Die Duldung als Verfassungsproblem: Unrechtmäßiger, nicht sanktionierter Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428521784, 9783428121786

Noch immer befinden sich in Deutschland 180.000 ausländische Personen im Status der "Duldung" - mehr als ein D

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Die Duldung als Verfassungsproblem: Unrechtmäßiger, nicht sanktionierter Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428521784, 9783428121786

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PHILIPP-AS MUS RIECKEN

Die Duldung als Verfassungsproblem

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1036

Die Duldung als Verfassungsproblem Unrechtmäßiger, nicht sanktionierter Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland

Von

Philipp-Asmus Riecken

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten ·.2 Pauschal von einer „freiwilligen" Rückkehr in diesen Fällen auszugehen, hieße allerdings die Nachteile, die mit einer Nicht-Verlängerung einer Duldung verbunden sind, auszublenden (Arbeitsverbot, Abschiebung, Verbot der Wiedereinreise, u.U. strafrechtliche Sanktion). Dennoch sind die genannten Programme geeignet, die mit der Rückkehr verbundenen Härten abzumildern. 713 „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden".

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im Gefiige des Ausländerrechts

und Bürgerkriegssituationen jeweils auf extreme Gefahrensituationen begrenzt wurden. 7 1 4

c) Auswirkungen der Traumatisierung von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen Obgleich bis zum Jahr 2000 eine Rückkehr des weitaus größten Teils der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge und - insoweit zeitlich versetzt - auch der Flüchtlinge aus dem K o s o v o 7 1 5 in ihren Heimatstaat erreicht werden konnte, beschäftigen die Folgen dieser Kriege die asyl- und ausländerrechtliche Praxis bis in die Gegenwart. Ein wesentlicher Grund hierfür sind die verheerenden Folgen massenhaft erlittener traumatischer Ereignisse, etwa die Vergewaltigungen oder die Erlebnisse der Ermordung eines nahen Angehörigen, die bei den Betroffenen nicht selten zu schweren pathologischen Schäden führten. Etwa 10.000 der im April 2000 noch in Deutschland befindlichen Bosnier zählten zu den in diesem Sinne schwer traumatisierten Personen. 7 1 6 Hierbei kommt es zu dem Phänomen, dass neben akuten Belastungsstörungen, die unmittelbar i m Anschluss an das durchlittene Ereignis festzustellen sind, auch durch die Traumatisierung bewirkte psychische Störungen auftreten, die sich erst mit einer gewissen Verzögerung, typischerweise innerhalb eines halben Jahres, bemerkbar machen. Die medizinische Traumaforschung in den Vereinigten Staaten hat hierfür in den siebziger Jahren den Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung („PTBS") entwickelt 7 1 7 , der mit einiger Verzögerung auch in die fachlichen Diskurse in Deutschland Einzug f a n d . 7 1 8 Doch erst die Erfahrungen mit den 714 Ausführlich hierzu Saenger, Rechtsstellung [Fn. 667], S. 177 ff.; vgl. in der Rechtsprechung zu 53 Abs. 4 AuslG inbes. BVerwGE 99, S. 324 ff. (= EZAR 043 Nr. 11), sowie zu § 53 Abs. 6 S. 1 und die Sperrwirkung des Satzes 2 die Nachweise oben in Fn. 655. 715 Dies betrifft allerdings nicht die Angehörigen von Minderheiten aus dem Kosovo, zu denen besonders die serbischsprachigen Volkszugehörigen der Roma und die albanischsprachige Volksgruppe der Ashkali zählen und von denen sich im Sommer 2004 zusammengenommen noch etwa 33.000 Personen in Deutschland aufhielten. Vgl. i.E. den Bericht der Migrationsbeauftragten 2005 [Fn. 665], S. 480 ff. Zur Gefahr für Leib und Leben für die Minderheit der Ashkali vgl. z. B. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 15. 11. 2004, InfAuslR 2005, S. 74 ff. 716 Angabe bei Wilhelm Treiber, Flüchtlingstraumatisierung im Schnittfeld zwischen Justiz und Medizin, ZAR 2002, S. 282 in Fn. 1; nach Schätzungen der Süddeutschen Zeitung vom 30. 5. 2000 handelte es sich um etwa 21.000 Personen. 717 Aus dem Englischen übersetzt: Post Traumatic Stress Disorder (PTSD). 718 Dazu instruktiv Reinhard Marx, Humanitäres Bleiberecht für posttraumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, InfAuslR 2000, S. 357 ff. [zit.: Marx, Humanitäres Bleiberecht], sowie ders., Asyl- und Ausländerrecht, 2. Aufl. 2005, S. 515 ff., Rz. 205 ff. Marx verweist dabei auch auf die Kritik gegenüber dem „rein deskripitve[n] System" der PTBS, welche das Phänomen unsachgemäß aus den sozialen, politischen und kulturspezifischen Entstehungs- und Behandlungszusammenhängen löse.

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Kriegsereignissen im ehemaligen Jugoslawien haben auch in der asyl- und ausländerrechtlichen Praxis und Literatur zu einer breiteren Diskussion über dieses Thema geführt. 7 1 9 Typische Symptome von PTBS sind das Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, die zu einem auch körperlich neuerlichen Durchleben des schlimmen Erlebnisses (Flashbacks) sowie zu andauernden Gefühlen des Betäubtseins oder der emotionalen Stumpfheit führen können. Des Weiteren zeigten sich vegetative Übererregungssymptome wie Schlafstörungen oder Angstzustände, Konzentrations- und Erinnerungsstörungen u.ä., die oftmals auch mit Suizidgedanken verbunden sind. Da die Geltendmachung posttraumatischer Belastungsstörungen je nach Einzelfall dem Betroffenen zu einer (Verlängerung der) Duldung oder sogar zu einem Aufenthaltsrecht verhelfen kann, kommt der juristischen Bewertung medizinischpsychologischer Begutachtungen traumatisierter Ausländer oftmals entscheidende Bedeutung z u . 7 2 0 Ein weiterer Schwerpunkt der juristischen Diskussion liegt bei den Maßstäben in Bezug auf die Sachverhaltsaufklärung und Glaubwürdigkeitsprüfung, da ein traumatisierter Flüchtling je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund schwerer kognitiver Störungen Erinnerungslücken zeigen oder fiktive Angaben zur Verdrängung des Traumas machen könne. 7 2 1 Wie gezeigt, hatte die Rechtsprechung eine Rückkehr für Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina unter asyl- und flüchtlingsrechtlichen Gesichtspunkten mit dem Hinweis auf eine inländische Fluchtalternative für zumutbar erachtet. 7 2 2 Auch der medizinische Befund einer posttraumatischen Belastungsstörung begründete für 719 Vgl. neben den bereits zitierten Beiträgen von Marx ferner Andreas Middecke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVB1. 2004, S. 150 ff. [zit.: Middecke, Posttraumatisierte Flüchtlinge]; Wilhelm Treiber, Flüchtlingstraumatisierung im Schnittfeld zwischen Justiz und Medizin, ZAR 2002, S. 282 ff. 720 Hierzu jüngst Hans Jakober, Zur ausländerrechtlichen Beurteilung medizinisch-psychologischer Gutachten traumatisierter Ausländer, ZAR 2005, S. 152 ff., sowie aus medizinischer Sicht Hans Wolfgang Gierlichs u. a., Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht, ZAR 2005, S. 158 ff. 721 Vgl. Wilhelm Treiber, Flüchtlingstraumatisierung im Schnittfeld zischen Justiz und Medizin, ZAR 2002 S. 282 ff. Vgl. demgegenüber etwa OVG NRW, Urt. v. 5. 1. 2005, InfAuslR 2005, S. 167 ff.: Mit Blick auf die Besonderheit der PTBS als ein „innerpsychisches Erleben" komme es entscheidend auf die „Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines inneren Erlebens und der zu Grunde liegenden äußeren Erlebnistatsachen" an. 722 Entsprechend restriktiv ging das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch im Falle der Flüchtlinge aus Serbien-Montenegro vor, von denen der größte Teil aus dem Kosovo stammte. Im Zeitraum vom Januar 2002 bis zum Juni 2004 wurde von knapp 70.000 Fällen lediglich bei 677 Antragstellern das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses festgestellt. Der größte Teil der in Deutschland verbliebenen Personen erhielt über Jahre hinweg eine Duldung. Seit März 2004 wurde die Entscheidung über Asylverfahren von Minderheitsangehörigen aus dem Kosovo aufgrund der erneuten Unruhen wie bereits vor dem Februar 2002 generell ausgesetzt. Vgl. zu allem den Bericht der Migrationsbeauftragten 2005 [Fn. 665], S. 480 ff.

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sich genommen noch kein Abschiebungshindernis. 723 Die ausländerrechtliche Bewertung der Fälle schwerwiegender Traumatisierung konzentrierte sich damit auf die Frage der Reisefähigkeit beziehungsweise der Einwirkungen auf den Gesundheitszustand durch die Abschiebung einerseits und die möglichen Gefahren einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes am Heimatort andererseits, sei es durch die mangelhafte medizinische Behandlung, sei es durch die Gefahren einer Retraumatisierung bei einer Rückkehr an den Ort des Ereignisses, welches der Flüchtling nicht verarbeiten konnte. In der Konsequenz konnte und kann sich aus der posttraumatischen Belastungsstörung sowohl ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis als auch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis ergeben.724 Bis zum Herbst 2000 bildete regelmäßig eine Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG die Grundlage für den Aufenthalt der traumatisierten Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina. Nachdem der Bundesinnenminister auf die problematische aufenthaltsrechtliche Situation der Betroffenen hingewiesen hatte, beendete die Innenministerkonferenz den Zustand unrechtmäßigen Aufenthalts für die Mehrzahl der Betroffenen, indem sie sich auf eine Anordnung auf der Grundlage des § 32 AuslG einigte. Flüchtlinge mit posttraumatischer Belastungsstörung erhielten daraufhin zumindest dann eine Aufenthaltsbefugnis, wenn sie vor dem 15. 12. 1995 eingereist und sich mindestens seit 1.1. 2000 aufgrund ihrer Krankheit in psychotherapeutischer Behandlung befanden. Die übrigen Personen waren ebenso wie traumatisierte Flüchtlinge aus dem Kosovo von der Regelung ausdrücklich ausgenom725

men. Aufgrund der unterschiedlichen Prüfungskompetenzen von Bundesamt und ausführenden Behörden kam es in Fällen, in denen PTBS diagnostiziert wurde, nicht selten zu Problemen im Hinblick auf eine krankheitsbedingte Aussetzung der Abschiebung. 7 2 6 Durch die insoweit ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse war (und ist) die Ausländerbehörde zu einer eigenständigen Prüfung von erheblichen, konkreten Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG 723 So ausdrücklich OVG NW, Beschluss vom 6. 9. 2004, InfAuslR 2004, S. 438 f.; die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration plädiert dagegen für eine Anerkennung als Abschiebungshindernis, in Anlehnung an die Schutzklausel für die Opfer schwerer Vorverfolgung in Art. 1 C Nr. 5 der Genfer Flüchtlingskonvention, vgl. dies., ebd., S. 487 f. 724 Vgl. Middecke, Posttraumatisierte Flüchtlinge [Fn. 719], S. 156 ff. und Marx, Humanitäres Bleiberecht [Fn. 718], S. 358 ff., jeweils auch zu den Konsequenzen einer u.U. eingeschränkten Prüfung durch die Ausländerbehörde aufgrund der ausschließlichen Kompetenz des vormaligen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hinsichtlich der zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse. 725 Beschluss der Konferenz der Innenminister und -Senatoren der Länder vom 23. und 24. November 2000 in Bonn, Ziffer. 7 und 8, abgedruckt in InfAuslR 2001 S. 108. 726 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen den Bericht der Migrationsbeauftragten 2005 [Fn. 665], S. 488 ff.

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(bzw. nunmehr § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG) lediglich dann befugt, wenn der Betreffende kein Asylverfahren durchlaufen hat, oder aber die Krankheit die Abschiebung selbst unmöglich macht und deshalb ein inländisches Abschiebungs- bzw. Vollstreckungshindernis besteht. Da zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse bereits im Verfahren vor dem Bundesamt geprüft worden waren, konnte sich nach Auffassung der Ausländerbehörden eine unmittelbar im Vorfeld der Abschiebung angeforderte medizinische Stellungnahme auf die Frage der (Flug-)Reisetauglichkeit beschränken. Derlei Beschränkungen der medizinischen Begutachtung wurden jedoch von der Bundesärztekammer unter Verweis auf die ethischen Grundsätze ärztlichen Handelns zurückgewiesen. 7 2 7 Gegenwärtig bemüht sich deshalb die Innenministerkonferenz, gemeinsam mit der Bundesärztekammer Leitlinien für den Umfang einer medizinischen Prüfung unmittelbar vor der Abschiebung festzuschreiben.

III. Zusammenfassung und Ergebnis Zwischen 80 und 90 Prozent der Personen, die zu Beginn der neunziger Jahre in der Folge des Bosnienkrieges nach Deutschland gelangten, erhielten den aufenthaltsrechtlichen Status der Duldung. Weit über 200.000 Flüchtlinge aus der Krisenregion hielten sich über einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren folglich unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Zeitweilig befanden sich aus Bosnien und Herzegowina nahezu 300.000 Flüchtlinge in der Bundesrepublik, die aufgrund humanitärer Maßnahmen aufgenommen worden waren. Ihr rechtlicher Status erwies sich in mehrfacher Hinsicht als widersprüchlich: Die Abschiebung war dauerhaft „zeitweise" ausgesetzt, die Betroffenen blieben über den gesamten Zeitraum kraft Gesetzes zur Ausreise verpflichtet (§ 42 Abs. 1 AuslG). Diese gesetzliche Anordnung stand allerdings nur auf dem Papier - für den jeweiligen Duldungszeitraum hatten die Betroffenen eine zwangsweise Beendigung des Aufenthalts nicht zu befürchten. Hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten zum deutschen Arbeitsmarkt waren paradoxerweise bosnische Flüchtlinge im unrechtmäßigen Aufenthalt anfangs aufgrund einer entsprechenden Härtefallbestimmung gegenüber ihren Landsleuten mit Aufenthaltsgenehmigung privilegiert. 7 2 8

727 Hinzu kommt das Problem, dass in Fällen schwerer Gewaltanwendung, beispielsweise von Folter oder Vergewaltigung, eine Vermeidung und Verdrängung der Erinnerung oftmals Bestandteil des Krankheitsbildes des Opfers sind, das einen entsprechenden Sachvortrag erst im unmittelbaren Vorfeld der Abschiebung erklären kann, vgl. ebd., S. 489. 728 Dies änderte sich allerdings im Jahr 1993, vgl. dazu oben S. 213f. Seit dem Frühjahr 1997 wurde neu eingereisten Asylbewerbern und geduldeten Ausländern der Zugang zum Arbeitsmarkt durch eine generelle Weisung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung an die Bundesanstalt für Arbeit absolut versperrt. Eine Lockerung (Sperrfrist von einem Jahr, Vorrangregelung) erfolgte erst im Dezember 2000, vgl. den Bericht der Ausländerbeauftragten 2002 [Fn. 652], S. 82 ff.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im Gefiige des Ausländerrechts

Die Aufnahmebereitschaft, welche die zuständigen Innenminister von Bund und Ländern durch die Abschiebestoppregelungen zum Ausdruck gebracht hatten, begründete für die Betroffenen ein auf Basis von internen Beschlüssen und Weisungen errichtetes subsidiäres Bleiberecht nach § 55 AuslG. Auch wenn die Beschlüsse auf einer gesetzlichen Grundlage des § 54 des Ausländergesetzes fußten, entsprach das Vorgehen, den Aufenthalt von mehreren hunderttausend Personen über Jahre hinweg auf derartige Aussetzungsanordnungen zu stützen, nicht der gesetzgeberischen Intention. Bereits de lege lata wurde damit das Instrument der Duldung überstrapaziert. Die betroffenen Flüchtlinge befanden sich über den Zeitraum der Aufnahme in einem aufenthaltsrechtlichen Zustand, der den für humanitäre Hilfsmaßnahmen maßgeblichen Schutzgedanken relativierte, da ihnen durch die Ausreisepflicht dauerhaft die prekäre rechtliche Stellung vor Augen geführt wurde. Zu Recht weist Helmut Rittstieg darauf hin, dass gerade bei traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlingen die rechtlichen Bedingungen ihres Aufenthalts in Deutschland zu einer zusätzlichen Belastung bis hin zu einer erneuten Traumatisierung, insbesondere durch eine Androhung der Abschiebung, führen können. 7 2 9 Schließlich wurde hierdurch auch unter flüchtlingspolitischen Aspekten die Chance vertan, durch die Anerkennung befristeter Aufenthaltsrechte nach außen sichtbar zu machen, mit welchem hohen politischen Engagement und finanziellen und personellen Aufwand die Bundesrepublik sich der Belange der Flüchtlinge in Deutschland annahm. 7 3 0 Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass eine Anwendung des Rechtsinstitutes der Duldung im Falle der humanitären Aufnahme von Flüchtlingen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. M i t der Bekundung der Bereitschaft zur (vorübergehenden) Aufnahme durch die deutschen Behörden war der Aufenthalt von Verfassungs wegen als rechtmäßig anzusehen. Die Duldung war aus diesem Grund keine geeignete rechtliche Grundlage für den Aufenthalt der Flüchtlinge. Der Rückblick auf die Entwicklung der Duldungsbestimmungen der ersten beiden Ausländergesetze hat darüber hinaus zweierlei vor Augen geführt. Frühzeitig entwickelte sich eine Verwaltungspraxis, die die Duldung als ein flexibles ausländerrechtliches Instrumentarium in „Grenzfällen" einsetzte, in denen 729 Vgl. Helmut Rittstieg, Die Gesetzgebung läuft dem Recht davon: Die Rechtslage der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, InfAuslR 1994, S. 279 ff., 282. Mit Blick auf die Abschiebungsandrohung hat dies auch der Bundesinnenminister festgestellt, vgl. das Zitat bei Marx, Humanitäres Bleiberecht [Fn. 718], S. 357. Ebenso Gierlichs u. a., Grenzen und Möglichkeiten medizinischer Gutachten IFn. 720], S. 163: „deutliche[.j psychische Labilisierung und Verschlechterung des Krankheitsbilds". Ob darin, wie Rittstieg meint, ein Menschenwürdeverstoß vorliegt, sei dahingestellt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Abschiebungsandrohung jedenfalls mit dem Verfassungsprinzip der Freiheit und dem grundrechtlichen Status des ausländischen Flüchtlings nicht vereinbar. 730 Vgl. bereits die Kritik bei Saenger, Rechtsstellung [Fn. 667], S. 175: „aus humanitären Gesichtspunkten unangemessen" und „rechtlich völlig unbefriedigend", sowie Rittstieg, ebd., S. 279 ff.

