

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

a) Die Verfassungsänderung im Anschluß an die Maastricht 1- Entscheidung des Conseil Constitutionnel

Da der Conseil Constitutionnel im Tenor seiner Maastricht I-Entscheidung ausgesprochen hat, die Ratifizierung des Unionsvertrag dürfe nur nach ("apres") einer Änderung der Verfassung erfolgen, ist einem - vorher vereinzelt diskutierten - einaktigen Vorgehen (bloße Verabschiedung eines Zustimmungsgesetzes mit verfassungsändernder Mehrheit) der Weg versperrt gewesen 317 • Es ist unumgänglich gewesen, zunächst den Verfassungstext zu ändern und erst in einem zweiten Schritt, d.h. auf einer klar formulierten neuen verfassungsrechtlichen Grundlage, das Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag zu erlassen. Für die Verfassungsrevision stellt Art. 89 zwei Möglichkeiten zur Auswahl: entweder eine rein parlamentarische Prozedur (getrennter Beschluß durch die zwei Kammern mit einfacher Mehrheit und anschließende Annahme durch eine 3/5-Mehrheit des Kongresses, der beide Kammern vereint) oder eine gemischt parlamentarisch-plebiszitäre Prozedur (getrennter Beschluß durch die Kammern mit einfacher Mehrheit und anschließende Annahme durch Volksentscheid). Präsident Mitterrand hat sich mit der Begründung, ein Referendum sei der Komplexität der Änderungen nicht angemessen, fi1r den ersten Weg entschiedenm. Zugleich hat er jedoch durchklingen lassen, im Falle übermäßiger Widerstände seitens der Kammern das Verfahren nach Art. 89 der Verfassung ganz verlassen und den Revisionsentwurf direkt nach Art. ll - also ohne jeglichen vorausgehenden parlamentarischen Beschluß - zum Volksentscheid bringen zu wollen319 . Diesen Weg hatte 1962 de Gaulle zum Zwecke der Einführung der Direktwahl des Staatspräsidenten (heute Art. 6 der Verfassung) beschritten, damals unter heftigen Protesten eines Teils der Staatsrechtslehre, die Art. 89 (wohl zu Recht) als abschließende Regelung fiir die Verfassungsrevision ansah, und auch gegen den Widerstand des damaligen Oppositionspolitikers Mitterand, der die Einleitung des Direktwahlreferendums später ( 1965) mit zum Anlaß fiir seinen berühmten Vorwurf des "coup d'Etat permanent" verwenden sollte320 •

317

L. Favoreu (FN. 206), S. 341.

318

F Luchaire, L'Union europeenne et Ia Constitution (II), RDP 1992, S. 931 ff., 934;

J. Rideau (FN. 194), S. 108.

319 F Luchaire (FN. 318), S. 935; C. Grewe, La revision constitutionnelle en vue de Ia ratification du traite de Maastricht, RFDC 1992, S. 413 ff., 417; J. Rideau (FN. 194), S. 109f. 320 Der Conseil Constitutionnel hatte in seiner Entscheidung vom 6. 11 . 1962 (No. 62 20 DC, Rec. 27) eine Überprüfung des Vorgehens de Gaulies mit der Begründung abgelehnt, Referenden seien als "expression directe de Ia souverainete nationale" von

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

247

Da keine der großen politischen Fonnationen dem Änderungsvorhaben geschlossen entgegentreten isf21 , haben sich letztlich aber keine unüberwindbaren Schwierigkeiten ergeben, die notwendigen Mehrheiten in den Kammern und schließlich auch im Kongreß zu fmden322 • Mitterrand hat somit die Drohung mit einem Verfahren nach Art. 11 der Verfassung nicht realisieren müssen. Der Preis hierfiir bestand allerdings in einer Reihe von Konzessionen an die Parlamentarier, die zur Abänderung des Regierungsvorschlags in mehreren Punkten gefilhrt und am Ende dem neuen Europa-Titel XIV einen deutlich rigideren Anstrich als zunächst konzipiert gegeben hat323 • Ursprünglich hat der Regierungsentwurf nur zwei Vorschriften vorgesehen, von denen die ~ine die Ermächtigungsgrundlage fiir die WWU sowie die gemeinsame Visapolitik und die andere diejenige filr das kommunale EG-Ausländerwahlrecht schaffen sollte324 • Bereits nach der Vorlage an den Conseil d'Etat, dessen "section administrative" zu allen legislativen Vorhaben zu hören ist325, ist in den Regierungsentwurf die ausdrückliche Bezugnahme auf den Unionsvertrag aufgenommen worden ("selon les modalites prevues par le Traite sur !'Union europeenne")326 • Hiermit ist die Absicht verfolgt worden, die Ermächtigungswirkung der neuen Bestimmungen streng auf die in Maastricht beschlossenen Kompetenzübertragungen zu begrenzen, also sicherzustellen, daß der neue Europa-Titel keine Handhabe filr die einfachgesetzliche Ratifizierung späterer Änderungen des Unionsvertrages (soweit diese zu neuen Beeinträchtigungen der "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete nationale" fUhren) bietef27 • Im Rahmen der Beratungen durch die Nationalversammlung sind dann gleich mehrere Änderungen erwirkt worden: Aus dem heutigen Art. 88-3 ist die von der Regierung vorgesehene verfassungsunmittelbare Zuerkennung des

verfassungsgerichtlicher Kontrolle freigestellt. Von daher wäre eine Umgehung des Parlaments fiir Mitterrand ohne verfassungsrechtliches Risiko gewesen. 321 Einmütig ablehnend haben sich die kommunistische Partei sowie der "Front National" verhalten. In der Sozialististischen Partei und im bürgerlichen Lager sind die zum Teil recht prominenten -Gegner (Chevenement, Pasqua, Seguin, de Villiers) in der Minderheit geblieben. Vgl. C Grewe (FN. 319), S. 427; J Rideau (FN. 194), S. 110. Der neogaullistische RPR ist der späteren Abstimmung im Kongreß allerdings fern· geblieben; M. Fromont (FN. 31), S. 485. 322 Das verfassungsändernde Gesetz hat am 23 . 6. 1992 eine Mehrheit von 592 gegen 73 Stimmen bei I 4 Enthaltungen gefunden. 323

Zum parlamentarischen Verfahren ausfUhrliehT de Berranger (FN. 1), S. 88 ff.

324

J Rideau (FN. 194), S. 109.

325

Siehe oben FN. 24 im I. Kapitel.

326 J 327

Rideau (FN. 194), S. 109.

F Luchaire (FN. 318), S. 937; T de Berranger (FN. 1), S. 88 ff.

248

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Kommunalwahlrechts fiir EG-Ausländer zurückgenommen und seine Einfiihrung einem (Organ-) Gesetzesvorbehalt unterstellt worden; dem Regierungsentwurf ist die demonstrativ den Fortbestand der Staaten im europäischen Einigungsprozeß proklamierende Programmvorschrift des Art. 88-1 hinzugefugt worden, des weiteren der die parlamentarische Einbindung in die europapolitische Regierungsaktivität vorsehende Art. 88-4 sowie eine neue Verfassungsvorschrift (Art. 2 Abs. 2) des Inhalts, daß die Sprache der französischen Republik die französische sei (!)328 • Im Rahmen der Senatslesung ist dann zum einen noch hinzugekommen, daß das Organgesetz zur Einfiihrung des kommunalen Ausländerwahlrechts nicht von der Nationalversammlung allein, sondern von dieser und dem Senat gemeinsam zu beschließen sei. Zum anderen ist dieser Kommunalwahlartikel redaktionell dahingehend abgeändert worden, daß "Je droit de vote et d' eligibilite ...peut etre accorde aux...citoyens de !'Union" (statt: "!es Citoyens de !'Union sont electeurs et eligibles")329 - mit dieser fakultativen Wendung hat man gemeint, eine bessere Verhandlungsposition Frankeichs filr den nach Art. 8 b EGV noch ausstehenden Ratsbeschluß gewinnen zu können330. Die parlamentarischen Änderungswünsche, die sogar ursprünglich noch weiter gereicht hatten331 , bezeugen eine starke Sensibilität fiir die aus dem neuerlichen Integrationsschritt erwachsenden Gefahren filr die nationale Identitätswahrung. Man hat zugleich mit der als unabänderlich angesehenen Anpassung der Verfassung zumindest in atmosphärischer Hinsicht gewisse Widerstandslinien markieren wollen. Am klarsten tritt dies bei der Einschnürung der neuen Sprach-Vorschrift in das Revisionspaket zutage - ein symbolischer Akt der nationalen Verteidigung, der als Reaktion auf die (Aufhol-) Erfolge des Englischen und des Deutschen in den Brüsseler Institutionen gedacht ise 32• Dies sowie auch die Verschiebung der Einfiihrung des kommunalen Ausländerwahlrechts auf ein späteres Gesetz sowie die EinfUgung des Art. 88-4 (parlamentarische Beteiligung) offenbaren, daß der Europa-Skeptizismus in den Kammern weiter verbreitet gewesen ist als in der Regierung und sich hier nicht zuletzt aus der durchaus begründeten Furcht der Parlamentarier vor dem Verlust

328 J 329

Rideau (FN. 194), S. 110 tf.

J Rideau (FN. 194), S. 112 f.

330 C. Grewe (FN. 319), S. 430. 331 So war etwa seitens einiger Parlamentarier verlangt worden, eine Möglichkeit zur

verfassungsgerichtlichen Präventivkontrolle sekundärer Gemeinschaftsakte zu schaffen. Näher hierzu J Rideau (FN. 194), S. 116 sowie oben FN. 187 in Teil A. dieses Kapitels. 332

J Rideau (FN. 194), S. 115.

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

249

eigener Einflußmöglichkeiten genährt hat333 • Ohne eine Kompensation nach Art des Art. 88-4, der immerhin die klassische außenpolitische Rollenverteilung zwischen beiden Organen durchbricht und damit ein beachtliches verfassungspolitisches Zugeständnis enthältl34, ist dem Parlament die Zustimmung zu dem Änderungsprojekt nicht abzuringen gewesen 335 • In seinem Grundanliegen jedoch, der Beseitigung der verfassungsrechtlichen Hindernisse gegenüber einer Ratifizierung des Unionsvertrages, ist das Projekt unbeschädigt über die parlamentarischen Hürden gebracht worden. Die Teilnahme Frankreichs an dem neuen Integrationsschritt ist somit nur noch von der Erteilung grünen Lichts durch die zweite Maastricht-Entscheidung des Conseil Constitutionnel abhängig gewesen.

b) Die neuen Europa-Artikel in der Maastricht II-Entscheidung des Conseil Constitutionnel Anders als das erste hat das zweite Prüfungsverfahren - sieht man von der Thematik etwaiger Grenzen der Verfassungsänderung zunächst einmal ab - von vomeherein nur begrenzten Streitstoff bieten können. Wegen der Rechtskraft der ersten Entscheidung sind alle diejenigen Vorschriften des Unionsvertrages, die hierin vom Gericht ausdrücklich oder implizit für mit der Verfassung vereinbar erklärt worden sind, von einer neuerlichen Prüfung ausgeschlossen gewesen336• Als zentrales Problem ist nur die Frage verblieben, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Erlaß der neuen Artikel die richtige Revisionstechnik verwandt hat. Sowohl die antragstellenden Senatoren337, als auch - mit gewissen Nuancierungen - einige Stimmen aus der Literatur sind der Auffassung gewesen, die vom Conseil festgestellten konstitutionellen Hindernisse gegenüber der WWU, der gemeinsamen Visapolitik sowie dem kommunalen EG-

333

tis").

Vgl. P Gaia (FN. 7), S. 256 ("compenser en quelque sorte les sacrifices consen-

334 F Luchaire (FN. 318), S. 965; P. Gaia (FN. 7), S. 268; M.- F Verdier, La revision constitutionnelle du 25 juin 1992 necessaire a Ia ratification du traite de Maastricht et I' extension des pouvoirs des assemblees parlementaires francaises, RDP 1994, S. 1137 ff. 335 C. Grewe (FN. 319), S. 436. 336 Siehe oben unter A., III., 2. 337 Siehe die Wiedergabe ihrer Argumentation durch das Gericht in den Erwägungsgründen 17, 30, 37. Vgl. auch ihr "Memoire en replique au memorandum du gouvernement", RFDC 1992, S. 727 ff., 728.

250

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Ausländerwahlrecht hätten nur durch eine direkte Anderung der jeweils betroffenen Verfassungsvorschriften (vor allem des Art. 3 mit der Festschreibung des Prinzips der nationalen Souveränität) beseitigt werden können 338 • Der Regierungsentwurf hat sich, wie gesehen, gegen eine direkte Änderung und filr die Einfugung spezieller Ausnahmeermächtigungen entschieden. Dies erschien als die einfachste und sicherste Methode, um den Vorgaben der Maastricht IEntscheidung Rechnung zu tragen339 • Weder der Conseil d'Etat, noch die Kammermehrheiten haben hiergegen Einwände erhoben. Daß der Conseil Constitutionnel den verfassungsändernden Gesetzgeber, der seinen Willen zur Anpassung der Verfassung an die kritischen Bestimmungen des Unionsvertrages mit der Einfugung der Art. 88-2 und 88-3 schließlich klar formuliert hat, wegen einer letzlieh nur redaktionellen Frage desavouieren würde, ist von vomeherein nicht sehr wahrscheinlich gewesen. Eine neuerliche Verwerfung hätte das Gericht mit Sicherheit stark in die Kritik gerückt und im übrigen den Revisionsprozeß nur hinauszögern, nicht aber dauerhaft aufhalten können. Unter dogmatischen Aspekten hat die revidierte Verfassung im übrigen auch keinerlei Probleme aufgeworfen: Durch die neuen Artikel sind einem grundsätzlichen Verbot (von Beeinträchtigungen der "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete nationale") eben einige festumrissene Ausnahmetatbestände zur Seite gestellt worden - eine durchaus nicht ungewöhnliche, auch aus einfachen Gesetzen bzw. Verordnungen bekannte Legislationstechnik340 • Der Conseil Constitutionnel hat den Vorstoß der Antragsteller denn auch abschlägig beschieden und die neuen Europa-Artikel als ausreichende Grundlage filr eine Ratifizierung des Unionsvertrages angesehen341 • Die Entscheidungsgründe erklären ausdrücklich, daß es dem verfassungsändernden Gesetzgeber "est loisible d'abroger, de modifier ou de completer des dispositions de valeur

338 Allen voran L. Favoreu, Constitution n!visee ou Constitution bis?, Le Figaro v. 21. 4. 1992 (abgedruck in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 355 f.); Pour une clarification du debat constitutionnel, Le Figaro v. 15. 5. 1992 (abgedruckt in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 359 f.). Für eine direkte Änderung der betroffenen Verfassungsvorschriften jedenfalls hinsichtlich des Kommunalwahlrechts hat sich auch Nguyen Van Tuong (FN. 306), S. 167, ausgesprochen. J. Rideau (FN. 194), S. 121 meinte, eine direkte Änderung wäre jedenfalls zweckmäßiger. A.A. F Luchaire (FN. 318), S. 939, der mit den neuen Europaartikeln die Verfassungshindernisse als beseitigt und eine direkte Änderung als überflüssig ansah. 339

C. Grewe (FN. 319), S. 420; F Luchaire (FN. 318), S. 936.

Vgl. B. Genevois, Le Traite sur I'Union europeenne et Ia Constitution revisee. A propos de Ia decision du Conseil constitutionnel no. 92 - 312 DC du 2 septerobre 1992, RFDA 1992, S. 937 ff., 946. 340

341

Erwägungsgründe 20 (Kommunalwahlrecht), 35 (WWU), 40 (Visapolitik).

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

251

constitutionnelle dans Ia fonne qu'il estime appropriee; .. ainsi rien ne s'oppose introduise dans Ie texte de Ia Constitution des dispositions nouvelles qui .. derogent a une regle ou a une principe de valeur constitutionnelle"342 . Die vom Regierungsentwurf eingeschlagene und im Parlament gutgeheißene Revisionstechnik ist damit vom Conseil Constitutionnel akzeptiert worden. Insofern ist das letzte Hindernis filr die Ratifizierung des Unionsvertrages aus dem Weg geräumt worden.

a ce qu' il

Der näheren Betrachtung wert sind noch die Ausruhrungen des Gerichts zum neuen Kommunalwahlartikel. Trotz des in Art. 88-3 vorgesehenen Ausschlusses ausländischer Gemeinderäte aus dem Wahlmännergremium ftlr den Senat sowie von der Wahl zu diesem Wahlmännergremium bleibt auch nach der Revision ein - allerdings sehr indirekter - Einfluß der ausländischen Kommunalwähler auf die Senatsbildung insofern erhalten, als die (senatswahlberechtigten) französischen Gemeinderäte ja auch durch ihre Stimmen gewählt werden können343 . Eine diesbezüglich hundertprozentig reine Lösung wäre nur über eine völlige Umgestaltung des Wahlsystems, nämlich die Einftlhrung einer (den französischen Bürgern vorbehaltenen) Direktwahl der Senatswahlmänner zu erreichen gewesen, die allerdings politisch unrealistisch gewesen istl44 • Der Conseil Constitutionnel hat sich an der verbleibenden "incidence" der Teilnahme ausländischer Kommunalwähler auf die Senatsbildung jedoch nicht gestoßen, sondern diese wegen der neuen Vorschrift des Art. 88-3 erwartungsgemäß als zulässig angesehen (23. EG). Auch hier akzeptiert er, daß in der revidierten Verfassung dem grundsätzlichen Verbot einer "incidence" - die sich nun sogar noch spürbar verringert hatte - in Gestalt des Art. 88-3 eben eine ausdrückliche Ausnahme hinzugefUgt worden ist. Bemerkenswert ist dann die Stellungnahme des Gerichts zu dem in Art. 88-3 enthaltenen Organgesetzvorbehalt Die EinfUgung dieses Vorbehalt ist aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive nicht unproblematisch gewesen, da er die Gefahr zukünftiger Konflikte mit den vom Rat gemäß Art. 8 b EGV zu beschließenden europäischen Wahlgrundsätzen birgt. Der Conseil hat diese Gefahr erkannt und hierauf mit der an die Adresse

342 "steht es frei, Bestimmungen mit Verfassungsrang in der von ihm filr angemessen erachteten Weise abzuschaffen, zu ändern oder zu ergänzen; .. von daher ist es zulässig, daß er in den Verfassungstext neue Bestimmungen einfilgt, die ... von einer Vorschrift oder einem Grundsatz mit Verfassungsrang Ausnahmen statuieren"; 19. Erwägungsgrund (Kommunalwahlrecht). Ähnliche Wendungen finden sich im 34. Erwägungsgrund (WWU) und im 40. Erwägungsgrund (Visapolitik). Zum Aussagegehalt dieser Sätze im Hinblick auf die Problematik etwaiger Grenzen der verfassungsändernden Übertragungsgewalt siehe unten unter III., 2. 343 C. Grewe (FN. 319), S. 428. 344

C. Grewe (FN. 319), S. 429.

252

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

des Organgesetzgebers adressierten Ermahnung reagiert, bei Erlaß des Gesetzes die Ratsvorgaben einzuhalten (28. EG). Das Gericht akzeptiert hiermit, daß die neue Verfassungsvorschrift durch den in ihr enthaltenen Verweis den Unionsvertrag zum zwingenden Auslegungsmaßstab erhoben hae 45 • Die gemeinschaftsrechtlich bedenklichen Elemente des neuen Kommunalwahlartikels sind so vom Gericht ein Stück neutralisiert346, wenn auch nicht gänzlich getilgt worden 347 .

c) Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel zum neuen Statut der Banque de France (3. 8. 1993/48 Mit der "loi relative au statut de Ia Banque de France et a l'activite et au contröle des etablissements de credit" wollte der französische Gesetzgeber die Unabhängigkeit der Notenbank herstellen und die innerstaatliche Rechtslage damit an die Vertragsvorschriften der Art. 3 a, 107 EGV anpassen349 . Kernstück des Gesetzes sind die Regelungen der Art. 1 und 7. Hierin wird der "Banque de France" die Kompetenz zugewiesen, "(de definir et mettre en oeuvre) Ia poli-

345 M Fromont (FN. 186), S. 136 f. ; E. Picard, Vers l'extension du bloc de constitutionnalite au droit europeen ?, RFDA 1993, S. 47. ff., 48 I 49. Zugleich ist diese Ermahnung als Hinweis darauf zu interpretieren, daß das Gericht zur Kontrolle der Gemeinschaftsrechtsmäßigkeit des Organgesetzes - das nach Art. 61 Abs. I der Verfassung obligatorisch vorzulegen ist - bereit sein und damit eine Äusnahme von der "interruption volontaire de grossesse"-Rechtsprechung von 1975 machen würde; T de Berranger (FN. 1), S. 289; F Luchaire (FN. 318), S. 970 f. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das Organgesetz noch nicht erlassen worden. 346 B. Genevois (FN. 340), S. 946; J. Rideau (FN. 194), S. 130. 347 Problematisch verbleibt weiterhin der in Art. 88-3 festgeschriebene Ausschluß ausländischer Gemeinderäte von den Ämtern des Bürgermeisters sowie des Beigeordneten. Auch wenn man sich hiermit in Übereinklang mit dem Kommissionsentwurf einer Kommunalwahlrichtlinie von 1988 (und schließlich auch der neuen Richtlinie von 1994) befindet, ist doch nicht auszuschließen, daß der Rat auf der Basis von Art. 8 b EGV zukünftig einmal eine andere Regelung treffen wird; J. Rideau (FN. 194), S. 120, 122. Bedenklich ist auch der- nach der Maastricht I-Entscheidung überdies überflüssige - spezielle Gegenseitigkeitsvorbehalt in Art. 88-3. Hierin sind Konflikte fiir den Fall angelegt, daß der Rat (wie mit der Richtlinie von 1994 geschehen) fiir bestimmte Länder mit extrem hohem Ausländeranteil (v. a. Luxemburg) von den Ausnahmemöglichkeiten des Art. 8 b EGV Gebrauch macht; F Luchaire (FN. 318), S. 940; J. Rideau, ebda., S. 118 I 119. Welche Rolle der Gegenseitigkeitsvorbehalt im noch ausstehenden Verfahren der Kontrolle des Organgesetzes zu Art. 88-3 spielen wird, bleibt abzuwarten. 348 No. 93 - 324 DC, Rec. 208. 349 T de Herranger (FN. 1), S. 293.

li. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

253

tique monetaire dans le but d'assurer Ia stabilite des prix"350 (Art. I Abs. 1), und ihr dabei untersagt, "(de) solliciter (ou d') accepter d'instructions du Gouvernement ou de toute personne"351 (Art. 1 II); Art. 7 Abs. I präzisiert, daß innerhalb der Bank der "Conseil de Ia politique monetaire" dasjenige Organ sei, welches "est charge de definir Ia politique monetaire"352 • Als bloße Umsetzung des vertraglichen Programms zur Einrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion ist das Notenbankgesetz in sachlicher Hinsicht eindeutig durch die neue Ermächtigungsvorschrift des Art. 88-2 der Verfassung gedeckt gewesen 353 . Rechtliche Probleme hat hingegen die Wahl des Zeitpunktes aufgeworfen. Denn bei Erlaß des Gesetzes hatten noch nicht sämtliche Mitgliedstaaten die Ratifizierungsurkunden hinterlegt und war ·folglich der Unionsvertrag gemäß seinem Art. R noch nicht in Kraft getreten. Hieraus haben die Antragsteller, eine Gruppe sozialistischer und kommunistischer Parlamentarier354, gefolgert, daß die Ermächtigungswirkung des Art. 88-2 zeitlich gesehen noch nicht greifen könne: da Art. 88-2 auf den Unionsvertrag verweise ("selon les modalites prevues par Je Traite sur !'Union europeenne"), seien die zur Verwirklichung der WWU vorgesehenen nationalen Maßnahmen von dieser Vorschrift erst dann gedeckt, wenn der Vertrag in Kraft getreten sei355 . Das Gericht hat sich diesem Standpunkt tatsächlich angeschlossen und geurteilt, daß mangels Inkrafttretens des Maastrichter Vertrages "il n 'y a pas lieu de contröler Ia constitutionnalite de Ia loi deferee au regard des dispositions de l'article 88-2 de Ia Constitution"356 (4. EG). Es hat sich also geweigert, die Verfassungsmäßigkeit des Notenbankstatuts anhand der neuen Buropaartikel zu beurteilen. Art. 88-2 wird dahingehend ausgelegt, daß seine Wirksamkeit durch die völkerrechtliche Ingeltungssetzung des Unionsvertrages aufschiebend bedingt sei. Folglich hat sich der Conseil bei seiner Prüfung an der alten 350 "eine Geldpolitik zu bestimmen und auszufllhren, die das Ziel einer Preisstabilität verwirklicht". 351 "Anweisungen der Regierung oder irgendeiner anderen Stelle zu erbeten oder zu befolgen". 352 "mit der Festlegung der Geldpolitik betraut ist". Vgl. zum weiteren Gesetzesinhalt die Referierung durch den Conseil Constitutionnel in den EG 5 - 9 der Entscheidungsgründe. 353 P Gaia, Urteilsanmerkung, RFDC 1993, S. 844 ff., 847; D. Rousseau, Urteilsanmerkung, RDP 1994, S. 117 ff., 118. 354 T de Berranger (FN. 1), S. 293. 355 Vgl. die Wiedergabe ihrer Argumentation in den EG 1 - 2 der Entscheidungsgründe. 356 "kein Raum besteht, um die Verfassungsmäßigkeit des vorgelegten Gesetzes an den Bestimmungen des Art. 88-2 der Verfassung zu messen".

254

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Verfassungsrechtslage orientiert, wie sie vor der Verfassungsänderung im Jahr 1992 bestand. Hierbei ist er zu dem Ergebnis gelangt, daß die Abtretung geldpolitischer Befugnisse an eine unabhängige Notenbank gegen die Zuweisung der Exekutivkompetenzen an die Regierung und den Premienninister gemäß Art. 20 und 21 der Verfassung verstößt (10. EG). Diese Entscheidung illustriert noch einmal die enge Anhindung des neuen Europa-Titels der Verfassung an das Regelungsprogramm des Unionsvertrages357. Diese Anbindung, die vom verfassungsändernden Gesetzgeber ausdrücklich gewollt ist, ist vom Conseil Constitutionnel in größter Konsequenz umgesetzt worden. Von der Möglichkeit, die Wendung "selon !es modalites" iSv Art. 88-2 als rein sachliche (statt als auch zeitliche) Bezugnahme zu interpretieren, hat das Gericht keinen Gebrauch gemacht. Ebenso hat es sich nicht darauf eingelassen, das Notenbankgesetz verfassungskonfonn dahingehend auszulegen, daß seine Inkraftsetzung durch die Ingeltungssetzung des Unionsvertrages aufschiebend bedingt ise 58 . Das Gericht hat eher in Kauf genommen, eine Entscheidung zu fallen, die von vorneherein nur wenige Monate Bestand haben konnte und mit der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunden ihre Grundlage verlieren mußte359 . Als der Unionsvertrag schließlich am 1. 11. 1993 in Kraft getreten ist, hat die französische Regierung denn auch das Notenbankgesetz in unveränderter Fonn wieder eingebracht und das Parlament dieses umgehend beschlossen360•

d) Folgerungen

Der neue Titel XIV der Verfassung beschränkt sich darauf, das System der verfassungsrechtlichen Ennächtigungsgrenzen nur ftlr den speziellen Fall des Unionsvertrages zu erweitern361 • Für die Ratifizierung dieses Vertrages enthält er in Gestalt der Art. 88-2 und 88-3 verfassungsrechtliche Sonderennächtigungen, die vom Conseil Constitutionnel im Maastricht li-Verfahren auch als ausreichend eingestuft worden sind. Ansonsten läßt er jedoch den vorherigen

357

T. de Berranger (FN. 1), S. 294.

m Die Literatur äußert hierzu keine Kritik; vgl. die zuvor Genannten. 359

T. de Berranger (FN. 1), S. 294; P Gaia (FN. 353), S. 847; D. Rousseau (FN. 353),

360

T. de Berranger (FN. 1), S. 294. M. Fromont (FN. 186), S. 144; P Gaia (FN. 7), S. 258 ("adaption constitutionelle

s. 118. 361

minimum").

II. Schranken der einfachgesetzlichen Übertragungsgewalt

255

Rechtszustand unangetastee 62 • Art. 88-1 stellt eine programmatische Norm dar, die zwar einen grundsätzlichen nationalen Behauptungswillen wiederspiegelt363 , aber keine zusätzliche Anforderung an Übertragungsakte aufstelle64 . Lediglich Art. 88-4 stellt eine wirkliche Neuerung dar, die allerdings keinen sachlichen Bezug zur Übertragungsthematik besitzt. Zukünftige Integrationsschritte sind daher weiterhin anhand derjenigen Maßstäbe ("conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete nationale", Wahrung.der Grundrechte) zu messen, die vom Conseil Constitutionnel in seiner bisherigen Rechtsprechung entwickelt worden sind365 - mit der absehbaren Folge einer neuerlichen Notwendigkeit von Verfassungsrevisionen bei solchen Vertragsänderungen, filr die nach diesen Maßstäben die einfachgesetzliche Übertragungsgewalt nicht ausreicht. Der französische verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich also gegen eine grundsätzliche Neuordnung des Übertragungsrechts entschieden, wie sie beispielsweise in Deutschland mit der Neufassung des Art. 23 GG vorgenommen worden ise 66 . Die Verfassungsrevision erschöpft sich in einer Reaktion auf die Maastricht I-Entscheidung des Conseil Constitutionnel und geht - abgesehen vom Art. 88-4 - über die bloße Umsetzung der hierin enthaltenen Vorgaben nicht hinaus367 . Die Gelegenheit, ftlr die 1992 bereits projektierten Folgerevisionen des Maastricht-Vertrages bereits eine Art Übertragungsvorrat anzulegen, ist bewußt nicht genutzt worden368 • Es fehlten hierftlr die politischen Mehrheiten: Jeder Versuch, die allgemeine verfassungrechtliche Integrationsermächtigung zu erweitern (also das verfassungsgerichtliche Konzept der Übertragungs362

T de Berranger (FN. 1), S. 87.