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die Alternative Aufenthaltsrecht oder Durchsetzung der Ausreisepflicht nicht zur Anwendung gelangen sollte. 7 3 1 Zugleich wurde der provisorische Charakter des Aufenthaltsstatus fortgeschrieben, der für die betreffenden Personen mit einer Aussetzung der Abschiebung verbunden war. Die seit 1965 gesetzlich fixierte Pflicht einer strikten Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung, insbesondere durch die zwingende Rechtsfolge der Abschiebung bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen, wurde durch diese Ausweitung des Anwendungsbereiches der Duldungsbestimmung relativiert. Die „vorübergehende" wurde vielfach zu einer dauerhaften Aussetzung der Abschiebung. Im Bereich der humanitären Aufnahme von Personen, die keinen anerkannten asyl- oder flüchtlingsrechtlichen Status erlangt hatten, fanden diese Kettenduldungen ihr quantitativ wichtigstes Anwendungsfeld. Zwar wurde die aufenthaltsrechtliche Problematik der Duldungsbestimmung frühzeitig erkannt. Doch weder die deutliche Kritik in der juristischen Literatur an der Ausweitung zu einem „Aufenthaltsrecht zweiter Klasse", noch die Bestrebungen des Reformgesetzgebers von 1990, die Duldung auf ihre „eigentliche vollstreckungsrechtliche Funktion" zurückzuführen 7 3 2 , bewirkten eine Abkehr von der Praxis der Kettenduldungen. Obgleich im Ausländergesetz 1990 der Duldungstatbestand präziser gefasst worden war, die Norm nunmehr abschließenden Charakter hatte und die zeitliche Obergrenze dem Grunde nach auf ein Jahr festgesetzt wurde, nutzten die Ausländerbehörden die Vorschrift weiterhin für die Gewähr dauerhaften Aufenthalts. Zum Zweiten lag die Entscheidung über das Recht zum Aufenthalt von Personen, die jenseits der (verfassungs-)gesetzlichen Asyl- und Flüchtlingsanerkennung aus humanitären Gründen aufgenommen wurden, aufgrund der gesetzlichen Systematik der Abschiebungshindernisse und genereller Anordnungen über die Aussetzung der Abschiebung regelmäßig bei den Innenministern des Bundes und der Länder. Die große praktische Bedeutung, welche den Beschlüssen der ständigen Konferenz der Innenminister nicht nur in der Frage der Aussetzung von Abschiebungen in die Herkunftsländer, sondern auch bei der nachfolgenden Klärung des Aufenthaltsstatus vorübergehend aufgenommener Personen zukam, zeigt, dass die Ausländergesetze von 1965 und 1990 diese Entscheidungen zu weiten Teilen in den politischen Raum verlagert hatten. Durch die Notwendigkeit, die Bundeseinheitlichkeit zu wahren, waren die Entscheidungen zudem abhängig von der jeweiligen Bereitschaft der Innenminister, zu einer gemeinsamen Haltung zu gelangen. Gemäß den zuvor entwickelten verfassungsrechtlichen Grenzen des Anwendungsbereiches der Duldung erweist sich diese Verlagerung der Entscheidungshoheit auf die Exekutive insoweit als problematisch, als im Anschluss an die Grundfrage der Aufnahme der Rechtsstatus des weiteren Verbleibes der betroffe731 732

s. hierzu und zu dem Folgenden oben 3. Kap. A.I.4., S. 178 ff. Hierzu siehe oben 3. Kap. B.I.2., S. 195 ff.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

nen Personen in Rede steht. Bestehen gesetzliche Abschiebungshindernisse und ist damit eine Entscheidung für einen weiteren (vorübergehenden) Aufenthalt bereits gefallen, so ist die Frage der rechtlichen Ausgestaltung des Aufenthalts dem politischen Ermessen der Innenminister von Bund und Ländern verfassungsrechtlich entzogen. Das Verfassungsprinzip der Nation tritt durch die i m Gesetz vollzogene Entscheidung für eine Aufnahme hinter dem Verfassungsprinzip der Freiheit zurück, weshalb den betreffenden Ausländern ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, der dann freilich befristet sein und mit einem entsprechenden Widerrufsvorbehalt und weiteren Auflagen versehen werden kann. Im Zuge der nachfolgenden Darstellung der gegenwärtigen Rechtslage gilt es deshalb zum einen danach zu fragen, inwieweit mit Hilfe des neuerlich reformierten Aufenthaltsrechtes das erklärte gesetzgeberische Ziel tatsächlich erreicht werden kann, die Fortschreibung der Duldungspraxis zu verhindern, zum anderen aber auch zu untersuchen, ob das Zuwanderungsgesetz dem grundrechtlichen Status von Ausländern, speziell der Bedeutung des Verfassungsprinzips der Freiheit aufenthaltsrechtlich im Gegensatz zu den Vorgängergesetzen auf adäquate Weise Rechnung trägt.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005 I. Die Entstehung des Zuwanderungsgesetzes Abschaffung der Duldung? Als am 6. August 2004 das neue Zuwanderungsrecht im Bundesgesetzblatt verkündet wurde, fand ein über mehrere Jahre andauernder öffentlich und äußerst kontrovers geführter Diskurs seinen vorläufigen Abschluss. 7 3 3 Diese Debatte kreiste in erster Linie um ein überkommenes Problem: Versteht sich Deutschland in seinem Selbstbild nach eigenem Verständnis als Einwanderungsland? Die über Jahrzehnte hinweg diskutierte Frage, ob und wenn ja, in welchem Umfang dauerhafte Einwanderung nach Deutschland ermöglicht werden sollte, trat unter veränderten Rahmenbedingungen erneut in den Mittelpunkt. Stärker noch als im Zuge der Debatte um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes rührte der erste Schritt einer Aufnahme von Ausländern mit dem Ziel dauerhafter Niederlassung an dem Selbstverständnis der deutschen N a t i o n . 7 3 4

733 Zur Entstehungsgeschichte Günter Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266 ff.; ferner Kurt Kippeis, Das neue deutsche Aufenthaltsrecht für Ausländer im Rahmen des Migrationsrechts der EU, InfAuslR 2005, S. 1 ff., sowie die ausführliche Dokumentation der parlamentarischen Verfahren von Karl-Heinz. Hohm, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsrecht, Stand: Juni 2005, Vor II, S. 32 ff., Rz. 24 ff. [zit.: GK-AufenthaltsrechtJ. 734 Vgl. hierzu das 2. Kapitel unter C.I., S. 99 ff.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

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1. Die Vorarbeiten der Kommissionen I m Sommer des Jahres 2000 hatte der Bundesminister des Innern Schily eine Expertenkommission eingesetzt, die den Auftrag erhielt, ein Gesamtkonzept zur künftigen deutschen Migrations- und Asylpolitik vorzulegen. Die Kommission konstituierte sich im September 2000 unter dem Vorsitz der Bundestagsabgeordneten Rita Süssmuth und dem stellvertretenden Vorsitz von Hans-Jochen Vogel. 735 Nach umfassenden Beratungen legte die „Süssmuth-Kommission" am 4. Juli 2001 ihren Bericht vor, in dem sie unter den Vorzeichen der wirtschaftlichen Globalisierung, einer alternden und insgesamt rückläufigen Bevölkerung und dem trotz hoher Arbeitslosigkeit bestehenden Fachkräftemangel die Empfehlung aussprach, nunmehr eine Zuwanderung nach Deutschland grundsätzlich zuzulassen. 7 3 6 Das vorgeschlagene Zuwanderungssystem richtete sich vorwiegend auf die Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte, sollte jedoch flexibel auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes reagieren können. 7 3 7 Der Bericht enthielt außerdem umfangreiche Reformvorschläge für die Flüchtlings- und Asylrechtsbestimmungen, die unter anderem auf eine Straffung der Asylverfahren, die Stärkung und Bündelung der Rückkehrförderung, aber auch auf die Beseitigung gesetzlicher Schutzlücken etwa in den Fällen nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung gerichtet war e n . 7 3 8 Die Kommission definierte weiter die Integration als zentrale politische Aufgabe, die mit der Zuwanderung untrennbar verbunden sei, und schlug vor, auf Bundes- und Landesebene Integrationsgesetze als Bestandteil einer gesamtstaatlichen Integrationspolitik zu schaffen. 7 3 9 Die insgesamt 21 Mitglieder der Kommission waren Vertreter zahlreicher unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, etwa der Parteien, der Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Kirchen. Zu ihnen zählten beispielsweise der Präsident des Deutschen Städtetages Hajo Hoffmann , der Vizepräsident a.D. des Deutschen Industrie- und Handelstages Frank Niethammer und der stellvertretende Leiter des UNHCR Deutschland Roland Schilling. Als Vertreter der Wissenschaft wurden Kay Hailbronner und Rainer Münz in die Kommission berufen. 736 Zuwanderung gestalten - Integration fördern: Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung" vom 4. Juli 2001, Bezugsstelle: Bundesinnenministerium. Namentlich Günter Renner hat die Qualität des Berichtes hervorgehoben. So seien dort die „Grundlagen und möglichefn] Lösungswege [ . . . ] so umfassend und abgewogen dargestellt, dass kein Reformversuch in diesem Jahrzehnt an dieser erstmaligen Gesamtdokumentation wird vorbeigehen können", in: Welche Zukunft hat Zuwanderung in Deutschland? ZRP 2003, S. 33; vgl. auch ders., Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266. 737 Vgl. die „Leitlinien für die Zuwanderungspolitik" im Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung", S. 82 f., und das Modell einer arbeitsmarktorientierten Zuwanderung S. 83 ff. Der Vorschlag beinhaltete ein ausdifferenziertes System, das von vornherein befristete Zuwanderung sowie daneben ein Auswahlverfahren (Punktesystem) und schließlich die erleichterte Form der Zuwanderung für Spitzenpersonal beinhaltete. Vgl. ebd., S. 123 ff., insbes. S. 138 f. und 159 ff. Vgl. ebd., S. 18 und 199 ff.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

Für das Institut der Duldung stellte der Bericht die Diskrepanz zwischen dem gesetzlichen Leitbild und den realen Gegebenheiten deutlich heraus: „In der Praxis werden Duldungen [ . . . ] in nicht unerheblichem Umfang über Jahre hinweg regelmäßig verlängert, obwohl solche „Kettenduldungen" dem gesetzlichen Leitbild widersprechen. Sie machen die Duldung faktisch zu einem vom Gesetz nicht vorgesehenen „Ersatzaufenthaltsrecht", allerdings unter Ausschluss der mit einem Aufenthaltsrecht verbundenen Erleichterungen und Begünstigungen."740 Die Ursachen für diese Fehlentwicklung sah die Kommission zum einen in dem Regelversagungsgrund nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990: Eine Aufenthaltsgenehmigung war danach in der Regel zu versagen, wenn der Ausländer seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten konnte. 7 4 1 Zum anderen seien aber auch Vollzugsdefizite für die restriktive Praxis verantwortlich. So sei Ausländern vielfach nicht bekannt, dass eine Aufenthaltsbefugnis ausdrücklich beantragt werden müsse; die Ausländerbehörden wiederum träfe keine Verpflichtung, die Betreffenden hierüber zu informieren. Ferner bestehe für die Behörden insoweit eine Motivation, die Duldung ohne nähere Prüfung etwaiger Aufenthaltsrechte regelmäßig zu verlängern, als hierdurch eine Verfestigung des Aufenthalts ausgeschlossen werde. Schließlich trage auch die Ambivalenz des Rechtsinstitutes selbst dazu bei, dass dieses oftmals als Aufenthaltstitel wahrgenommen werde und sein vollstreckungsrechtlicher Charakter in den Hintergrund trete. In der Konsequenz empfahl die Kommission, den Begriff der Duldung durch die Formulierung „Aussetzung der Abschiebung" zu ersetzen, da dieser dem Regelungsinhalt besser entspreche. Es sei zudem ein Mechanismus zu schaffen, welcher die Ausländerbehörden dazu anhalte, bei Ablauf der Duldungsfrist zu prüfen, ob eine Aufenthaltsgenehmigung in Betracht komme. Dies könne erfolgen durch eine Belehrung der Ausländer, welche die Verlängerung der Duldung beantragten, über die gesetzlichen Möglichkeiten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Bei der Entscheidung über die Überführung in eine Aufenthaltsgenehmigung sei auch zu berücksichtigen, dass mit fortschreitender Dauer der Zustand der Duldung unter humanitären Gesichtspunkten zusehends Bedenken begegne. 7 4 2 In Reaktion auf die Arbeit der Süssmuth-Kommission setzte die C D U im November 2000 eine eigene Kommission „Zuwanderung und Integration" unter dem Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller ein, die bereits im April 2001 ihren Abschlussbericht vorlegen konnte. 7 4 3 Obgleich hier die Notwendigkeit, Zuwanderung im nationalen Eigeninteresse zu steuern und zu begrenzen, stärker akzentuiert wurde, ergaben sich in einer Reihe wesentlicher Fragen auch 740 Ebd., S. 165. 741 Hierzu und zu den nachfolgenden Ausführungen s. ebd., S. 165 ff. 742 Vgl. ebd. S. 167 f. 743 Abschlussbericht der Kommission „Zuwanderung und Integration" der CDU Deutschlands, Mai 2001.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

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Übereinstimmungen mit den Empfehlungen der Süssmuth-Kommission. So fanden sich unter Berücksichtigung der Demographieentwicklung und des Fachkräftebedarfs Vorschläge für die Zuwanderung hoch- und höchstqualifizierter Ausländer (für erstere sollte die Auswahl durch ein Punktesystem erfolgen), für die Bündelung und gesetzliche Verankerung von Maßnahmen der Integration oder für die Beschleunigung der Asylverfahren. 7 4 4 Eine Annäherung war besonders im Problemfeld unrechtmäßigen Aufenthalts zu erkennen. Im Falle dauerhafter Abschiebungshindernisse sei das Ziel eine „Verminderung der Diskrepanz zwischen Anerkennung und Duldung" durch die Gewähr von Aufenthaltsrechten. 745 Für Kriegsund Bürgerkriegsflüchtlinge wurde ein „eigenständiger, rechtlich verfestigter Flüchtlingsstatus" nach dem Grundsatz der vorübergehenden Aufnahme vorgeschlagen, „der über die bloße Duldung des Aufenthaltes ohne Aufenthaltsrecht" hinausgehen sollte. Auch die übrigen Parteien legten im gleichen Zeitraum unterschiedliche Zuwanderungs- und Integrationskonzepte v o r . 7 4 6 Grundkonsens bestand lediglich insoweit, als dass nunmehr die Zuwanderungsfrage nur im Kontext anderer gesellschaftlicher Themenbereiche, insbesondere der Bildung und Qualifizierung, der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik beurteilt werden und die Zuwanderung höchstqualifizierter Ausländer ermöglicht bzw. erleichtert werden sollte.