363

r

de Berranger (FN. 1), S. 89.

F Luchaire (FN. 318), S. 957 (kein "effetjuridique" ). Nach P Gaia (FN. 7), S. 258 errichtet Art. 88-1 mit seinem Verweis auf die Zusammensetzung der Gemeinschaft aus "Staaten" eine Sperre gegen eine vollständige Föderalisierung der Gemeinschaft zu einem übergeordneten europäischen Staat (mit, wie hinzuzufiigen wäre, einer "Kompetenz-Kompetenz", infolge derer die Mitgliedstaaten ihre Stellung als Herren der Verträge verlieren würden). Wenn dem so wäre, dann hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber hiermit jedoch nur etwas festgeschrieben, was sich ohnehin schon aus dem Verbot von Beeinträchtigungen der "conditions essentielles de l'exercice de Ia souverainete nationale" (das im übrigen viel mehr als nur einen europäischen Staat mit den genannten Merkmalen untersagt) ergibt. Das prätorisehe System der Übertragungsschranken ist folglich durch Art. 88-1 in keinem Fall verschärft worden. 364

365 C. Grewe (FN. 319), S. 418; F Luchaire (FN. 318), S. 959 f.; J Rideau (FN. 194 ), S. 118. 366 Die Frage, ob sich das Grundgesetz durch Art. 23 n. F. tatsächlich weiter gegenüber der europäischen Integration geöffnet hat, kann hier dahinstehen.

367

P Gaia (FN. 7), S. 258.

Kritisch hierzu J Rideau (FN. 194), S. 118; Gaia (FN. 7), S. 259. 368

r

de Berranger (FN. 1), S. 112; P

256

2. Kap.: Conseil Constitutionnel/ B. Inhalt der Übertragungskontrolle

sehranken im Wege der Verfassungsänderung auszudehnen), hätte das gesamte Maastricht-Projekt dem politischen Risiko des Scheiteros ausgesetzt und hat daher unterbleiben müssen369 • Die Zustimmung zum Unionsvertrag ist nur um den Preis zu gewinnen gewesen, daß der einfachgesetzliche Übertragungsspielraum im übrigen auf seinen bisherigen Umfang begrenzt bleibt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber behält damit die volle Entscheidungsbefugnis über weitere wesentliche Souveränitätseinbußen370 • Die Teilnahme Frankreichs an zukünftigen Vertragsänderungen gravierenden Ausmaßes steht so unter einem hohen politischen Konsenszwang und setzt das Einverständnis der Opposition voraus. Zugleich wird die zentrale Rolle des Conseil Constitutionnel in der französischen Europapolitik·fortgeschrieben. Das Verfassungsgericht kann auch in Zukunft die von ihm entwickelten Grundsätze zum Gradmesser neuer Integrationsprojekte machen und damit steuernd in die Teilnahme Frankreichs am weiteren Gang der europäischen Einigung eingreifen371 • Sein Wort gibt den Ausschlag darüber, wann eine Integrationsvertiefung des breiten Konsenses einer verfassungsändernden Mehrheit bedarf. Die vom verfassungsändernden Gesetzgeber verwandte Revisionstechnik der eng umrissenen Sonderermächtigungen reflektiert eine prinzipielle Vorsicht in bezugauf den Fortgang der europäischen Integration372• Die politische Mehrheit Frankreichs scheut vor einer allzu weitgehenden verfassungsrechtlichen Öffnung gegenüber Europa zurück und vermeidet den Einstieg in einen rechtlich unkontrollierbaren Übertragungsautomatismus. Auf der anderen Seite illustrieren die neuen Buropaartikel überdeutlich, welche Einschnitte der französischen Verfassungsordnung bis zum heutigen Tag bereits beigefugt worden sind. Der neue Titel XIV der Verfassung erhellt in konzentrierter Form, wo überall das übrige System der verfassungsrechtlichen Normierungen durch die Mitgliedschaft Frankreichs in der Gemeinschaft außer Kraft gesetzt und durch ein europäisches System verdrängt ist. In die hergebrachte Ordnung pflanzt er eine Mikro-Ordnung der Integrationsteilnahme ein373 und spaltet so die französische Verfassung in zwei Segmente auf ("Constitution bis"; L.Favoreu): das überlieferte Segment der nationalen Staatlichkeit und ein darüber liegendes Segment der integrierten Staatlichkeit374, das sich mit der Zeit C. Grewe (FN. 319), S. 418. P. Gaia (FN. 7), S. 258. 371 C. Bluman (FN. 271), S. 398. 369

370

372

P. Gaia (FN. 7), S. 258.

P. Gaia (FN. 7), S. 259. Begriff von H. P. lpsen, Diskussionsbeitrag, VVDStrL 50 ( 1991 ), S. 141 f., 142. Näher zum Konzept der integrierten Staatlichkeil M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, Baden -Baden 1997, Kapitel 2, IV. 373

374

III. Schranken der verfassungsändernden Übertragungsgewalt?

257

über ersteres geschoben hat und und sich absehbarerweise, nämlich bei neuen lntegrationsschritten, weiter verdicken wird. So gesehen markiert der französische Revisionsprozeß im Zuge der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages trotz allem den Einschnitt zwischen zwei verschiedenen Verfassungsepochen375 •

111. Schranken der verfassungsändernden Übertragungsgewalt? 1. Der Diskussionsstand in der Literatur

Die Vorstellung eines änderungsresistenten Verfassungskerns ist der traditionellen französischen Doktrin gänzlich fremd376 • Schon die konstitutionelle Einbindung des einfachen Gesetzgebers war vor dem Hintergrund des historischen Ballasts der Theorie der "souverainete de Ia loi" in Frankreich nur in einem mühsamen und langwierigen Umdenkungsprozeß durchzusetzen gewesen. Daß darüber hinaus auch der verfassungsändernde Gesetzgeber Beschränkungen unterliegen könnte, blieb geradezu ein "sujet tabou" 377 • Es war ein "sacrilege d' en evoquer meme l'eventualite"378 • Die Unterscheidung zwischen einem (verfassungsgebenden) pouvoir constituant originaire und einem (verfassungsändernden) pouvoir constituant derive hatte in Frankreich stets nur eine begriffliche, nicht aber eine rechtliche Bedeutung379• Dementsprechend finden sich in den literarischen Publikationen zur Übertragungsproblematik bis zu Beginn der neunziger Jahre, soweit ersichtlich, auch keinerlei Erörterungen zu dieser Frage. Die Literatur schien stets stillschweigend davon auszugehen, daß Souveränitätseinschränkungen auf der Grundlage einer Verfassungsänderung unbegrenzt möglich sind380• Allenfalls wurde dar375 Vgl. P Gaia (FN. 7), S. 259 ("clivage entre 'l'avant Maastricht' et 'l' apres Maastricht"). 376

C. Grewe (FN. 319), S. 422, 425.

377

L. Favoreu, Urteilsanmerkung, RFDC 1992, S. 735 ff., 735; P Gaia (FN. 7), S.

261. 378

L. Favoreu (FN. 377), S. 735.

Vgl. G. Vedel (FN. 301), S. 179. Siehe auch 0. Beaud, La souverainete de !' Etat, le pouvoir constituant et le traite de Maastricht, RFDA 1993, S. I 045 ff., S. 1046, der die fehlende Unterscheidung zwischen "le pouvoir constituant et le pouvoir de revision constitutionnelle" als Kennzeichen der herkömmlichen Doktrin identifiziert. 379

380 Vgl. L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. 154; L. Hamon (FN. 143), S. 205; C. Blumann (FN. 34), S. 601; M Fromont (FN. 65), S. 228; P Gaia (FN. ll), S. 315, die sämtlich implizit die Übertragungsproblematik auf die einfachgesetzliche Ebene reduzieren.

17 Hecker

258

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

über nachgedacht, ob nicht ein durch Verfassungsänderungen bewerkstelligtes weiteres Voranschreiten der Integration irgendwann unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimität problematisch werden könnte381 - nicht aber unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Legalität. Im Zuge der Maastricht-Diskussion ist die Thematik erstmals enttabuisiert worden382 und hat sich eine (von Umfang wie Tiefe her allerdings immer noch recht bescheidene) Kontroverse über mögliche Grenzen der verfassungsändernden Übertragungsgewalt entspannt. Gegenüber dem nahe rückenden Szenarium einer Anpassung der Verfassung an die Souveränitätstransfers des Unionsvertrages blieben die bislang durch die Integrationsgegner benutzten juristischen Waffen stumpf. Nur noch die Proklamation einer unantastbaren "supra-constitutionnalite", eines auch der verfassungsändernden Übertragungsgewalt verschlossenen Kernbestands nationaler Verfassungsidentität, bot ein erfolgsversprechendes Mittel, um gegen die Maastrichter Vereinbarung in rechtlicher Hinsicht Front machen zu können. Der Text der Verfassung der V. Republik enthält einige Stellen, die auf den ersten Blick durchaus in Richtung einer "supraconstitutionnalite" fruchtbar gemacht werden könnten. Zum einen fmden sich in den Art. 89 Abs. 1 - 3 sowie im Art. 7 Abs. 11 Regelungen über das Verfahren der Verfassungsänderung. Die Verfassung erlegt hier dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Pflicht auf, gewisse formelle Regeln einzuhalten. Zum anderen existiert eine Vorschrift (Art. 89 Abs. 4, 5), die auch gewisse materielle Grenzen setzt. Art. 89 Abs. 4, 5 untersagt solche Verfassungsrevisionen, welche die territoriale Integrität Frankreichs beeinträchtigen oder die republikanische Staatsform abschaffen. Unklar ist allerdings, ob der Gewährleistungsumfang von Art. 89 das Prinzip der nationalen Souveränität überhaupt einschließt oder ob die Vorschrift nicht lediglich die Wiedereinfiihrung der Monarchie verbieten will383 • Schon dies hat aus Sicht der Anhänger einer gegen die Integration instrurnentalisierbaren "supraconstitutionnalite" dafiir sprechen müssen, den Geltungsgrund der änderungsresistenten Verfassungsnormen eher außerhalb des Verfassungstextes

G. Vedel (FN. II ), S. 30 ff. V. a. durch L. Hamon (FN. 25). Ihm folgend N. Catala, Diskussionsbeitrag, in: La Constitution et l'Europe, Paris 1992, S. 218 ff., 227. 381

382

383 In der neueren Literatur finden sich Stimmen, die das Postulat der republikanischen Staatsform nicht nur aus dem Gegensatz zur Monarchie begreifen, sondern einen Einschluß des gesamten "heritage republicaine" erwägen, wozu sie unter anderem die demokratische Ordnung und die Gewaltenteilung zählen; L. Favoreu (FN. 377), S. 738; D. Maus, Sur ' Ia forme republicaine du gouvemement', RFDC 1992, S. 412; J - M. Pontier, La Republique, D 1992, Chr., S. 239 ff. Hiervon könnte - als Ausfluß des Demokratieprinzips - auch das Prinzip der nationalen Souveränität betroffen sein.

III. Schranken der verfassungsändernden Übertragungsgewalt?

259

zu verlegen384• Vor allem aber spricht gegen eine Verengung auf Art. 89, daß hiergegen leicht mit dem Argument zu kontern ist, diese Vorschrift könne gemäß der klassischen französischen Doktrin - ihre eigene Änderung nicht verwehren385 • Die Diskussion konzentriert sich daher auf die Frage, inwieweit die dem Text zugrundeliegenden Grundentscheidungen der Verfassung, inwieweit das Wesen der Verfassung als solches zur Annahme einer "supraconstitutionnalite" zwingt (die dann in Art. 89 einen - allerdings nicht notwendig den einzigen - Ausdruck fmdet und die Interpretation dieser Vorschrift steuert). Nur bei Wahl einer solchermaßen elementaren Argumentationsebene läßt sich dem traditionellen Ansatz begegnen. Die Antragsteller im Maastricht li-Verfahren haben die Existenz absoluter Grenzen der Integrationsteilnahme bejaht: die "ordre constitutionnel est construit autour de l'idee centrale de souverainete nationale" und somit stelle sich die Frage, ,jusqu'ou peuvent aller des revisions de Ia Constitution enterinant des atteintes successives aux 'conditions essentielles d'exercice de Ia souverainete"386• Das Prinzip der nationalen Souveränität wird hier als eine unantastbare Leitentscheidung begriffen, als eine der gesamten Verfassungsordnung immanente387 Schranke, deren Überschreiten die Verfassung gänzlich auflösen würde und die auch filr den verfassungsändernden Übertragungsgesetzgeber verbindlich sei. Ähnliches hat Leo Hamon vor Augen, der davon spricht, "qu'au dessus des dispositions constitutionnelles ecrites, il y a une sorte de super-constitutionnalite a laquelle ni les assemblees, ni les majorites passageres des citoyens ne peuvent porter atteinte, parce que ces dispositions s'imposent a Ia nation"388• Hamon hebt hiermit die abgeleitete Stellung der Gewalten hervor und zieht daraus rechtliche Konsequenzen. Die Nation habe sich eine Verfassung geschaffen, welche ihrerseits bestimmte Gewalten konstituiere; stünde die Verfassung letzteren schrankenlos zur Disposition, dann 384 SoL. Hamon (FN. 25), S. 301, der Art. 89 Abs. 5 bei seinen Thesen beseite ließ. Anders N. Catala (FN. 382), S. 227. 385 So etwa G. Vedel, Diskussionsbeitrag, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 227 in Reaktion auf N. Catala (FN. 382), S. 227. 386 So die Wiedergabe durch das Gericht im 44. Erwägungsgrund - "die Verfassungsordnung baut auf der zentralen Idee der nationalen Souveränität auf'; "bis zu welcher Grenze Verfassungsänderungen zulässig sind, die nach und nach die 'wesentlichen Bedingungen filr die Ausübung der Souveränität' einschränken".

m Wegen dieser Immanenz sprechen die Antragsteller von der "ordre constitutionnel" und nicht vom Text der Verfassung (Art. 89). Sie bewegen sich damit auf der "elementaren Argumentationsebene". 388 FN. 25, S. 301 -"oberhalb der ausdrücklich niedergelegten Verfassungsvorschriften existiert eine Art Supra-Konstitutionalität, in die weder von den Volksvertretungen, noch von momentan gebildeten Mehrheiten der Bürger eingegriffen werden darf, denn über diese Normen verfUgt [nur] die Nation". 17•