2. Entwicklung bis zum Zuwanderungskompromiss im Sommer 2004 a) Das Zuwande rungs gesetz vom 20. Juni 2002 Nachdem der Bundesinnenminister am 3. August 2001 einen ersten Referentenentwurf vorgelegt hatte, brachten die Fraktionen der Regierungskoalition und die Bundesregierung im November 2001 bzw. Februar 2002 ihren Gesetzesentwurf in 744

Vgl. ebd., S. 63 ff. Dieses und die nachfolgenden Zitate ebd., S. 71. 746 Den Anstoß zu einer breiten Beschäftigung der Parteien mit der Einwanderungsfrage gab die sog. „Green-Card"-Debatte. Eigene Gesetzesentwürfe brachte die FDP-Fraktion in den Bundestag ein (zunächst mit einer Gesamtquote, dann ohne Kontingentierung). Auch die CSU entwickelte zunächst ein eigenständiges Migrationskonzept, in dem im Unterschied zu dem der CDU das Grundrecht auf Asyl und die Garantie des Rechtsweges für den Fall in Frage gestellt wurde, dass eine Beschleunigung der Asylverfahren anders nicht erreicht werden konnte. SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN stellten im Herbst 2000 bzw. Juli 2001 jeweils Konzeptionen mit unterschiedlichen Zuwanderungsmodalitäten vor. Das im Juni 2001 präsentierte Konzept der PDS unterschied sich grundlegend von Vorstellungen der übrigen Parteien, da es die Berücksichtigung eines wirtschaftlichen Eigeninteresses ablehnte. Es trug den Titel: „Offene Grenzen für Menschen in Not - Individuelles Recht auf Einwanderung". Näheres zu alledem siehe den Bericht der Ausländerbeauftragten 2002 [Fn. 652], S. 30 ff. 745

15 Riecken

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

den Bundestag ein. Dieser orientierte sich zu weiten Teilen an dem Bericht der Süssmuth-Kommission, ohne deren Empfehlungen in Gänze zu übernehmen. 7 4 7 Doch vollzog die Koalition darin den von der Kommission nachdrücklich eingeforderten Paradigmenwechsel hin zu einer gesetzlich verankerten Einwanderungsp o l i t i k . 7 4 8 Das vorgelegte Gesetz brach mit der Überzeugung, dass ein genereller Anwerbestopp im nationalen Interesse liege, indem es drei Wege der Zuwanderung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme vorsah: Die Aufenthaltserlaubnis zur Behebung von Engpässen am Arbeitsmarkt (§ 18 AufenthG 2002), die Niederlassungserlaubnis hochqualifizierter Spitzenkräfte der Wirtschaft und Wissenschaft (§ 19 AufenthG 2002) sowie die Aufnahme durch ein nationales Auswahlverfahren (§ 20). Im Gegensatz zum Ausländergesetz von 1990 baute das Zuwanderungsgesetz 2002 nicht auf einem System unterschiedlicher Aufenthaltstitel auf. Es reduzierte deren Anzahl von fünf auf d r e i 7 4 9 und orientierte diese an den jeweiligen Zwecken des Aufenthalts. Neben der Arbeitsmigration kamen namentlich der Aufenthalt zum Zwecke der Ausbildung und des Studiums, des humanitären Schutzes sowie der Aufenthalt aus familiären Gründen in Betracht. Die Verfahren zur Erteilung einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis wurden miteinander verknüpft, indem eine interne Beteiligung der Arbeitsverwaltung vorgesehen wurde. Jeder Aufenthaltstitel sollte zugleich darüber Auskunft geben, ob die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erlaubt i s t . 7 5 0 Die humanitären Aufenthaltstitel wurden neu strukturiert. Flüchtlinge, bei denen ein Abschiebungsverbot im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt (so genanntes „kleines Asyl", vormals in § 51 Abs. 1, 2 Nr. 2, 3 AuslG geregelt), wurden nun den aus Art. 16a Abs. 1 GG Asylberechtigten aufenthaltsrechtlich gleichgestellt. 7 5 1 Für beide Gruppen wurde abweichend von der bisherigen Rechtslage 747 Vgl. den Entwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90 / DIE GRÜNEN vom 8. 11. 2001, BT-Drs. 14/7387 und den im Wortlaut identischen Entwurf der Bundesregierung vom 14. 1. 2002, BT-Drs. 14/7987; zur Übernahme von Positionen der Kommission BT-Drs. 14/7387 S. 59. 748 So Ulrike Davy , Das neue Zuwanderungsrecht: Vom Ausländergesetz zum Aufenthaltsgesetz, ZAR 2002, S. 171 ff., und Günter Renner, Welche Zukunft hat Zuwanderung in Deutschland? ZRP 2003, S. 34 ff. mit weiteren Nachweisen in Fn. 6 auf S. 36. Siehe bereits die im Vorfeld verfassten Beiträge des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Ludwig Georg Braun, Paradigmen Wechsel in der Zuwanderungspolitik wagen, ZAR 2001, S. 197 ff., und von Heinz Putzhammer (Deutscher Gewerkschaftsbund): Für einen Paradigmenwechsel in der Einwanderungs- und Migrationspolitik, ZAR 2001, S. 204 ff. Zum Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums mit Vorbehalten Michael Wollenschläger, Konzeption für eine Zu-/Einwanderungsgesetzgebung für die Bundesrepublik Deutschland, ZRP 2001, S. 459 ff. 749 Die befristete Aufenthaltserlaubnis und die unbefristete Niederlassungserlaubnis beziehen sich auf die eigentliche Migration (§§ 7 und 9 AufenthG 2002/2004); zusätzlich wurde für kurzfristige Aufenthalte das Visum gem. § 6 als eigenständiger Aufenthaltstitel eingeführt. Die Bestimmung wurde in das Zuwanderungsgesetz 2004 übernommen. 150 Vgl. § 4 Abs. 2 S. 2 AufenthG 2002 bzw. 2004, sowie die Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/7387, S. 58 und 64 f.

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ein auf drei Jahre befristetes Aufenthaltsrecht vorgesehen. Dieses wurde anschließend in eine Niederlassungserlaubnis überführt, sofern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Voraussetzungen für Widerruf und Rücknahme geprüft und verneint hat (§§ 25 Abs. 1, 2, 26 Abs. 1, 3 AufenthG 2002). Diese Regelungen wurden später wortgleich in das in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz 2004 über752

nommen. In der Begründung des Gesetzentwurfes wird eine Abkehr von der Praxis „zweitklassiger Aufenthaltstitel" in Form von Kettenduldungen als Zielstellung der Reform gleich mehrfach hervorgehoben. 753 Kernstück sollte dabei in Anlehnung an die Empfehlungen der „Unabhängigen Kommission" die „Abschaffung" der Duldung sein. Beibehalten wurden allerdings die Optionen für die obersten Landesbehörden, die Abschiebung bestimmter Ausländergruppen oder von Ausländern aus bestimmten Staaten allgemein auszusetzen, zudem die zwingende Aussetzung im Einzelfall, sofern die Abschiebung „aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich" sei. Faktisch wurden damit die Regelungen der §§ 54 S. 1 und 55 Abs. 2 AuslG 1990 in § 60 Abs. 11 AufenthG 2002 übernommen. Die dort vorgeschriebene „Bescheinigung" über die Aussetzung war in ihrer aufenthaltsrechtlichen Funktion mit der Duldung identisch. 7 5 4 Drei neu gestaltete Aufenthaltstatbestände zu humanitären Zwecken sollten die Anwendung der „Aussetzung der Abschiebung" begrenzen. 755 Sie finden sich gleichfalls im Zuwanderungsgesetz von 2004 wieder, wurden allerdings mit weiteren Ausschlussklauseln versehen. 7 5 6 § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG 2002/2004 bestimmt, dass bei den vormals in § 53 AuslG 1990, nun in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geregelten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen (Gefahr der Folter etc.) eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden „soll". Die Erlaubnis wird nach Satz 2 jedoch nicht erteilt, wenn die „Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist". 751 Die Süssmuth-Kommission ging von einer Beibehaltung des unbefristeten Aufenthaltsrechts für Asylberechtigte aus und empfahl deshalb eine differenzierte aufenthaltsrechtliche Behandlung, vgl. im Bericht S. 162 ff.; vgl. Davy, Das neue Zuwanderungsrecht [Fn. 748], S. 178: „Radikalisierung" des Vorschlags der Kommission. 752 § 26 Abs. 1 wurde allerdings eingeschränkt, soweit die Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4 und 5 betroffen waren. 753 BT-Drs. 14/7383 S. 60 und 74 (Zitat); vgl. auch S. 85. 754 Vgl. bes. die §§51, 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG 2002. Die Verkündung einer Abschaffung der Duldung veranlasste Hubert Heinold zu der Frage, ob es künftig statt der Dauer-Duldung eine „Dauer-Bescheinigung" und entsprechend anstelle dauerhaft geduldeter Ausländer „Dauer-Bescheinigte" geben werde, vgl. ders., Aufenthaltsrecht, Duldung, „Bescheinigung" und Härtefallregelung - weiter wie gehabt?!, in: Klaus Barwig/Ulrike Davy [Hrsg.], Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit? Konzepte und Grenzen einer Politik der Integration von Einwanderern, 2004, S. 199 ff., 202. 755 Vgl. den Wortlaut von § 60 Abs. 11 S. 3 AufenthG 2002: „ [ . . . ] und dem Ausländer kein Aufenthaltstitel erteilt wird". 756 Näher hierzu unten unter II. 2., S. 237 ff.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

Neben dem Regelanspruch 757 bei Vorliegen gesetzlicher Abschiebungshindernisse „kann" die Ausländerbehörde einen Aufenthaltstitel erteilen, wenn die Ausreise eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers „aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist" (§ 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG 2002 und 2004). Die Tatbestandsmerkmale der rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit der Ausreise bzw. der Abschiebung finden danach also Anwendung sowohl im Zusammenhang mit der Aufenthaltsgenehmigung als auch im Rahmen der Aufenthaltsbeendigung. 7 5 8 Eine Aufenthaltserlaubnis für die „vorübergehende weitere Anwesenheit" aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen sowie bei ,,erhebliche[n] öffentlichein] Interessen" enthielt schließlich § 25 Abs. 4 AufenthG 2002. Der nahezu identische Wortlaut zu § 55 Abs. 3 AuslG 1990 macht deutlich, dass hierdurch die Duldungsfälle kraft Ermessens in den Bereich rechtmäßigen Aufenthalts überführt werden sollen. 7 5 9 Bei den Beratungen des federführenden Innenausschusses des Bundestages, die am 27. Februar 2002 zum Abschluss kamen, brachte die Fraktion der C D U / C S U durch einen umfangreichen Katalog von Änderungsanträgen eine klar ablehnende Haltung gegenüber dem Regierungsentwurf zum Ausdruck. 7 6 0 Im Schwerpunkt richteten sich die Vorschläge gegen die Ermöglichung weiterer Zuwanderung. Die Integrationskraft und -fähigkeit der deutschen Gesellschaft würden, so der Vorwurf, im Entwurf „ v ö l l i g außer Acht gelassen". 7 6 1 Hier zeigte sich, dass sich die Debatte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Anschläge des 11. September 2001 in der Tonlage nochmals verschärft hatte. In den Anträgen forderte die Opposition beispielsweise eine „Streichung der völkerrechtlich nicht gebotenen und zuwanderungspolitisch völlig verfehlten Ausweitung des § 25 Abs. 2 AufenthaltsG sowie des § 60 Abs. 1 AufenthG auf geschlechtsspezifische und nichtstaatliche Verfolgung unter Beibehaltung des Status q u o " 7 6 2 oder eine Beugehaft für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, die ihrer Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten oder bei der Klärung ihrer Identität nicht nachkommen. Bereits zu diesem Zeitpunkt bestand die CDU/CSU-Fraktion auch auf einer 757 Vgl. Ulrich Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2002, S. 140: „Bindung im Regelfall, Ermessen nur in atypischen Fällen". 758 Dies entspricht weitgehend der alten Rechtslage, vgl. für das Ausländergesetz 1990 den Verweis in § 30 Abs. 3 auf § 55 Abs. 2. Die Doppelung der Voraussetzung Unmöglichkeit der Abschiebung bzw. Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen findet sich im geltenden Recht in den §§ 25 Abs. 5 und 60a Abs. 2 AufenthG. 759 Vgl. auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 15/420, S. 79 f. 760 Bericht des Innenausschusses des Bundestages vom 28. 2. 2002, BT-Drs. 14/8414, S. 9 ff. Insgesamt handelte es sich um 91 Änderungsanträge. Auch die Koalitionsfraktionen hatten im Innenausschuss einige Änderungen vorgeschlagen und angenommen, vgl. ebd., S. 8. 761 BT-Drs. 14/8414 S. 9. 762 Ebd., S. 9, unter Punkt 5.2.

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Beibehaltung des Status der Duldung in Form eines neu einzufügenden § 60a AufenthG. 7 6 3 b) Europarechtliche

Implikationen

Im Zeitraum der Entstehung des Zuwanderungsgesetzes nahm auch das „europäische Asylrecht 4 ' erste, konkretere Konturen an. Die neuen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen beeinflussten die normative Gestaltung des reformierten deutschen Ausländerrechts in erheblichem M a ß e 7 6 4 , ein Einfluss, der sich in der öffentlichen Diskussion in Deutschland jedoch nicht niederschlug. Der Maastrichter Vertrag aus dem Jahr 1992 hatte die Asyl- und Einwanderungspolitik als Teil der justiz- und innenpolitischen Fragen noch der dritten Säule innerhalb des „Drei-Säulen-Modells" zugeschrieben. Damit war diese Materie zunächst von den supranationalen Entscheidungsverfahren ausgenommen und dem Bereich intergouvernementaler Zusammenarbeit zugeordnet. M i t dem Vertrag von Amsterdam schufen die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen dafür, die Bereiche Visaund Asylrecht, Einwanderung und Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene zu entwickeln. 7 6 5 Die „Vergemeinschaftung" dieser Rechtsbereiche markierte den ersten Schritt zu einer langfristigen Europäisierung des Asyl- und Einwanderungsrechts, wie sie der Europäische Rat auf der Tagung im finnischen Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 beschlossen hatte. 7 6 6 763

Ebd., S. 25 unter Punkt 44. Zu Recht verwies die Begründung auf das Fortbestehen der Duldung in Form der „Aussetzung der Abschiebung": „Den diesbezüglichen Regelungen soll ein eigener Paragraph gewidmet werden und sie sollen nicht in einem Absatz 11 bei den Regelungen über Abschiebungshindernisse versteckt werden". 764 Vgi_ bereits die Verweise in der Gesetzesbegründung, BT-Drs. 15/420, S. 62, sowie für das Freizügigkeitsgesetz /EU S. 65; ferner Kurt Kippeis, Das neue deutsche Aufenthaltsrecht für Ausländer im Rahmen des Migrationsrechts der EU, InfAuslR 2005, S. 1 ff. Zum Einfluss der Qualifikationsrichtlinie [Fn. 770J auf das Zuwanderungsgesetz 2004 Julia Duchrow, Flüchtlingsrecht und Zuwanderungsgesetz unter Berücksichtigung der sog. Qualifikationsrichtlinie, ZAR 2004, S. 339 ff. [zit.: Duchrow, FlüchtlingsrechtJ. Für die Regelungen der EU-Richtlinie über den Familiennachzug vgl. Günter Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266 ff., 269. Allerdings finden sich im Zuwanderungsgesetz auch Bestimmungen, die in naher Zukunft den europarechtlichen Vorgaben anzupassen sind. Die genannte Richtlinie sieht beispielsweise für den subsidiären Schutzstatus im Gegensatz zu § 26 Abs. 1 2. HS AufenthG eine Mindestdauer des Aufenthaltsrechts von einem Jahr vor (Art. 24 Abs. 2). 763 Zur europäischen Entwicklung seien aus der umfangreichen Literatur beispielhaft genannt die neueren Arbeiten von Ruth Weinzierl, Flüchtlinge: Schutz und Abwehr in der erweiterten EU: Funktionsweise, Folgen und Perspektiven der europäischen Integration, 2005, mit Blick auf die Rolle des Flüchtlingsrechts im Prozess der Osterweiterung, und Bettina Gerber, Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union. Unter besonderer Berücksichtigung der Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, 2004. 7 66 Der Europäische Rat befasste sich in Tampere zum ersten Mal ausschließlich mit der Innen- und Justizpolitik und einigte sich auf die graduelle Einführung eines „Gemeinsamen

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Der schrittweise „Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" erfolgt über eine Anzahl spezieller Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft, die im Titel I V des EG-Vertrages in den Artikeln 61 bis 69 EGV verankert sind und die innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach dem Inkrafttreten des Vertrages am 1. Mai 1999 in Anspruch genommen werden sollten. Neben gemeinsamen Standards für die Kontrollen an den Außengrenzen, dem vollständigen Abbau der internen Grenzkontrollen umfassten sie materielle und verfahrensrechtliche Regelungen für den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen. 767 Bis zum 1. Mai 2004, also noch vor dem Beitritt der zehn ost- und südeuropäischen Staaten zur Europäischen Union, wurde in Umsetzung der primärrechtlichen Vorgaben eine Vielzahl von gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakten beschlossen. Diese erste Stufe der Harmonisierung im Asyl- und Flüchtlingsbereich umfasste größtenteils Richtlinien zu Mindestnormen 1™, weshalb die nationalen Rechtsordnungen im Einzelfall nach wie vor ein unterschiedliches Schutzniveau beibehalten können. 7 6 9 Herausragende Bedeutung hat dabei die Richtlinie über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. „QualifikationsRichtlinie"), die nach mehr als zweieinhalbjährigen Verhandlungen am 29. April 2004 verabschiedet w u r d e 7 7 0 und wesentliche Bestimmungen des materiellen Asyl- und Flüchtlingsrechts enthält. 7 7 1 Bereits unmittelbar in § 24 AufenthaltsEuropäischen Asylsystems", vgl. dazu Ludwig Schmahl, in: Hans von der Groeben/ Jürgen Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Vorbem. Zu den Art. 61 bis 69 EGV, S. 1807 ff. Rz. 19 ff. 767 Vgl. im Einzelnen die Artikel 62 und 63 EGV. 768 Ausnahmen bilden etwa die Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist („Dublin-II-Verordnung"), die am 10. 3. 2003 in Kraft trat, VO(EG) Nr. 343/2003, ABl. L 50/ 1, oder die Entscheidung des Rates über die Errichtung eines Europäischen Flüchtlingsfonds für den Zeitraum 2005-2010 (2004/905/EG), ABl. L 381 /52 vom 28. 12. 2004. 769 Einen detaillierten Überblick über die auf der Grundlage des Titels IV des EG-Vertrages ergangenen Rechtsakte enthält der Bericht der Migrationsbeauftragten 2005 [Fn. 665], S. 511 ff., sowie zu den migrations- und integrationspolitischen Entwicklungen allgemein S. 442 ff.; vgl. auch die Darstellungen bereits im Bericht der Ausländerbeauftragten 2002 [Fn. 652], S. 144 ff. bzw. S. 22 ff. 770 Richtlinie 2004/83/EG, ABl. Nr. L 304/12, vom 30. 9. 2004. Nicht minder bedeutsam wird die Richtlinie über Mindestnormen über das Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sein, Hervorhebung hinzugefügt. Am 29. April 2004 wurde zunächst eine politische Einigung über diese Asylverfahrensrichtlinie erreicht, vgl. den (zweiten) Entwurf vom 9. 11. 2004, ASILE 64 (14203/04). 771 Vgl. hierzu neben dem bereits zitierten Aufsatz von Julia Duchrow, ZAR 2004, S. 339 ff., Harald Meyer/Gisbert Schallenberger, Die EU-Flüchtlingsrichtlinie: Das Ende für das Forum Internum und Abschied von der Zurechnungstheorie? NVwZ 2005, S. 776 ff.; kritisch zu deren Umsetzung im Aufenthaltsgesetz Thomas Groß, Zuwanderung aus humanitä-