260

2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

würde dies zu Übergriffen in das Entscheidungsreservat der Nation fiihren. Interessant an dem Satz Harnans ist, daß die konstitutionelle Einbindung der Verfassungsänderung nicht nur an das Parlament, sondern auch an das Volk selbst adressiert wird, soweit es im Wege des Referendums entscheidet ("majorites passageres des citoyens"). In dieser Rolle wird es also gleich dem Parlament als ein Verfassungsorgan begriffen, das wie dieses unterhalb der Verfassung steht. Nur als "nation" (und nicht durch beliebigen Volksentscheid) könne es, so die Suggestion Hamons, in völliger Bindungsfreiheit eine Grundentscheidung über die Form der politischen Existenz treffen - dies stößt in die Nähe genau derjenigen rechtlichen Abgrenzung der Verfassungsänderung von der Verfassungsgebung vor, die der traditionellen Doktrin stets fremd geblieben ist. Hamon hat später präzisiert, daß die von ihm postulierte "supraconstitutionnalite" neben den Grundrechten auch das Prinzip der nationalen Souveränität umfasse389 • Eine Begründung hierfitr hat er freilich nicht geliefert, so wie auch der zuvor zitierte Satz von ihm inhaltlich nicht weiter vertieft worden ist. Wie die meisten Beiträge laufen Harnans Ausfiihrungen eher auf die Abgabe eines Glaubensbekenntnisses als auf eine wirklich systematische Erörterung der Problematik hinaus - ein deutlicher Beleg dafiir, daß die Diskussion über das Stadium grober Positionsmarkierungen noch kaum hinausgekommen ist. Zur dogmatischen Grundierung bedarf die These der "supraconstitutionnalite" des Prinzips der Souveränität vor allem zweierlei: zum einen der klaren theoretischen Herausarbeitung eines materiellen Verfassungsbegriffs im Sinne Carl Schmitts; zum anderen des Nachweises, daß sich im Frankreich der V.Republik eine Art konstitutioneller Paradigmenwechsel vollzogen hat, der die Abkehr von der traditionellen Doktrin (also die Hinwendung zu einem materiellen Verfassungsbegrift) zwingend nahelegt Zum ersten Punkt liegt ein vielbeachteter Beitrag von Olivier Beaud vor. Beaud kommt auf der Grundlage einer anspruchsvollen staatstheoretischen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die Unantastbarkeit der nationalen Souveränität ein unabdingbares Essentialie der Verfassung sei und daß der Abschluß des Unionsvertrages einen Akt der Verfassungsgebung - statt der Verfassungsänderung - darstelle, der ausschließlich in einem plebiszitären Akt vom Volk ausgehen könne390• Beaud nimmt also nicht nur prinzipiell die Existenz materieller Grenzen der Revisionsgewalt an, sondern er sieht die konkret in Frage stehende Zustimmung Frankreichs zum Maastricht-Vertrag auch als einen Schritt an, der über diese Grenzen hinausgeht. 389

L. Hamon, Diskussionsbeitrag, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 221

ff., 222.

390 0. Beaud (FN. 379), v. a. S. 1061 ff. Interessant bei ihm die häufigen Bezugnahmen auf den Aufsatz von D. Murswiek, Maastricht und der Pouvoir constituant, Der Staat 32 (1993), S. 161 ff.

Ill. Schranken der verfassungsändernden Übertragungsgewalt?

261

Zum Punkt des konstitutionellen Paradigmenwechsels stammt der wohl beachtlichste Beitrag von Louis Favoreu391 . Favoreu schließt sich im Ergebnis der These der "supraconstitutionnalite" zwar nicht an392, zeigt aber auf, daß sich durch die neuere Praxis häufiger Verfassungsänderungen ("banalisation de Ja revision constitutionnelle"), die Etablierung jurisdiktioneUer Verfassungskontrolle in der V. Republik und die seit dem 2. Weltkrieg erfolgte Herausbildung eines transnationalen europäischen Verfassungskanons ("serie de principes communs a I' ordre constitutionnel des divers pays europeen"), welcher von materiellen Grenzen der Verfassungsänderung ausgeht, die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, auf denen die traditionelle Doktrin aufbaut, aufzuweichen beginnen393 . Alles in allem belegen diese Ansätze, so bemerkenswert sie fiir französische Verhältnisse auch sind, letztlich aber nicht mehr, als daß in die Frage nach den Grenzen der Verfassungsänderung ein Stück Bewegung gekommen ist. Faßt man die gesamte Breite der Literatur ins Auge, so ist von einem durchgehenden Bruch mit der traditionellen Doktrin noch nichts zu spüren. Die Anzahl entsprechender Vorstöße ist immer noch vergleichsweise spärlich394, viele Aspekte der Thematik - insbesondere die Frage nach der konkreten Reichweite der Änderungsresistenz etwaiger "suprakonstitutioneller" Verfassungsprinzipien395 - sind bislang weitgehend unausgeleuchtet geblieben. Die These der "supraconstitutionnalite" kann noch lange nicht fiir sich beanspruchen, die herrschende Rechtsauffassung wiederzugeben, allenfalls bildet sie ein mögliches zukünftiges Entwicklungsszenarium ab396. Angesichts der in Frankreich historisch tief verwurzelten Phobie vor einem "gouvemement des juges" ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, daß ein Umschwung, ein Übertritt zu dem von Favoreu aufgezeigten "gemeineuropäischen Verfassungskanon" kurz bevorsteht. Georges Vedel gibt den massiven Vorbehalten der weiterhin vorherrschenden Auffassung Ausdruck, wenn er eine "supraconstitutionnalite'' als Gefahrdung des "equilibre democratique" einstuft und meint, daß sie

L. Favoreu, Souverainete et supraconstitutionnalite, Pouvoirs 67 (1993), S. 71 ff. L. Favoreu (FN. 391), S. 77. 393 L. Favoreu (FN. 391), S. 72 ff. 391

392

394 Vgl. außer den Genannten noch S. Rials, Supraconstitutionnalite et systematricite du droit, Archives de philosophie du droit 31 ( 1986), S. 57 ff.; S. Arne, Existe-t-il des normes supraconstitutionnelles ? RDP 1993, S. 459 ff. sowie den Bericht von M Hubert über die französich-italienische Rechtstagung in Reims vom 7. - 10. 10. 1993 in RIDC 1994, S. 243 ff. 395 Vor allem die Frage, wo genau die absoluten Grenzen fiir Eingriffe in das Prinzip der natiomilen Prinzip liegen. 396

C. Grewe (FN. 319), S. 426.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

mangels einer präzisen objektiven Bestimmbarkeit zwangsläufig durch den Subjektivismus letztlich minderlegitimierter Richter ausgeftlllt würde397 • Für das französische Staatsrecht, das unter dem Einfluß der politischen Philosophie Rousseaus filr die demokratietheoretischen Implikationen einer bis in die letzte Konsequenz vorangetriebenen Nonnativität der Verfassung weit sensibler ist als das deutsche, ist die Vorstellung einer Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers (die automatisch mit seiner Kontrolle durch das Verfassungsgericht in Verbindung gebracht wird) auch weiterhin stark suspekt.

2. Die Stellungnahme des Conseil Constitutionnel in der Maastricht II-Entscheidung

Auch der Conseil Constitutionnel hat auf die im Maastricht li-Verfahren an ihn herangetragene Frage nach möglichen Grenzen der verfassungsändernden Übertragungsgewalt keine Antwort gegeben, die von den Beftirwortern der "supraconstitutionnalite" als Bestätigung ihrer Position hätte aufgefaßt werden können. Eine direkte Aussage hierzu ist von ihm schon deshalb nicht zu erwarten gewesen, weil die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Erlasses der neuen Europa-Artikel gar nicht den Gegenstand des Verfahrens gebildet hat. Verfahrensgegenstand ist lediglich die Frage nach der Übereinstimmung des Unionsvertrages mit den Vorschriften der - nunmehr geänderten - Verfassung gewesen. Dies hat das Gericht den Antragstellern im 45.Erwägungsgrund unmittelbar auf ihre Frage nach möglichen "limites d'une adequation de Ia Constitution a Ia construction europeenne" gemünzt - auch entgegengehalten: "l'article 54 de Ia Constitution...donne uniquement competence au Conseil constitutionnel pour contröler si un engagement international...comporte ou non une clause Contraire a la Constitution; ..Ia question posee ...ne vise nullerneut le point de savoir si le traite...comporte une stipulation qui serait contraire a Ia Constitution; ...I' argumentation en cause est par suite inoperante'm8 • Zur direkten Klärung der von den Antragstellern aufgeworfenen Frage wäre es erforderlich gewesen, das verfassungsändernde Gesetz selbst nach Art. 61 der Verfassung (und zwar vor seiner Verkündung) dem Gericht vorzulegen. Da dies 397 G. Vedel (FN. 301), S. 179; ders. , Souverainete et supraconstitutionnalite, Pouvoirs 67 (1993), S. 79 ff., 81, 87 f. Zustimmend C. Grewe (FN. 319), S. 425. 398 "der Art. 54 der Verfassung [gibt] dem Conseil Constitutionnel ausschließlich die Befugnis zur Prüfung darüber, ob eine bestimmte ihm vorgelegte internationale Verpflichtung eine mit der Verfassung unvereinbare Bestimmung enthält oder nicht; ... die aufgebrachte Frage...zielt in keiner Weise darauf ab zu ermitteln, ob der Vertrag....eine Bestimmung enthält, die mit der Verfassung unvereinbar wäre; ...das fragliche Vorbringen ist demnach unzulässig".

III. Schranken der verfassungsändernden Übertragungsgewalt?

263

nicht geschehen ist, durfte das Gericht sich von vorneherein zur Rechtmäßigkeit der neuen Europa-Artikel gar nicht direkt äußern und hat dem Vorbringen der Antragsteller der Grundsatz der "incontestabilite" in Kraft getretener Gesetze (der erst Recht filr Verfassungsnormen gelten muß) entgegengestanden. Trotz dieser unmittelbaren Absage an eine Kontrolle des neuen Titels XIV der Verfassung399 fmdet sich an einer anderen Stelle der Entscheidung aber doch eine Bemerkung, die filr die hier verfolgte Frage von Interesse ist. Und zwar hat das Gericht im Zusammenhang mit der oben unter II. bereits zitierten Passage über die Wahl der Redaktionstechnik durch den verfassungsändernden Gesetzgeber (zur weiteren Begründung ihrer Zulässigkeit) ausgefilhrt: "le pouvoir constituant est souverain"400 • Dieser Satz ist allerdings mit dem einschränkenden Zusatz versehen: "sous reserve, d'une part, des limitations touchant aux periodes au cours desquelles une revision ne peut pas etre poursuivie, qui resultent des articles 7, 16 et 89, alinea 4 du texte constitutionnel et, d'autre part, du respect des prescriptions du cinquieme alinea de l'article 89 en vertu desquelles 'la forme republicaine du gouvernement ne peut pas faire l'objet d 'une revision"401 . Diese zugleich mit der Bekräftigung der Souveränität des "pouvoir constituant" vorgenommene Wiedergabe der ihm durch die Verfassung gesetzten formellen und materiellen Grenzen kann auf den ersten Blick als Bestätigung der "supraconstitutionnalite"-These gedeutet werden. In jedem Fall ist hieraus zu folgern, daß das Gericht die Kontrolle verfassungsändernder Gesetze - im Falle einer zulässigen Vorlage - fiir die Zukunft nicht grundsätzlich ausschließt402. Aber bei genauerer Betrachtung muß man doch zu dem Schluß gelangen, daß die Bemerkung des Conseil ftir die Annahme wirklich unverrückbarer Grenzen der verfassungsändernden Übertragungsgewalt nicht allzuviel hergibt. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß mit keinem Wort die Frage des Einschlusses des Prinzips der nationalen Souveränität in die materiellen Grenzen des Art. 89 angeschnitten worden ist. Diese Frage muß also weiterhin als gänzlich offen angesehen werden. Vor allem aber ist vom Gericht der eigentliche Kern der Problematik, ob es nämlich dem verfassungsändernden Gesetzgeber möglich wäre, durch Änderung auch des Art. 89 alle konstitutio399 B. Genevois (FN. 340), S. 941; J Rideau (FN. 194), S. 133; L. Favoreu I L. Philip (FN. 120), S. 803; P Gaia (FN. 7), S. 267. 400

19. Erwägungsgrund; ebenso im 34. Erwägungsgrund.

"abgesehen zum einen von den zeitlichen Grenzen filr die Verfassungsänderung, die aus den Artikeln 7, 16 und 89 Absatz 4 folgen, sowie zum anderen von der Verpflichtung aus Art. 89 Absatz 5, wonach die 'republikanische Staatsform nicht zum Gegenstand einer Verfassungsänderung gemacht werden [darf]". 402 B. Genevois (FN. 340), S. 945; P Gaia (FN. 7), S. 267. 401

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

nellen Bindungen abzustreifen, überhaupt nicht berührt worden403 • Das Gericht hat bei Formulierung des zitierten Zusatzes lediglich den Normalfall ins Auge gefaßt, daß eine Verfassungsänderung unter ausdrücklichem Respekt vor den textlichen Vorgaben vorgenommen wird. Zur Konstellation der textdurchbrechenden Revision hat es sich ausgeschwiegen. Dieses Schweigen muß - gerade weil diese Konstellation im Zentrum der literarischen Diskussion steht, die das Gericht vor Augen gehabt hat - eher als Absage an die These der supraconstitutionnalite gewertet werden 404 . Hätte der Conseil anders entscheiden und damit einen fundamentalen Bruch mit der französischen Verfassungstradition vornehmen wollen, so wäre dies von ihm auch unmißverständlich ausgesprochen worden. Da dies nicht geschehen ist, muß davon ausgegangen werden, daß das Gericht auch weiterhin an dieser Tradition festhält Dafiir spricht im übrigen auch, daß der von ihm gewählte Begriff des "pouvoir constituant" gerade keine systematische Unterscheidung von verfassungsgebender und verfassungsändernder Gewalt vornimmt. Und schließlich spricht daflir, daß der Conseil wenige Monate später im Maastricht III-Verfahren die Verfassungskontrolle des (einfachgesetzlichen) Maastricht-Referendums als Eingriff in die Volkssouveränität, der ihm versagt bleiben müsse, abgelehnt hat405 • Die Kontrolle eines verfassungsändernden Aktes ist danach, jedenfalls für den Fall des Volksentscheides, erst Recht nicht möglich. Unter dem Strich steht somit folgendes Ergebnis: Sofern der verfassungsändernde Übertragungsgesetzgeber durch Nichtänderung der Art. 7, 16 und 89 den Willen offenbaren sollte, sich an den vorgegebenen konstitutionellen Rahmen zu halten, würde der Conseil Constitutionnel möglicherweise (außer im Falle eines Referendums) zu einer Kontrolle bereit sein. Dafür, daß von dieser Kontrolle auch die Wahrung des Prinzips der nationalen Souveränität umschlossen würde, liegen allerdings keinerlei Anhaltspunkte vor406 • Daß das Gericht eine Kontrolle auch im Falle einer "rahmendurchbrechenden" Verfassungsänderung, die also eine Übertragungsermächtigung als Ausnahme zu Art. 89 positioniert, durchführen würde, ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand schließlich mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit zu verneinen. Absolute Grenzen der verfassungsändernden Übertragungsgewalt existieren somit in Frankreich bislang nicht.