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gesetz 2002/2004 umgesetzt wurde die Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle massenhafter Flüchtlingsbewegungen, die unter dem Eindruck der Vertreibungen und Flüchtlingsbewegungen aus dem ehemaligen Jugoslawien zügig verabschiedet werden konnte. 7 7 2 Das Verfahren der Beschlussfassung für Rechtsakte gemäß dem Titel I V des EG-Vertrages war in der Weise ausgestaltet, dass im Zeitraum der Umsetzung der genannten Maßnahmen eine einstimmige Entscheidung des Rates erforderlich war und die Mitwirkung des Europäischen Parlaments sich auf ein bloßes Anhörungsrecht beschränkte. Zudem kam nicht nur der Kommission, sondern auch den Mitgliedstaaten das Initiativrecht für diese Maßnahmen zu, Art. 67 Abs. 1 EGV. Auch nach Ablauf der Fünfjahresfrist am 1. Mai 2004 wird das Prinzip der Einstimmigkeit nur schrittweise nach Maßgabe der Absätze 2 bis 5 des Art. 67 zugunsten des überwiegend anzuwendenden Verfahrens nach Art. 251 EGV abgelöst, in dem es zu einer substantiellen Beteiligung des Europäischen Parlamentes und einer Abstimmung des Rates mit qualifizierter Mehrheit kommt. Der komplexe Verfahrensweg trägt damit noch Züge der ursprünglichen intergouvernementalen Zusammenarbeit. Er beleuchtet die Befindlichkeiten der Mitgliedstaaten i m Hinblick auf den Kompetenzverlust in Feldern, die traditionell zu der Kernmaterie staatlicher Hoheitsausübung zählen. 7 7 3 War demnach für das Zustandekommen der Richtlinien über Mindestnormen im Asyl- und Flüchtlingsrecht ein einstimmiger Beschluss der EU-Innenminister erforderlich, so konnte jeder Mitgliedstaat über das Vetorecht die eigenen Vorstellungen im Rechtssetzungsverfahren geltend machen. Deutschland hat von diesem Vetorecht vielfach Gebrauch gemacht. 7 7 4 In Bezug auf den Aufenthalt zu humanitären Zwecken sah sich der Bundesinnenminister im Rahmen des Vermittlungsverfahrens um das Zuwanderungsgesetz dem hartnäckigen Widerstand der innerstaatlichen Opposition ausgesetzt. Zugleich war er jedoch in der Lage, seine Positionen auf europäischer Ebene in die ren Gründen, ZAR 2005, S. 61 ff. 63 ff.; zum Entwurf bereits Gerold Lehnguth, Erläuterungen zum Vorschlag einer EU-„Anerkennungsrichtlinie", ZAR 2003, S. 305 ff., und Kay Hailbronner, Auswirkungen der Europäisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts auf das deutsche Recht, ZAR 2003, S. 299 ff. 772 Richtlinie über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, RL 2001 /55/EG des Rates, ABl. L 212/12 vom 20. 7. 2001. Zur Motivation durch den Jugoslawienkonflikt vgl. insbes. den dritten Erwägungsgrund. 773 Vgl. Ludwig Schmahl, in: Hans von der Groeben/Jürgen Schwarze, EU-/ EG-Vertrag, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 67 EG, S. 1873 f. Rz. 2; Wolfgang Weiß, in: Rudolf Streinz, EUV/ EGV, Kommentar, 2003, Art. 67 EGV S. 829. Rz. 5. Namentlich Deutschland hatte sich in den Verhandlungen für das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip ausgesprochen, vgl. Weiß, ebd., Rz. 5. 774 Vgl. Harald Meyer/Gisbert Schallenberger, Die EU-Flüchtlingsrichtlinie, NVwZ 2005, S . I I I .

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Verhandlungen um die dann am 29. April 2004 verabschiedete Qualifikationsrichtlinie einzubringen, die letztlich am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts teilnehmen und gegenüber dem bundesdeutschen Gesetzgeber bindende Wirkung entfalten w ü r d e . 7 7 5 In mehreren Punkten, die im Streit um den Zuwanderungskompromiss eine erhebliche Rolle spielten, deckten sich denn auch die Positionen der Bundesregierung mit den auf europäischer Ebene ausgehandelten Vorgaben. Bis zuletzt umstritten war beispielsweise der Wortlaut der Bestimmung über den Abschiebungsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention in § 60 Abs. 1 Aufe n t h G . 7 7 6 Der schließlich gefundene Kompromiss hinsichtlich der nichtstaatlichen Verfolgung in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG wurde dem einschlägigen Artikel 6 der Richtlinie wortgleich entnommen und - ebenfalls richtlinienkonform - für die Fälle eingeschränkt, in denen eine inländische Fluchtalternative existiert. 7 7 7 Auch der Regelanspruch auf einen Aufenthaltstitel für Personen, bei denen aufgrund von rechtlichen Abschiebungshindernissen wie drohende Folter oder einer anderen Gefahr für Leib und Leben die Ausreiseverpflichtung nicht vollzogen werden kann (§ 25 Abs. 3 i.V.m. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, vormals § 53 AuslG 1990), korrespondiert mit dem Aufenthaltsrecht für Personen mit subsidiärem Schutzstatus im Sinne der Qualifikationsrichtlinie (Art. 24 Abs. 2 ) . 7 7 8 Die Opposition hatte dagegen gefordert, das Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 3 AufenthG in das Ermessen der Ausländerbehörde zu stellen. 7 7 9 Die Frage, ob die Duldungsbestimmung wieder in das Zuwanderungsgesetz aufgenommen werden könnte, war demgegenüber nicht durch die Festlegungen der Qualifikationsrichtlinie entschieden. Denn Personen, bei denen zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen, erhalten ohnehin nach § 25 Abs. 3 AufenthG ein Aufenthalts re cht im Sinne des „subsidiären Status" der Richtlinie, so dass sie nicht mehr wie bisher auf die Duldung verwiesen werden können. 7 8 0 775 Siehe hierzu die treffende Analyse bei Kippeis, Das neue deutsche Aufenthaltsrecht [Fn. 764J, S. 1 ff., insbes. S. 6. 77 6 Vgl. Duchrow, Flüchtlingsrecht [Fn. 7641, S. 339. Vgl. noch den Standpunkt der CDU/ CSU-Fraktion im Bericht des Innenausschusses des Bundestages vom 7. 5. 2003, BTDrs. 15/955, S. 14: „Bei nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung besteht keine Schutzlücke. Schutz kann hinreichend auf der Grundlage des § 25 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz gewährt werden.", sowie den Punkt 8 des „Acht-Punkte-Papier", auf das man sich schließlich verständigte: „Im humanitären Flüchtlingsrecht wird die „geschlechtsspezifische Verfolgung" anerkannt.", abgedr. in: ZAR 2004, S. 206. 777

Vgl. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG. Duchrow, Flüchtlingsrecht [Fn. 764J, S. 344. Die Mindestdauer des Aufenthaltstitels für Personen im subsidiären Schutzstatus, die neben den Flüchtlingen am „Internationalen Schutz" der Richtlinie teilhaben, beträgt jedoch im Gegensatz zu § 26 Abs. 1 AufenthG ein Jahr, vgl. Art. 24 Abs. 2. 779 Vgl. die Beschlussempfehlungen der Ausschüsse im Bundesrat, BR-Drs. 22/1/03, S. 25, sowie den Ausschussbericht im Bundestag BT-Drs. 15/955, S. 14. 780 Hierzu im Einzelnen unter II., S. 236ff. Vgl. auch Thomas Groß, Zuwanderung aus humanitären Gründen, ZAR 2005, S. 61 ff., 64. 77 8

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c) Scheitern des Zuwande rungs geseizes 2002 und neuer Anlauf bis zur Verabschiedung im Jahr 2004 Das Schicksal des ersten Zuwanderungsgesetzes ist bekannt: Nach seiner Verabschiedung im Deutschen Bundestag 7 8 1 behandelte der Bundesrat das Gesetz in einer ebenso denkwürdigen wie problematischen Sitzung am 22. März 2002, in welcher der Ministerpräsident und der Innenminister des Landes Brandenburg in ihrer Funktion als Bundesratsmitglieder im Abstimmungsverfahren unterschiedliche Voten abgaben. 7 8 2 Der Bundesratspräsident bewertete das Abstimmungsverhalten gleichwohl als Zustimmung. Das Gesetz wurde daraufhin durch den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau ausgefertigt und am 25. Juni 2002 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. 7 8 3 In der sich anschließenden formellen Überprüfung befand das Bundesverfassungsgericht, dass das Gesetz gegen Art. 78 GG verstoße und deshalb verfassungswidrig zustande gekommen sei, und erklärte es aus diesem Grund für n i c h t i g . 7 8 4 Daraufhin legte die Bundesregierung das Gesetz im Januar 2003 erneut in unveränderter Fassung v o r . 7 8 5 Wiederum brachte auch die Fraktion der C D U / C S U umfangreiche, zum Teil noch weitergehende Änderungsanträge in das Verfahren e i n . 7 8 6 Die Änderungen seien, so die Wiedergabe im Bericht des Innenausschusses vom März 2003, als „conditio sine qua non" zu verstehen, da der Gesetzesentwurf „durchgängig auf offensive Zuwanderung" ausgerichtet und damit inakzeptabel s e i . 7 8 7 Nach dessen Annahme im Bundestag lehnten die unionsgeführten Bundesländer, die nun die klare Mehrheit in der Länderkammer stellten, das Gesetz im Bundesrat Mitte Juni 2003 a b . 7 8 8 M i t der Anrufung des Vermittlungsausschusses durch die Bundesregierung Anfang Juli 20 0 3 7 8 9 begann die eigentliche langwierige und schwierige Suche nach einer Kompromisslösung. Da ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Reformbedürftigkeit des Ausländerrechts vorhanden war, bestand eine öffentliche Erwartungshaltung an alle Parteien, die Verhandlungen zu einem Erfolg zu führen. In 781 Am I.März 2002, BT-Drs. 14/8395 und 14/8414. 782 Vgl. hierzu im Einzelnen Karl-Heinz Η ohm, in: GK-Ausländerrecht [Fn. 27], Stand: Juni 2005, Vor II S. 45 ff., Rz. 58 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur kontroversen verfassungsrechtlichen Bewertung in Rz. 63, sowie die zusammenfassende Wiedergabe in BVerfGE 106, S. 310 ff. 7 *3 BGBl. IS. 1946. 784 Urteil des Zweiten Senats vom 18. 12. 2002, BVerfGE 106, S. 310 ff.; vgl. auch die abweichende Meinung der Richterinnen Osterloh und Lübbe-Woljf, S. 337 ff. 7 *5 BR-Drs. 22/03 und BT-Drs. 15/420. 786 BT-Drs. 15/955, S. 6 ff. Insgesamt handelte es sich um 128 Änderungsanträge. 787

BT-Drs. 15/955 S. 49. Die Annahme im Bundestag in zweiter und dritter Lesung erfolgte am 9. Mai 2003, die Ablehnung im Bundesrat am 20. Juni 2003. 78t -> BT-Drs. 15/1365. 788

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

wiederholten Stellungnahmen mahnten der Bundespräsident, der Bundestagspräsident und gesellschaftliche Interessenvertreter beispielsweise der Wirtschafts- und Wohlfahrtsverbände eine Einigung a n . 7 9 0 A m 26. Mai 2004 hatten sich schließlich die Spitzenvertreter von Regierung und Opposition über einen Kompromiss in Eckpunkten verständigt, der die Grundlage für die Anfang Juli 2004 von Bundestag und Bundesrat verabschiedete Einigung bildete. 7 9 1 Der letztlich ausgehandelte Zuwanderungskompromiss konnte auf eine breite parlamentarische Grundlage gestellt werden: lediglich vier Abgeordnete stimmten gegen die Gesetzesverabschiedung am 1. Juli 2004.

d) Zuwanderungsgesetz und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington hatten den deutschen Gesetzgeber unabhängig von den Bestrebungen zur grundlegenden Reform des Ausländerrechts zu einem umfangreichen Maßnahmenpaket veranlasst, das neben sicherheitsbezogenen Änderungen in einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen auch im Asyl- und Ausländerrecht zahlreiche Neuerungen einführte. 7 9 2 M i t dem Gesetz zur Bekämpfung des Internationalen Terrorismus vom 9. Januar 2002 wurden ein zwingender Versagungsgrund für die Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung, neue Ausweisungstatbestände zur Terrorismusbekämpfung sowie ein Ausschlusstatbestand im Rahmen des Abschiebungsschutzes für Flüchtlinge in Anlehnung an Art. 1 F G K in das Ausländergesetz eingefügt. 7 9 3 Daneben wurden die Anforderungen an Papiere, die von den Ausländerbehörden ausgestellt werden, verschärft 7 9 4 sowie die Möglichkeiten zur Identitätsfeststellung und Datenerfassung erweitert. 7 9 5 790 Ein chronologischer Überblick des politischen Geschehens im Zuge des „Verhandlungsmarathons" findet sich bei Karl Heinz Η ohm, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Vor II, S. 167 ff. Rz. 93 ff. 791 Sog. „Acht-Punkte-Papier", auf das sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Parteivorsitzenden von CDU, CSU und FDP, Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle verständigte. Vertreter der Grünen wurden in dieser Schlussphase nicht mehr in die Kompromissverhandlungen eingebunden; vgl. dazu den Kurzbericht: Politische Einigung über Zuwanderungsgesetz in ZAR 2004, S. 206 f. 792 Vgl. dazu sowie zu den vorbereitenden internationalen Beschlüssen instruktiv Bertold Huber, Die Änderungen des Ausländer- und Asylrechts durch das Terrorismusbekämpfungsrecht, NVwZ 2002, S. 787 ff. 793

§§ 8 Abs. 1 Nr. 5, 46 Nr. 1, 47 Abs. 2 Nr. 4 u. 5, 51 Abs. 3 AuslG. U.a. vorgesehen wird nun eine Zone für das automatische Lesen (Aufenthaltsgenehmigung und Ausweisersatz, §§ 5 Abs. 2 bis 5, 39 Abs. 1 AuslG, Kann-Bestimmung bei Duldungen, § 56a AuslG; jetzt § 78 Abs. 1, 6, 7 AufenthG). 795 § 41 Abs. 4 und 5 AuslG, jetzt § 49 Abs. 6, 7 AufenthG und Änderungen des Ausländerzentralregistergesetzes, insbesondere die Erweiterung der AZR-Visadatei zur Visa^ischeidungs&dte'u § 29 AZRG. 794

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Kritik erhob sich im Hinblick darauf, dass das Gesetz für die neu eingeführten Begriffe einer „Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt' 4 bzw. die Unterstützungshandlung der Person, die ausgewiesen werden soll, keine nähere Definition enthielt, zumal auch ein internationaler Konsens über eine Präzisierung des Terrorismusbegriffs noch aussteht. 7 96 Dennoch wurden die Änderungen schon in den ersten Gesetzesentwurf des Zuwanderungsgesetzes mit übernommen. 7 9 7 Im Zuge des Vermittlungsverfahrens hatte man zahlreiche weitere gesetzliche Veränderungen in das Zuwanderungsgesetz eingefügt, die auf die Terrorismusbekämpfung bezogen waren und eine Verschärfung der Eingriffsinstrumentarien vorsahen. Das Anliegen, die Sicherheit auch durch erweiterte ausländerrechtliche Handlungsspielräume zu erhöhen, hatte nach den terroristischen Anschlägen in Madrid am 11. März 2004 in der öffentlichen Wahrnehmung noch einmal an Bedeutung gewonnen und fand in den Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes zum Aufenthalt und zur Aufenthaltsbeendigung seinen Niederschlag. 7 9 8 Novelliert wurden wiederum die Bestimmungen über die Ist-, Regel- und Ermessensausweisungen. Der neu eingeführte Regelausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 A u f e n t h G 7 9 9 wurde klarer gefasst (nun § 54 Nr. 5 und 5a.), die Entwicklung im Falle des am 12. Oktober 2004 schließlich in die Türkei abgeschobenen Metin Kaplan mündete in der Einführung eines weiteren Ausweisungsgrundes in § 54 Nr. 7 . 8 0 0 Gegen so genannte „Hassprediger" richtet sich die Erweiterung der Ermessensausweisungen in § 55 Abs. 2 Nr. 8 a) und b). Das Recht der Aufenthaltsbeendigung wurde zudem durch ein dem deutschen Recht bislang unbekanntes, durchgreifendes Instrument der Verwaltungsvollstre796 Vgl. Huber, Änderungen des Ausländer- und Asylrechts [Fn. 792], S. 789; kritisch ebenfalls Günter Renner, Terrorismusbekämpfung und Schutzsuchende, ZAR 2003, S. 52 ff., bes. 59; Reinhard Marx, Terrorismusvorbehalte des Zuwanderungsgesetzes, ZAR 2004, S. 275: ,,verschwommene[r] Terrorismusbegriff'; ebenso und zur internationalen Entwicklung einer Definition des Terrorismus ders., Zu den ausländer- und asylrechtlichen Bestimmungen des Terrorismusbekämpfungsgesetzes, ZAR 2002, S. 127 ff.; vgl. auch Stefanie Schmahl, Internationaler Terrorismus aus der Sicht des deutschen Ausländerrechts, ZAR 2004, S. 219 ff. 797