403

Dies übersieht 0. Beaud (FN. 379), S. 1057.

B. Genevois (FN. 340), S. 940; F Luchaire (FN. 318), S. 1591; J Rideau (FN. 194), S. 134; G. Vedel (FN. 397), S . 86; M. Fromont (FN. 31 ), S. 486. P Gaia (FN. 7), S. 268 schreibt, daß die Frage nach den Grenzen einer verfassungsändernden Übertragung vom Gericht jedenfalls nicht im positiven Sinne beantwortet worden sei. 404

405

Siehe oben unter A., li., 2.

406

P Gaia (FN. 7), S. 267.

IV. Resurne

265

IV. Resurne Die Europajudikatur des Conseil Constitutionnel hat auf einer verhältnismäßig schmalen verfassungstextlichen Grundlage ein erstaunlich differenziertes Konzept einfachgesetzlicher Übertragungsschranken entwickelt. Das Gericht hat seine Jurisdiktionsmöglichkeiten extensiv ausgeschöpft und ist zu einem bedeutenden Faktor der französischen Europapolitik, gleichsam zum "Kontrolleur der Integrationsteilnahme" geworden. Da das europaverfassungsrechtliche "Case Law" des Conseil in der Verfassungsrevision im Jahr 1992 ungeschoren geblieben ist, wird sich hieran auch in naher Zukunft nichts ändern. Der Verfassung - in der Auslegung, die der Conseil ihr gibt - ist so eine Direktionskraft im politischen Prozeß zugewachsen, die vor dreißig Jahren noch unvorstellbar schien. Auch auf dem Gebiet der Rechtsprechung zu Gemeinschaftsakten ist insofern eine Gewichtszunahme der Verfassungsgerichtsbarkeit und damit einhergehend eine Steigerung der Normativität der Verfassung, wie sie allgemein in der V. Republik beobachtet werden kann, zu verzeichnen. Vergegenwärtigt man sich, daß der Conseil·bei seinen Europa-Entscheidungen praktisch ausnahmslos zwischen den Fronten kontroverser politischer Meinungslager manövrieren mußte und entsprechenden taktischen Zwängen ausgesetzt war, so ist dieser Vorgang hier sogar noch bemerkenswerter. Verfolgt man die Europajudikatur von ihrem Beginn an, so lassen sich Veränderungen des Kontrollansatzes beobachten, die von einer Wandelung des verfassungsrechtlichen "Schmerzempfindens" gegenüber dem europäischen Integrationsprozeß zeugen. Wurde zunächst primär der Verlust nationaler Regelungsautonomie als kritisch eingeschätzt, so spiegelt die Maastricht IEntscheidung einen geschärften Blick fur die Verfassungsrelevanz der rechtsstaatlichen Standards im gemeinschaftsinternen Raum wieder. Die in dieser Entscheidung vollzogene Abspaltung der grundrechtliehen Übertragungsschranken dokumentiert, so wenig elaboriert diese bislang auch noch sind, daß sich der lange Zeit unterbelichtete407 Grundsatz der "strukturellen Homogenität" (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) mittlerweile auch im französischen Verfassungsrecht einen Platz verschafft und damit die Monopolstellung der kompetenziellen Problembetrachtung aufgebrochen hat. Die innere Organisation der Gemeinschaft, die bislang nur unter dem Aspekt der Konservierung nationaler Mitbestimmungsmacht von Interesse war (Grenzen der Parlamentarisierung), ist damit aus Sicht der französischen Verfassung in ein qualitativ neues Licht gerückt. Hieran und an der Subdifferenzierung des Souveränitätsgrundsatzes, die zur 407 Kritisch hierzu C. Debbasch, Diskussionsbeitrag, in: La Constitution et I'Europe, Paris 1992, S. 226. Vgl. auch B. de Witte, Droit communautaire et valeurs constitutionnelles nationales, Droits 14 ( 1992), S. 87 ff.

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel I B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Herausbildung neuer Schranken gegenüber Eingriffen in staateninterne Organisationsstrukturen gefilhrt hat, zeigt sich, daß der Conseil Constitutionnel zu einem vielschichtigerem Bewußtsein filr den Variationsreichtum der von Gemeinschaftsseite drohenden Gefahren ftir das nationale Verfassungsgefilge gelangt ist. Das verfassungsgerichtliche Kontrollsystem ist so sukzessive verzweigter geworden, was im übrigen zumindest teilweise (etwa hinsichtlich der Schranken gegenüber Eingriffen in staateninterne Organisationsstrukturen) eine Reaktion auf die Herausbildung neuartiger und die nationale Verfassungsordnung von bis dato unbekannter Seite her belastender Integrationsziele darstellt. Nach wie vor bleibt allerdings das Prinzip der nationalen Souveränität- und zwar genauer seine verbandskompetenziellen und strukturellen Elemente - der bei weitem wichtigste Baustein der gerichtlichen Übertragungsschranken und stellt dieses unverändert das empfindlichste konstitutionelle Integrationshindernis Frankreichs dar408 • Es ist mit der Maastricht I-Entscheidung endgültig klargeworden, daß sachlich bedeutsame Kompetenzenübertragungen in kernhoheitlichen Feldern einfachgesetzlich nicht zu bewerkstelligen sind. Jede substantielle Erweiterung der Gemeinschafts- bzw. Unionsbefugnisse in den Bereichen Inneres, Justiz, Verteidigung oder Äußeres wird daher in Frankreich eine Verfassungsänderung voraussetzen. Entsprechendes gilt ftir substantielle Änderungen der institutionellen Struktur der Gemeinschaft. Auch wenn die Maastricht I-Entscheidung insoweit die stark rigide Position aus der Direktwahl-Entscheidung ein Stück abgemildert hat, wäre jede Vertragsänderung, die dem Parlament über den Bereich minderbedeutsamer Regelungsfelder (3. Stufe) hinausgehende (Allein-) Legislativkompetenzen zugestünde, auch weiterhin einem hohen verfassungsrechtlichen Risiko ausgesetzt. Da die Verfassungsrevision 1992 keinen "Übertragungsvorrat" anlegte, sondern sich strikt auf die Umsetzung der Regeln des Maastrichter Vertrages beschränkte409 , wird filr die derzeit anstehende Fortschreibung dieses Vertrages auf französischer Seite voraussichtlich die einfachgesetzliche Übertragungsgewalt nicht ausreichen, also ein breiter politischer Konsens erforderlich sein. Das einfachgesetzliche Integrationspotential der französischen Verfassung ist hinsichtlich "großer" Vertragsänderungen mittlerweile erschöpft. Sollte die allgemeine verfassungsrechtliche Integrationsermächtigung auch in Zukunft nicht erweitert, sondern weiterhin die Technik der punktuellen Revision verwandt werden, wird die Mikro-Ordnung der integrierten Staatlichkeil in Titel XIV der Verfassung weiter anschwellen.

408 409

T de Berranger (FN. 1), S. 130. P Gaia (FN. 7), S. 259: "tendance a Ia constitutionnalisation d'engagements inter-

nationaux ponctuels".

IV. Resurne

267

Das Souveränitätskonzept des Conseil Constitutionnel ist unverändert dadurch gekennzeichnet, daß es die einfachgesetzliche Aufgabe nationaler Alleingestaltungsmacht, soweit es diese überhaupt zuläßt, zumindest in bedeutsameren Regelungsfeldern (2. Stufe) durch eine mitgliedstaatliche Mitbestimmungsmacht auf Gemeinschaftsebene kompensiert sehen möchte. Hierin liegt der gemeinsame Nenner der verbandskompetenziellen und der strukturellen Elemente dieses Konzeptes. Dahinter steht ein demokratietheoretisches Verständnis, das die Frage eines europäischen Demokratiedefizits unter genau umgekehrten Vorzeichen wie die in Deutschland (bis zur MaastrichtEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts) vorherrschende Sichtweise begreift. Die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel baut auf der Vorstellung auf, Demokratie bedürfe prinzipiell des homogenen Rahmens der französischen Nation410 • Nur in der nationalen Gemeinschaft, so die Räson der Rechtsprechung, sei garantiert, daß der Mehrheitsentscheid bei der überstimmten Minderheit auf formale Akzeptanz stoße - wodurch erst die Mehrheitsherrschaft legitim werde. Jede Verblassung des- nur durch die französische Repräsentanz im möglichst einstimmig agierenden Rat optimal vermittelbaren - nationalen Bezugspunktes der gemeinschaftlichen Regelungsaktivität erscheint dem Gericht daher als demokratisch bedenklich und eine Parlamentarisierung der Gemeinschaft, die diese Bezüge zwangsläufig auflösen würde, als geradezu undemokratisch. Sie würde die französische Nation in einem Gebilde aufgehen lassen, dem die strukturellen Voraussetzungen filr eine legitime, demokratische Herrschaftsausübung fehlen411 • Demokratische Legitimität kann die Gemeinschaft aus Sicht des Conseil nur aus einer engen Anhindung an den nationalstaatlichen Willensbildungsprozeß gewinnen (wobei dieser - wie die europapolitische Aktivierung der Kammern durch den neuen Art. 88-4 belegt - in Frankreich durchaus als optimierungsbedürftig eingeschätzt wird). Stärker als früher läßt das Gericht allerdings mittlerweile zu, daß das System der (nicht nur gründungsmäßigen, sondern permanenten) nationalen Legitimitätsvermittlung der Gemeinschaftsgewalt an einigen Stellen durchbrachen wird (Mehrheitsentscheidung im Rat oder parlamentarische Legislativgewalt auf der dritten Stufe) bzw. mit einigen genuin kommunitären Elementen durchsetzt wird (transnationale Durchmischung der Wählerschaft, parlamentarische Mitentscheidung, Kreation der Kommission etc.). Insoweit ist der Conseil von seinem einstmals puristischen Standpunkt abgerückt und hat inzwischen eine größere Toleranz gegenüber einem "gemischten" Ansatz entwickelt. Darin (wie übrigens auch in der Grundrechtsfrage) kann eine Annäherung an den deutschen Ansatz erblickt werden, der sich seinerseits mit der Maastricht-Entscheidung des X Pretot (FN. 187), S. 62 ff. Vgl. G. Vedel (FN. 11), S. 31 ff., der aus diesem Grund Legitimitätsgrenzen filr den weiteren Integrationsfortschritt sieht. 410 411

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2. Kap.: Conseil Constitutionnel/ B. Inhalt der Übertragungskontrolle

Bundesverfassungsgerichts auf den französischen Ansatz zubewegt hat. Von ferne 412 läßt sich hier eine Konvergenz beider Verfassungsrechtsprechungen ausmachen. In einem scharfen Gegensatz zur immer noch relativ weitgehenden Bindung des einfachen Gesetzgebers steht die uneingeschränkte Übertragungsgewalt des französischen verfassungsändernden Gesetzgebers. Zwar zeigen die vereinzelten literarischen Proklamationen einer "supraconstitutionnalite", daß auch insoweit die Dinge in Bewegung geraten sind und der Versuch, die politischen Handlungsakteure in eine auch fiir verfassungsändernde Mehrheiten unüberwindbare konstitutionelle Bindung zu zwingen, nicht fiir alle Zukunft aussichtslos sein muß. Für einen überschaubaren Zeitraum ist jedoch, wie die Maastricht II-Entscheidung verdeutlicht hat, nicht zu erwarten, daß der Conseil Constitutionnel solche Schranken judizieren wird. In der Bindungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers liegt denn gegenwärtig auch der wohl prägnanteste Unterschied zum deutschen Europaverfassungsrecht, dessen neuer Art. 23 Abs. I S. 3 noch einmal unzweideutig die Existenz absoluter Grenzen der Integration markiert hat. Das französische Verfassungsrecht definiert vorerst noch das Verhältnis zwischen rechtsstaatlichem und politischem Bestandteil der Verfassung nach Carl Schmitt anders als das deutsche Verfassungsrecht, so daß es trotz seiner stärkeren Souveränitätsfixierung rechtlich letztlich mehr Spielraum filr weitere Integrationsakte läßt und die Frage der Integrationsteilnahme stärker dem politischen Prozeß überantwortet. Freilich setzt die französische Souveränitätsdoktrin - und zwar je stärker sie auf einfachgesetzlicher Ebene entfaltet wird, desto mehr- sehr wirksame politisch-ideologische Sperren gegenüber einer allzu extensiven Ausschöpfung dieses SpielraÜms; demgegen412 Im einzelnen sind die Unterschiede immer noch beträchtlich. Die Intensität der Grundrechtsbindung des Übertragungsaktes ist in Deutschland weiterhin merklich höher. Auf der anderen Seite ist die Forderung des Bundesverfassungsgericht nach Anhindung der Gemeinschaftsgewalt an die nationalen Legitimitätskanäle nicht in dem permanenten Sinne zu verstehen, der fiir den französischen Ansatz charakteristisch ist. Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert Mehrheitsentscheidungen ohne erkennbare Einschränkungen (BVerfGE 89, S. 155 ff., 183 - Maastricht) und verzichtet damit auf ständige legitimatorische "Nachschübe" aus dem nationalen Raum, wie sie der Conseil Constitutionnel mit seiner Forderung nach einstimmiger Beschlußfassung (oberhalb der "dritten Stufe") verlangt. Das Bundesverfassungsgericht läßt als national-demokratische Grundierung der Gemeinschaftsgewalt den Übertragungsakt ausreichen (BVerfGE 89, S. 155 ff., 184 - Maastricht), sofern das in diesem konsentierte Integrationsprogramm hinreichend konkret ist und aus diesem durch die Gemeinschaft nicht ausgeschert wird (was notfalls national kontrollierbar sein soll). Für den Conseil Constitutionnel sind hingegen die Präzision des vertraglichen Integrationsprogramms und die Penibilität seiner Einhaltung nicht im gleichen Maße vital; die nationale Vetomacht im einstimmig agierenden Rat bietet ausreichend Schutz gegen unzumutbare Eingriffe in nationale Verfassungspositionen.

IV. Resurne

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über ist in Deutschland der politische Wille zum Integrationsfortschritt bislang fast durchgängig stärker und jedenfalls breiter gewesen als in Frankreich. Auf diese Weise gleicht sich der Unterschied zwischen beiden Ländern in der Gewichtsverteilung zwischen Recht und Politik wieder aus.