Zu den einzelnen Bestimmungen siehe Huber, ebd., passim. Überblick über die wichtigsten Neuerungen im Bericht der Migrationsbeauftragten 2005 [Fn. 665], S. 433 ff., sowie bei Reinhard Marx, Terrorismus vorbehalte des Zuwanderungsgesetzes, ZAR 2004, S. 275 ff. 799 Paragraphenangaben ohne Gesetzesangabe beziehen sich in der Folge auf das geltende Aufenthaltsgesetz. 800 Zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes im Fall Kaplan vom 7. 12. 2004 (1 C 14.04) und der verfassungsrechtlichen Problematik des Widerrufes der Asylanerkennung aufgrund einer verfassungsimmanenten Einschränkung des Asylgrundrechtes, mit einem Überblick über den kontroversen Meinungsstand Jan Bergmann, Das immanent beschränkte Asylgrundrecht, ZAR 2005, S. 137 ff. Eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gegen den Widerruf steht noch aus (2 BvR 54/04). Zur Problematik bereits Kay Hailbronner, Asylrecht für Terroristen?, in: Carl-Eugen Eberle u. a. [Hrsg.], Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, FS für Winfried Brohm, 2002, S. 315 ff. 798

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

ckung ergänzt 8 0 1 : Nach § 58a Abs. 1 S. 1 kann „zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr" eine Abschiebungsanordnung ergehen, ohne dass zuvor eine Ausweisung oder eine Abschiebungsandrohung erfolgen muss. Die Anordnung ergeht auf der Grundlage „einer auf Tatsachen gestützten Prognose" 8 0 2 über die Gefahr für die Sicherheit bzw. der terroristischen Gefahr und ist sofort vollziehbar. Das vorläufige Rechtsschutzverfahren wird nach den Vorgaben des § 58a Abs. 4 gestrafft, die erst- und zugleich letztinstanzliche Zuständigkeit für Entscheidungen im Eil- und Hauptsacheverfahren liegt beim Bundesverwaltungsgericht. 803 Sofern die Anordnung nicht unmittelbar vollzogen werden kann, ist der Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, § 62 Abs. 2 Nr. la. Zudem schreibt § 54a in diesen Fällen ebenso wie bei einer Ausweisung nach § 54 Nr. 5 und 5a. weitere Überwachungsmaßnahmen (u. a. Meldepflicht, räumliche Aufenthaltsbeschränkung) aus Gründen der inneren Sicherheit vor. Während die letztgenannten Änderungen unterschiedslos für alle in der Bundesrepublik befindlichen Ausländer Bedeutung erlangen können 8 0 4 , erweitert der neu eingeführte Terrorismusvorbehalt in § 25 Abs. 3 S. 2 unmittelbar den Anwendungsbereich der wieder eingeführten Duldung nach § 60a, weshalb darauf im Zuge der nun folgenden Untersuchung der geltenden Rechtslage noch einmal zurückzukommen sein wird.

I I . Wesentliche Neuerungen 1. Systematik des Aufenthaltsgesetzes Die systematische Grundstruktur des Zuwanderungsgesetzes aus dem Jahre 2002 blieb trotz der umfangreichen Änderungen und Ergänzungen, die im Laufe der Verhandlungen in den Entwurf eingefügt wurden, im nun geltenden reformierten Ausländerrecht erhalten. Neben der Bestimmung über Visa für kurzfristige Aufenthalte wurde die Zahl der Aufenthaltstitel auf zwei reduziert (Aufenthaltserlaubnis und Niederlassungserlaubnis). Der Aufenthaltstitel gibt künftig auch 801 Diese Regelung war gleichfalls Bestandteil des als „Acht-Punkte-Papier" ausgehandelten Kompromisses (Punkt 1), vgl. ZAR 2004, S. 206 f. 802 wie Renner zu Recht bemerkt, weicht diese Regelung nicht von den sonst für Rechtsprechung und Verwaltung geltenden Grundsätzen ab, wonach der Wahrscheinlichkeitsmaßstab dem jeweiligen materiellen Recht zu entnehmen ist und die Überzeugung der Behörde bzw. des Gerichts auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützt werden muss, vgl. Günter Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266 ff., 271 f. 803 § 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO. Vgl. hierzu Klaus Sperlich, Abschiebungsanordnung gemäß § 58a AufenthG und effektiver Rechtsschutz, InfAuslR 2005, S. 250 ff. 804 Vgl. die Beschränkung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 S. 2 u. 3; eine Einschränkung enthält allerdings § 56 Abs. 2 AufenthG.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

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darüber Auskunft, ob eine Erwerbstätigkeit erlaubt ist. Der Aufbau der Aufenthaltstatbestände orientiert sich an unterschiedlichen Aufenthaltszwecken (Kap. 2, Abschnitte 3 bis 7), der „Förderung der Integration" wird ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 3). Im Bereich der Arbeitsmigration setzte die Opposition ihre Kernforderung durch, die Zuwanderungsmöglichkeiten stark einzuschränken. Der Einwanderungspfad nach § 20 AufenthG 2002 und damit das Auswahlverfahren für Einwanderungswillige, die eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, auf der Grundlage eines Punktesystems wurde gestrichen. 8 0 5 Dagegen hielt der Gesetzgeber an den Aufenthaltstiteln für Hochqualifizierte und Selbstständige fest (§§ 19 und 21), wobei ihre Erteilung von qualifizierten Voraussetzungen abhängig gemacht w u r d e . 8 0 6 Die Struktur der Bestimmungen über den „Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen", §§ 22 bis 26 AufenthG, blieb gleichfalls im Vergleich zum Zuwanderungsgesetz 2002 unverändert; dessen ungeachtet wurden zahlreiche Änderungen im Detail eingearbeitet. Da den humanitären Aufenthaltstiteln nach der gesetzgeberischen Intention auch die Aufgabe zukommt, die bisherige Überbeanspruchung der Duldungsbestimmung künftig zu verhindern 8 0 7 , werden sie nachfolgend einer näheren Betrachtung unterzogen, bevor die Stellung der Duldung selbst in den Blick genommen wird.

2. Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen Während die Eingangsvorschrift die Möglichkeit eröffnet, für Personen, die sich noch im Ausland befinden, eine Aufenthaltserlaubnis „aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen" zu erteilen 8 0 8 , beziehen sich die Tatbestände der §§23 und 25 (auch) auf bereits in der Bundesrepublik befindliche Ausländer. 805 § 20 AufenthG 2002. Die Auswahl sollte im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interesse der Bundesrepublik erfolgen (Abs. 2), das Auswahlverfahren durch Rechtsverordnung näher ausgestaltet werden, zu berücksichtigen waren dabei u. a. Alter, Qualifikationsgrad und Sprachkenntnisse des Bewerbers. 806 Nach verbreiteter Auffassung blieb deshalb der u. a. von der Süssmuth-Kommission geforderte „Paradigmenwechsel" in der Ausländerpolitik im Hinblick auf die Erwerbsmigration aus, zumal auch nach bisheriger Rechtslage zahlreiche Ausnahmen zu dem gesetzlichen Anwerbestopp des Ausländergesetzes 1990 existierten, vgl. etwa Günter Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266 ff. Gleichwohl setzt das „Zuwanderungs "-Recht mit der rechtlichen Anerkennung der bereits seit Jahrzehnten beobachteten faktischen Einwanderung durch die Aufnahme originärer gesetzlicher Einwanderungstatbestände (nicht lediglich Ausnahmebestimmungen) einen Schlusspunkt unter die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. 8 «7 Vgl. die Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/420, S. 79 f. 808 § 22, s. BT-Drs. 15/420, S. 77. Die Entscheidung über die Aufnahme sei insoweit „Ausdruck autonomer Ausübung souveräner Staatlichkeit." Die Beschränkung auf „dringende" humanitäre Gründe wurde im Vermittlungsverfahren eingefügt.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt i m G e f g e des Ausländerrechts

Wie bereits erwähnt, inkorporiert das Zuwanderungsgesetz mit der Aufenthaltserlaubnis für vorübergehend geschützte Personen nach § 24 die europäische Richtlinie für die Gewährung vorübergehenden Schutzes von Vertriebenen aus Drittländ e r n . 8 0 9 Ob die Vorschrift im Fall von Flüchtlingsbewegungen, welche die Dimension der durch die Jugoslawien-Konflikte Vertriebenen erreichen, geeignet ist, um die betroffenen Personen angemessen zu verteilen und ihre aufenthaltsrechtliche Stellung europaweit einheitlich abzusichern, wird maßgeblich davon abhängen, ob der Rat der Europäischen Union überhaupt von seiner Kompetenz Gebrauch macht, Beschlüsse auf Grundlage der Richtlinie zu fassen. 8 1 0 Kommt es zur Anwendung der Bestimmung, so wird der Aufenthalt nach Art. 4 und 8 Abs. 1 der Richtlinie auf eine gesicherte Grundlage gestellt 8 1 1 , die Anwendung der Duldungsbestimmung ist insoweit ausgeschlossen. In Anlehnung an § 32 AuslG 1990 eröffnet § 23 AufenthG den obersten Landesbehörden die Möglichkeit anzuordnen, dass bezogen auf bestimmte Ausländergruppen aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen Aufenthaltstitel erteilt werden. Der alten Rechtslage entsprechend bedarf die Anordnung eines Einvernehmens mit dem Bundesinnenministerium; auf ihren Erlass besteht keinerlei Anspruch. Neben einer möglichen europarechtlichen Reaktion auf Ereignisse, die größere Fluchtbewegungen auslösen, verbleibt den nationalen Behörden damit eine eigenständige Rechtsgrundlage für die Aufnahme schutzsuchender Personengruppen. 8 1 2 I m Unterschied zum Ausländergesetz 1990 kann die Anordnung davon abhängig gemacht werden, dass der Lebensunterhalt des Ausländers gesichert ist oder hierzu eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wurde, eine Bestimmung, die auf die Aktivierung der Hilfe international tätiger Körperschaften wie beispielsweise der Kirchen z i e l t . 8 1 3

««9 RL 2001 /55/EG des Rates, ABl. L 212 / 12 vom 20. 7. 2001. 810 Art. 5 Absatz 1 der Richtlinie. Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission. 811 Die Dauer des vorübergehenden Schutzes beträgt ein Jahr und verlängert sich automatisch um jeweils sechs Monate bis zu einem weiteren Jahr, sofern nicht der Rat nach Art. 6 Abs. 1 b) einen Beschluss zur Beendigung des vorübergehenden Schutzes fasst; ein solcher Beschluss ist jederzeit möglich, sofern eine sichere, dauerhafte Rückkehr i. S. d. Art. 6 Abs. 2 gewährleistet ist. 812 Eine Mindestzahl schreibt das Gesetz im Gegensatz zu Art. 2 d) der genannten Richtlinie („Zustrom einer großen Zahl Vertriebener") nicht vor. Gemäß Absatz 2, der an die Stelle des „Kontingentflüchtlingsgesetzes" tritt, kann bei „besonders gelagerten politischen Interessen" unmittelbar eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden. 813 BT-Drs. 15/420 S. 77. Kritisch dazu Thomas Groß, Zuwanderung aus humanitären Gründen, ZAR 2005, S. 61 ff., 64.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

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a) Aufenthalt aus humanitären Gründen, § 25 AufenthG Die zentralen Tatbestände für einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen im Einzelfall sind in den fünf Absätzen des § 25 enthalten. In den ersten beiden Absätzen vollzieht das Gesetz zunächst eine aufenthaltsrechtliche Gleichstell u n g 8 1 4 von den nach der Genfer Konvention vor der Abschiebung geschützten Personen (§ 60 Abs. 1) mit Asylberechtigten nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Absätze drei bis fünf umfassen weitere spezifische Grundlagen für humanitäre Aufenthaltstitel.

aa) Aufenthaltsrecht bei zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen Droht dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung eine Verurteilung zum Tode oder besteht dort die konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit oder liegt ein anderes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 2 bis 7 vor, so ist nun regelmäßig eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Die Abschiebungshindernisse, die zu wesentlichen Teilen völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Ursprungs sind, vermitteln damit erstmals im Regelfall einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Wie schon hervorgehoben, setzt das Gesetz damit europarechtliche Vorgaben in Bezug auf den „subsidiären Status" nach der Qualifikationsrichtlinie um. M i t dem Regelanspruch des § 25 Abs. 3 hat der Gesetzgeber für den Teilhereich der zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse einen entscheidenden Schritt getan, um die Anzahl der vormals dauerhaft geduldeten Personen zu reduzieren. Aus dem Anwendungsfeld der „rechtlichen Unmöglichkeit" der Abschiebung 8 1 5 wurde ein beträchtlicher Teil herausgelöst. Die „Unabhängige Kommission" hatte als Ursache für die Fortschreibung des Duldungsstatus unter anderem den Regelversagungsgrund einer mangelnden Sicherung des Lebensunterhaltes ausgemacht (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990). Das Aufenthaltsgesetz zieht hieraus für den Tatbestand des § 25 Abs. 3 AufenthG die Konsequenz, dass von dieser Erteilungsvoraussetzung eines Aufenthaltsrechts nun generell abzusehen i s t . 8 1 6

«14 Vgl. insbes. §§ 25 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2, 26 Abs. 3. Zudem sind die nach Absatz 1 und 2 Anspruchsberechtigten auch arbeits- und sozialrechtlich gleichermaßen gegenüber den übrigen Tatbeständen des § 25 privilegiert, vgl. im Hinblick auf das Erziehungs- und Kindergeld die gesetzlichen Neufassungen der Artikel 10 Nr. 4, 5 und 11 Nr. 17 des Zuwanderungsgesetzes, BGBl. I. S. 1950 ff. Ausländer mit Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG erhalten Unterstützung zum Lebensunterhalt nur im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes, vgl. die neu eingefügte Nr. 3 in § 1 sowie die Einschränkung in § 23 Abs. 5 S. 2 SGB XII i.d.F. des Zuwanderungsgesetzes (Art. 10 Nr. 10a). 8 '5 Vgl. den Duldungstatbestand des § 60a Abs. 2: Aussetzung der Abschiebung, „solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist". 8,6

§ 5 Abs. 3 AufenthG; Gleiches gilt für die Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 1 und 2.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

Der Anwendungsbereich des neuen Aufenthaltstatbestandes wird indes nach Satz 2 zweifach eingeschränkt. Zum einen ist ein Aufenthaltstitel ausgeschlossen, wenn die Ausreise in einen anderen Staat „möglich und zumutbar 4 ' 8 1 7 ist oder der Ausländer wiederholt und gröblich gegen Mitwirkungspflichten verstößt. 8 1 8 Zum anderen steht die Genehmigung des Aufenthalts unter dem Vorbehalt bestimmter Ausschlussgründe, die weitgehend Art. 1 F sowie Art. 33 Nr. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention entnommen wurden. 8 1 9 Die Ausschlussgründe der Genfer Konvention finden auch im Zusammenhang mit dem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1, der unmittelbar auf die Konvention Bezug nimmt, Erwähnung. 8 2 0 Die Tatbestände sind jedoch graduell abgestuft: Der Ausschluss nach § 60 Abs. 8 wird von strengeren Voraussetzungen abhängig gemacht, weshalb in bestimmten Konstellationen zwar ein Aufenthaltsrecht ausgeschlossen wird, das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 gleichwohl bestehen bleibt. In diesen Fällen bleibt der Ausländer auf die Duldung verwiesen. So entfällt beispielsweise der Abschiebungsschutz des § 60 Abs. 1 nur dann, wenn der Ausländer „eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren" verurteilt wurde. 8 2 1 Um die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3 auszuschließen, genügt dagegen eine „Straftat von erheblicher Bedeutung". Unterzieht man diese Ausschlusstatbestände einer Bewertung anhand der für den unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalt entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe, so ergibt sich ein differenziertes Bild. Das Ausschlusskriterium einer möglichen und zumutbaren Ausreise in einen „anderen Staat", also einen Drittstaat, in dem der betroffenen Person die genannten Gefahren nicht drohen, führt zwar zu einem fortgesetzten Duldungsstatus, sofern der Ausländer die Ausreisemöglichkeit nicht in Anspruch nimmt. Der Gesetzgeber hat hier jedoch von der Entscheidungshoheit über die Zulassung des weiteren Aufenthalts (negativen) Gebrauch gemacht - die Klausel enthält folglich eine echte Einschränkung des Aufenthaltstatbestandes. Da der Ausländer auf die Möglichkeit zur Ausreise verwiesen werden kann, bestehen zunächst keine durchgreifenden Bedenken gegen die Anwendung der Duldungsbestimmung. Problematischer im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Perpetuierungsverbot des Duldungsstatus sind die Ausschlusstatbestände bei Verletzung von Mitwir817 Die Beweislast für die Zumutbarkeit obliegt dabei der Ausländerbehörde, vgl. BT-Drs. 15/420 S. 79. 818 Zu den gesetzlichen Mitwirkungspflichten vgl. §§ 48 Abs. 3, 49 und 82 AufenthG. 819 Die Formulierungen in § 25 Abs. 3 S. 2 b) und d) gehen allerdings über die Bestimmung des Art. 33 Nr. 2 GK hinaus, da sie eine „Straftat von erheblicher Bedeutung" und eine Gefahr für die Allgemeinheit bzw. die Sicherheit der Bundesrepublik genügen lassen. 8 20 § 60 Abs. 8 AufenthG. 82