Gesamtbetrachtung Auf jeder der in dieser Arbeit behandelten Ebenen hat die europäische Integration zu Verfassungsproblemen gefiihrt. Diese Verfassungsprobleme sind je nach Ebene unterschiedlicher Art gewesen. Die einfachen Gerichte wurden durch die Teilnahme Frankreichs am Integrationsprozeß vor das Dilemma gestellt, den Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts nur um den Preis einer Umdefinition ihres hergebrachten Verhältnisses zur gesetzgebenden Gewalt erfilllen zu können. Das neue Gemeinschaftsrecht wies den Gerichten eine Aufgabe zu, zu deren Bewältigung die hergebrachte innerstaatliche Verfassungsordnung ihnen nicht die notwendigen Mittel an die Hand gegeben hatte. Die französische Verfassung erwies sich insofern als organisatorisch inadaptiert. Zur vollen Implementierung der von Frankreich eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen bedurfte es einer Rollenerweiterung der judikativen Gewalt. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde demgegenüber mit der Aufgabe konfrontiert, aus insoweit nur begrenzt operablen verfassungstextlichen Vorgaben praktikable Maßstäbe ftlr die Bedingungen ihrer Kontrolltätigkeit und vor allem die inhaltliche Zulässigkeit neuer Vertragsschlüsse zu schmieden. Das Hauptproblem bestand hier darin, einen gewissen Bestand nationaler Verfassungswerte zu bestimmen, der ftlr weitere Integrationsakte indisponibel ist; daneben ging es (auf Ebene der Kontrollbedingungen) um die Klärung, ob nationale Verfassungswerte notfalls auch gegenüber der gemeinschaftlichen Exekution bereits abgeschlossener Vereinbarungen in Stellung gebracht werden können. Diese Aufgabe war vergleichsweise fundamentaler: hier stand nicht nur die Schließung einer vom Ausmaß her begrenzten organisatorischen Kluft zwischen nationaler und gemeinschaftlicher Ebene in Frage, sondern das prinzipielle Verhältnis zwischen beiden Ebenen. Der Conseil Constitutionnel hatte zu entscheiden, in welchem Ausmaß die nationalstaatliche Ordnung im zusammenwachsenden Europa zu erhalten ist, welches Gewicht die Verfassungsprinzipien der französischen Republik im Rahmen des Integrationsprozesses insgesamt behaupten. Weder der einfachen Gerichtsbarkeit noch dem Verfassungsgericht hatte die Verfassung eine klare Richtschnur ftlr die Bewältigung ihrer jeweiligen Aufgaben vorgegeben. Wie im einzelnen der Konflikt zwischen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der Unantastbarkeit des nationalen Parlamentsgesetzes aufzulösen sein sollte, war ebensowenig vorgezeichnet wie der genaue

Gesamtbetrachtung

271

Umfang des verfassungsrechtlichen Spielraumes zur weiteren lntegrationsvertiefung. In diesem normativen Vakuum, das von den Gerichten zu Beginn vorgefunden wurde, lag eine Gemeinsamkeit, welche die ansonsten unterschiedlich strukturierten Problernlagen der verschiedenen Ebenen überwölbte. Das neuartige Phänomen einer supanationalen Integrationsgemeinschaft hatte die französische Verfassungsordnung auf allen Ebenen weitgehend unvorbereitet getroffen. Die Verfassungsgeber hatten die durch die Teilnahme Frankreichs an einer solchen Gerneinschaft auftretenden Reglernentierungsbedürfuisse nur in groben Umrissen erahnen und somit nur rudimentär (Absatz 14 Präambel 1946, Art. 3, 55 Verfassung 1958) erfilllen können. Automatisch waren daher die Gerichte maßgeblich gefordert1• Das normative Vakuum drängte diese gleichsam in die Rolle von "Ergänzungsverfassungsgebem" hinein. Zwangsläufig mußte diese "Ergänzungsverfassungsgebung" zur Umwälzung oder jedenfalls Variation vorgefundener verfassungsrechtlicher Prinzipien sowie zur Schöpfung gänzlich neuer Prinzipien fUhren. Die verfassungsrechtliche Verarbeitung des neuartigen Phänomens der supranationalen Integrationsgemeinschaft erforderte Modifikationen und Anbauten am herkömmlichen Verfassungsgebäude. Solche Modifikations- bzw. Innovationsprozesse lassen sich denn auch in allen Zweigen der Rechtsprechung nachweisen (Abkehr von der "souverainete de Ia loi", begrenzte Durchbrechung des Prinzips der "incontestabilite", Herausbildung eines differenzierten Systems von Übertragungsschranken). Bemerkenswert an diesen Prozessen ist, daß sich in ihnen allen eine signifikante Stärkung der normativen Kraft der Verfassung reflektiert2 - auch hier liegt eine Gerneinsamkeit der verschiedenen Problernebenen. Das deutlichste Beispiel bot insoweit die lex-posterior-Rechtsprechung der einfachen Gerichte. Die notwendige Ausrichtung der innerstaatlichen Rechtsordnung auf den gemeinschaftsrechtlichen Vorranganspruch wurde hier dadurch bewerkstelligt, daß man die bislang theoretisch gebliebene Direktionswirkung der Verfassung (Art. 55) gegenüber dem Gesetz nun auch praktisch durchsetzte und damit eine konstitutionelle Einbindung der legislativen Gewalt herbeifilhrte. Aber auch in der Entfaltung der Übertragungsschranken sowie in der Eröffnung einer verfassungsgerichtlichen "Not-Kontrollreserve" gegenüber existenten Gemeinschaftsnormen kommt eine Ausweitung der regulativen Rolle der Verfassung zum Ausdruck. Über die Verarbeitung der neuen europäischen Herausforderung ist es so in Frankreich nicht nur zu Einschnitten in den überlieferten Bestand an Verfassungsprinzipien, sondern zugleich auch zu einer Stärkung des nationalen Konstitutionalismus gekommen. Der Integrationsprozeß trieb die Gerichte dazu, 1

P Gaia (FN. 7), S. 246.

2

P Gaia (FN. 7), S. 265 spricht von einer "constitutionnalisation du droit".

272

Gesamtbetrachtung

mehr als bisher das Steuerungspotential der eigenen Verfassung zu erschließen; je weiter der lntegrationsprozeß voranschritt, desto mehr. Eine wichtige Rahmenbedingung hierbei bildete allerdings der allgemeine Ausbau der Verfassungsstaatlichkeil in der V. Republik. Die Europajudikatur des Conseil Constitutionnel konnte von dem Selbstbewußtsein profitieren, welches das Gericht auf den übrigen Feldern seiner Rechtsprechung gewonnen hatte. Und der Aufschwung der Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt mußte wiederum auf die Rechtsprechung der einfachen Gerichte abstrahlen, denen die Emanzipation von der legislativen Gewalt dadurch erleichtert worden ist, daß auf einer übergeordneten Ebene eine Umdefinition des hergebrachten Verhältnisses zwischen der - noch dazu günstigere "Rahmendaten" offerierenden - Verfassung und dem Gesetz vollzogen wurde. Die durch die Integrationsteilnahme stimulierte Neujustierung und in deren Folge: Konsolidierung der französischen Verfassungsordnung vollzog sich insofern in einer sehr komplexen Entwicklung, die nicht nur durch den europäischen Adaptionsdruck, sondern auch durch rein nationale Faktoren beeinflußt worden ise. Ein Hauptcharakteristikum dieser Entwicklung besteht darin, daß sie mit der Zeit zu einer Verlagerung der konstitutionellen Integrationsresistenz von der "Infiltrations"- auf die "Entwicklungsebene" gefiihrt hat. Auf der "Infiltrationsebene" bestand zunächst mit der Doktrin der "souverainete de Ia loi" ein äußerst gravierendes lntegrationshemmnis, das mit den Entscheidungen "Jacques Vabre" und "Nicolo" (sowie der letzterer vorangehenden "Abmilderungsjudikatur") schließlich aber etappenweise abgebaut wurde. Sieht man von der (bisher nie zu Verwerfungszwecken genutzten) "Not-Kontrollreserve" des Conseil Constitutionnel ab, ist der Vorrang des nach Frankreich einfließenden Gemeinschaftsrechts heute abgesichert. Auf der "Entwicklungsebene" hat die Integrationsresistenz demgegenüber immer mehr zugenommen. Die Übertragungsjudikatur des Conseil Constitutionnel hat seit 1970 ein beständig dichter gewordenes Kontrollnetz geknüpft und 1992 mit dem Maastricht-Vertrag erstmals, wenn auch erwartungsgemäß, einen Integrationsakt als verfassungswidrig eingestuft. Während die etablierte Gemeinschaftsgewalt von den Gerichten mittlerweile akzeptiert wird, die Verfassung also insoweit den europäischen Erfordernissen allmählich angepaßt worden ist, haben sich gegenüber einer Vertiefung des Integrationsprozesses immer deutlichere und verzweigtere Widerstandslinien herausgeschält. Zu dieser Zunahme der Integrationsresistenz auf der "Entwicklungsebene" ist allerdings anzumerken, daß sie weniger auf einer Verstärkung des nationalen Verteidigungsimpulses beruht (dieser hat sich, wie die Abmilderung des Parlamentarisiserungsverbots und die begrenzte Zulassung von Mehrheitsentscheidungen zeigen, sogar leicht abgeschwächt). Ursächlich hierfür ist vielmehr der ständig vorangetriebene 3

P Gaia (FN. 7), S. 264.

Gesamtbetrachtung

273

Fortschritt des Integrationsprozesses selbst, der immer näher und an immer mehr Stellen an die verfassungsrechtlichen Ermächtigungsgrenzen vorgestoßen ist. Die Besonderheit der Integrationsresistenzen auf der "Entwicklungsebene" liegt darin, daß sie auf einer ausdifferenziertereD nationalen Gefahrenprognose beruhen. Jeder der verschiedenen Übertragungsschranken liegt eine speziell auf die Gemeinschaft abgestimmte Definition zu konservierender nationaler Verfassungswerte zugrunde. Das Infiltrationshemmnis der Doktrin der "souverainete de Ia loi" hatte demgegenüber keine in diesem Sinne gemeinschaftsspezifische Stoßrichtung. Der Vorrang einer Gemeinschaftsnorm wurde von dieser Doktrin nicht deswegen in Frage gestellt, weil diese Norm wegen ihres Inhalts mit einer nationalen Verfassungsnorm kollidiert, sondern weil ihre Anwendung das innerstaatliche Institutionengefuge umzuschichten gedroht hätte. Die "Semoules"-Rechtsprechung des Conseil d'Etat belegte lediglich, daß die französische Rechtsordnung in organisatorischer Hinsicht noch Anpassungsdefizite aufwies. Sie beförderte ein gewissermaßen zufälliges Integrationshindernis zutage, dessen Auftritt von dem - eben zufälligen - Umstand abhing, ob eine Gemeinschaftsnorm vor oder nach Erlaß eines nationalen Gesetzes in Kraft trat. In den vom Conseil Constitutionnel entwickelten Übertragungsschranken kommt dagegen ein spezifisch nationaler Verteidigungsimpuls zum Ausdruck. Sie wenden sich gegen bestimmte Integrationsinha/te, wenn und soweit diese einen Eingriff in die nationale Identität darstellen; die Gemeinschaft soll Normen eines bestimmten Inhalts generell nicht erlassen dürfen (Bezeichnenderweise besitzt auch die "Not-Kontrollreserve" des Conseil Constitutionnel einen solchen inhaltlichen Ansatz; sie zielt anders als die "Semoules"-Rechtsprechung nur gegen inhaltlich bestimmte Gemeinschaftsnormen). Mit der Verlagerung der konstitutionellen Integrationsresistenz auf die Entwicklungsebene ist insofern eine zielgenauere Geltendmachung der nationalen Abwehrinteressen verbunden. Die Verfassung greift nur noch dann ein, wenn wegen des Inhalts einer Gemeinschaftsnorm die nationale Verfassungsidentität auch wirklich betroffen ist. Die Konflikte zwischen nationaler und europäischer Ebene werden so auf eine sehr viel konzentriertere Weise gelöst. Hinzu kommt, daß die nationalen Verfassungsvorbehalte - wegen des präventiven Zuschnitts der Kontrollverfahren - frühzeitig zur Geltung gebracht werden können. Reibungspunkte werden schon im Vorfeld manifest und gelöst, was gleichermaßen im europäischen wie im nationalen Interesse liegt. Die Verlagerung auf die Entwicklungsebene bedeutet damit eine Verfeinerung und Rationalisierung der verfassungsrechtlichen Strategie gegenüber dem Integrationsprozeß. Der heutige Stand der Europarechtsprechung französischer Gerichte dokumentiert einen konstruktiven Umgang mit der europäischen Integration. Die 18 Hecker

274

Gesamtbetrachtung

organisatorische Anpassung der Verfassungsordnung ist durch die "Jacques Vabre"- bzw. die "Nicolo"-Entscheidung inzwischen vollbracht worden und damit die Durchsetzung des konsentierten Integrationsstandes gewährleistet. Was das Ausmaß der Entwicklungsresistenzen betriffi:, so liegt Frankeich hiermit unter dem Strich durchaus auf einer Linie mit vielen anderen Mitgliedstaaten4. Dabei waren die Ausgangsbedingungen filr die Anpassung an die neuartigen Erfordernisse einer supranationalen Integrationsgemeinschaft in Frankreich extrem ungünstig. Die französische Verfassungsordnung war historisch wesentlich durch Dogmen geprägt (nationale Souveränität, Unantastbarkeit des Parlamentsgesetzes), die alles andere als ideale Voraussetzungen filr eine störungsfreie Einfilgung in eine solche Gemeinschaft abgaben. Die Gründung der Gemeinschaft stellte Frankreich vor große verfassungsrechtliche Herausforderungen und zwang es zu schmerzhaften Konzessionen. Zu diesem rechtshistorischen gesellte sich ein in Frankreich stark ausgeprägter politischer "lntegrationsballast" hinzu. Beginnend mit de Gaullewaren (und sind es noch) in der V. Republik breite, zeitweise sogar majoritäre Teile des politischen Spektrums skeptisch gegenüber einer mehr als nur intergouvernementalen Integrationsidee eingestellt. Von den Gerichten, die in Frankreich traditionell in einer teils institutionell (Conseil d'Etat), teils funktionell (Conseil Constitutionnel) vermittelten besonderen Nähe zur politischen Sphäre stehen und deren Akzeptanz stärker als in Deutschland davon abhängt, daß sie Gespür filr den politischen Kontext ihrer Entscheidungstätigkeit aufbringen, konnte dies nicht einfach ignoriert werden. Dies alles erklärt, warum bestimmte Resistenzen (wie die "Semoules"-Doktrin) erst sehr spät aufgelöst oder (wie das Verbot einer Parlamentarisierung der Gemeinschaft) zumindestens abgemildert worden sind. Es erklärt auch, warum im Verlaufe der Rechtsprechung immer wieder ideologische Sträubungen (Verweigerung der supranationalen Vorrangkonstruktion, affrrrnative "Notprüfung" von Gemeinschaftsnormen am Maßstab der nationalen Verfassung) an den Tag gelegt oder ausgesprochen rigide Verbalpositionen eingenommen wurden (Direktwahlentscheidung). Hiermit zollten die Gerichte der eigenen Verfassungstradition ebenso wie politischen Integrationsvorbehalten ihren notwendigen Tribut und balancierten die an sie gerichteten konträren Ansprüche gegeneinander aus. Dies schuf letztlich jedoch Spielräume, um die französische Verfassungsordnung auf Dauer stärker an die Erfordernisse der europäischen Integration heranfilhren zu können.

4 Vgl. zu den europaverfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen anderer Mitgliedstaaten U. Battis I D. Stefanou I D. Th. Tsatsos (FN. 276).

Anhang: Text und Übersetzung der wichtigsten Verfassungsvorschriften 1. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 Art. 3 - Le principe de toute souverainete reside essentiellement dans Ia Nation. Nut corps, nul individu ne peut exercer d'autorite qui n'en emane expressement. Der Ursprung aller Souveränität liegt wesenhaft in der Nation. Keine Gruppe und kein Einzelner darf eine Gewalt ausüben. die nicht ausdrücklich aufsie zurückgeht. Art. 6- La loi est l'expression de Ia volonte generale. ( ...) Das Gesetz ist der Ausdruck der volonte generale. (. ..)

2. Präambel der Verfassung vom 27. Oktober 1946 (Abs. 13) - La Republique fran~aise, fidele a ses traditions, se conforme aux regles du droit public international.( ...) Getreu ihrer Tradition hält sich die französische Republik an die Regeln des Völkerrechts. ( ..) (Abs. 14) - Sous reserve de reciprocite, Ia France consent aux limitations de souverainete necessaires a I' organisation et a Ia defense de Ia paix. Unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit stimmt Frankreich den zur Organisation und zur Bewahrung des Friedens notwendigen Beschränkungen seiner Souveränität zu. (nichtamtliche Numerierung)

3. Verfassung vom 4. Oktober 1958 Preambule - Le peuple francais proclame solenellement son attachement aux Droits de l'Homme et aux principes de Ia souverainete nationale tels qu'ils sont definis par Ia Declaration de 1789, confirmee et completee par le preambule de Ia Constitution de 1946. ( ... ).

18*

276

Anhang: Die wichtigsten Verfassungsvorschriften

Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten und mit den Grundsätzen der nationalen Souveränität, so wie sie in der Erklärung von 1789 niedergelegt und in der Präambel der Verfassung von 1946 bestätigt und ergänzt worden sind. (..) Art. 2 - La France est une Republique indivisible.... Frankreich ist eine unteilbare Republik. ... Art. 3- La souverainete nationale appartient au peuple qui l'exerce par ses repn!sentants et par Ia voie du referendum. Aueune section du peuple ni aucun individu ne peut s'en attribuer l'exercice. Le suffrage peut etre direct ou indirect dans les conditions prevues par Ia Constitution. II est toujours universel, egal et secret. Sont electeurs, dans les conditions determinees par Ia loi, tous les nationaux francais francais majeurs des deux sexes, jouissant de leurs droits civils et politiques.

Die nationale Souveränität liegt beim Volk, das sie durch seine Repräsentanten und durch Volksentscheid ausübt. Kein Teil des Volkes und kein Einzelner darfsich ihre Ausübung anmaßen. Die Wahl kann unter den in der Verfassung vorgesehenen Bedingungen unmittelbar oder mittelbar sein. Sie muß stets allgemein, gleich und geheim sein. Wahlberechtigt sind nach Maßgabe des Gesetzes alle volljährigen französischen Staatsangehörigen beiderlei Geschlechts, die im Besitz ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sind. Art. 11 - Le President de Ia Republique, sur proposition du Gouvernement pendant Ia duree des sessions ou sur proposition conjointe des deux assemblees, publiees au Journal officiel, peut soumettre au referendum tout projet de loi portant sur l'organisation des pouvoirs publics, comportant approbation d'un accord de Communaute ou tendant a autoriser Ia ratification d'un traite qui, sans etre COntraire a Ia Constitution, aurait des incidences sur le fonctionnement des institutions. ( ...)

Der Präsident der Republik kann auf Vorschlag der Regierung während der Sitzungsperioden [des Parlaments} oder auf gemeinsamen Vorschlag beider Kammern, die im Amtsblatt veröffentlich werden, jeden Gesetzentwurf zum Volksentscheid bringen, der die Organisation der öffentlichen Gewalt betrifft, die Billigung eines Abkommens der ffranzösischen} Gemeinschaft beinhaltet oder auf die Ratifizierung eines Vertrages abzielt, der, ohne verfassungswidrig zu sein, Auswirkungen auf das Fuktionieren der Institutionen hätte. (..) Art. 24 - Le Parlement comprend I' Assemblee Nationale et le Senat. ( ...) Le Senat est elu au suffrage indirect. II assure Ia representation des collectivites territoriales de Ia Republique. ( ...)

Das Parlament besteht aus der Nationalversammlung und dem Senat. (..) Der Senat wird in mittelbarer Wahl gewählt. Er gewährleistet die Repräsentation der Gebietskörperschaften der Republik. ( ..)

Anhang: Die wichtigsten Verfassungsvorschriften

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Art. 34 - La loi est votee par le Parlement. La loi fixe !es regles concernant: (... ) - l'assiette, le taux et !es modalites de recouvrement des impositions de toutes natures; le regime d' emission de Ia monnaie. La loi fixe egalerneut !es regles concernant: - le regime electoral des assemblees parlementaires et des assemblees locales; ( ... ) Das Parlament beschließt die Gesetze. Der Regelung durch Gesetz bleiben vorbehalten: (.)

- die Besteuerungsgrundlage, die Steuersätze und das Veranlagungsverfahren von Abgaben aller Art; die Regelung der Ge/demission. Der Regelung durch Gesetz bleibenferner vorbehalten: - das Wahlrecht for die Wahl der beiden Kammern und der lokalen Versammlungen; (.) Art. 52 - Le President de Ia Republique negocie et ratifie !es traites. II est informe de toute negociation tendant a Ia conclusion d'un accord international non soumis a Ia ratification. Der Präsident der Republik fUhrt die Vertragsverhandlungen und ratifiziert die Verträge. Er wird über jede Verhandlung unterrichtet, die auf den Abschluß eines internationalen Abkommens gerichtet ist, das nicht ratifizierungsbedürftig ist. Art. 53 - Les traites de paix, les traites de commerce, les traites ou accords relatifs a l'organisation internationale, ceux qui engagent les finances de !'Etat, ceux qui modifient les dispositions de nature legislative, ceux qui sont relatifs a l'etat des personnes, ceux qui comportent cession, echange ou adjonction de territoire, neu peuvent etre ratifies ou approuves qu'en vertu d'une loi. Jls ne prennent effet qu'apres avoir ete ratifies ou approuves. Nulle session, nul echange, nulle adjonction de territoire n'est valable sans le consentement des populations interesses. Friedensverträge, Handelsverträge, Verträge oder Abkommen über die internationale Ordnung, sowie solche, die Verpflichtungen for die Staatsfinanzen nach sich ziehen, die gesetzliche Bestimmungen ändern, die den Personenstand betreffen oder die Abtretung, den Tausch oder den Erwerb von Gebieten enthalten, können nur kraft eines Gesetzes ratifzziert oder genehmigt werden. Sie werden erst mit der Ratifizierung oder Genehmigung wirksam. Eine Abtretung, ein Tausch oder ein Erwerb von Gebieten ist nur bei Zustimmung der betroffenen Bevölkerung gültig. Art. 54 - Si le Conseil constitutionnel, saisi par le President de Ia Republique, par le Premier Ministre, le President de l'une ou l'autre assemblee ou soixante deputes ou soixante senateurs a declare qu 'un engagement international comporte une clause contraire a Ia Constitution, l'autorisation de le ratifier ou de l'approuver ne peut intervenir qu'apres Ia revision de Ia Constitution.

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Anhang: Die wichtigsten Verfassungsvorschriften

Wenn der vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten einer der beiden Kammern oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Mitgliedern des Senats angerufene Conseil Constitutionnel erklärt hat, daß eine internationale Verpflichtung eine verfassungswidrige Klausel enthält, so kann die Ermächtigung zu deren Ratifizierung oder Genehmigung erst nach einer Verfassungsänderung ergehen. Art. 55 - Les traites ou accords regulierement ratifies ou approuves ont, des Ieur publication, une autorite superieure a celle des lois, sous reserve, pour chaque accord ou traite, de son application par l'autre partie.

Die ordnungsmäßig ratifizierten oder genehmigten Verträge oder Abkommen erlangen mit ihrer Veröffintlichung höhere Rechtskraft als die Gesetze, vorausgesetzt, daß das Abkommen oder der Vertrag auch von der anderen Vertragspartei angewandt wird. Art. 60 - Le Conseil constitutionnel veille dum et en proclame les resultats.

a Ia regularite des operations de referen-

Der Conseil Constitutionnel überwacht die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens bei einem Volksentscheid und gibt dessen Ergebnis bekannt. Art. 61 - Les lois organiques, avant leur promulgation, et les reglements des assemblees parlementaires, avant leurs mise en application, doivent etre soumis au Conseil constitutionnel, qui se prononce sur Ieur conformite a Ia Constitution. Aux memes fins, Ies Iois peuvent etre deferees au Conseil constitutionnel, avant leur promulgation, par Je President de Ia Republique, Je Premier Ministre, Je President de I' Assemblee Nationale, Je President du Senat ou soixante deputes ou soixante senateurs. Dans Je cas prevus aux deux alineas precedents, Je Conseil constitutionnel doit statuer dans Jedelai d'un mois. Toutefois, a Ia demande du Gouvernement, s'il y a urgence, ce delai est ramene a huit jours. Dans ces memes cas, Ia saisie du Conseil constitutionnel suspend Je delai de promulgation.

Die Organgesetze müssen vor ihrer Verkündung und die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern vor ihrer Anwendung dem Conseil Constitutionnel vorgelegt werden, der über ihre Verfassungsmäßigkeit befindet. Zum gleichen Zweck können die Gesetze vor ihrer Verkündung dem Conseil Constitutionnel vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten einer der beiden Kammern oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren vorgelegt werden. In den Fällen der Absätze eins und zwei muß der Conseil Constitutionnel innerhalb eines Monats entscheiden. Auf Verlangen der Regierung wird jedoch diese Frist in dringenden Fällen aufacht Tage verkürzt. In allen Fällen wird durch das Anrufen des Conseil Constitutionnel die Verkündungsfrist ausgesetzt. Art. 62 - Une disposition declaree inconstitutionnelle ne peut etre promulguee ni mise en application. Les decision du Conseil constitutionnel ne sont susceptibles d'aucun recours. Elles s'imposent aux pouvoirs publies et a toutes les autorites administratives et juridictionelIes.

Anhang: Die wichtigsten Verfassungsvorschriften

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Eine for verfassungswidrig erklärte Bestimmung darf nicht verkündet oder angewandt werden. Gegen die Entscheidungen des Conseil Constitutionnel gibt es keine Rechtsmittel. Sie sind for die öffentliche Gewalt sowie alle Behörden und Gerichte verbindlich. Art. 72 - Les collectivites teritoriales de Ia Republique sont les cornrnunes, Ies departements, Ies territoires d'Outre Mer. (... ) Ces collectivites s'administrent Iibrement pardes conseils elus et dans les conditions prevues par Ia Ioi. ( ... )

Gebietskörperschaften der Republik sind die Gemeinden, die Departements und die überseeischen Gebiete. ( ..) Diese Körperschaften verwalten sich selbst durch gewählte Räte und nach Maßgabe der Gesetze. ( ..)

Art. 88-1 - La Republique participe aux Cornrnunautes europeennes et a !'Union europeenne, constituees d'Etats qui ont choisi librement, en vertu des traites qui Ies ont instituees, d'exercer en cornrnun certaines de leurs competences. Die Republik wirkt an den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union mit, die aus Staaten bestehen, die sich kraft der Gründungsverträge freiwillig entschlossen haben, bestimmte ihrer Kompetenzen gemeinsam auszuüben. Art. 88-2 - Sous reserve de reciprocite et selon les modalites prevues par Je Traite sur I'Union europeenne signe Je 7 fevrier 1992, Ia France consent aux transferts de competences necessaires a l'etablissement de l'Union Economique et Monetaire europeenne ainsi qu'a Ia determination des regles relatives au franchissement des frontieres exterieures des Etats membres de Ia Cornrnunaute europeenne. Vorbehaltlich der Gegenseitigkeit und gemäß den Modalitäten des am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrages über die Europäische Union, stimmt Frankreich der Übertragung der notwendigen Kompetenzen zur Schaffung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Fest/egung der Bestimmungen über das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu. Art. 88-3 - Sous reserve de reciprocite et selon les modalites prevues par Je Traite sur !'Union europeenne signe Je 7 fevrier 1992, Je droit devote et d'eligibilite aux elections municipales peut etre accorde aux seuls citoyens de !'Union residant en France. Ces citoyens ne peuvent excercer !es fonctions de maire ou d'adjoint ni participer a Ia designation des electeurs senatoriaux et a l'election des senateurs. Une loi organique votee dans Ies memes termes par les deux assemblees determine les conditions d' application du present article. Vorbehaltlich der Gegenseitigkeit und gemäß den Modalitäten des am 7.Februar 1992 unterzeichneten Vertrages über die Europäische Union, kann das aktive und passive Wahlrecht bei Gemeindewahlen den Unionsbürgern mit Wohnsitz in Frankreich gewährt werden. Diese Bürger dürfen weder das Amt des Bürgermeisters oder eines Beigeordneten innehaben, noch an der Nominierung der Wahlmänner zum Senat oder an der Wahl der Mitglieder des Senats teilnehmen. Das Nähere regelt ein durch beide Kammern in gleicher Fassung beschlossenes Organgesetz

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Anhang: Die wichtigsten Verfassungsvorschriften

Art. 88-4 - Le gouvernement soumet a I' Assemblee et au Senat, des leur transmission au Conseil des Communautes, les propositions d'actes communautaires comportant des dispositions de nature legislative. Pendant les sessions ou en dehors d'elles, des resolutions peuvent etre votees dans le cadre du present article, selon des modalites determinees par le reglement de chaque assemblee. Die Regierung leitet der Nationalversammlung und dem Senat unmittelbar nach deren Übermittlung an den Rat der Gemeinschaften die Vorlagen von Gemeinschaftsregelungen zu, die Bestimmungen mit Gesetzescharakter enthalten. Während oder außerhalb der Sitzungsperioden können Resolutionen im Rahmen dieses Artikels nach den Bestimmungen der Geschäftsordnungen beider Kammern geJaßt werden. Art. 89 - L'initiative de Ia revision de Ia Constitution appartient concurrement au President de Ia Republique sur proposition du Premier Ministre et aux membres du Parlement. Le projet ou Ia proposition de revision doit etre vote par les deux assemblees en termes identiques. La revision est definitive apres avoir ete approuvee par referendum. Toutefois, le projet de revision n'est pas presente au referendum lorsque le President de Ia Republique decide de Ia soumettre au Parlement concoque en Congres; dans ce cas, le projet de revision n'est approuve que s'il reunit Ia majorite des trois cinquiemes des suffrages exprimes. Le bureau du Congres est celui de l 'Assemblee Nationale. Aueune procedure de revision ne peut etre engagee ou poursuivie lorsqu ' il est porte atteinte al'integrite du territoire. La forme republicaine du Gouvernement ne peut faire l'objet d'une revision. Das Antragsrecht for die Verfassungsänderung steht sowohl dem Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Premierministers wie den Mitgliedern des Parlaments zu. Der Ä·nderungsentwurf oder -vorschlag muß von beiden Kammern in gleicher Fassung beschlossen werden. Die Verfassungsänderung wird bei Annahme durch einen Volksentscheid rechtswirksam. Der Ä·nderungsentwurf wird jedoch nicht zum Volksentscheid gebracht, wenn der Präsident der Republik beschließt, ihn dem als Kongreß einberufenen Parlament vorzulegen. In diesem Fall ist der Entwurfnur dann angenommen, wenn eine Mehrheit von drei Fünftein der abgegebenen Stimmenfür ihn stimmt. Das Präsidium des Kongresses ist das der Nationalversammlung. Ein Verfahren zur Verfassungsänderung darf nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden, wenn dadurch die Unversehrtheil des Staatsgebietes verletzt wird. Die republikanische Staatsform kann nicht zum Gegenstand einer Verfassungsänderung gemacht werden.