' § 60 Abs. 8 S. 1 2. Alt. AufenthG.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

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kungspflichten und nach der Genfer Konvention, sofern sie nicht zugleich zu einer Abschiebung in den Herkunftsstaat aufgrund der Anwendbarkeit des Art. 60 Abs. 8 führen. Das gesetzgeberische Interesse, solche Personen von einem gesicherten Aufenthaltsstatus auszuschließen, die durch Verstoß gegen gesetzliche Mitwirkungspflichten oder durch eine erhebliche Gefährdung öffentlicher Interessen eine Mitverantwortung für ihre aufenthaltsrechtliche Situation tragen, ist zunächst legitimer Ausdruck der durch das Nationalstaatsprinzip verfassungsrechtlich abgesicherten hoheitlichen Entscheidungsbefugnis des Staates über den Aufenthalt insgesamt. Es gerät jedoch dann in eine Spannungslage zu dem aus dem Verfassungsprinzip der Freiheit abgeleiteten Verbot der Perpetuierung unrechtmäßigen Aufenthalts, wenn der Ausländer es weder selbst in der Hand hat, freiwillig das Land zu verlassen, noch eine Änderung der Rechtslage in Bezug auf das gesetzliche Abschiebungshindernis künftig zu erwarten ist. Die aufenthaltsrechtliche Schlechterstellung ist umso schwieriger verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, je länger der Aufenthalt andauert. Im Hinblick auf die zuvor entwickelte Obergrenze sollte nach Ablauf von drei, äußerstenfalls nach fünf Jahren zwingend eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werd e n . 8 2 2 Die Sanktionsmöglichkeiten für das Fehlverhalten des Ausländers beschränken sich im Übrigen auf die Vorschriften des Straf- und Ordnungswidrigkeitsrechts. 823

bb) Aufenthaltsrecht bei tatsächlicher und rechtlicher Unmöglichkeit der Ausreise Bereits mehrfach hervorgehoben wurde die Tatsache, dass der Gesetzgeber die Abschiebungshindernisse des § 53 AuslG 1990 unverändert in das neue Recht übernommen hat. In der Konsequenz unterscheidet auch das Aufenthaltsgesetz weiter zwischen zielstaatsbezogenen und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen und führt die durch ständige Rechtsprechung festgelegte strikte Aufgabentrennung bei ihrer Prüfung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Ausländerbehörden f o r t . 8 2 4 Die mit der Differenzierung verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten 825 blieben folglich ebenso erhalten wie das komplexe und nicht immer einzelfallgerechte Verhältnis der Behandlung individueller 822 Kritisch in Bezug auf die Fortschreibung der Kettenduldungen auch Duchrow; Flüchtlingsrecht [Fn. 764J, S. 345. 823 Vgl. den Katalog der Bußgeldvorschriften in § 98 AufenthG. § 98 Abs. 2 Nr. 3 umfasst die Mitwirkungspflicht nach § 48 Abs. 3 S. 1. 824 Näher hierzu oben 3. Kap. B.I.2.a), S. 196 f. Vor der Entscheidung über ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 hat die Ausländerbehörde allerdings das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen, § 72 Abs. 2 AufenthG. 823 Vgl. z. B. in Bezug auf Flüchtlinge mit posttraumatischen Belastungsstörungen oben 3.Kap. B.II.2.C), S. 216 f. 16 Ricckcn

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

und allgemeiner, gruppenbezogener Gefahren für Leib, Leben und Freiheit nach § 53 Abs. 6 AuslG, nun § 60 Abs. 7 A u f e n t h G . 8 2 6 Mit § 25 Abs. 5 enthält das Aufenthaltsgesetz einen fakultativen Aufenthaltstatbestand, welcher die inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse mit einschließt. 827 Durch eine geringfügige Abweichung zum Tatbestand der Duldungsbestimmung 828 - ein Aufenthaltstitel kann erteilt werden, wenn nicht die „Abschiebung", sondern die „Ausreise" aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist - bringt die Bestimmung bereits sprachlich zum Ausdruck, dass ihre Anwendung ausgeschlossen ist, wenn eine Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise besteht. Andererseits wird nach dem Wortlaut ein Aufenthaltstitel auch dann erteilt werden können, wenn eine Ausreise nicht zumutbar und damit „subjektiv" unmöglich i s t . 8 2 9 Ein tatsächliches Ausreisehindernis liegt etwa vor, wenn der Ausländer reiseunfähig ist, keinen Pass besitzt oder aber die Verkehrsverbindungen in den Heimatstaat unterbrochen s i n d . 8 3 0 Der im Zuge des Vermittlungsverfahrens eingefügte Satz 2 wandelt den Ermessenstatbestand nach eineinhalb Jahren in einen Regelanspruch um: „Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist." Die Sätze 3 und 4 unterstreichen, dass das Aufenthaltsrecht nur dann zugestanden werden soll, wenn positiv feststeht, dass der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert i s t . 8 3 1 Eine Einschränkung erfährt die Bestimmung zudem durch § 5 Abs. 3 AufenthG, wonach es im Ermessen der Ausländerbehörde liegt, die Sicherung des Lebensunterhaltes zur Voraussetzung für die Erteilung zu machen. 826

Das fakultative Abschiebungshindernis nach Satz 1 wurde in einen Regeltatbestand umgewandelt. Aus dem Gesetz selbst erschließt sich jedoch nicht die nach ständiger Rechtsprechung von Satz 2 ausgehende Sperrwirkung und ihre Durchbrechung aufgrund verfassungskonformer Auslegung in Anwendung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, vgl. dazu bereits oben S. 202 ff. Kritisch zur Übernahme in das geltende Recht Günter Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 269. 827 So auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 15/420, S. 80. Vgl. Reinhard Marx, Verfestigung des Aufenthaltsrechts im Übergangsprozess zwischen Ausländergesetz 1990 und Aufenthaltsgesetz 2004, ZAR 2004, S. 403 ff., 406 ff. 828 Vgl. hierzu anschließend unter Punkt 3, S. 246 ff. 829 BT-Drs. 15/420, S. 80. Beispiele sind aus der Sicht der Migrationsbeauftragten langfristig geduldete Angehörige von Minderheiten aus dem Kosovo, „denen eine zumutbare Beseitigung des Ausreisehindernisses nicht aufgegeben werden" könne und die „das Ausreisehindernis deshalb nicht verschulden", vgl. Bericht 2005 [Fn. 665], S. 407. 8

30 Beispiele in BT-Drs. 15/420, S. 80.

831

Ein mögliches Verschulden des Ausländers wird in Satz 4 durch drei Regelbeispiele konkretisiert. Ein Aufenthaltstitel wird danach ausgeschlossen bei falschen Angaben, bei der Täuschung über die Identität oder die Staatsangehörigkeit oder dann, wenn zumutbare Anforderungen an die Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt werden. Zu den Problemen und Hintergründen der ungesicherten Identität vgl. Hubert Heinold, Unter welchen Umständen ist eine freiwillige Rückkehr für Geduldete möglich und zumutbar? ZAR 2003, S. 218 ff., bes. 220 ff.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

243

Ob durch den neuen Tatbestand eine substantielle Beschränkung des Anwendungsbereiches der Duldung erreicht werden kann, wird demnach maßgeblich vom künftigen Ermessensgebrauch der Ausländerbehörden abhängen. 8 3 2 Vor dem Hintergrund einer verfassungsrechtlich geforderten zeitlichen Beschränkung für die Duldungserteilung bewirkt die Einführung des Sollanspruches nach 18 Monaten eine deutliche und notwendige Klarstellung. Diese zeitliche Grenze für den geduldeten Aufenthalt ist nach den entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäben auch dann anzuwenden, wenn der Ausländer zu einer eigenständigen Sicherung des Lebensunterhaltes nicht in der Lage ist, wie sie in § 5 Abs. 1 Nr. 1 für die Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich vorausgesetzt wird. Das ausländerbehördliche Ermessen nach § 5 Abs. 3 wird durch das Perpetuierungsverbot unrechtmäßigen Aufenthalts verfassungsrechtlich begrenzt. Auch im Vorfeld der gesetzlichen Frist wird das Ermessen jedenfalls in den Fällen zu reduzieren sein, in denen eine Ausreise auf unbestimmte Zeit nicht möglich ist. Ein Anwendungsbeispiel stellt die Reiseunfähigkeit aufgrund der oben näher beschriebenen posttraumatischen Belastungsstörung d a r . 8 3 3 Dem Ausschlusstatbestand nach den Sätzen 3 und 4 des § 25 Abs. 5 begegnen dieselben verfassungsrechtlichen Bedenken wie den Vorbehalten des § 25 Abs. 3 S. 2, soweit eine Grenze für den äußersten Zeitrahmen des Duldungsstatus nicht benannt w i r d . 8 3 4

cc) Aufenthaltserlaubnis bei vorübergehendem Aufenthalt Der dem Tatbestand der Ermessensduldung (§ 55 Abs. 3 AuslG 1990) entlehnte Aufenthaltstitel des § 25 Abs. 4 S. 1 kann in Fällen zur Anwendung gelangen, in denen die weitere Anwesenheit eines Ausländers vorübergehend erforderlich ist. Der Aufenthaltstitel wird für längstens sechs Monate erteilt, eine Verlängerung ist in außergewöhnlichen Härtefällen m ö g l i c h . 8 3 5 Da die aufgeführten ,,dringende[n] humanitäre[n] oder persönliche[n] Gründe" und ,,erhebliche[n] öffentliche[n] Interesse[n]" vorübergehender Natur sein müssen, ist das Anwendungsfeld der Vor832 Skeptisch Duchrow, Flüchtlingsrecht IFn. 764], S. 345; Thomas Groß, Zuwanderung aus humanitären Gründen, ZAR 2005, S. 61 ff., 64. 833 Weitere Beispiele bei Reinhard Marx, Verfestigung des Aufenthaltsrechts, ZAR 2004, S. 403 ff., 406. 834 Dies gilt allerdings nach dem oben Gesagten nur für die Fälle, in denen es dem Ausländer nicht mehr ohne weiteres möglich ist, die Umstände zu beheben, die einer Ausreise entgegenstehen. 835 §§ 26 Abs. 1 und 25 Abs. 4 S. 2. Diese Begrenzung legt die Vermutung nahe, dass die Vorschrift aufgrund des mit ihr verbundenen hohen behördlichen Aufwands in der Praxis selten Anwendung finden wird, vgl. Hubert Heinold, Aufenthaltsrecht, Duldung, „Bescheinigung" und Härtefallregelung - weiter wie gehabt?!, in: Klaus Barwig/Ulrike Davy [Hrsg.], Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit? Konzepte und Grenzen einer Politik der Integration von Einwanderern, 2004, S. 199.

16*

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

schrift begrenzt. 8 3 6 In Betracht kommen beispielsweise der Abschluss einer Schuloder Berufsausbildung, die Betreuung eines schwerkranken Familienangehörigen oder die Durchführung einer Operation. 8 3 7 Der Aufenthaltstatbestand ermöglicht den Ausländerbehörden, der grundsätzlichen Entscheidung für ein vorübergehendes humanitäres Bleiberecht auch aufenthaltsrechtlich in adäquater Weise Rechnung zu tragen. Vor dem Hintergrund, dass nach den obigen Ausführungen aus verfassungsrechtlichen Erwägungen eine Duldung und der damit verbundene Status des unrechtmäßigen Aufenthalts nur dann zur Anwendung kommen kann, wenn eine grundsätzliche Entscheidung gegen den weiteren Verbleib des Ausländers erfolgt ist, hätte die Vorschrift allerdings nicht als Ermessensentscheidung, sondern zumindest als Regelanspruch ausgestaltet werden müssen. Denn eine positive Entscheidung für den (vorübergehenden) Verbleib eines Ausländers aus humanitären Gründen, wie sie im Falle des § 25 Abs. 4 vorliegt, kann, wie gezeigt, nicht über den Tatbestand der Duldung abgebildet werden.

b) Härtefallregelung Eine gänzliche Neugestaltung erfuhr die im Zuwanderungsgesetz von 2002 bereits enthaltene, nun aber zu einer eigenständigen Vorschrift ausgebaute Härtefallbestimmung nach § 2 3 a . 8 3 8 Die obersten Landesbehörden werden in dessen Absatz 1 ermächtigt, einem Ausländer jenseits der gesetzlich normierten Aufenthaltstatbestände eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, sofern dringende humanitäre oder persönliche Gründe dies rechtfertigen und eine Härtefallkommission hierzu einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Die Regierungen der Bundesländer entscheiden eigenständig, ob sie derartige Härtefallkommissionen durch Rechtsverordnung einführen, § 23a Abs. 2 . 8 3 9 Die Mehrzahl der Bundesländer hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht oder plant, künftig eine derartige Kommission einzurichten. 8 4 0 836 Vgl die Beispiele bei Monika Liike, Humanitäre Bleiberechte außerhalb des Flüchtlingsschutzes, ZAR 2004, S. 398 f. w Vgl. BT-Drs. 15/420 S. 80. Als Beispiel für ein erhebliches öffentliches Interesse wird die Zeugenstellung in einem Gerichtsverfahren genannt. Das Zuwanderungsgesetz von 2002 (BGBl. I S. 1946) enthielt den Kern der heutigen Bestimmung in § 25 Abs. 4a (im Gesetzesentwurf Abs. 5). 839 Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 23a Abs. 1 und 2, anderer Auffassung: Thomas Groß, Zuwanderung aus humanitären Gründen, ZAR 2005, S. 65. 840

Ausnahmen bilden Bayern und (bislang) Niedersachsen. In Bremen wurde noch keine Entscheidung über die Einrichtung einer Härtefallkommission getroffen, vgl. den Bericht in: ZAR 2005, S. 175. In Nordrhein-Westfalen, Berlin, Schleswig-Holstein und MecklenburgVorpommern existierten bereits Härtefallkommissionen, die sich mit der Gesetzesanwendung im humanitären Bereich auseinandersetzten. Dazu Monika Liike, Humanitäre Bleiberechte außerhalb des Flüchtlingsschutzes im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes, ZAR 2004, S. 397 ff., 402.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

245

In dieser Form stellt die Härtefallklausel ein ausländerrechtliches Novum dar. Ein - gerichtlich überprüfbares - subjektives Recht auf eine Härtefallprüfung oder gar einen Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltsrechts wird ausdrücklich ausgeschlossen; die Befugnis zur Aufenthaltsgewährung steht, wie das Gesetz vorschreibt, „ausschließlich im öffentlichen Interesse". 841 Mit der Aufenthaltsgewähr in Härtefällen hat der Gesetzgeber den Landesverwaltungen ein flexibles Instrument zur Verfügung gestellt, um eine größere Einzelfallgerechtigkeit dort zu erreichen, wo die gesetzmäßige Versagung eines Aufenthaltstitels zu außergewöhnlichen Belastungen führt, die aus öffentlichen Erwägungen heraus nicht erwünscht sind. Auch ein detailliert geregeltes Aufenthaltsrecht, welches die öffentlichen Interessen und die humanitären Verpflichtungen des Staates abgewogen berücksichtigt, wird nicht in allen Fällen zu Lösungen führen können, die sämtlichen Aspekten und Hintergründen des Einzelschicksales gerecht werden. 8 4 2 Dass es sich bei den Härtefällen im Sinne des § 23a AufenthG nur um besondere Ausnahmefälle handeln kann und soll, erschließt sich dabei aus dem Regelungszweck. Auch die Zweistufigkeit des Verfahrens verdeutlicht, dass die Bestimmung nur in einem eng begrenzten Umfang zur Anwendung gelangen w i r d . 8 4 3 Ihr Anwendungsfeld liegt ausweislich der gesetzlichen Konstruktion außerhalb der aufenthaltsrechtlichen Systematik des Zuwanderungsgesetzes. Zu einer strukturellen Lösung der mit dem unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalt verbundenen verfassungsrechtlichen Prolemkonstellationen lässt sie sich deshalb nicht heranziehen.

841

§ 23a Abs. 1 S. 4. Vgl. auch die Überschrift: „Aufenthaltsgewährung in Härtefällen". Erteilt die oberste Landesbehörde im „öffentlichen Interesse" auf der Grundlage des § 23a eine Aufenthaltserlaubnis, so macht sie sich freilich das „private Interesse" des betreffenden Ausländers zu eigen. 842 Die harsche Kritik bei Claus Schönenbroicher: „verfassungspolitischer Affront" bzw. „carte blanche zum Ausbrechen aus [demi Normenprogramm l . . . J ohne jede zureichende inhaltliche Vorgabe" geht deshalb fehl, vgl. ders., Rechtsstaat auf Abwegen? - Die neue "Härtefallklausel,, des Ausländerrechts, ZAR 2004, S. 351 ff., 355 f. Hiergegen Groß, Zuwanderung aus humanitären Gründen [Fn. 839], S. 65; positive Bewertung auch bei Luke, Humanitäre Bleiberechte [Fn. 842J, S. 402, sowie bei Duchrow, Flüchtlingsrecht [Fn. 7641, S. 346. 843 Vgl. aus der Praxis den Erfahrungsbericht des Vorsitzenden der Härtefallkommission in Nordrhein-Westfalen Christof Weber, Arbeit der Härtefallkommission beim Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, ZAR 2005, S. 203 f. Danach wurden in der ersten regulären Sitzung der Kommission nach dem neuen Recht 190 Fälle abschließend beraten; in lediglich 16 Fällen hat sie ein Härtefallersuchen an die Ausländerbehörde gerichtet. In Berlin hatte die Härtefallkommission bis zum Februar 2005 74 Fälle für eine Ausnahmeregelung vorgeschlagen, von denen der Innensenator 51 akzeptiert und 23 abgelehnt hatte, vgl. den Bericht „Hoffen auf die Gnade des Innensenators" im Tagesspiegel vom 23. 2. 2005.