Entscheidungsregister 1. Europäischer Gerichtshof EuGHE 1964, S. 1219 ff. (RS 90, 91163) EuGHE 1964, S. 1251 ff. (RS 6164) EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE

1970, S. 1125 ff. (RS 11 I 70) 1975, S. 1219 ff. (RS 36175) 1979, S. 2729 ff. (RS 232178) 1980, S. 347 ff. (RS 168178) 1980, S. 501 ff. (RS 68179) 1982, S. 1845 ff. (RS 149179) 1982, S. 3415 ff. (RS 283 I 81) 1983, S. 2011 ff. (RS 90 I 82) 1986, S. 1725 ff. (RS 307184) 1988, S. 4489 ff. (RS 298 I 87) 1991, S. I- 5357 ff. (RS C- 6, 9190)

95 24,45,52,53,63,69,92,98, 206 148 75 95 134 136 137 80 72 137 74 95

l. Conseil Constitutionnel CC v. 11. 8. 1960- No. 60-8 DC CC v. 16. 1. 1962- No. 62- 18 DC CCv. 6.11.1962-No. 62-20DC CC v. 19. 6. 1970- No. 70-39 DC

CC v. 16. 7. 1971 -No. 71-44 DC CC v. 15. 1. 1975- No. 74- 54 DC CC v. 30. 12. 1975- No. 75-60 DC CC v. 8. 11. 1976- No. 76-69 DC CC v. 30. 12. 1976- No. 76-71 DC

132 164 112, 248 104, 108, 109, 116, 119, 121 ff., 132, 136, 139, 147, 150, 151, 154, 156, 159, 161, 162, 164, 167, 176, 179 ff., 203,204,207,209,225, 234 101, 167 28, 57 ff. , 70, 71, 85, 86, 87, 134, 138 118 156 104,108, IIOf., 116, 123ff., 129, 130, 132, 136, 139, 147, 150, 151, 154, 156, 159, 161, 162,163 f., 176,177, 189ff., 216, 218, 221, 225, 229, 231f.,234,245,267

282

Entscheidungsregister

CC v. 20. 7. 1977- No. 77-83 DC CC v. 30. 12. 1977- No. 77-89, 90 DC CC v. CC v. CC v. CC v. CC v.

18. l. 1978- No. 77- 92 DC 27. 7. 1978- No. 78-96 DC 29. 12. 1978- No. 78-99 DC 29. 12. 1978- No. 78- 100 DC 17. 7. 1980- No. 80- 116 DC

CC v. 22. 7. 1980- No. 80- 119 DC CC v. 30. 12. 1980- No. 80- 126 DC CC v. 25. 2. 1982- No. 82- 138 DC CC v. 18. I l. 1982- No. 82- 146 DC CC v. 19. 7. 1983- No. 83- 160 DC CC v. 15. l. 1985- No. 85- 187 DC CC v. 22. 5. 1985- No. 85- 188 DC CC v. 23. 7. 1985- No. 85- 197 DC CC v. 3. 9. 1986 -No. 86-216 DC CC v. 4. 10. 1988- No. 88- 1082- 1117 DC CC v. 23. 7. 1991 -No. 91-293 DC CC v. 25. 7. 1991- No. 91-294 DC CC v. 9. 4. 1992- No. 92-308 DC

CC v. 2. 9. 1992- No. 92-312 DC CC. v. 23. 9. 1992- No. 93-313 DC CC v. 3. 8. 1993- No. 93-324 DC CC v. 13. 8. 1993- No. 93- 325 DC

71 114, 120, 127 ff. , 133, 149, 150, 212 71 102, 140 105, 114, 130/,212 115, 132/,212 111, 147, 154,239,241, 242, 243 67 115, 133/f., 212, 239 218 218 105 102, 140, 141, 142 212,239,241 91 71 71 115, 136/f., 147, 150, 212, 239 106,143,212,239,240,242 22, 104, 105, 106, 109, 120, 139/,149, 151, 155, 158, 159, 161, 163, 177, 210/f., 242 ff., 246, 247, 251, 156, 266 ff. 104, 105, 112, 113, 144 ff., 155,159,160,161, 17~224, 246,250ff.,260, 263ff., 269 106, 112, 155, 246, 265 253/f. 240

3. Conseil d'Etat CE v. 23. 7. 1823- Veuve Murat CE v. 6. 8. 1823 - Corsaire Ia Represaille CE v. 28. 6. 1918- Beyries CE v. 5. 2. 1926- Dame Caracao CE v. 3. 7. 1931 -Kar! et Toto Same CE v. 6. 11. 1936- Arrighi CE v. 3. 7. 1946 - Lotti CE v. 16. 11 . 1956 - Viila CE v. 3. 3. 1961- Gairnant CE v. 19. 6. 1964 - Shell-Berre CE v. 27. l. 1967- Decker

79 79 33 25 79 25,32, 33/f.,35,46, 51, 90 25 79 26 79, 80 80

Entscheidungsregister CE v. 10. 2. 1967- Petitjean CE. v. 1. 3. 1968 - Semoules

CE v. 19. 4. 1968- Heid CE v. 23. 5. 1969- Jammes CE v. 10. 7. 1970- SYNACOMEX CE v. 18. 1. 1974- Minotiers de Ia Champagne CE v. 22. 12. 1978- Cohn-Bendit CE v. 22. 12. 1978- Hautes Graves de Bordeaux CE V. 27. 7. 1979- Spiriteux consommes al'eau CE V. 12. 10. 1979 - V etements et produits artisanaux CE v. 22. 10. 1979- Union democratique du travail CE v. 22. 10. 1979 - Election des representants CE v. 31. I 0. 1980 - Lahache CE v. 13. 5. 1983- Rene Moline CE v. 28. 9. 1984- Protection des animaux CE v. 23. II. 1984 - Roujansky CE v. 7. 12. 1984- Protection de Ia nature CE v. 8. 2. 1985 - Leclerc CE v. 13. 12. 1985 -International Sales CE v. 13. 12. 1985- Zakine CE v. 19. 11. 1986- Smanor CE v. 3. 2. 1989 - Alitalia CE v. 20. 10. 1989- Nicolo CE v. 22. 10. 1989 - Roujansky CE v. 29. 6. 1990 - GISTI CE v. 6. 7. 1990 - Chotelais CE v. 24. 9. 1990 - Boisdet CE v. 28. 2. 1992 - Rothmans CE v. 28. 2. 1992 - Arizona

283 81 27,28,43J.f, 57, 59,61,63, 67,69, 71, 72, 73, 74, 78,81, 83,85,88,89,90,96,274, 275 53 26, 81 82 27, 82 75J.r, 78,82,83,94 77 81 81 64J.f,84 63J.r, 70,84 66, 72 66 77 66, 81,84 77 66 72f, 74,91 78 72, 73f 77 21,27,28, 72, 78, 79,83J.r, 96, 97, 98, 99, 273, 275 91 79 82 93 78 78

4. Cour de Cassation Cass. v. 22.12. 1931 - Sanchez c. Consorts Gozland Cass. v. 19. I . 1933 -Dame veuve Python Cass. v. 3.3. 3. 1953 Cass. v. 22. 10. 1972- Ramel Cass. v. 7. 1. 1972 Cass. v. 24. 5. 1975- Jacques Vabre

32, 35J.f,55

38 25 27 26 27,28,57J.f,65,67,68,69, 70,83,85,96,273, 275

284

Entscheidungsregister 5. Französische Instanzgerichte

Cour d' Appel de Dijon, Entscheidung v. 2. 5. 1933 TA Paris, Entscheidung v. 21. 12. 1977 (Cohn-Bendit) CAA Paris, Entscheidung v. I. 7. 1992 (Dangeville)

38 75 95

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Sachregister Abgestufte Integration 216 Acte-Clair-Doktrin 79 f. Actes de gouvernement 25 Amendement Aurrillac 68 Assemblee pleniere 66 Ausscherende Akte 18, 107, 130, 148, 150 Banque de France 252 ff. Chambre Mixte 57 Cornite Constitutionnel 31, 40, 100, 175 Commissaire du Gouvernement 26 Conseil Constitutionnel - Antragsberechtigte 152 ff. - Antragstrist 154 ff. - Antragsinhalt 156 - Bindungswirkung d. Entscheidungen 87 - Entscheidungsinhalt 162 ff. - Entscheidungsaufbau 159 f. - Grundrechtskontrolle 101 - Kontrolle gern. Art. 54 104 jJ.. -Kontrolle von Vertragsänderungen gern. Art. 61 110 jJ. - Kontrolle von Umsetzungsgesetzen gern. Art. 61 113ff., 147 - Kontrollfreiheit von Referenden 112 f. - Rechtskraft der Entscheidungen 144 ff., 249 - Verfahrensablauf 157 ff. - Stellung I Funktion 31, 41 , 48 f., 71, 84, 100, 150, 274

- Verfahrensarten 101 ff., 151,237 f., 243 - Verfahrensrecht 152 jJ. Conseil d'Etat - Aufbau I Funktion I Stellung 26, 67 f., 83, 96, 274 - Section administrative 26, 52, 247 - Section contentieux 176 "Constitution bis" 256 Demokratiekonzept 267 Doktrin der "souverainete de la loi" 27, 28, 29 jJ.' 271 ff. EGKS - Vertrag 171 Einheitliche Europäische Akte 69, 211 Einnahmenersetzungsbeschluß 107 f., 109,116,119,121 ff., 178ff. EMRK 58, 70 Europäischer Gerichtshof - Grundrechtsschutz 241 ff. - Verwerftmgsmonopol 129 Europäisches Parlament -Befugnisse 221, 229 ff., 266 - Europawahlgesetz 65, 85, 194 - Wahlverfahren 64 ff., 84, 107 f., 116, 123ff., 188ff., 219/ European Communities Act 27, 56 EVG-Projekt 24, 25, 171 ff., 188, 189 Exception d'inconstitutionnalite 33 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 225,266

Sachregister Gemeinschaftsrechtliche Vorrangkonstruktion 28, 53 f., 57, 62, 63, 67, 69,84,89,92 Gesetzesauslegung, völkerrechtskonforme 38,41 Gewaltentrennung 30 Haushaltsänderungsvertrag von 1970 188 ff. futegrationsermächtigung 169 jJ. Integrationsprogramm 268 Kommunalwahlrecht fu.r EG - Bürger 176, 210,212,214, 215 ff., 232, 245, 249, 247 ff., 250 f. Lucxemburger Kamprarniß 198, 208 Ministerrat, Entscheidungsverfahren 208,211,215,223 f., 226 tT., 235, 268 Monismus 23, 24, 38, 110, 117 f. Nationale Legitimitätsvermittlung 196 ti, 205, 208, 229, 234, 267 Ordentliche Gerichtsbarkeit 26, 60 Organgesetz 10 1 Parlament - Kompetenzen 197 f. - Mitwirkung in EU-Angelegenheiten 176, 248 f., 267 - Stellung 42, 46, 50, 98 -Zustimmung zu Verträgen 108 Politik des leeren Stuhls 55 pouvoir constituant 173, 257 ff. Präambel 166 Präventivkontrolle 102, 107, 114, 117ff.

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Prinzip der "incontestabilite" 117jJ., 180,216,271 Prinzip der nationalen Souveränität 99, 121,166JJ., 178JJ. Rangverhältnis Verfassung-Völkerrecht 25,84 Rechtsanwendungsbefehl, 27, 55 f., 97 Referendum 42,112,209,246,264 Reziprozitätsklausel -Art. 55: 41 , 58, 95, 134, 181 - Abs. 14 Präambel1946: 181, 191, 215 Richtlinien, Direktwirkung 28, 74 jJ., 94 Rousseau, politische Theorie 29 ff., 34, 262 Schengener Konvention 239 Senat 190,217ti.,251 Sovereignty ofParliament 28, 56 Staatspräsident, Stellung 42 Suffrage universei direct 190 "Supraconstitutionnalite" 258 ff. Übertragungsschranken - einfachgesetzliche 178 jJ. , 268 - ggü. Eingriffen in interne Organisationsstr\lkturen 214, 232 ti., 236 f., 266 - grundrechtliche 209, 215, 23 7 tl. - kompetenzielle 187, 199 tl., 207, 225 ff., 266 -strukturelle 187, 190, 195 tf., 207, 229 ff., 266 - verfassungsändernde 245, 257JJ., 268 Unteilbarkeit der Republik 168, 193 f., 220,229 Urteilsbegründung 20, 160 f. , 212 Verfassung

300

Sachregister

- ill. Republik: 52 -IV. Republik: 23, 31, 40, 41, 168 -V. Republik: 24, 31,41 ff., 50, 67, 83,91,98,168,265 Verfassungsändenmg -von 1974: 153 - von1992: 153, 176,210,245J.r, 254 ff., 265 - von 1993: 239 Verfassungsgerichtsbarkeit, V. Republik 97, 146 Verfassungskontrolle -von Gesetzen 25, 30, 32J.r, 39,40 - von Verträgen 25, 92, 94, 100- 273 Verfassungsstaatlichkeit 51, 90, 272 Verordnung, Delegation von Verordnungsbefugnissen 33 Vertragskontrolle - älterer Gesetze 26, 27 - der Iex posterior 26 - 100

- untergesetzlicher Normen 26 - Sekundärrecht 129 f. Vertragsverletzungsverfahren 52, 69, 134 Verwaltungsgerichtsbarkeit 26 Visapolitik der EG 176, 212, 223 J.r, 226, 234 f., 245, 249, 249 ff. "Visas" 160 f., 212 Völkerrecht, Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht 54, 70, 94 Vorabentscheidung 28, 76, 77, 79J.r vv~

176, 210,212,215,22JJ.T, 225 f. 236, 245,246, 247, 249 ff., 253

Zusammenarbeit Inneres und Justiz 225, 266