246

3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

3. Die Duldung im Gefüge des Aufenthaltsgesetzes Die Duldung behält im Aufenthaltsgesetz ihren systematischen Standort als Teilregelung des Vollstreckungsrechtes im Kapitel über die Aufenthaltsbeendigung. 844 Die vormals auf drei Paragraphen verteilten Bestimmungen über das Rechtsinstitut wurden im neuen Recht in § 60a zusammengefasst. 845 Die Vorschrift umfasst nur mehr zwei Tatbestände ihrer Erteilung in den ersten zwei Absätzen; hieran schließen sich drei weitere knappe Absätze an, die die Rechtsfolgen behandeln. Der nachfolgende § 61 Abs. 1 sieht eine unmittelbar räumliche Beschränkung des Aufenthalts allgemein für alle vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer vor. Die räumliche Begrenzung geduldeten Aufenthalts auf das jeweilige Bundesland, die unmittelbar durch Gesetz erfolgt, wurde dadurch fortgeschrieben. 846

a) Duldungstatbestände Der erste Duldungstatbestand enthält eine allgemeine Aussetzungsbefugnis für die Innenminister der Länder in ihrer Funktion als oberste Landesbehörden „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen". Eine Aussetzungsanordnung kann nur eine nach Gruppenmerkmalen bestimmte Mehrzahl von Ausländern betreffen. Die Vorschrift entspricht damit der Vorgängerbestimmung des § 54 AuslG 1990, doch ist eine Verlängerung der Aussetzung über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus abweichend von der bisherigen Rechtslage nicht möglich. § 60a Abs. 1 Satz 2 verweist für längere Zeiträume auf § 23 Abs. 1, der unter denselben Voraussetzungen eine Anordnung zum Erlass von Aufenthaltstiteln ermöglicht. Ein wichtiger Anwendungsbereich dieser Bestimmung erschließt sich aus dem Abschiebungshindernis des § 60 Abs. 7 und dem dortigen Verweis auf § 60a Abs. 1. Kollektive Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit, die einer Rückkehr entgegenstehen, werden nicht als Abschiebungshindernis mit der Folge eines Regel844

Kapitel 5, Abschnitt 2 über die „Durchsetzung der Ausreisepflicht", §§ 57 ff. Die CDU/CSU hatte frühzeitig vorgeschlagen, die Duldung in einem neuen § 60a wieder aufzunehmen. Dabei wichen die Vorschläge der Bundestagsfraktion z.T. erheblich von den im Bundesrat unterbreiteten ab; vgl. einerseits BT-Drs. 15/955, S. 26, andererseits BRDrs. 22/01/03, S. 61 f. (Nr. 68 Empfehlung des Wirtschaftsausschusses). Während der im Innenausschuss des Bundestages eingebrachte Vorschlag den Anwendungsbereich der Duldung wieder auf Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 ausdehnte, um „der generellen Tendenz des Regierungsentwurfs zu einer sehr großzügigen Gewährung von Aufenthaltstiteln an Ausreisepflichtige entgegen zu wirken", entsprach die im Bundesrat diskutierte Fassung weitgehend dem heutigen § 60a. 845

84

6 Zuvor § 56 Abs. 3 S. 1 AuslG 1990. Obwohl die Duldung den Vollzug der Abschiebung und damit den vollstreckungsrechtlichen Vollzug der Ausreisepflicht aussetzt, bleibt die Ausreisepflicht aufgrund der gesetzlichen Anordnung des § 58 Abs. 2 AufenthG weiterhin „vollziehbar". Vgl. auch Christian Storr u. a., Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 2005, §61 S. 403 ff. Rz. 3.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

247

anspruches auf eine Aufenthaltserlaubnis 847 , sondern ausschließlich im Rahmen von allgemeinen Anordnungen der Aussetzung der Abschiebung berücksichtigt; dies gilt auch dann, wenn die Gefahren in einer Weise konkretisiert sind, dass sie den Ausländer individuell betreffen. 8 4 8 Die strikte zeitliche Begrenzung lässt eine Verlängerung über ein halbes Jahr hinaus nicht zu. W i l l die oberste Landesbehörde den Aufenthalt von Ausländern aus bestimmten Staaten oder für eine spezifische Gruppe aus den genannten Gründen über ein halbes Jahr hinaus ermöglichen, so hat sie das Bundesinnenministerium rechtzeitig um ein Einvernehmen zu ersuchen. Kommt das Einvernehmen nicht zustande, besteht für die Landesbehörde keine Möglichkeit mehr, eine (weitere) allgemeine Aussetzungsanordnung zu erlassen. 849 Eine Duldung kommt nach dem eindeutigen Wortlaut nur noch im Rahmen einer Einzelfallprüfung nach § 60a Abs. 2 in Betracht. Eine Auslegung, die § 60a Abs. 1 S. 2 als eine bloße Verweisung auf die Voraussetzungen, nicht aber die Rechtsfolgen des § 23 Abs. 1 wertete und dadurch eine Verlängerung der Aussetzungsbefugnis ermöglichte, ließe den gesetzgeberischen Willen außer Acht, dauerhafte Aufenthaltsverhältnisse im Status der Duldung zu vermeiden. 8 5 0 Der zweite Absatz der Duldung nach § 60a Abs. 2 beinhaltet einen zwingenden Aussetzungstatbestand „solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird". Auch die Systematik des Aufenthaltsgesetzes kennt folglich grundsätzlich keine Form des ungeregelten Aufenthaltes. 8 5 1 Ein Ausländer, der keinen Aufenthaltstitel (mehr) besitzt, ist kraft Gesetzes zur Ausreise verpflichtet, § 50 Abs. 1. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, so „ist" die Verpflichtung zwangsweise durchzusetzen, § 58. Existieren im Einzelfall rechtliche oder tatsächliche Gründe, die zur Unmöglichkeit der Abschiebung führen, so wird eine Duldung erteilt. Im Zuge der Untersuchung der humanitären Aufenthaltstatbestände des § 25 hatte sich gezeigt, dass insbesondere dessen Absätze 3 und 5 einen Teil der von dieser Vorschrift erfassten Fälle mit abdecken. Die Einführung des Regeltatbestandes bei gesetzlichen Abschiebungshindernissen 852 , die eine Abschiebung aus

«47 § 25 Abs. 3 i.V.m. § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG. 848

Sperrwirkung von § 60 Abs. 7 S. 2, vgl. hierzu oben Fn. 826. Zur Abgrenzung gegenüber einer erneuten Anordnung siehe Michael Funke-Kaiser, in: GK-Aufenthaltsgesetz, 2005, § 60a S. 18 Rz. 28 f. 850 Vgl. Funke-Kaiser, ebd., S. 18 Rz. 28.1; Thomas Groß, Zuwanderung aus humanitären Gründen, ZAR 2005, S. 61 ff., 64, der davon ausgeht, dass deshalb auch weiterhin so genannte Kettenduldungen erteilt werden. In den vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zu § 60a kündigt sich eine derartige Praxis auch an (vgl. dort die Ziff.l). 849

851

Zu der Ausnahme des § 15a Abs. 1 näher unter dem folgenden Abschnitt c). Gesetzliche Abschiebungshindernisse finden sich neben § 60 auch in § 72 Abs. 4 AufenthG im Falle eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens oder einer öffentlichen Klage. 852

248

3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im Gefiige des Ausländerrechts

„rechtlichen" Gründen unmöglich machen, und der Regelanspruch für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach Ablauf von 18 Monaten, sofern eine Ausreise auf absehbare Zeit nicht möglich ist, beschränken den Duldungstatbestand auf folgende Fälle: a) es greifen die Ausschlussgründe des § 25, b) Fälle eines negativen Ermessensgebrauches in § 25 Abs. 5 vor Ablauf der Frist von 18 Monaten, c) es liegt einer der voraussichtlich seltenen Ausnahmefälle der „Soll"-Regelungen in § 25 Abs. 3 und 5 S. 2 vor.

b) Rechtsfolgen Die Rechtsfolgen einer Duldung entsprechen denen des Ausländergesetzes, weshalb hier nur die wichtigsten Bestimmungen noch einmal rekapituliert werden. Der Ausländer hat bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 nach Absatz 1 einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf eine schriftliche Erteilung der D u l d u n g . 8 5 3 Die Ausländerbehörden stellen hierüber eine Bescheinigung aus, deren Inhalt durch § 78 Abs. 7 konkretisiert w i r d . 8 5 4 Da die Duldung kein Aufenthaltsrecht vermittelt, bleibt der Aufenthalt unrechtmäßig 8 5 5 und der Ausländer ist weiter zur Ausreise verpflichtet. Doch hat der geduldete Aufenthalt keinerlei strafrechtliche Sanktion zur F o l g e 8 5 6 , eine Abschiebungshaft ist zumindest dann ausgeschlossen, wenn die Duldung noch länger als drei Monate gültig i s t . 8 5 7 Neben der räumlichen Begrenzung auf ein Bundesland (§ 61 Abs. 1) präzisiert das Gesetz in § 60a Abs. 5 die zeitliche Beschränkung des Aufenthalts: Die Duldung ist zwingend zu widerrufen, sobald die Gründe entfallen, die einer Abschiebung entgegenstehen. Anschließend ist der Betroffene unverzüglich abzuschieben, eine diesbezügliche erneute Androhung und Fristsetzung sind grundsätzlich nicht Der Vorbehalt des Einvernehmens der zuständigen Staatsanwaltschaft steht jedoch ausschließlich im öffentlichen Interesse, vgl. BVerwG NVwZ 1999, S. 425 ff. 853 Ein unmittelbarer Rechtsanspruch aufgrund einer Aussetzungsanordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG besteht hingegen nicht, vgl. in Bezug auf eine Anordnung nach § 32 AuslG BVerwG, Urt. v. 19. 9. 2001, NVwZ 2001, S. 210. Ein Widerspruchsverfahren gegen die Versagung einer Aussetzung der Abschiebung findet nicht statt, der Ausländer ist direkt auf das gerichtliche Verfahren verwiesen. Nachdem im Zuwanderungsgesetz eine dem § 71 Abs. 3 AuslG 1990 entsprechende Norm zunächst gefehlt hatte, wurde dies durch das Änderungsgesetz vom 14. 3. 2005, BGBl. I, S. 721 in § 83 Abs. 2 AufenthG klargestellt. Zu den Inhalten des Änderungsgesetzes vgl. den Überblick in: ZAR 2005, S. 76 f. 8 -54 Mit der „Bescheinigung" genügt ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, seiner Ausweispflicht, vgl. § 48 Abs. 2 AufenthG. 855 Vgl. § 51 Abs. 1 sowie für das Erfordernis eines Aufenthaltstitels § 4 Abs. 1 AufenthG. 836

§ 95 Abs. 1 Nr. 2: „ [ . . . J und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist." Die Strafbarkeit entfällt auch dann, wenn ein Duldungsanspruch besteht, vgl. in Abgrenzung zu einem „untergetauchten", d. h. für die Ausländerbehörde nicht erreichbaren Ausländer, BGH, Urt. vom 6. 10. 2004, InfAuslR 2005, S. 80 ff. 8s - 7 Dies ergibt sich aus § 62 Abs. 2 S. 4; vgl. Funke-Kaiser, in: GK-Aufenthaltsgesetz, § 60a S. 21 Rz. 38.

C. Die Neuregelung des Ausländerrechts 2005

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erforderlich. 8 5 8 Eine Arbeitserlaubnis kann nicht vor Ablauf eines Jahres erteilt werden, sofern die ßundesagentur für Arbeit gem. § § 3 9 ff. AufenthG zugestimmt hat.859

c) Verteilung

unerlaubt eingereister Ausländer nach § 15a AufenthG

Im Vermittlungsverfahren wurde eine komplexe Vorschrift eingefügt, wie die unerlaubt eingereisten Ausländer, die weder um Asyl nachsuchen noch unmittelbar abgeschoben bzw. zurückgeschoben werden, auf die Bundesländer zu verteilen sind. Nachdem Versuche, die Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo mit Hilfe von Auflagen zu den erteilten Duldungen besser zu verteilen, gerichtlich unterbunden worden w a r e n 8 6 0 , kam es bereits im Jahr 2000 zu einer Bundesratsinitiative, die zunächst aufgrund der Reformdiskussion nicht weiter verfolgt, im Zuge des Vermittlungsverfahrens aber wieder aufgegriffen wurde. 8 6 1 Ziel der Vorschrift ist in erster Linie eine bessere Verteilung der mit der Aufnahme verbundenen finanziellen Belastungen. 8 6 2 Doch enthält § 15a Abs. 1 S. 1 auch eine aufenthaltsrechtliche Besonderheit, weshalb diese der Vollständigkeit halber Erwähnung finden soll: Die Verteilung des Personenkreises erfolgt vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Nach dem Gesetzeswortlaut wird folglich ein gesetzlicher Interimszustand geschaffen, in dem der Aufenthalt weder rechtmäßig noch geduldet ist. Vor dem Hintergrund der strafrechtlichen Konsequenzen illegalen Aufenthalts wird die Bestimmung dahingehend auszulegen sein, dass in dem Übergangszeitraum der Verteilung eine Abschiebung nicht nur faktisch, sondern kraft Gesetzes ausgesetzt ist. Hierfür spricht insbesondere die Systematik des Aufenthaltsgesetzes, keine Form des Aufenthalts ungeregelt zu belassen. 863

8 S8

Vgl. die insoweit identische Regelung des § 56 Abs. 6 AuslG 1990. «59 § 42 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG i.V.m. § 10 Beschäftigungsverfahrensverordnung vom 22. 11.2004, BGBl. I S. 2934. «60 Vgl. VGH Baden-Württemberg, InfAuslR 2000, S. 488 ff., Bay VGH InfAuslR 2000, S. 223 ff. 861

Zur Entwicklungsgeschichte im Einzelnen BT-Drs. 15/955, S. 11 f. Christian Starr u. a., Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 2005, § 15a S. 84 Rz. 3. 863 Anders Günter Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 273, der davon ausgeht, dass lediglich „unter Umständen" Aussetzungsgründe vorliegen. 862

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

III. Bewertung 1. Bewertung mit Blick auf das Ziel der Verhinderung dauerhafter Duldung Zwei Veränderungen im Regelungsbereich unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalts geben Anlass zu der Vermutung, dass künftig die Zahl im Status der Duldung befindlicher Ausländer zumindest in geringem Umfang zurückgehen wird. M i t Blick auf die Vergangenheit hat sich gezeigt, dass eine bloße Ermächtigung der Ausländerbehörden, in Duldungssituationen alternativ einen Aufenthaltstitel zu erteilen, nicht dazu geführt hat, dauerhaften Aufenthalt auf Grundlage der Duldung zu verhindern. Der nun eingeführte Regelanspruch auf ein Aufenthaltsrecht bei zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen, also in einem spezifischen Fall „rechtlicher Unmöglichkeit" der Abschiebung, wie auch - nach Ablauf der Frist von achtzehn Monaten - in allen übrigen Fällen der Unmöglichkeit einer Rückkehr des Ausländers begrenzt unmittelbar den Anwendungsbereich der Duldungsbestimmung selbst. Zum Zweiten hat der Gesetzgeber die Duldung kraft Ermessens abgeschafft und dadurch ihren Ausnahmecharakter im Kontext der Aufenthaltsbeendigung herausgestellt. Zwar kann die Duldung, da sie die Grundlage für eine weitere vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet legt, nicht als ein rein vollstreckungsrechtliches Instrument betrachtet werden. Gleichwohl steht die Regelung in untrennbarem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Ausreisepflicht. Demgegenüber ermöglichte der Tatbestand des § 55 Abs. 3 AuslG 1990 eine eigene Entscheidungsbefugnis der Behörde über den weiteren Aufenthalt. Diese Fälle wurden nun dem systematisch korrekten Standort des Aufenthaltsrec/zfs aus humanitären Gründen zugeordnet (§ 25 Abs. 4). Die Abgrenzung der Duldung nach § 60a Abs. 2 zu diesem vorübergehend erteilten Aufenthaltstitel aufgrund dringender humanitärer oder persönlicher Gründe kann i m Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Eine schwerwiegende Krankheit, die vorübergehend zur Reiseunfähigkeit führt, gehört sicherlich zu den dringenden persönlichen Gründen. Ist dies aber der Fall, wenn sich eine Ausländerin in dem Spätstadium einer Schwangerschaft befindet? Dennoch verdeutlicht der mit der Abschaffung der Duldung aus Ermessensgründen vollzogene Schritt, dass es bei der Duldungserteilung nicht um humanitäre Aufnahmeentscheidungen der Ausländerbehörde, sondern um (vorübergehende) zwingende Vollstreckungshindernisse geht. Die Tatsache hingegen, dass die allgemeinen Aussetzungsanordnungen, zu denen die obersten Landesbehörden nach § 60a Abs. 1 ermächtigt werden, generell auf ein halbes Jahr begrenzt sind, wird vermutlich nicht dazu beitragen können, eine Überdehnung des Anwendungsbereiches der Duldungsvorschrift zu verhindern, da zu befürchten steht, dass die Regelung in ihrer jetzigen Form nicht kon-

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sequent eingehalten wird, also das Bundesinnenministerium seine Einwilligung auch zu Verlängerungen der Aussetzungsanordnung erteilt. M i t der Reform des Ausländerrechts wurden folglich in systematischer Betrachtung einige wichtige Verbesserungen erreicht, die auf eine Begrenzung und Präzisierung des Anwendungsbereiches des unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalts von Ausländern zielen. 8 6 4 Zu beantworten bleibt schließlich die Frage, ob sie den hier entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen können.

2. Verfassungsrechtliche Anforderungen Wie im Zuge der Untersuchungen des zweiten Kapitels dieser Arbeit gezeigt werden konnte, liegt eine wesentliche Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalts in der auf das Nationalstaatsprinzip gegründeten grundlegenden Entscheidung des Staates gegen die Zulassung eines Ausländers oder einer Gruppe von Ausländern. Aus dieser Entscheidung, und nur aus ihr heraus rechtfertigt es sich, die Rechtsstellung des betreffenden Ausländers unter aufenthaltsrechtlichen Gesichtspunkten als unrechtmäßig zu behandeln. Umgekehrt folgt aus einer - und sei es auch nur - vorübergehenden Aufnahmeentscheidung aus humanitären oder persönlichen Gründen, dass das Nationalstaatsprinzip eine relativ - bezogen auf das Aufenthaltsrecht - unrechtmäßige Rechtsstellung nicht zu begründen vermag. Das Verfassungsprinzip der Freiheit verpflichtet den Staat, die grundlegende Entscheidung für einen weiteren Aufenthalt auch aufenthaltsrechtlich adäquat abzusichern. Kommt es auch unter Berücksichtigung dieses Maßstabs zu unrechtmäßigem Aufenthalt, so resultiert aus dem verfassungsrechtlichen Perpertuierungsverbot dieser Rechtsstellung die Verpflichtung, eine absolute zeitliche Obergrenze für den geduldeten Aufenthalt einzuführen. Beurteilt man anhand dieser Maßstäbe die einschlägigen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes, so ist ein Aufenthalt aus humanitären Gründen auf Grundlage der Duldung, wie ihn § 60a Abs. I vorsieht, ausgeschlossen. Zwar begrenzt die Vorschrift die Befugnis zur Aussetzung von Abschiebungen aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen bzw. zur Wahrung politischer Interessen auf ein halbes Jahr. Gleichwohl trifft die oberste Landesbehörde mit der Aussetzungsanordnung eine grundlegende Entscheidung für den vorübergehenden Aufenthalt der betroffenen Personengruppe. Sobald die Behörde vom Vorliegen der genannten Tatbestandsvoraussetzungen ausgeht, wird der Aufenthalt vom Staat grundsätzlich anerkannt. Die notwendige verfassungsrechtliche Konsequenz dieser Anerkennung wäre die ausländerrechtliche Absicherung durch ein Aufenthaltsrecht. 864 Vgl. die ähnliche Einschätzung, allerdings mit Vorbehalten, im Bericht der Migrationsbeauftragten 2005 (Fn. 665], S. 403 ff., bes. 408.

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3. Kap.: Geduldeter Aufenthalt im G e f g e des Ausländerrechts

Sofern die Flexibilität, auf der Ebene der Bundesländer eine kurzfristige Entscheidung herbeizuführen, für unabdingbar gehalten wird, wäre sie auch durch eine Ergänzung des § 23 Abs. 1 S. 3 zu erreichen, wonach das Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium erst bei einer Erlaubnisanordnung über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus erforderlich wäre. Aus denselben Erwägungen ist der Ermessenstatbestand für einen vorübergehend zu bewilligenden Aufenthaltstitel aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen bzw. erheblichen öffentlichen Interessen in § 25 Abs. 4 S. 1 verfassungsrechtlich problematisch. Wie bereits angemerkt, wäre die Bestimmung unter Berücksichtigung der entwickelten Maßgaben zumindest als Regeltatbestand zu verfassen. Im Zuge der Ermessensentscheidungen nach § 25 Abs. 5, d. h. im Falle der Unmöglichkeit der Ausreise aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen, ist die Ausländerbehörde dagegen gehalten, im Einzelfall zu prüfen, ob die Unmöglichkeit der Ausreise auf eine grundlegende positive Entscheidung des Staates für den Verbleib zurückzuführen ist. Die Reiseunfähigkeit eines traumatisierten Flüchtlings als ein mögliches Beispiel für eine solche Entscheidung unter humanitären Aspekten wurde bereits genannt. Infolgedessen beschränkt sich der Anwendungsfall einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Rahmen der Duldung auf wenige Fälle, in denen trotz der rechtlichen Hindernisse eine grundlegende Aufnahmeentscheidung nicht vorliegt. Hierher gehören beispielsweise die Ausnahmetatbestände des § 25 Abs. 3 und 5. Aus dem Perpetuierungsverbot folgt schließlich die verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Angabe einer abschließenden gesetzlichen Obergrenze für den möglichen Duldungszeitraum. Der Gesetzgeber hat dem durch die Begründung eines Regelanspruchs nach 18 Monaten in § 25 Abs. 5 S. 2 AufenthG nur teilweise entsprochen. Denn dessen Stellung im Gesetz lässt offen, ob er über die Fälle des Absatzes 5 hinaus generell auf die Duldung anwendbar i s t 8 6 5 ; zudem sind die Ausschlusstatbestände von der Regelung ausgenommen. Wie gezeigt, ist jedoch eine Fortschreibung der Duldung auf unbestimmte Dauer verfassungsrechtlich ausgeschlossen, so dass sich eine abschließende Obergrenze auch auf die Ausschlusstatbestände der § 25 Abs. 3 und 5 beziehen müsste.

865

Dazu Hans Jakober, Auf der Suche nach Änderungen im Bereich Aufenthaltsbeendigung und Ausweisung durch das Zuwanderungsgesetz, InfAuslR 2005, S. 97 ff., 103.

4. Kapitel

Schlussbetrachtung Die Anwendung der in dieser Arbeit entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf das Aufenthaltsrecht vermittelt bezogen auf die Reichweite der Duldungsbestimmung ein ausgesprochen differenziertes Bild. Ihr rechtspraktischer Ertrag jedoch ist eindeutig. Er liegt in der Beschreibung der klaren verfassungsrechtlichen Grenzen, die der Gesetzgeber bei der Ausformulierung des unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalts zu beachten hat. Das Ergebnis schlägt sich nieder in einigen notwendigen Korrekturen der konkreten Gesetzesbestimmungen des Aufenthaltsgesetzes, darüber hinaus aber auch in einem verfassungsrechtlich modifizierten Verständnis der Grenzen des Aufenthaltsrechtes selbst. 8 6 6 Eine Antwort auf die Frage, wie der Aufenthalt eines Ausländers zu behandeln ist, der sich nicht auf ein gesetzlich fixiertes Recht zum Aufenthalt 8 6 7 berufen kann, musste notwendigerweise schon immer differenziert ausfallen - dies hat die Analyse des historischen Prozesses nachhaltig verdeutlicht. Konnte das in der Phase der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer 8 6 8 entstandene erste Ausländergesetz der Bundesrepublik noch auf eine genauere tatbestandliche Abgrenzung des rechtmäßigen vom unrechtmäßigen Aufenthalt verzichten, so wurde nach dem Anwerbestopp des Jahres 1973, spätestens aber mit dem drastischen Anstieg der Asylbewerberzahlen zu Beginn der achtziger Jahre das Bedürfnis nach einer gesetzlichen Präzisierung virulent. Denn ein erheblicher Teil der dauerhaft aufgenommenen Ausländer erhielt lediglich eine Duldung (sog. De-facto-Flüchtlinge). Die Duldung hatte sich damit in der ausländerrechtlichen Praxis als subsidiärer Aufenthaltsstatus etabliert, der zwar kritisiert, aber unter verfassungsrechtlichen Aspekten kaum hinterfragt wurde. 866 Eine klare Grenzziehung in Bezug auf den verfassungsrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Ausländerrecht setzt die vorliegende Arbeit - so bleibt zu hoffen - nicht des Vorwurfs einer gewissen Beliebigkeit, einer Tendenz zum „anything goes" aus, wie sie Alexander Blankenagel in anderem Zusammenhang mit Blick auf die mit dem öffentlichen Recht befasste Wissenschaft konstatiert, vgl. ders., Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung desund derselben, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 125, 2000, S. 70 ff., 125 ff. 867 Bereits durch das Aufenthaltsgesetz selbst fixierte Aufenthaltsrechte enthalten solche Bestimmungen, in denen ein Aufenthaltstitel zu erteilen „ist" oder nach denen ein solcher erteilt werden „soll". 868 Zu den von 1955 bis 1968 getroffenen Anwerbevereinbarungen vgl. Berthold Huber, 25 Jahre deutsches Aufenthaltsrecht, InfAuslR 2004, S. 1 ff.

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4. Kap.: Schlussbetrachtung

I m Zuge der Reform des Ausländerrechts aus dem Jahre 1990 wurde daraufhin der Versuch unternommen, der Duldung innerhalb der Systematik des Ausländergesetzes eine schärfere Kontur zu geben und ihren Tatbestand zu präzisieren. Doch die Bemühungen, die Duldung auf die ihr ursprünglich zugedachte Funktion i m vollstreckungsrechtlichen Kontext zurückzuführen, erwiesen sich im Nachhinein als wirkungslos. Die grundlegende Revision des Ausländerrechts durch das Zuwanderungsgesetz von 2004 stand erneut unter dem Vorzeichen einer generellen Abschaffung dauerhafter Aufenthaltsverhältnisse auf der Grundlage der Duldung. Über dieses Ziel herrschte während des langwierigen Gesetzgebungsverfahrens grundsätzlich Einigkeit. I m Aufenthaltsgesetz wurde dann auch das Verhältnis der humanitären Tatbestände zu einer vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung praktikabler ausgestaltet, indem ein wichtiger Bereich der Abschiebungshindernisse - systematisch korrekt - der Aufenthalts^grwWwrcg aus humanitären Zwecken zugeordnet wurde. Gleichwohl wurde das Problem der Duldung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zufriedenstellend gelöst. Die Untersuchung der Systematik des deutschen Aufenthaltsrechts hat zunächst bestätigt, dass sich dieses Rechtsinstitut, wie Hailbronner

meint, in der Tat als „un-

verzichtbar" für das deutsche Ausländerrecht e r w e i s t . 8 6 9 Denn die Aufgabe, die Aufenthaltsverhältnisse sämtlicher in Deutschland befindlicher Ausländer rechtlich abzubilden, soweit sie den Behörden bekannt s i n d 8 7 0 , kann das Aufenthaltsgesetz nur dann erfüllen, wenn es auch für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, die nicht unverzüglich abgeschoben werden können, eine rechtliche Kategorie bereitstellt. Ein anderes Ergebnis könnte den praktischen Erfordernissen nicht gerecht werden, da das starre Entweder-Oder zwischen einer Genehmigung des Aufenthalts und der Ausreiseverpflichtung bzw. der nachfolgenden Abschiebung nicht in jedem Fall zur Anwendung kommen kann. Für die Ausländerbehörden besteht das unabweisbare Bedürfnis, die Abschiebung i m Einzelfall aussetzen zu können, und sei es nur, um die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für den vollstreckungsrechtlichen Vollzug der Ausreisepflicht überhaupt erst zu schaffen. Die durch das Zuwanderungsgesetz eingeführten Neuerungen haben den Regelungsbereich des unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalts in Teilbereichen den hier entwickelten verfassungsrechtlichen Vorgaben angenähert. I m geltenden Recht steht mit dem Regelanspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3 (gesetzliche Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) eine Vorschrift zur Verfügung, um den Anwendungsbereich der Dul869 870

Vgl. Hailbronner

Kommentar, § 55 Rz. 1.

Vgl. für den Ausschluss „faktischer Duldungen" in der Rechtsprechung oben Kap. 3 B.I.2.C), S. 199ff., sowie BVerwG, Urt. vom 25. 9. 1997, InfAuslR 1998, S. 12 ff., 13, klarstellend gegenüber BVerwG InfAuslR 1995, S. 151 ff.: „Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne daß die Vollstreckung der Ausreisepflicht betreiben wird, sieht das Gesetz nicht vor."

4. Kap.: Schlussbetrachtung

dung deutlich zu beschränken. Auch wurde die Duldungserteilung kraft Ermessens für den Einzelfall abgeschafft und die Befugnis der obersten Landesbehörden zum Erlass von Aussetzungsanordnungen generell auf ein halbes Jahr begrenzt, so dass auch hier zu erwarten steht, dass die hohe Zahl der Ausländer im Duldungsstatus abnehmen wird. Dennoch sind die vorangegangenen verfassungsrechtlichen Untersuchungen und die daraus abgeleiteten, vergleichsweise zurückhaltenden Korrekturen nicht lediglich akademischer Natur. Sie stehen vielmehr paradigmatisch für eine verfassungsrechtlich gebotene Neuausrichtung im grundsätzlichen Umgang des Staates mit dem Rechtsstatus in Deutschland befindlicher Ausländer. Wie die obige Prüfung ergeben hat, bedarf die geltende Rechtslage aufgrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des unrechtmäßigen Aufenthalts in drei Punkten einer Korrektur: - Die Befugnis der obersten Landesbehörde zur Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 AufenthG ist abzuschaffen. Der durch die obersten Landesbehörden „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen" gewährte Aufenthalt vermittelt ein Recht zum Aufenthalt und ist deshalb ausschließlich über § 23 Abs. 1 AufenthG zu regeln. - Der Ermessenstatbestand zum Zwecke des vorübergehenden Aufenthalts aufgrund dringender humanitärer oder persönlicher Gründe oder erheblicher öffentlicher Interessen ist in einen Regelanspruch (§ 25 Abs. 4 S. 1) umzuwandeln, da auch in diesem Fall dem Ausländer aus verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus ein Aufenthaltsrecht zu gewähren ist. - Schließlich erscheint es notwendig, eine zeitliche Obergrenze für die Duldung einzuführen, um dem verfassungsrechtlichen Verbot ihrer Perpetuierung zu entsprechen. 871 Darüber hinaus verändern die hier entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe die Handhabung der Grenzen des Aufenthaltsrechts insgesamt. Aus der Selbstbindung des neuzeitlichen Verfassungsstaates westeuropäischer Prägung an das ihn legitimierende menschenrechtliche Fundament, welche im Grundgesetz durch die exponierte Stellung der Menschenwürde und die menschenrechtliche Gestalt der wichtigsten Grundrechte seinen bildhaften Ausdruck gefunden hat, leiten sich unmittelbar verfassungsrechtliche Anforderungen an die gesetzgeberische Ausgestaltung der Materie des Aufenthaltsrechtes ab. Dem Gesetzgeber steht es in Ausübung seiner staatlichen Hoheitsgewalt weitgehend frei, darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen einem Ausländer das Recht zum Aufenthalt auf deutschem Staatsgebiet gewährt wird. In der

871 Vgl. dazu im Einzelnen, insbesondere in Bezug auf die zeitliche Obergrenze, oben Kap. 2 D.II.4., S. 166 ff.

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4. Kap.: Schlussbetrachtung

Konsequenz der Versagung dieses Rechtes kann er den Verbleib des Ausländers als unrechtmäßigen bzw. rechtswidrigen Aufenthalt ausgestalten. Doch hat die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Aufenthaltes für Ausländer (s. Kap. 2 Α. IV.) die eingangs formulierte These bestätigt, nämlich dass sich für alle Ausländer innerhalb des Staatsgebietes ohne Ansehung der aufenthaltsrechtlichen Bewertung ein grundrechtlicher Status im Sinne einer Teilhabe an dem Verfassungsprinzip der Freiheit realisiert. Der Mangel eines Aufenthaltsrechtes begründet danach lediglich einen relativ bezogen auf den Maßstab des Aufenthalts rechts - rechtswidrigen Status des Ausländers. Die ausländerrechtliche Zuordnung zum unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalt, die im Regelfall durch eine Duldungserteilung umgesetzt wird, kann folglich bezogen auf die gesamte Rechtsordnung und insbesondere bezogen auf die Grundrechtsordnung keine Rechtswidrigkeit begründen, da diese den Ausländer ohne Aufenthaltsrecht letztlich statuslos stellen würde. Indem der jedem Ausländer innerhalb des deutschen Staatsgebietes a priori zukommende grundrechtliche Status im zweiten Kapitel näher begründet und inhaltlich ausgeformt wurde, konnte zunächst der Ausschluss derartiger Statuslosigkeit untermauert werden. Dennoch folgt aus der Versagung des Rechts zum weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet eine relative Rechtswidrigkeit. Die Grenze, die dadurch dem grundrechtlichen Status von Ausländern im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht gezogen wird, leitet sich, wie im Einzelnen in Kapitel 2 C. dargelegt wurde, aus dem Verfassungsprinzip des Nationalstaats ab. Das Nationalstaatsprinzip wahrt im Kern die Kompetenz des Staates zur Selbstdefinition als Personenverband und damit die Entscheidungshoheit über die „Neu-Mitgliedschaft" zum Staatsvolk. Es begründet deshalb letztlich die freie Entscheidungshoheit nicht nur über die mögliche spätere Einbürgerung 8 7 2 , sondern auch über die erstmalige Aufnahme von Ausländern in das Staatsgebiet. Die Entscheidungshoheit bezieht sich damit allein auf die grundlegende Aufnahmeentscheidung des Staates und ihre Modalitäten wie beispielsweise die Abhängigkeit von einer auflösenden Bedingung oder ihre zeitliche Beschränkung. Hat der Staat - sei es durch einen gesetzlichen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, sei es durch eine Aufnahmeentscheidung der Ausländerbehörde - diese Aufnahmeentscheidung einmal getroffen, so leitet sich aus dem Verfassungsprinzip der Freiheit ein Anspruch des Ausländers auf ein Aufenthaltsr